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German Pages [549] Year 2018
Hans Heinrich Ehrler (1872–1951)
Stefan Keppler-Tasaki
Biografie eines Abendländers
Böhlau Verlag Wien Köln Weimar
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Stadtarchiv Bad Mergentheim © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Kölbelgasse 8–10, A-1030 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Patricia Simon, Langerwehe Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Satz : Bettina Waringer, Wien
ISBN 978-3-412-51195-1
Inhalt
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1. „to draw humanity together“: Dynamiken des Synkretismus . . . . . . . . 9 2. „göttliche Berufung“ und „Ein-Mann-Heilsarmee“: Forschungsgeschichte 1930 bis 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3. „rückblickendes Befremden“: Forschungsvoraussetzungen im Schnittfeld von Literatur- und Ideologiegeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
II. Literatur als Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
1. „folgenloser Ruhm“: Stationen einer Karriere . . . . . . . . . . . . . . 2. „Er lebte in einer ewigen Gegenwart“: die Prophetenrolle . . . . . . . 3. „den Menschen den Weg erhellen“: Erbauungsliteratur im politischen Zusammenhang .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. „Jünger des Poverello“: literarischer Franziskanismus . . . . . . . . . 5. „Innerlichkeit des Reichs“: literarische Reichsmetaphysik . . . . . . .
. . 59 . . 82 . . 98 . 111 . 132
III. Literarisch-politische Vernetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. „Reichsbeseelung“ und „Grüner Gott“: Situierungen zwischen Lienhard und Loerke . . . . . . . . 2. „jungkonservativ“ und „neukatholisch“: Wertorientierung mit Carl Christian Bry und Herman Hefele .. . . . . . . . 3. „Aber deutsch wollen wir doch sein“: Ethnonationalismus mit Ludwig Finckh und Georg Schmückle . . . . . . . . . 4. „waren wir nicht alle Deutsche?“: Zuwendung zum Landjudentum mit Jacob Picard . . . . . 5. „neue Heimat“: gebremste Moderne mit Theodor Heuss ..
. . . . . . . 150 . . . . . . . 169 . . . . . . . . . . . . . .
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| IV. Vom Kulturkrieg zum Katechon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. „will bewundern, preisen!“: republikanische Panegyrik im Zeichen Uhlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „verjüngtes Reich des deutschen Geistes“: Kriegsschriften 1915/16 . . . 3. „Der Vortrupp der Versöhnung“: Ehrlers An einen Juden und Picards An einen Deutschen 1917 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. „Geschwollene Spinnen“: die Stuttgarter Verfassungsfeierrede 1932 .. . 5. „Werkbund der Christenheit“: Einsatz für die ökumenische Bewegung .
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V. Das ‚Innere Reich‘ im Dritten Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. „Reichs-, Ahnen- und Heimatverbundenheit“: in der nationalsozialistischen Kanonbildung . . . . . . . . . . . . . . 2. „Heilige Heimat“: zwischen christlicher Gegenkanonisierung und Kollaboration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. „an der Gestaltung des deutschen und abendländischen Volksraums mitwirken“: die ‚Abendländer‘ und Das Wort in der Zeit . . . . . . . 4. „die große Wiederherstellung“: der ‚Anschluss‘-Essay Das einige Reich der Deutschen und das Hörspiel Unsere Frau Muttersprache . . 5. „von Denkart zu Denkart“: Nebenschauplätze in Gral, Bosch-Zünder und NS-Kurier . . . . . . . 6. „um des Reiches helles Haus“: der Hitleressay Die Stimme und der Segensspruch Zum 20. April 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 288 . 300 .
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VI. ‚Inneres Reich‘ und ‚Innere Emigration‘? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. „eine Brücke in die Zukunft schlagen“: Symptome der ‚Inneren Emigration‘ . . . . . . . . . . . . . . 2. „Man darf seine Tränen nicht verraten“: Konditionen der ‚verdeckten Schreibweise‘ . . . . . . . . . . . 3. „Zu fördernde Schriften“: Anteil am Kriegsbuchhandel . . . . 4. „Das bleibt uns“: ‚Gaukultur‘ im Schwäbischen Dichterkreis ..
. . . . . 370 . . . . . 382 . . . . . 387
VII. Kontinuität und Entkanonisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. „für den deutschen Geist und das innere Reich“: Rechtfertigungen im Entnazifizierungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
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2. „Vertretung der Heimat“ und „Gründe zur Zurückhaltung“: letzte Rückmeldungen aus dem Netzwerk . . . . . . . . . . . . . . . . 409 3. „Dichtung als Lebenshilfe“: die Entliterarisierung des Erbaulichen . . . 420
VIII. „Und nun die neue Nationalhymne!“: musikgeschichtlicher Abgesang ..
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447 Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Register .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werke .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Für Tora und Fugu
I. Einleitung
1. „to draw humanity together“: Dynamiken des Synkretismus
Die Heimatbewegung war eine der breitenwirksamsten Ideen- und Sozialformationen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland: überkonfessionell begrüßt und im politischen Spektrum zwischen völkischen Kreisen, liberalen Kräften und gemäßigter Arbeiterbewegung fest verankert, daher auch geeignet, dem Nationalsozialismus zahlreiche Aktivisten und Sympathisanten zuzuführen. Dagegen war die Abendlandbewegung ein dem Selbstverständnis nach elitäres Unternehmen zumeist katholischer Akademiker, mit Wurzeln im Ultramontanismus, in den Jugendverbänden und in der Liturgischen Bewegung. Wie Heimat- und Abendlandvorstellungen gleichwohl aufs Engste miteinander verflochten waren, deutet sich gegen Ende des betreffenden Zeitraums exemplarisch im Titel der Autobiografie von Hermann Platz an: Die Welt der Ahnen. Werden und Wachsen eines Abendländers im Schoße von Heimat und Familie (1948). Heimat als mütterlich konnotierter Nahbereich der Fürsorge, Abendland als Höhenkamm der Reife, des Formsinns und des Dienstes, beide zusammen als Speicher der romanisch-germanischen Überlieferung und Stufen einer umfassenden Gemeinschaftsstiftung – diese Topoi kristallisierten sich aus einem komplexen Diskursbestand bereits in der 1926 bis 1932 erschienenen Auflage des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft aus: Der Priester Anton Heinen, Erwachsenenbildner des Volksvereins für das katholische Deutschland, verantwortete dort den „Heimat“-, Platz den „Abendland“Artikel.1 Der Bonner Romanist und Komparatist, der 1935 unter dem Vorwurf des Politkatholizismus aus der Philosophischen Fakultät der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität gedrängt wurde,2 fand einen idealen Dichter des regionalistisch-supranationalistischen Projekts in Hans Heinrich Ehrler (1872–1951). Als „ein echter Künstler und ein um das Höchste ringender Christ“ habe dieser die „hohe Aufgabe des Gotteskindes“ übernommen, „mit Gottes Augen zu sehen, in 1 Vgl. Anton Heinen: Heimat. In: Staatslexikon. Im Auftrag der Görres-Gesellschaft unter Mitwirkung zahlreicher Fachleute hg. v. Hermann Sacher. 5. Aufl. Bd. 2. Freiburg/Br. 1927, Sp. 1147–1150, Hermann Platz: Abendland. In: ebd. Bd. 1 (1926), Sp. 2–5. 2 Ausführlich hierzu Winfried Becker: Wegbereiter eines abendländischen Europa. Der Bonner Romanist Hermann Platz (1880–1945). In: Rheinische Vierteljahrsblätter 70 (2006), S. 236– 260, hier S. 253 ff.
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| I. Einleitung
Gottes Ordnung zu wandeln“.3 Das „nach platonischer Weise“, d.h. in Symbolen zu erkennende Gewebe dieser „metaphysischen Ordnung“4 sollte sich zwischen dem ‚Nahen‘ und dem ‚Ganzen‘, dem heimatlich Deutschen und dem christlich Europäischen entfalten. Wenn deutsche Heimat wahlweise etwa mit dem Rheinland, dem Elsass oder der „metaphysisch trächtige[n] Luft Schwabens“ besetzt werden konnte, sollte das deutsche „Volk“ damit keineswegs unterlaufen, sondern vielmehr jenseits des profanen Nationalstaates in „neuer Einheit und Größe“ gedacht werden.5 Es war im Jahr 1936, dass Hermann Platz glaubte, dem Autor von Romanen wie Die Reise ins Pfarrhaus und Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm „eine große Leistung“ attestieren zu dürfen, die „auf „liebevolle Beachtung und Dauer Anrecht“ habe.6 Hier stand eine Kanonisierung Ehrlers in Aussicht, an der zur selben Zeit auch die ‚Schrifttumsförderung‘ des Nationalsozialismus mit ihren zahlreichen Institutionen, Medien und Anreizen arbeitete. Für Ideen von Ordnung, Einheit und Größe, von Heimat, Volk und Abendland bot das später vergessene Faktotum Ehrler einen umfangreichen Fundus, der sich aus vielen Quellen speiste und aus dem verschiedene Interessensträger geschöpft haben. Der Journalist und Schriftsteller Hans Heinrich Ehrler, bürgerlich Heinrich Ehrler, war langjähriger Beiträger der Frankfurter Zeitung und amtlicher Propagandist des ‚Großen Krieges‘, Hausautor des völkisch-nationalsozialistischen Prestigeverlags Langen Müller, christlich inspirierter Hitlerlaudator und ‚Innerer Emigrant‘, schließlich ein Fall für die Entnazifizierung und Entkanonisierung.7 Sein Leben führt durch ein funktionales, wenn auch nicht spannungsfreies Netzwerk zwischen Repräsentanten von Linksliberalismus, Katholizismus und völkischer Bewegung sowie durch einen politisch-religiösen Vorstellungskosmos, in dem die heimatliche und die abendländische Idee geradezu als identisch betrachtet, Regionalismus und Supranationalismus mithin im Verhältnis von lebensweltlicher Erfahrung und humanistischer Bildung aufeinander verpflichtet wurden. Jenseits der Genie- und Innovationsgeschichte eröffnet sich hier das weite Feld von Literatur als netz3
Hermann Platz: Bernanos und Ehrler. Zwei Pole. In: Das Wort in der Zeit 3 (1935/36), S. 935– 942, hier S. 935 u. S. 941. 4 Platz: Bernanos und Ehrler, S. 940 f. (Hervorhebung im Original). 5 Platz: Bernanos und Ehrler, S. 940. 6 Platz: Bernanos und Ehrler, S. 942. 7 Vgl. die Einträge bei Bruno Jahn: Die deutschsprachige Presse. Ein biographisch-bibliographisches Handbuch. 2 Bde. München 2005, Bd. 1, S. 239, Thomas Dietzel u. Hans-Otto Hügel: Deutsche literarische Zeitschriften 1880–1945. Ein Repertorium. Hg. v. Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar. München, New York u.a. 1988, S. 1446, und Ernst Klee: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Überarb. Ausgabe. Frankfurt/M. 2009, S. 116.
1. „to draw humanity together“: Dynamiken des Synkretismus |
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werkbasierter und traditionsgestützter Dienstleistung, namentlich in den beiden Sparten von erbaulicher Seelsorge und panegyrischer Affirmation. Um Literatur handelt es sich bei Ehrlers 28 Büchern8 sowie bei seinen in die Tausende gehenden Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln teils nur im Sinne eines erweiterten, mit vormodernen Attributen ausgestatteten Literaturbegriffs, wie ihn Rudolf Alexander Schröder der nationalsozialistischen Gebrauchskultur 1937 euphemistisch attestiert hat: „Wenn gegenwärtig an uns Deutsche die Forderung ergeht, alle dichterische Produktion habe sich den Ansprüchen des Staates einzuordnen, so ist diese Forderung im Grunde ein Zurückgehen auf den alten Stand der Dichtung“, nämlich auf eine erhebende, nicht nur kasual, sondern kasuistisch dienende „Festdichtung, Gelegenheitsdichtung, Tendenzdichtung“, für die der Dichter mit „Pfründen und Ehrensolde[n]“ ausgestattet werde.9 In den recht offenen Worten des ‚Staats8
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Acht Gedichtbände, sieben Romane (darunter die ‚Briefe-Trilogie‘: Briefe vom Land, Briefe aus meinem Kloster und Briefe eines Sterbenden, Letztere u. d. T. Die Frist erschienen), sieben Erzählsammlungen, zwei Essaybände, drei Bände mit Reisefeuilletons (die ‚Reise-Trilogie‘) und ein Schauspiel. Rudolf Alexander Schröder: Dichter und Volk. Vor jungen Buchhändlern 1937. In: ders.: Die Aufsätze und Reden II. Frankfurt/M. 1952 (= Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd. 3/2), S. 139–162, hier S. 144. – Zu nationalsozialistischen Bestimmungen von ‚Literatur‘, ‚Dichtung‘ und ‚Schrifttum‘ vgl. Ine van Linthout: Das Buch in der nationalsozialistischen Propagandapolitik. Berlin, Boston 2012, S. 322 ff. – Zu den auf die NS-Kultur anwendbaren Literaturbegriffen vgl. bes. Klaus Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus. Göttingen 1971, S. 122 ff., Uwe-K. Ketelsen: Literatur und Drittes Reich. 2. Aufl. Vierow bei Greifswald 1994, S. 46 ff. u. S. 241 ff., sowie Christiane Caemmerer u. Walter Delabar: Dichtung im Dritten Reich? Eine Einleitung. In: Dichtung im Dritten Reich? Zur Literatur in Deutschland 1933–1945. Hg. v. dens. Opladen 1996, S. 7–14. – Zur Frage, ob es sich hier überhaupt um Literatur handelt und nicht vielmehr nur um deren äußeres Erscheinungsbild im Rahmen einer Scheinkultur oder Kultursimulation, vgl. Hans Dieter Schäfer: Bücherverbrennung, staatsfreie Sphäre und Scheinkultur. In: „Das war ein Vorspiel nur...“. Berliner Colloquium zur Literaturpolitik im Dritten Reich. Hg. v. Horst Denkler u. Eberhard Lämmert. Berlin 1985, S. 110–126, Ulrike Haß: Militante Pastorale. Zur Literatur der antimodernen Bewegungen im frühen 20. Jahrhundert. München 1993, S. 215 u.ö., sowie zuletzt Hans Jörg Schmidt, der „außerkünstlerische Ziele in einem literarisierten Gewand“ nicht als Literatur, sondern als Schrifttum ausweist: Herrscherkult und Politische Religion als Erklärungsmodell gelegenheitslyrischen „Schaffens“/„Schrifttums“ im Rahmen der „sozialistischen deutschen Nationalliteratur“ und der „nationalsozialistischen deutschen Literatur“. In: Totalitarismus und Literatur. Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert – literarische Öffentlichkeit im Spannungsfeld totalitärer Meinungsbildung. Hg. v. dems. u. Petra Tallafuss. Göttingen 2007, S. 91–117 (Zitat S. 93). – Zur Rolle von Schriftstellern als Partei- und Staatspriestern vgl. grundlegend auch Michael Rohrwasser: Religions- und kirchenähnliche Strukturen im Kommunismus und Nationalsozialismus und die Rolle des Schriftstellers. In: Heilserwartung und Terror. Politische Religionen des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Hermann Lübbe. Düsseldorf 1995, S. 35–58, sowie ders.:
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| I. Einleitung
dichters‘ Ehrler: „Es gibt keine ‚Kunst‘ mehr, nur hohen Dienst.“10 Diese Literatur hat, wenn es ihr auch um ein ‚Inneres Reich‘ oder um andere, im Zeichen des Geistigen, Gehobenen und Geheimen stehende Versionen einer deutschen Erneuerung ging, zuerst den ‚Großen Krieg‘ und schließlich das ‚Dritte Reich‘ bei einer Mehrzahl gesellschaftlicher Gruppen, die für schmeichelhafte Selbsttäuschungen nur zu anfällig waren, durch „Trugbild-Produktion“11 legitimiert und in Erfüllung „psychosoziale[r] Funktionen“12 konsolidiert. So half sie eine römisch-deutsche, das antik-mittelalterliche Erbe in Anspruch nehmende Reichsmetaphysik und Hochkulturtradition zu stilisieren, die Vorstellungen von einem europäischen Führungsauftrag und von weltweiter Geltung mehr verklärten als verschleierten. Sie gab dem Messianismus und Chiliasmus eine zweckdienliche Sprache, die den von Hans-Ulrich Wehler hervorgehobenen charismatischen Herrschaftsanteil am Nationalsozialismus durch Wortopfer nährte.13 Dafür wurden ihre Autoren in ein öffentlich-rechtliches, Ruhm- und Absicherungswünschen gleichermaßen entgegenkommendes Verhältnis zu Staat und Partei gesetzt – in Ehrlers Fall zunächst zwischen 1914 und 1918 mit der Dienstverwendung im württembergischen Kriegsministerium, dann mit einem lebenslangen staatlichen Ehrensold, den er 1938 verwilligt und 1946, mit Unterstützung von Theodor Heuss, bestätigt erhielt. Die betreffenden Texte, Musterstücke ohne Meisterstücke, befinden sich im Schnittpunkt von Versuchen zur gesellschaftlichen Breitenwirkung – „Tausenden
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Schriftsteller im Zeitalter des Totalitarismus. In: Nationalsozialismus und Exil 1933–1945. Hg. v. Wilhelm Haefs. München 2009 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 9), S. 173–193, hier S. 186 ff. Hans Heinrich Ehrler: Briefe aus meinem Kloster. Stuttgart 1922, S. 175. Hans Dieter Schäfer: Kultur als Simulation. Das Dritte Reich und die Postmoderne. In: Schriftsteller und Widerstand. Facetten und Probleme der „Inneren Emigration“. Hg. v. Frank-Lothar Kroll u. Rüdiger von Voss. Göttingen 2012, S. 371–410, hier S. 374. Klaus Vondung: Der literarische Nationalsozialismus. Ideologische, politische und sozialhistorische Wirkungszusammenhänge. In: Die deutsche Literatur im Dritten Reich. Themen, Traditionen, Wirkungen. Hg. v. Horst Denkler u. Karl Prümm. Stuttgart 1976, S. 44–65, hier S. 51. Hans-Ulrich Wehler: Der Nationalsozialismus. Bewegung, Führerherrschaft, Verbrechen 1919–1945. München 2009, bes. S. 96–112 („Die Natur charismatischer Herrschaft im ‚Dritten Reich‘“). Vgl. für die historische Wirkungsrelevanz von Literatur überzeugend Peter Reichel: Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus. München 1991, S. 371 ff., Rolf Düsterberg: Einleitung. In: Dichter für das „Dritte Reich“. Biografische Studien zum Verhältnis von Literatur und Ideologie. Hg. v. dems. Bielefeld 2009, S. 7–18, sowie – unter Betonung der Ablenkungs- und Verschleierungsfunktionen – Jost Hermand: Kultur in finsteren Zeiten. Nazifaschismus, innere Emigration, Exil. Köln, Wien u.a. 2010, bes. S. 39 ff.
1. „to draw humanity together“: Dynamiken des Synkretismus |
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strahlten seine Gedanken“, heißt es in Ehrlers idealem Selbstbild14 – und dem bildungsbürgerlichen Anspruchsdenken derjenigen, die wie Ernst Wiechert über die „Mühe“ sprachen, die „seit zweitausend Jahren die Besten aller Geschlechter sich gegeben haben, daß ‚das Reich endlich komme‘“.15 Sie stehen in ihrer vorherrschenden Verwendung eines sentimental-pathetischen, den dahinter stehenden Irrationalismus transportierenden Dauerhochtons nicht ausschließlich, aber überwiegend auf einem Tiefstand des literarischen Geschmacks. Es handelt sich um eine Ästhetik, bei der das Kriterium der „Qualität des einzelnen Kunstwerks“ hinter die Funktionalität seiner „Einspeisung in den Medienverbund“16 zurücktritt. Ehrlers insbesondere aus dem Griechischen des Neuen Testaments und aus dem Kirchenlatein gewonnene Diktion galt vielen Kritikern als nobel, qualifizierte seine Werke sogar für das Corpus des 1913 begründeten Deutschen Fremdwörterbuchs,17 quälte neuere Leser freilich durch ihre Hochseilrhetorik und ihre selbstgefällige Prätention. Wie der Rezensent des Goldenen Tors 1948 monierte: „Ehrler bedient sich einer philologisch gehobenen ‚Frau Muttersprache‘, die er reichlich mit Latein und Griechisch verbrämt.“18 Dass, wie der Dichter selbst sagte, der „Mantel des deutschen Idealismus noch immer uns phrasenhaft umhängt“,19 ist ein gewichtiges Problem seiner Produktion, das er in Auseinandersetzung mit den Gefahren des Vulgäridealismus erkannte, ohne es in Versuchen eines volkstümlichen, auf eine Art sancta simplicitas reduzierten Sprechens – „alte Worte wie neu geboren“, um „uns spüren [zu lassen], wie schwer und wie schön sie sind und wie viel sie in Wahrheit wiegen“20 – überwunden zu haben. Seine vielfach paramedial, in Illustrationen und Festprogramme eingebundenen, wiederholt auch vertonten Texte und 14 Hans Heinrich Ehrler: Elisabeths Opferung. In: ders.: Elisabeths Opferung. Novellen. Stuttgart 1924, S. 3–20, hier S. 16. 15 Ernst Wiechert: Der Dichter und die Zeit [1935]. In: ders.: Spiele, Reden, Gedichte, Miscellanea (= Sämtliche Werke, Bd. 10). Wien, München u.a. 1957, S. 368–380, hier S. 379. 16 Schäfer: Kultur als Simulation, S. 372. 17 Vgl. Alan Kirkness (Hg.): Deutsches Fremdwörterbuch. Begr. v. Hans Schulz. Fortgef. v. Otto Basler. Bd. 7: Quellenverzeichnis, Wortregister. Straßburg 1988, S. 45 (aufgenommen sind die Romane Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm und Charlotte sowie der Aphorismenband Das Gesetz der Liebe, somit Bücher aus dem Zeitraum zwischen 1928 und 1946). 18 Joseph Baur: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Charlotte. In: Das Goldene Tor 3 (1948), S. 615 f. 19 Hans Heinrich Ehrler: Das Gesetz der Liebe. Gotha 1928, S. 155. Zum Vulgäridealismus, definiert durch Überschätzung der Kultur gegenüber Politik und Gesellschaft, ein verkürztes Goethe- und Kant-Verständnis sowie ungedeckte Ansprüche auf ‚Höhenkunst‘ vgl. Roderick Stackelberg: Idealism Debased. From Völkisch Ideology to National Socialism. Kent/Oh. 1981. 20 Hermann Breucha: Erinnerung an Hans Heinrich Ehrler. Gedenkworte bei der Gedenkstunde am 10. Juli 1952. In: Abraham Peter Kustermann: Hans Heinrich Ehrler und Hermann Breucha. Schwäbischer Kulturkatholizismus auf Abwegen. In fünf Dokumenten aus dem Nachlass Her-
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| I. Einleitung
Textarrangements sind gleichwohl grundlegend ästhetisch, d.h. symbolisierend, ritualisierend und inszenierend verfasst und erfordern deshalb literatur- bzw. medienwissenschaftliche Betrachtungsweisen. Das Zeugnis des für die konfessionelle Belletristik offenen Klassizisten Schröder geht bereits dahin, dass panegyrische und erbauliche Rede im Austausch gegen ökonomische/symbolische Gefälligkeiten an sich noch kein Spezifikum der Epoche des Faschismus, sondern alteuropäischer Grundbestand ist. Die Bereicherung der ‚kleinen Dichter‘ im versilberten Rahmen der die ‚kleinen Leute‘ zufriedenstellenden „Gefälligkeitsdiktatur“ und des „Volksstaates“21 kann daher auch nur eine Teil antwort auf die von Uwe-K. Ketelsen und Jay W. Baird gestellten Elementarfragen bieten, „warum es eigentlich Autoren gab, die solche Dienste übernahmen“22, oder „why this was done“ und „how it was accomplished“23. Zeittypischer sind demgegenüber die Konvulsionen einer beschleunigten Säkularisierung, in denen die zuvor hauptsächlich kirchlich gebundenen Energien in neue religiöse Bewegungen sowie in lebensreformerische und politische Heilslehren freigesetzt wurden. Wie die meisten anderen Theorien über den deutschen Faschismus kann sich auch diese Annahme auf Eindrücke und Einschätzungen zeitgenössischer Beobachter stützen. Ein besonders beredter Zeuge ist hier zugleich ein wichtiger Fürsprecher Ehrlers: der jungkonservative Münchner Kulturkritiker Carl Christian Bry, der in seinem bemerkenswerten, zuerst 1924 veröffentlichten und mehrfach wiederaufgelegten Buch Verkappte Religionen. Kritik des kollektiven Wahns – Klaus Scholder zufolge eine der einsichtsvollsten Analysen des Ideologisierungsschubs der Zwanzigerjahre24 – einen Großteil der lebensreformerischen Konzepte, aber auch die
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mann Breucha. In: Region – Religion – Identität. Tübinger Wege. Hg. v. Rainer Bendel u. Josef Nolte. Berlin 2017, S. 87–115, Nr. 1. Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Frankfurt/M. 2005, S. 49 f. Uwe-K. Ketelsen: Nationalsozialismus und Drittes Reich. In: Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland. Hg. v. Walter Hinderer. Aktual. Neuaufl. Würzburg 2007 (zuerst Stuttgart 1978), S. 303–326, hier S. 304. Jay W. Baird: Hitler’s War Poets. Literature and Politics in the Third Reich. Cambridge 2007, S. 256. Klaus Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd. 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918–1934. Frankfurt/M., Berlin 1986 (zuerst 1977), S. 761. Vgl. zu diesem Buch als Vorläuferstudie von Eric Voegelins Die politischen Religionen (1938) Derek Hastings: Catholicism and the Roots of Nazism. Religious Identity and National Socialism. Oxford, New York 2010, S. 163 u. S. 244. Zur Bedeutung von Verkappte Religionen vgl. ferner Rüdiger Safranski: Der Wille zum Glauben. Über Religion, Ersatzreligion und Ideologie. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Dezember 1993, Armin Mohler u. Karlheinz Weissmann: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch. 6. Aufl. Graz 2005, S. 246, sowie Josef Thomik:
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völkische Bewegung, den Antisemitismus, den italienischen Faschismus und den frühen Nationalsozialismus als monomane, dilettantische und letztlich dysfunktionale Glaubenssysteme, als (zerstörerische) Ideologien im Unterschied zu (bewahrenden) Religionen beschrieben hat. Sie fielen hinter die auf religiösem Gebiet erbrachten Kulturleistungen von Kirchen sowie Künsten zurück und versetzten die Gesellschaft mit ihren Einseitigkeiten, Absolutheitsansprüchen und Gewaltsamkeiten in atavistische Unruhen. In diesem Sinne hat Bry, zuvor aktives Mitglied der NSDAP, auch gegen den Hitler-Ludendorff-Putsch von 1923, den prozessionsmäßigen ‚Marsch auf die Feldherrnhalle‘ und dessen märtyrologische Verklärung in den Folgejahren angeschrieben.25 Bry war in seiner Stellungnahme gegen die politische ‚Verwilderung‘ des Religiösen sicherlich auch ein Popularisierer von Bildungsstandpunkten, wie sie Walter Benjamin in seiner zeitlebens unpublizierten Frühschrift Dialog über die Religiosität der Gegenwart bereits um 1912 diskutiert hat: „Für uns sind in den letzten Jahrhunderten die alten Religionen geborsten. Aber ich glaube nicht so folgenlos, daß wir uns der Aufklärung harmlos freuen dürfen. Eine Religion band Mächte, deren freies Wirken zu fürchten ist.“26 Wie bei Bry ist hier an Weltanschauungen gedacht, die anders als Religion nicht die „Unendlichkeit“ zum Gegenstand haben, sondern ihre einseitigen Wertsetzungen zum „heilig-tyrannischen Maßstab der Personen“ erheben.27 Der bereits 1926 verstorbene NSDAP-Renegat Bry hielt Ehrler aus verschiedenen Gründen (s. Kap. III.2) für einen Antipoden der ‚verkappten Religionen‘ und hat dessen spätere Annäherung an den Nationalsozialismus weder verfolgen noch aufhalten können. Zu dem Zeitpunkt jedoch, zu dem sich Ehrler dem Nationalsozialismus anschloss, war dieser schon keine verkappte, im Sinne einer versteckten Religion mehr, trat vielmehr Nationalsozialismus als Ersatzreligion. Die Zeitschriften Weltliteratur und Die Weltliteratur (1935/1944) als Träger nationalsozialistischer Ideologie. Hg. v. Josef Schreier. Aachen 2009, S. 18 ff. – Zu früheren Reaktionen vgl. Martin Gregor-Dellin: Editorischer Nachbericht. In: Carl Christian Bry: Verkappte Religionen. Kritik des kollektiven Wahns. Hg. v. dems. München 1979, S. 255–258. 25 Vgl. Carl Christian Bry: Verkappte Religionen. Hg. v. Martin Gregor-Dellin. München 1979, sowie ders.: Der Hitler-Putsch. Berichte und Kommentare eines Deutschland-Korrespondenten, 1922–1924, für das Argentinische Tag- und Wochenblatt. Hg. v. Martin Gregor-Dellin. Nördlingen 1987. Zum Kult um die ‚November-Toten‘ vgl. Sabine Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945. 2. Aufl. Köln 2011, S. 74 ff. 26 Walter Benjamin: Dialog über die Religiosität der Gegenwart. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1991, Bd. II/1, S. 16–35, hier S. 18. 27 Benjamin: Dialog über die Religiosität der Gegenwart, S. 19 u. S. 27.
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in Gestalt Hitlers, des ‚lupenreinen Katholiken‘, mit dem Anspruch einer authentischen Renaissance des Religiösen auf und bediente die Wunschvorstellung einer „Trendumkehr des massiven Säkularisierungsschubs seit der Jahrhundertwende“28 mit dem hypostasierten ‚Wendejahr 1933‘. Charakteristisch für die Jahrzehnte um die Jahrhundertwende, in denen Ehrler literarisch sozialisiert wurde, ist darüber hinaus eine mit dem beschleunigten Säkularisierungsprozess korrespondierende Sakralisierung des Ästhetischen: eine religiöse Überhöhung der Kunst, zu der die ästhetische Betrachtung der Religion einen Übergang und ein anhaltendes Komplement bieten konnte.29 Die wechselseitige Steigerung von Kunst und Religion hat Ehrler in ekphrastischen Texten z.B. auf Michelangelos Deckengemälde in der Sixtina und auf Grünewalds Stuppacher Madonna einschlägig geübt.30 Davon hat gerade der Grünewaldkult seinen Hintergrund nicht nur in der südwestdeutschen Biografie Ehrlers, sondern im französischen Ästhetizismus und Renouveau catholique: beim von Ehrler hochgeschätzten Emil Verhaeren (Le peintre Matthias Grünewald d’Aschaffenburg, 1894)31 und bei Joris-Karl Huysmans (Là-bas, 1891; En route, 1895; Trois Primitifs, 1905), denen die Werke des deutschen Altarmalers als Proben eines ‚Supranaturalismus‘ galten.32 Die seit Walter Benjamin vielfach konstatierte faschistische Ästhetisierung des Politischen („Der Faschismus läuft […] auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus“33) erfolgte nun nicht ausschließlich, aber doch zum Teil mit eben denjenigen Poetiken, mit denen zuvor die Sakralisierung des Ästhetischen betrie28 Manfred Gailus u. Armin Nolzen: Einleitung. Viele konkurrierende Gläubigkeiten – aber eine „Volksgemeinschaft“? In: Zerstrittene „Volksgemeinschaft“. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus. Hg. v. dens. Göttingen 2011, S. 7–33, hier S. 25. 29 Vgl. dazu bes. Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur. Tübingen 1997; jetzt auch Heidrun Schnitzler: Bilderkult. Kunstanbetung und Katholizismus in der Literatur des französischen Fin de Siècle: Huysmans, Zola, Rodenbach. Würzburg 2015, S. 56 ff. 30 Vgl. unter anderem Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 90–99 („Die Lücke“), ders.: Die Muttergottes von Stuppach. In: Der Schwäbische Bund 1 (1919/20), S. 1–4, sowie ders.: Die Reise in die Heimat. München 1926, S. 149 f. u. S. 180. 31 Vgl. Hans Heinrich Ehrler: Emil Verhaeren. In: Frankfurter Zeitung, 18. Januar 1911. 32 Erhellend hierzu Achim Aurnhammer: Joris-Karl Huysmans’ „Supranaturalismus“ im Zeichen Grünewalds und seine deutsche Rezeption. In: Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur. Hg. v. Wilhelm Kühlmann u. Roman Luckscheiter. Freiburg/Br. 2008, S. 17–42. Aurnhammer führt unter anderem Stefan Georges Kolmar: Grünewald (1907) und Leo Weismantels Der Mathis-Nithart-Roman (1940–1943) an. 33 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [Dritte Fassung]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1991, Bd. I/2, S. 471–508, hier S. 506 (Hervorhebung im Original).
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ben wurde. An dieser Stelle schließt sich der Kreis zur Sakralisierung des Politischen im Zeichen des Schönen und mehr noch des Erhabenen. Wenn ein Autor wie Ehrler an Politik heranging – und er hat das reichlich getan –, dann in einer vorgängigen Verbindung von Sakralem und Ästhetischem. Ehrlers Werk gehört seinen Grundlagen, Formen und Funktionen nach in die Tradition der christlichen, konfessionelle und nationale Grenzen üblicherweise überschreitenden Erbauungsliteratur, die sich in ihren modernen, d.h. in der Regel antimodern-modernen, Ausprägungen weitflächig mit dem Bereich eines vulgär idealistischen Kitsches überschneidet, dabei eine eigene Popularität entfaltete und sich in der Folge, obwohl sie das „Prinzip der Innerlichkeit“34 unterstrich, für die von der politischen Leserlenkung geforderte „Einwirkung in die Breite“35 anbot. Die für Ehrlers Textprofile typische Kreuzung einer volkstümlich-verständnisvollen mit einer feierlich-autoritären Grundlinie hat hier ihr Modell. Einem bekannten Intimus des Dichters, dem NS-Germanisten Hermann Pongs, zufolge musste die „religiöse Schicht“ die „Urschicht der Volksseele“ sein, die unterhalb der für die völkischen und nationalsozialistischen Kulturtheorien störenden Spannung zwischen Anspruchs- und Populärkultur verlief.36 Mit literarischen Vorstößen wie denjenigen Ehrlers sollte sie sich erreichen und für die ‚nationale Erneuerung‘ erschließen lassen. Es galt so die Einigung eines „Volkes […], das wir nicht zerspalten lassen dürfen in einen geistigen Teil und eine mechanische Masse“, denn das „wäre der Tod“.37 Um einen religiösen, seinen Priester- und Prophetenmythos pflegenden Dichter, der über seine Episteln und Predigten zum Ersten Weltkrieg hinaus letztlich in der theokratisch angereicherten Atmosphäre des NS-Staates aufgehen konnte, handelt es sich bei Ehrler im Sinne einer aus Liberalkatholizismus und Lebensreform mitgebrachten „vagierenden Religiosität“38, die in seinem Fall auf einer tiefen
34 Rudolf Mohr, John Procopé u. Hans Wulf: Erbauungsliteratur. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. v. Gerhard Müller. Bd. 10. Berlin, New York 1982, S. 28–83, hier S. 49. 35 Inge Ehringhaus: Die Lektüre unserer Frontsoldaten im Weltkrieg. Berlin 1941, S. 137, zur Erbauungsliteratur hier S. 57 u. S. 93 ff. 36 Hermann Pongs: Zur Lyrik der Zeit. In: Das Innere Reich 2 (1935/36), S. 1155–1170 u. S. 1566– 1586, hier S. 1162. Zur nationalsozialistischen Kulturtheorie unter diesem Aspekt vgl. Hermand: Kultur in finsteren Zeiten, S. 7 ff. 37 Hans Heinrich Ehrler zit. n. Schwäbischer Schillerverein (Hg.): Zweiunddreißigster Rechenschaftsbericht. Stuttgart 1928, S. 34 f. (Protokoll einer Rede zu Ehren Otto von Güntters, dem Direktor des Schillernationalmuseums und Ehrler zufolge „treue[n] Pflegevater des guten Erbes unserer Väter“). 38 Thomas Nipperdey: Religion im Umbruch. Deutschland 1871–1918. München 1988, S. 148.
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Überzeugung vom „überkonfessionell Katholische[n]“39 gründete und fortlaufend auf Franz von Assisi als natur- und liebesmystische, irenische und ökumenische Leitfigur rekurrierte. Dem Programm, „aus konfessionalistischer Enge und partikularer Abschließung in die Weite der wahrhaften ‚Katholizität‘“40 zu streben, hat er frühzeitig zugearbeitet. Vom ökumenischen Verständnis der Katholizität als ‚Wirklichkeit des göttlichen Lebens‘ her waren ihm enthusiastisch vereinnahmende Zugriffe auf andere Weltreligionen und Weltanschauungen möglich, insofern sie Anteil am universal Katholischen haben sollten. Kennzeichnend für Ehrlers Ethos ist eine liebesmystisch-gemeinschaftsideologische Suchbewegung, die bereits in den Stichworten ‚Reise/Begegnungen‘ und ‚Liebe/Herz‘ einiger Buchtitel annonciert ist: Die Reise ins Pfarrhaus (1913), Die Reise in die Heimat (1926), Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm (1934) bzw. Die Liebe leidet keinen Tod (1915), Das Gesetz der Liebe (1928) und Mit dem Herzen gedacht (1938). Den Anreiz der religiösen Suche gab ausdrücklich „das Irrationale“, definiert als „das nicht aufgehende und doch die Rechnung schließende“.41 Die mit keiner Vernunft zu überbrückende, exemplarisch in Michelangelos Creazione di Adamo angezeigte Lücke zwischen Menschlichem und Göttlichem blieb dem Dichter „das Problem“42, das er anders als die katholischen Modernisten, Rationalisten und Atheisten seiner Zeit und seines persönlichen Umfeldes, namentlich des Renaissanceforschers Herman Hefele,43 nicht auf sich beruhen lassen wollte. Mit der antiintellektualistischen Auffassung des Übernatürlichen als Irrationalem stand er allerdings dem Tübinger Dogmatiker Karl Adam nahe, zu dessen Theologie und ‚Politik‘ sich in der Folge auch noch andere Berührungspunkte ergaben.44 Die ebenso offenbarungs- wie 39 Thomas Ruster: Die verlorene Nützlichkeit der Religion. Katholizismus und Moderne in der Weimarer Republik. 2. Aufl. Paderborn, München u.a. 1997, S. 179. Zur ‚ökumenischen Katholizität‘ vgl. auch Jörg Ernesti: Ökumene im Dritten Reich. Paderborn 2007, S. 140 ff. 40 Vgl. [Alfred von Martin u. Hermann Platz]: Was wir wollen. In: Una Sancta 1 (1925), S. 1 f., hier S. 2. 41 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 90. 42 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 90. 43 Zum katholischen Rationalismus in den politischen Versionen von Charles Maurras und Carl Schmitt, von denen sich Letzterer dafür auch an Hefele geschult hat, vgl. Richard Faber: Politische Dämonologie. Über modernen Marcionismus. Würzburg 2007, S. 76 ff. u. S. 114 ff., sowie Alfons Motschenbacher: Katechon oder Großinquisitor? Eine Studie zu Inhalt und Struktur der politischen Theologie Carl Schmitts. Marburg 2000, S. 92 ff. u. S. 386 ff. 44 Zur systematischen Identifizierung des Übernatürlichen mit dem Irrationalen vgl. Ruster: Die verlorene Nützlichkeit der Religion, S. 121–125 („Karl Adam: Theologie als Wissenschaft des ‚Irrationalen‘“). Zum katholischen Antiintellektualismus, auch als Mittel der Immunisierung gegen Widersprüche und Plausibilitätsmängel der eigenen Theorien und Haltungen, vgl. Holger Arning: Die Macht des Heils und das Unheil der Macht. Diskurse von Katholizismus und Nati-
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autoritätsfreudige „Ausgeglichenheit irrationaler und rationaler Kräfte“45 war das Mindeste, was der Ehrlerfreund Bry für die gesellschaftliche Genesung verlangte. Am 7. Juli 1872 geboren, ist Ehrler – vor seinem Förderer Börries von Münchhausen und vor seinem Landshuter Mitschüler Hans Carossa, um nur Beispiele für die Jahrgänge 1874 bzw. 1878 zu nennen – einer der ältesten Schriftsteller, die noch in die nationalsozialistische Selektivförderung der Gegenwartsliteratur nach 1933 fiel. „Ältere Generation“, darunter kursierte er bereits in der Reclam-Anthologie Moderne deutsche Lyrik von 1924, um Autorinnen und Autoren zu bezeichnen, die zuerst im Kaiserreich vor dem Weltkrieg zur Geltung gekommen sind.46 Dies ist bei Ehrler, der sich im September 1945 zur angelegentlichen Distanzierung von der jüngeren Vergangenheit ein „Nachkriegskind von 1870–1871“ nannte,47 unter anderem mit zwei Romanen und zwei Lyrikbänden im Albert Langen Verlag gegeben. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war er 42, zu Beginn des Dritten Reichs 61 Jahre alt. Obwohl er als ministerieller Propagandist das Feuilleton der Frankfurter Zeitung von 1915 füllte und ihm die „Hekatombe“48 des deutschen Heeres ein von der deutschen Zukunft als „Fürtod“49 zu rechtfertigendes Opfer blieb, verstand sich der Sinnierer und Idylliker nicht als vom Fronterlebnis motiviert. Auch für eine faschistische Avantgarde oder ‚nationalsozialistische Moderne‘ kam er nicht in Betracht, vielmehr für die „kulturelle Reaktion“, die – nach der Analyse Hildegard Châtelliers – der „politischen Revolution zugute kommen konnte“.50 Seine
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onalsozialismus im Jahr 1934 – eine exemplarische Zeitschriftenanalyse. Paderborn, München u.a. 2007, S. 435–450 („Feindbild Intellektualismus“). Friedrich Fuchs: In memoriam C. Ch. Bry. In: Hochland 23/2 (1926/27), S. 502–505, hier S. 503. Vgl. Hans Benzmann (Hg.): Moderne deutsche Lyrik. Ältere Generation (1880–1914). 4. Aufl. Leipzig 1924, zum Auswahlprinzip S. 4, die Ehrlertexte S. 118–120 (sechs naturreligiös-kulturidealistische Gedichte: Feldgang, Dämmerung, Gesicht, Sebastian Bach, Der Einsiedler, Eremit und Ritter. Zu Schwinds Bild), im Unterschied zur komplementären Ausgabe im selben Verlag: Otto Heuschele (Hg.): Junge deutsche Lyrik. Eine Anthologie. Leipzig 1928 (7. Aufl. 1930), unter anderem mit Texten von Richard Billinger (geb. 1893), Johannes Linke (geb. 1900) und Gerhard Schumann (geb. 1911). Hans Heinrich Ehrler an Hermann Breucha, 30. September 1945. In: Abraham Peter Kustermann: Hans Heinrich Ehrler und Hermann Breucha. Schwäbischer Kulturkatholizismus auf Abwegen. In fünf Dokumenten aus dem Nachlass Hermann Breucha. In: Region – Religion – Identität. Tübinger Wege. Hg. v. Rainer Bendel u. Josef Nolte. Berlin 2017, S. 87–115, Nr. 4. Hans Heinrich Ehrler: Gesicht und Antlitz. Gotha 1928, S. 125. Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 78. Hildegard Châtellier: Nationalsozialistische Literatur- und Kunstpolitik. Revolution oder Gegenrevolution? In: Le nationalsocialisme: une révolution? Hg. v. Françoise Knopper, Gilbert Merlio u. Alain Ruiz. Toulouse 1997, S. 191–208, hier S. 193. Vgl. dagegen die Autorenreihen bei Baird: Hitler’s War Poets, und bei Sebastian Graeb-Könneker: Autochthone Modernität. Eine Untersuchung der vom Nationalsozialismus geförderten Literatur. Opladen 1996.
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Werk- und Wirkungsgeschichte entfaltet die literatur- und geistesgeschichtlichen Kontinuitäten, aber auch die Widersprüche, in denen der politische Systemwechsel von 1933 keine Epochenzäsur bildet. Ehrler brachte einen weiten Freundes- und Bekanntenkreis mit, der den Antisemiten Ludwig Finckh ebenso umfasste wie den Juden Jacob Picard, in dem „[s]eine Liebenswürdigkeit, seine unbedingte Loyalität und sein reger Fleiß“51 stehende Wendungen waren. Dieser Vernetzung lag ein christlich-platonisch und katholisch-universalistisch geprägter Synkretismus zugrunde, in den über Ehrlers Lebensjahrzehnte hinweg unter anderem der Liberalkatholizismus des 19. Jahrhunderts, die Lebensreformbewegung einschließlich ihrer Rezeption von östlichen Weisheitslehren, nationale Kulturkonzepte des späten Kaiserreichs sowie die Liturgie- und die Abendlandbewegung der Weimarer Republik eingeflossen sind. „Aus tausenden Jahren zu mir hergekommen […], aus allen Ländern der Erde eingetreten“, so beschwor Ehrler die Elemente seines objektiv synkretistischen Standpunkts, des „Erbgeist[s]“ oder „Inneren Reich[s]“.52 Aus den „weltlichen und religiösen Schatztruhen aller Völker der Erde“ wollte er sein „zwischen Büchern hingebrachte[s] Leben[]“ gespeist haben,53 um mit umfassenden Sinnkonstruktionen einer Gegenwart zu begegnen, die „überallhin Spaltpilze der Zersetzung“54 streue. Bei seinem Studium an den Universitäten Würzburg und München verstand er sich als „Freibeuter in den Wissenschaften“55. Ehrler besitze, bescheinigte ihm die Frankfurter Zeitung 1920, „das mehrfache Bürgerrecht von Bezirken“, die nur bei ihm „nachbarlich“ zusammenstießen: Er schweife „durch den ganzen Kosmos hin“ und sei doch von „[k]indliche[n] Schauer[n] der Treue zur heimatlichen Scholle“ erfasst.56 „Schatzhalter“57 und „eine vollgewordene Schatzkammer“58 nannten ihn seine nationalsozialistischen Freunde Ludwig Finckh und Hellmuth Langenbucher. Die kenntnisreiche Dissertation über Ehrler von Victor Jacob Lemke aus dem Jahre 1938 identifizierte als übergreifendes Ziel des christlichen Dichterphilosophen zutreffend: „to draw humanity together“, 51 Paul Wiegler: Herrn Heinrich Ehrler [Arbeitszeugnis], Stuttgart, Januar 1904, Stadtarchiv Bad Mergentheim, Nachlass Hans Heinrich Ehrler (künftig: NL Ehrler). 52 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 79. 53 Hans Heinrich Ehrler: Eine kleine Weihnachtsrede. In: Der Bosch-Zünder 17 (1935), S. 255 f., hier S. 255. 54 Hans Heinrich Ehrler: Ein Mensch war da. In: Der Bosch-Zünder 14 (1932), S. 65 f., hier S. 65. 55 Hans Heinrich Ehrler: Die Reise ins Pfarrhaus. München 1913, S. 270. 56 Joseph Bernhart: Hans Heinrich Ehrler. In: Frankfurter Zeitung, 10. Juli 1920. 57 So die Verfasserwidmung in Ludwig Finckh: Ahnenbüchlein. Stuttgart 1921, NL Ehrler. 58 Hellmuth Langenbucher: In memoriam Hans Heinrich Ehrler. In: Schwäbische Heimat 2 (1951), S. 156–158, hier S. 157.
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nämlich mittels religiöser Liebe und der harmonisierenden Aneignung von vielerlei Einsichten.59 Diese „kombinatorische Art des Denkens“, die nach den Worten Thomas Manns im Doktor Faustus „alles haben“ wolle und dafür „alles durcheinander“ bringe, die „Freiheit und Vornehmheit, Idealität und Naturkindlichkeit unter einen Hut“ zu bringen suche,60 hat unter den Bedingungen der weltanschaulichen Pluralisierungsdynamik um und nach 1900 ambivalente Bewertungen erfahren: ‚Reichtum‘ lässt Mann seinen katholischen Humanisten Serenus Zeitblom befinden, ‚Konfusion‘ seinen lutherischen Theologiestudenten Adrian Leverkühn. Der heterodoxe Katholik Carl Schmitt in Römischer Katholizismus und politische Form (1923/25) bescheinigte den „katholisierenden Romantikern“, dass ihre Konstruktionen eines „höheren Dritten“ „doch mehr als Phantasien aus der blauen Luft“ seien, denn sie reagierten darin auf eine von Spaltung und Entzweiung gezeichnete Wirklichkeit, die dringend nach Synthesen verlange. Diese (Neo-)Romantiker zehrten von der „römisch-katholischen complexio oppositorum“, d.h. von der effizienten „geistigen Promiskuität“ jener zweitausendjährigen Weltkirche, die von jeher „erstaunliche[] Anpassung“ mit „starrer Intransigenz“, Vieldeutigkeit mit Dogmatismus zu verbinden gewusst habe.61 Zu einer (noch) kritischeren Einschätzung des katholischen Synkretismus kam Oswald Spengler im zweiten, 1922 erschienenen Band seines Kultbuchs Der Untergang des Abendlandes, das der Weimarer Abendlandbe59 Victor Jacob Lemke: Hans Heinrich Ehrler. Diss. University of Wisconsin, Madison 1938, S. 40. 60 Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Hg. v. Ruprecht Wimmer. Frankfurt/M. 2007 (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 10/1), S. 126 f. Dazu im Sinne des Synkretismusbefundes Thomas Pittrof: „Wir bringen aber die Zeiten/untereinander“. Synkretismus und Epochenschwelle. Stationen einer Modellgeschichte zwischen Spätantike und literarischer Moderne. Mit Interpretationen zu Hölderlin, Heine, Keller, C. F. Meyer und Thomas Mann. Freiburg/Br. 2015, S. 29 u. S. 291 ff. 61 Carl Schmitt: Römischer Katholizismus und politische Form. Neuausgabe der 2. Aufl. München 1925. Stuttgart 1984, S. 12, S. 14 u. S. 15 f. Vgl. vor Schmitt teils wortgleich Friedrich Heiler: Katholizismus als Synkretismus – primitive Volksreligion im Katholizismus. In: ders.: Das Wesen des Katholizismus. Sechs Vorträge gehalten im Herbst 1919 in Schweden. München 1920, S. 1–29, hier S. 14 f.: „Katholizismus ist Synkretismus, complexio oppositorum, Mischung und Zusammenfassung der Gegensätze. […] immer Neues und Fremdes strömt hinzu – und auf der anderen Seite wird er immer starrer, härter, beschränkter, abgeschlossener; die institutionelle Hülle, welche das vielgestaltige innere Leben umschließt, verhärtet sich immer mehr, ohne daß dadurch dieses Leben selbst zerstört oder geschwächt würde.“ Dazu Manfred Dahlheimer: Carl Schmitt und der deutsche Katholizismus. 1888–1936. Paderborn, München u.a. 1998, S. 56–81 („Klassik statt Romantik“), S. 84 u. S. 89, sowie Motschenbacher: Katechon oder Großinquisitor?, S. 47–60 („Lob des Katholizismus“).
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wegung ein Stachel zur Verteidigung und Rettung des christlich-europäischen Projekts wurde.62 Die Entwicklung des Christentums von einem ländlich-aramäischen Jesuskult zur römischen Staatsreligion, dazwischen vom urbanen Intelligenzler Paulus gekapert, durch den Evangelisten Markus in eine neuartige, Jesu traditionelle Spruchweisheit einkapselnde „dichterische Gestaltung“63 gestellt, durch den Nachfolgebedarf für „all die tausend Jungfrauen und Mütter des Synkretismus“64 auf die Gestalt der Gottesmutter umgepolt, beschrieb der Münchner Privatgelehrte als „Pseudomorphose“: als die geminderte Existenz geistiger Gehalte in vorgegebenen fremden Strukturen. Spengler ordnete die katholische Pseudomorphose unterhalb des Integrations- und Vitalitätsniveaus des hellenistischen Synkretismus ein, in dem eine „Masse von Kulten“ immerhin „von derselben Religiosität durchdrungen“65 gewesen sei. Für Spengler war das Abendland nicht essentiell christlich, sondern faustisch, und das Christentum wenig mehr als ein Symbolinventar, um das faustische „Urgefühl für die unendliche Zeit, die Geschichte und die Folge der Geschlechter sinnlich zu fassen“66. Selbst dass das Reich eine fruchtbare Verbindung aus römischem Staat und christlicher Kirche sei, wie es die Abendlandkatholiken vertraten, bestritt Spengler: „Es ist nicht ganz richtig, wenn man sagt, die römische Kirche habe sich den Bau des römischen Reiches angeeignet. Dieser Bau war schon eine Kirche.“67 Das Christentum, so Spenglers Gesamturteil, das sich auf eine zu diesem Zeitpunkt bereits seit Jahrzehnten gewachsene Synkretismusforschung in der vergleichenden Religionsgeschichte stützt,68 ist „ganz der Pseudomorphose verfallen“, damit per Definition in „Hohlformen“ und „ältlichen Werken [erstarrt]“ und zu keinem Erneuerungswerk disponiert.69 In der nationalsozialistischen Rezeption der Synkretismusdebatte konnten derartige Befunde 62 Vgl. die offene Wendung gegen Spengler bei Alois Dempf: Sacrum Imperium. Geschichts- und Staatsphilosophie des Mittelalters und der politischen Renaissance. München 1929, S. xi; zum Verhältnis zwischen Spengler und den ‚Abendländern‘ instruktiv Reinhard Richter: Nationales Denken im Katholizismus der Weimarer Republik. Münster 2000, S. 142 ff. 63 Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Bd. 2: Welthistorische Perspektiven. München 1922, S. 272. 64 Spengler: Der Untergang des Abendlandes, Bd. 2, S. 274. 65 Spengler: Der Untergang des Abendlandes, Bd. 2, S. 79. 66 Spengler: Der Untergang des Abendlandes, Bd. 2, S. 274. 67 Spengler: Der Untergang des Abendlandes, Bd. 2, S. 246. 68 Vgl. den forschungsgeschichtlichen Abriss bei Dieter Georgi, Albrecht Grözinger, Hermann von Lips u.a.: Synkretismus. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. v. Gerhard Müller. Bd. 32. Berlin, New York 2001, S. 527–559, hier S. 540 f., sowie von Pittrof: Synkretismus und Epochenschwelle, S. 17 ff. 69 Spengler: Der Untergang des Abendlandes, Bd. 2, S. 239 u. S. 227.
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verurteilend dekadenztheoretisch und scharf antikatholisch ausgelegt werden, so im opus eximium einer Nachwuchshoffnung der NS-Geschichtswissenschaft, Christoph Stedings Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur (1938): Der Katholizismus als überpolitische Organisation und als in südlichen, nicht germanisch-nordischen Bezirken beheimatete Institution, trägt in sich sehr viel Vorgeschichtlich-Dionysisch-Pelasgisches. Das Gewimmel von Heiligen und die Pflege der karnevalistischen wie der darauf folgenden ästhetischen Zerknirschungszustände sind diametral entgegengesetzt der apollinischen Lichtwelt des Reichs.70
Österreich, ein geistig und politisch erledigter Staat, sei das Exempel für die greise Verwirrung dieses katholischen Chaos, das den „wahren Ordnungen Europas“ entgegenstünde und in einem „Ideenkampf “ überwunden werden müsse.71 Katholische Welt- und Geschichtsumfassungsprozesse böten immer nur „ s c h e i n b a r e E i n h e i t “.72 Dieser Vorwurf traf dann systematisch auch eine Konzeption des Reiches als politischem Ebenbild des Christentums: als der „umfassende[n] Einheit aller deutschen Gegensätze“, wie sich Reinhold Schneider just im April 1933 ausdrückte und damit an die Formel von der complexio oppositorum anschloss.73 Gegen radikale Diskreditierungen wie die von Steding hatte Ehrler seine frische Freibeuterei und seine jungkonservativen Gefühle für alte Traditionen in Schutz zu nehmen. Der Dichter gab sich überzeugt davon, dass seine ausgreifende Kombinationstätigkeit von der „Wesensfülle des katholischen Mutterschoßes“74 gedeckt 70 Christoph Steding: Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur. Hamburg 1938, S. 471. 71 Steding: Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, S. 464 f. u. S. 471. 72 Steding: Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, S. 526. Vgl. die Kritik an diesen Polarisierungen durch zwei Verbündete Ehrlers: Theodor Heuss: Politische oder polemische Wissenschaft. Zu Christoph Stedings Werk. In: Das deutsche Wort 15 (1939), S. 257–267, sowie Hermann Pongs: [Rez.] Christoph Steding: Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur. In: Dichtung und Volkstum. Neue Folge des Euphorion 41 (1941), S. 369–384. 73 Reinhold Schneider: [ohne Titel, Geleitspruch]. In: Die literarische Welt 9 (1933), H. 16, S. 1 f. Vgl. dazu Hermann Kurzke: Der ausgeträumte Traum vom Reich. Reinhold Schneider und die konservative Revolution. In: Neue Rundschau 90 (1979), S. 215–233, hier S. 217, sowie Walter Schmitz: Reinhold Schneider (1903–1958). Geschichtspoetik und Reichsidee. In: Freie Anerkennung übergeschichtlicher Bindungen. Katholische Geschichtswahrnehmung im deutschsprachigen Raum des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Thomas Pittrof u. Walter Schmitz. Freiburg/Br. 2010, S. 273–298, hier S. 278. 74 Hans Heinrich Ehrler: Der heilige Franziskus. In: Hochland 24 (1926/27), S. 35–50, hier S. 42.
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sei und „ohne gewalttätige Schichtung“75 auskomme. Synkretismus, von ihm als „Zivilisationsmischung“, „Versuch einer allgemeinen religiösen Ökumene“ und gar als „Konfusio der Konfessionen“ umschrieben,76 lehnte er formell strikt ab. Theorien vom Christentum als „Platonismus für das Volk oder die Judaisierung des Mithras“77 störten ihn empfindlich, weil sie das Konstruierte von Religionen historisierend und rationalisierend aufzudecken schienen. „Brahmanismus und Buddhismus“, der „asiatischen Seele religiöse Grundsubstanz“,78 glaubte der Vielbelesene zu kennen und zu respektieren. Den im späten 19. Jahrhundert von Persien ausgegangenen Bahaismus ehrte er für das „Walten großer frommer Gedanken“, sein Oberhaupt ‘Abdu’l-Bahá als „morgenländischen Weisen […], von dem sich eine neue ernste religiöse Bewegung auch in das Abendland gebreitet“ habe.79 Gerne zitierte er aus indischen, chinesischen und japanischen Quellen, wie sie namentlich der Verlag von Eugen Diederichs mit Hang zur freireligiösen Promiskuität verbreitete. Ehrlers ältester Förderer, der liberale Reichstagsabgeordnete Conrad Haußmann, hatte selbst zwei Bände chinesischer Gedichte (aus dem Englischen) übersetzt und die west-östliche Begegnung auch in Religion und Politik gefordert.80 Mit Blick auf die beschämende humanitäre Katastrophe des Großen Krieges und gegen deutsch-protestantischen Kulturtriumphalismus bemerkte Ehrler: „wir Abendländer haben zeitsachlich keinen Grund zur Überhebung“.81 Er bezog sich positiv auf die differenzierte Kritik der westlichen Kultur durch ein „Gelbgesicht“, den populären Pekinger Konfuzianer Gu Hongming (in damaliger deutscher Transkription Ku Hung-Ming) und zumal auf dessen Wertschätzung des Christentums als einer traditionellen moralischen Kraft. Der chinesische Philo75 76 77 78 79
Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 96. Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 250. Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 171. Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 262. Ehrler: Die Reise in die Heimat, S. 94. Zur Sache vgl. Georgi, Grözinger, von Lips u.a.: Synkretismus, S. 555, sowie Fereydun Vahman: Baha’ismus. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. v. Gerhard Müller. Bd. 5. Berlin, New York 1980, S. 115–132, zur Glaubenslehre von der „Einheit der Religionen“ hier S. 123 ff. Zum Synkretismus der neuen religiösen Bewegungen vgl. zusammenfassend Rainer Kampling, Bernhard Maier, Reinhart Hummel u.a.: Synkretismus. In: Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Aufl. Hg. v. Walter Kasper. Bd. 9. Freiburg/Br. 2000, Sp. 1178–1182, hier Sp. 1182. 80 Vgl. Conrad Haußmann: „Im Tau der Orchideen“ und andere chinesische Lieder aus drei Jahrtausenden in deutsche Strophen gebracht. München 1907, sowie ders.: Uralte Lieder aus dem Morgenland. Stuttgart 1922 (als Widmungsexemplar auch in Ehrlers Nachlass). Dazu Karin Rabenstein-Kiermaier: Conrad Haußmann (1857–1922). Leben und Werk eines schwäbischen Liberalen. Frankfurt/M., Bern u.a. 1993, S. 326 ff. 81 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 262.
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soph, der in Edinburgh und Leipzig studiert, in Peking und Tokyo gelehrt hatte, sah in der Tatsache des Weltkriegs allerdings den Beweis dafür, dass das Christentum allein nicht mehr stark genug sei, die westliche Zivilisation gegen englische „Pöbelverehrung“ und deutsche „Machtverehrung“ aufrechtzuerhalten.82 Um „die Zivilisation Europas der Welt zu retten“, bedürfe es „eine[r] neue[n] Religion“ unter Einbeziehung des Konfuzianismus.83 Gu Hongming wies zur Erreichung dieses Ziels allerlei Konsens- und Konvergenzpunkte in erster Linie zwischen der paulinischen Theologie und der konfuzianischen Ethik aus. Das für Ehrlers ‚Inneres Reich‘ konstitutive Jesuswort ,,Das Reich Gottes ist in Euch“ (Lk 17,20–21) bezog er z.B. auf die strenge, im Konfuzianismus gegebene Weltimmanenz der ‚neuen Religion‘.84 Entgegen Gu Hongmings Forderungen nach einer künftigen, auch und gerade aus China gespeisten Weltkultur wollte Ehrler eine „neue Mischung“ von Heilslehren, ein „eklektisches Fundament“ der zu erneuernden Nachkriegsgesellschaften indes nicht billigen.85 Wann immer er die Denksysteme und Haltungen von Platon bis Goethe und von Augustinus bis Konfuzius miteinander abglich, trieb ihn gerade die Sehnsucht, das Gemeinsame als das Entmischte, die philosophia perennis als das Unumstrittene, Gesamt- und Übermenschliche, d.h. Göttliche, zu erblicken.86 Das Fundament, in der Terminologie der jüngeren Synkretismusforschung die Systemebene, sollte rein bleiben, auf der Elementebene durften – und mussten – die heterogensten Ideen und Praktiken ineinandergearbeitet werden.87 Soweit demonstrierte Ehrler neben Romano Guardini und anderen ein „antisynkretistisches 82 Ku Hung-Ming: Der Geist des chinesischen Volkes und der Ausweg aus dem Krieg. Jena 1916, S. 32: „Die moralische Kraft, die in der Vergangenheit wirksam war, um die menschlichen Leidenschaften der europäischen Bevölkerung zu bezwingen und zu beaufsichtigen, ist das Christentum. Aber der jetzige Krieg und die ihm vorhergehende Rüstung scheint zu zeigen, daß das Christentum als moralische Kraft nicht mehr wirksam genug gewesen ist.“ 83 Ku Hung-Ming: Der Geist des chinesischen Volkes, S. 25. 84 Vgl. Ku Hung-Ming: Der Geist des chinesischen Volkes, S. 84. 85 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 262 f. – Zur Verbreitung und Bewerbung von Gu Hongmings Ideen, laut Verlagsprospekt „die große Synthese der Kulturen unter der Führung des deutschen Geists“, vgl. Irmgard Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt 1896–1930. Wiesbaden 1998, S. 384 f. u.ö. 86 Zu Katholizismus und philosophia perennis vgl. Felix Dirsch: Authentischer Konservatismus. Studien zu einer klassischen Strömung des politischen Denkens. Berlin, Münster u.a. 2012, S. 118 ff. 87 Ausführlich zu dieser Unterscheidung Ulrich Berner: Untersuchungen zur Verwendung des Synkretismus-Begriffes. Wiesbaden 1982, S. 96 ff., sowie ders.: The Notion of Syncretism in Historical and/or Empirical Research. In: Historical Reflections / Réflexions Historiques 27 (2001), S. 499–509.
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Bewußtsein der christlichen Bewegung“88, welches Religionsmengerei als Fehlentwicklung tabuisierte, mithin „antisynkretistische[] Leittendenzen und Programmwerte […] des Reinen“, wie sie gerade in historischen Perioden „gesteigerte[r] Mischungsintensitäten, Übergangslagen und Interferenzen“89 auftreten mögen. Die synkretistische Praxis dagegen war, worauf der älteste Wortgebrauch bei Plutarch deutet,90 eine Überlebensstrategie und als solche im Zeitalter der Ideologien zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg hochaktuell. Bestenfalls hätte sie im von Steding ausgerufenen ‚Ideenkampf ‘ absorbierend und substitutiv wirken sollen.91 Prokatholische Substitution war jedenfalls die Perspektive von Ehrlers engem Freund Herman Hefele für die vorübergehende Kooperation von Christdemokratie und Faschismus in Italien. Liegen die Verhältnisse damit schon schwierig genug, kommt hinzu, dass der Nationalsozialismus mit seinem ‚Catch-all‘-Prinzip – in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu seinen eigenen Reinheitsreklamationen – mindestens das zweitgrößte synkretistische Unternehmen des Abendlandes darstellte und gegenüber dem Christentum eben diese Strategie verfolgte: Integration der Elemente in das eigene System bis zur Implosion des fremden Systems.92 Die theologisch und religionswissenschaftlich geprägte Synkretismusforschung hat noch wenig geprüft, inwiefern Literatur und Feuilleton, Poesie und Essayistik privilegierte Medien synkretistischer Prozesse sind. Studien zur Erbauungsliteratur, die es von der Frühen Neuzeit her vielfach mit irenischen Tendenzen zu tun haben, weisen aber in diese Richtung.93 Bereits die Entstehung der Erbauungsliteratur aus einer „Verschmel88 Georgi, Grözinger, von Lips u.a.: Synkretismus, S. 541 (Hervorhebung StKT). Vgl. exemplarisch Romano Guardini: Universalität und Synkretismus. In: Jahrbuch der deutschen Katholiken 1 (1921), S. 150–155 (Replik auf Heiler: Katholizismus als Synkretismus), sowie Anton Antweiler: Synkretismus. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Hg. v. Michael Buchberger. Bd. 9. Freiburg/Br. 1937, Sp. 945–947, hier Sp. 945: „Der Synkretismus ist also die Fehlentwicklung neben dem organ. Wachsen.“ 89 Pittrof: Synkretismus und Epochenschwelle, S. 22 f. 90 Vgl. Georgi, Grözinger, von Lips u.a.: Synkretismus, S. 527 f. u. S. 544. 91 Vgl. zum substitutiven Synkretismus Berner: Untersuchungen zur Verwendung des Synkretismus-Begriffes, S. 101 f. 92 Vgl. diese These bei Thomas Schirrmacher: Hitlers Kriegsreligion. Textband. Bonn 2007, S. 71 f. u. S. 500, auf der Basis der Terminologie von Berner: Untersuchungen zur Verwendung des Synkretismus-Begriffes. 93 Vgl. unter anderem Irmgard Scheitler: Frömmigkeit ohne Konfessionsgrenzen. Spee-Rezeption in der protestantischen Erbauungsliteratur. In: Spee-Jahrbuch 13 (2006), S. 87–112, und Verf.: Menschen am Sonntag. In: Georg Philipp Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten. Hildesheim, New York 2006, S. I–LXXXVI, hier S. XXXVIII–XLII („Die Poetik der irenischen Kulturvermittlung“), ferner bereits Edmund Weber: Johann Arndts vier Bücher vom wahren
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zung von griechischer Philosophie und biblischer Frömmigkeit“94 trägt die synkretistische Signatur. Tatsächlich lässt sich die neutestamentliche Rede von Erbauung (etwa 1 Kor 3,10 ff.) geradezu als Begründungsmodell eines assimilierenden Synkretismus verstehen: Das Fundament (Systemebene) ist unabänderlich festgelegt, aber auf ihm darf und muss weitergebaut werden (Elementebene). Als intentional universalistischer, besonders aber franko- und italophiler Synkretist, der seine Rechtfertigung in Franz von Assisi und dessen Gesetz der AllLiebe fand, war Ehrler ein geübter und gewohnheitsmäßiger ‚Brückenbauer‘, wie man die Akteure eines katholisch-nationalsozialistischen Zusammengehens mit einem Bild bezeichnet hat, das die Verlaufslinien in dieser synkretistischen Verflechtungsgeschichte sicherlich zu starr zeichnet und dadurch auch die Abweisung der Sache erleichtert hat.95 Die Germanenmythologie, wie sie in der völkischen BeChristentum als Beitrag zur protestantischen Irenik des 17. Jahrhunderts. Eine quellenkritische Untersuchung. 3., verb. Aufl. Hildesheim 1978, bes. S. 35 ff. (in der Sache – Arndts Aneignung der Mystik auf Lutherischer Grundlage – den absorbierenden Synkretismus beschreibend), zusammenfassend S. 40: „Er konnte aus allen Quellen schöpfen, gleichgültig aus welcher Konfession sie stammten, zielten sie nur darauf ab, das christliche Leben konkret zu erbauen.“ 94 Mohr, Procopé u. Wulf: Erbauungsliteratur, S. 29. Vgl. Gerhard Friedrich u. Gerhard Krause: Erbauung. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. v. Gerhard Müller. Bd. 10. Berlin, New York 1982, S. 18–28, hier S. 18 f. 95 Vgl. Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich, S. 300 ff., S. 482 ff. u. S. 627 ff., sowie Heinz Hürten: Deutsche Katholiken 1918–1945. Paderborn, München u.a. 1992, S. 214–230 („Brückenbau?“), der mehr als Scholder für das nur Vereinzelte, sachlich Grundlose und letztlich auch Spurlose katholischer NS-Kooperation argumentiert; ähnlich Klaus Schatz: Zwischen Säkularisation und Zweitem Vatikanum. Der Weg des deutschen Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1986, S. 239 ff. – Kritischer hierzu die jüngeren Bilanzen von Karl-Joseph Hummel: Kirche und Katholiken im Dritten Reich. In: Zeitgeschichtliche Katholizismusforschung. Tatsachen, Deutungen, Fragen. Eine Zwischenbilanz. Hg. v. dems. Paderborn, München u.a. 2004, S. 59–82, Anton Grabner-Haider: Hitlers mythische Religion. Theologische Denklinien und NS-Ideologie. Köln, Wien u.a. 2007, S. 177–197 („Theologische Brückendenker“), Michael Kißener: Katholiken im Dritten Reich: eine historische Einführung. In: Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten. Hg. v. Karl-Joseph Hummel u. dems. Paderborn, München u.a. 2010, S. 13–35, sowie Antonia Leugers: Forschen und forschen lassen. Katholische Kontroversen und Debatten zum Verhältnis Kirche und Nationalsozialismus. In: Widerstand? Forschungsperspektiven auf das Verhältnis von Katholizismus und Nationalsozialismus. Hg. v. Andreas Henkelmann u. Nicole Priesching. Saarbrücken 2010, S. 89–109. – Weiterführend Rainer Bucher: Hitlers Theologie. Würzburg 2008, S. 125–146 („Kirchenreform mit Hilfe von Hitlers Theologie“), Lucia Scherzberg: Katholische Dogmatik und Nationalsozialismus. In: Die katholische Schuld? Katholizismus im Dritten Reich – Zwischen Arrangement und Widerstand. Hg. v. Rainer Bendel. 2. Aufl. Münster 2004, S. 177–194, und dies.: Katholizismus und völkische Religion 1933–1945. In: Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte. Hg. v. Uwe Puschner u. Clemens
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wegung mehr erfunden als entdeckt wurde, gehört zwar zu dem Wenigen, für das er zeitlebens kein liebendes Verständnis fand. Gleichwohl lief seine synkretistische Praxis, nach nur kurzer Beirrung, über das Jahr 1933 hinaus und fand auch im Nationalsozialismus reichlich Baumaterial. Ehrlers Mastertrope des ‚Inneren Reichs‘ stand schon terminologisch in der Mitte zwischen ‚Innerer Emigration‘ und ‚Drittem Reich‘. Aus dieser Position heraus konnte der Dichter zum Gegenstand konkurrierender Kanonisierungsbemühungen werden, in denen ihn katholische Organe und Institutionen ebenso für sich beanspruchten wie nationalsozialistische. Dies disponierte ihn zum janusköpfigen Mittler nichtnationalsozialistischer Personen und Gruppen, die nach Anknüpfungspunkten an das Dritte Reich suchten, umgekehrt aber auch glaubten, Ehrler ihr ausgeprägtes Unbehagen am „unheimliche[n] Leben“96 und am „Wust von Ideologien“97 im NS-Staat anvertrauen zu dürfen. Ungezügelte, sakralsprachlich befeuerte Hitlerpanegyrik wechselte in dieser Gemengelage mit Formen eines verdeckt zeitkritischen Schreibens, das die guten Beziehungen zu nationalsozialistischen Förderkreisen nur bedingt einschränkte. Ehrler arbeitete noch bis zu seinem Todesjahr 1951 mit dem ihm eigenen Fleiß, aber ohne eingestandenes Bewusstsein für den kulturidealistisch-reichsideologischen Verstrickungszusammenhang und stellte die Nachkriegsgesellschaft so auf eine Probe, die sie in der nachträglichen Sanktionierung seiner Legitimatorenrolle besser bestand als im stark manipulierten Entnazifizierungsverfahren gegen den Dichter, der ungeachtet äußerer Verstrickungen „für den deutschen Geist und das innere Reich geschaffen“98, „immer dem … inneren Reich und dem Frieden [gedient]“99 haben wollte. Unter anderem mit einem anspruchsvoll gemeinten Buch der Verantwortung beteiligte er sich noch am Schuld- und Rechtfertigungsdiskurs der frühen Nachkriegszeit, geriet im Übrigen hauptsächlich dafür zum Exempel, wie man in
96 97 98 99
Vollnhals. Göttingen 2012, S. 299–334. – Zur Analyse und Kritik einer ‚kirchenloyalen Katholizismusforschung‘ einschließlich derjenigen von Hürten und Hummel nachdrücklich Olaf Blaschke: Geschichtsdeutung und Vergangenheitspolitik. Die Kommission für Zeitgeschichte und das Netzwerk kirchenloyaler Katholizismusforscher 1945–2000. In: Freie Anerkennung übergeschichtlicher Bindungen. Katholische Geschichtswahrnehmung im deutschsprachigen Raum des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Thomas Pittrof u. Walter Schmitz. Freiburg/Br. 2010, S. 479– 521. Theodor Abele an Hans Heinrich Ehrler, 23. Dezember 1938, NL Ehrler. Theodor Abele an Hans Heinrich Ehrler, 24. August 1934, NL Ehrler. Ministerium für politische Befreiung, Spruchkammer 6 – Böblingen, Akte Heinrich Ehrler, Staatsarchiv Ludwigsburg, Sign. EL 902/4 Bü 2719, Vorgang 12. Aus einem Brief Ehrlers vom Oktober 1949 zit. n. Siegfried Schulz: Hans Heinrich Ehrler – Der Waldenbucher Dichter. In: ders.: Einblicke. Skizzen zur Geschichte der Stadt Waldenbuch. Waldenbuch 1996, S. 58–64, hier S. 61.
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Prozessen der Entkanonisierung, hier durch die epochale Entliterarisierung des Erbauungsfachs angetrieben, von einem bekannten zu einem unbekannten Dichter, zu einem literaturhistorisch unbewältigten Produzenten ästhetisch heteronomer Kitsch- und das heißt Nicht-Literatur wird.
2. „göttliche Berufung“ und „Ein-Mann-Heilsarmee“: Forschungsgeschichte 1930 bis 2017
Hans Heinrich Ehrler war Akteur unter anderem in einem zwischen ca. 1930 und 1942 voll entfalteten Regionalnetzwerk von Geisteswissenschaftlern, das die Tübinger Ordinarien Paul Kluckhohn und Otto Weinreich umfasste, den Stuttgarter Germanistikprofessor Hermann Pongs, den Sekretär des Marbacher Schillernationalmuseums Helmut Paulus, den Stuttgarter Staatsarchivar Rudolf Krauss und den Chefredakteur des Stuttgarter Neuen Tagblatts Wilhelm Günzler. Man war sich durch öffentliche Veranstaltungen wie etwa die Schillerfeiern von 1934100, wechselseitige Geburtstagseinladungen sowie durch teils umfangreiche Briefwechsel verbunden. Ehrler sprach von den Privatzusammenkünften als von „Symposien“101. Pongs schilderte den Kreis in seiner Hexameter-Idylle Der Geburtstag des Dichters unter Bezug auf die Feier von Ehrlers 65. Geburtstag am 7. Juli 1937.102 Erhielt Ehrler von Krauss regelmäßig Rezensionen, von Günzler Presseverbindungen und von Paulus die Marbacher Anbindung, so bemühte sich Pongs, ein Frontmann der NSGermanistik, um die literaturhistorische Etablierung des Freundes, der so trefflich den Konnex der Hochwerte von Heimat, Reich und Abendland vertrat. Pongs hat sich in der Mehrzahl seiner Publikationen zur Gegenwartsliteratur auf Ehrler bezogen, so bereits in seiner Pionierstudie Das Hörspiel (1930), die mit der kanonpolitisch unterlegten Bemerkung und Aufzählung beginnt: „Eine Reihe bekannter Schriftsteller hat in den letzten Jahren besondere Hörwerke für den Rundfunk verfasst: Brecht, Bronnen, Ehrler“.103 Der Berliner Avantgarde wurde 100 Vgl. zu deren Programm und Gästen: Schwäbischer Schillerverein (Hg.): Achtunddreißigster Rechenschaftsbericht. Stuttgart 1934, S. 46–55, zu Ehrler, Pongs u.a. hier S. 47. 101 Hans Heinrich Ehrler an Helmut Paulus, 30. Juni 1941, DLA Marbach, Sign. A:Paulus, unter Nennung von Günzler, Kluckhohn, Pongs und Weinreich. 102 Vgl. Hermann Pongs: Der Geburtstag des Dichters [Teilabdruck]. In: Klassiker in finsteren Zeiten 1933–1945. Hg. v. Bernhard Zeller. Marbach 1983, Bd. 2, S. 186–189. 103 Hermann Pongs: Das Hörspiel. Stuttgart 1930, S. 3 unter Bezug auf drei ungedruckte Hörspiele, die Ehrler 1929/30 geschrieben hat und vom Süddeutschen Rundfunk unter der Spielleitung von Carl Struve produziert wurden: Der Wanderer (über Franz von Assisi), Orpheus und Eurydike und Der Sender. Vgl. zu Ehrlers Rundfunkarbeiten und -auftritten Alfred Bofinger: [ohne
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so zwar noch der Vortritt gelassen, der Stuttgarter Antimodernist aber, der dem Menschenwesen einen „inneren Rückdrang nach seinen Herkünften“104 zuschrieb, gezielt als Gegengewicht eingeschaltet. Ehrler hat sich beflissen damit revanchiert, der Sprecherfigur seines literaturhistorischen Hörspiels Unsere Frau Muttersprache (1938, s. Kap. V.4) den Vornamen Hermann und auch die für ihn vorteilhaften Ansichten des damals an der TH Stuttgart lehrenden Germanisten beizulegen. Pongs’ Programmschrift Krieg als Volksschicksal im deutschen Schrifttum von 1934 widmet Ehrlers Roman Wolfgang (1925) ein ganzes Kapitel, nämlich im konfessionell naheliegenden Vergleich mit Hans Carossas Rumänischem Tagebuch (1924). Vollauf bestätigt wurde hierbei Ehrlers eigenes Autorschaftskonzept: „die göttliche Berufung des Dichters“, der den Seinen weiterspendet, was er von Gott erhält, „in liebender Verantwortung gegenüber dem Volk, gläubig vor dem Göttlichen, ungespalten in Leben und Geist, unverwirrt durch Ängste des Ich, schuldlos, reinen Herzens, naiv“. Dichtung, hieß das, „muß uns wieder Offenbarung werden“, der Dichter Prophet.105 In geistesgeschichtlicher Perspektive verortete Pongs seinen späteren NSDAP-Parteigenossen „in der Frömmigkeit der katholischen Kirche und in der Kulturgesinnung des deutschen Idealismus“ oder auch in einer biedermeierlichen „Bürgerklassik“106 mit „gesicherte[r] edelbürgerliche[r] Haltung“107. Als Herausgeber der renommierten Zeitschrift Euphorion, die inzwischen unter dem NS-konformen Haupttitel Dichtung und Volkstum erschien, urteilte der Protestant 1937: „Wir haben heute im ganzen Deutschland keine Stimme, so seelenhaft, so rein aufklingend aus der frommen Einfalt des Herzens wie die Lyrik Hans Heinrich Ehrlers“, die wie durch ein „Wunder“ die „ganze heile Welt aus sich entfaltet“.108 Diese Kanonpolitik lief in Pongs’ vielaufgelegtem Kleinem Lexikon der Titel, Beitrag zur Tagung „Literatur und Rundfunk“, Kassel 1929]. In: Literatur und Rundfunk 1923–1933. Hg. v. Gerhard Hay. Hildesheim 1975, S. 166–169, hier S. 169, sowie Theresia Wittenbrink: Schriftsteller vor dem Mikrophon. Autorenauftritte im Rundfunk der Weimarer Republik 1924–1932. Eine Dokumentation. Berlin 2006, S. 173. 104 Hans Heinrich Ehrler: Meine Fahrt nach Berlin. Erlebnisse eines Provinzmanns. Stuttgart 1929, S. 49. 105 Hermann Pongs: Krieg als Volksschicksal im deutschen Schrifttum. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte der Gegenwart. Stuttgart 1934, S. 53 f. 106 Hermann Pongs: Zur Bürgerkultur des Biedermeier (Bürgerklassik). In: Dichtung und Volkstum. Neue Folge des Euphorion 36 (1935), S. 141–163, hier S. 142: „bei Ehrler reicht das Biedermeier geradezu, vom zähen schwäbischen Idealismus vor dem Zerfall bewahrt, bis in die Gegenwart hinein“. 107 Pongs: Krieg als Volksschicksal, S. 55. 108 Hermann Pongs: Hans Heinrich Ehrler zum 65. Geburtstag. In: Dichtung und Volkstum. Neue Folge des Euphorion 38 (1937), S. 194–198, hier S. 198.
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Weltliteratur (zuerst 1954) aus, in dem Ehrler geradezu liebevoll, der Exilant Carl Zuckmayer beispielsweise überhaupt nicht gewürdigt wird: Der Dichter sei „[s] chwäbisch-fränkischer Lyriker […] aus katholischer Substanz“, „[g]egen den Weltkrieg“ – wie immer das gemeint sein kann – habe er „sein Heimatgedicht O Heimat wir sind alle dein“ geschrieben, in Meine Fahrt nach Berlin behaupte sich „gegen die Großstadt […] das stille Herz der Provinz“. Die Romane seien ihm nicht geraten, „[u]m so vollkommner […] die lyrischen kleinen Gedichte“, die in zahlreichen Gedichtbänden reiften.109 Einschränkend fand Pongs auch ein Ungenügen an Ehrlers Werk, nämlich ein übereiltes Harmonisierungsstreben, das sich zu wenig auf die Wirklichkeit eingelassen habe, bevor es die Schleier der Liebe über sie breite. Der an Heidegger geschulte Germanist erwartete von Dichtung, kurz gesagt, das Umschlagen existentieller „Geworfenheit“ in symbolisch-formale „Getragenheit“.110 Ehrlers erbauungsliterarischer Ansatz kam dem in der Aufeinanderbezogenheit von Trauer und Trost zwar grundsätzlich entgegen, verweilte jedoch zu wenig im Schicksalhaften der Existenz. Pongs benannte ausdrücklich die zu wohlige „Selbstverliebtheit“111 von Ehrlers kauzigen Protagonisten, indirekt damit auch die ihres Schöpfers, darüber hinaus die mangelnde Vitalität jener vergeistigten Helden, die mit ihrer „kleinen, geheimnisvollen Lücke im Denkwerk“112 einen leicht dekadenten Eindruck erwecken konnten. Der privaten Freundschaft haben diese sachlichen Einschränkungen keinen Abbruch getan, im Gegenteil. In persönlicher Kenntnis des Autors brachte Pongs Verständnis dafür auf, dass sich „die Innigkeit dieser Seele“ vor der „letzten Härte des Verhängnisses“ habe verschließen müssen. Er erklärte Ehrler zu einem „im edelsten Sinn unpolitische[n] Dichter“113 – so im Jahr 1934, als definitive NS-Bekenntnisse Ehrlers noch ausstanden, aber ‚unpolitisch‘ bereits heißen sollte, dass man über Parteien und Parlamentarismus stehe, nämlich im sinnvollen Traditionskontinuum der deutschen Geistesgeschichte.114 109 Vgl. Hermann Pongs: Das kleine Lexikon der Weltliteratur. Stuttgart 1954, Sp. 396 f. 110 Vgl. Wilhelm Voßkamp: Kontinuität und Diskontinuität. Zur deutschen Literaturwissenschaft im Dritten Reich. In: Wissenschaft im Dritten Reich. Hg. v. Peter Lundgreen. Frankfurt/M. 1985, S. 140–162, hier S. 148 f., sowie Gerhard Kaiser: Grenzverwirrungen. Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus. Berlin 2008, S. 519. 111 Pongs: Krieg als Volksschicksal, S. 55. 112 Ehrler: Elisabeths Opferung, S. 9. 113 Pongs: Krieg als Volksschicksal, S. 56 f. 114 Vgl. hierzu immer noch Fritz Stern: Die politischen Folgen des unpolitischen Deutschen. In: Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870–1918. Hg. v. Michael Stürmer. Düsseldorf 1984 (zuerst 1970), S. 168–186.
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Noch zu Ehrlers Lebzeiten sind zwei Monografien über ihn geschrieben worden. Zuerst die englischsprachige, 1938 an der University of Wisconsin verteidigte Dissertation von Victor Jacob Lemke, deren Zusammenfassung im selben Jahr als Aufsatz in den Monatsheften für deutschen Unterricht erschienen ist. Der in den USA geborene Verfasser bekleidete später eine germanistische Professur an der West Virginia University. Unter dem generalisierenden Titel Hans Heinrich Ehrler leistete Lemke einen Überblick über die literarischen Buchveröffentlichungen von den Briefen vom Land (1911) bis zu Unter dem Abendstern (1937), analysierte dabei in Ausdrücken höchster Bewunderung Biografie, Weltsicht und Sprache des Dichters. Das publizistische Werk wie in der Frankfurter Zeitung sowie in den Zeitschriften März und Simplicissimus blieb genauso ausgeklammert wie die heiklen Fragen der Nation und des Reichs. Die Ehrlereinlassungen von Pongs wurden zu diesem Zweck fast vollständig ignoriert. Von Wertungsfragen abgesehen, sind Lemkes umfangreiche kundige Ausführungen weithin zutreffend und in ihrem Informationsgehalt durch spätere Arbeiten nicht mehr übertroffen worden. Als ausschlaggebend gilt das Konfessionelle, wobei Lemke die unorthodoxen, ökumenischen und weltreligiösen Anteile sicherlich unterschätzte: „[Ehrler’s] philosophy is that of a sincere Catholic and can in nearly every detail be reconciled with Catholic tenets“.115 Lemke glaubt, dem Dichter „the assimilated insight of many thinkers“116 und „a philosophy of unusual complexity and unity“117 auf der Grundlage einer gesicherten christlich-platonischen Dogmatik attestieren zu können. ‚Assimilation‘ mit dem Ergebnis von ‚Einheit‘ ist eine relativ positive Einschätzung von Ehrlers Synkretismus, der gewiss System hat, aber auch – dies sah Pongs richtiger – von Harmonisierungszwängen, Verbiegungen und tieferliegenden Unstimmigkeiten gekennzeichnet ist, mithin dem äußeren Zweck einer möglichst breiten Adressierbarkeit diente. In Ehrlers flexibler Formensprache zwischen Volkslied und Sonett fand Lemke „a rhythmical vividness and a polished beauty that only a master could have bestowed“.118 Mit seiner Neigung zu „metrical aphorisms“119 bleibe Ehrler auch als Lyriker Philosoph. Er betreibe eine Art volkspädagogischer Spracherziehung, wenn er mit dem Publikum einen spirituellen Sprachgebrauch über der Alltagssprache einübe, z.B. mit der Unterscheidung zwischen ‚Gesicht‘ und ‚Antlitz‘; daher kämen auch die vielen kirchenlateinischen Termini wie anima, canon, com115 Lemke: Hans Heinrich Ehrler (Diss.), S. 40. 116 Lemke: Hans Heinrich Ehrler (Diss.), S. 40. 117 Victor Jacob Lemke: Hans Heinrich Ehrler. In: Monatshefte für deutschen Unterricht 30 (1938), S. 433–439, hier S. 436. 118 Lemke: Hans Heinrich Ehrler (Monatshefte), S. 436. 119 Lemke: Hans Heinrich Ehrler (Diss.), S. 135.
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munio und lavabo. Die erbaulich-konsolatorische Funktion dieser Literatur unter den deutschen Geschichtsbedingungen hat Lemke besonders klar und verständnisvoll gesehen: „in a time of economic deprivation what is more natural than to denounce possessions and proclaim the blessings of the spiritual world! Ehrler probably adopted the poverty-principle as a consolation to him and others.“120 Einen sehr anderen Charakter besitzt die erklärtermaßen aus Ehrlers FanGemeinde, „eine[r] Art Jüngerschaft“121, heraus geschriebene Monografie der Münchner Germanistin und Starnberger Lehrerin Henriette Herbert: Hans Heinrich Ehrler. Versuch einer Wesensschau (1942). Die Arbeit schwankt zwischen ritueller Dichterverehrung („Welch ein Glaube an die Kunst des Wortes und an sich selbst, den Dichter, der diesem Worte dient!“122), teilnehmenden Beobachtungen der Verfasserin (als Gast in Ehrlers Haus) und theoretischen Rekonstruktionen aus der Existenzphilosophie von Heidegger und Jaspers (angesprochen in Wendungen wie „Fähigkeit, sich ergreifen zu lassen“, „Selbstauslese durch Disziplin des inneren Handelns“, „Dichtung […] sagt mehr als sie aussagt“123). Der ungebremst beatifikatorische Untersuchungsgang kreist um die einzelnen Aspekte und die höhere Einheit der Dichterpersönlichkeit: „Der Wesentliche“, „Der Reine“, „Der Fordernde“ etc. lauten die Kapitelüberschriften, zu deren Ergänzung ein kritischerer Ehrlerfreund, Hermann Breucha, treffenderweise das Kapitel „Der Irrende“ vorgeschlagen hat.124 Die positiven Ehrlerurteile von Pongs wurden vollständig übernommen, die Einschränkungen übergangen. Ehrlers literarischer Traditionalismus, von der späteren Forschung als eklektizistische Epigonalität ausgewiesen, erscheint als Leistung „bewundernswerter Anempfindung“, da es sich freilich um „heroische Vorbilder“ von Dante bis Goethe handle.125 „[G]eistige Verwandtschaft“ bis in die Fundamente des Abendlands und der „sänftigende[] Zustrom aus den Quellen dieser erlesenen Geister“ gelten hier viel, Originalität und Individualismus wenig.126
120 Lemke: Hans Heinrich Ehrler (Diss.), S. 39. 121 Henriette Herbert: Hans Heinrich Ehrler. Versuch einer Wesensschau. Krailling vor München 1942, S. 5. 122 Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 12. 123 Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 43, S. 81 u. S. 125. 124 Hermann Breucha: Erinnerung an Hans Heinrich Ehrler. Vortrag vor der Württembergischen Bibliotheksgesellschaft (Stuttgart) am 21. Februar 1961. In: Abraham Peter Kustermann: Hans Heinrich Ehrler und Hermann Breucha. Schwäbischer Kulturkatholizismus auf Abwegen. In fünf Dokumenten aus dem Nachlass Hermann Breucha. In: Region – Religion – Identität. Tübinger Wege. Hg. v. Rainer Bendel u. Josef Nolte. Berlin 2017, S. 87–115, Nr. 3. 125 Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 49 u. S. 51. 126 Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 72 f.
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Der Verfasserin war besonders daran gelegen, Ehrlers „Vaterlandsliebe“ als „Bangnis um das ‚Reich im Reich‘“ zu definieren, um das allein es dem Weisen und Dichter stets gegangen sei. Sein Nationalgefühl gelte den „Heroen des deutschen Geistes“. Sein Heimatbegriff meine den „Quell der höheren, jenseitigen Heimat“.127 Zu den Ursachen, die Ehrler für den Ersten Weltkrieg identifiziert habe, wird eine Stelle des Romans Briefe aus meinem Kloster (1922) zitiert: Die Idee schuf das Reich. Da dieses aber den Deutschen zuteil wurde, haben sie die Herkunft des Werkes nicht erkannt und keine Gemeinschaft des Wesens unter sich gefunden. Sie wurden Mammon untertan und haben dem Tier gedient, welches den Krieg und die Katastrophe gebar.128
Unter dem Eindruck des Kriegsjahres 1942 verrät Herbert, die zum MünchenStarnberger Kreis um den katholischen Verleger Erich Wewel gehörte und ihr Ehrlerbuch in dessen katechetisch geprägtem Programm veröffentlichte,129 Ansätze zu staatskritischen Perspektiven. Als einem unerreichten Ideal von innerem Reichtum und äußerer Ordnung leuchtete ihr aus Ehrlers Werk jenes christliche Mittelalter, das aus römischer Form hervorgewachsen sei: „auch unter morgenländischen Zuflüssen“130, wie es in vorsichtig anspielender Anerkennung jüdischer Anteile heißt. Auf dieses ‚heilige Reich‘ beziehen sich die Restaurationshoffnungen: „Nie verlorenes Erbe wird zurückgewonnen, vertieft, geklärt, verwesentlicht“.131 Über allem aber stehe „das gemeinsame völkische Schicksal“, das dieser Dichter einer „Zeitenwende“ persönlich erleide.132 Für den Schluss des Buches hob sich die Autorin die Richtungsentscheidung über diese epochale Wende auf: Von den antipreußisch-staatskritischen Ansätzen unberührt, ist es das helle „Ja“ zum „Rufer“ Hitler. Dafür stützte sich Herbert auf Ehrlers im nationalsozialistischen Leit organ Die Neue Literatur publizierten ‚Führer‘-Essay Die Stimme sowie auf sein in den Prestigeanthologien von Herbert Böhme und Gerhard Schumann verwendetes Gedicht Gebet des Deutschen, das unumwunden mit dem Wunsch endet: „O
127 Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 170, S. 60, S. 47. 128 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 125; vgl. Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 178. 129 Vgl. Dagmar Olzog u. Johann Hacker (Hg.): Dokumentation deutschsprachiger Verlage. 14. Ausg. Landsberg 2001, S. 326. 130 Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 26. 131 Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 19 f. 132 Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 18 f.
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mache, HERR, das Reich uns rein und groß.“133 Dieses Reich wird klar europäisch dimensioniert. Die „Nation“ war darin „erste notwendige Vorform“, Ziel aber die „wieder gläubig“ gewordenen Deutschen als „gute Europäer“.134 Die wiederholte Reklamation eines „eingeborenen Kräftestrom[s]“, der durch die „deutschen Ahnen“ und das „Erbe des Blutes“ fließe,135 legt die notwendigerweise privilegierte Stellung Deutschlands in diesem Europa nahe. Der Krieg galt Herbert hierunter als eine regelrechte Bildungsmacht, welche die Jugend „hell wach“ mache und „früh reifen“ lasse. Ehrlers (einziger) Kriegsroman Wolfgang gebe hierfür das leuchtende Beispiel einer Erziehung zu „verantwortungsvoller Selbstzucht und Opferbereitschaft“, zur „Einordnung in das Ganze der Volksgemeinschaft“.136 So könne dem „Schlund des Untermenschentums“, der sich im Berlin der Weimarer Republik geöffnet und durch „Wahlrecht und Gleichberechtigung“ nur vergrößert habe, entronnen werden.137 Alles in allem vermittelt Herberts Ehrlerbuch den Eindruck einer bildungskatholischen Kollaboration mit dem Dritten Reich auf der Grundlage von urbanitätskritischem Antiliberalismus, abendländischen Reichsansprüchen und opfertheologischer Kriegsbilligung. In der frühen Bundesrepublik standen die wissenschaftlichen Ehrlerreferenzen unter dem Eindruck der lauteren Christlichkeit und des ehrenwerten Traditionalismus des Autors. Bei Fritz Martini, einem der angesehensten Germanisten der Nachkriegszeit, figurierte er bedeutsam als von „religiös-philosophische[m] Grüblertum“ bestimmter „Romantiker zwischen Traum und Wirklichkeit“. Insbesondere an seiner Lyrik sei zu bewundern, „wie aus dem empfindsam wachen Gefühl prophetische Ahnungen“ aufstiegen. In dem Dichter – und hier traf Martini sicherlich Entscheidendes von Ehrlers Selbstverständnis – bleibe so „immer der Priester gegenwärtig, der um seine Verantwortung vor dem Göttlichen weiß und Dasein von innen erschaut“.138 Paul Kluckhohn, der dem späten Ehrler einen Tübinger 133 Hans Heinrich Ehrler: Unter dem Abendstern. München 1937, S. 65 (u. d. T. Zu Zweien darf ich sagen: Du!), Herbert Böhme (Hg.): Gedichte des Volkes. Vom Jahr 1 bis zum Jahr 5 des dritten Reiches. München 1938, S. 55, sowie Gerhard Schumann (Hg.): Lyrik der Lebenden. München 1944, S. 349; ferner: Brot und Wein. Dichtergabe aus Südwestdeutschland 4 (1942), S. 23 (u. d. T. Das Reich). Vgl. Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 183. 134 Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 182 f. 135 Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 36. Vgl. die Rede von der „Erbschaft des Blutes“ bei Hans Heinrich Ehrler: Briefe vom Land. München 1911, S. 48. 136 Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 115 f. 137 Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 155 u. S. 159. 138 Fritz Martini: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 2. Aufl. Stuttgart 1950, S. 562 f. Zur nationalsozialistischen Note von Martinis wissenschaftlicher Herkunft vgl. Kaiser: Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus, S. 115 ff.
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Verlag vermittelt und bei einer Auswahlausgabe seiner Gedichte (Unsre Uhr hat einen Zauberschlag, 1950) beraten hat,139 behielt ihn neben Ina Seidel, Hermann Stehr und Ernst Wiechert für eine Literatur in Erinnerung, die das gegenwartsbeseelende ‚Mit-dem-Herzen-Denken‘ erlernt und die Gemeinschaftsbindung als Liebe zwischen den Generationen im Gegensatz zur Generationsfeindschaft des Expressionismus beschworen habe.140 Dabei war zunächst an die Mutter-KindBeziehung gedacht, die der mutterlos aufgewachsene Dichter – Margaretha Ehrler war 1877 verstorben – in der Tat manisch umkreist hat: Ein Beispiel gibt sein Gedicht Tote Mutter von 1928.141 Mit Gegenwartsbeseelung und Generationenkette sprach Kluckhohn aber auch zentrale Motive des Konzepts vom ‚Inneren Reich‘ an. Die Neue Deutsche Biographie sah Ehrler 1959 bereits selbst in das ewige Reich des deutschen Geistes aufgegangen. Sie empfiehlt ihn als populären christlichen Dichter, der in seiner Lyrik „Unvergängliches […] geleistet“ habe, dessen Frühwerk wie manches aus den „späteren Gedichtbänden“, d.h. aus der NS-Zeit, „Volksgut bleiben“ werde.142 Einen ganz anderen Ton traf in den 1970er Jahren dann Friedemann Spickers ideologiekritisch verpflichtete Dissertation Deutsche Wanderer-, Vagabunden- und Vagantenlyrik in den Jahren 1910–1933. Ehrler erscheint darin aus gutem Grund neben dem Heimatschützer und ‚Wanderkünstler‘ Ludwig Finckh.143 Unter vielfacher Berücksichtigung der Gedichtbände Frühlingslieder (1913), Gesicht und Antlitz (1928) sowie Neuer cherubinischer Wandersmann (1941) deckte Spicker die funktionalisierte Naivität von Ehrlers Naturbildern zusammen mit ihren irrationalistischen und eskapistischen Motiven auf, wie sie besonders in den Kontext der bürgerlichen Jugendwanderbewegung gehören. Lyrisch gedeutetes Landschaftserleben habe hier als „Mittel zu Heimatliebe und Nationalgefühl“144 gedient. Die omnipräsente Mutterfigur stehe dabei für Rückkehrwünsche und die „Sehnsucht nach Heimatbindung“145. Mit Blick auf beträchtliche Umsatzmengen von Mittelal139 Vgl. Paul Kluckhohn an Hans Heinrich Ehrler, 26. Oktober 1943 u. 12. Februar 1948, DLA Marbach, Sign. A:Ehrler. 140 Paul Kluckhohn: Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in der deutschen Dichtung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 29 (1955), S. 1–19, hier S. 12 u. S. 18. 141 Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 13. 142 Otto Borst: Ehrler, Hans Heinrich. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 4. Berlin 1959, S. 361 f. 143 Vgl. Friedemann Spicker: Deutsche Wanderer-, Vagabunden- und Vagantenlyrik in den Jahren 1910–1933. Berlin, New York 1976, S. 47, S. 50 ff., S. 71 f. u. S. 117 f. 144 Spicker: Deutsche Wanderer-, Vagabunden- und Vagantenlyrik, S. 7. 145 Spicker: Deutsche Wanderer-, Vagabunden- und Vagantenlyrik, S. 45, vgl. auch S. 200–205 („Kindheit und Heimat“).
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ter- und Frühneuzeitrezeption fand Spicker in diesem umfangreichen Quellencorpus eine utopisch-antimodernistische „Kultivierung des Alten“, die „traurige Triumphe“ erreiche.146 In der jüngeren, weniger ideologiekritisch als kulturhistorisch angelegten Forschung zur sogenannten Wanderliteratur hat man Ehrlers im kirchennahen Bonifacius Verlag erschienene Erzählsammlung Wanderer und Pilger (1950) nicht übersehen. Diese Art von Schriften, mit dem Innovationsschub der Wanderkultur um 1900 verbunden, habe unter anderem zur „kulturhistorische[n] Selbstvergewisserung der Bürger“ gedient (bei Ehrler etwa im Abschreiten der Donauklöster oder des Geländes von Maulbronn) und „Raumerkenntnis“ mit „elementarer Selbsterkenntnis“ verknüpft (bei Ehrler besonders in christlichen homo viator-Motiven).147 Die Forschung zur nationalsozialistischen Klassikerrezeption, wie sie Norbert Oellers 1976 angestoßen hat, verzeichnete weitgehend kommentarlos Ehrlers Beiträge zu den Schillerfeiern von 1934.148 Studien zur ‚Führer-Hymnik‘ haben Ehrlers Anteil an der Anthologie auf Hitlers 50. Geburtstag zumindest in stichwortartiger Charakteristik mitberücksichtigt.149 Bei der Prüfung dessen, was die nationalsozialistische Literaturgeschichtsschreibung selbst als zu ihrem Kanon gehörig beansprucht hat, führte man Ehrler unter den „nationalsozialistischen Autoren im weiteren Sinn“ auf (ca. 70 Schriftsteller im fließenden Unterschied zu ca. 20 NS-Autoren „im engeren Sinn“) und unter denjenigen, die dem „‚völkischnationalistischen‘ Literaturprogramm unmittelbar bzw. als Vorläufer zuzuordnen“ 146 Spicker: Deutsche Wanderer-, Vagabunden- und Vagantenlyrik, S. 117. 147 Wolfgang Albrecht: Kultur und Physiologie des Wanderns. Einleitende Vorüberlegungen eines Germanisten zur interdisziplinären Erforschung der deutschsprachigen Wanderliteratur. In: Wanderzwang – Wanderlust. Formen der Raum- und Sozialerfahrung zwischen Aufklärung und Frühindustrialisierung. Hg. v. dems. u. Hans-Joachim Kertscher. Tübingen 1999, S. 1–12, hier S. 3 u. S. 10. Vgl. Wolfgang Albrecht u. Hans-Joachim Althaus: Quellenbibliographie zur Wanderliteratur. In: Wanderzwang – Wanderlust. Formen der Raum- und Sozialerfahrung zwischen Aufklärung und Frühindustrialisierung. Hg. v. dems. u. Hans-Joachim Kertscher. Tübingen 1999, S. 239–309, hier S. 253. 148 Vgl. Norbert Oellers (Hg.): Schiller – Zeitgenosse aller Epochen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Schillers in Deutschland. Teil 2: 1860–1966. München 1976, S. 498 u. S. 612, Bernhard Zeller (Hg.): Klassiker in finsteren Zeiten 1933–1945. Marbach 1983, Bd. 1, S. 180, und Nicholas Martin: Images of Schiller in National Socialist Germany. In: Schiller: National Poet – Poet of Nations. A Birmingham Symposium. Hg. v. dems. Amsterdam, New York 2006, S. 275–299, hier S. 279 f. 149 Vgl. z.B. Zeller (Hg.): Klassiker in finsteren Zeiten, Bd. 1, S. 136, Günter Scholdt: Autoren über Hitler. Deutschsprachige Schriftsteller 1919–1945 und ihr Bild vom „Führer“. Bonn 1993, S. 58, Hans Prescher: Peinliche Poesie. Hymnen auf Adolf Hitler. In: SPIEGEL ONLINE, 3. März 2009.
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seien.150 Der Literaturkritiker Helmut Böttiger registrierte am 2008 im Insel Verlag erschienenen Literarischen Führer Deutschland aufmerksam, dass „NS-Autoren wie Hans Heinrich Ehrler oder Erwin Guido Kolbenheyer verharmlost und beiläufig unter die Tourismuspunkte eingereiht“ würden.151 Diese klare Einschätzung Ehrlers als NS-Autor überrascht nur insofern, als sie seit der unmittelbaren Nachkriegszeit so nicht mehr zu hören war. Forschungseinschlägig sind im Weiteren Ehrlers Aktivitäten bei der Literarisierung von Kloster Maulbronn und dessen Faustüberlieferung.152 Seit den 1980er Jahren fanden Ehrlers Berlinfeuilletons in der Vossischen Zeitung von 1928 eine gewisse Aufmerksamkeit, wobei man die produktive Mobilisierung frühneuzeitlicher Topiken und die Rhetorik des Staunens mehr als die modernitätskritischen Impulse betonte,153 aber auch die Serialität und das Reflexhafte der Topoi kritisierte, mit denen das Bild Berlins mehr verstellt als gegeben werde.154 Eine umfangreiche und tiefenscharfe Auswertung der Reise nach Berlin hat jüngst Wolfgang Kemp im Rahmen seines Buches Das Deutschlandbild der Deutschen in der Zeit der Weimarer Republik vorgenommen.155 Der Kunst- und Kulturhistoriker ver150 Lutz Winckler: Kulturelle Erneuerung und gesellschaftlicher Auftrag. Zur Bestandspolitik der öffentlichen Bibliotheken und Betriebsbüchereien in der SBZ und DDR 1945–1951. Tübingen 1987, S. 11 f. u. S. 91. Vgl. auch die Einordung Ehrlers unter die „völkischen und nationalsozialistischen Autoren“ bei Christiaan Janssen: Abgrenzung und Anpassung. Deutsche Kultur zwischen 1930 und 1945 im Spiegel der Referatenorgane Het Duitsche Boek und De Weegschaal. Münster 2003, S. 130. 151 Helmut Böttiger: Lexikales Mammutwerk [Rez. zu Fred Oberhauser u. Axel Kahrs: Literarischer Führer Deutschland], Deutschlandradio Kultur, 22. Dezember 2008. 152 Vgl. Martin Ehlers: Maulbronn. Das Kloster und die Dichter. Horb/N. 1996, S. 86 ff., und Günther Mahal: Faust. Und Faust. Der Teufelsbündler in Knittlingen und Maulbronn. Tübingen 1997, S. 151 ff. 153 Vgl. Gert Mattenklott u. Gundel Mattenklott: Berlin Transit. Eine Stadt als Station. Reinbek bei Hamburg 1987, S. 17, Christian Jäger u. Erhard Schütz (Hg.): Glänzender Asphalt. Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik. Berlin 1994, S. 24–29, Rudy Koshar: German Travel Cultures. Oxford, New York 2000, S. 89, sowie Thomas Rahn: Explosion und Konstruktion. Feuerwerk und Illumination als Modelle für Lichtreklame und Kunstlichtästhetik der Avantgarde. In: Spuren der Avantgarde. Theatrum machinarum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich. Hg. v. Ludger Schwarte, Helmar Schramm u. Jan Lazardzig. Berlin, New York 2008, S. 240–270, hier S. 255. 154 So Erhard Schütz: Benjamins Berlin. Wiedergewinnung des Entfernten. In: Schrift, Bilder, Denken. Walter Benjamin und die Künste. Hg. v. Detlev Schöttker. Frankfurt/M. 2004, S. 32–47, hier S. 34. 155 Wolfgang Kemp: Wir haben ja alle Deutschland nicht gekannt. Das Deutschlandbild der Deutschen in der Zeit der Weimarer Republik. Heidelberg 2016, S. 381–392 („Berlin, gesehen von einem Reisenden: Hans Heinrich Ehrler“). Die folgenden Zitate hiernach.
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steht Ehrlers beobachtendes Ich als quasiethnologischen „Rollenspieler“, der den Fremdling nur simuliert, um ein „deutsches ‚Formproblem‘“ auszuloten: die Beziehung zwischen Weltstadt und Provinz. Im Verhältnis zu Autoren wie Alfred Kerr und Kurt Tucholsky, die den Blick „auf die kleinen Städte und die Landschaften Deutschlands richteten“, kehre er die Perspektive schein-naiv um. Beispielsweise grüßt die Figur Ehrler jeden vorbeieilenden Passanten auf den Berliner Straßen wie jemanden, dem man im kommunalen Zusammenleben täglich wieder begegnen könne. Der Reisebericht lebe so von dem Ethos, das „‚Reich der persönlichen Beziehungen‘ auch in der Dimension Großstadt nicht aufgeben zu wollen“. Kemp charakterisiert mit dem Versuchsaufbau der Reise nach Berlin zugleich Ehrlers grundsätzliche Dichterrolle: Es ist die eines gespielten „Provinzmannes“, der, „auf dem Lande lebend, kein Landmann, sondern ein Schriftsteller [ist], der aus Überzeugung auf dem Lande lebt“. Das konsolatorisch-adhortative Element dieser Art von Literatur erfasst Kemp pointiert in Ehrlers Berliner Selbstdarstellung als „EinMann-Heilsarmee“, die sich mit „hohe[m] emotionale[m] Engagement“ anschickt, die deutsche Hauptstadt von der Seite der Obdachlosen, Ausgebeuteten und Pros tituierten aufzurollen. Die regional- und bistumsgeschichtliche Literatur schließlich hat diverse Por träts von Ehrler gezeichnet und ist seinem irritierend hohen Anspruch als Dichter dabei mit relativer Vorsicht begegnet.156 So hat man in diesem Rahmen ohne gesteigerte Eingemeindungsabsichten zur Kenntnis genommen, dass Ehrler es „verschmäht“ habe, als „Heimatdichter“ bezeichnet zu werden.157 Der Karlsruher Journalist und Heimatschützer Otto Ernst Sutter hielt über seinen alten Bekannten fest: „Ehrler etwa als ‚Heimatdichter‘ rubrizieren zu wollen, wäre durchaus abwegig. Freilich hat über Sinn und Begriff ‚Heimat‘ kaum je ein Dichter Schlüssigeres und
156 Vgl. exemplarisch Alois Keck: Nachwort. In: Hans Heinrich Ehrler: Gedichte. Briefe vom Land. Würzburg 1972, S. 149–156, ders.: Vom Sinn der Dinge beschwert. Vor 30 Jahren starb der Dichter Hans Heinrich Ehrler. In: Katholisches Sonntagsblatt 129 (1981), H. 25, S. 9, Carlheinz Gräter u. Hans Dieter Schmidt: „… muß in Dichters Lande gehen …“. Dichterstätten in Franken. München, Bad Windsheim 1989, S. 172–177, Manfred Bosch: „Leihweise von dem Drüben ins Herüben gestellt“. Über den Dichter Hans Heinrich Ehrler. In: Schwäbische Heimat 48 (1997), S. 240–245, Hans-Dieter Haller: Pegasus auf dem Land. Schriftsteller in Hohenlohe. Crailsheim 2006, S. 14–19, sowie Ulrich Lempp: Hans Heinrich Ehrler. Spuren seines Lebens. In: Hans Heinrich Ehrler. Festveranstaltung zum 50. Todestag im Deutschordensmuseum Bad Mergentheim. Hg. v. Kulturverein u. Deutschordensmuseum. Bad Mergentheim 2002, S. 9–24, und ders.: Ehrler, Hans Heinrich. In: Württembergische Biographien. Hg. v. Maria Magdalena Rückert. Bd. 1. Stuttgart 2006, S. 58–61. 157 Gräter u. Schmidt: Dichterstätten in Franken, S. 176.
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Ergreifenderes ausgesprochen.“158 Diese Einschätzung ist insoweit zutreffend, als sich Ehrler nicht auf das Lob der angeblichen Vorzüge und Besonderheiten einer bestimmten, etwa württembergisch-alemannischen Landschaft, ihrer Menschen und Geschichte beschränkte, auch dem Mundartlichen fernstand,159 sondern vielmehr die Heimat als Prinzip deutscher Staats- und Gesellschaftsorganisation auf abendländischer Kulturgrundlage propagierte. Die NS-Affinitäten und -Aktivitäten Ehrlers wurden vorzugsweise so umschrieben wie von Alois Keck, dem langjährigen Chefredakteur des Katholischen Sonntagsblatts im Bistum RottenburgStuttgart, der sich folgendermaßen auf den ‚Anschluss‘-Essay Das einige Reich der Deutschen im katholischen Kulturmagazin Das Wort in der Zeit bezog: Bis in politische Gedanken hinein trug er sein inneres Reich, in die Schwärmereien vom „einigen Reich der Deutschen“, wenn er 1938 die Frage stellt: „Sind wir Vereinte wahrhaftig zusammen bestimmt, das Gesicht der deutschen Erde zum Antlitz zu verwandeln?“ Die Zeitschrift „Das Wort in der Zeit“ gab Ehrler die Möglichkeit, sich vom eigenen sprachlichen Aufwand ins Zeitpolitische verführen zu lassen, während er in Briefen seine Distanz zum Dritten Reich fast ängstlich mitteilt.160
Die von Keck zitierte Frage beschließt Ehrlers Das einige Reich der Deutschen und öffnet am Ende eines hemmungslosen Hymnus auf Hitler de facto einen Zukunftshorizont, in dem sich dieses Reich allererst noch zu bewähren hatte, nämlich – ‚Gesicht‘ als materieller, ‚Antlitz‘ als spiritueller Begriff verstanden – in der ‚Durchgeistigung‘ des Profanen und der ‚Beseelung‘ des politisch-gesellschaftlichen Leibes. Das Verhältnis zwischen irdischer und jenseitiger Reichshoffnung scheint darin noch offen. Auch Kecks dezente Charakteristik von Ehrlers massivem Propagandaeinsatz in der Frankfurter Zeitung des Kriegsjahres 1915 – „Betrachtungen, Aufrufe und Sendbriefe an die Deutschen verließen seinen Schreibtisch“161 – lässt durchhören, dass hier Problematisches zugrunde liegt. Scharfsichtig hat 158 Vgl. Otto Ernst Sutter: Vor einer Totenmaske. Der Dichter Hans Heinrich Ehrler. In: BadenWürttemberg. Südwestdeutsche Monatsschrift für Kultur, Wirtschaft und Reisen 3 (1956), November, S. 7. 159 Zu den Kriterien von Heimatliteratur vgl. Andreas Schumann: Heimat denken. Regionales Bewußtsein in der deutschsprachigen Literatur zwischen 1815 und 1914. Köln, Wien u.a. 2002, S. 14 ff. 160 Keck: Nachwort, S. 153. Vgl. Hans Heinrich Ehrler: Das einige Reich der Deutschen. In: Das Wort in der Zeit 5 (1937/38), S. 377–383, hier S. 382 f. 161 Keck: Nachwort, S. 156.
2. „göttliche Berufung“ und „Ein-Mann-Heilsarmee“: Forschungsgeschichte 1930 bis 2017 |
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Manfred Bosch 1997 hinter die postfaschistische Kulisse des verträumten Idyllikers geblickt: Die „Übel der Moderne aus dem Geiste des Mittelalters zu sanieren“, „ständestaatliche Vorstellungen“ zu pflegen, „heimatliches und religiöses Gefühl untrennbar [zu] verbinden“, insgesamt der „Zug ins Reaktionäre“ ließen Ehrler am „Rubikon“ des Ersten Weltkriegs zur „leichten Beute völkisch-nazistischer Ideologie“ werden.162 Das erlösungssüchtige „Ethos von Dienen, Opfer und Verzicht“ war für die „kriegerischen Pläne“ des Nationalsozialismus „von zentraler Bedeutung“; hinter Ehrlers Ideen über „ein rein deutsches Judentum“ lauerten „Ausgrenzung und Pogrom“.163 Weitere neue Einsichten vermitteln die aus archivalischen Quellen geschöpften Studien von Abraham Peter Kustermann aus den Jahren 2000 und 2017: Im pastoralgeschichtlichen Kontext werden hier Ehrlers verstärkte Anlehnung an die Amtskirche ab 1944 sowie seine kritische Begleitung durch den pfarrsoziologisch einschlägigen Seelsorger und Rundfunkpfarrer Hermann Breucha deutlich.164 Ein Übriges verrät und verhüllt die Lexikonliteratur. Der Brockhaus, der Ehrler seit 1923 verbuchte, führte ihn noch in der Adenauerzeit unbefangen für seine „romantische Naturfrömmigkeit“, besonders für seine „religiösen und naturmystischen Gedichte“, und sonderte ihn erst Anfang der 1970er Jahre aus.165 Die germanistischen Autorenlexika wie Killy und Kosch zeigen in ihren Zweispaltern über den Autor erhebliche Unsicherheiten bei der äußeren Faktenlage und der literaturhistorischen Einschätzung, haben zumal seine soziale und weltanschauliche Einordnung mit hilflosen Bemerkungen wie „nicht selten abstrus“ verschleiert und mit grundlegenden Irrtümern wie in der Auskunft, „[z]um Dritten Reich findet sich in seinen Werken kein Kommentar“, verfehlt.166 Die Werk- und Motivlexika 162 Bosch: Über den Dichter Hans Heinrich Ehrler, S. 241 f. 163 Bosch: Über den Dichter Hans Heinrich Ehrler, S. 243 f. 164 Vgl. Abraham Peter Kustermann: Hans Heinrich Ehrler (1872–1951). „Sein Geist hatte sich schon auf den Weg zur großen Heimkehr aufgemacht“ – Ein Exkurs. In: 50 Jahre St. Meinrad auf dem Weilerberg. Hg. v. der Katholischen Kirchengemeinde St. Martinus Waldenbuch-Steinenbronn. Waldenbuch 2000, S. 61–65 mit Dokumentenanhang, sowie ders.: Hans Heinrich Ehrler und Hermann Breucha. Schwäbischer Kulturkatholizismus auf Abwegen. In fünf Dokumenten aus dem Nachlass Hermann Breucha. In: Region – Religion – Identität. Tübinger Wege. Hg. v. Rainer Bendel u. Josef Nolte. Berlin 2017, S. 87–115. 165 [Anon.]: Ehrler, Hans Heinrich. In: Der große Brockhaus. 16. Aufl. Bd. 3. Wiesbaden 1953, S. 438, und Brockhaus Enzyklopädie. 17. Aufl. Bd. 5. Wiesbaden 1968, S. 267. Vgl. Brockhaus. Handbuch des Wissens in vier Bänden. 6. Aufl. Bd. 1. Leipzig 1923, S. 631, Der große Brockhaus. 15. Aufl. Bd. 5. Leipzig 1930, S. 279, sowie Der Neue Brockhaus. Bd. 1. Leipzig 1936, S. 644. 166 Peter König u. Red.: Ehrler, Hans Heinrich. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2. Aufl. Hg. v. Wilhelm Kühlmann. Bd. 3. Berlin, New York
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bieten oberflächlich korrekte Inhaltsauswertungen der Reise in die Heimat, der Reise ins Pfarrhaus und der Drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm.167 Ist es mit Elisabeth Frenzel beispielsweise richtig, dass Ehrler die „erotischen Konflikte seiner Priester durch Ersatzwerte wie Natur und Kunst sowie ein nachsommerliches Nebeneinander mit der geliebten Frau“ löse,168 fehlt so doch die sozial- und ideengeschichtliche Kontextualisierung, in der gerade auch diese drei Bücher erst als Dokumente des Verhältnisses von Katholizismus und Zeitgeschichte ihre Bedeutung gewinnen. Die Verlegenheiten der Lexikonliteratur spiegeln so die Art von ‚weißen Flecken‘ wider, die nicht allein auf historische Entropie zurückgehen, sondern für den Autor selbst und für sein Netzwerk zumindest teilweise erinnerungspolitische Funktionen erfüllten, insbesondere mit der memorialen Exterritorialisierung von Kriegs- und NS-Publizistik zusammenhängen. Es ist das relativ junge Verdienst von Ernst Klees Kulturlexikon zum Dritten Reich (2007/09), dieses Feld auch für Ehrler und die Seinen mit weiterführenden Hinweisen besetzt zu haben.
3. „rückblickendes Befremden“: Forschungsvoraussetzungen im Schnittfeld von Literatur- und Ideologiegeschichte
Für jede weiterführende Untersuchung des hier sich eröffnenden Netzwerks ist es ausschlaggebend, Ehrlers Charakterisierung durch seinen germanistischen Freund Pongs als „im edelsten Sinn unpolitischer Dichter“169 im Kontext des bildungsbürgerlichen Antimodernismus und Antipluralismus zu verstehen. ‚Unpolitische Dichtung‘ hieß die Einwirkung auf ein idealiter ‚reichsgeeintes Volk‘, das von Gegensätzen und Widersprüchen erlöst würde und dessen ‚bunte Vielfalt‘ vor allem in regionalgemeinschaftlich-stammesethnischen Ordnungen des Heimatlichen 2008, S. 210. Vgl. Georg Schlatter: Ehrler, Hans Heinrich. In: Deutsches Literatur-Lexikon. Das 20. Jahrhundert. Biographisch-bibliographisches Handbuch. Begr. v. Wilhelm Kosch. Hg. v. Konrad Feilchenfeldt. Bd. 7. Zürich, München 2005, Sp. 241 f., ferner Werner Schude (Hg.): Kürschners Deutscher Literatur-Kalender. Nekrolog 1936–1970. Berlin 1972, S. 136. 167 Vgl. Elisabeth Eckert: Die Reise in die Heimat. In: Der Romanführer. Der Inhalt der deutschen Romane und Novellen der Gegenwart. Hg. v. Johannes Beer. Bd. 1. Stuttgart 1952, S. 174 f., Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 5. Aufl. Stuttgart 1999, S. 419–434, und Rita Weisweiler: Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm. In: Der Romanführer. Der Inhalt der Romane und Novellen der Weltliteratur. Hg. v. Hans-Christoph Pleßke. Bd. 35. Stuttgart 2000, S. 122–124. 168 Frenzel: Motive der Weltliteratur, S. 432. 169 Pongs: Krieg als Volksschicksal, S. 56 f.
3. „rückblickendes Befremden“: Forschungsvoraussetzungen |
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bestehen sollte. Die zahlreichen Zeugnisse von Ehrler nahestehenden Zeitgenossen wie Ludwig Finckh, Albrecht Goes und Herman Hefele, dieser Schriftsteller sei regelrecht „in Politik verstrickt“170, verstummen um 1940. Danach kursierte er fast ausschließlich noch als „ein völlig unpolitischer Kopf von eher kindlichharmloser Gemütsart“171, so nämlich bei dem Neothomisten und Dempf-Schüler Vincent Berning, dessen Vater August Heinrich Berning den katholischen Dichter maßgeblich gefördert hat. Oder wie sich Ehrlers früher literarischer Weggefährte Norbert Jacques 1950 erinnern wollte: „Die Wirklichkeit ging an ihm vorüber. Er hörte sie nicht einmal rauschen.“172 Das postfaschistische Herunterspielen und Ausblenden seiner von ihm selbst sogenannten „größeren und kleineren Lebensäußerungen politisch-vaterländischer Art“173, routinierte sich im Zuge einer Entnazifizierung, die Identitätsverschleierungen weithin auslöste, aber nicht aufdeckte. Seit seinen ersten vier, zwischen 1911 und 1913 im Langen Verlag erschienenen Buchpublikationen fand dieser Autor in einem breiten Spektrum zwischen linksliberaler, katholischer und völkischer Literaturkritik wohlwollendste Anerkennung, eine treue Leserschaft gerade unter höhergebildeten Katholiken wie Lehrern und Pfarrern. Mit allein sieben ausgiebig beworbenen und besprochenen Büchern im nationalsozialistischen Vorzeigeverlag von Langen Müller nahm er keinen eigentlich randständigen Platz im Literaturbetrieb des Dritten Reichs ein. Ehrlers von seinen Fürsprechern aufgenommene Rhetorik und Semantik der heiligen Einfalt, des Unschuldig-Exzentrischen und des am Rand, genauer am „Hochrand“174 des Lebens stehenden Aparten, ist nicht mit den objektiven Bedingungen und Mechanismen seiner Produktion zu verwechseln. Bei allem Lob der „beata solitudo“175 und aller Mystik von „des Alleinseins Zauberstoff “176 war dieser ‚Einsiedler‘ hochgradig vernetzt. Der „wahrhaft Stille im Lande“177 besaß rührige Werbetrommler von Jacques über Finckh bis zu Hellmuth Langenbucher. Bei allem antiintel170 Ludwig Finckh: Schwabenbücher. In: Von schwäbischer Scholle. Kalender für schwäbische Literatur und Kunst 1913. Heilbronn 1912, S. 107–111, hier S. 107. 171 Vincent Berning: Geistig-kulturelle Neubesinnung im deutschen Katholizismus vor und nach dem Ersten Weltkrieg. In: Religiös-kulturelle Bewegungen im deutschen Katholizismus seit 1800. Hg. v. Anton Rauscher. Paderborn, München u.a. 1986, S. 47–98, hier S. 63. 172 Norbert Jacques: Mit Lust gelebt. Roman meines Lebens. Kommentierte Neuausgabe. Hg. v. Hermann Gätje. St. Ingbert 2004, S. 43. 173 Hans Heinrich Ehrler an Helmut Paulus, 14. Oktober 1943, DLA Marbach, Sign. A:Paulus. 174 Hans Heinrich Ehrler: Mit dem Herzen gedacht. Betrachtungen. München 1938, S. 117. 175 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 312. 176 Zit. n. Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 56. 177 Hans Sturm: Wenn die Heimat zu uns spricht. Hans Heinrich Ehrler ihr großer Künder. In: Marburger Zeitung. Amtliches Organ des Steirischen Heimatbundes, 21. April 1941, S. 4.
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lektuellen Naivitätshabitus unter dem Wahlspruch von Mk 10,15: „Und wer das Reich Gottes nicht empfähet als ein Kindlein, der wird nicht hineinkommen“178, war er ein publizistischer Profi, der die Tagesfron des Zeitungsredakteurs hinter sich gelassen haben wollte, aber als freier Schriftsteller ein zuverlässiger Lieferant und lebenslanger Zeitungsmann blieb. Hinter dem Dichter aus Berufung stand ein Berufsdichter, hinter dem Religiosus ein Dienstleister, der religiöse Bedürfnisse mit einer Art literarischer Seelsorge befriedigte. Die Bescheidenheitsformel des nach Zeugenberichten noch auf dem Sterbebett wiederholten Mottos „Die Worte schweigen im WORT“, mit der er den Lyrikband Die Lichter schwinden im Licht von 1932 beschloss und seine franziskanisch-naturreligiöse Dichtung der göttlichen Schriftoffenbarung unterstellte,179 führte daher auch zu keiner sprachlichen Zurückhaltung. Vielmehr blieb Ehrler ununterbrochen, über vier politische Systeme hinweg und vermittels eines stabilen, konfessions- und parteiübergreifenden Netzwerks, buchstäblich ‚auf Sendung‘. Ehrlers Werk und Netzwerk richtig einzuschätzen, hinderte bisher der Mangel einer Bibliografie, die seine Beiträge in Sammelwerken, Zeitschriften und Zeitungen und somit den größeren Teil des politisch-agitatorischen Werks einschließen würde. Das Quellenverzeichnis der vorliegenden Arbeit baut dieses Defizit für einen Teil der überregionalen Publikationen ab. Dafür ist festzuhalten, dass Ehrler, wie auch seine Netzwerkpartner Ludwig Finckh, Theodor Heuss und Jacob Picard, die Heimatidee nicht auf ein regionales Spielfeld beschränkt entfaltete. Als Grund element der großdeutschen ‚Stammesnation‘ stand ‚Heimat‘ im politischen und kulturellen Horizont von Reich und Abendland, besaß bei Ehrler und den Seinen biografisch zwar meist süddeutsche Hintergründe, zielte konzeptionell aber auf alle deutschen Muttersprachler einschließlich der besonders mahnungsbedürftigen ‚Auslandsdeutschen‘, weshalb es in einem der erfolgreichsten, von Pongs in seinem Lexikon der Weltliteratur hervorgehobenen Ehrlergedichte auch heißt: „O Heimat, wir sind alle dein“. Im vollständigen Wortlaut: O Heimat, wir sind alle dein, Wie weit und fremd wir gehen. Du hast uns schon im Kinderschlaf Ins Blut hineingesehen. 178 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 15. 179 Hans Heinrich Ehrler: Die Lichter schwinden im Licht. Neue Gedichte. München 1932, S. 80. Vgl. Breucha: Erinnerung an Hans Heinrich Ehrler (1961), mit dem Bericht von Ehrlers Sterbebett, dass das Gespräch „immer einfacher, schlichter, immer kindlicher, wortarmer wurde, bis es zum Schluß nur noch ein Satz war: ‚Die Worte schweigen im Wort!‘“.
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Kein Weg ist, den wir heimlich nicht Nach einem Heimweg fragen. Wer ganz verlaufen, wird im Traum Zu dir zurückgetragen.180
Typisch für Ehrlers berufspublizistische Arbeitsweise, aber auch für den breiten Anwendungsbereich seiner Ideologeme ist daher die partiell eklatante Mehrfachverwertung. So steht O Heimat, wir sind alle dein, „[e]ines der schönsten Heimatgedichte der neueren deutschen Literatur“181, ebenso in Ehrlers Debütroman Briefe vom Land 1911, dessen Handlung im bayerisch-österreichischen Grenzland spielt, wie in seiner durch Württemberg führenden Reise in die Heimat 1926.182 Es findet sich von den 1920er bis zu den 1950er Jahren in Schulbüchern von Baden, Württemberg und Bayern183 sowie in Heimatblättern aus Österreich, Bayern, Baden, Württemberg, Hessen, dem Saarland, Westfalen und Pommern.184 Anthologisch kam es unter anderem in den Kanonisierungsbemühungen der nationalsozialis180 Hans Heinrich Ehrler: Gedichte. Stuttgart 1919, S. 6. 181 Otto Heuschele: Heimat – heute. In: Waiblingen in Vergangenheit und Gegenwart 4 (1974), S. 183–191, hier S. 190. Der Text dokumentiert Heuscheles Festvortrag zum 40-jährigen Bestehen des Heimatvereins Waiblingen, 1934–1974. 182 Vgl. Ehrler: Briefe vom Land, S. 43, ders.: Die Reise in die Heimat, S. 140. 183 Ministerium des Kultus und Unterrichts (Hg.): Lesebuch für die Volksschulen Badens. Sechstes bis achtes Schuljahr. Lahr 1924, S. 406, Deutsches Lesebuch für Volksschulen (Klassen 7 und 8, Lesebuchlandschaft XX [= Württemberg]). Stuttgart 1939, S. 3, Kultusministerium des Landes Baden-Württemberg (Hg.): Kein schöner Land. Lesebuch für das sechste Schuljahr der Volksschulen in Baden-Württemberg. Karlsruhe, Stuttgart u.a. 1958, S. 3, Fritz Färber (Hg.): Damit uns Erde zur Heimat wird. Eine Gedichtsammlung. München 1959 (2. Aufl. 1967), S. 336. Vgl. auch die Empfehlungen zum Schulgebrauch bei Theo Gundling: Hans Heinrich Ehrler. Herkunft und Werk. In: Württembergische Schulwarte 15 (1939), S. 296–310, Hermann Klauß: Feierstunden der deutschen Schule. Stuttgart 1941, S. 58 u. S. 63, Edmund Müller-Dolder: Die Volkstracht, das Kleid der Heimat, einst und jetzt. In: Schweizer Schule. Halbmonatsschrift für Erziehung und Unterricht 28 (1941), S. 528–533, hier S. 533, sowie Richard Erny: Der Alltag im Schulbuch. In: Wege zum eigenen Urteil. Erwachsenenbildung als Aufgabe unserer Zeit. Hg. v. Max Frommer u. Herbert Holtzhauer. Villingen 1966, S. 50–64, hier S. 59 f. 184 Auswahl in chronologischer Folge: Unsere Heimat. Mitteilungen des Heimatbundes, Verein für Heimatschutz und Heimatpflege im Kreise Schlüchtern 12 (1920/21), S. 188, Badische Heimat. Zeitschrift für Volkskunde, ländliche Wohlfahrtspflege, Heimat- und Denkmalschutz 12 (1925), S. 286, Unsere Heimat. Beilage zur Kösliner Zeitung, 13. Februar 1929, unpag., Marburger Zeitung. Amtliches Organ des Steirischen Heimatbundes, 21. April 1941, S. 4, Bürger und Gemeinde. Amtsblatt der Gemeinde Oberkochen 1953, Nr. 10, S. 1, Heimat am Hoch-Rhein. Schriftenreihe des Landkreises Waldshut 1 (1963/64), S. 106 (hier als Schlussmotto des Aufsatzes von Emil Baader), Heimatbuch des Landkreises St. Wendel 10 (1963/64), S. 50, Waiblingen in Vergangenheit und Gegenwart 4 (1974), S. 190, Waldenburger Heimatbuch. Veröffent-
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tischen Kulturaktivisten Gerhard Schumann, Hellmuth Langenbucher und J. W. Hauer zum Einsatz.185 Hinzukommen nicht weniger als neun Vertonungen in regional recht unterschiedlichen Kontexten: durch Herbert Thienemann (München) 1931, Georg Nellius (Neheim) 1932, Julius Gatter (Plauen) 1933, Georg von Albrecht (Stuttgart) 1937, Gustav Schneider (Geislingen) 1938, Otto Löffler (Plochingen) 1945, Eberhard Ludwig Wittmer (Freiburg) 1951, Julius Gessinger (Schwäbisch Hall) 1958 und Richard Strauß-König (Speyer) 1963.186 In völkischkatholischen Kreisen des Sauerlands konnte man sich zum Lob der Heimat genauso auf den Württemberger Ehrler berufen wie in der Steiermark, wo ein Artikel im Organ des Heimatbundes 1941 mit Wenn die Heimat zu uns spricht. Hans Heinrich Ehrler ihr großer Künder überschrieben war und zu dem Schluss kam: Ehrlers Gedichte sind von einer lebendigen Gläubigkeit, die uns vergessene Erde und verschollene Zeit wachruft, mit welcher der Dichter so eng verbunden ist. […] Aus der Heimat wächst ihm alles zu, aus ihr schöpft der Dichter seinen Glauben an alles Edle, Hohe, und vor allem an eine größere Zukunft, die er ‚auf dem Wege zu uns‘ weiß.187
Für den engsten Kreis von Ehrlers Freunden und Gewährsleuten lässt die Forschung zu Teilen der Liturgischen Bewegung wie um Herman Hefele und die ‚Abendländer‘, zu Ethnokonservatismus und ‚Ahnenkunde‘ wie um Ludwig Finckh, zur literarischen Erinnerung des Landjudentums bei Jacob Picard und zur ‚süddeutschen Moderne‘ von Theodor Heuss wichtige Rückschlüsse auf den licht durch die Stadtverwaltung Waldenburg anläßlich der 650-Jahr-Feier städtischer Rechte 1330/1980. Waldenburg 1980, S. 6. 185 Vgl. Schumann (Hg.): Lyrik der Lebenden, S. 79, Helmut Langenbucher (Hg.): Ins Herz hinein. Ein Hand- und Lesebuch für Feier und Besinnung in Schule und Haus. 2 Bde. Bad Reichenhall 1955 f., Bd. 2: Monate und Jahreszeiten, S. 405, sowie J. W. u. A. Hauer (Hg.): Der Deutsche Born. Hausbuch für Besinnung und Feier. 5 Bde. München 1952–1959, Bd. 1, S. 131. 186 Vgl. Herbert Thienemann (Komp.): Rosen am Weg. Berlin 1931, Nr. 31, Peter Bürger u. Werner Neuhaus: Georg Nellius (1891–1952). Völkisches und nationalsozialistisches Kulturschaffen, antisemitische Musikpolitik, Entnazifizierung. Darstellung und Dokumentation. Arnsberg 2014, S. 61, Julius Gatter (Komp.): Heimat, wir sind alle dein. Karlsruhe 1933, Georg von Al brecht (Komp.): Lieder. Hg. v. Michael von Albrecht. Frankfurt/M., Bern u.a. 1986 (= Gesamtausgabe, Bd. 2), S. 79–91, Otto Löffler (Komp.): O Heimat, wir sind alle dein. Esslingen 1945, Eberhard Ludwig Wittmer (Komp.): Heimat, wir sind alle dein. Mainz, London u.a. 1951, Julius Gessinger (Komp.): O Heimat, wir sind alle dein! Schwäbisch Hall 1958, Richard Strauß-König (Komp.): Heimat, wir sind alle dein. Augsburg 1963. – Ferner Ludwig Bibus (Komp.): Heimat. Stuttgart o. J. 187 Sturm: Wenn die Heimat zu uns spricht.
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Dichter zu. Hierfür sind namentlich die Arbeiten von Richard Faber und Thomas Pittrof zum Kulturkatholizismus der Weimarer Republik hervorzuheben,188 von Alon Confino und Thomas Rohkrämer zu liberalen bis konservativen Raumund Heimatvorstellungen,189 von Manfred Dahlheimer und Friedrich Vollhardt zu Hefele,190 von Manfred Bosch und Saskia Schreuder zu Picard191 sowie von Peter Merseburger und Joachim Radkau zu Heuss.192 Zur 1933 gegründeten katholischen Kulturzeitschrift Das Wort in der Zeit, deren gefeierter Hausdichter Ehrler war, liegt jetzt eine bündige Untersuchung von Dieter Breuer vor, derzufolge das Organ „kritischer, direkter, subversiver“ im Umgang mit der NS-Herrschaft operierte als 188 Vgl. darunter Richard Faber: Abendland. Ein „politischer Kampfbegriff “. Hildesheim 1979, und ders.: „Wir sind Eines“. Über politisch-religiöse Ganzheitsvorstellungen europäischer Faschismen. Würzburg 2005, sowie Thomas Pittrof: Hermann Platz als Vermittler des französischen Renouveau catholique. In: Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur. Hg. v. Wilhelm Kühlmann u. Roman Luckscheiter. Freiburg/Br. 2008, S. 101– 130, ders.: Literarischer Katholizismus als Forschungsaufgabe. Umrisse eines Forschungsprogramms. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 48 (2007), S. 373–394, sowie ders. u. Walter Schmitz: Geschichtskulturen des deutschsprachigen Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert. In: Freie Anerkennung übergeschichtlicher Bindungen. Katholische Geschichtswahrnehmung im deutschsprachigen Raum des 20. Jahrhunderts. Hg. v. dens. Freiburg/Br. 2010, S. 9–43. 189 Vgl. bes. Alon Confino: The Nation as a Local Metaphor. Württemberg, Imperial Germany, and National Memory, 1871–1918. Chapel Hill 1997, ders.: Konzepte von Heimat, Region, Nation und Staat in Württemberg von der Reichsgründungszeit bis zum Ersten Weltkrieg. In: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. v. Dieter Langewiesche u. Georg Schmidt. München 2000, S. 345–359, und ders.: „This lovely country you will never forget“. Kriegserinnerungen und Heimatkonzepte in der westdeutschen Nachkriegszeit. In: Das Erbe der Provinz. Heimatkultur und Geschichtspolitik in Deutschland nach 1945. Hg. v. Habbo Knoch. Göttingen 2001, S. 235–251, sowie Thomas Rohkrämer: Bewahrung, Neugestaltung, Restauration? Konservative Raum- und Heimatvorstellungen in Deutschland 1900–1933. In: Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933. Hg. v. Wolfgang Hardtwig. München 2007, S. 49–68, und ders.: A Single Communal Faith? The German Right from Conservatism to National Socialism. New York, Oxford 2007. 190 Vgl. Dahlheimer: Carl Schmitt und der deutsche Katholizismus, S. 63 ff., S. 106 ff., S. 134 f., S. 255 f., S. 294 ff., und Friedrich Vollhardt: Hochland-Konstellationen. Programme, Konturen und Aporien des Kulturkatholizismus am Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur. Hg. v. Wilhelm Kühlmann u. Roman Luckscheiter. Freiburg/Br. 2008, S. 67–100. 191 Vgl. darunter Manfred Bosch u. Jost Grosspietsch: Jacob Picard, 1883–1967. Dichter des deutschen Landjudentums. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der ehemaligen Synagoge Sulzburg. Freiburg/Br. 1992, und Saskia Schreuder: Würde im Widerspruch. Jüdische Erzählliteratur im nationalsozialistischen Deutschland 1933–1938. Tübingen 2002, bes. S. 179–237. 192 Vgl. Peter Merseburger: Theodor Heuss. Der Bürger als Präsident. Biographie. Stuttgart 2012, und Joachim Radkau: Theodor Heuss. München 2013.
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vergleichbare Periodika.193 Konfessionelle Einflüsse auf den politisch-kulturellen Regionalismus und die Heimatschutzbewegung des Zeitraums haben besonders Willi Oberkrome und Martina Steber erforscht,194 was Licht auch auf Ehrlers rhetorische und semantische Alliteration der ‚heiligen Heimat‘ wirft. Der für Ehrlers Werk zentrale „Topos vom christlichen Abendland“195 gehört seit über 30 Jahren zu den am besten erforschten Komplexen der deutschen Ideologiegeschichte. Inwieweit gerade katholische Akademiker darin eine antimoderne Utopie sowie Versionen eines europäischen Deutschlands und eines deutschen Europas verfolgten, haben besonders Richard Faber, in jüngerer Zeit auch Dagmar Pöpping und Vanessa Conze dargelegt.196 Heinz Hürten und Boris Schilmar haben in diesem Zuge auch (einige wenige) literarische Quellen, vor allem der ‚Inneren Emigration‘, berücksichtigt.197 Für das Phänomen einer spiritualistischen Reichs ideologie, die zu jeder Gegenwart alle guten Geister der deutschen Kulturge193 Dieter Breuer: Die Jahre 1933 und 1934 im Spiegel der katholischen Literatur- und Kulturzeitschriften Die christliche Familie, Der Gral und Das Wort in der Zeit. In: Katholische Publizistik im 20. Jahrhundert. Positionen, Probleme, Profile. Hg. v. Walter Hömberg u. Thomas Pittrof. Freiburg/Br. 2014, S. 389–412, zu Ehrler hier S. 411 (Zitat S. 412). 194 Darunter Willi Oberkrome: „Deutsche Heimat“. Nationale Konzeption und regionale Praxis von Naturschutz, Landschaftsgestaltung und Kulturpolitik in Westfalen-Lippe und Thüringen (1900–1960). Paderborn, München u.a. 2004, ders.: Stamm und Landschaft. Heimatlicher Tribalismus und die Projektionen einer „völkischen Neuordnung“ Deutschlands 1920–1950. In: Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933. Hg. v. Wolfgang Hardtwig. München 2007, S. 69–94, und Martina Steber: Ethnische Gewissheiten. Die Ordnung des Regionalen im bayerischen Schwaben vom Kaiserreich bis zum NS-Regime. Göttingen 2010. – Vgl. auch Jürgen Klöckler: Abendland – Alpenland – Alemannien. Frankreich und die Neugliederungsdiskussion in Südwestdeutschland 1945–1947. München 1998, ders.: Reichsreformdiskussion, Großschwabenpläne und Alemannentum im Spiegel der südwestdeutschen Publizistik der frühen Weimarer Republik. Der Schwäbische Bund 1919–1922. In: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 60 (2001), S. 271–315, sowie Cornelia Rauh-Kühne: Katholisches Milieu und Kleinstadtgesellschaft. Ettlingen 1918–1939. Sigmaringen 1991. 195 Heinz Hürten: Der Topos vom christlichen Abendland in Literatur und Publizistik nach den beiden Weltkriegen. In: Katholizismus, nationaler Gedanke und Europa seit 1800. Hg. v. Al brecht Langner. Paderborn, München u.a. 1985, S. 131–154. 196 Vgl. Faber: Abendland, Dagmar Pöpping: Abendland. Christliche Akademiker und die Utopie der Antimoderne 1900–1945. Berlin 2001, Vanessa Conze: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970). München 2005. 197 Vgl. Hürten: Der Topos vom christlichen Abendland, Boris Schilmar: Nation – Abendland – Reich. Europadiskurse im Umfeld der „Inneren Emigration“. In: Schriftsteller und Widerstand. Facetten und Probleme der „Inneren Emigration“. Hg. v. Frank-Lothar Kroll u. Rüdiger von Voss. Göttingen 2012, S. 125–144.
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schichte versammelt haben wollte, und des hierzu notwendigen Synkretismus, der Vergangenheit und Gegenwart, Welt und Überwelt sowie dann auch Kreuz und Hakenkreuz zu harmonisieren suchte, ist insbesondere an das klassische Opus von Klaus Breuning zu katholischen Reichsvisionen198 sowie an die Studien von Hildegard Châtellier, Uwe Puschner und Justus H. Ulbricht zu bildungsbürgerlich-neo idealistischen Anteilen an der völkischen Bewegung anzuschließen.199 Breuning hat bereits den maßgeblichen Beitrag der Dichtung zur Reichsmetaphysik unterstrichen: In ihr kulminiere ein formales Element, nämlich die „pathetische Sprache als ein bezeichnendes Kriterium für die irrationalen und gefühlsbetonten Tiefen, aus denen solche Visionen aufsteigen konnten“; zugleich stelle sie auch „inhaltlich 198 Klaus Breuning: Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1929–1934). München 1969. Vgl. begriffsgeschichtlich Elisabeth Fehrenbach: Reich. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. v. Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck. Bd. 5. Stuttgart 1984, S. 423–508, zur Verknüpfung des Reichsgedankens mit Kulturideen hier S. 500. Im Überblick materialreich, in der Analyse aber problematisch undistanziert Hans-Georg Meier-Stein: Die Reichsidee 1918–1945. Das mittelalterliche Reich als Idee nationaler Erneuerung. Aschau 1998, S. 13. – Zur republikfeindlichen Reichsmetaphysik der 1920er Jahre immer noch Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933. München 1962, S. 280 ff., ferner Jost Hermand: Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus. Frankfurt/M. 1988, S. 103 ff. zu monarchistischen, seit 1919 neu gedeuteten und verbreiteten Prophezeiungen „katholische[r] Seher und Seherinnen“ (Hermann von Lehnin, Katharina Emmerich u.a.), die sich um die „Wiedererrichtung eines großen Imperiums“ drehen. – Zu ultramontanen Quellen für katholische Reichsideen vgl. Klaus Schreiner: Reichsbegriffe und Romgedanken. Leitbilder politischer Kultur in der Weimarer Republik. In: Deutsche Italomanie in Kunst, Wissenschaft und Politik. Hg. v. Wolfgang Lange u. Norbert Schnitzler. München 2000, S. 137–177. – Zur Frage, ob dem ‚katholischen Reichsdenken‘ eine „typologische Eigenständigkeit“ zukommt oder ob es sich nicht vielmehr im Schnittpunkt verschiedener Richtungen der Konservativen Revolution befindet, vgl. Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution. 2. Aufl. Darmstadt 2005, S. 108 f., und ders.: Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945. Darmstadt 2001, S. 190 f. 199 Vgl. darunter Hildegard Châtellier: Kreuz, Rosenkreuz und Hakenkreuz. Synkretismus in der Weimarer Zeit am Beispiel Friedrich Lienhards. In: Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage. Hg. v. Manfred Gangl u. Gérard Raulet. Frankfurt/M., New York 1994, S. 53–66, Uwe Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion. Darmstadt 2001, sowie Justus H. Ulbricht: „Wo liegt Weimar?“. Nationalistische Entwürfe kultureller Identität. In: „Hier, hier ist Deutschland…“. Von nationalen Kulturkonzepten zur nationalsozialistischen Kulturpolitik. Hg. v. Ursula Härtl, Burkhard Stenzel u. dems. Göttingen 1997, S. 11–44; ferner jetzt Thomas Vordermayer: Bildungsbürgertum und völkische Ideologie. Konstitution und gesellschaftliche Tiefenwirkung eines Netzwerks völkischer Autoren (1919–1959). Berlin, Boston 2016, S. 253 ff.
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einen Höhepunkt der gesamten katholischen Reichsideologie“ dar.200 Breunings Hauptzeuge für dieses Schnittfeld von Literatur- und Ideologiegeschichte war der Richard-von-Kralik-Schüler und Jesuitenpater Friedrich Muckermann, Herausgeber der integralistischen Zeitschrift Der Gral und „poetisch-schwärmerische[r]“201 Publizist, der einige Berührungspunkte mit Ehrlers Werk und Wirkungskreis aufweist. Ohne so sehr das literarische Moment zu vertiefen, ging Elke Seefried mit ihrer Arbeit zum deutschen politischen Exil in Österreich in wichtigen Teilen über Breuning hinaus, unter anderem, indem sie „drei Spielarten einer christlichen Reichsidee“202 unterschied. Danach war die protestantische Reichsidee nationalistisch und imperialistisch auf ein Imperium Teutonicum hin entworfen. Herausragend vertreten wurde sie durch Wilhelm Stapel, der Ehrler an einer entscheidenden Stelle von dessen Laufbahn unterstützt hat. Eine „katholisch-nationale Strömung“ setzte beim Heiligen Römischen Reich als „ideale[r] Verbindung von katholischem Universalismus und Deutschtum“ an und verfolgte eine „kulturelle[] Führungsrolle der Deutschen in Mitteleuropa“.203 Als ihre Vertreter führt Seefried insbesondere Kralik und Muckermann sowie den ‚Abendländer‘ Alois Dempf an, mit dem Ehrler in der bildungskatholischen Zeitschrift Das Wort in der Zeit zusammenwirkte. Die „katholisch-übernationale Reichsidee“, als dritte Spielart, verband einen pazifistisch-supranationalen Ansatz mit einer „starken föderalen Komponente, die in der Tradition der föderativen katholischen Reichskonzepte des 19. Jahrhunderts stand und sich mit der durch den Zentralisierungsschub der Weimarer Republik forcierten föderalen Bewegung vermengte“.204 Mit ihren Hauptvertretern (Friedrich Wilhelm Foerster, Hermann Görgen und Georg Moenius) stand Ehrler in keiner direkten oder auch nur indirekten Beziehung. Dem Pa200 Breuning: Die Vision des Reiches, S. 114 (Hervorhebungen im Original). Zur Leistung der Dichtung für die symbolische Formbildung in der politischen Religiosität vgl. bereits Eric Voegelin: Die politischen Religionen. Wien 1938, S. 57–61, anhand von Gerhard Schumanns Liedern vom Reich; ferner hierzu Albrecht Schöne: Über politische Lyrik im 20. Jahrhundert. Mit einem Textanhang. Ergänzt durch einen Briefwechsel des Verfassers mit Gerhard Schumann und eine Antwort von Hermann Pongs. Göttingen 1969, Helmuth Kiesel: Politische Religionen in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Heilserwartung und Terror. Politische Religionen des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Hermann Lübbe. Düsseldorf 1995, S. 59–74, sowie Schmidt: Herrscherkult und Politische Religion. 201 Breuning: Die Vision des Reiches, S. 114. 202 Elke Seefried: Reich und Stände. Ideen und Wirken des deutschen politischen Exils in Österreich 1933–1938. Düsseldorf 2006, S. 148. 203 Seefried: Reich und Stände, S. 149. 204 Seefried: Reich und Stände, S. 151.
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zifismus verschloss er sich durch eine letztlich kriegslegitimierende Opfertheologie und einen kulturmissionarisch-antipluralistischen Friedensbegriff. Gleichwohl weist Ehrlers literarische Reichsmetaphysik nationale ebenso wie übernationale Bestrebungen auf. Die föderalistisch-reichstheoretische mit der nationalistischen Komponente zu vermitteln, half ihm dabei besonders jener Ethnonationalismus, den ostentativ sein Weggefährte Ludwig Finckh pflegte und dessen Programm er selbst zuerst in seiner Kriegsschrift Der Bund von 1916 aufnahm (s. Kap. IV.2).205 Seefried hat das Ineinanderfließen der von ihr unterschiedenen Strömungen unter anderem an Theodor Haecker und dessen antiborussisch-prokatholischer Denkschrift Vergil. Vater des Abendlands (1931) registriert.206 Seefrieds Gesamtbewertung des betreffenden Ideenkomplexes als ein „explosives Programmgemisch“207 legt die synkretistische Dynamik nahe, die für Ehrlers Denk- und Verfahrensweise so charakteristisch ist. Erbauung und Erbauungsliteratur, Hauptgebiete der Frühneuzeitforschung und seit den Studien von Rolf Tarot in ihrer Formenvielfalt und weiten Verbreitung erkannt,208 wurden von Wolfgang Braungart überzeugend in Konstellationen des 19. und 20. Jahrhunderts hinein verfolgt und produktiv mit einer Theorie des Kitsches konfrontiert.209 Der damit angesprochenen „genuin seelsorgerischen und trostspendenden Funktion“ von Literatur ist Bernhard Walcher für den völkisch-katholischen Priester Ernst Thrasolt und dessen Lyrik zum Ersten Weltkrieg nachgegangen.210 Hans Dieter Schäfer hat zwischen einer „konfessionellen Erbau205 Vgl. Hans Heinrich Ehrler: Der Bund. In: Kriegsheft des Bundes für Heimatschutz in Württemberg und Hohenzollern. Stuttgart 1916 (= Schwäbisches Heimatbuch, Bd. 4), S. 94–96; dass. in: Mein Heimatland. Badische Blätter für Volkskunde, ländliche Wohlfahrtspflege, Heimat- und Denkmalschutz 3 (1916), S. 33–35. 206 Seefried: Reich und Stände, S. 152. 207 Seefried: Reich und Stände, S. 146. 208 Vgl. bes. Rolf Tarot: Formen erbaulicher Literatur bei Grimmelshausen. In: Daphnis 8 (1979), S. 95–121, und ders.: Grimmelshausen und die Erbauungsliteratur am Ende der frühen Neuzeit. In: Simpliciana 3 (1981), S. 95–100. 209 Vgl. Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur. Tübingen 1996, ders.: Kleine Apologie des Kitsches. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 79 (1997), S. 3–17, ders.: Erbauungsliteratur. Anmerkungen zu Karl Mays Lyrik. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 2002, S. 19–39, sowie ders.: Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen. Einige verstreute Anmerkungen zur Einführung. In: Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen. Hg. v. dems. Tübingen 2002, S. 1–24. 210 Vgl. Bernhard Walcher: „Der alte Gott lebt doch, lebt auch im Kriege noch“. Katholische Kriegstheologie und lyrische Seelsorge im Werk Ernst Thrasolts (1878–1945). In: Internationales Al fred-Döblin-Kolloquium Saarbrücken 2009. Im Banne von Verdun. Literatur und Publizistik im deutschen Südwesten zum Ersten Weltkrieg von Alfred Döblin und seinen Zeitgenossen.
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ung“ als Betätigungsfeld der ‚Inneren Emigranten‘ und einer „säkularisierten Erbauung“ der nationalsozialistischen Gebrauchsformen unterschieden.211 Für die ‚Innere Emigration‘ haben Heidrun Ehrke-Rotermund und Erwin Rotermund näherhin von einer Literatur gesprochen, die „Trost und Erbauung“ stiften wollte, nämlich „durch die Darstellung je verschiedener Gegenwelten […], denen man die Qualität eines zeitenthobenen tieferen Seins zusprach“.212 Wie Schäfer für den schwäbischen Pastor Albrecht Goes und Hermann Kurzke für den katholischen Monarchisten Reinhold Schneider aufweist, bestanden diese Gegenwelten insbesondere in der Heimat (wie bei Goes: Heimat ist gut, 1935) sowie in Reich und Abendland (wie bei Schneider: Dreißig Sonette, 1941).213 Ein Teil der Forschung hat darin die Absicht einer „moralische[n] Rückgratstärkung“214 der bedrängten Rezipienten gewürdigt und die Frage gestellt, „ob Erbauung nicht jenseits des Trivialen positiv verstanden werden kann als […] ein legitimer Aspekt der Literatur, die grundlegende Dimensionen des Menschseins erschließen und deuten will“.215 Dem wird in der Regel entgegengehalten, dass die betreffende Literatur „das tröstliche Bekenntnis zu einer apolitischen, romantisch-religiösen Innerlichkeit“ verabreicht habe und somit selbst, wie die säkularisierte Erbauung des NS-Kults, zum „Element einer umfassenden Ästhetisierung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse“ geworden sei.216 Die erbaulichen Arbeiten hätten „bewußt keinen Zugang zur Realität aufgeschlossen“ und versucht, „den Leser vom Widerspruch zum Hitler-Staat frei zu halten“.217 An Hans Heinrich Ehrler lässt sich vor diesem Hg. v. Ralf Georg Bogner. Bern, Frankfurt/M. u.a. 2010, S. 77–98 (Zitat S. 85). Vgl. Kurzke: Der ausgeträumte Traum vom Reich, S. 220: Reinhold Schneiders Dichtung sei „ohne Ironie am besten als seelsorgerlich“ zu bezeichnen; ebenso Reichel: Der schöne Schein des Dritten Reiches, S. 329: Die Literatur der ‚Inneren Emigration‘ habe „seelsorgerliche Funktionen“ übernommen. 211 Hans Dieter Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein. Vom Dritten Reich bis zu den langen fünfziger Jahren. Erw. Neuausg. Göttingen 2009, S. 310 u. S. 325. 212 Heidrun Ehrke-Rotermund u. Erwin Rotermund: Zwischenreiche und Gegenwelten. Texte und Vorstudien zur ‚verdeckten Schreibweise‘ im „Dritten Reich“. München 1999, S. 9. 213 Vgl. Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 375 f., und Kurzke: Der ausgeträumte Traum vom Reich; für die Dominanz der Reichsidee in der ‚Inneren Emigration‘ vgl. bereits H. R. Klieneberger: The Christian Writers of the Inner Emigration. The Hague, Paris 1968, S. 53 ff. 214 Ehrke-Rotermund u. Rotermund: Zwischenreiche und Gegenwelten, S. 9. 215 Gerhard Ringshausen: Der christliche Protest. Konfessionelle Dichtung und nonkonformes Schreiben im Dritten Reich. In: Schriftsteller und Widerstand. Facetten und Probleme der „Inneren Emigration“. Hg. v. Frank-Lothar Kroll u. Rüdiger von Voss. Göttingen 2012, S. 267–296, hier S. 295. Zur nicht notwendig illegitimen Inanspruchnahme von Literatur für die praktischen Bedürfnisse des Lesers vgl. auch Braungart: Ritual und Literatur, S. 11 ff. 216 Reichel: Der schöne Schein des Dritten Reiches, S. 328 f. u. S. 333. 217 Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 164.
3. „rückblickendes Befremden“: Forschungsvoraussetzungen |
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Hintergrund zeigen, wie er das aedifikatorische Schreiben unter engem Bezug zur mittelalterlich-frühneuzeitlichen Tradition entwickelte, mit den Trostwerten von Heimat, Reich und Abendland besetzte und vom Ersten Weltkrieg bis nach dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich zur Anwendung brachte. „Nationalsozialistische Dichtung ist sakrale Dichtung.“218 Die literarischen Formen des Religiösen im Nationalsozialismus, zu denen Ehrler aus einer langen Erbauungstradition beigetragen hat, wurden intensiv besonders von Klaus Vondung untersucht und von Gudrun Brockhaus in den Zusammenhang einer faschistischen Erlebniskultur gestellt, welche die im religiösen Reservoir vorrätigen Erhabenheitsschauer und Geborgenheitsgefühle ausbeutete.219 Inwieweit das vor franziskanisch-joachimitischem Ideenhintergrund sogenannte Dritte Reich mehr als religiöse Materialien und Metaphern nur in Dienst nahm (Funktionstheorie220), sondern über die Immanenz von Stamm und Heimat, von Volk und Reich hinaus die Transzendenz einer höheren Macht und Welt statuierte, etwa in der ‚Vorse-
218 Ralf Schnell: Dichtung in finsteren Zeiten. Deutsche Literatur und Faschismus. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 108 f. 219 Vgl. Klaus Vondung: Deutsche Wege zur Erlösung. Formen des Religiösen im Nationalsozialismus. Paderborn, München u.a. 2013, und Gudrun Brockhaus: Schauder und Idylle. Faschismus als Erlebnisangebot. München 1997, S. 184–219 („‚Damals haben wir noch etwas geglaubt‘“). 220 Aus der vielstimmigen Forschungsdiskussion hierzu übersichtlich Hans Günter Hockerts: War der Nationalsozialismus eine politische Religion? Über Chancen und Grenzen eines Erklärungsmodells. In: Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus. Hg. v. Klaus Hildebrand. München 2003, S. 45–71 unter anderem mit Hinweisen auf die nationalsozialistische „Verabsolutierung weltlicher Wertbezüge“ (S. 67), auf Wissenschafts- und Technikgläubigkeit im Dritten Reich sowie auf Hitlers Stellungnahmen gegen die völkische Religiosität (z.B. Ludendorffs) und den ‚kultischen Unfug‘ Rosenbergs und Himmlers. – Zur rechtsintellektuellen Funktionalisierung von Religiosität für Erlösungsfantasien sowie zur ‚Religion innerhalb der NSDAP‘ gegen Annahmen einer ‚religiösen NSDAP‘ vgl. Breuer: Ordnungen der Ungleichheit, S. 291 ff. u. S. 321 ff. – Zum Nationalsozialismus eher als Religionsersatz denn als Ersatzreligion Olaf Blaschke: Die Kirchen und der Nationalsozialismus. Stuttgart 2014, S. 74–87 („Der Nationalsozialismus als Ersatzreligion?“). – Zur taktischen Selbststilisierung des Nationalsozialismus als Religion vgl. Hürten: Deutsche Katholiken, S. 299–314 („Nationalsozialismus als Religion“), Gerhard Besier: Die Kirchen und das Dritte Reich. Spaltungen und Abwehrkämpfe 1934–1937. Berlin 2001, S. 167–285 („Die ‚Revolutionierung des Religiösen‘“), sowie einseitig Michael F. Feldkamp: Mitläufer, Feiglinge, Antisemiten? Katholische Kirche und Nationalsozialismus. Augsburg 2009, S. 99 ff. – Gegen die Überschätzung der ideengeschichtlichen Seite des Nationalsozialismus grundsätzlich Hans Mommsen: Nationalsozialismus als politische Religion. In: „Totalitarismus“ und „politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs. Hg. v. Hans Maier u. Michael Schäfer. Paderborn, München u.a. 1996, S. 173–181.
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hung‘, im ‚Wunder‘, in Hitler als ‚Gesandtem‘ und ‚Beter‘ (Substanztheorie221), ist hierbei ein klassischer Streitpunkt.222 Die von Ehrler aus Liberalkatholizismus und Lebensreform mitgebrachte neofranziskanische Weltfrömmigkeit bewegte sich jedenfalls bewusst auf der Grenze von Immanenz und Transzendenz, um Natur und Gnade, Politik und Religion in wechselseitigen Austausch zu bringen. [D]ie notwendige Transzendenz und zugleich notwendige Immanenz […] des schaf221 Dazu ergiebig Michael Burleigh: National Socialism as a Political Religion. In: Totalitarian Movements and Political Religions 1 (2000), H. 2, S. 1–26, sowie zuletzt Hans Maier: Der Nationalsozialismus – eine politische Religion? In: Die weltanschaulichen Grundlagen des NS-Regimes. Ursprünge, Gegenentwürfe, Nachwirkungen. Hg. v. Manuel Becker u. Stephanie Bongartz. Münster 2011, S. 99–112 mit Hinweisen auf das Wahrheitspathos, die Ritualpraxis, den Totalitätsanspruch und das Selbstverständnis der Beteiligten. Diese und weitere Argumente (Auserwähltheitsgedanke, Millenarismus, Märtyrergedenken) für die Substanztheorie auch bei Claus Ekkehard Bärsch: Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiöse Dimension der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler. 2., überarb. Aufl. München 2002, S. 11–15, sowie bei Michael Rißmann: Hitlers Gott. Vorsehungsglaube und Sendungsbewußtsein des deutschen Diktators. Zürich, München 2001, S. 174–179 („Hitlers Gott: Propaganda oder Glaubensinhalt“). – Zum Nationalsozialismus nicht als eigener Religion, sondern als Bewegung, in der christliche Traditionen reproduziert und transformiert wurden, mithin als radikaler Versuch, eine Gottesvorstellung gegen die säkularisierte Gesellschaft zu bewahren vgl. Richard Steigmann-Gall: The Holy Reich. Nazi Conceptions of Christianity 1919–1945. Cambridge 2003, S. 12. – Zum Nationalsozialismus als einem „neuen Typ ‚politischer Religion‘“, der christliche von jüdischen Traditionen zu trennen versucht habe, vgl. Beth A. Griech-Polelle: Der Nationalsozialismus und das Konzept der „politischen Religion“. In: Zerstrittene „Volksgemeinschaft“. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus. Hg. v. Manfred Gailus u. Armin Nolzen. Göttingen 2011, S. 204–226 (Zitat S. 224). 222 Zu den zeitgenössischen Einwänden gegen nationalsozialistische Religionsanmaßungen vgl. maßgeblich Waldemar Gurian (als Walter Gerhart): Um des Reiches Zukunft. Nationale Wiedergeburt oder politische Reaktion. Freiburg/Br. 1932, bes. S. 150–174 („Der neue Nationalismus als religiös-metaphysische Bewegung“) mit dem Ergebnis: „Die neue Religion bleibt in der Immanenz“, ist nur „scheinbare Rückkehr zur Religion“ (S. 151 u. S. 163). – Ob zur Religion notwendig Transzendenz gehört, ist allerdings Teil des Streits um das politisch-religiöse Ordnungsmodell des Nationalsozialismus; vgl. dazu mit Voegelins Unterscheidung von überweltlichen und innerweltlichen Religionen Klaus Vondung: Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literaturtheorie. München 1973, S. 133 ff. Dagegen Hockerts: War der Nationalsozialismus eine politische Religion?, S. 62 ff., der für den Transzendenzbezug als Religionskriterium eintritt und damit zu Abstrichen am Nationalsozialismus als Religion kommt. In diesem Sinn auch Thomik: Nationalsozialismus als Ersatzreligion, S. 16–24 („Ideologie und Religion“). – Zur Diesseitsorientierung bereits der völkischen Religionsentwürfe des Kaiserreichs eindrücklich Puschner: Die völkische Bewegung, S. 204 ff. Zum nationalsozialistischen Rückgriff auf eine Physikotheologie, die gerade in der scheinbaren Ordnung der Natur, d.h. hier der Rassen, die Hand Gottes erkennen will, vgl. Bucher: Hitlers Theologie, S. 168 ff. Zu Hitlers Begriff von Gott als Naturgesetz vgl. auch Rißmann: Hitlers Gott, S. 62 ff.
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fenden Geistes […] sind die Endschwelle der uns gewährten Erkenntnisfläche.“223 Die complexio oppositorum hüllt sich so in den „Mut zum Geheimnis“, den Carl Schmitt – Voegelins ‚rationalistische‘ Unterscheidung von über- und innerweltlichen Religionen von vornherein unterlaufend – dem gesamten katholischen Denken ausdrücklich auch für das Verhältnis von Immanenz und Transzendenz zugeschrieben hat.224 Die kirchennäheren Gelehrten von Waldemar Gurian bis Heinz Hürten wollten hierin keine katholische Substanz berührt sehen. Die Enzyklika Mit brennender Sorge (1937) sprach den politisch-religiösen Grenzverkehr vielmehr als Problem „pantheistischer Verschwommenheit“225 an, wie in diesem Dokument überhaupt einige Kriterien benannt wurden, nach denen sich Ehrler nicht rechtmäßig als Katholik hätte bezeichnen dürfen (s. Kap. V.4). Wenn der Dichter sowie Teile seines Netzwerks und seiner Publikationskontexte in der vorliegenden Arbeit als katholisch bezeichnet werden, so aus Gründen der unzweifelhaften Selbst- und Fremdzuschreibung und der bestimmenden Traditionsanbindung. Mithin trifft auf Ehrler eine Mehrzahl der von Thomas Pittrof für eine „katholische écriture“ aufgestellten Kriterien zu: „Glaubensbindung […], Erbaulichkeit als Wirkungsziel, Nähe zur Heimatdichtung, Einbruch des Supranaturalismus […], Aufnahme älterer, aus dem Kanon der Moderne ausgeschiedener Formen und Stilhaltungen“.226 Vom Verhältnis zum Katholizismus und zum kirchlichen Lehramt her stellt sich diese literarische Katholizität oft genug als heterodox, ja als kryptokatholisch und amtsanmaßend dar, wofür der ‚literarische Seelsorger‘ Ehrler persönlich und anhand seiner erzählten Figuren, besonders der wiederholten Franziskus-Reinkarnationen, reichlich Beispiele gibt.227 Das von Oberkrome sogenannte „rückblickende[] Befremden“228 über die weltanschauliche Alchemie, wie sie unter anderem aus dem provinzialen Labor 223 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 87. 224 Schmitt: Römischer Katholizismus und politische Form, S. 12 u. S. 18. Vgl. Voegelin: Die politischen Religionen, S. 16; zur der „rationalen Diskussion entogen[en]“ Mythenbildung um ein „Reich von sinnlichen Gestalten, in denen innenweltliche Erfahrungen und transzendentes Erlebnis sich zu faßbarer Einheit verbinden“ vgl. ebd., S. 52. 225 Pius XI.: Mit brennender Sorge. In: Acta Apostolicae Sedis 29 (1937), S. 145–167, hier S. 148. 226 Pittrof: Literarischer Katholizismus als Forschungsaufgabe, S. 374. 227 Zum Katholizismus als spezifischer Sozialform des katholischen Christentums etwa von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vgl. Ruster: Die verlorene Nützlichkeit der Religion, S. 23–27 („Zum Begriff des ‚Katholizismus‘“); zur schwierigen Stellung von Literatur im und gegenüber dem Katholizismus vgl. Susanna Schmidt: Handlanger der Vergänglichkeit. Zur Literatur des katholischen Milieus 1800–1950. Paderborn, München u.a. 1994, bes. S. 9–17 („‚Katholische Literatur‘ – ein Begriff und seine historische Realität“). 228 Oberkrome: Stamm und Landschaft, S. 94.
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Hans Heinrich Ehrlers hervorgegangen ist, hat deren jüngere Erforschung im Ganzen mehr herausgefordert als abgeschreckt. Dass hinter den betreffenden Elaboraten generell ein „schwer nachvollziehbares Sammelsurium an verqueren Gedankengängen“229 und „a strange mixture of unorthodoxy, mysticism and social commitment“230 steht, enthebt nicht von der konkreten Aufflechtung der ideengeschichtlichen Fäden und von der Sortierung des hier aufgelaufenen ‚Ideenmülls‘. „Man verkennt die Bedeutung solcher Äußerungen, wenn man sie abtut als krankhafte Ausgeburt vereinzelter Wirrköpfe.“231 Denn diese Art der Literatur hat in der Verbindung von Reichsidee und Erbauungspraxis sowie durch die Kombination von Zeitungs- und Zeitschriftenabdrucken, gut ausgestatteten Buchpublikationen, gesteuerten Rezensionen, Aufbereitung für den Deutschunterricht und nicht zuletzt durch zahlreiche Vertonungen in die Breite und Tiefe der Alltagswelt gewirkt, in Ehrlers Fall zumindest in Süd- und Westdeutschland sowie den katholischen Diasporen bis nach Ostpreußen, außerdem in evangelischen Kreisen, die an ökumenischen Perspektiven interessiert waren.232 Ihre Mixturen entsprechen nicht zuletzt einer schwierigen Verflechtungsgeschichte zwischen Christentum, völkischer Bewegung und Nationalsozialismus, lassen sich daher auch für den detaillierten Nachvollzug von deren „Miteinander und […] Gemengelage“233, „Misch- und Wechselformen“234, „Kompatibilitäten und Koexistenzen“235 nutzen. Insbesondere
229 Hans-Jörg Schmidt: Die deutsche Freiheit. Geschichte eines kollektiven semantischen Sonderbewusstseins. Frankfurt/M. 2010, S. 138 f. 230 John Klapper: The Search for Synthesis. Religion and Myth in the Works of Stefan Andres. In: German Life and Letters 45 (1992), S. 149–157, hier S. 154. 231 Schöne: Über politische Lyrik im 20. Jahrhundert, S. 25. 232 Zum Problem der Messung von Medienwirkung und zur Wirkungsmacht ideologischer Konzepte durch ihre Einbettung in die Alltagswelt der Rezipienten vgl. Anne Lipp: Meinungslenkung im Krieg. Kriegserfahrungen deutscher Soldaten und ihre Deutung 1914–1918. Göttingen 2003, S. 45 ff., Daniel Mühlenfeld: Zur Bedeutung der NS-Propaganda für die Eroberung staatlicher Macht und die Sicherung politischer Loyalität. In: Deformation der Gesellschaft? Neue Forschungen zum Nationalsozialismus. Hg. v. Christian A. Braun, Michael Mayer u. Sebastian Weitkamp. Berlin 2008, S. 93–117, sowie ders.: Was heißt und zu welchem Ende studiert man NS-Propaganda? Neuere Forschungen zur Geschichte von Medien, Kommunikation und Kultur während des ‚Dritten Reiches‘. In: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), S. 527–559. 233 Hummel: Kirche und Katholiken im Dritten Reich, S. 78. 234 Antonia Leugers: Positionen der Bischöfe zum Nationalsozialismus und zur nationalsozialistischen Staatsautorität. In: Die katholische Schuld? Katholizismus im Dritten Reich – Zwischen Arrangement und Widerstand. Hg. v. Rainer Bendel. 2. Aufl. Münster 2004, S. 122–142, hier S. 133. 235 Gailus u. Nolzen: Viele konkurrierende Gläubigkeiten – aber eine „Volksgemeinschaft“?, S. 18.
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stellt sich dabei das Problem des „Ineinanderfließen[s]“236 christlicher Erbauungsschriftstellerei und völkisch-nationalsozialistischer Staatskunst. Wie Jan-Pieter Barbian und zuletzt Ine van Linthout gezeigt haben, schmeichelte der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, bürgerlichen Autoren, Verlegern und Buchhändlern ganz gezielt mit der seelenund reichsrelevanten Bedeutung ihres Tuns und versprach dessen tatkräftige Unterstützung durch die „Regierung der nationalen Erhebung“. So zum Kantate-Treffen der Buchhändler 1933 in Leipzig unter expliziter Verklammerung von „Rasse, Religion und Volkstum“: „Diese Regierung weiß, wie nötig sie den Geist hat, diese Regierung weiß, wessen die Seele des Volkes bedarf, und diese Regierung ist auch überzeugt, daß das Buch, das dem Geist der Zeit gerecht wird, auch in Zukunft seinen Weg machen wird. […] (Stürmischer Beifall)“237 So auch zur „Ersten Großdeutschen Buchwoche“ 1938 in Weimar, auf der Ehrler mit einer Neuerscheinung (den „Betrachtungen“ Mit dem Herzen gedacht) und in eigener Person vertreten war: „Das deutsche Buch ist Spiegel der deutschen Seele, ist unermüdlicher Helfer im Tagewerk der Nation, ist treuer Begleiter im Ringen um unsere Gemeinschaft und um das Reich, ist Streiter für deutsche Art und Geltung in der Welt.“238 Obwohl sich die Einkommensverhältnisse der reichsdeutschen Schriftsteller bei sinkenden Honoraren nach 1933 insgesamt nicht verbessert haben, waren diese Beteuerungen für Autoren wie Ehrler in mehrfacher Hinsicht unterlegt: durch die Schaffung neuer Literaturpreise, von denen Ehrler 1938 den württembergischen Schillerpreis erhielt, durch die erhebliche Aufstockung des Etats der Deutschen Schillerstiftung, die Ehrler seit 1939 mit Höchstsätzen bedachte, und durch die Sonderkonjunktur nicht zuletzt des erbaulichen Schrifttums, das der Beginn, aber 236 Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 391. 237 [Joseph Goebbels]: Kantate 1933 [Rede des Reichsministers Dr. Joseph Goebbels beim KantateTreffen im Leipziger Buchhändlerhaus]. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 100 (1933), S. 353–356, hier S. 355 f. Vgl. dazu Jan-Pieter Barbian: Die organisatorische, personelle und rechtliche Neuordnung des deutschen Buchhandels. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Börsenverein des Deutschen Buchhandels / Historische Kommission. Bd. 3: Drittes Reich. Tl. 1. Berlin, Boston 2012, S. 73–160, hier S. 74. 238 Zit. n. [Anon.]: Mitteilungen [„Reichsminister Dr. Goebbels zur ‚Woche des deutschen Buches‘“]. In: Die Neue Literatur 39 (1938), S. 590. Zur verstärkten Förderung der traditionellen Hochkultur durch den Nationalsozialismus, vor allem durch den Pragmatiker Goebbels im Unterschied zur mehr kulturrevolutionären Ambition von Rosenberg, mit dem Versprechen eines Wiederauflebens der ‚ewig-deutschen Hochkultur‘ und einer ‚Versöhnung von Kunst und Politik‘ vgl. Reichel: Der schöne Schein des Dritten Reiches, S. 322 ff., Hermand: Kultur in finsteren Zeiten, S. 39 ff., Schäfer: Kultur als Simulation, S. 408 f., sowie Linthout: Das Buch in der nationalsozialistischen Propagandapolitik, S. 41 ff.
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| I. Einleitung
auch die Folgen des Zweiten Weltkriegs mit sich brachten.239 Dass Ehrler lebensund werkgeschichtlich buchstäblich von Heuss zu Hitler und von Hitler wieder zu Heuss wechseln konnte, hat seine Gründe nicht zuletzt in der gleichbleibenden Hoffnung auf einen – mit Fug und Recht besoldeten – Ehrenplatz des Geistes im Staat: auf die quasikonstitutionelle Anerkennung eines ‚Reichs im Reich‘ oder ‚inneren Reichs‘, verstanden als geistig-spirituelles Erbe des ‚Volks der Mitte‘ im Schnittpunkt von ‚deutscher Heimat‘ und ‚christlichem Abendland‘.
239 Vgl. Jan-Pieter Barbian: Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Schriftsteller. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Börsenverein des Deutschen Buchhandels / Historische Kommission. Bd. 3: Drittes Reich. Tl. 1. Berlin, Boston 2012, S. 7–72, hier bes. S. 57 ff., sowie ders.: Der Buchmarkt. Marktordnung und statistische Marktdaten. In: ebd., S. 161–196, hier bes. S. 179 ff.
II. Literatur als Seelsorge
1. „folgenloser Ruhm“: Stationen einer Karriere
Hans Heinrich Ehrler war der populäre Verfasser einer antimodern-modernen Form von Erbauungsliteratur, die im Zeitalter zweier Weltkriege den Trost aufzeigen wollte, dass ,deutsche Heimat‘ und ,christliches Abendland‘ breit zugängliche und in einer bestimmten Vision vom Reich miteinander verbundene Heilsmittel seien. Für sein vielbändiges ordo mundi-Werk und eine weitverzweigte panegyrische Publizistik genoss er einen Status als staatlich approbierter Dichterprophet und wohnte bereits zu Lebzeiten im Hans-Heinrich-Ehrler-Weg. Im gedruckten Briefkopf seiner Korrespondenz seit August 1942 machte er von dieser ruhmseligen Adresse genussvoll Gebrauch: „Hans Heinrich Ehrler, Hans Heinrich Ehrlerweg 8, Waldenbuch bei Stuttgart“. Das wohlhabende Fachwerkstädtchen Waldenbuch mit seinen damals etwa 2000 Einwohnern und näherhin die von den Altstädtern sogenannte „Beamtensiedlung“ Liebenau1 betrachtete er als „meine Einsiedelei“2, der Idee nach „genau in der Mitte des Landes“3 gelegen, an der Reichsstraße zwischen Stuttgart und Tübingen. Eine Holzschnittserie aus der Reihe „Bücher der Heimat“, 1926 und damit im Jahr von Ehrlers Hauskauf in Waldenbuch erschienen, präsentiert die Landgemeinde im Modell einer ständischen Ordnung, wie sie in der Heimatbewegung häufig vertreten wurde und auch den gesellschaftspolitischen Vorstellungen der Abendlandbewegung entsprach (Abb. 1). Die Einführung in das ‚Buch der Heimat‘ schrieb der mit Ehrler gut bekannte Mundartdichter Martin Lang, Cheflektor der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart, und versprach unter anderem: „Da ist Ordnungssinn ohne Pedanterie […]. Da ist Walten ursprünglich durchgreifender Mächte, da ist sich Schicken und sich Fügen.“4 Bei allen pastoralen Fantasien lebte Ehrler seit der Zeit um 1900 primär in den kulturökonomischen Netzwerken der Landeshauptstadt. Mit süddeutschem Ausgangspunkt war der Württemberger, der Heimat als universaldeutsches Prinzip vertreten hat, 1 2
Vgl. Wolfgang Härtel u. Ulrike Felger: Waldenbuch. Erfurt 2010, S. 20. Hans Heinrich Ehrler an Hermann Missenharter, 14. März 1931, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Nachlass Missenharter, Sign. Cod. hist. 4° 591. 3 Breucha: Erinnerung an Hans Heinrich Ehrler (1961). 4 [Martin Lang u. Joachim Lutz]: Waldenbuch auf den Fildern. 12 Original-Holzschnitte von Joachim Lutz. Dazu eine Einführung von Martin Lang. Mannheim 1926, Bl. 1.
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| II. Literatur als Seelsorge
reichsweit akklamiert. Dem Romanautor bestätigte beispielsweise die Neue Rundschau 1912 (für sein Debüt Briefe vom Land: erste Auflage 1911 mit sechs Auflagen bis 1924), er sei „edel in seiner Bescheidenheit und groß in seinem Mikrokosmos“,5 das Literarische Echo 1919, er sei „Dichter schlechtweg“: eine „in sich geschlossene, abgeklärte Persönlichkeit“, sein Stil „klar und durchsichtig, von jener edlen Gelassenheit, die doch reich genug an Bewegung ist, um keine Erstarrung aufkommen zu lassen“; nur wenigen anderen lebenden Autoren sei „im gleichen Maß das reine und unmittelbare poetische Anschauungs- und Ausdrucksvermögen verliehen“.6 Die Frankfurter Zeitung fand 1917 mit Blick auf den Roman Die Reise ins Pfarrhaus (zuerst 1913 mit acht Auflagen bis 1922), dass „das evangelische Pfarrhaus wohl mehr tüchtige Schilderer, liebenswürdige Idylliker, aber noch keinen so echten Dichter gefunden hat wie das katholische in Hans Heinrich Ehrler“,7 1920 für die Ausgabe seiner gesammelten Gedichte (von 1919), dass er „unter die bedeutenden Lyriker deutscher Zunge, und dies ohne zeitliche Einschränkung, einzureihen“8 sei. Allenthalben hob man den zur Meditation geneigten und geeigneten Charakter seiner Schriften hervor, den der Dichter selbst mit dem Anspruch unterstrich, „letzte und schwerste Dinge aus dem Abgrund der Betrachtung gesprochen“9 zu haben. So in der Zeitschrift Die Literatur der Jahrgänge 1926 und 1930: „Seine andachtsvolle Art“, Dinge und Menschen zu betrachten, stimmten „auch uns zur Andacht“. Seine „sprachlich wundervoll durchleuchteten [...] Weisheiten über menschliche und göttliche Dinge“ schritten in „fast [...] priesterlichem Gewande einher“.10 Dieser Gesegnete wisse, dass „des Dichters Berufung Gnade und himmlische Sendung, daß alle Kunst Herzenserhebung, Aufwärtsstreben, Hinfindung zu Gottes Schöpfung“ sei.11 Ehrler habe mithin als „ein moderner Prophet“ zu gel5
Norbert Jacques: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Briefe vom Land. In: Neue Rundschau 23 (1912), S. 1034 f. 6 Rudolf Krauss: Hans Heinrich Ehrler. In: Das literarische Echo 21 (1919), Sp. 705–710, hier Sp. 706 f. u. Sp. 709. Vgl. im selben Jahr ähnlich positiv auch Karl Strecker: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Der Hof des Patrizierhauses, Die Reise ins Pfarrhaus. In: Velhagen & Klasings Monatshefte 33 (1919), S. 549 f. 7 Hermann Missenharter (als H. M.): [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Die Reise ins Pfarrhaus. In: Frankfurter Zeitung, 10. August 1917. 8 Bernhart: Hans Heinrich Ehrler. 9 Hans Heinrich Ehrler: Wispel. In: Der Schwäbische Bund 2 (1920), S. 276–278, hier S. 276. 10 Rudolf Krauss: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Die Reise in die Heimat. In: Die Literatur. Neue Folge des Literarischen Echos 28 (1925/26), S. 674, und ders.: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Die Frist. In: ebd. 33 (1930/31), S. 104. 11 Peter Bauer: Hans Heinrich Ehrler. In: Die Bücherwelt 17 (1920), S. 245–249, hier S. 245.
1. „folgenloser Ruhm“: Stationen einer Karriere |
Abb. 1: Waldenbuch, „Blick auf die Stadt“, Holzschnitt von Joachim Lutz 1926.
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ten, dessen „besonnene Predigt“ die „Überwindung des Gemeinen und Niedrigen“ vollziehe, so 1927 Rudolf Paulsen, der freilich ein Wortführer der reaktionär-modernen und nationalsozialistischen Lyriktheorie war.12 Jedenfalls konnten die an einer breiten Leserschaft orientierten Velhagen & Klasings Monatshefte hinsichtlich Ehrlers Popularität im Jahr 1925 sicher sein: „Hans Heinrich Ehrler ist unseren Lesern bekannt und vertraut.“13 Von ihm, der seit Anfang des Jahrhunderts zunächst Gedichte, dann Erzählungen in den Monatsheften publizierte, sollte sich erwarten lassen, dass „das durch Kitsch und Schund verflachte Gefühl der Menge wieder gesunde am Born echter, reiner Poesie“.14 Solches Vertrauen mochte zunächst der streng durchgearbeitete, ganz in religiös-philosophischem Tiefsinn gefasste Lyrikband Gesicht und Antlitz von 1928 bestätigen. Franz Blei, der einschlägige (atheistische) Sympathien für den Katholizismus als politischer und ästhetischer Form pflegte,15 berührte für Rowohlts Literarische Welt in zurückhaltend positiver Wertung vor allem den klassisch-romantisch fundierten Formkonservatismus sowie das weltanschaulich-spekulative Moment: Diese Gedichte sind es wirklich von innen her und nicht versifizierter Stoff und Zufall des Tages. Nicht lyrische Stimmung, die immer verstimmt, weil sie auf den trüben seelischen Zustand des Lesers spekuliert, der, was fehlt, ergänzen soll. Die äußere Form dieser Gedichte hat daher auch keine Sprünge und Risse. Dem gefühlsmäßig Bewegten ist, wo sich der Prozeß der Kristallisation vollzieht, als welcher eben das wahre Gedicht ist, immer das Gedankliche gegeben, dieses Spezifische der dichtenden Person. [...] Die in dieses Gedankliche einbezogene Welt mag, fromm, wie sie überdacht ist, nicht groß oder weitläufig sein. Aber es genügt, daß sie überhaupt ist.16
12 Rudolf Paulsen: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Das Gesetz der Liebe. In: Der Tag, 9. Dezember 1927. Vgl. ders.: Der Weg der deutschen Lyrik. In: Deutsche Kultur-Wacht 2 (1933), S. 7 f., hier S. 8. Zu Paulsen vgl. Haß: Militante Pastorale, S. 71 ff. 13 Karl Strecker: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Elisabeths Opferung. In: Velhagen & Klasings Monatshefte 39 (1924), S. 341 f. 14 Bauer: Hans Heinrich Ehrler (1920), S. 249. Zu Ehrlers frühesten Publikationen in diesem Organ gehört das Gedicht Heimliches (Velhagen & Klasings Monatshefte 23 [1908], S. 438). 15 Vgl. Wolf-Daniel Hartwich: Häretiker der Moderne. Katholizismus als Politische Theologie bei Franz Blei, Hugo Ball und Carl Schmitt. In: Franz Blei. Mittler der Literaturen. Hg. v. Dietrich Harth. Hamburg 1997, S. 82–105. 16 Franz Blei: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Gesicht und Antlitz. In: Die literarische Welt 4 (1928), H. 30, S. 5.
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Oskar Loerke hatte die Entstehung des Gedichtbandes mit privater Lektüre und Kritik begleitet: „viele der schönen Gedichte kritisch durchgegangen“, notierte er im Tagebuch über eine Begegnung mit Ehrler am 25. April 1928 in Berlin.17 Er referierte im liberal-konservativen Berliner Börsen-Courier gleichfalls auf die tektonische Geschlossenheit, den „Bau und die Magie des Gebildes“, und bestätigte die gesinnungshafte Grundierung, den „Gedankengehalt“, bei dem der Dichter doch immer Dichter bleibe und „nicht mit Werbeplakaten für Gleichgesinnte“ arbeite. Auch das meditative Element, im Sinne der „klare[n] Andacht“, würdigte Loerke und fand es in Einheit mit einer „Naturliebe“, die sich zumal in den zahlreichen Naturgedichten der Sammlung wie Die Wolke, Der Zugvogel oder Der Blume Schutzgeist ausspricht. Loerke griff zuletzt hoch, wenn er das als Volk gedachte Lesepublikum herausforderte: „Unser Volk hat wieder einmal die Gelegenheit zu einem Versäumnis, entweder, indem es schweigend vorübergeht oder indem es die Leistung mit billigem und folgenlosem Ruhm verschüttet.“18 Bei diesem so konsolidierten Ruf ist es auch nicht verwunderlich, dass Ehrler in den Literaturgeschichten der 1920er bis 1950er Jahre von Adolf Bartels und Josef Nadler über Anselm Salzer und Guido Karl Brand bis zu Hellmuth Langenbucher und Fritz Martini durchgehend bereits als historische Erscheinung verbucht war. Der prinzipiell konservativen Methode der Literaturhistoriografie, Dichtung aus ihrem Vergangenheitskontinuum heraus zu präsentieren, aus der „goldenen Kette der großen deutschen Tradition“,19 musste sich der anknüpfungsreiche Autor anbieten. Den Anfang machte hier – mit wachsendem Interesse an Ehrler seit der achten Auflage von 1919 – Bartels’ Geschichte der deutschen Literatur (zuerst 1901/02), dem maßgeblichen Kompendium völkischer Literaturbetrachtung, das in dem frommen Dichter die wahre Reinkarnation einer ‚alemannischen‘, soll heißen ausgeglichen schwärmerischen und formbewussten Geistigkeit, entdeckte. Ehrler rangierte hier zunächst noch im Kapitel über süddeutsche Heimatkunst – ‚Heimatkunst‘ verstanden als alles, was „durchaus vom modernen Geiste berührt“ sein könne, aber stets die in einer bestimmten „Umwelt hervortretende[] Eigen-
17 Oskar Loerke: Tagebücher 1903–1939. Heidelberg 1955, S. 173 (Eintrag vom 28. April 1928 unter Bezug auf den 25. April). 18 Oskar Loerke: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Gesicht und Antlitz [27. Mai 1928]. In: ders.: Der Bücherkarren. Besprechungen im Berliner Börsen-Courier 1920–1928. Hg. v. Hermann Kasack. Heidelberg 1965, S. 406. 19 Hellmuth Langenbucher: Schwäbische Leistung im gesamtdeutschen Schrifttum. In: Weltliteratur 2 (1936), S. 240–242, hier S. 242.
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art bei Menschen sowohl wie bei der Natur“ unterstreiche.20 Selbst Bartels’ kurzgefasste Einführung in das deutsche Schrifttum für deutsche Menschen von 1933 kam nicht ohne eine nachdrückliche Empfehlung für das vermeintlich volksverwurzelte Talent Ehrlers aus, in erster Linie für den Naturmystiker und Autor der Frühlings-Lieder (1913).21 Diese völkische Wertschätzung hatten Rezensenten wie der frühe Kolbenheyer-Freund Erwin Ackerknecht bereits anhand der Briefe vom Land zum Ausdruck gebracht.22 Der germanistische Stammesethnologe Nadler in seiner mehrfach überarbeiteten Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (zuerst 1912–1918) sah in Ehrlers „keuscher und verschwiegener Hingabe an die Natur“ zunächst „die ewige schwäbische Seele“ Gestalt werden,23 korrigierte sich später, indem er Ehrler neben Ludwig Derleth stellte und beide Autoren als „eins im Ichgefühl der Gottnatur und in der fränkischen Meisterschaft des Wortes“ betrachtete.24 An die völkischen und stammesethnologischen Einschätzungen konnte die nationalsozialistische Literaturbetrachtung von Hellmuth Langenbucher anschließen, die im Kontext des Dritten Reichs interessieren muss (s. Kap. V.1). Auch die auf den Schulgebrauch angelegte, stark konfessionell eingefärbte Illustrierte Geschichte der deutschen Literatur des österreichischen Germanisten und Benediktinerpaters Anselm Salzer fand 1932 viel Sympathie für Ehrler. „In leuch tender Klarheit flutet verinnerlichtes Leben“, so fasste Salzer den Gehalt von Ro20 Adolf Bartels: Geschichte der deutschen Literatur. 8. Aufl. Braunschweig 1919, S. 592 u. S. 605 f. Vgl. ders.: Geschichte der deutschen Literatur. 19. Aufl. Braunschweig 1943, S. 622 f., sowie ders.: Die deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Jüngsten. Leipzig 1921, S. 27 u. S. 45. 21 Adolf Bartels: Einführung in das deutsche Schrifttum für deutsche Menschen. In 52 Briefen. Leipzig 1933, S. 529. Zu Bartels vgl. Voßkamp: Zur deutschen Literaturwissenschaft im Dritten Reich, S. 151 ff., sowie Puschner: Die völkische Bewegung, S. 10 ff. u.ö. 22 Vgl. Erwin Ackerknecht: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Briefe vom Land. In: Eckart. Ein deutsches Literaturblatt 7 (1912/13), S. 95. Zur Person vgl. Vordermayer: Bildungsbürgertum und völkische Ideologie, S. 124 ff. 23 Josef Nadler: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. Bd. 4: Der deutsche Staat (1814–1914). 3. Aufl. Regensburg 1932, S. 790. 24 Josef Nadler: Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften. Bd. 4: Reich (1914–1940). 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin 1941, S. 397–400 (Zitat S. 400, Hervorhebungen StKT). Nadlers Stammeskunde schließt Mischungen sowohl zwischen Rassen als auch zwischen Stämmen (Stamm als regionale Mittelebene zwischen Individuum und Rasse verstanden) weder aus noch bewertet er sie negativ. Vgl. dazu Voßkamp: Zur deutschen Literaturwissenschaft im Dritten Reich, S. 149 ff., Kaiser: Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus, S. 187 ff. u. S. 390 ff., sowie Ralf Klausnitzer: Germanistik und Literatur im „Dritten Reich“. In: Nationalsozialismus und Exil 1933–1945. Hg. v. Wilhelm Haefs. München 2009 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 9), S. 208–229, hier S. 225 f.
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manen wie Die Reise ins Pfarrhaus; „Wendungen und Bilder von erlesenstem Glanz und trefflichstem Ausdruck“ reihten sich hier aneinander, mit einem „Reichtum an Poesie und Stimmungszauber“, wie man ihn in der Literatur der letzten Jahrzehnte nur selten finde.25 Selbst die eher progressiv orientierte Geschichte der deutschen Literatur von Guido Karl Brand verzeichnete den Dichter 1932 durchaus wohlwollend als einen, „der abseits der großen Heerstraße lebt, leidet und dichtet“, einen neuen „Mystiker“ mit „schön-edler Haltung in der Sprache, in der die Liebe als selige Notwendigkeit vibriert“; Brand deutete auch auf den christlich-platonischen und klassisch-romantischen Synkretismus in Ehrlers Büchern wie Briefe aus meinem Kloster: „Sie haben etwas von einem Umgang mit Mörike, Hölderlin und Franziskus von Assisi zugleich.“26 An früherer Stelle, im Handbuch Weltliteratur der Gegenwart von 1924, hatte der in Würzburg promovierte Literaturhistoriker den „schwäbischen Poeten“ noch der „Neu-Romantik“ zugeordnet und mehr als Erscheinung innerhalb der süddeutschen Kulturbewegung um Hermann Hesse und Ludwig Finckh erfasst.27 An Hesse und Finckh schloss auch die ausführliche literaturgeschichtliche Einleitung der Reclam-Anthologie Moderne deutsche Lyrik den Dichter an und stellte ihn in die Nachfolge der „Liederdichter Goethe, Eichendorff, Mörike“: In Ehrlers „gemütvollen prägnanten liedartigen Stimmungen“ verbänden sich „Anmut und lyrische Ergriffenheit, Natur und Seele, Landschaft und Erlebnis jedesmal zu höchst unmittelbarer Wirkung“.28 Ehrler war ein Jahr nach der Reichsgründung in der neuwürttembergischen Deutschordens- und Garnisonsstadt (Bad) Mergentheim geboren. Die Mutter Margaretha Ehrler, geb. Heuerling (1830–1877), kam aus einer Musikerfamilie in der früheren Reichsstadt Wimpfen am Neckar. Der früh verwitwete Vater Johann 25 Anselm Salzer: Illustrierte Geschichte der deutschen Literatur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. 2., neu bearb. Aufl. Regensburg 1926–1932, Bd. 4 (1931), S. 1551. Ähnlich die kurze Charakteristik Ehrlers als Idylliker in Alfred Biese: Deutsche Literaturgeschichte. 23. Aufl. München 1927, Bd. 3, S. 648. 26 Guido Karl Brand: Werden und Wandlung. Eine Geschichte der deutschen Literatur von 1880 bis heute. Berlin 1933, S. 162 u. S. 442. 27 Guido Karl Brand: Neu-Romantik. In: Weltliteratur der Gegenwart: Deutschland. 2 Bde. Hg. v. Ludwig Marcuse. Berlin 1924, Bd. 1, S. 81–190, hier S. 189 f. („Die schwäbischen Poeten“). Zur anfänglichen literaturhistorischen Einordnung Ehrlers in den ‚schwäbischen Kreis‘ vgl. auch Karl Borinski: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. 2 Bde. Stuttgart, Berlin 1921, Bd. 2, S. 616. Zur Verortung „tief in der Romantik“ vgl. auch Hans Harbeck: Hans Heinrich Ehrler. In: Zeitung für Literatur, Kunst und Wissenschaft. Beilage des Hamburgischen Correspondenten 1914, Nr. 16. 28 Hans Benzmann: Die Entwicklung der modernen deutschen Lyrik. In: Moderne deutsche Lyrik. Ältere Generation (1880–1914). Hg. v. dems. 4. Aufl. Leipzig 1924, S. 5–56, hier S. 47.
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Michael Ehrler (1832–1905), „frommer christkatholischer Landstadtbürger und Bienen züchtender Freund des kleinen Lebens“,29 der den begabten Sohn eigentlich zum Priesterberuf bestimmt hatte, betrieb eine Wachsbildnerei am Oberen Markt (seit 1952 Hans-Heinrich-Ehrler-Platz30). In diesem mittelständischen, später vom Halbbruder Karl Ehrler übernommenen Betrieb hat der Schüler ferienweise daran mitgearbeitet, Kerzen vor allem für den Gebrauch bei christlichen Feiern, in der Kirche und auf dem Friedhof herzustellen. Diese unter anderem in dem Heft Mein Vater (1917) geschilderten biografischen Elemente gaben dankbare Vorlagen für einen poeta vates ab, der nach erklärtem Selbstverständnis „den Menschen den Weg erhellen“31 wollte. Kunst und Geschichte der Residenzstadt, die der Deutsche Orden nach der Säkularisierung des baltischen Ordensstaates 1525 zum Hochmeistersitz ausbaute, haben den Dichter in politisch-theoretischer Perspektive viel beschäftigt, darunter in Der Spiegel des Hoch- und Deutschmeisters Maximilian Franz und in Die Reise in die Heimat (beide 1926), Ersteres ein historisches Festspiel aus der humanen Herrlichkeit der josephinischen Aufklärung,32 Letzteres ein geschichtsdeutender Rundgang durch die Stadt und benachbarte Kunststätten aus der Perspektive der Gegenwart: „Das ‚Deutsche Haus‘ in Mergentheim ist leer. Napoleon hat der Herrlichkeit des Hochmeistertums ein Ende gemacht. Meine Vaterstadt ist seit über hundert Jahren wohl eingewöhnte württembergische Oberamtsstadt.“33 Eine Restitution des Ordens, der im Frieden von Preßburg 29 Ehrler: Briefe vom Land, S. 42. Vgl. ders.: Mein Vater. Ein Bild. Stuttgart 1917, sowie ders.: Der Wachszieher. In: Ehrsamer Stand. Handwerk im Spiegel deutscher Dichtung. Hg. v. August Heinrich Berning. Mainz 1942, S. 10. 30 Vgl. dazu und zum Geburtshaus Friedrich Pfäfflin, Irina Renz u. Thomas Scheuffelen: Literarische Museen und Gedenkstätten in Baden-Württemberg. Marbach 1991, S. 12, sowie Fred Oberhauser u. Axel Kahrs: Literarischer Führer Deutschland. Frankfurt/M. 2008, S. 102. 31 Hermann Breucha: Hans Heinrich Ehrlers letzte Reise in die Heimat. Gedenkworte bei der Überführung von Hans Heinrich Ehrler nach Bad Mergentheim am 27. Oktober 1955. In: Abraham Peter Kustermann: Hans Heinrich Ehrler und Hermann Breucha. Schwäbischer Kulturkatholizismus auf Abwegen. In fünf Dokumenten aus dem Nachlass Hermann Breucha. In: Region – Religion – Identität. Tübinger Wege. Hg. v. Rainer Bendel u. Josef Nolte. Berlin 2017, S. 87–115, Nr. 2. 32 Hans Heinrich Ehrler: Der Spiegel des Hoch- und Deutschmeisters Maximilian Franz. Ein Spiel. Bad Mergentheim 1926. 33 Ehrler: Die Reise in die Heimat, S. 53. Den Akzent auf dem ‚wohleingewöhnt Württembergischen‘ setzte Ehrler hier und anderweitig gegen Tendenzen der Reichsreformdiskussionen, Bad Mergentheim bei der Bildung eines „groß-“ oder „rheinschwäbischen“ Südweststaates nicht in Württemberg zu belassen, sondern einem „Reichsland Bayern“ oder „Reichsland Rheinfranken“ zuzuschlagen; vgl. Klöckler: Abendland – Alpenland – Alemannien, S. 16 f. u. S. 24. – Zum Ordenshintergrund vgl. Friedrich Merzbacher: Die Stadt Mergentheim und der Deutsche Orden. In: Von Akkon bis Wien. Studien zur Deutschordensgeschichte vom 13. bis zum 20. Jahr-
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1805/06 seinen Territorialbesitz und durch feindliche württembergische Übernahme 1809 auch die hochmeisterliche Residenz verlor, hat Ehrler nicht gefordert; dafür war er zu sehr vom südwestdeutschen Liberalkatholizismus des 19. Jahrhunderts geprägt, auch zu sehr an der diskursiven Integrierbarkeit seiner Wortmeldungen interessiert. Allerdings wollte er die Insignien des Hochmeisters (bzw. das davon abgeleitete Stadtwappen Mergentheims) als „Zeichen über das Vaterland heben“34: ein Kreuz mit Reichsadler im Geviert (Abb. 2). Diese Kreuz-und-AdlerSymbolik, wie sie im Reichskatholizismus der 1930er Jahre gipfelte, stand für die postulierte Einheit von Reich und Christentum. Entsprechende Abbildungen zieren den Umschlag der Reise in die Heimat und das Titelblatt des Spiegels des Hochund Deutschmeisters Maximilian Franz. In diesem Sinne sah Ehrler im Kurort Bad Mergentheim einen Heilbrunnen für das „kranke deutsche Land“35 entspringen. Der Kreuzritterorden und sein Staat wurden in der deutschen Rezeption der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielfach als „Vorbild für ein neues Deutschland“36 aufgerufen. Das einschlägige Buch im Diederichs Verlag, Erich Maschkes Der Deutsche Orden (1939), erklärte die Mönchsritter zu „Zeugen einer deutschen hundert. Hg. v. Udo Arnold. Marburg 1978, S. 43–61, sowie Germanisches Nationalmuseum Nürnberg (Hg.): 800 Jahre Deutscher Orden. Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg in Zusammenarbeit mit der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens. Gütersloh 1990, S. 139, S. 222 ff. u. S. 507 ff. – Zur blutigen Besitzergreifung durch Württemberg im Juni 1809 vgl. Wolfgang Urban: „Furchtlos und treu“. Katholiken im Königreich Württemberg. In: Der deutsche Südwesten. Regionale Traditionen und historische Identitäten. Red. v. Reinhold Weber. Stuttgart 2008, S. 123–150, hier S. 129 f., sowie Christoph Bittel: Von der Residenz des Deutschen Ordens zum württembergischen Herzogsund Behördensitz. Zur Nutzungsgeschichte des Bad Mergentheimer Schlosses im 19. Jahrhundert. In: Württembergisch-Franken. Jahrbuch des Historischen Vereins für Württembergisch Franken 93 (2009), S. 144–184. 34 Ehrler: Die Reise in die Heimat, S. 195. Zum Hochmeisterschild und Stadtwappen vgl. Germanisches Nationalmuseum (Hg.): 800 Jahre Deutscher Orden, S. 80 f., S. 164 f. u. S. 220, zur Kreuz-und-Adler-Symbolik Hürten: Deutsche Katholiken, S. 201 ff. 35 Ehrler: Der Spiegel des Hoch- und Deutschmeisters Maximilian Franz, S. 7. 36 Caspar Ehlers: Die propreußische Rezeption des Deutschen Ordens und seines „Staates“ im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. In: Preußische Katholiken und katholische Preußen im 20. Jahrhundert. Hg. v. Richard Faber u. Uwe Puschner. Würzburg 2011, S. 115–144, hier S. 124. Vgl. auch Wolfgang Wippermann: Der Ordensstaat als Ideologie. Das Bild des Deutschen Ordens in der deutschen Geschichtsschreibung und Publizistik. Berlin 1979, S. 225 ff., Udo Arnold: Der Deutsche Orden im deutschen Bewußtsein des 20. Jahrhunderts. In: Vergangenheit und Gegenwart der Ritterorden. Die Rezeption der Idee und die Wirklichkeit. Hg. v. Zenon H. Nowak. Toruń 2001 (= Ordines Militares. Yearbook for the Study of the Military Orders, Bd. 11) S. 39–53, sowie Gordon Wolnik: Mittelalter und NS-Propaganda. Mittelalterbilder in den Print-, Ton- und Bildmedien des Dritten Reiches. Münster 2004, S. 125 ff. u. S. 145 ff.
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Abb. 2: Kreuz und Adler. Umschlagillustration zu Die Reise in die Heimat 1958.
Ordnung und Herrschaft, die auf Opfer und Blut gegründet und durch Dienst und Leistung bewährt war“37. In Abgrenzung zur dominanten propreußischen Rezeption der Deutschritterherrschaft, wie sie neben anderen Ernst Jünger zur Verherrlichung von „Triumph oder […] Untergange“38 vertrat, blendete Ehrler die ‚spartanische‘ Seite von straffer militärischer Organisation und brutaler Machtdurchsetzung gänzlich aus. Der Deutsche Orden war für ihn die Konkretisierung des ‚christlich-deutschen Nexus‘: der Idee einer engen Verbindung von Gottes Plänen mit Deutschlands Schicksal, im Regional-Landschaftlichen ‚verwurzelt‘, ins Abendländisch-Europäische hinausweisend, die Konfessionen übergreifend.39 Statt des ‚deutschen Drangs nach Osten‘ akzentuierte der Katholik die österreichischen Verbindungen der Hochmeister, die seit dem 17. Jahrhundert überwiegend (wie
37 Erich Maschke: Der Deutsche Orden. Jena 1939, S. 3. 38 Vgl. Ernst Jünger: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Stuttgart 1981 (= Sämtliche Werke, Abt. 2, Bd. 8), S. 104: „Wenn man erkannt hat, was heute notwendig ist, nämlich die Behauptung und der Triumph oder, wenn es sein muß, auch die Vorbereitung zum entschlossenen Untergange inmitten einer durchaus gefährlichen Welt, dann weiß man, welchen Aufgaben sich jede Art der Produktion, von der höchsten bis zur einfachsten, zu unterstellen hat. […] Erscheinungen wie der deutsche Ritterorden, die preußische Armee, die Societas Jesu sind Vorbilder […].“ 39 Vgl. Hartmut Lehmann: „God Our Old Ally“. The Chosen People Theme in Late Nineteenthand Early Twentieth-Century German Nationalism. In: Many Are Chosen. Divine Election and Western Nationalism. Hg. v. William R. Hutchison u. dems. Minneapolis/Mn. 1994, S. 85–107, sowie Doris L. Bergen: Christianity and Germanness. Mutually Reinforcing, Reciprocally Undermining? In: Religion und Nation / Nation und Religion. Beiträge zu einer unbewältigten Geschichte. Hg. v. Michael Geyer u. Hartmut Lehmann. Göttingen 2004, S. 76–98.
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Maximilian Franz) aus dem Haus Habsburg kamen. Es ging ihm darin um den Staat als Bruderschaft mit Wahlelementen, um die Anteile eines christlichen Sozialismus, vor allem aber um die Kreuz-und-Adler-Symbolik, die auf der Fahne des deutschen Reichskatholizismus wehte. Die großdeutsche Kulturmission für Europa war in die Sonderrolle des Reichs bei der Vertretung des Christentums eingeschlossen. Die Figur des Erzherzogs Maximilian (II.) Franz, dem äußerlich glanzvoll regierenden Hochmeister der Jahre 1780 bis 1801, zugleich Erzbischof von Köln, wählte Ehrler unter anderem wegen dessen Einsatz für die katholische Aufklärung und die Modernisierung geistlicher Herrschaft, aber auch wegen eines kurzen Mäzenats für Ludwig van Beethoven, der 1791 eine Stelle in der Mergentheimer Hofkapelle bekleidete.40 Hierunter ließen sich von Maximilian Franz auch Töne über das ‚Deutschtum‘ als vermeintlich wesentlichem Vorzug des christlichen Ordens abnehmen, die sich mit preußenkritischen und reichstreuen Stoßrichtungen verbanden.41 Deutschordenskirche, Deutschordensschloss und das ingenium teutonicum Beethovens in Bad Mergentheim: solche symbolischen Topografien zur Verbindung von Kirche, Reich und Geist fand Ehrler allenthalben, so dann auch in Stuttgart, wo sein „liebster Platz zwischen Stiftskirche und altem Schloß beim Schillerdenkmal“42 lag. Wie der Dichterprophet aus seiner kulturgeografischen Herkunft eine höchst persönliche Mission ableitete, lässt sich nicht nur an dem autobiografischen Reisebuch von 1926 ablesen, sondern mit poetologischen Implikationen besser noch an dem Deutschordensspiel desselben Jahres. Dieses Dramolett gliedert sich in ein „Rahmenspiel. Zeit 1791“ und ein „Binnenspiel. Zeit 1219“.43 In der neuzeitlichen Handlung tritt ein sympathisch verwahrloster und angesichts der Französischen Revolution von Untergangsahnungen bedrückter Maximilian Franz als Förderer künstlerischer Talente aus dem kleinstädtischen Bürgertum auf. Der geschichtsvergessenen Hofgesellschaft präsentiert er einen Spiegel, in der sich nun die mittelalterliche Handlung manifestiert: Die Brüder Andreas und Friedrich von Hohenlohe schenken ihren umfangreichen Besitz dem Deutschen Orden und begründen damit die Mergentheimer Kommende. Bei allen Kontrasten zwischen mittelalterlichem und neuzeitlichem Deutschrittertum entscheiden die von Ehrler in einer
40 Vgl. Klaus Oldenhage: Kurfürst Erzherzog Maximilian Franz als Hoch- und Deutschmeister (1780–1801). Bad Godesberg 1969, S. 97 f. u. S. 243 ff. 41 Vgl. Oldenhage: Kurfürst Erzherzog Maximilian Franz, S. 59 f., S. 243 ff. u. S. 256 ff., ferner Germanisches Nationalmuseum (Hg.): 800 Jahre Deutscher Orden, S. 141, S. 197 u. S. 218 ff. 42 Ehrler: Elisabeths Opferung, S. 14. 43 Ehrler: Der Spiegel des Hoch- und Deutschmeisters Maximilian Franz, S. 10.
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Szenenanweisung sogenannten „Parallelerscheinungen“44. Die Figuren beider Zeitebenen verhalten sich spiegelbildlich zueinander, verbunden durch die ewigen Wahrheiten, durch die Werte von Heimat und Heiligkeit. Der programmatische, in echohaften Reimbändern ausgedrückte Kern des Schauspiels wird von den Brüdern vorgetragen und vom Chor der Kreuzritter wiederholt: Wir kommen aus dem heiligen Land Und kommen in das Heimatland. Im Heimatland das heilige Land, Das sei jetzt unser Vaterland.45
Gesegnet mit „Wasser aus dem Jordan“ und mit „Oel vom Garten Gethsemane“46 – beides bringen die Kreuzritter aus Palästina mit und gießen es in Mergentheim aus –, entsteht ‚Heilige Heimat‘. Der titelgebende Spiegel des Hoch- und Deutschmeisters Maximilian Franz ist dabei nichts anderes als ein Symbol der Dichtung: nämlich Ehrlers Dichtung, die der deutschen, geschichtlichen Idealen entfremdeten Gesellschaft die abendländischen Grundlagen vor Augen führen, den „Ruhm des heiligen römischen Reiches deutscher Nation“ in „edel pathetischer“ Sprache verkünden soll.47 Ehrlers religionsidealistische und reichsselige Auffassung des Deutschen Ordens korrespondiert mit seinem Interesse an der internationalen Atmosphäre des seit 1826 in Mergentheim entstandenen Kurbades, das Gäste aller Länder und Religionen einschließlich der „Gläubigen Mahomets“ anzog.48 Wichtig waren ihm hier besonders die neoreligiös-synkretistischen Aktivitäten des bekannten deutschen Bahai-Anhängers Albert Schwarz, Bankier, Mäzen und Ehrenbürger der Kurstadt. Schwarz gehörte zur ersten, 1905 in Stuttgart gegründeten deutschen Bahaigemeinde und brachte das Oberhaupt der Religionsgemeinschaft, ‘Abdu’lBahá, 1913 zu einer Visite nach Bad Mergentheim. Den 1917 dafür aufgerichteten, 1937 aus religionspolitischen Gründen entfernten Gedenkstein besuchte Ehrler 1925.49 Die Bahaireligion, die Elemente aus allen früheren Weltreligionen kombiniert, berührt sich mit Ehrlers Synkretismus sowie seinen liebesreligiösen und 44 45 46 47 48 49
Ehrler: Der Spiegel des Hoch- und Deutschmeisters Maximilian Franz, S. 18. Ehrler: Der Spiegel des Hoch- und Deutschmeisters Maximilian Franz, S. 24. Ehrler: Der Spiegel des Hoch- und Deutschmeisters Maximilian Franz, S. 24. Ehrler: Der Spiegel des Hoch- und Deutschmeisters Maximilian Franz, S. 28 u. S. 43. Vgl. Ehrler: Die Reise in die Heimat, S. 90 ff. u. S. 193 f. (Zitat S. 94). Vgl. Werner Gollmer: „Mein Herz ist bei euch“. ‘Abdu’l-Bahá in Deutschland. Hofheim-Langenhain 1988, S. 88 ff., zur Verbreitungsgeschichte Vahman: Baha’ismus, S. 119 ff.
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heilsindividualistischen Grundsätzen. Ein erbauungsliterarisches Prinzip klingt in den Sinnsprüchen an, die ‘Abdu’l-Bahá bei seiner Besichtigung der Mergentheimer Kuranlagen variierte: Im Leiden solle der Mensch wachsen, einsichtsvoll und dankbar werden; das Leid sei ein verhüllter Engel, der zu Gott zurückkehre, um zu berichten, wie wir ihn aufgenommen haben.50 Der Erbauungsdichter Ehrler verfolgte ähnliche Grundsätze. Ein reguläres Theologiestudium, wie er es zum Teil seinen autobiografisch angefüllten Romanfiguren (z.B. in den Briefen vom Land) zuschreibt, hat Ehrler nie absolviert. Der unruhige Bildungsgang hing mit einer frühen Ablösung vom Elternhaus und der Wiederverheiratung des Vaters zusammen, der dem Sohn aus erster Ehe das Erbteil auszahlte. Auf die Volksschule folgte 1882 die Mergentheimer Lateinschule, trotz passabler Noten auf derselben 1883 die Realschule und 1885 überraschenderweise der Privatunterricht bei einem Verwandten mütterlicherseits, Pfarrer Johannes Ries im südhessischen Wald-Michelbach (verarbeitet im Roman Die Reise ins Pfarrhaus).51 Der später so heimatbewusste Hans Heinrich Ehrler, in den Schul- und Universitätsunterlagen stets nur als Heinrich Ehrler geführt, hat seine Geburtsstadt bereits als 13-Jähriger verlassen und kehrte nicht mehr dauerhaft dorthin zurück, entfaltete sich (bis zum Hauskauf 1926) vielmehr ausgesprochen ortspolygam. Das Schuljahr 1887/88 sah ihn an der Königlichen Lateinschule Ingolstadt, an der seine nur neun Schüler umfassende Klasse hauptsächlich aus Offizierskindern der großen Garnison von Ingolstadt bestand, darunter Franz von Stockhammern, nachmals Romdiplomat und Ministerialdirektor in Berlin mit engen Kirchenkontakten.52 Ab 1888 besuchte Ehrler das humanistische Gymnasium der Königlichen Studien-Anstalt Landshut, in das im selben Jahr Hans Carossa eingetreten war und an dem zwei Jahre zuvor Ludwig Thoma abgeschlossen hatte.53 Der Schwerpunkt des Unterrichts lag auf den Sprachen (Griechisch, Latein, Französisch, Englisch). Ehrlers Zeugnisnoten waren überwiegend gut. Er 50 Vgl. Gollmer: ‘Abdu’l-Bahá in Deutschland, S. 91 ff. 51 Idealisierende Erinnerungen an die Mergentheimer Schulzeit enthält: Hans Heinrich Ehrler: Der Herr Kollaborator. In: Stuttgarter Neues Tagblatt, 9. Februar 1933. 52 Vgl. Königliche Latein-Schule Ingolstadt (Hg.): Jahres-Bericht der Königlichen Latein-Schule zu Ingolstadt für das Studienjahr 1887/88. Ingolstadt 1888, S. 18; zu Stockhammern ausführlich Karl Hausberger: Das päpstliche Rom um 1910. Eine Milieuskizze des bayerischen Ministerialbeamten Franz Edler von Stockhammern. In: Bücherzensur – Kurie – Katholizismus und Moderne. Festschrift für Herman H. Schwedt. Hg. v. Peter Walter u. Hermann-Josef Reudenbach. Frankfurt/M., Bern u.a. 2000, S. 145–199, hier das Biogramm S. 146 ff. 53 Vgl. Königliche Studien-Anstalt Landshut (Hg.): Jahresbericht über die Kgl. Studien-Anstalt Landshut für das Schuljahr 1888/89. Landshut 1889, S. 29, sowie dies.: [Zeugnisprotokolle Heinrich Ehrler, Schuljahre 1888/89 und 1889/90], Archiv des Hans-Carossa-Gymnasiums
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wohnte bei den Eltern eines Mitschülers zur Miete. Das „Zeugnis der Reife für das akademische Studium“ legte der zur Abiturrede bestimmte Schüler 1892 am Königlichen Gymnasium der ehemaligen Fürstpropstei Ellwangen ab, in das er 1890 gewechselt war.54 Von hier schreibt sich die lebenslange Freundschaft mit dem Mitschüler und späteren Beuroner Pater Maurus, bürgerlich Josef Ladenburger, her. Wie Ehrler stammte Ladenburger aus einem selbstständigen Handwerkerbetrieb; der Vater besaß die Heimatsmühle in Hofen bei Aalen.55 Ein profilierter Ellwanger Lehrer Ehrlers war Gymnasialprofessor Karl Hirzel, bei dem der angehende Schriftsteller die Literaturgeschichte von Gottsched bis Goethe kennenlernte und auch Vortragsübungen erhielt.56 Den Religionsunterricht erteilte Gymnasialprofessor Karl Stützle, Verfasser von Schriften wie Das griechische Orakelwesen und Sibyllen und Sibyllinen, deren Themen den Dichterpropheten Ehrler bewegt haben.57 An der Universität Würzburg war Ehrler ab 1892 für Jura eingeschrieben, an der Universität München im Sommersemester 1894 und im Wintersemester 1894/95 für Philologie.58 Die besuchten Kurse und das insgesamt dreijährige Studium dürften die in Baden und Württemberg seit Beginn der 1880er Jahre gültigen Vorschriften für die wissenschaftliche Vorbildung des Priesternachwuchses erfüllt haben,59 schlossen die geistliche Laufbahn also noch nicht unbedingt aus.
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Landshut. Zu dieser Schule im betreffenden Zeitraum vgl. Werner Ebermeier: Die Geschichte des Hans-Carossa-Gymnasiums in Landshut 1629–2004. München 2004, S. 69 ff. Vgl. Königliches Gymnasium Ellwangen (Hg.): Programm des Königlichen Gymnasiums in Ellwangen zum Schlusse des Schul-Jahres 1891–92. Ellwangen 1892, S. 5 (Zitat ebd., S. 4). Vgl. Maurus Ladenburger: Sippe Ladenburger vom Jahre 1590–1955. 2. Aufl. Beuron 1956 (zuerst und ohne die Vorwortreferenz auf Ehrler 1940), S. 7 mit Abdruck von Ehrlers hier mottohaftem Gedicht O Heimat, wir sind alle dein. Ladenburger wurde nach dem Tübinger Theologiestudium 1897 zum Priester geweiht und trat 1899 in den Konvent der Erzabtei Beuron ein; vgl. Helmut Waldmann: Verzeichnis der Geistlichen der Diözese Rottenburg-Stuttgart von 1874 bis 1983. Hg. v. Bischöflichen Ordinariat. Rottenburg/N. 1984, S. 87. Zu Hirzels pädagogischen Vorstellungen vgl. Karl Hirzel [sen.]: Vorlesungen über Gymnasialpädagogik. Hg. v. Karl Hirzel [jun.]. Tübingen 1876, S. III–VIII („Vorbemerkungen des Herausgebers“). Karl Stützle: Das griechische Orakelwesen und besonders die Orakelstätten Dodona und Delphi. 2 Bde. Ellwangen 1887 u. 1891; ders.: Sibyllen und Sibyllinen. 2 Bde. Ellwangen 1902 u. 1904. Vgl. Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Universitätsarchiv, Studienakte Heinrich Ehrler; Ludwig-Maximilians-Universität München, dass. Vgl. auch die Nachweise in: Amtliches Verzeichnis des Personals der Lehrer, Beamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Sommer-Semester 1894. München 1894, S. 51, dass. Winter-Semester 1894/95. München 1894, S. 50. Vgl. Hans Fenske: Baden 1860 bis 1918. In: Handbuch der baden-württembergischen Geschichte. Hg. v. Hansmartin Schwarzmaier u. Meinrad Schaab. Bd. 3. Stuttgart 1992, S. 133–
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Aus den Studienakten geht der Vorlesungsbesuch unter anderem beim späteren Nobelpreisträger Wilhelm Conrad Röntgen60 und beim populären Philosophen Johannes Volkelt hervor. Die prägende Wirkung, die besonders Volkelts Korrelierungen zwischen Kunst und Moral auf den späteren Erbauungsdichter ausübten, ist nicht zu übersehen (s. Kap. II.3). Ehrlers finanzielle Verkrachtheit, die er selbst auf „eine angeborene Unterschätzung des Geldes“ zurückführte,61 hat in den Studienjahren bereits notorische Ausmaße angenommen. Die Münchner Studienakten verzeichnen sein wiederholtes Schuldigbleiben des Hörergeldes. Wahrscheinlich ist Ehrler zu dieser Zeit mit dem ‚Brettlbaron‘ Ernst von Wolzogen bekannt geworden, der 1893 die Freie Literarische Gesellschaft in München gegründet hat.62 Zur Enttäuschung des Vaters gab Ehrler das Ziel des Priesterberufs vollends auf und schwenkte in die Journalistenlaufbahn ein. Nach weitgehend spurlos gebliebenen Anfängen als Volontär in Köln orientierte er sich nach Stuttgart, wo er in den Jahren um 1900 die wöchentliche Kolumne Aus der Residenz für die Heilbronner Neckar-Zeitung schrieb und die Cannstatterin Melanie Frommherz (1880–1968) kennenlernte, mit der er 1904 die Ehe einging. „Frau Mel“ gelten die 1912 erschienenen Gedichte Lieder an ein Mädchen. Melanies Bruder, Ernst Frommherz, war Veterinärmediziner mit solider Karriere als (Ober-)Amtstierarzt und Professor an der Landwirtschaftlichen Hochschule Hohenheim.63 1905 verstarb Ehrlers Vater in Mergentheim. Von 1904 bis 1907 leitete Ehrler die Konstanzer Abendzeitung, anschließend bis 1911 den Badischen Landesboten in Karlsruhe. 1911/12 lebte er in Friedrichshafen, von 1913 bis 1916 in Freiburg (zunächst im Stadtgebiet Hohenzollernstraße 7, dann im Vorort Littenweiler), von 1917 bis 1926 in Stuttgart (zunächst Seestraße 122, nicht weit von seinem ersten Arbeitsplatz in der Landeshauptstadt, dem württembergischen Kriegsministerium in der Olgastraße). Von 1902 bis Mitte der 1920er Jahre trug der Journalist, hauptsächlich von den Schriftleitern Ulrich Rauscher und Otto Ernst Sutter redaktionell betreut, Hunderte Artikel zur Frankfurter Zeitung bei, die ihn in der Selbstdarstellung Geschichte der Frankfurter
234, hier S. 185. 60 Vgl. ein Resümee der naturwissenschaftlichen, physikotheologisch begründeten Interessen Ehrlers in: Das Gesetz der Liebe, S. 100–116 („Zeitwende“). 61 Hans Heinrich Ehrler: Autobiographische Skizze. In: Das literarische Echo 21 (1919), Sp. 710– 712, hier Sp. 710. 62 Vgl. Keck: Nachwort, S. 155. 63 Vgl. Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender 1950. Lexikon der lebenden deutschsprachigen Wissenschaftler. 7. Ausg. Berlin 1950, Sp. 529.
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Zeitung (1906) unter den „jüngeren Mitschreitern des Feuilletons“ nannte.64 Von dem aus Stuttgart stammenden, in Heidelberg promovierten SPD-Rechten Rauscher, der im Ersten Weltkrieg auch für das Kriegspresseamt tätig war, existiert ein Zeugnis von 1914, nach dem er „oft mit Hans Heinrich Ehrler zusammengesessen“ habe.65 Sutter, der von der Karlsruher Redaktion aus arbeitete und in der badischen Heimatschutzbewegung aktiv war, testierte 1915: „Ich bin seit vielen Jahren mit Ehrler befreundet.“66 Er hielt Ehrler für einen „Poet[en] von edlem Gehalt“ und für einen „ungewöhnlich begabte[n] Autor“, dem es „freilich versagt“ sei, den „Tageserfolg an sich fesseln zu können“.67 Noch 1956 hat er ihm das Gedenkblatt Vor einer Totenmaske. Der Dichter Hans Heinrich Ehrler gewidmet. In Erinnerungen von 1964 an die Karlsruher Zeit um 1910 bezeichnete er ihn als einen „Lehrmeister von hohen Graden im Bereich journalistischer Tätigkeit“ und hob den gemeinsamen Verkehr im Kreis „demokratische[r] Politiker“ hervor, der badischen Parteiführer und Landtagsabgeordneten der Fortschrittlichen Volkspartei.68 Nach den ersten Bucherfolgen im etablierten Münchner Literaturverlag von Albert Langen stellte Ehrler 1912 seine Redaktionstätigkeiten ein, schrieb jedoch weiterhin intensiv und seinem volkspädagogischen Wirkungsdrang folgend für Tageszeitungen wie seit 1918 vor allem für das von Robert Bosch kontrollierte Stuttgarter Neue Tagblatt, dem auflagenstärksten Organ der Landeshauptstadt,69 und in den Jahren nach 1945 für die Frankfurter Neue Presse, die unter der redaktionellen Leitung von Ehrlers altem Netzwerkpartner Berning der Christunion nahestand.70 In Albert Langens linksliberal bis jungkonservativ aufgestelltem Programm einer unterhaltenden klassischen Moderne wurde Ehrler von Geschäftsführer Korfiz Holm 1911 aufgenommen. Bereits seit 1908 hat der Dichter mit Gedich64 Frankfurter Zeitung (Hg.): Geschichte der Frankfurter Zeitung. Frankfurt/M. 1906, S. 932. Ehrler schilderte seine Anfänge bei der Frankfurter Zeitung mit Hinweis auf die Betreuung durch Fedor Mamroth sowie Heinrich Sonnemann-Simon in einem Brief an die Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 3. Juni 1951 (NL Ehrler). 65 Ulrich Rauscher: Wir jungen Württemberger. In: März, 4. Juli 1914. 66 Otto Ernst Sutter an Oskar Bulle, 2. Oktober 1915, Deutsche Schillerstiftung, Personenakte Hans Heinrich Ehrler, GSA Weimar, Sign. GSA 134/134,4. 67 Otto Ernst Sutter an Oskar Bulle, 24. März 1915, Deutsche Schillerstiftung, Personenakte Hans Heinrich Ehrler, GSA Weimar, Sign. GSA 134/134,4. 68 Otto Ernst Sutter: Erlebnisse in der Residenz. Karlsruher Erinnerungen. In: Badische Heimat 44 (1964), S. 171–179, hier S. 176. 69 Vgl. Norbert Frei u. Johannes Schmitz: Journalismus im Dritten Reich. 3. Aufl. München 1999, S. 58. 70 Vgl. zu deren Gründung Dietmar Gutberlet: Die „Frankfurter Neue Presse“. Marburg 1965, S. 28 ff. Für den Großteil von Ehrlers Zeitungspublikationen vgl. Bibliographie der deutschen Zeitschriftenliteratur. Leipzig, Osnabrück u.a. 1908–1944.
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ten und Glossen zum Hausblatt Simplicissimus beigetragen. Der für seine Bücher zuständige Lektor war Dr. Owlglass (d. i. Hans Erich Blaich), ein Hauptautor des Simplicissimus und an der kritischen Volkstümlichkeit interessiert, die Ehrlers frühe Arbeiten zum Teil auszeichnen. Bis 1913 publizierte Ehrler in diesem Verlagskontext zwei Romane: Briefe vom Land und Die Reise ins Pfarrhaus sowie zwei Gedichtbände: Lieder an ein Mädchen und Frühlingslieder. Ein geplanter Prosaband Geigenspiele, der Ehrlers Künstlernovellen aus den Hausorganen Simplicissimus und März sowie aus den Süddeutschen Monatsheften des Münchner Knorr & Hirth-Verlags versammeln sollte und demnach Die Kneipe, Das romantische Fräulein, Der heilige Sebastian, Josef Zembrods Töchter und Der Hof des Patrizierhauses umfasst hätte (alle diese Erzählungen enthalten das Geigen- bzw. Musikmotiv), war für 1917 angekündigt, erschien allerdings nicht mehr.71 Programmatische Differenzen dürften bei diesem Bruch eine geringere Rolle gespielt haben als finanzielle Erwägungen des Autors, der während des Ersten Weltkriegs vor allem wieder Zeitungsartikel geschrieben hat und darüber hinaus an einem Projekt der kriegsgeschichtlichen Abteilung des württembergischen Kriegsministeriums mitarbeitete: an der vierbändigen Schwäbischen Kunde aus dem großen Krieg (erschienen 1918 bis 1921). Nach dem Ersten Weltkrieg verlegte Ehrler bis 1929 hauptsächlich bei der Stuttgarter Verlagsanstalt Greiner & Pfeiffer, die neben dem Buchprogramm auf Unterhaltungsbeilagen für Tageszeitungen spezialisiert war und aus dieser Quelle vergleichsweise hohe Honorare zahlen konnte. Greiner & Pfeiffer war außerdem das Stammhaus des völkischen Neoidealisten Friedrich Lienhard und dessen Zeitschrift Der Türmer. Monatsschrift für Gemüt und Geist. Ehrlers Selbstverständnis zufolge hing seine Verlagswahl direkt mit diesem völkischen Programmkern zusammen: So schrieb er dem Weimarer Lienhard eigens eine Mitteilung, dass „meine Werke in den Verlag Greiner und Pfeiffer übergegangen sind, froh der Gemeinschaft, welche mich dadurch künftig gerade auch Ihrem Werk näher verbindet“. Mit Anspielung auf seinen katholischen Hintergrund und seine linksliberalen Verbindungen fügte er hinzu: „Wenn ich auch vielleicht von anderem Weg und aus etwas anderer Luft komme, so schaue ich doch ein gleiches inneres Ziel.“72 71 Vgl. unter Ehrlers Musikererzählungen auch die spätere über Beethoven: Hans Heinrich Ehrler: Die Fis-Dur-Sonate op. 78. In: Ausritt 1931. Almanach des Georg Müller Verlages [des Verlags Albert Langen – Georg Müller] in München. Mit 12 Dichterbildnissen. München 1931, S. 66–72, ferner den Artikel zum 150. Geburtstag Mozarts: Hans Heinrich Ehrler: Mozart. In: Frankfurter Zeitung, 27. Januar 1906. 72 Hans Heinrich Ehrler an Friedrich Lienhard, 20. Februar 1921, GSA Weimar, Nachlass Friedrich Lienhard, Sign. GSA 57/493.
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Parallel arbeitete Ehrler in den 1920er Jahren zunächst, für Die Reise in die Heimat, mit dem Münchner Catholica-Verlag Kösel & Pustet zusammen, in dem auch die führende katholische Kulturzeitschrift Hochland erschien, später, für Gesicht und Antlitz und Das Gesetz der Liebe, mit dem Theologieverleger Leopold Klotz in Gotha, der insbesondere Sachliteratur zur „größten Frage der Christenheit“, der „Einheit der Kirche“,73 vertrat. 1930 erfolgte Ehrlers Aufnahme in den nationalkonservativ fundierten, aber bereits stark nationalsozialistisch überformten Verlag von Langen Müller. Hier erschienen bis 1938 seine Romane Die Frist, Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm und Das Jahr eines Jünglings (als Schulausgabe eines bereits bei Greiner & Pfeiffer erschienenen Romans), seine Gedichtbände Die Lichter schwinden im Licht und Unter dem Abendstern, die Essaysammlung Mit dem Herzen gedacht und der Prosaband Der Vierröhrenbrunnen. Vier Erzählungen. 1939 überwarf sich Ehrler mit Langen Müller und wechselte – ein recht bemerkenswerter, von der gleichgeschalteten Presse unkommentierter Vorgang – in den kirchenloyalen Paderborner Bonifacius Verlag (nach jüngerer Schreibung Bonifatius Verlag), der auf die katholische Binnenkommunikation konzentriert war. Ehrlers Weg ins Vergessen verlief in der zweiten Nachkriegszeit schließlich über den Tübinger Wunderlich Verlag, der zwar auch der solide Hausverlag des Sachbuchautors Theodor Heuss war, für den zuvor viel- und hochgelobten Dichter aber den Abstieg in die literarische Regionalliga bedeutete. Gegenläufige Anstrengungen nationalsozialistischer Nachkriegsnetzwerke, Ehrlers Memoria auf der Ebene des ‚Reichsvolks‘ zu erhalten, verfingen nicht. Es bleibt hervorzuheben, dass ein volkspädagogisch so sendungsbewusster Autor wie Hans Heinrich Ehrler nicht ausschließlich vom Buch- und Zeitungswesen lebte, sondern eine intensive Förderung aus Staats- und Stiftungsmitteln erhielt. Von 1911 an und über 1945 hinaus stand er nahezu ununterbrochen auf der Förderliste der Deutschen Schillerstiftung in Weimar, was zunächst auf eine gutachterliche Befürwortung durch den Freiburger Dichtergermanisten Philipp Witkop zurückging, der Ehrler aus persönlichem Umgang in der Breisgau-Stadt kannte und wie dieser Vorlieben für den Reformkatholizismus sowie die Heimatverpflichtung von Literatur pflegte.74 Sicheren und langfristigen Rückhalt genoss Ehrler bei seinem württembergischen Landsmann Heinrich Lilienfein, Generalsekretär der 73 Mikael Hertzberg: Die Einheit der Kirche. Ein Beitrag zur größten Frage der Christenheit. Übers. v. Fr. W. Boltenstern. Gotha 1927. 74 Vgl. Gutachten von Philipp Witkop über Hans Heinrich Ehrler (1911), Deutsche Schillerstiftung, Personenakte Hans Heinrich Ehrler, GSA Weimar, Sign. GSA 134/134,4. Zur Person vgl. Achim Aurnhammer: Witkop, Philipp. In: Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Hg. v. Christoph König. Bd. 3. Berlin, New York 2003, Sp. 2047 f., sowie jetzt Philipp Redl: Dich-
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Schillerstiftung von 1920 bis 1952. In der Gemeinde des ‚Dritten Weimar‘ besaß er zuverlässige Unterstützer außerdem in Lienhard und Bartels, die beide in enger Verbindung zu den Organen der Schillerstiftung standen und zusammen mit Lilienfein und anderen ein auch in Förderungsfragen eng abgestimmtes, konservatives bis völkisches, seit Anfang der 1920er Jahre zunehmend nationalsozialistisch durchdrungenes Kulturestablishment bildeten.75 Ehrler ließ es sich nicht nehmen, für Schillerstiftungsspenden auch direkt bei Lienhard Dank abzustatten.76 Die Gutachten der Schillerstiftung lauteten von früh an nicht nur auf die „fest in sich geschlossene Dichterseele“, sondern auch auf den „kräftige[n] Erdgeruch“, der von Ehrlers Dichtung ausgehe.77 Es handle sich eben um „einen wirklichen Dichter“78: Hier walte „so gar nichts Gekünsteltes, keine Pose, kein Artistentum“, vielmehr „volkstümliche Einfachheit“.79 In Ehrlers Förderung durch die Schillerstiftung schalteten sich in den Jahren nach 1933 NS-Kulturfunktionäre wie Ludwig Tügel, Georg Schmückle und Gerhard Schumann ein.80 Aus dieser Quelle erhielt der
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tergermanisten der Moderne. Ernst Stadler, Friedrich Gundolf und Philipp Witkop zwischen Poesie und Wissenschaft. Köln, Wien u.a. 2016, S. 262 ff. Vgl. die fast 200 Blätter umfassende Personenakte bei der Deutschen Schillerstiftung, die mit Ehrlers erstem Förderantrag vom 14. September 1911 beginnt; dazu Susanne Schwabach-Al brecht: Die Deutsche Schillerstiftung 1909–1945. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 55 (2001), S. 1–156, hier S. 39 u. S. 50, zu Lienhards und Bartels’ führender Mitarbeit in der Schillerstiftung vgl. ebd., S. 30 u. S. 51. – Zum Personenkreis sowie zu den ästhetischen und politischen Positionen des ‚Dritten Weimar‘ vgl. Hildegard Châtellier: Friedrich Lienhard als ungetreuer Verwalter des Weimarer Erbes? Politische Implikationen kultureller Verbiegungen. In: Weimar 1930. Politik und Kultur im Vorfeld der NS-Diktatur. Hg. v. Lothar Ehrlich u. Jürgen John. Köln, Wien u.a. 1998, S. 169–184, Lothar Ehrlich, Jürgen John u. Justus H. Ulbricht: „Das Dritte Weimar“. Ausgangspunkte, Herausforderungen und Grenzen einer Kulturgeschichte Weimars in der NS-Zeit. In: Das Dritte Weimar. Klassik und Kultur im Nationalsozialismus. Hg. v. dens. Köln, Wien u.a. 1999, S. 7–34, sowie Justus H. Ulbricht: Der ‚Geist von Weimar‘ – Ausdruck ‚deutscher Größe‘. Ilm-Athens Kultur zwischen Nationalismus und Kosmopolitismus. In: Krieg der Geister. Weimar als Symbolort deutscher Kultur vor und nach 1914. Hg. v. Wolfgang Holler, Gudrun Püschel u. Gerda Wendermann. Dresden 2014, S. 94–119. Vgl. Ehrler an Lienhard, 20. Februar 1921. Oskar Bulle: [Gutachten zu Hans Heinrich Ehrler], 15. April 1915, Deutsche Schillerstiftung, Personenakte Hans Heinrich Ehrler, GSA Weimar, Sign. GSA 134/134,4. Oskar Bulle: [Aktennotiz], 1. April 1915, Deutsche Schillerstiftung, Personenakte Hans Heinrich Ehrler, GSA Weimar, Sign. GSA 134/134,4. Heinrich Lilienfein: [Gutachten zu Hans Heinrich Ehrler], 16. Juni 1920, Deutsche Schillerstiftung, Personenakte Hans Heinrich Ehrler, GSA Weimar, Sign. GSA 134/134,4. Vgl. unter anderem Ludwig Tügel an Heinrich Lilienfein, 3. September 1934, Deutsche Schillerstiftung, Personenakte Hans Heinrich Ehrler, GSA Weimar, Sign. GSA 134/134,4; Georg Schmückle an Hanns Johst, 3. November 1936, ebd.; Gerhard Schumann an Heinrich Lilienfein, 31. Mai 1937, ebd.
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Schriftsteller ab 1927 jährlich zunächst zwischen 200 und 800 RM, die höchsten Beträge aber zwischen 1939 bis 1943 mit jährlich 1200 RM.81 Durch die Weimarer Republik hindurch bedachten ihn außerdem das württembergische Kultusministerium, das Oberbürgermeisteramt Stuttgart sowie die Schriftsteller- und Künstlerhilfe des Landes.82 Einmalig empfing er 1931 die „Ehrengabe“ der Stadt Köln für „bedürftige deutsche Schriftsteller […] von hervorragender Begabung und künstlerischer Bedeutung“.83 Im Kölner Katholizismus besaß Ehrler grundsätzlichen Rückhalt unter anderem bei dem regen Publizisten und Redakteur Martin Rockenbach84 sowie bei dem Feuilletonchef der Kölnischen Zeitung, Otto Brües.85 1933 erhöhte der neue, von der NSDAP durchgesetzte Stuttgarter Oberbürgermeister Karl Strölin Ehrlers monatliche „Ehrengabe“, zuvor 75 RM, auf 100 RM.86 Am 6. März 1941 wurde sie in einen lebenslangen „Ehrensold“ von jährlich 1200 RM (nach 81 Deutsche Schillerstiftung, Personenakte Hans Heinrich Ehrler, GSA Weimar, Sign. GSA 134/134,4, Gesamtaufstellung. 82 Vgl. Wolfgang Schmierer, Karl Hofer u. Regina Schneider (Bearb.): Akten zur Wohltätigkeitsund Sozialpolitik Württembergs im 19. und 20. Jahrhundert. Inventar der Bestände der Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins und verbundener Wohlfahrtseinrichtungen im Staatsarchiv Ludwigsburg. Stuttgart 1983, Nr. 566 u. Nr. 644. 83 Zit. n. Eva Dambacher: Literatur- und Kulturpreise 1859–1949. Eine Dokumentation. Marbach/N. 1996, S. 157. 84 Vgl. Erhard Jurrian Bruder: Über Hans Heinrich Ehrler. In: Orplid 2 (1925/26), H. 12, S. 72–76, sowie Martin Rockenbach: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Die Frist. In: Das Deutsche Buch 11 (1931), S. 360; dazu Evelyn Viehoff-Kamper: ORPLID. Analyse und Diskussion des literarischen Kommunikationsraumes der „katholischen“ Zeitschrift ORPLID. Frankfurt/M., Bern u.a. 1993, S. 52 ff., sowie Ingrid Scheffler: Schriftsteller und Literatur im NWDR Köln (1945–1955). Personen, Stoffe, Darbietungsformen. Potsdam 2005, S. 41. 85 Vgl. Klaus-Dieter Oelze: Das Feuilleton der Kölnischen Zeitung im Dritten Reich. Frankfurt/M., Bern u.a. 1990, S. 289 u. S. 419 (Besprechungen von Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm durch Otto Brües und Josef Michels in Literaturbeilagen der Kölnischen Zeitung von 1935; Abdruck von Die zum Tod verurteilte Poesie (aus Meine Fahrt nach Berlin) und Die Liebe des Berthold Horn in Nr. 469 u. Nr. 482 der Kölnischen Zeitung 1934). 86 Vgl. Kurt Leipner (Hg.): Chronik der Stadt Stuttgart 1933–1945. Stuttgart 1982, S. 737. Zur Stuttgarter Kulturpolitik im Dritten Reich, in der Strölin weitgehend von Mergenthaler gelenkt wurde, vgl. Roland Müller: Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus. Stuttgart 1988, S. 105 ff., sowie Walter Nachtmann: Wilhelm Murr und Karl Strölin. Die „Führer“ der Nazis in Stuttgart. In: Stuttgarter NS-Täter. Vom Mitläufer bis zum Massenmörder. Hg. Hermann G. Abmayr. Stuttgart 2009, S. 186–197. – Keine Unterstützung erhielt Ehrler dagegen aus seiner Geburtsstadt (Bad) Mergentheim, in der 1936 auch die Idee einer Ehrenbürgerschaft für den Dichter abschlägig behandelt wurde; offenbar überwog der Ruf von Alkoholexzessen und Geldschulden. Zu den örtlichen Vorbehalten vgl. Walter Hampele: Hans Heinrich Ehrler. Gedanken zu einer Veröffentlichung anläßlich seines 100. Geburtstags. In: Württembergisch-Franken. Jahrbuch des Historischen Vereins für Württembergisch Franken 57 (1973), S. 309–311.
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der Währungsreform 1200 DM) umgewandelt,87 aus welchem Anlass eine gekürzte Paraphrase von Ehrlers Hitler-Kultbeitrag Die Stimme unter dem Titel Des Führers Stimme im Stuttgarter NS-Kurier erschien. Den Höhepunkt dieser Alimentierung erreichte der Dichter 1938, als ihm die Landesregierung einen lebenslangen staatlichen Ehrensold von jährlich 2000 RM (nach der Währungsreform 2000 DM) auszuzahlen begann. Das Jahreseinkommen eines Gymnasiallehrers belief sich zu dieser Zeit auf ca. 6000 RM,88 sodass dieser Betrag eine Grundsicherung herstellte. Damit wurde Ehrlers Funktion als Dichter des öffentlichen Wohls, die er im späten Kaiserreich unter sozialliberalen Vorzeichen begonnen hatte, endgültig staatlich anerkannt und in die Form eines Ehrenbeamtentum gefasst, wie es z.B. auch Wehner im Verhältnis zur Stadt München genoss.89 Die Maßnahme stand in einer kulturpolitischen Kontinuität, in der die Altersversorgung des knapp 70-Jährigen gewissermaßen schon in der Perspektive lag und die nationalsozialistische Literaturförderung nur die letzte Strecke bedeutete. Der Zusammenhang mit Ehrlers priesterlichem Dienst an der Messianisierung Hitlers im selben Jahr, 1938, ist gleichwohl eng: Mit Texten wie Das einige Reich der Deutschen und Die Stimme machte Ehrler in gesteigerter Form auf sich aufmerksam und legte dabei einen panegyrischen Endspurt zum Versorgungsziel hin. Eine ähnliche Kontinuität und Steigerung zwischen Weimarer Republik und Drittem Reich deutet sich in Ehrlers Preisauszeichnungen an. 1927 erhielt er, wesentlich aufgrund des Manuskripts von Gesicht und Antlitz, den mit 1000 RM dotierten Preis des volksbildnerisch tätigen Württembergischen Goethebundes. Der katholische Publizist und Stuttgarter Archivrat Herman Hefele hatte sich im Goethebund für seinen Freund starkgemacht.90 Der Vorsitzende Martin Lang, tieffrommer Naturlyriker, seit den 1910er Jahren (Chef-)Lektor der DVA und ab 1934 Leiter des Stuttgarter Zweiges der Schillerstiftung, teilte die Überzeugung, dass Ehrlers Dichtung – nach dem Satzungszweck des Goethebundes – „die Bedeutung [der Kunst] für das gesamte Volksleben“91 erweise. Am 10. November 1938 emp87 Vgl. Stadt Stuttgart, Gemeinderatsprotokolle, Niederschriften der Verwaltungsbeiräte, 4. März 1941, Stadtarchiv Stuttgart, ferner Stadt Stuttgart, Hauptaktei Gruppe 3, 17/1, lfd. Nr. 1558: „Ehrung von Künstlern, Ehrensold an einzelne Künstler“, 1944–1965, Stadtarchiv Stuttgart. 88 Vgl. Statistisches Reichsamt (Hg.): Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich. 57. Jahrgang: 1938. Berlin 1939, S. 338 u. S. 355. Zur Bewertung solcher Zahlen vgl. Aly: Hitlers Volksstaat, S. 393 f. u.ö. 89 Vgl. Hans Sarkowicz u. Alf Mentzer: Schriftsteller im Nationalsozialismus. Ein Lexikon. Berlin 2011, S. 608. 90 Vgl. Herman Hefele an Hans Heinrich Ehrler, 2. Dezember 1927, DLA Marbach, Sign. A:Ehrler. 91 Zit. n. Gerd Simon: Germanistik in den Planspielen des Sicherheitsdienstes der SS. Tübingen 1998, S. 28 u. S. 51, vgl. Dambacher: Literatur- und Kulturpreise 1859–1949, S. 175 f.
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fing Ehrler bei einer Feierstunde im Stuttgarter Staatstheater den mit 3000 RM dotierten Schwäbischen Dichterpreis, wegen der Verleihung an Schillers Geburtstag auch Schillerpreis genannt. Diese 1935 ins Leben gerufene Auszeichnung sollte Schriftsteller ehren, die „aus den wahren Quellen jeder wirklichen Dichtung“, nämlich der „ungetrübten Rasse“ und ihres „ungetrübten Lebensraumes“ schöpften.92 Sie erfolgte in Ehrlers Fall „im Hinblick auf sein gesamtes wertvolles Lebenswerk“, „eine die Zeit überdauernde Leistung“, jedoch unter Hervorhebung seines Buches Mit dem Herzen gedacht, in dem sich massive Hitlerverehrung mit dem Kult um die fränkisch-schwäbischen Geistesgrößen von Dürer bis Hölderlin mischt.93 In den Vorjahren war der von Ministerpräsident und Kultusminister Christian Mergenthaler nach Anhörung einer anonymen Jury vergebene Preis an die kämpferischen NS-Kulturkader Gerhard Schumann, Ludwig Finckh und Georg Schmückle gegangen. Ehrler machte aus nationalsozialistischer Sicht keine Ausnahme davon, dass des Preisträgers „politisch-literarisches Wohlverhalten über jeden Zweifel erhaben“94 sein musste. Mergenthaler, der seine neuheidnischen Einstellungen im Austritt aus der evangelischen Landeskirche dokumentiert hatte, zeichnete mit Ehrler erklärtermaßen den religiösen Panegyriker, den Heimat- und Reichsherold aus: den „Dichter deutscher Innerlichkeit, der in einer Sprache von starker Bildkraft, den letzten Urgründen nachspürend, die Heimat preist als das Sichtbare im Ewigen, als heilige Verpflichtung zum Reich“, so der Urkundentext. In ähnlichen Formulierungen verlangte Mergenthaler die Behandlung der „letzten und tiefsten Fragen“ in seinem Konzept für den schulischen, zum „Glauben an Deutschland“ erziehenden Weltanschauungsunterricht, der den konfessionsgebundenen Religionsunterricht ersetzen sollte.95 Der Großinquisitor des nationalsozialistischen Literaturbetriebs, Will Vesper, meldete die Preisverleihung wohlwollend in der 92 Zit. n. Zeller (Hg.): Klassiker in finsteren Zeiten, Bd. 2, S. 139. 93 [Anon.]: Literarische Nachrichten [Schwäbischer Dichterpreis 1938]. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 105 (1938), S. 901 u. S. 910 (Zitat S. 901). 94 Paul Sauer: Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus. Ulm 1975, S. 239. Vgl. Dambacher: Literatur- und Kulturpreise, S. 222, sowie Maria Zelzer: Stuttgart unterm Hakenkreuz. Stuttgart 1984, S. 328 f. 95 Vgl. Michael Stolle: Der schwäbische Schulmeister. Christian Mergenthaler, Württembergischer Ministerpräsident, Justiz- und Kultminister. In: Die Führer der Provinz. NS-Biographien aus Baden und Württemberg. Hg. v. Michael Kißener u. Joachim Scholtyseck. Konstanz 1997, S. 445–476, hier S. 465 f. u. S. 467 ff., Zitate S. 469, sowie Jill Stephenson: Hitler’s Home Front. Württemberg under the Nazis. London, New York 2006, S. 248 ff. Zu innerparteilichen Konflikten um die Religions- und Kulturpolitik vgl. Christine Arbogast: Herrschaftsinstanzen der württembergischen NSDAP. Funktion, Sozialprofil und Lebenswege einer regionalen NS-Elite 1920–1960. München 1998, S. 119 f.
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Neuen Literatur.96 Der jüdische Schriftsteller Jacob Picard kündigte Ehrler aus demselben Anlass, der auf den Tag nach der Pogromnacht vom 9./10. November fiel, eine jahrzehntealte Freundschaft. In der Nachkriegszeit schied Ehrler für weitere Preisverleihungen aus, allerdings erhielt er beide Ehrensolde, den staatlichen und den kommunalen, bestätigt. Insbesondere setzte sich Pfarrer Hermann Breucha gegenüber Kultusminister Theodor Heuss dafür ein. Ein Bericht des Kulturreferats der Landeshauptstadt Stuttgart fasste die Vorgänge von 1946 zusammen: „Das Ministerium beurteilt sein dichterisches Schaffen als nicht nazistisch und hat daher dem wirtschaftlich schwer bedrängten Dichter den staatlichen Ehrensold von jährlich 2.000 RM weiterverwilligt.“97 Heuss war ein entschiedener Befürworter der Ehrensoldpraxis, die er nicht als „Almosenverteilung“ betrachtet wissen wollte, sondern als sinnvolle Subventionsmaßnahme zugunsten eines gemeinnützigen Berufsstandes.98 Das Ministerium habe auch, wie es in der Quelle des Kulturreferats diplomatisch heißt, „zum Ausdruck gebracht“, dass Ehrler der Ehrensold der Stadt Stuttgart weiter bezahlt werden solle, den er bis einschließlich 1945 in Höhe von jährlich 1200 RM erhalten hatte. Die entsprechende Entschließung des Oberbürgermeisters ist am 15. Juni 1946 ergangen,99 allerdings nicht ohne ein politisches Nachspiel im Gemeinderat bzw. dessen Verwaltungsbeirat: In der Sitzung vom 8. April 1947 kam es zu einer „Erörterung und Aussprache“ mit dem Ergebnis, dass „bei der früheren politischen Haltung des Schriftstellers Hans Heinrich Ehrler die Bezeichnung ‚Ehrensold‘ als nicht angängig angesehen“ werde.100 1949 verlor man diese sprachliche Maßregel aus dem Auge und kehrte zur alten, ‚ehrenden‘ Bezeichnung zurück.101 In der zweiten Jahreshälfte 1950 erhielt Ehrler zusätzliche Sonderbeihilfen des Bundespräsidialamts und der Stadt Stuttgart.102 Die Förderungsgründe 96 [Anon.]: Mitteilungen [Hans Heinrich Ehrler erhält Schwäbischen Dichterpreis]. In: Die Neue Literatur 39 (1938), S. 662. 97 Ministerium für politische Befreiung, Akte Ehrler, Vorgang 8. 98 Vgl. Theodor Heuss: Rede zur Kulturpolitik. In: ders.: Politik durch Kultur 1949–1959. Hg. v. Michael Kienzle u. Dirk Mende. Bonn 1984, S. 35 f. 99 Ministerium für politische Befreiung, Akte Ehrler, Vorgang 8. Vgl. Hermann Vietzen: Chronik der Stadt Stuttgart 1945–1948. Stuttgart 1972, S. 489. 100 Stadt Stuttgart, Gemeinderatsprotokolle, Niederschriften der Verwaltungsbeiräte, 8. April 1947, Bl. 2, Stadtarchiv Stuttgart; vgl. dass., 23. März 1948, Bl. 1: Empfehlung zur „Vermeidung der Bezeichnung ‚Ehrensold‘“. 101 Vgl. Stadt Stuttgart, Gemeinderatsprotokolle, Niederschriften der Verwaltungsbeiräte, 19. April 1949, Stadtarchiv Stuttgart. 102 Vgl. Hans Bott (Persönlicher Referent des Bundespräsidenten) an Hans Heinrich Ehrler, 12. Dezember 1950, Bundespräsidialamt: Amtszeiten Theodor Heuss (1949–1959), Heinrich
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lagen, außer in der wirtschaftlichen Notlage des nun entkanonisierten Autors, im Bereich einer föderalistischen Heimatpolitik, die das moralisch und materiell zerstörte Deutschland ‚von unten‘, von den heimatlichen Regionen her neu aufzubauen beabsichtigte.103 Zur Idee und zum Gefühl des Basiswerts Heimat aber hatte Ehrler beständig beigetragen: in lebensreformerischer Prägung um 1910, gegen den ‚Untergang des Abendlandes‘ in der Weimarer Republik und für die Reste von ‚Gaukultur‘ im Zentralismus des Dritten Reichs.
2. „Er lebte in einer ewigen Gegenwart“: die Prophetenrolle
Die Strahlkraft des Heimatdiskurses in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war gerade dort, wo die Gemeinschaft des räumlichen und sozialen Nahbereichs auf die christliche Gemeinschaft des Abendlandes verpflichtet wurde, nicht ohne die Gloriole der ‚himmlischen Heimat‘ denkbar. In der typologischen Denkfigur der „doppelte[n] Heimat“104 bedeutete das ‚Gottesgeschenk‘ regionaler Ordnung gleichzeitig einen Nachglanz des Paradieses und einen Vorschein auf die Gemeinschaft der Heiligen. Diesen „Transgressus auf die himmlische Heimat“105, der auch zahlreichen Geistlichen die Unterstützung der Heimatbewegung ermöglichte, hat Ehrler in vielzitierte Formeln gebracht wie: „Heimat ist kein Idyll, kein Nest, es ist letzter erhabener Austritt auf den Hochrand der Erlebnisse, wo das Gleichnis steht.“106 Neben christlichen Würdenträgern und ethnokonservativen Heimatbewegten konnten völkische und nationalsozialistische Funktionäre enthusiastisch an diese politisch-religiöse Ewigkeitsauratisierung der Heimat anschließen, exemplarisch Emil Wezel, Geschäftsführer des Schwäbischen Heimatbundes in Lübke (1959–1969) und Gustav Heinemann (1969–1974); Wissenschaftliche und kulturelle Institute, Verbände und Vereine, Bundesarchiv Koblenz, Sign. B 122/335, sowie Stadt Stuttgart, Gemeinderatsprotokolle, 5. September 1950, Stadtarchiv Stuttgart. 103 Zur Heimat-Renaissance im Westdeutschland der Nachkriegszeit vgl. grundlegend Habbo Knoch: Einleitung. In: Das Erbe der Provinz. Heimatkultur und Geschichtspolitik in Deutschland nach 1945. Hg. v. dems. Göttingen 2001, S. 9–26, sowie Oberkrome: „Deutsche Heimat“, S. 437 ff. 104 Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 55. Vgl. auch Lemke: Hans Heinrich Ehrler (Diss.), S. 46. 105 Konrad Köstlin: Heimat denken. Zeitschichten und Perspektiven. In: Zwischen Emotion und Kalkül. „Heimat“ als Argument im Prozess der Moderne. Hg. v. Manfred Seifert. Leipzig 2010, S. 23–38, hier S. 27. Mit vielen Quellenbelegen hierzu Andrea Bastian: Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache. Tübingen 1995, S. 159 ff. 106 Ehrler: Die Reise in die Heimat, S. 117.
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Stuttgart, danach Major im „Rasse- und Siedlungshauptamt“ der SS in Berlin, das ethnoradikale Pläne einer ‚Festigung deutschen Volkstums‘ und einer ‚rassischen Neuordnung‘ Europas verfolgte.107 Im 1937 erschienenen „Schwaben“-Heft des Euphorion (neu Dichtung und Volkstum) verstand er Ehrlers Streben und Schaffen folgendermaßen: Alles wird eingebettet in das früheste und nachhaltigste Erlebnis, die Heimat: sie gibt dem Dichter nicht nur die Augen zum Sehen, sondern sie wird zum „Grundspiegel alles Schautriebs“; indem er auf ihren Grund hinuntersteigt, stößt er vor bis auf den Grund der Welt, aus ihrem schmalen Raum schreitet er in die Unendlichkeit.108
Als „großer Künder“ der Heimat, wie man Ehrler z.B. im Organ des Steirischen Heimatbundes vom Jahrgang 1941 angesprochen hat, sollte er auch Seher der „größere[n] Zukunft“ sein, „die er ‚auf dem Wege zu uns‘ weiß“.109 Ehrler hat die Prophetenrolle, die zentrale Habitusform der antimodernen Bewegungen,110 zunächst unter den praktischen Erfordernissen seiner Kriegsschriften angenommen, als die ‚größere Zukunft‘ mit Blick auf den Kriegsausgang und die Erneuerung der deutschen Gesellschaft zu versprechen war. In den Simplicissimus-Publikationen, zwischen 1908 und 1916 erschienen, reflektierte er seine Traditionsanhänglichkeit noch mit einiger Selbstironie – z.B. im Gedicht Den Eichendorff unterm Kopfkissen (1909)111 – und verfolgte eine Typensatire, die er auch auf den eigenen Künstlertypus applizierte, so in der Erzählung Die Kneipe (1913).112 Diejenigen Teile des Frühwerks, die in der ernsthaften Schwes107 Dazu Isabel Heinemann: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas. Göttingen 2003, S. 11 ff. 108 Emil Wezel: Schwäbische Dichtung der Gegenwart. In: Dichtung und Volkstum. Neue Folge des Euphorion 38 (1937), S. 171–194, hier S. 179. 109 Sturm: Wenn die Heimat zu uns spricht. 110 Vgl. dazu Haß: Militante Pastorale, S. 147 ff., sowie Braungart: Ritual und Literatur, S. 187 ff. u. S. 221 f., umfassend jetzt und über den Antimodernismus hinausgehend Gabriela Wacker: Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Moderne. Berlin, Boston 2013. 111 Hans Heinrich Ehrler: Den Eichendorff unterm Kopfkissen. In: Simplicissimus 14 (1909), S. 105, wieder in ders.: Frühlingslieder. München 1913, S. 75. Vgl. auch ders.: Es wächst ein Baum. In: Simplicissimus 13 (1908), S. 545, Warte nur. In: ebd., S. 648, Zwei. In: ebd. 14 (1909), S. 586, Der Frauen Wesen. In: ebd. 19 (1914), S. 104. 112 Hans Heinrich Ehrler: Die Kneipe. In: Simplicissimus 17 (1913), S. 728 f. Vgl. auch ders.: Mädchenmutter. In: ebd. 14 (1909), S. 389, Hagestolz. In: ebd. 15 (1910), S. 263, Lotte. In: ebd. 17 (1912), S. 104.
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terzeitschrift des Simplicissimus, dem ebenfalls im Langen Verlag herausgegebenen März erschienen sind, geben schon mehr der Neigung zum gesalbten Dichtertum nach. Danach kreist sein umfangreiches Gesamtwerk vollends um Künstlerfiguren, die ideale Selbstentwürfe seiner selbst sind, wie der Dichter Johannes, den Namen des Evangelisten beanspruchend, in der Kriegserzählung Der Kuß (1916 in Velhagen & Klasings Monatsheften erschienen): „Er lebte in einer ewigen Gegenwart. Platon und Christus, Benedikt, Franz von Assisi, Petrarca, Dante und Goethe, die Erlauchten unter den Weisen und Heiligen, kamen zur Zwiesprache in seine Stube, und er atmete den Atem aller edlen Menschen…“113 In einem anderen Beitrag für Velhagen & Klasings Monatshefte, der Erzählung Die Zuflucht (1923), tritt derselbe Figurentypus unter dem sprechenden Namen Faber auf: ein Mann, der „gar nicht auf dem Boden, sondern auf einer halbzölligen Luftschicht [ging], gleichsam dahingetragen durch die Dinge seines Wandels“, der sich „beim Wandern [...] manchmal nach dem Brustkorb greifen [musste], ob er sich nicht selber davongelaufen war“.114 Auch Faber sieht sich von einer für andere unsichtbaren Gesellschaft umgeben: einem namenlosen, auf Franziskus verweisenden Mönch und – zur weiblichen Ergänzung der diversen ‚Väter des Abendlandes‘ – einem singenden Mädchen, das die Psyche symbolisiert. In einer Erzählung Ehrlers für die Deutsche Rundschau, Sein Besuch (1919), sammeln sich diese ‚guten Geister‘ um die Figur des Dichters Martin.115 Auf die Schwelle dieser Zusammenkünfte lässt sich die „klassischste[] aller Synkretismusformeln“ schreiben: „zum Raum wird hier die Zeit“.116 Die so hergestellte ‚ewige Gegenwart‘ ist die einer philosophia perennis, welche die Quellen überzeitlicher, die objektive Struktur der Wirklichkeit enthüllender Grundwahrheiten in der älteren und ältesten Vergangenheit sucht und sich dabei auf das gesamte christliche Abendland erstreckt: Perle an Perl gereiht, Schmuckband zu winden Wieder der Ewigkeit,
113 Hans Heinrich Ehrler: Der Kuß. In: Velhagen & Klasings Monatshefte 30 (1916), S. 334 f. 114 Hans Heinrich Ehrler: Die Zuflucht. Novelle. In: Velhagen & Klasings Monatshefte 37 (1923), S. 314–320, hier S. 314 f. 115 Vgl. Hans Heinrich Ehrler: Sein Besuch. In: Deutsche Rundschau 181 (1919), S. 451–456. 116 Gerhart von Graevenitz: Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit. Stuttgart 1987, S. 288.
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wie Ehrler es im Gedicht Canon vom Jahre 1928 formulierte.117 Die reklamierte Leistung besteht in einer Restitution, die jede ‚metaphysische Obdachlosigkeit‘ zusammen mit jeder ‚Entwurzelung‘ zurücknimmt. Bereits 1912 fasste Ehrler dies in eine Strophe seines Gedichtes In einen Kalender: Ein lang zerbrochener Himmel wölbt sich über mich, Und der Gestirne Zauberlauf führt mein Geschick, Und der Legenden glaubenssüße Phantasie Blüht aus der heiligen Namen krauser Zier. Wie komm ich in der Väter fremd gewordene Welt Und höre in mir rauschen lang verrauschtes Blut?118
Die märchenhafte Ironie von ‚glaubenssüßer Phantasie‘ und ‚krauser Zier‘ verliert sich in Ehrlers Werk seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs und weicht dem Gestus einer pathetischen Selbstbehauptung, wie sie dann auch für die jüngeren christlichen Traditionalisten vom Schlage Reinhold Schneiders typisch ist. Man denke an Schneiders Programmgedicht von 1934 mit den Anfangszeilen: „Der Spur der Toten bin ich nachgegangen, / So hab ich mich und meinen Pfad gefunden.“119 In Gedichten wie Lavabo und In früher Stunde aus der Sammlung Gesicht und Antlitz sowie in Briefe aus meinem Kloster und im kurzen Prosatext Tagesanbruch, 1936 im Hochland publiziert und teilweise an Heideggers bekanntes Selbstzeugnis Schöpferische Landschaft. Warum bleiben wir in der Provinz? von 1933 angelehnt,120 schilderte Ehrler seine Arbeitsweise als göttliche Gewährung und sakrale Verrichtung, die zu klösterlicher Uhrzeit vor Sonnenaufgang beginnt, in seinem kleinen Haus am Rande des Waldgebiets Schönbuch und doch auch nahe an der einfachen, schwer arbeitenden Bevölkerung. Bevor er sich zum Werk niedersetzt, nimmt er ausgiebige Ablutionen, zeremonielle Waschungen, mit kaltem Wasser vor: „nicht um was ‚Gesundes‘ zu tun“, wie es in Abgrenzung von den Wasserheilern der Lebensreformbewegung heißt, „sondern um rein zu sein, außen und innen“.121 Rein 117 Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 101. 118 Vgl. Hans Heinrich Ehrler: In einen Kalender. In: Von schwäbischer Scholle. Kalender für schwäbische Literatur und Kunst 1913. Heilbronn 1912, unpag. (S. 3). 119 Reinhold Schneider: Der Spur der Toten bin ich nachgegangen. In: ders.: Lyrik. Hg. v. Edwin Maria Landau. Nachw. v. Christoph Perels. Frankfurt/M. 1981 (= Gesammelte Werke, Bd. 5), S. 47. 120 Vgl. Martin Heidegger: Schöpferische Landschaft. Warum bleiben wir in der Provinz? [1933]. In: ders.: Aus der Erfahrung des Denkens. Frankfurt 1983 (= Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 13), S. 9–13. 121 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 21.
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muss es um ihn und in ihm sein, daher vorzugsweise auf kleinstem Lebensraum, in der cella: „Bis in reinen Lüften ich kindreinen Atems bin“, lautet das Ziel.122 Um körperliche und geistige Reinheit geht es ihm bei seinen Diäten: „Ich esse wenig, gewöhnlich nur einmal am Tag. Es ist mir auch schier gleichgültig was, doch muß die Speise rein bereitet sein.“ So will er „licht genug“ werden, „um als Verkünder unter die Menschen zu treten“.123 Das „Licht in dir sehe ich heller, und dein Geruch ist reiner geworden“, dies lässt er sich von dem imaginären Mönch Berthold, der die Briefe aus meinem Kloster durchgeistert, als Fastenerfolg bestätigen.124 Der Dichter ist heilig, weil er – in der Synchronie – „den Menschen […] die Wunder Gottes zu zeigen“ vermag125 und – in der Diachronie – „den Urgang der Gezeiten […] wie auf einer Wage“ hält.126 Die Platon-Referenz, die Ehrler auch in der Hochland-Erzählung Das Buch Platon (1925) ausgearbeitet hat, zielt unüberhörbar auf den Dialog Ion und das Konzept des Autors als Mittler der Götter. Wie schon der Titel Das Buch Platon offensichtlich an Max Herrmann-Neisses Das Buch Franziskus (1911) angelehnt ist, machte Ehrler das Inspirationsmodell der Autorschaft wiederum auch für Franziskus geltend: „Sein Wort war mächtig, denn der Herr sprach aus ihm.“127 Die ästhetizistische Version dieses Habitus – die kultische Inszenierung von Literatur bei beständiger Selbstinszenierung ihres Autors mit Reinigungs- und Rückzugsritualen; die kulturkritische Imagearbeit dessen, der äußerlich Solitär, innerlich aber Beter für alle sein will – kannte Ehrler nur zu gut aus der Münchner Boheme der 1890er Jahre und der Boheme am Bodensee des Jahrhundertbeginns. Ihre Neufundierung mit ethischem Ordnungsanspruch fand er bei Stefan George und mehr noch, nämlich in der stärker konfessionell und politisch engagierten Wendung auf Nation und öffentliche Wohlfahrt, bei Paul Claudel, dessen Werke sich in Ehrlers Nachlassbibliothek befinden.128 122 Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 4. 123 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 43. 124 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 150. 125 Hans Heinrich Ehrler: Tagesanbruch. In: Hochland 33/2 (1936), S. 319–321. 126 Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 16. 127 Ehrler: Der heilige Franziskus, S. 43. Vgl. Platon: Ion, 534e, sowie Hans Heinrich Ehrler: Das Buch Platon. In: Hochland 22/1 (1924/25), S. 516–530, hier S. 524. Dazu Erich Kleinschmidt: Autorschaft. Konzepte einer Theorie. Tübingen, Basel 1998, S. 13 ff. 128 Vgl. zu diesem Spektrum Helmut Kreuzer: Die Boheme. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1971, Jost Hermand: Der Schein des schönen Lebens. Studien zur Jahrhundertwende. Frankfurt/M. 1972, bes. S. 13– 25 („Der Aufbruch in die falsche Moderne“), Peter Ulrich Hein: Die Brücke ins Geisterreich. Künstlerische Avantgarde zwischen Kulturkritik und Faschismus. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 113 ff. (zum seherischen Anspruch), Manfred Bosch: Bohème am Bodensee. Literarisches Le-
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Das lyrische Ich von Ehrlers Gedichten, zumal des späteren Werks, hält sich mit Deutungsansprüchen am wenigsten zurück. Im Themenheft Das Religiöse in der Zeit der Literarischen Welt vom September 1934 ließ er sich mit dem Sonett Der Künder vernehmen, das den religiösen Dichter als Seelenführer des Volkes stipuliert: Wann aber kommet der Mund, Der aus der Worte Rauschen uns hebet den Fund Klarer Akkorde? Jener, der Jüngermahls Wein Trank bei der Spendung, Daß ihm die Zunge ward rein, Tönend zur Sendung. Der auf dem Schädelberg stand, Ohr letzter Dinge, Heiligsten Schrei in sich band. Müd vom Geklinge Lauschend krankt Menschenland. Heilmund, o singe!129
Nachdrücklich betonte er, dem Jahrhundertwende-Modell des sich opfernden Künstlers folgend, das Leidenshafte, im Wortsinn Passionierte dieser Aufgabe. So heißt es in der Rubrik „Zeitgedichte“ von Die Lichter schwinden im Licht aus dem Jahre 1932: Krank bin ich an der Zeit bis in das Eingeweide. Gleich wie dem Jeremia schüttelt sich mein Blut. Oft lieg darnieder ich, zerrieben vor dem Leide, Dann wieder abgeschwemmt auf grauer Jammerflut.130
ben am See von 1900 bis 1950. Lengwil 1997, sowie zusammenfassend Braungart: Ästhetischer Katholizismus, S. 3–34, zu Claudel hier S. 32 ff. 129 Hans Heinrich Ehrler: Der Künder. In: Das deutsche Wort. Neue Folge der Literarischen Welt 10 (1934), H. 39, S. 5. Vgl. Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 56. 130 Ehrler: Die Lichter schwinden im Licht, S. 50. Vgl. zum dahinterstehenden Modell wiederum Braungart: Ästhetischer Katholizismus, S. 22 u.ö.
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Mit der Anerkennung des NS-Staats als ‚Drittem Reich‘ im heilsgeschichtlichen Sinn erübrigen sich diese Leiden keineswegs: „Ich sehe, ein Sehender. Sehen tut weh…“,131 eröffnete Ehrler ein Gedicht seiner Sammlung Unter dem Abendstern von 1937. Der poetologische Zwang des prophetischen Mahnertums reicht prinzipiell weiter als die Befriedigung durch welche politischen Maßnahmen auch immer. Das Reich als „Endreich“ ist ein dankbarer Gegenstand für diese ewige Schau, denn wie schon Moeller van den Bruck von ihm orakelte: „Es ist immer verheißen. Und es wird niemals erfüllt. Es ist das Vollkommene, das nur im Unvollkommenen erreicht wird.“132 Ehrler verstand seine Dichtung als Gebet: als persönliches Gespräch mit Gott, das Gnadenwirkung für die Welt entfaltet. Nach der göttlichen Seite ist das Gebet das paradoxe ‚Medium einer Unmittelbarkeit‘, das in nationalsozialistischen Kulturtheorien geradezu als Gegensatz zum Denken gewürdigt wurde: „Beten“, so Steding, „setzt in unmittelbaren Kontakt, während das Denken ja gerade zerstört. Das Beten setzt Fülle und Wirklichkeit voraus. Das Denken sucht sie zu liquidieren und ist immer in Gefahr, sie überhaupt zu vergessen oder gar zu leugnen.“133 Nach der weltlichen Seite ist das Gebet Fürbitte und Stellvertretung des berufenen Beters für die Unberufenen. „Der Gnadenstrahlung unsichtbarer Kreis“, die vom „Gebet der Klausnerzelle rührt“, reklamierte Ehrler ausdrücklich z.B. im Gedicht Wirkung.134 Für diese Art Gebet hat sich der Dichter von 1917 bis 1924 regelmäßig nach Maulbronn zurückgezogen, um in „dem alten Kloster [...] Zuflucht vor dem Druck der Dinge“135 und Ruhe für seine Arbeit zu finden. Mit Stadtschultheiß August Kienzle und Landrat Hermann Röger im Benehmen, bewohnte er kostenlos die Giebelstube des am Klosterhof gelegenen Rathauses. Die grundsätzliche Idee, dass Schriftsteller in öffentlichen Gebäuden wohnen dürfen sollten und sich im Gegenzug z.B. als Fremdenführer betätigen könnten, den Gästen ‚ihr Reich‘ zei-
131 Ehrler: Unter dem Abendstern, S. 58. 132 Arthur Moeller van den Bruck: Das dritte Reich. Berlin 1923, S. 260. Vgl. Faber: Abendland, S. 20: Das Abendland ist eine „konservative U t o p i e “. Zur Aufschiebung „ins Unerreichbare“ als Charakteristikum des Reichsbegriffs von Reinhold Schneider vgl. Schmitz: Reinhold Schneider, S. 279. 133 Steding: Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, S. 524. 134 Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 151. Vgl. auch Ehrlers Gedicht Der Einsiedler in Benzmann (Hg.): Moderne deutsche Lyrik, S. 119, sowie Ehrlers Repräsentanz in den einschlägigen Anthologien von Joseph Borst (Hg.): Lobsinge dem Herrn, meine Seele. Gebete deutscher Dichter. Würzburg 1935, S. 29 (Im Erwachen), und Otto Heuschele (Hg.): Wir stehen in Gottes Hand. Gebete deutscher Dichter. 3. Aufl. Stuttgart 1963 (zuerst 1955), S. 64 (Gebet). 135 Ehrler: Die Zuflucht, S. 318.
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gend, hat unter anderem Ehrlers Freund Carl Christian Bry vorgetragen.136 An der Außenfassade des Maulbronner Rathauses wurde noch Anfang der 1980er Jahre eine Erinnerungstafel für den Dichter angebracht, die im Führer der deutschen Literaturdenkmäler 2008 noch angeführt, inzwischen aber Restaurierungsarbeiten gewichen ist.137 Im benachbarten Knittlingen ist eine Straße nach Hans Heinrich Ehrler benannt. Auf dem Klostergelände lebte er, von der Vigilie zur Komplet, im „Tagesgang des alten Rom“, den der „letzte Sohn Sankt Benedikts“ noch „am Tag des Weltuntergangs“ so verbringen werde.138 Solche Reaktivierungen der Institution des Klosters und die Thematisierung der mit ihm verbundenen Rituale und Mysterien im Zeichen der Roma aeterna gehören zunächst zum Stil der Liturgischen Bewegung, aus deren Geist Erhard Jurrian Bruder 1926 über Ehrler schrieb: „Das Kloster wird ihm zum grossen Erlebnis, nicht nur als Zeichen spätromanischer und frühgotischer Kunst, sondern als Bewahrer geistiger Traditionen und als Hüter tiefster seelischer Erlebnisse.“139 Im Dienste der Liturgischen Bewegung erscheint so auch die Aufgabe des Dichters, „seinen bedrängten Brüdern im Geist den Weg zu weisen zur Überwindung des Wesenlosen und des Unwesentlichen, den Weg zu einem gläubigen Vertrauen auf das Wesentliche“.140 Ehrler ging es allerdings nicht allein um das Kloster als Institution, vielmehr auch um den spezifischen genius loci von Kloster Maulbronn und des württembergischen Klosterschul- bzw. Stiftswesens. Im Rahmen eines typologischen Geschichtsdenkens, in dem sich die philosophia perennis in immer neuen Vertretern manifestiert, stellte sich Ehrler in die Reihe von Johannes Kepler, Nathanael Köstlin, Friedrich Hölderlin und Friedrich Schelling (nebst Caroline Schelling, deren Grab auf dem Friedhof der Klosterkirche liegt141). Dabei fällt der Astronom nicht 136 Vgl. Carl Christian Bry: Des Buches Werdegang und Schicksal. Vom Schreibtisch des Dichters bis zum Bücherschrank des Lesers. Berlin 1924. S. 80. 137 Vgl. Ehlers: Das Kloster und die Dichter, S. 86–89, sowie Oberhauser u. Kahrs: Literarischer Führer Deutschland, S. 825. Zu Kloster Maulbronn als Künstlertreffpunkt grundsätzlich Karin Stober: Denkmalpflege zwischen künstlerischem Anspruch und Baupraxis. Über den Umgang mit Klosteranlagen nach der Säkularisation in Baden und Württemberg. Stuttgart 2003, S. 31 ff. 138 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 11. 139 Bruder: Über Hans Heinrich Ehrler, S. 73. Zu den Ansprüchen auf das antike Erbe in der Liturgischen Bewegung aufschlussreich Richard Faber: Roma aeterna. Zur Kritik der „Konservativen Revolution“. Würzburg 1981, S. 141 ff. 140 Bruder: Über Hans Heinrich Ehrler, S. 74. Zur Liturgiebewegung als Inspirationsfaktor des literarischen Rituals vgl. auch Braungart: Ästhetischer Katholizismus, S. 54 ff. Zur Liturgiebewegung grundsätzlich zuletzt Marc Breuer: Religiöser Wandel als Säkularisierungsfolge. Differenzierungs- und Individualisierungsdiskurse im Katholizismus. Wiesbaden 2012, S. 349–436 („Rituelle Inklusion: die ‚Liturgische Bewegung‘“). 141 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 38.
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als bloßer Naturwissenschaftler aus der Reihe, sondern entdeckte – nach Ehrlers Gedicht Johann Kepler. Harmonia mundi von 1928 – der „Ordnung Zahl“ in der „Gleichniswölbung von kristallnen Reichen“, arbeitete in seinen Harmonices Mundi libri V (1619) an der Enthüllung des Sternenreichs als Abbild des Gottesreichs mit.142 Die Briefe aus meinem Kloster und Das Gesetz der Liebe attestieren dem Maulbronnzögling Kepler, er habe „das Weltall als Harmonion gesehen und sphärische Musik darin gehört. […] Der Himmelskundige hat auch auf Erden recht. Planetarium, das Uhrwerk Gottes hat sein Spiegelbild hienieden.“143 Auch den Faustmythos griff Ehrler, anhand der Überlieferung zu Johannes von Knittlingen alias Johann Faust dankbar aus der Geschichte von Maulbronn auf. Ein 1919 entworfener, im Jahr 1519 spielender „Maulbronner Geschichtsroman“ Faust bei den Mönchen, über den „Zusammenhang von Mittelalter – Neuzeit, Gotik – Renaissance, Vorreformation, Kämpfe Württemberg – Pfalz, Geburtsstunde auch all dessen, was wir erleben“,144 wurde nicht realisiert, obwohl er in der zeitgenössischen Berichterstattung über Ehrler bereits als zu erwartende große Neuerscheinung im Gespräch war.145 Ehrler hat dem Kloster als einer „Welt […] idealisierten Mönchtums“146 unter anderem zwei Artikel in der Frankfurter Zeitung (1916 und 1921),147 eine in Velhagen & Klasings Monatsheften gedruckte Novelle Die Zuflucht (1923), den Roman Briefe aus meinem Kloster sowie das Gedicht Hölderlin und das Kruzifix zu Maulbronn (1928)148 gewidmet. Die von ihm verfasste Broschüre Kloster Maulbronn erschien 1925 mit Illustrationen von Adolf Hildenbrand.149 Mehrfach verlangte er – typisch für die Forderungen des Heimatschutzes nach traditionellen Baustilen150 –, die neueren Architekten müssten sich ein Vorbild an den Zisterzienser-Baumeistern nehmen. 142 Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 63. 143 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 50 f. Vgl. auch ders.: Briefe aus meinem Kloster, S. 134. 144 Hans Heinrich Ehrler an Hermann Missenharter, 25. August 1919, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Nachlass Missenharter, Sign. Cod. hist. 4° 591. 145 Vgl. Bruder: Über Hans Heinrich Ehrler, S. 74, dazu Mahal: Faust. Und Faust, S. 153 f. Einen Handlungsaufriss des Faustromans gibt Ehrler in: Briefe aus meinem Kloster, S. 129–131. 146 Rudolf Krauss: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Briefe aus meinem Kloster. In: Das literarische Echo 24 (1921/22), S. 1446 f., hier S. 1446. 147 Hans Heinrich Ehrler: Maulbronn. In: Frankfurter Zeitung, 29. Juli 1916, und ders.: Der Elfinger. In: ebd., 9. Oktober 1921. 148 Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 57. 149 Hans Heinrich Ehrler: Kloster Maulbronn. Mit 16 Steindrucken von Adolf Hildenbrand. Landschlacht 1925. 150 Vgl. Thomas M. Lekan: Imagining the Nation in Nature. Landscape Preservation and German Identity, 1885–1945. Cambridge/Mass. 2004, S. 26 ff., S. 64 ff. u. S. 162 ff.
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Aus den diversen Honoratiorenbekanntschaften, die Ehrler in Maulbronn geschlossen und gepflegt hat,151 ist die mit dem Heimat- und Denkmalschützer Oberbaurat Fridolin Rimmele hervorzuheben, ab 1919 Leiter des Bezirksbauamtes Heilbronn und Gründungsvorsitzender des auch im Denkmalschutz aktiven Heilbronner Künstlerbundes, außerdem führendes Mitglied des 1909 gegründeten württembergischen Heimatschutzbundes. Durch Rimmele kam Ehrler in direkten Kontakt mit einer politisch zwischen Liberalen, Konservativen und Völkischen breit aufgestellten Heimatschutzbewegung, die verstärkt in Folge des Ersten Weltkriegs immer auch volkspflegerisch gedachte Ordnungen des Regionalen entwarf. Rimmele verantwortete weitgehende Restaurierungsmaßnahmen an der Klosteranlage, die wohl nicht direkt von Ehrler inspiriert waren, aber zum Teil aus demselben Ansatz ‚seelischen Nacherlebens‘ mittelalterlicher Lebenseinrichtungen resultierten: Beiden Männern ging es darum, „die Räume im Geiste mit den alten Mönchen, die unter den Grabplatten schlummern, neu zu beleben“152. Eine Lesung Ehrlers beim Heilbronner Künstlerbund zu Beginn der 1920er Jahre dürfte sich auf die Briefe aus meinem Kloster gestützt haben.153 1951 hat Rimmele seine Erinnerungen an den Verstorbenen in der Zeitschrift des Heimatbundes wiedergegeben.154 Ehrler hat sich freilich nicht als Heimatdichter verstanden und daher die Periodika des Heimatbundes auch nur in geringem Umfang mit eigenen Beiträgen bedient.155 Gleichwohl wäre Ehrler einer der Letzten gewesen, der sich dem „breiten heimatideologischen Grundkonsens“156 seiner Zeit und Umgebung entzogen hätte. In einem Grußwort zum 20-jährigen Bestehen des Bundes für Heimatschutz in Württemberg und Hohenzollern feierte er den Verein als „Treuhänder der überlieferten, väterlich geweihten Güter“157. Dabei brachte er geistigen Universalismus und emotionalen Regionalismus in das folgende Verhältnis:
151 Der Kreis ist auf einem Gruppenfoto von Mitte der 1920er Jahre dokumentiert, abgebildet bei Ehlers: Das Kloster und die Dichter, S. 87. 152 Fridolin Rimmele: Erinnerungsblatt an Hans Heinrich Ehrler. In: Schwäbische Heimat 2 (1951), S. 158. 153 Vgl. Friedrich Dürr: Chronik der Stadt Heilbronn 1922–1933. Heilbronn 1986, S. 46, zu den denkmalschützerischen Aktivitäten des Künstlerbundes ebd., S. lxi. 154 Vgl. Rimmele: Erinnerungsblatt an Hans Heinrich Ehrler, ferner ders.: Einzelheiten vom Kloster Maulbronn. Aus eigenem Wissen und aus den Erinnerungen und Erfahrungen des Klosterführers Gottfried Schempf. Maulbronn 1951. Ergiebig zu Rimmeles Arbeit in Maulbronn Stober: Denkmalpflege zwischen künstlerischem Anspruch und Baupraxis, S. 91 ff. 155 Vgl. Ehrler: Der Bund, sowie ders.: Zum Geleit. In: Schwäbisches Heimatbuch 15 (1929), S. 3 f. 156 Steber: Ethnische Gewissheiten, S. 319. 157 Ehrler: Zum Geleit, S. 3.
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Wir können aus unserem schwäbisch-fränkischen Land kein kulturhistorisches Museum machen, auch die ein wenig pfauenhafte geistige Stammesidylle wird ihren Hofzaun gelockert sehen. Die dagewesenen Geister, auf deren Namen wir selbstgenügsam eingebildet sind, wirkten alle ins humanistisch Weite. Aber jene Dankbarkeit des Blutes, jenes unantastbare Wissen um das unfaßbar Unbewußte des seligen Lebenswortes Heimat möge das Gran Radium in sich geborgen halten, welches uns zu reinen, guten Menschen macht, so daß auch den kommenden Kindern sein Licht nicht aus den Pupillen fällt.158
Bezeichnend für Ehrlers Ambitionen ist, dass er in den Maulbronner Klosterbriefen ein regelrechtes Gelübde schildert, das er gegenüber Hermann Hesse abgelegt haben will. Hesse sah Maulbronn, den Ort seiner von christlich artikulierten Leistungs- und Unterwerfungsforderungen belasteten Seminaristenzeit, im Oktober 1921 wieder, als er sich zusammen mit seiner späteren Ehefrau Ruth Wenger und dem Waldorfschulgründer Emil Molt auf einer Lesereise nach Stuttgart befand. Ehrler machte aus der Begegnung, ohne dabei Wenger und Molt ins Bild zu bringen, folgende Szene eines quasipriesterlichen Auftrags: Wir haben kummervoll geredet vom kranken Deutschland, vom verschütteten Menschenwesen, von Heimat und Fremde. Sprachen auch von dem bereits wieder hervorwollenden Licht, von der Jugend, dem gefährlich schönen Gewächs der kommenden Dinge […]. Von dem Dichter, welcher jetzt nimmer gefällige, wohlgefügte Geschichten schreiben dürfe, sondern sich priesterlich weihen müsse. Es gibt keine „Kunst“ mehr, nur hohen Dienst.159
Auf Fotografien seiner mittleren Jahre präsentiert sich dieser hohe Diener vorzugsweise in priesterlichem Schwarz (Abb. 3). Der spätere, von christlicher wie von nationalsozialistischer Seite hofierte Ehrler bevorzugte päpstliches Weiß (Abb. 4) und verteilte Segen aufs Haupt. Die „Sorgfalt, die dem Äußeren, dem Gewand, gezollt ist, ohne Pedanterie mit Selbstverständlichkeit“,160 gehörte zum öffentlichen 158 Ehrler: Zum Geleit, S. 3 f. 159 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 175. Zu Hesses Reise vgl. Gunnar Decker: Hermann Hesse. Der Wanderer und sein Schatten. Biographie. München 2012, S. 328. 160 Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 106. Zu den Kleidungsgewohnheiten Ehrlers vgl. auch das Zeugnis von Georg Schwarz: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Unsre Uhr hat einen Zauberschlag. In: Welt und Wort 5 (1950), S. 436 f. Zum bohemistischen Phänotyp Hermand: Der Schein des schönen Lebens, S. 21.
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Gesprächsstoff. In jeder Gesellschaft soll er der „Feiertäglichste“ gewesen sein und sich damit eine Schranke bewahrt haben: „Zucht und Anspruch“ bei aller süddeutschen Gemütlichkeit und christlichen Bruderliebe.161 Im Bekanntenkreis sowie auch von seinen Leserinnen und Lesern ließ er sich vorzugsweise mit „Meister“ anreden: „sehr verehrter Meister“, „vertraute[r] Meister“, „lieber Meister“.162 Eine Art verniedlichter Stefan George, nutzte er dieses „Pathos der Distanz“163, um es im rührenden Überschwang zu überschreiten. Jeden wollte er trösten, niemanden ungeliebt lassen. Herrschaft und Hass – à la George-Kreis – kamen nicht in Betracht. Seine Besucher waren in ihrem christlich-akademischen Weltbild gefestigt und erwarteten vor allem dessen Bestätigung. Studenten des Tübinger Stifts, junge Theologen, pilgerten – „[e]inzeln oder in kleinen Wandergruppen“164 – am Sonntagnachmittag zu ihm, um seine Gnadendurchbrüche zu erleben und Erbauung zu empfangen. Die Philologieordinarien der Universitäten Tübingen und Stuttgart stellten sich zu weinseligen musikalischen Honoratiorenrunden ein und erfreuten sich des Anteils an einem lebenden Autor, dessen Werk zugleich den toten, literaturhistorisch kanonisierten Dichtern gleicht. Die Anthroposophin Lisa Bronni lauschte „seine[n] innersten Offenbarungen unter den Kastanienkronen auf der Terrasse“, ehrte sie als „bleibende Wertgeschenke“ „aus der Tiefe des Innenraumes“.165 Berichte aus dem persönlichen Umgang ergeben das geschlossene Bild eines talentierten Predigers, ja „Zauberer[s]“166 mit „volltönende[r], groß ergreifende[r] Stimme“.167 Die in der Tat bilderbuchhafte, oft fotografierte und 161 Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 111. 162 In dieser Reihenfolge bei Erich Wewel an Hans Heinrich Ehrler, 26. Juni 1939, NL Ehrler, [Anon.]: Gruß an Hans Heinrich Ehrler. In: Der Bosch-Zünder 19 (1937), S. 135, und Dank an Hans Heinrich Ehrler. Briefe junger Menschen zur Vollendung seines 65. Lebensjahres. In: Das Wort in der Zeit 5 (1937/38), S. 4–11, hier S. 6. Zur Konvention der Meisterrolle vgl. Kreuzer: Die Boheme, S. 180 ff. 163 Wacker: Poetik des Prophetischen, S. 142. 164 Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 122. 165 Lisa Bronni: Gestalten am Wege. Lebensroman. Eningen 1976, S. 59. 166 Hermann Missenharter: Ecce poeta. Hans Heinrich Ehrler gestorben. In: Stuttgarter Nachrichten, 15. Juni 1951. Ähnlich die Zeugnisse von Fritz Elsas: Auf dem Stuttgarter Rathaus 1915– 1922. Erinnerungen. Hg. v. Manfred Schmid. Stuttgart 1990, S. 121, Hermann Binder: Hans Heinrich Ehrler zum Gedächtnis. Gedenkworte bei der Gedenkstunde am 10. Juli 1952 (unveröffentlichtes Typoskript, Privatbesitz), Karl Hans Bühner: Eines stillen Dichters Einsiedelei. Letzter Besuch bei Hans Heinrich Ehrler. In: Deutsches Volksblatt, 28. Februar 1953, Georg von Albrecht: Vom Volkslied zur Zwölftontechnik. Schriften und Erinnerungen eines Musikers zwischen Ost und West. Hg. v. Michael von Albrecht. Frankfurt/M., Bern u.a. 1984, S. 161. Vgl. auch Ehlers: Das Kloster und die Dichter, S. 88 f. 167 Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 14 f.
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Abb. 3: Ehrler um 1910, Privatfoto.
Abb. 4: Ehrler um 1950, Privatfoto.
gezeichnete Dichterphysiognomie (Abb. 5 u. 6), die zuletzt auch in einer Totenmaske festgehalten wurde (Abb. 7), sollte Charakter und ‚Rasse‘ garantieren.168 1934 hat der Mediziner Gerhard Venzmer sein populärwissenschaftliches Buch über Schädelkunde ausgerechnet mit dem „Gau- oder Stammesgesicht“ von Ehrler illustriert – für den ‚schwäbischen Typus‘ neben dem ‚ostfälischen‘, ‚ostischen‘ und ‚fränkischen‘ (Abb. 8).169 Auf sein Schriftbild legte der Dichter nicht weniger wert. Systematisch setzt er Autografen in Umlauf, meist von Gedichten, die er in einer Art Mönchshandschrift zum Teil mehrfarbig auf gutes Papier brachte. Diese ‚Dichter-Hand‘ bildete er Mitte der 1910er Jahre wahrscheinlich in Maulbronn eigens aus; zuvor benutzte er eine moderne, schnörkellose Kurrent: die Handschrift des Redakteurs Ehrler.
168 Vgl. Sutter: Der Dichter Hans Heinrich Ehrler. Zu Ehrlers Totenmaske vgl. auch Michael Davidis u. Ingeborg Dessoff-Hahn (Hg.): Archiv der Gesichter. Toten- und Lebendmasken aus dem Schiller-Nationalmuseum [Katalog zur Ausstellung]. Marbach/N. 1999, S. 322. 169 Gerhard Venzmer: Dein Kopf – dein Charakter! Was Schädelform und Antlitzbildung über die Wesensart des Menschen verraten. Stuttgart 1934, S. 47. Zur Vorstellung eines ‚schwäbischen Gesichts‘, das sich mit ‚Gemütsinnigkeit‘, ‚grüblerischer Natur‘ und ‚verschlungener Phantasie‘ verbinden soll, vgl. auch Willy Hellpach: Deutsche Physiognomik. Grundlegung einer Naturgeschichte der Nationalgesichter. 2. Aufl. Berlin 1949 (zuerst 1942), S. 75–87 („Das schwäbische Gesicht“).
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Abb. 6: Ehrler in einer Pressezeichnung von Emil Stumpp 1925, mit Signatur Ehrlers.
Abb. 5: Ehrler in Anselm Salzers Illustrierter Geschichte der deutschen Literatur 1931.
Abb. 7: Totenmaske Ehrlers 1951.
Abb. 8: Ehrlers „Gau- oder Stammesgesicht“ in der Schädelkunde von Gerhard Venzmer 1934.
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Norbert Jacques, der erfolgreiche Unterhaltungsautor, der durch seine Kriminalromane berühmt wurde, aber auch das Kloster- und Kirchenmilieu ausbeutende Geschichten verfasst hat, erinnerte den langjährigen Freund der Konstanzer und Karlsruher Zeit als einen kleine[n] Mann mit einem Kopf, der seinem Hirn einen übermäßigen Raum zur Verfügung stellen zu wollen schien. Denn der Schädel weitete sich oberhalb der Augen machtvoll auf. [...] Die Augen waren weit offen und selig verträumt und hatten die Farbe von angeblautem Aquamarin. Was dieser Mann sprach, begleitete er mit Bewegungen der Hände, die so fein wie Kinderhände waren. [...] Die Wirklichkeit ging an ihm vorüber. Er hörte sie nicht einmal rauschen.170
Sobald man nur auf religiöse oder philosophische Themen gekommen sei, ergänzte Georg von Albrecht, einer von mehreren Komponisten Ehrlers, habe sein Gesicht einen „sibyllinischen Ausdruck“ angenommen und in seinen Augen sei das „Feuer des Propheten“ erglommen.171 Diverse Anekdoten über Ehrlers Weinschwärmerei, besonders für den „Elfinger“, den Maulbronner Klosterwein, gehörten zur von ihm gerne gespielten Rolle des sakramentalen Zelebranten, der im „vinum spirituale“ (nicht „spirituosum“)172 die communio als heilige Gemeinschaft unter den Mitmenschen herzustellen liebte. Exemplarisch beschwören die Betrachtung Wein im Bodenseebuch von 1915 und das Gedicht Wein in Die Lichter schwinden im Licht von 1932 ideale Situationen, in denen der Wein einen „Zauberraum“ öffnet und „unsere Wandlung“ bewirkt,173 „Hartgewordenes in uns schmelzen macht, das Schwere aufblättert und in goldenen Schuppen in uns ablegt“, „uns mit seinem ungewogenen Weihrauchduft fromm macht und gläubig den Wundern“.174 Literatur ist in diesem Rahmen geistliche Nahrung: Der „Dichter […] hat uns allen das Brot gebrochen“, die „communio spirituale ist an uns geschehen“.175 Ehrlers bevorzugte 170 Jacques: Roman meines Lebens, S. 42 f. 171 Albrecht: Erinnerungen eines Musikers, S. 161. 172 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 195. 173 Ehrler: Die Lichter schwinden im Licht, S. 61. Vgl. den Bericht von Franziska Werfer: Hermann Breucha 1902–1972. Aufbruch der Kirche im Bild eines Priesters. Weißenhorn 1982, S. 170, ferner Ehrler: Der Elfinger. Entsprechende Szenen finden sich auch in Ehrlers Erzähltexten, z.B.: Meine Fahrt nach Berlin, S. 106, Die Frist. München 1931, S. 12, Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm. München 1935, S. 229 f. 174 Hans Heinrich Ehrler: Wein. In: Das Bodenseebuch. Ein Buch für Land und Leute 2 (1915), S. 57 f., hier S. 57. 175 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 38. Zur Gleichzeitigkeit von literarischer Selbstauslegung und Gemeinschaftsstiftung in solchen Ritualen vgl. Braungart: Ritual und Literatur, S. 101 ff.
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Gaststätte in Waldenbuch hieß mit österlichem Anklang „Zum Lamm“ (betrieben vom Kommunalpolitiker Karl Müller und Treffpunkt der SPD-Sympathisanten). Während des Zweiten Weltkriegs soll er täglich dort eingekehrt sein und sich betrunken haben.176 In Ehrlers Freundes- und Bekanntenkreis sorgte man sich früh um alkoholistische und geldverschwenderische Neigungen des Mannes, dessen Einkünfte gerade während der beiden Kriege keineswegs gering waren. Von 1915 an zieht sich das Motiv der geldlichen Unzuverlässigkeit durch die Korrespondenz seines Netzwerks: Ehrler sei „hinsichtlich wirtschaftlichen Denkens und Handelns geradezu ein Virtuose“, Honorare und Stipendien seien besser an einen Treuhänder auszuzahlen.177 Persönliche und literarische Kritik an diesen exzentrischen Zügen blieb nicht aus. Bereits 1920 mahnte der literarisch interessierte Theologe Joseph Bernhart in der Frankfurter Zeitung: Ehrler „liebt und hegt sich selbst als den Poeten“, betreibe „eine Art von Flirt mit der eigenen Art und Erkorenheit“, ziehe so aber „allzuleicht das Interesse von der Sache, die er will, auf sich und seine Könnerschaft hinüber“, fordere in einem „unfreie[n] Haften an sich selbst“ zu aufdringlich die „Anerkenntnis seiner Meisterschaft“.178 Im Hochland zog er sich zuerst 1922 den sehr begründeten Vorwurf zu, die religiöse Erhebung nur als Kulisse seines Ego zu nehmen, mit dem Fazit: „immer stand er selber im Mittelpunkt seiner Bücher“.179 Der engere Hochland-Kreis wollte Literatur nicht als Dienerin, aber noch weniger als Ausbeuterin der Religion, mit deren Ausschlachtung etwa zugunsten des künstlerisch-individuellen oder national-kollektiven Narzissmus. An Ehrlers letztem, 1946 veröffentlichtem Roman hat Alfred Döblins frankophil-katholisch geprägte Literaturzeitschrift Das goldene Tor das naive Selbstbewusstsein und die Turnüre des Gesalbten, wie der Dichter sie im Vorwort zum Ausdruck brachte, als ganz und 176 Vgl. Schulz: Hans Heinrich Ehrler, S. 58. 177 Sutter an Bulle, 2. Oktober 1915 (Deutsche Schillerstiftung, Personenakte Ehrler). Vgl. Jacques: Roman meines Lebens, S. 148. 178 Bernhart: Hans Heinrich Ehrler. 179 Franz Herwig: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Briefe aus meinem Kloster. In: Hochland 20/1 (1922/23), S. 111 f. Zur Kritik an Ehrlers Inanspruchnahmen des Religiösen vgl. auch Joseph Bernhart: Erinnerungen 1881–1930. 2 Bde. Hg. v. Manfred Weitlauff. Weissenhorn 1992, Bd. 1, S. 856 f. – Vgl. Muths Distanzierungen von George bei Braungart: Ästhetischer Katholizismus, S. 78 u. S. 184 ff., sowie die Neuromantik-Kritik von Hermand: Der Schein des schönen Lebens, S. 21: „So propagiert man zwar das Bindende und Einende innerhalb des mittelalterlichen Papstkirchentums […] oder das Gefolgschaftswesen im Rahmen der germanischen Staatsverbände; aber es bleibt bei einer ästhetischen Schwärmerei für die Ideale, da man bei aller Bindung und Unterordnung nur in den seltensten Fällen das subjektiv Genialische der eigenen Person verleugnet.“
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gar unzeitgemäß zu rügen: Sie sei, so heißt es mit vollkommen zutreffendem Hinweis auf die Bohemekultur des Ästhetizismus, „keineswegs das Gegenteil, sondern nur eine Abart von ‚Literatentum‘“.180
3. „den Menschen den Weg erhellen“: Erbauungsliteratur im politischen Zusammenhang
„Heilmund, o singe!“,181 endet Ehrlers oben (Kap. II.2) vollständig zitiertes Sonett Der Künder. Durch Poesie zu heilen, war der mit einer reichen Tradition unterfütterte Anspruch dieses Dichterpropheten. Nach 1 Kor 8,1 bzw. 14,3 erbaut der Prophet durch eine Verkündigung, die auf der „Liebe“ zur Gemeinde und Gemeinschaft, zu Schöpfung und Schöpfer beruht. In einer Pfingstbrief betitelten ‚Epistel‘ von 1912 resümierte Ehrler scheinnaiv: „Die Liebe erbaut.“182 Erbauungsliteratur als heilsverkündende, caritativ-zweckorientierte Schreibhaltung repräsentieren die poetischen ebenso wie die zahlreichen politischen Schriften Ehrlers, indem sie das Herz erheben, die Seele stärken, das Gefühl beruhigen sollen. Ein Verspaar aus seiner frühen Lyrik, zu denen die Natur- und Jahreszeitengedichte des Simplicissimus-Kalenders für 1911 gehören sowie die kurzfristig sehr wirkungsvollen Trostgedichte Die Liebe leidet keinen Tod von 1915 („Den trauernden deutschen Frauen“ gewidmet183), definiert das poetologische Programm in den einfachsten Worten: „Doch sieh, in dem Buche das Gedicht / Ist hell von unseres Herzens Licht.“184 Dabei ist das Herz, aus dem dieses Licht fällt, weniger als individualpsychologisches Zentrum konzipiert, sondern als das ‚Innere Reich‘ der ewigen Ideen und großen Geister, in dem alles fließt, aber nichts zerrinnt. Sein wichtigstes Gegenüber ist der in beiden Weltkriegen millionenfache Tod, dem der Stachel genommen werden sollte. „Tod, du bist gut und hast mich wohl geführt“,185 lautet in diesem Stil z.B. der Anfang von Ehrlers Gedicht Abschied vom Tod jenseits (1932), in dem sich die Seele vom Tod als Geleitgeber in die Ewigkeit verabschiedet.
180 Baur: [Rez.] Charlotte. 181 Ehrler: Der Künder. 182 Hans Heinrich Ehrler: Ein Pfingstbrief an den „März“. In: März 6 (1912), S. 288–292, hier S. 292. 183 Hans Heinrich Ehrler: Die Liebe leidet keinen Tod. Stuttgart 1915, S. 3. 184 Ehrler: Frühlingslieder, S. 54. 185 Ehrler: Die Lichter schwinden im Licht, S. 80, auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs 1942 angeführt von Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 95 f.
3. „den Menschen den Weg erhellen“: Erbauungsliteratur im politischen Zusammenhang |
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Mit einer Literatur, der das wärmende und orientierende Licht fehle, konnte sich der literarische Heilsbringer nicht zufriedengeben. An Dostojewskis Idiot scheitert der fiktive Verfasser seiner Klosterbriefe folgendermaßen: „trotzdem mein Herz sich ihm [dem Buch] geben wollte, wurden seine Bilder grau und fremd, ungestalter Gallert der Verzweiflung. Es war von innen unsagbar gespenstisch beleuchtet und hatte kein Licht.“186 Die Formulierung vom ‚Gallert‘ erinnert unmittelbar an die Joyce-Kritik von Johannes Kirschweng mit der Diffamierung der Moderne als „Qualle“ aus „Muskel und Schleim“, der „katholische Formprinzipien“ entgegenzusetzen seien.187 Als die Aufgabe von Literatur verstand es der Sohn des Kerzenmachers, „den Menschen den Weg [zu] erhellen“.188 Die Gedichtsammlungen Die Lichter schwinden im Licht von 1932 sowie Unter dem Abendstern von 1937 führen diese Trostbildlichkeit bereits im Titel. Noch die Auswahlausgabe letzter Hand klingt 1950 auf den Vers aus: „In jeder Finsternis ist Licht!“189 Im Zweifelsfall ist es die Finsternis selbst, die in mystischer Paradoxie zum Leuchten gebracht werden muss: Der Schatten kreist schon eng um mich. Ich kann nach innen nicht entweichen. Ein Licht doch sammelt in mir sich, Das wird ihn bis zum Leuchten bleichen.190
Das komplementäre metaphorische Feld, das Ehrler bereits in den Briefen aus meinem Kloster, am konsequentesten aber im Roman Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm bearbeitete, ist das architektonische, in dem Erbauung so wörtlich genommen wird, wie sie im Alten und Neuen Testament entworfen ist.191 186 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 165. 187 Johannes Kirschweng: Katholizismus als Stoff- und Formwelt. In: Literarischer Handweiser 66 (1930), S. 801–810, hier S. 807. Vgl. dazu Frank Steinmeyer: „Weil über allem Elend dieser Zeit die Heimat steht“. Literatur und Politik im Werk von Johannes Kirschweng. St. Ingbert 1990. S. 61 ff. 188 Breucha: Hans Heinrich Ehrlers letzte Reise in die Heimat. 189 Hans Heinrich Ehrler: Unsre Uhr hat einen Zauberschlag. Tübingen 1950, S. 75. 190 Ehrler: Die Lichter schwinden im Licht, S. 45. 191 Vgl. die frühe und weitere Begriffsgeschichte bei Friedrich u. Krause: Erbauung, S. 18 u. S. 22, Klaus Scholtissek: Erbauung. In: Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Aufl. Hg. v. Walter Kasper. Bd. 3. Freiburg/Br. 1995, Sp. 738 f., sowie Susanne Schedl u. Dietz-Rüdiger Moser: Erbauungsliteratur. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Klaus Weimar. Bd. 1. Berlin, New York 1997, S. 484–488, hier S. 484; für dieses Wortverständnis z.B. auch die knappen populären Darstellungen von Hermann Alberts: Was ist Erbauung? Frankfurt/M. 1897,
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Ehrler, stets geneigt, seine humanistischen Sprachkenntnisse unter Beweis zu stellen, rekurriert auf οἰκοδομή (oikodomé) bzw. aedificatio als Errichtung des Hauses Gottes auf Erden. „Es muß gebaut werden“,192 lautet der Auftrag an die Figur des Sakralarchitekten im Baumeister Wilhelm, und das bedeutet die Suche nach Maß und Gleichgewicht, Festigkeit und Schönheit. Die architektonische Metaphorik spielt wiederum in die des Landbaus über, der für Ehrler ehrwürdigsten menschlichen Tätigkeit: Er berührte sie unter anderem in einer Episode des Baumeisters Wilhelm, in der der Protagonist einer Predigt über den „bedeutungsvollen Sinn des Bauernstandes“193 lauscht. In diesem Bildbereich erscheint der Dichter als Sämann Gottes und insbesondere das Grab als zu bebauendes Feld – in der für Ehrlers Duktus charakteristischen epigrammatischen Pointierung: „Es ist kein Grab, das nicht ein Acker wär.“194 Ehrler blieb allerdings nie beim nur Allgemeinmenschlichen stehen, sondern suchte stets die Beziehung zum Zeitpolitischen: „Wann wäre jemals“, sagt er am Ende der 1920er Jahre, „die Ackerfurche der Zeit so aufgerissen gewesen der Verkündigung?“195 Der Dichter ist eben „nicht nur Seher, sondern auch Säemann“, wie Lienhard für das Kriegsjahr 1917 sagen konnte.196 Gegen die moralische Verdächtigung des „unnützen Dichters“197 und der literarischen Fantasie, wie sie auch und gerade von christlicher Seite erfolgte, profilierte Ehrler die Dichterexistenz als Berufung und Erwählung zum christlichen Trostamt. Der Erbauungsdichter, wenn er gehört wird, kann vom Leiden an der menschlichen Daseinskontingenz befreien und hat somit Teil am religiösen Erlösungswerk. Er restituiert den in der „Zeit Mammons“ verlorenen „innere[n] Trostbesitz des gläubigen Zeitalters“,198 d.h. vor allem des reichsüberwölbten Mittelalters. Der poetologische Rückhalt für diesen pragmatisch-erbaulichen, „missionarische Gewalt und pädagogische Bedeutung“199 miteinander verbindenden Ansatz ist kaum beim sowie Richard Schmitz: Was ist Erbauung? Eine schriftgemäße Beleuchtung der Frage. Witten 1928, ferner Paul Eberhardt: Das Buch der Stunde. Eine Erbauung für jeden Tag des Jahres gesammelt aus allen Religionen und aus der Dichtung. Gotha 1915. 192 Ehrler: Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm, S. 229. 193 Ehrler: Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm, S. 30. 194 Hans Heinrich Ehrler: Simplicissimus-Kalender für 1911. München 1910, S. 14. Vgl. ders.: Das Gesetz der Liebe, S. 61. 195 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 157. 196 Friedrich Lienhard: Deutsche Dichtung in ihren geschichtlichen Grundzügen. Leipzig 1917, S. 5. 197 Vgl. zu diesem Motiv das Gedicht Des unnützen Dichters Lebenssachen in Ehrler: Gedichte [1919], S. 75 f. 198 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 29 u. S. 31. 199 Paulsen: [Rez.] Das Gesetz der Liebe.
3. „den Menschen den Weg erhellen“: Erbauungsliteratur im politischen Zusammenhang | 101
katholischen Literaturtheoretiker Carl Muth zu suchen, der die Erbauungsliteratur des 19. Jahrhunderts (wie von Christoph von Schmid und dem in der Reise ins Pfarrhaus gestreiften Alban Stolz200) in Übereinstimmung mit den dominierenden theologischen Negativurteilen über Erbauung (bezüglich Gefühlsbeschränktheit, Subjektivität, Sprach- und Vorstellungsverschleiß durch Gemeinplätze und Banalphrasen201) schon nicht mehr sehr hoch schätzte. Er ließ „Erbauung“ zumindest als eine „n o t w e n d i g e Folge“202 der richtigen Kunstübung gelten. Auch von jüngeren Konzepten der Literatur als tröstend-erhebendem Lebensfaktor wie maßgeblich bei Rudolf Alexander Schröder („Trost als Amt des Dichters“, „alle Kunst ist Erhebung aus dem Vergänglichen“203) war Ehrler nicht direkt inspiriert. Grundlegend für Ehrler scheint vielmehr die pantheistisch-lebensweltlich orientierte, an der „sittlich stärkende[n] Wirkung“204 der Kunst interessierte Ästhetik seines Würzburger Lehrers Johannes Volkelt. Unter Titeln wie Pantheismus und Individualismus (1872) sowie Kunst und Moral (1895) trat Volkelt wiederholt dafür ein, dass dem Künstler Rücksichten „auf das Gute, die Pflicht, das Gewissen“ nicht nur zuzumuten seien, sondern dass seine „Mitarbeiterschaft an der sittlichen Veredlung der Menschheit“ in der Natur der Sache liege. Das „Moralische“ bestünde dabei zum Wenigsten im Ver- und Gebieten, vielmehr im „Erarbeiten, Verfeinern, Vertiefen der inneren Lebenswerte“.205 Dazu aber dürfe die literarische Schilderung nicht einseitig auf dem „Gemeinen“ verweilen, sondern müsse „das Gute, Tüchtige, Sonnige“ nachdrücklich herausstellen, in der Folge „labend und ermutigend“ wirken.206 Volkelt verpflichtete den Schriftsteller, „an dem sittlichen Ringen seiner Zeit“, an den „um die Ideale geführten Kämpfe[n]“ aktiv teilzunehmen, nämlich im Geist der All-Liebe, d.h. „mildernd und versöhnend“.207 200 Ehrler: Die Reise ins Pfarrhaus, S. 19. 201 Vgl. Friedrich u. Krause: Erbauung, S. 27. 202 Carl Muth: Die litterarischen Aufgaben der deutschen Katholiken. Gedanken über katholische Belletristik und litterarische Kritik, zugleich eine Antwort an seine Kritiker. Mainz 1899, S. 59. Zu Muths autonomieästhetischen Anforderungen an eine ‚katholische Belletristik‘ vgl. Anton Wilhelm Hüffer: Karl Muth als Literaturkritiker. München 1959, S. 63 ff. 203 Rudolf Alexander Schröder: Vom Beruf des Dichters in der Zeit. Rede bei einer Tagung junger Dichter 1947. In: ders.: Die Aufsätze und Reden II. Frankfurt/M. 1952 (= Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd. 3/2), S. 24–57, hier S. 40 u. S. 43. 204 Johannes Volkelt: Kunst, Moral, Kultur. In: ders.: Zwischen Dichtung und Philosophie. Gesammelte Aufsätze. München 1908, S. 330–354, hier S. 342. 205 Volkelt: Kunst, Moral, Kultur, S. 331. 206 Johannes Volkelt: Kunst und Moral. In: Ästhetische Zeitfragen. München 1895, S. 1–41, hier S. 5, S. 7 u. S. 22. 207 Volkelt: Kunst, Moral, Kultur, S. 332–334.
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Besonders attraktiv musste für Ehrler die pantheistische Grundlage dieser Ästhetik sein, die sich an seine franziskanisch-katholische Jugendprägung anschließen ließ: Die „Symbolisierung“, schrieb Volkelt, also der basale Vorgang künstlerischen Schaffens, sei „nicht denkbar ohne einen pantheistischen Drang im menschlichen Gemüthe“. Denn sie bestünde letztlich darin, äußere Erscheinungen immerzu als „Ausdruck eines seelenvollen Inneren“ zu verstehen. Aus dieser Einheit des Geistes mit den Dingen ergebe sich erst das Wohlgefallen am Schönen, die ästhetische Befriedigung, bei welcher der Mensch in die „Weltharmonie“ aufgenommen werde.208 Ehrlers poetologische Disposition, die erst wieder um 1920 auch von jüngeren Lehrgebäuden wie demjenigen Hefeles neu beeinflusst wurde, ist von diesen Überzeugungen nachhaltig geprägt. Volkelts Schriften fallen nicht durch betont christliche Ansichten auf. Im Vortrag über Philosophie und Leben (1892) respektierte der Protestant, dass „das r e l i g i ö s e Verhalten“ den Menschen in unmittelbarer und zentraler Weise dem „Weltenherzen“ nahe rücke, dass der Mensch durch Philosophie und Kunst „schon mitten in der Zeitlichkeit der ewigen Ordnung der Dinge“ angehören könne. In einer Zeit aber, in der die Autorität von Kirchen und Religionen erschüttert sei, füllten Philosophie und Kunst die dadurch entstandene Lücke aus. Hierbei sah Volkelt die Chance, die „verzehrende Glut der religiösen Erregungen“ durch die mittleren und vermittelnden Zustände einer „Philosophie als G e s i n n u n g s g l a u b e “ zu ersetzen.209 Ausdrücklich empfahl er auch den Pantheismus, weil unter dessen Bedingungen „die Weltbejahung zugleich Bejahung Gottes, die Kulturarbeit zugleich Arbeit im Reiche Gottes“ sei.210 Die Bevormundung von „katholisch-scholastischen Ästhetikern“211 kam für Volkelt nicht in Betracht, womit er Ehrler über den ‚katholischen Literaturstreit‘, der Ende der 1890er Jahre ausbrach, hinweghob. Volkelt hatte selbstverständlich vor allem das klassisch-romantische Erbe und die realistische Gegenwartsliteratur im Blick, nicht so sehr die religiöse, von (scheinbar) „lebensdienliche[n] Belehrungen und Hilfen“212 durchzogene Literaturtradition, die als Referenzpunkt für Ehrler hinzukommt. In deren Rahmen aber 208 Johannes Volkelt: Der Symbol-Begriff in der neuesten Aesthetik. Jena 1876, S. 109, S. 113 u. S. 117. 209 Johannes Volkelt: Philosophie und Leben. In: ders.: Vorträge zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart. München 1892, S. 89–120, hier S. 104 f., S. 109 u. S. 114. 210 Johannes Volkelt: Philosophie und Religion. In: ders.: Vorträge zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart. München 1892, S. 121–164, hier S. 161. 211 Volkelt: Kunst, Moral, Kultur, S. 339. 212 Pittrof u. Schmitz: Geschichtskulturen des deutschsprachigen Katholizismus, S. 15. Vgl. zur dominanten Orientierung an Gebrauchsliteratur auch den Überblick von Hans Maier: Was sie lasen, wie sie schrieben. Die deutschen Katholiken und die Literatur. Münster 2004.
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ließ sich der Dichter, insbesondere seit den praktischen Anforderungen des Ersten Weltkriegs und seiner Folgen, auf eine Art seelenhygienische Dienstleistungen ein, die über das schulästhetisch Abgesicherte weit hinausgehen. Erbauungsliteratur hat eine Neigung, die Form in den Dienst der psychologischen Funktion zu stellen. Um „ein Trost zu werden“,213 d.h. als Gebrauchskunst zur Seelenstärkung, muss sie auch und gerade unter den schwersten psychischen Umständen, z.B. beim Tod eines Angehörigen oder bei eigener Krankheit, also dort, wo man keine emotionale Freiheit und ästhetische Distanz besitzt, vollkommen eingängig sein. Die Vereinfachung der künstlerischen Mittel für die Effizienz der Affektregulierung rückt Erbauungsliteratur in die Nähe des geistvoll Kunstgewerblichen und des bestenfalls gut gemachten, durch seine ästhetische Distanzlosigkeit gekennzeichneten Edelkitsches.214 Ehrlers Rezensent in den populärliterarischen Velhagen & Klasings Monatsheften äußerte sich hierzu noch zurückhaltend, wenn er feststellte: „Sein Stil ist seine Goldschmiedearbeit, nur selten wird er einmal süßlich, noch seltener alltäglich, hie und da wohl auch einmal stelzig.“215 Freundlich gehalten sind auch Umschreibungen, wie dass der Dichter seine Welt „in zarten Pastelltönen“216 male. Ehrlers Berater und Erstleser Hefele wurde schon deutlicher, wenn er den Freund nicht vor dem Vorwurf bewahren konnte, „manchesmal im Melodramatischen [versackt]“ zu sein.217 Die Machart dieser feierlich erhöhten, zugleich jedoch niedrigschwelligen Erbauungsangebote unterstützt die Re-Automatisierung verunsicherter Seelenprozesse auf der Basis des Wunschdenkens, simuliert im Krisenfall ein wahres Leben im falschen. Obwohl Ehrler sich und seine Leser mitunter fragte, z.B. im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg, ob man „sich die Konstruktion leisten kann, dieses Chaos habe einen Sinn gehabt“,218 fällt seine Antwort am Ende immer positiv aus. Zweifel, auch an der grundsätzlichen Fähigkeit des Dichters zur Erbauung,
213 Ehrler: Die Liebe leidet keinen Tod, S. 3. 214 Vgl. dazu eindrücklich Braungart: Kleine Apologie des Kitsches, ders.: Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen, sowie ders.: Erbauungsliteratur; an protestantischen Beispielen aus vier Jahrhunderten außerdem Rainer Lächele: Kitsch und Erbauung. In: Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen. Hg. v. Wolfgang Braungart. Tübingen 2002, S. 117–136; knapp zum Zusammenhang von Erbauung bzw. Erbaulichkeit und Kitsch auch Mohr, Procopé u. Wulf: Erbauungsliteratur, S. 64. 215 Strecker: [Rez.] Der Hof des Patrizierhauses, Die Reise ins Pfarrhaus, S. 549. 216 Norbert Langer: Die deutsche Dichtung seit dem Weltkrieg. Karlsbad, Leipzig 1940, S. 49. 217 Herman Hefele an Hans Heinrich Ehrler, 1. Juli 1930, DLA Marbach, Sign. A:Ehrler. 218 Hans Heinrich Ehrler: Sauerteig der Einigung. In: Das Wort in der Zeit 3 (1935/36), S. 769–771, hier S. 770.
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werden an den Buchanfängen so kokett gepflegt wie am Beginn von Briefe aus meinem Kloster: Ein Stoß Blätter liegt vor mir, bestimmt, ein Buch zu werden und den Menschen ein Licht der Liebe im finsteren Irrsal der Zeit. Aber ich weiß, die Blätter werden liegen bleiben, das Buch wird nicht an den Tag kommen. Ich habe nicht so viel Licht, oh vielleicht auch nicht so viel Liebe in mir, die Finsternis zu durchstoßen.219
Diese Hindernisse weichen nur allzu leicht dem kosmologischen Happy End, um den „Glauben an den Sinn der Ordo mundi nicht verderben zu lassen“.220 Ihrer äußeren Handlung nach enden Ehrlers Romane und Erzählungen zwar selten glücklich, viel eher mit Entsagung und Opfer; es bewähren sich in ihnen aber, gerade im Leid, die „Edelmenschen“ einer „bürgerlich-humanistische[n] Bildungsideologie“221, wie sie die Kitschliteratur bevölkern. Der luxemburgische Trivialschriftsteller Norbert Jacques hat über seine Freundschaft zu Ehrler geschrieben, sie sei „so ohne Zurückhaltung [gewesen], wie es nur zwischen Menschen vorkommen kann, die sich sonst bis auf den Grund ihres Wesens gänzlich verschieden“ seien.222 Und gewiss bringt man den Autor von Dr. Mabuse nicht ohne Weiteres mit dem Autor der Reise ins Pfarrhaus in Zusammenhang. Auf den zweiten Blick aber täuschte sich Jacques insofern, als seine geschickte Kolportage dem traditionalistisch verfeinerten Vulgäridealismus von Ehrler nahesteht. Hier wie dort regiert eine Mobilisierung der Gefühle, die in die Beruhigung und Bestätigung des Ich wie seiner Umwelt zurückführt. In Jacques’ Erzählungen wie Heidnischer Sonntag, Der Barockaltar und Mariens Tor (gesammelt 1922) sowie im Roman Siebenschmerz (1919) ist unübersehbar, wie das Sakrale einer routinierten ästhetischen Ausbeutung unterworfen wird. Das Kloster z.B. nutzte der selbst nicht gläubige Luxemburger als „Ort der Erbauung und Tröstung, der süßen rauschhaften Erhebung“223, um die richtige Fallhöhe für spektakuläre Verzweif219 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 1. 220 Hans Heinrich Ehrler: Von mir und meinen Ahnen. In: Die Neue Literatur 42 (1941), S. 239 f., hier S. 240. 221 Gert Ueding: Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage. Frankfurt/M. 1973, S. 113. 222 Jacques: Roman meines Lebens, S. 106. 223 Günter Scholdt: Der Fall Norbert Jacques. Über Rang und Niedergang eines Erzählers (1880– 1954). Stuttgart 1976, S. 183; vgl. zu den betreffenden Erzählwerken ebd., S. 66 ff., S. 73 ff. u. S. 181 ff.
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lungen und Persönlichkeitsstörungen zu erreichen. Diese säkulare, gewissermaßen gewerbliche Funktionalisierung der Religion ist mehr noch ein Problem in der Frömmigkeit Ehrlers, das er selbst jedoch kaum verarbeitete. Am häufigsten brachte er seine Leser durch gefällige, sanft-milde Formen einer Ästhetik des Erhabenen mit kosmischen Mächten in Kontakt, ohne damit eine Gefährdung zu verbinden. Dafür sei das kompakteste Beispiel eines charakteristischen Ehrlertextes gegeben, das Gedicht mit dem Titel Der Erde, das bereits in der ersten Auswahlsammlung von Ehrlers Lyrik, Gedichte (1919), steht, sodann auch in der Auswahl letzter Hand, Unsre Uhr hat einen Zauberschlag (1950) und das zuletzt auf dem Totenzettel des Autors 1951 Verwendung fand: Ich kam von dir, Ich bin in dir, Ich werde wieder dein. Nur eine Weile darf ich sein Ein Tropfen, der die Welt Schimmernd hält.224
Mikro- und Makrokosmos sind hier in einem von Ehrler sogenannten „Zaubertausch“225 verbunden, in dem zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nie etwas verloren geht, in dem ein Wunder immerzu im anderen aufgeht. Der Erbauungsdichter erkennt hierbei die Hoffnungs- und Trostzeichen, die Gott oder die Natur gibt, angefangen beim kleinsten Wassertropfen bis hin zu Sonne und Wolken wie in einem Text von 1913: Wie jetzt alles friedlicher sich breitet, Und das Laute rundet sich zum Lied… Auch die Sonne duldet, eh sie scheidet, Daß der Mensch ihr in das Antlitz sieht. Weiße Wolken, die ihr nachgekommen, Durch den Abend mit ihr heimzugehn, Hat sie an das Herz genommen Und läßt lang die Leuchtenden uns stehn.226
224 Ehrler: Gedichte [1919], S. 19. 225 Ehrler: Unter dem Abendstern, S. 19. 226 Ehrler: Frühlingslieder, S. 45.
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Als unversiegliche Quelle dieser Kraft kursiert ein göttlich garantiertes ‚Inneres‘, das Ehrler in vielen Gedichten wie dem folgenden, ebenfalls von 1913, als ‚erleuchtete Kammer‘ und ‚helles Haus‘ anrief: Ich gehe hin in toter Nacht, Die alles um mich schwinden macht. Und Weg und Steg ins Dunkel sank, Das jeden Schein und Schimmer trank. Ich aber gehe unverzehrt Vom Finstren, das auch mich begehrt. Und eine Kammer bin ich ganz, Die in dem Nichts trägt deinen Glanz.227
Mit Erde, Sonne, Nacht, gern auch mit dem Meer (wie in Beter am Meer228) und anderen Maximalgrößen (wie dem Kosmos in Johann Kepler. Harmonia mundi) durchlaufen Ehrlers Texte die Topik des Erhabenen, um das Ich vor diesen Mächten zu behaupten. Die literarischen Formen, die Ehrler verwendete, lassen sich erst vor dem erbaulichen Hintergrund korrekt identifizieren. Hinter den (auto)biografischen Romanen von durchgeistigten Sonderlingen stehen Heiligenviten,229 hinter seiner Publizistik in Offenen Briefen und Reden regieren die Modelle von Epistel, Predigt, Diatribe und Protreptikos;230 die beiden großen Sammlungen aphoristischesoterischer Betrachtungen oder Meditationen, Das Gesetz der Liebe von 1928 und Mit dem Herzen gedacht von 1938, klingen an das Weisheitsbuch des Kohelet und die Spruchgruppen der frühchristlichen Erbauungsliteratur an;231 die Gedichte geben ihre historischen Referenzen mit der Bezeichnung als „Trostgedichte“232 (wie in Opitz’ Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Kriegs von 1621) und mit Titeln wie Neuer cherubinischer Wandersmann an (im Verhältnis zu Angelus Silesius’ Cherubinischem Wandersmann von 1675), folgen den Formen des Lieds, Sonetts
227 Ehrler: Frühlingslieder, S. 51. 228 Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 135. 229 Vgl. Mohr, Procopé u. Wulf: Erbauungsliteratur, S. 38 ff. 230 Vgl. Mohr, Procopé u. Wulf: Erbauungsliteratur, S. 33. 231 Vgl. Mohr, Procopé u. Wulf: Erbauungsliteratur, S. 37. 232 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 83.
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und Epigramms, oft genug auch des Gebets und Segens.233 Ehrlers unter dem Titel Briefe eines Sterbenden begonnener, 1930 als Die Frist publizierter Roman über die Lebenseinrichtungen und Jenseitsvorbereitungen eines (angeblich) Todkranken aktualisiert gar die spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Erbauungsgattung des Sterbebüchleins.234 Die episodische, Lektüre erleichternde Untergliederung sämtlicher Romane Ehrlers hat ihre Entsprechung im erbauungsliterarischen „Strukturprinzip der Isolierung einzelner Erzähleinheiten“235. Die Reaktionen von Lesern, Rezensenten und Literaturhistorikern deuten denn auch immer wieder auf das in dieser literarischen Produktion angetretene und ausgefüllte Trostamt: „[D]as schönste Trostbuch, das ich kenne“, urteilte Ehrlers Freund Hefele über Die Frist.236 Die Leserzuschriften, die sich in Ehrlers Nachlass befinden und zu Werbezwecken teils auch gedruckt wurden, weisen erkennbar in die Richtung der erbaulichen Funktion, beispielsweise: „Möge Ihnen alles, was Sie uns an Erhebung und Trost geschenkt haben, von Gott wieder beschieden werden, so daß Ihr Leben fürderhin stetige Freude begleite.“ Andere danken für die „tiefe Beglückung“ und versichern, dass „der Trost, der allem Leiden innewohnt, [...] auch mich geklärt [hat]“.237 Nach späteren Berichten sollen Kriegsteilnehmer „immer wieder erzählt“ haben, dass sie „in der Fremde Kraft und Mut“ aus Liedern wie O Heimat, wir sind alle dein und Sammlungen wie Unter dem Abendstern geschöpft hätten.238 „Trost und Ruhe im schmerzvollen Gefühl der Vergänglichkeit“, versprach der Kritiker des Gral, des Kulturblattes der katholischen Ultras, von der Lektüre der Frist: „Dem rechten Leser“ werde es „viel bedeuten“.239 Gesicht und Antlitz konnten sich die Rezensenten in „Gestalt eines Breviers oder Stundenbuches“240 vorstellen. In Bezug auf die Aphorismensammlung Das Gesetz der Liebe wurde der Benediktinerpater Anselm Salzer in seiner verbreiteten Illustrierten Geschichte 233 Vg. Albrecht Beutel, Ulrich Köpf u. Josef Weismayer: Erbauungsliteratur. In: Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Aufl. Hg. v. Walter Kasper. Bd. 3. Freiburg/Br. 1995, Sp. 1386–1392, hier Sp. 1388. 234 Vgl. zu Erbauung und Sterbekunst knapp Beutel, Köpf u. Weismayer: Erbauungsliteratur, Sp. 1389. 235 Wolfgang Brückner: Thesen zur literarischen Struktur des sogenannt Erbaulichen. In: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Hg. v. dems., Peter Blickle u. Dieter Breuer. Wiesbaden 1985, Bd. 1, S. 499–507, hier S. 502. 236 Herman Hefele an Hans Heinrich Ehrler, 23. März 1930, DLA Marbach, Sign. A:Ehrler. 237 Dank an Hans Heinrich Ehrler, S. 4. 238 Schulz: Hans Heinrich Ehrler, S. 60 f. 239 Ernst Alker: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Die Frist. In: Der Gral 26 (1931/32), S. 71. 240 Hans Böhm: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Die Lichter schwinden im Licht. In: Deutsche Zeitschrift. Monatshefte für eine deutsche Volkskultur [vormals: Der Kunstwart] 46 (1932), S. 723 f.
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der deutschen Literatur terminologisch vollends – und zu Recht – eindeutig: Es handle sich um eine „Erbauungsschrift“, deren „metaphysisch-moralischer Gehalt […] zugleich ästhetischen Genuß“ bereite. Der Terziar, Laientheologe und „Dichter-Philosoph“ Ehrler ziehe einen „Hauch weicher und stiller Jenseitspoesie über die reale Wirklichkeit“, um die „rauen Seiten und scharfen Kanten“ des Lebens „unter schwermütigem Schleier schwinden“ zu lassen.241 In einer postumen Auswahlausgabe der Gedichte, die 1955 unter dem Titel Das Unvergängliche im Verlag der missionsorientierten Pallottinerkongregation erschienen ist, verspricht das Vorwort des einschlägigen katholischen Publizisten Erwin Karl Münz dem Leser, mit diesen Texten „über den Berg des Leides hinwegzukommen“ und sich von der „Heerstraße der zermürbenden Alltäglichkeit“ zu entfernen. Der Dichter gewinnt eine eigene Kompetenz zur Heilsvermittlung: „Wir öffnen uns der Gnade, in die uns ein begnadeter Dichter führt.“242 Bemerkungen wie von Münz erinnern daran, dass Erbauungsliteratur den ‚Inneren Menschen‘ und nicht das Gemeindemitglied anspricht, damit immer schon einen Impuls zur Privatisierung und zur Herauslösung aus den amtlichen Heilsinstitutionen entwickelt. Sie opfert die Klarheit des Dogmas und der Konfessionsgrenzen dem praktischen seelsorgerischen Nutzen und bewahrt diesen funktionalen Primat gerade auch in einem synkretistischen Religionszugriff und einer semisäkularisierten Naturreligiosität.243 Hier trennt sich Ehrlers Weg sachlich von der Liturgischen Bewegung, in der die Laien zwar ebenfalls das Natürliche, Kreatürliche und Organische suchten, zu diesem Zweck aber das Objektive, Normative und Gemeinschaftliche der kirchlichen Feier besiedeln und in die Welt bringen wollten. Die Liturgie als religiöse Praxis jedes Gläubigen zu verlebendigen, führt den Einzelnen an die Kirche sowie ihre Priester heran, welche die gesicherte Vermittlung zu Gott übernehmen. Für den prophetischen Priesterdichter 241 Salzer: Illustrierte Geschichte der deutschen Literatur, S. 1951 f. 242 Erwin Karl Münz: Vorwort. In: Hans Heinrich Ehrler: Das Unvergängliche. Gedichte. Hg. v. Erwin Karl Münz. Friedberg bei Augsburg 1955, S. 5 f. – Für die jüngere Verwendung von Ehrlertexten in der christlichen Lebenshilfe vgl. das Beispiel von Alois Keck: Über Emmaus hinaus. In: Des Todes Dunkel ist erhellt. Von Palmsonntag bis Ostern. Ideen und Modelle. Hg. v. Heribert Feifel. Ostfildern 2004, S. 193 f., unter Bezug auf das Gedicht Emmaus. 243 Vgl. dazu Mohr, Procopé u. Wulf: Erbauungsliteratur, S. 49: Das „Prinzip der Innerlichkeit unterstreicht […] nicht die Notwendigkeit der Kirche als einer hierarchischen Organisation, sondern bedeutet doch eine deutliche Unabhängigkeit von ihr“; weiterführend Scheitler: Frömmigkeit ohne Konfessionsgrenzen, sowie Gerhard Sauder: Erbauungsliteratur. In: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789. Hg. v. Rolf Grimminger. 2. Aufl. München 1984 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 3/1), S. 251–266, bes. S. 264 f.
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blieb darin kein Platz. Für die Kommunion brauchte Ehrler, der aus dem neuwürttembergischen Milieukatholizismus kam, aber im evangelisch geprägten Kulturleben von Stuttgart lebte und arbeitete, die längste Zeit – bis 1944 (s. Kap. VI.1) – keinen Priester und keine Messe. Den Gottesdienst behandelte er als eine Form der „freundlich ernsten Meditation“244. Der Katechismus gar liegt in Ehrlers erzählten Welten „irgendwo unten bei den vergessenen Schulbüchern“245, überlagert von Klassikerausgaben. Seinen Freunden galt er als „ein Frommer“, aber „fromm nicht im kirchlichen Sinn“.246 Loerke war ohnehin der Auffassung, dass der Dichter dort beginnt, „wo der Ketzer beginnt, – kein Ketzer vor der Religion, aber vor dem gestrengen Gerichtshofe der Konfession“.247 Und selbst der Romanist Hefele, der den literarischen Katholizismus in Italien, Spanien und Frankreich bewunderte, wollte für die deutsche Situation nicht zum Versuch einer im strengen Sinn fromm-katholischen Literatur geraten haben, denn damit sei man bisher doch nie über „kümmerliche und jämmerliche Erzeugnisse tendenziöser Mache“ hinausgekommen.248 Wie beim Handwerk des Synkretismus ist diese „individualistische Nuance“ freilich nicht etwas, was vom Dichter eingestanden würde. Die poetologische Intention geht nicht auf Erbauung als „Selbstverwirklichung“, sondern als „ekklesiologische[n] Akt“, der sich über den Einzelnen auf die (Leser-)Gemeinde auswirkt.249 Ehrler verstand sich nicht als Individualisierer des Geistig-Geistlichen, sondern als Objektivist des ‚Inneren Reichs‘. Zeichnet sich Erbauungsliteratur einerseits durch eine Tendenz zur Autonomie gegenüber der Kirchengemeinde ab, so besitzt sie andererseits – als konsolatorische und kompensatorische Publikumsliteratur – ein spezifisches Potential zur gesellschaftlichen Stabilisierung und politischen Instrumentalisierung. Das gilt für den frühneuzeitlichen Absolutismus250 wie auch wieder unter anderen Bedingungen für die nationalsozialistische Kultur244 Ehrler: Der Spiegel des Hoch- und Deutschmeisters Maximilian Franz, S. 7. 245 Ehrler: Briefe vom Land, S. 35. 246 Krauss: [Rez.] Die Frist, S. 104. 247 Oskar Loerke: Konfessionelle Dichtung (1922). In: ders.: Der Bücherkarren. Besprechungen im Berliner Börsen-Courier 1920–1928. Hg. v. Hermann Kasack. Heidelberg 1965, S. 218. 248 Herman Hefele: Über die Möglichkeiten einer katholischen Literatur. In: Der Gral 14 (1920), S. 231–240, hier S. 232. 249 Vgl. Friedrich u. Krause: Erbauung, S. 19. 250 Zum „Zusammenhang zwischen der Krise der allgemeinen Lebensverhältnisse im 17. Jahrhundert und der erhöhten Nachfrage nach Literatur, die Trost spendete“, nämlich den „Unversorgten und Kranken, hochbetrübten Seelen, Schwermütigen und Irrenden“, vgl. immer noch Hartmut Lehmann: Das Zeitalter des Absolutismus. Gottesgnadentum und Kriegsnot. Stuttgart 1980, S. 114–123 („Trost und Erbauung“), Zitate S. 116 u. S. 118.
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politik, in deren jüngerer Erforschung man die Kategorie der Erbauung nutzbringend verwendet hat (s. Kap. I.3). Sie begleitet und moderiert soziale Umbrüche und Katastrophen, dient zu den sprichwörtlichen ‚Sonntagsreden‘, bringt menschliche Grundwerte in Erinnerung, ohne Einzelthemen der politischen Debatte zu vertiefen. Dies geschieht nicht notwendig, aber leicht im beschwichtigenden und buchstäblich quietistischen Sinn: Ehrler hat seine Bücher auch als „Reihen schmaler Särge“ beschrieben, in denen „das Vergebliche und der Schmerz […] still geworden sind. Ein verstummter Lärm der Gefühle.“251 Rudolf Schenda, der in seiner wegweisenden Sozialgeschichte der populären Lesestoffe bis 1910 die Erbauung in eine Funktionstrias neben Unterhaltung und Belehrung gestellt hat, sprach ihr sicherlich nicht unberechtigt eine Neigung zu, die Entwicklung von Selbsttätigkeit und Sozialbewusstsein zu hemmen.252 So konnte sie auch eine Rolle in der „affirmativen Kultur“ (Herbert Marcuse) des Dritten Reichs übernehmen. Wie politische Literatur präsentiert Erbauungsliteratur den Erzähler oder Sprecher als zum Reagieren aufgerufenen Betroffenen einer politisch-historischen Realität. Im Unterschied zur politischen Literatur reagiert sie aber mit Lösungen aus einer überzeitlichen Wertsphäre. Sie transzendiert die politisch-historische Realität auf die ‚ewigen Werte‘ hin. Und sie inkludiert das Ewige im Zeitlichen, was Ehrler in die Formel vom ‚Reich im Reich‘ oder vom ‚Inneren Reich‘, im Sinne eines „Reich[s] des deutschen Geistes“253, gekleidet hat. Die damit angesprochene Reichsmetaphysik erfüllte in der klaren Einschätzung ihres schärfsten zeitgenössischen Analytikers und Kritikers, des Kölner Publizisten Waldemar Gurian, nicht zuletzt erbauliche Funktionen, indem sie „über die Not des Alltags erhebt“ und „über die trostlose Gegenwart hinweg[hilft]“: „Die Hoffnung auf das Reich ist der Einbruch des Glaubens in die Welt der politischen Verzweiflung und des wirtschaftlichen Niedergangs.“254
251 Hans Heinrich Ehrler: Herbst. Letzte Aufzeichnungen eines tot gefundenen Mannes. In: März 6 (1912), S. 501–504, hier S. 503. 252 Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770– 1910. 3. Aufl. Frankfurt/M. 1988, S. 27 u. S. 321 ff. 253 Hans Heinrich Ehrler: Abschied von Herman Hefele [Gedicht]. In: Dichtung und Volkstum. Neue Folge des Euphorion 38 (1937), S. 251, sowie ders.: Der Vierröhrenbrunnen. München 1941, S. 9 f. 254 Gurian: Um des Reiches Zukunft, S. 123 u. S. 128.
4. „Jünger des Poverello“: literarischer Franziskanismus | 111
4. „Jünger des Poverello“: literarischer Franziskanismus
Die umfangreichste erbauungsliterarische Überlieferung des Mittelalters, so der frömmigkeitsgeschichtliche Befund, rankte sich um die Person des Franziskus von Assisi.255 Mit dieser autoritativen Tradition verbindet den Erbauungsschriftsteller Ehrler, dass er einen regelrechten literarischen Franziskanismus ausgebildet hat. Seine treuesten Leser haben sich nicht in ihm getäuscht, als sie ihn den „Dichter der österlichen, vom Krampf der engen Ichbezogenheit erlösten Erde“ nannten und ihm eine „heilige[] Ehrfurcht vor allen Dingen“ nachsagten: die „Wiederentdeckung des Seins“ und eines „unpersönlichen Lebensstromes, der durch die Gefäße der gesonderten Wesen“ fließe.256 Auch wenn man bestritt, dass es sich dabei um „Wallungen […] im Geiste des landläufigen, oft so ruchlosen ästhetischen Pantheismus“ handle,257 berührte man den neuralgischen Punkt. Wer sprach so viel je wie die stummen Dinge, Gleich Blume, Stein und Gras und gleich dem Baume, Wenn keine Regung als zwei Schmetterlinge Und ungemeines Lauschen doch im Raume?258
So lautet, veröffentlicht zunächst im Märzheft 1928 des Grals und danach in der Gedichtsammlung Gesicht und Antlitz, eine der charakteristischen Fragen aus Ehrlers persönlichem Katechismus. Ehrfurcht vor der Schöpfung, Leben im Jahreskreis, Beziehungen zu ländlichen Gegenden und dem vermeintlichen Traditionalismus auf dem Lande, die Idealisierung einer anspruchsvollen Bescheidenheit des Bäuerlichen und dies alles in der Regel ohne direkte persönliche Konfrontation mit dem Landleben sind die Bindeglieder zwischen einem Großteil katholischer Autorinnen und Autoren wie Richard Billinger (Über die Äcker, 1923), Friedrich Deml (Die Sprache der Dinge, 1932), Heinrich Lersch (Der grüßende Wald, 1927), Josef Magnus Wehner (Der blaue Berg, 1922) und Leo Weismantel (Das alte Dorf, 1928).259 Mehrere von ihnen 255 Vgl. Beutel, Köpf u. Weismayer: Erbauungsliteratur, Sp. 1387. 256 Elisabeth Heyer: Einer, der Gott nahe kam. Hans Heinrich Ehrler. In: Das Wort in der Zeit 4 (1936/37), S. 150–154, hier S. 150 u. S. 153 f. 257 Böhm: [Rez.] Die Lichter schwinden im Licht, S. 723. 258 Hans Heinrich Ehrler: Das Unsägliche. In: Der Gral 22 (1927/28), S. 370; dass. In: Gesicht und Antlitz, S. 29. 259 Vgl. dazu materialreich Viehoff-Kamper: ORPLID, S. 88 ff. Zur „Heimatkunst als Begegnungsort der ‚katholischen‘ und der ‚nationalen‘ Bewegung“ instruktiv Maria Cristina Giacomin:
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kamen dadurch in direkte Berührung mit dem, was der Nationalsozialismus forderte und förderte, z.B. Deml in Die fränkische Fuge (1937), Wehner in Geschichten aus der Rhön (1935) und Weismantel in Die Sonnenwendfeier des jungen Deutschland (1933). Ehrler zeichnet sich vor diesem Hintergrund durch eine konsequente, in den Quellen belesene und in der Praxis vollzogene Verpflichtung auf Franz von Assisi aus. Der Dichterprophet und Erbauungsschriftsteller ist Mittler nicht allein zwischen Vergangenheitskontinuum, Gegenwart und nahender Erneuerung. Er vermittelt auch gegenüber den Schöpfungsgegenständen vom Goldkäfer bis zum Gestirn. Wie er die Inspiration des Göttlichen aushält und davon erfüllt wird, vermag er auch – als christlicher Antityp des Ikarus – in die Sonne zu sehen und bekommt davon die goldenen Augen des Naturheiligen Franziskus. Ehrlers Schul- und Studienzeit war für diesen Komplex wohl weniger prägend als die Privaterziehung bei Pfarrer Johannes Ries, die der autobiografische Tagebuchroman Die Reise ins Pfarrhaus ganz im Licht des Franziskanismus behandelt. Zum Zeichen seiner Gesinnung trägt der jugendliche Protagonist Jakob den hänfenen Gürtel, das „cingulum vom dritten Orden des heiligen Franziskus“,260 des Laienflügels der Franziskaner, mit dem sich der Tertiar hinter vierhundert Jahre rationalistischer Weltauffassung zurückversetzen will. Der Pfarrherr Konrad Steinherr, bei dem Jakob in die Schule geht, ist ein Freigeist und Pantheist, der auffällig eng mit seiner Haushälterin zusammenlebt und bei seinem Tod ein umfängliches Manuskript mit dem Titel „Der heilige Zweifel“ hinterlässt. In dieser Figur resonieren fast sämtliche Elemente eines besonders im deutschen Südwesten wirksamen katholischen Liberalismus, der mit der Ultramontanisierung im Gefolge des Ersten Vatikanischen Konzils in Bedrängnis geriet: verinnerlichte Moral, Naturwertschätzung, Individualismus, fakultative Priesterehe, Kooperation mit dem Protestantismus und Sympathien für die Lutherbibel, Kultivierung des Zweifels statt der Hierarchie.261 Aus der (josephinischen) Aufklärung entstanden, entwickelte sich Zwischen katholischem Milieu und Nation. Literatur und Literaturkritik im Hochland (1903– 1918). Paderborn, München u.a. 2009, S. 77 ff. (Zitat S. 77), sowie ebenfalls am Beispiel des Hochlands Otto Weiß: Kulturkatholizismus. Katholiken auf dem Weg in die deutsche Kultur 1900–1933. Regensburg 2014, S. 69 ff. Zum „Topos des Bäuerlich-Katholischen“ in der Selbststilisierung Georges vgl. Braungart: Ästhetischer Katholizismus, S. 177 f. (Zitat S. 177). 260 Ehrler: Die Reise ins Pfarrhaus, S. 20. Zum Dritten Orden des hl. Franziskus als Teil des katholischen Vereinswesens vgl. am Beispiel des Oberamts Esslingen Henning Pahl: Die Kirche im Dorf. Religiöse Wissenskulturen im gesellschaftlichen Wandel des 19. Jahrhunderts. Berlin 2006, S. 206 f. 261 Vgl. Irmtraud Götz von Olenhusen: Klerus und abweichendes Verhalten. Zur Sozialgeschichte katholischer Priester im 19. Jahrhundert. Die Erzdiözese Freiburg. Göttingen 1994, S. 277 ff.; aus klerikaler Sicht Schatz: Der Weg des deutschen Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert,
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dieser katholische Liberalismus im Zusammenhang mit der bürgerlich-revolutionären Bewegung des 19. Jahrhunderts. Ehrlers Konrad Steinherr ist ein geistlicher ‚48er‘ und darin durchaus im Einklang mit der Erscheinung Uhlands, die Ehrler ausgiebig verehrte (s. Kap. IV.1). Der Intimus des solchermaßen historisch-realistisch gezeichneten Reformgeistlichen, der Pfarrer der Nachbargemeinde, ist demgegenüber eine fantastischere Erscheinung. Er geht unter dem Namen des „Poverello“, wird stets von einem Hund und einem Reh begleitet und praktiziert eine schwärmerische Franziskusnachfolge in abgerissenen Kleidern und weltfrommen Reden wie: „glaubt mir, der euch diese Erde geschaffen hat, der will, daß ihr sie liebet und froh darin wandelt“.262 Diese Priesterfigur variiert diejenige von Ehrlers erstem Roman, Briefe vom Land, über deren Religiosität es unmissverständlich heißt: „[D]as Katholische ist in seine Gefühlswelt als eine allhin Liebe atmende Schwärmerei übergegangen, der das dogmatische und liturgische Gehäuse schließlich nur noch das Symbol blieb für einen Zustand mystischer und pantheistischer Gottinnigkeit.“263 Unter diesem Einfluss lernt der Terziar Jakob die Lehren des „Meister[s] der Liebesheiligkeit“ und erfährt die „Geschwisterschaft des Menschenwesens mit der Umwelt der Pflanzen und Tiere, des Erdreichs, des Wassers, der Luft und des Lichtes“, wobei der lateinische Titel des Sonnengesangs, Canticum fratris solis vel laudes creaturarum (1224/25), anklingt.264 In einem von viel Blut und Boden grundierten Lichtbad durchlebt der Schüler überschwängliche Einheitserfahrungen wie die folgende: Da geschah ihm, als ob die Erde unter ihm und das Gras um ihn tausende unsichtbare Saugfäden ansetzten, als ob diese in einem schmerzlosen Wohlgefühl sein Bewußtsein, sein Blut und seinen Körper aufsögen und die schwindende Luft seiner Wesenheit durch alle hunderttausend Halme und Rispen und Blüten emportrieben, als ob die Fliegen und Käfer noch davon tränken und sich betränken. Er empfand sich versehrt, und sah sich selber als das lichte Gitter, das um ihn wirkte.265
S. 72–78 („Die Radikalisierung im südwestdeutschen Liberalkatholizismus“), zur Auseinandersetzung zwischen Ultramontanismus und Liberalkatholizismus ebd., S. 106 ff. 262 Ehrler: Die Reise ins Pfarrhaus, S. 107. 263 Ehrler: Briefe vom Land, S. 127 f. 264 Ehrler: Die Reise ins Pfarrhaus, S. 44 u. S. 119. 265 Ehrler: Die Reise ins Pfarrhaus, S. 171.
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Der Literaturhistoriker Theodor Klaiber hat bereits 1916 festgehalten, dass die Personen der Reise ins Pfarrhaus „in ihrer gottinnigen Weltfreudigkeit würdige Jünger Goethes und des heiligen Franz“ seien.266 Franz von Assisi, der seinem kapitalkräftigen Vater das Erbe vor die Füße wirft, in der ‚heiligen Armut‘ das Liebesgebot radikalisiert und damit den ordo mundi von der Vertikalen in die Horizontale kippt, war eine Ikone der Lebensreformbewegung, der Gesang an den Bruder Sonne ein von der Legendensammlung der Fioretti oder Blümlein (um 1390) kommentierter Schlager. Der Spielmann Gottes, Prediger der Vögel und Fische, bot eine der reinsten Verkörperungen des Dichterpropheten und das Inbild eines ‚göttlichen Künstlers‘, der sich gerade auch durch seine intensive Wirkung auf die Welt und die Weltlichen auszeichnet.267 Höchste Geistigkeit und naivste Volkspoesie fand man hier dazu vereinigt, in jedem Blütenkelch und jeder Vogelstimme ein Heilsversprechen zu vernehmen – sichtlich das Rezept für Ehrlers Romane und Gedichte, die vorwiegend an den vielen kleinen Zeichen der Schöpfung, dem „Zeichenreich Natur“268, die Existenz und das Kommen des Reichs ablesen wollen. Der ein Jahrzehnt, bis um 1920, anhaltende Erfolg von Ehrlers Reise ins Pfarrhaus ist mithin der Erfolg des alternativen franziskanischen Lebensmodells, das Brüderlichkeit statt Patriarchat, Besitzlosigkeit statt Kapitalismus und Natur statt Verstädterung versprach. Friedrich Heiler, einer der taktgebenden Religionswissenschaftler seiner Zeit, fasste in einer großen Franziskusstudie von 1926 zusammen, dass sich die „treuesten Söhne der römischen Kirche“, „fromme Lutheraner und Calvinisten“ und „selbst moderne Freigeister“ an der „heißen Liebe dieses gottbegnadeten Frommen gesonnt“ hätten.269 Wen Heiler mit den Freigeistern meinte, konnte den Zeitgenossen nicht zweifelhaft sein. Rilke, angeregt von Paul Sabatiers bahnbrechender Biografie Vie de Saint François d’Assise (1893), umkreiste den großen Armen von Umbrien und Bruder der Nachtigallen im dritten Teil des Stunden-Buchs (1903).270 Hermann 266 Theodor Klaiber: Literatur. In: Württemberg unter der Regierung König Wilhelms II. Hg. v. Viktor Bruns. Stuttgart 1916, S. 501–540, hier S. 518. 267 Für die Gründe vgl. Anton Rotzetter: Franz von Assisi. Erinnerung und Leidenschaft. Freiburg/ Br. 1989, S. 147–164 („Poesie und Ritual als Elemente der franziskanischen Spiritualität“). 268 Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 100. 269 Friedrich Heiler: Der heilige Franz von Assisi und die katholische Kirche. In: Franz von Assisi. Hg. v. Alfred von Martin. Stuttgart 1926 (= Una Sancta, Sonderheft 2), S. 19–61, hier S. 21. 270 Vgl. bes. das Schlussgedicht O wo ist der, der aus Besitz und Zeit in: Rainer Maria Rilke: Gedichte 1895 bis 1910. Hg. v. Manfred Engel u. Ulrich Fülleborn. Frankfurt/M., Leipzig 1996 (= Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Bd. 1), S. 251 f. Dazu ansatzweise Jürgen Werinhard Einhorn: Franziskus im Gedicht. Texte und Interpretationen deutschsprachiger Lyrik 1900–2000. Kevelaer 2004, hier S. 2 ff.
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Hesse widmete dem Naturpriester und Wundermann 1904 eine Monografie mit biografischem Essay, Legendennacherzählungen und einer Neuübersetzung des Sonnengesangs, legte außerdem eine Episode seines Romandebüts Peter Camenzind (ebenfalls 1904) nach Assisi.271 In Theodor Däublers Totalepos des Abendlandes, Nordlicht (erste Fassung 1910), stehen Leben und Lehren des pater seraphicus für die Aufwallung des Inneren, für ein „wunderbares Dichterthum und Grundvermuthen“, das nicht allein das „hohe[] Lied der Erdengluthen“ singt, sondern auch die „Welterlösung“ des ‚Dritten Reichs‘ in Aussicht stellt.272 An späterer Stelle in Nordlicht tritt der charismatische Liebesheilige in einem größeren Reigen italienischer Geistesgrößen auf, von denen jede ihre Kernbotschaft in einer kurzen Ansprache verkündet. Bei Franziskus endet sie mit den Immanenz und Transzendenz verschränkenden Versen, die zugleich die Herrschaftsmacht seiner nicht hinterfragbaren Lehre der Verehrung reklamieren: Ich stehe fest und möchte dennoch fort nach oben, Oh Gott, wozu verleihst Du mir so hehre Macht? Empor, empor, empor zu Gottes mildem Frieden! Die Völker liegen unter mir in stiller Ruh! Ich suche Gott und bleibe dennoch ganz hienieden. Ich herrsche, folge, und wer früge noch: Wozu?273
Gerhart Hauptmann pflegte seit 1912 seinen persönlichen Franziskuskult, trug zur literarischen Inspiration das Ordensgewand und stellte einen neuen Franziskus in der Figur des jungen naturgläubigen Pfarrers Francesco im Ketzer von Soana auf (1911 begonnenen, 1918 erschienen).274 Stefan George besang Franciscus Assisias 271 Vgl. Hermann Hesse: Franz von Assisi. Mit farbigen Bildern der Fresken von Giotto und einem Essay von Fritz Wagner. 4. Aufl. Frankfurt/M. 1995 (zuerst 1988). Dazu Einhorn: Franziskus im Gedicht, S. 48 ff., sowie Decker: Hermann Hesse, S. 213 ff. Vgl. auch die Bearbeitungen durch Otto von Taube sowie Rudolf G. Binding: Blütenkranz des heiligen Franciscus von Assisi. Übers. v. Otto von Taube. Mit einer Einführung von Henry Thode und Initialen von F. H. Ehmcke. Jena 1905, Die Blümlein des heiligen Franziskus von Assisi. Übers. v. Rudolf G. Binding. Leipzig 1911. Zu Taubes, von Paul Ernst angeregter Ausgabe vgl. Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs, S. 204, S. 234, S. 443 u. S. 697. 272 Theodor Däubler: Das Nordlicht. Hg. v. Stefan Nienhaus u. Dieter Werner. Dresden 2004 (= Kritische Ausgabe, Bd. 6), Tl. 1, S. 199 f. 273 Däubler: Das Nordlicht, Tl. 1, S. 305 f. 274 Vgl. Peter Sprengel: Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum. Eine Biographie. München 2012, S. 433 u. S. 444, dazu Abb. 72 auf S. 522.
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in Der Stern des Bundes (1914) als den verehrungswürdigen Geistesaristokraten, der mit des „adlers blick“ in die Sonne gesehen und den „unrat“ der Welt mit „seraphischem licht“ gefärbt habe.275 Ernst Stadler hat die Quatorze prières des Renouveau catholique-Dichters Francis Jammes unter dem Titel Franziskanische Gebete (1915) übersetzt.276 Heimito von Doderer, der bei seiner Konversion 1940 den Namen Franz angenommen hat, bearbeitete Teile der Franziskuslegende in seiner frühen, Mitte der 1920er Jahre entstandenen Erzählung Seraphica.277 Der verstorbene Hugo von Hofmannsthal schließlich wurde – von seinem Fotografen Arthur Benda inszeniert – im Gewand des Dritten Ordens aufgebahrt, was Ehrler in seinen Roman Die Frist von 1931 befriedigt aus einer Zeitungsnachricht aufnahm.278 Das Vorbild des Franziskus erfüllte für eine bürgerliche Bildungsschicht, die sich in der industrialisierten Massengesellschaft behaupten wollte, offensichtlich einige zentrale Funktionen. So half es, eigene und anderer Armut als Lebenseinstellung, als Prozess einer inneren Reinigung und Befreiung zur Welt des Ewigen zu überhöhen. Wie sich Ehrler in seinem Gedicht Heilige Armut ausdrückte: „So darf ich alles von mir gleiten lassen! / […] Daß keine Falte mehr Begierde hehle.“279 ‚Nichts haben, alles besitzen‘ – dieser Richtlinie zufolge eröffnet die Trennung vom Einzelnen die Erlangung des Ganzen.280 Das Modell des Umbriers schien für eine antimoderne oder von einer „falschen Moderne“ (Jost Hermand) gelenkte Poetik das Problem zu lösen, wie einsame Auserwähltheit und menschenfreundliche Popularität des Dichters, seine Priesterlichkeit und Brüderlichkeit miteinander zu vereinbaren seien.281 Denn Franz von Assisi war nicht nur, in den Alverner Bergen, den „dreifach gestaffelten Weg der via contemplativa“ gegangen: „via purgativa, via illuminativa, via unitiva“, sondern er schritt weiter auf der „via activa“ und brachte das Ordensleben erstmals in die Städte, in denen er als Minderbruder (frater minor) Diener der Ärmsten sein wollte.282 Während sich die neuen religiösen Bewegungen der Zeit überwiegend aus außereuropäischen Glaubensquellen oder 275 Stefan George: Der Stern des Bundes. Bearb. v. Ute Oelmann. Stuttgart 1993 (= Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. 8), S. 45. Vgl. dazu Einhorn: Franziskus im Gedicht, S. 19 ff. 276 Vgl. Ernst Stadler: Franziskanische Gebete von Francis Jammes. In: Die weißen Blätter 2 (1915), S. 551–564. 277 Vgl. Heimito von Doderer: Seraphica. Montefal. Zwei Erzählungen aus dem Nachlaß. Hg. v. Martin Brinkmann u. Gerald Sommer. München 2009. 278 Vgl. Hans Heinrich Ehrler: Die Frist. München 1931, S. 126, dazu Heinz Hiebler: Hugo von Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne. Würzburg 2003, S. 313. 279 Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 147. 280 Vgl. Heiler: Der heilige Franz von Assisi, S. 22 f. 281 Vgl. zu diesem Dilemma Haß: Militante Pastorale, S. 171 ff. 282 Heiler: Der heilige Franz von Assisi, S. 22 u. S. 46 f.
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aus einer neu erfundenen Germanenmythologie stärkten,283 bot der italienische Heilige sowohl eine Alternative zur materialistischen Gegenwart als auch einen Anschluss an bewährte Traditionen. Seine Figur ließ sowohl exotistischen Eskapismus wie auch völkischen Nationalismus vermeiden und verband den Wunsch nach Veränderung mit einem europäischen Horizont, spirituelle Radikalität mit sozialer Verantwortung. Gleichzeitig bot er in der Sache eben doch eine Brücke zu den ‚östlichen Weisheitslehren‘ an, in erster Linie zu den Upanishaden, die Ehrler immer wieder in direkter Nachbarschaft zu Franziskus verwendete: „Mensch und Tier und Meer und Land / Sind [nur] des Ewigen Gewand“, zitierte er aus der Upanishaden-Nachdichtung von Paul Eberhardt (wobei er „nur“ strich, um den Wert der Natur nicht zu relativieren).284 Tat twam asi (Dies bist Du) titelt ein Gedicht in Gesicht und Antlitz. Mehrfach wird das „Buch indischer Weisheit“ im Baumeister Wilhelm bemüht, darunter die optimistische Aufforderung: „Nimm, was die Erde gibt, in dich ein! / Es wird sich klären, wenn du älter bist.“285 Franciscus Assisias ist der Heilige der All-Umfassung aus Liebe – Liebe als das „Urgesetz“, als religio und Bindung verstanden, durch welches das Denken bereits religiös sei, bevor es christlich werde, so Ehrler in seinem programmatischen Buch Das Gesetz der Liebe.286 Der Franziskanismus in seiner Konzentration auf das Gemeinsame der Religionen und Kulturen ist als Bestandteil zugleich der Motor von Ehrlers Synkretismus. Am wenigsten – darin liegt historische Ironie neben orthodoxer Konsequenz – vermochte die katholische Literaturtheorie an diese neofranziskanische Bewegung anzuschließen. Carl Muths Kunstkonzept einer katholischen Klassik bewegt sich in einem politisch und sozial desengagierten Rahmen, in dem die Kunst „alles Verlangen zum Schweigen bringen“, uns in den Zustand jener seligen Geister versetzen soll, die „ganz in der Anschauung und Erkenntnis des Objekts verloren“ seien und daher „kein Begehren“ verfolgten. In diesem Sinne verstand Muth selbst und gerade den Sonnengesang, da dieser „heiterste Ruhe, tiefsten Frieden“ 283 Vgl. Justus H. Ulbricht: „Transzendentale Obdachlosigkeit“. Ästhetik, Religion und „neue soziale Bewegungen“ um 1900. In: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden II: um 1900. Hg. v. Wolfgang Braungart, Gotthart Fuchs u. Manfred Koch. Paderborn, München u.a. 1998, S. 47–67. 284 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 67. Vgl. Paul Eberhardt: Der Weisheit letzter Schluss. Die Religion der Upanishads. Jena 1912, S. 75. 285 Ehrler: Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm, S. 86, vgl. ebd. 260 f. 286 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 206. Für die theologiegeschichtlichen Anhaltspunkte dafür vgl. Niklaus Kuster: Der eine Gott und die vielen Religionen. Die universale Vision des Franz von Assisi. In: Franziskanische Impulse für die interreligiöse Begegnung. Hg. v. Adrian Holderegger, Mariano Delgado u. Anton Rotzetter. Stuttgart 2014, S. 13–34.
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ausstrahle.287 Mit ausgleichender Nüchternheit und psychologischer Kritik begegnete auch der katholische Klassizist Herman Hefele dem Enthusiasten Franziskus, nämlich in seiner 1910 gedruckten Dissertation über die italienischen Bettelorden im 13. Jahrhundert, in der er die „Capricen“, die „poetischen Spielereien und Phantastereien“ des ioculator Domini ebenso beim Namen nannte wie die „bewußte[] Tendenz der Mission und Propaganda“ und den geckenhaften Ehrgeiz, „daß ihn einmal die ganze Welt verehren werde“.288 Darin wird pathologisierend eine „bedeutende[] Person“ beleuchtet, die „mit dem Individuellen des Lebens nicht auskommt, weil sie aus allem das Typische nur herauszehrt und so eine den Mitmenschen unerträgliche Hochspannung des Daseins bewirkt“.289 Insgesamt warnte Hefele „vor einer allzu modernen Beurteilung des heiligen Franziskus“.290 Der Tübinger Dogmatiker Karl Adam in seinem Standardwerk Das Wesen des Katholizismus (zuerst 1924) begrüßte die Glaubensglut des fröhlichen Bettlers, die der Kirche seiner Zeit „einen neuen Aufschwung, einen neuen Frühling, eine neue Jugend“ geschenkt habe. Heilige Charismatiker wie er dienten der „Ausgestaltung der Fülle Christi“ und besäßen darin providentielle Bedeutung. Allerdings gebe Franziskus auch ein Beispiel für die Spannung zwischen Überschwang und Form, die das „Geheimnis der kirchlichen Lebensbewegungen“ ausmache.291 Der bereits zitierte Religionswissenschaftler Friedrich Heiler schließlich mahnte ausdrücklich, dass die „kindliche Naturfreude“ von Franziskus nicht zu verwechseln sei mit dem Pantheismus der Upanishaden, Giordano Brunos oder Goethes, vielmehr strikt im „Mysterium der Inkarnation“ begründet liege: Der mittelalterliche Mönch stehe voll und ganz auf dem Boden der Orthodoxie, habe auch kein Wort der Kritik an den Priestern und der sichtbaren Kirche verloren, sei in allem „demütiger und treuer Sohn der katholischen Kirche“, in nichts unser Zeitgenosse, außer dass er
287 Carl Muth: Die Wiedergeburt der Dichtung aus dem religiösen Erlebnis. Gedanken zur Psychologie des katholischen Literaturschaffens. München 1909, S. 74 u. S. 83. Zu Muths katholischem Klassizismus vgl. Giacomin: Zwischen katholischem Milieu und Nation, S. 149 ff. 288 Herman Hefele: Die Bettelorden und das religiöse Volksleben Ober- und Mittelitaliens im XIII. Jahrhundert. Leipzig 1910 (Nachdruck Hildesheim 1973), S. 43 u. S. 48 f. Zu Franziskus als radikalem Schauspieler und Initiator einer Selbstheiligung, bei dem die Anmaßung und der Betrug in Ehrlichkeit umschlügen, vgl. Christoph Türcke: Askese und Performance. Franziskus als Regisseur und Hauptdarsteller seiner selbst. In: Neue Rundschau 111 (2000), S. 35–43. 289 Walter Calé: Franciscus. In: ders.: Nachgelassene Schriften. Mit einem Vorwort von Fritz Mauthner. Hg. v. Arthur Brückmann. Berlin 1907, S. 161–263, hier S. 165. 290 Justus Hashagen: [Rez.] Herman Hefele: Die Bettelorden und das religiöse Volksleben Oberund Mittelitaliens im XIII. Jahrhundert. In: Die Hilfe 19 (1913), S. 782. 291 Karl Adam: Das Wesen des Katholizismus. 7. Aufl. Düsseldorf 1934, S. 127 u. S. 166.
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aufgrund seiner universalen Vision als Integrationsfigur der Ökumene dienen könne (s. Kap. IV.5).292 Diese historiografisch, theologisch und religionswissenschaftlich fundierten Abwägungen integrieren sich weithin nicht in das ungebrochenere Franziskusbild der Jahrhundertwendeliteratur. Ehrlers Reise ins Pfarrhaus im Besonderen enthält durch ihr freidenkerisches Priesterbild, ihre schwärmerische Naturreligiosität und ihren Anteil an Nacktheit und Geschlechtstrieb „für den Katholiken […] der Disharmonien zu viele, die den reinen Genuß nicht aufkommen lassen“, so ein unverblümtes konfessionelles Urteil im Gral von 1920.293 Auch die große literaturgeschichtliche Darstellung des Benediktiners Anselm Salzer konnte darüber noch 1932 keineswegs hinwegsehen: „Die Zeichnung des Pfarrers […] und mehr noch das Bild des anderen Priesters, des sentimentalen Franziskus-Schwärmers […], zerstören das Ideal, das der Katholik von seinen Priestern sich bildet.“294 Nur in einer bestimmten Denkfigur schließt sich Ehrlers literarischer Franziskanismus an die katholische Literarästhetik an, nämlich in der Vermittlung von Offenbarung und Geschichte durch das Strukturprinzip der Typologie: Immer neue Haupt- und Nebengestalten von Ehrlers Erzähltexten wandeln in den Spuren des Italieners und aktualisieren somit als Postfigurationen dasjenige, was Hunderte von Jahren zurückliegt. So werden konkrete geschichtliche Situationen aufgenommen und zugleich im heilsgeschichtlichen Rahmen verortet. Die Figurenpsychologie allerdings ist bei diesem Verfahren von vornherein stark eingeschränkt.295 Der literarische Franziskanismus in Deutschland und Österreich blieb zum größeren Teil eine jugendbewegte und prophezeiungspoetologische Modeerscheinung der Jahrhundertwende, aus der die Breslauer Dissertation des Franziskaners Ambros Styra, Franziskus von Assisi in der neueren deutschen Literatur (1927), und die Wiener Dissertation von Elisabeth Pohl, Gestalt und Idee des heiligen Franziskus von Assisi in der neueren deutschen Dichtung (1934), die literaturhistorische Zwischensumme zogen.296 Dagegen hielt Ehrler lebenslang, ja bis durch die Entnazifizierung hindurch,297 an diesem Rollenmodell fest und mochte darin zwischen292 Heiler: Der heilige Franz von Assisi, S. 27 u. S. 31. Vgl. zu den schwankenden Bewertungen auch Karl Ude: Das Ringen um die Franziskus-Legende. Novelle. München 1932. 293 Bauer: Hans Heinrich Ehrler (1920), S. 247. 294 Salzer: Illustrierte Geschichte der deutschen Literatur, S. 1951. 295 Vgl. Schmidt: Handlanger der Vergänglichkeit, S. 39 ff. 296 Vgl. Ambros Styra: Franziskus von Assisi in der neueren deutschen Literatur. Breslau 1927, sowie Elisabeth Pohl: Gestalt und Idee des heiligen Franziskus von Assisi in der neueren deutschen Dichtung. Diss. Wien 1934. 297 Vgl. den diesbezüglichen Angriff gegen Ehrler von Paul Wilhelm Wenger (als Markus Schwerdt lein): St. Franziskus als Entnazifizierungsgehilfe. In: Das Wespennest 2 (1947), H. 32, S. 4, un-
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zeitlich von den franziskanischen Sympathien Loerkes bestärkt worden sein.298 Die Foren dafür waren in den 1920er Jahren schon nicht mehr der große Publikumsverlag von Albert Langen, sondern die katholischen Kulturzeitschriften Hochland und Gral sowie der ökumenisch orientierte Theologieverlag von Leopold Klotz. Das schreibende Ich der Briefe aus meinem Kloster erinnert sich, die ersten Verse auf einen Sonnenstrahl gedichtet zu haben, und kann sich über diese Urszene hinaus kurzfassen: „Ich gehöre mit Leib und Seele und allen meinen Sinnen zum Orden der heiligen Armut, zur Brüderschaft des Franz von Assisi, des Poverello.“299 In der historischen Erzählung Der heilige Franziskus von 1926, zu deren Publikation sich Ehrler mit Carl Muth austauschte,300 ging der Dichter nochmals ausführlich auf die Quellen zurück und rekapitulierte die franziskanische Reformidee der ecclesia spiritualis, der ‚inneren Kirche‘, die auch ohne die institutionelle Kirche, als reine menschliche Gemeinschaft, bestehe und ausstrahle: „Die unsichtbare Kirche wirkt.“301 Allein diese Art der „Communio“, so formulierte Ehrler gegen den Kommunismus, „kann die Menschheit, auch die stoffliche, retten“, nämlich wenn sich „Gesetz und Liebe […] im Gesetz der Liebe“ verbänden.302 Die FranziskusErzählung von 1926 gehört zu den Beiträgen des Jubeljahres, das Pius XI. mit der Enzyklika Rite expiatis anlässlich des 700. Todestages des Heiligen ausgerufen hat: Das Kirchenoberhaupt schloss hier daran an, dass Franziskus als Herold von Christi Wiederkehr noch heute in den Herzen der Menschen lebendig sei.303 Im Weltanschauungsbuch Das Gesetz der Liebe sowie im Gedichtband Gesicht und ter Bezug auf Hans Heinrich Ehrler: St. Franziskus. In: Katholisches Sonntagsblatt, 5. Oktober 1947. 298 Zu Loerkes unter anderem franziskanisch grundiertem Interesse an Panpsychismus und AllLiebe vgl. Walter Gebhard: „Was du verachtest, hüte dich zu hassen“. Innere Emigration, Haß und poetisch-politischer Widerstand beim späten Oskar Loerke. In: Christliches Exil und christlicher Widerstand. Hg. v. Wolfgang Frühwald u. Heinz Hürten. Regensburg 1987, S. 123– 149. – Vereinzelten Auftrieb erhielt der literarische Franziskanismus nach der Jahrhundertwende unter anderem noch durch Adolf von Hatzfelds Roman Franziskus (1919) und durch das Franziskusbekenntnis Chestertons (St. Francis of Assisi, 1923). Vgl. zur Fortwirkung auch die Hinweise bei Klieneberger: The Christian Writers of the Inner Emigration, S. 72 ff., u. Klapper: The Search for Synthesis; ferner Josef Imbach: Franziskusbilder in der deutschsprachigen Literatur seit 1950. In: Miscellanea Francescana. Rivista Trimestrale di Scienze Teologiche e di Studi Francescani 82 (1982), S. 631–660. 299 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 31 u. S. 70. 300 Vgl. Bayerische Staatsbibliothek München, Nachlass Karl Muth, Sign. Ana 390 II.A. Ehrler, Hans Heinrich. 301 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 252. 302 Ehrler: Der heilige Franziskus, S. 44. 303 Vgl. Pius XI.: Rite expiatis. In: Acta Apostolicae Sedis 18 (1926), S. 153–175, hier S. 154.
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Antlitz, beide von 1928, entwickelte Ehrler den Komplex des Liebesgebots wiederum mit franziskanischen Referenzen, darunter dem Gedicht Franziskus.304 In einem Hörspiel von 1929 behandelte er die Geschichte des Bettelmönchs unter dem Titel Der Wanderer. Ehrlers erster Lyrikband im Langen Müller Verlag, Die Lichter schwinden im Licht von 1932, endet gar mit einem Gedicht, das Nullu homo ene dignu te mentovare betitelt ist und somit unmittelbar den Sonnengesang zitiert.305 Gegenüber der radikalen Verwechslung von Ich und Natur in der Reise ins Pfarrhaus („Er […] sah sich selber als das lichte Gitter, das um ihn wirkte“306) ist das Natureinverständnis nun mehr in die Reflexion verlegt, wie in dem Gedicht Wonnen aus Gesicht und Antlitz: Ich möchte einmal so betauet sein Wie dieser Anger in erwachter Frühe, So selbst erstaunend hell betauet sein. Ich möchte einmal so erwärmet sein, Wie dieser Stein in stiller Mittagssonne, So gleich und tief und ganz erwärmet sein. Ich möchte einmal so gestreichelt sein Wie dieser Baum von linden Abendwinden, Durch so viel Blätter so gestreichelt sein. Ich möchte einmal so getränket sein, Wie dieses Waldtal unterm Regenbogen, So mit geweihtem Naß getränket sein.307
Schon für die lebhafte Franziskusverehrung der Lebensreformbewegung ist der neuheidnisch-panpsychische Einschlag in Verbindung mit Lichtdienst, Sonnenwendfeiern und Baldurkulten belegt.308 Ehrler kam dem unter anderem im Gedicht 304 Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 67. 305 Ehrler: Die Lichter schwinden im Licht, S. 79. 306 Ehrler: Die Reise ins Pfarrhaus, S. 171. 307 Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 26; wieder abgedruckt unter anderem in Das Wort in der Zeit 1 (1933/34), H. 1, S. 6, sowie Hochland 48 (1955/56), S. 454. 308 Vgl. zum völkischen Licht- und Sonnenkult George L. Mosse: Die völkische Revolution. Über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus. Übers. v. Renate Becker. Frankfurt/M. 1991, S. 69 u. S. 78 ff., sowie Justus H. Ulbricht: Lichtgeburten. Neuheidnische und ‚neugermanische‘
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Winter-Sonnwend (1908) nahe, das Heuss zum Abdruck im linksliberalen Organ Die Hilfe. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und geistige Bewegung angenommen hat.309 Außerdem kannte und schätzte er einen neugermanischen Sonnenanbeter in der Person des 1908 jung verstorbenen Freiburger Schriftstellers und Lebensreformers Emil Gött, dem er 1911 anlässlich einer Ausgabe von dessen gesammelten Werken die Studie Emil Gött der Dichter und Bauer in der Frankfurter Zeitung gewidmet hat: Dieser ehrliche Apostel von „Gartengrün und Sonnengold“, Freund der Tiere und Pflanzen und Vorreiter der Freiburger Gartenstadt habe „als Bauer eine Dichtung zwischen Schaufel und Scholle“ betrieben und sei als verschwärmter Exkatholik ein „Bekenner des d i e s s e i t i g e n Lebens“ gewesen.310 Das ‚Grüne‘ des Natur- und Tierschutzes spielt hier bereits ins ‚Braune‘ von Reagrarisierungswünschen und Schollendichtung. So konnte Götts und Ehrlers gemeinsamer Bekannter Emil Strauß 1935 gegenüber Langen-Müller-Direktor Gustav Pezold guten Glaubens vertreten, dass Gött mit seinen Bauerndichter-Kolonien im Kleinen erdacht und erprobt habe, was der Nationalsozialismus ins Große projektiere.311 In einem Offenen Brief an Herman Hefele unter dem Titel An einen deutschen Freund in Rom, 1915 in der Frankfurter Zeitung erschienen, wirkte Ehrler an der germanisierenden ‚Aufnordung‘ von Franziskus mit, die auch im Rahmen neugermanischer Sonnen- und Lichtkulte stattfand: „Wir standen holdgerührt“, heißt es darin über einen Italienaufenthalt vom Frühjahr 1914, „im Haus des heiligen Franz von Assisi, dessen milde Erscheinung wie durch einen Irrtum ihre Wiege
Tendenzen innerhalb der Lebensreform. In: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Hg. v. Kai Buchholz, Rita Latocha, Hilke Peckmann u.a. 2 Bde. Darmstadt 2001, Bd. 2, S. 133 f. 309 Hans Heinrich Ehrler: Winter-Sonnwend. In: Die Hilfe. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und geistige Bewegung 14 (1908), S. 836; es handelt sich bei dem Heft um die Weihnachtsausgabe (20. Dezember). Dieses Gedicht ist nicht identisch mit dem Eröffnungsgedicht Wintersonnwend („Den kurzen Tag umgab die lange Nacht“) der Sammlung Gesicht und Antlitz von 1928. 310 Hans Heinrich Ehrler: Emil Gött der Dichter und Bauer. In: Frankfurter Zeitung, 12. Dezember 1911 (Hervorhebung im Original). Vgl. dazu Volker Schupp: Die Erneuerungsbewegung in Freiburg während der frühen Lebensreform. Emil Gött und sein Freundeskreis: Literatur und Leben. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 149 (2001), S. 393–421, zum Sonnenkult hier S. 417 u. S. 420. 311 Vgl. Schupp: Emil Gött und sein Freundeskreis, S. 399, sowie Thomas B. Schumann: Fahne, Idee, Suggestion. Emil Strauß und der Nationalsozialismus. In: „Wahr sein kann man“. Zu Leben und Werk von Emil Strauß (1866–1960). Hg. v. Bärbel Rudin. Pforzheim 1990, S. 101–112, hier S. 110.
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nicht in deutschem Schwärmerland fand“.312 In Ehrlers Beitrag zu dem 1919 erschienenen Sammelband Des Reiches Sonnenwende werden die franziskanische Absolutsetzung des Liebes- und Friedensgebots als Botschaften an das unruhevolle Deutschland formuliert und mit einer visionären Reichserwartung verknüpft.313 So hatte der Dichter auch keine Mühe, den literarischen Franziskanismus mit hinüber in die Literatur des Dritten Reichs zu nehmen. Während Hermann Hesse in der Neuen Literatur wegen seines individualistisch-pazifistischen „Lieblingsheiligen Franz von Assisi“314 verhöhnt wurde, erhielt Ehrler in derselben kämpferischen NS-Zeitschrift Belobigungen für seine pantheistisch-magische „Belebung der Dingwelt“315. Der materialismusfeindliche und urbanisierungskritische Impetus des literarischen Franziskanismus, der die „Habe“ zur „Gottesleihe“316 wandeln will und sich gegen eine „mammonistisch verführte Politik und Wirtschaft“317 richtet, hat seinen Hintergrund im bildungsbürgerlichen Neoidealismus um 1900 und dessen zeitgeschichtlich aktualisierter Verfluchung des Goldhungers („Auri sacra fames“, zitierte Ehrler neuhumanistisch318). Er korrespondiert mit einer katholischen Gemeinschaftsidee, in der die soziale Erneuerung von der Überwindung des materialistischen Klassenegoismus, der Pflege ideeller Werte und dem
312 Hans Heinrich Ehrler: An einen deutschen Freund in Rom. In: Frankfurter Zeitung, 2. Mai 1915. Zu solchen Tendenzen der ‚Aufnordung‘ des Katholizismus vgl. Volker Weiß: Moderne Antimoderne. Arthur Moeller van den Bruck und der Wandel des Konservatismus. Paderborn, München u.a. 2012, S. 139–141 („Das germanische Italien“), Justus H. Ulbricht: „Veni creator spiritus“ oder: „Wann kehrt Baldr heim?“. Deutsche Wiedergeburt als völkisch-religiöses Projekt. In: Politische Religion – religiöse Politik. Hg. v. Richard Faber. Würzburg 1997, S. 161–172, sowie ders.: „...in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit...“. Aspekte einer Problemgeschichte „arteigener“ Religion um 1900. In: Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende. Hg. v. Stefanie von Schnurbein u. dems. Würzburg 2001, S. 9–39. 313 Hans Heinrich Ehrler: Der Geist und unsre Not. In: Des Reiches Sonnenwende. Stuttgart 1919, S. 31–33, hier S. 33. 314 Vgl. die Dokumente in Hermann Hesse: Die politischen Schriften. Eine Dokumentation. Hg. v. Volker Michels. Frankfurt/M. 2004 (= Sämtliche Werke, Bd. 15), S. 463–465. 315 Hans Franke-Heibronn: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm. In: Die Neue Literatur 35 (1934), S. 633 f. 316 Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 147. 317 Hans Heinrich Ehrler: An die Deutschen in den Vereinigten Staaten. In: Frankfurter Zeitung, 7. Februar 1915. Vgl. bereits die Warnungen vor dem Materialismus, die Ehrler dem Abiturientenjahrgang 1906 mitgab: Hans Heinrich Ehrler: Die Losgelassenen. In: Frankfurter Zeitung, 3. August 1906. Ebenso ders: Deutsches Geld. In: Kriegszeitung der 7. Armee, 18. März 1916. 318 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 28.
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Erstarken der Caritas erwartet wird,319 bindet sich zuletzt aber an eine nationalsozialistische Rhetorik, auf die sich Ehrler ausdrücklich unter Anspielung auf Hitlers Rede vom 24. Februar 1941 zum Jahrestag der Verkündung des NSDAP-Parteiprogramms bezog: „Wie metallen klang die Stimme des Führers in seiner letzten Rede in den Sätzen vom toten Gold und daß die deutsche Arbeit nicht mehr um solches verkauft werden soll.“320 Franziskus wird hierbei zum Kronzeugen, ja zum Propheten und sogar zum Messias gegen die Urbanisierung und für die Wiedereinbindung des Menschen in natürliche, handwerklich-agrarische Kreisläufe wie z.B. die friedfertig-nutzbringende Bienenzucht und Wachszieherei von Ehrlers Vater. Wie „Bruder Franz“ die moderne Menschheit aus der herzlosen Großstadt zu neuer Beseelung herausführen soll, hat Ehrler am konkretesten in den Schlussstrophen des Gedichts In der Stadt von 1932 imaginiert: Menschen steigen aus Verließen, Augen sich zum Türspalt wagen, Was einst ihre Herzen hießen, Sie in zagen Händen tragen. Bruder Franz steht dort und klinkt Auf der Pforte schwere Flügel. O! Der Sonnensang umsingt Draußen die erhellten Hügel.321
319 Zu den Kriterien des Gemeinschaftsdenkens im katholischen Milieu vgl. Alois Baumgartner: Sehnsucht nach Gemeinschaft. Ideen und Strömungen im Sozialkatholizismus der Weimarer Republik. Paderborn, München u.a. 1977, S. 173, sowie Jörn Retterath: „Was ist das Volk?“ Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917–1924. Berlin, Boston 2016, S. 297 ff. 320 Hans Heinrich Ehrler: Des Führers Stimme. In: NS-Kurier, 6. März 1941. Vgl. Max Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen. 4 Bde. München 1965, Bd. 2/2, S. 1668 ff. 321 Ehrler: Die Lichter schwinden im Licht, S. 76. Zu den Einströmungen lebensreformerischer Naturverehrung in die nationalsozialistische Sammelbewegung vgl. Marie-Luise Heuser: Was Grün begann endete blutigrot. Von der Naturromantik zu den Reagrarisierungs- und Entvölkerungsplänen der SA und SS. In: Industrialismus und Ökoromantik. Geschichte und Perspektiven der Ökologisierung. Hg. v. Dieter Hassenpflug. Wiesbaden 1991, S. 43–62, sowie Frank Uekoetter: The Green and the Brown. A History of Conservation in Nazi Germany. Cambridge, New York u.a. 2006, S. 17 ff.
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Im selben Zug verraten die franziskanischen Forderungen nach All-Liebe und All-Frieden, nach vollständiger Entsündigung und Friedfertigung der Welt, d.h. eigentlich nach einer Erlösung vom Politischen, ein harmoniegläubiges, parteien skeptisches und letztlich antipluralistisches Potential, das auf die Idee eines mittelalterlichen Friedensreichs rückbezogen ist und auf eine Teleologie gesellschaftlicher Einheit (bei regionaler Vielfalt) hinausläuft. Ein unübersehbares Zeichen von Ehrlers sozialorganisatorischer Funktionalisierung des Heiligen Franz setzt ein Handlungsstrang im Baumeister Wilhelm, in dem sich ein Freund des titelgebenden Protagonisten als „Jünger des Poverello“ versteht, zum Priester ordiniert wird und schließlich als „Führer einer ritterlich gesinnten Jugendgruppe“ antritt, einer „Sammlung der guten Geister“, Vortrupp des ‚neuen Reichs‘.322 „Ihr Eifer“, heißt es auf der letzten Seite des Buchs, „will das neue Reich erwirken“.323 Mit dem Motiv der katholischen Jugendbewegung berührte Ehrler in seinem Roman von 1934 ein Thema, dessen Brisanz in der Gleichschaltungspolitik von 1933 und in den Unbestimmtheiten von Artikel 31 des Reichskonkordats lag (Schutz der katholischen Organisationen und Verbände, soweit sie unpolitisch seien).324 Gruppen wie die vom Dichter beschriebene florierten vor allem seit den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, in denen die Handlung angesiedelt ist. In der Sicht des Romans pflanzten sie den im Krieg angeblich gewonnenen Gemeinschaftsgedanken in die deutsche Zukunft fort: „das rätselhafte Gebilde Kameradschaft […], die wunderbare Verbündung und Verschwörung der Lebendigen“,325 wobei der Ausdruck ‚die Lebendigen‘ sonst auch die gläubigen Christen bezeichnet. Die Formulierung von der ‚ritterlichen Gesinnung‘ spielt näherhin auf den QuickbornBund an, in dem mehrere Netzwerkpartner Ehrlers aktiv waren, darunter Josef Aussem als sogenannter Burgkaplan des Quickborn-Sitzes auf Rothenfels. Der in der nationalsozialistischen Literaturkritik teilweise angefeindete (s. Kap. V.1), 1935 und 1941 gleichwohl in zweiter bzw. dritter Auflage erschienene Roman führt eine Gruppe vor, die unter Leitung des Franziskusschwärmers als eines charismatischen ‚Führers‘ steht.326 Damit wurde am ‚Existenzrecht der katholischen Jugend‘ festge322 Ehrler: Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm, S. 229 u. S. 245. 323 Ehrler: Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm, S. 260. 324 Zum Konflikt um die katholischen Jugendverbände vgl. Hürten: Deutsche Katholiken, S. 285 ff., am kommunalen Beispiel Rauh-Kühne: Katholisches Milieu und Kleinstadtgesellschaft, S. 368 ff. Zum mangelnden Konkordatsschutz zuletzt Blaschke: Die Kirchen und der Nationalsozialismus, S. 96 f. u. S. 126–128 („Angriff auf die Milieustrukturen und kirchlichen Vorfeldorganisationen“). 325 Ehrler: Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm, S. 117. 326 Zum Ruf nach einem „neue[n] Franziskus“ in der katholischen Jugendbewegung vgl. Richter: Nationales Denken im Katholizismus der Weimarer Republik, S. 176 ff. (Zitat S. 196), ferner
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halten, wie es beispielsweise auch Bischof Joannes Baptista Sproll auf einer Stuttgarter Großkundgebung am 16. Dezember forderte,327 und gerade nicht die Zusammenfassung der ‚gesamten deutschen Jugend‘ in der HJ, die Ende 1933 bereits die evangelischen Jugendverbände aufgesogen hatte und mit dem „Gesetz über die Hitler-Jugend“ Ende 1936 ein Monopol erhielt. Allerdings gipfelt im Schluss des Baumeisters Wilhelm eine liebesmystische Gemeinschaftssehnsucht, eine Erwartung des ‚neuen Reichs‘ sowie eine Sakralisierung des Führergedankens, die keinen inneren Widerspruch zwischen christlicher Zukunftshoffnung und ‚Drittem Reich‘ erkennen ließen. Die Liebesmystik, bei welcher der „Eros wieder ernst genommen werden muss“ und den „Stoff […] für eine neue Nation [schaffen]“ sollte, schloss autoritäre Bekenntnisse zum „Gang der zu achtenden Ordnung“ in „dieser libertinen Zeit“ keineswegs aus. Eine der letzten Botschaften des Romans lautet auch: „Die Hinnahme der Ordnung, die Zucht ist das Heroische.“328 An zeitgenössischen Warnungen vor dem naturromantischen Weg und vor „der Liebe magisch mächtige[r] Gewalt“329, wie Ehrler sich ausdrückte, hat es nicht gefehlt. Der bereits angeführte Pater Ambros, Franziskaner in Breslau, hat in den 1930er Jahren mehrfach die Notwendigkeit gesehen, die römische Rechtgläubigkeit des Ordensgründers und seine eindeutige Unterordnung unter Christus, den „König der Könige“, für das Kirchenvolk und fromme Lesepublikum klarzustellen: Niemand sei der Messias außer der Messias, was eine offensichtliche Spitze auch gegen den Messianismus Hitlers enthielt.330 Ebenfalls mit Adresse an das katholische Milieu hat Waldemar Gurian, Redakteur der Kölnischen Volkszeitung, erhebliche Bedenken gegen die „Sehnsucht nach dem Reich“ und gegen den „Glauben an ein metaphysisches Volk“ angemeldet, das „jenseits der Interessenkämpfe und Gesellschaftsgegensätze“ stehe: Diese fantasieschwangeren Ideen verwischten, potentiell blasphemisch, die „Grenzen zwischen Natur und Gnade“, zwischen sub stantieller Religion und „irrationale[m] Leben“, förderten mithin – so Gurian 1932 Spicker: Deutsche Wanderer-, Vagabunden- und Vagantenlyrik, S. 24 ff. Rückblickend kritisch zur „Franziskusbegeisterung“ in der bündischen Jugend auch Franz Henrich: Die Bünde katholischer Jugendbewegung. Ihre Bedeutung für die liturgische und eucharistische Erneuerung. München 1968, S. 25, S. 41 u.ö. (Zitat S. 227). 327 Vgl. Thomas Schnabel: Württemberg zwischen Weimar und Bonn 1928 bis 1945/46. Stuttgart 1986, S. 474 ff. 328 Ehrler: Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm, S. 243. 329 Ehrler: Abschied von Herman Hefele [Gedicht], S. 251. 330 Ambros Styra: Franz von Assisi und das Evangelium Jesu. Breslau 1931, sowie ders.: Jesus Christus, König der Könige. Breslau 1939. Vgl. aus jüngerer theologischer Sicht die Klarstellungen von Rotzetter: Franz von Assisi, S. 128–133 („Gotteserfahrung in der Schöpfung“).
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– „Tendenzen zum autoritären und totalen Staat“.331 Ausdrücklich „romantisch“ nannte der zum Katholizismus konvertierte Jude bereits 1924 den „Traum vom Dritten Reich“ hinsichtlich einer von Ehrler uneingeschränkt geteilten antipluralistischen Erwartung, die „schöpferische Kraft der Menschheit, die jeder Mensch in seiner Weise repräsentiert, werde von selber einen Kosmos bilden“.332 Romain Rolland, für mystische Spiritualität aufgeschlossen, beobachtete die italofaschistische Verwendung der franziskanischen Quellen mit Sorge. Unter dem Eindruck des Franziskuskults von Mussolini schrieb er 1928 an seinen Freund Stefan Zweig: „Es scheint mir ebenso frevelhaft, Tolstoi vom Bolschewismus feiern zu lassen wie Franz von Assisi vom Faschismus“.333 Der deutsche Faschismus berief sich nur wenige Jahre später ebenfalls auf den heiligen Franz, höchst einschlägig im hauptsächlich Meister Eckhart gewidmeten Kapitel „Mystik und Tat“ von Alfred Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts (1930). Dort heißt es mit Kritik an der römischen Amtskirche und unter nicht näher begründeter ‚Aufnordung‘ des Umbriers: „Echte Religion i n n e r h a l b der Kirche war nur insoweit vorhanden, als die nordische Seele an ihrer Entfaltung nicht verhindert werden konnte (wie etwa beim heiligen Franziskus und Fra Angelico), weil ihr Widerhall in der abendländischen Menschheit doch ein zu mächtiger war.“334 Franziskus (1226 gestorben) galt 331 Gurian: Um des Reiches Zukunft, S. 125, S. 127, S. 129 u. S. 160. 332 Waldemar Gurian: Ein Traum vom Dritten Reich. In: Hochland 22/1 (1924/25), S. 237–242, hier S. 241. Dazu Baumgartner: Sehnsucht nach Gemeinschaft, hier zur neoromantischen „Betonung der Gemeinschaft“ als einem „Grundzug des politischen und gesellschaftlichen Denkens“ (S. 19) im Weimarer Katholizismus bei einem „wenigstens im Ansatz totalitäre[n] Anspruch“ (S. 174). Zum über 1933/34 hinaus nur langsamen „Ablösungsprozeß vom positiven Bild einer organischen Gemeinschaft unter dem Schutz eines total […] organisierten Staates, wie es die katholischen Medien mit gestaltet hatten“, Bernd Sösemann: Konziliante Kommunikation im Katholizismus während der NS-Diktatur. Die frühen Phasen medialer Selbstvergewisserungen und national-sozialer Sinnstiftungen. In: Die Herausforderung der Diktaturen. Katholizismus in Deutschland und Italien 1918–1943/45. Hg. v. Wolfram Pyta, Carsten Kretschmann, Guiseppe Ignesti u.a. Tübingen 2009, S. 137–173 (Zitat S. 171). – Zur sog. Affinitätsthese im Verhältnis zwischen katholischen Reichserwartungen und nationalsozialistischen Versprechen klassisch Ernst-Wolfgang Böckenförde: Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933. Eine kritische Betrachtung. In: Hochland 53 (1960/61), S. 215–239, zuletzt Blaschke: Die Kirchen und der Nationalsozialismus, S. 31–40 („Christentum und Faschismus: Unvereinbarkeit oder Affinität?“). 333 Romain Rolland an Stefan Zweig, 2. September 1928. In: dies.: Briefwechsel 1910–1940. Hg. v. Waltraud Schwarze. Berlin 1987, Bd. 2, S. 294. Zur italofaschistischen Verehrung von Franziskus als dem ‚italienischsten Heiligen‘ vgl. Christopher Duggan: Fascist Voices. An Intimate History of Mussolini’s Italy. Oxford 2013, S. 52 f. u. S. 109. 334 Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit. [ohne Auflagenzahl] München 1935 (zuerst 1930), S. 255.
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dabei als Vorbote Meister Eckharts (um 1260 geboren), d.h. als Ahn jener „Botschaft der deutschen Mystik“, auf welche die „heutige Zeit der wiedereinsetzenden Seelenbereitschaft“ hören müsse, wenn sie nicht an der „römisch-jüdischen Vergiftung“ zugrunde gehen wolle.335 Im engeren Rahmen derjenigen Lehren, die ab dem späten 19. Jahrhundert als Materialismus- und Kapitalismuskritik verstanden werden konnten, wies die Geschichte des Franziskanerordens und seiner Theologie zumal einige bekannte judenfeindliche Ausschläge auf.336 Als der „braune Bruder“337 figurierte Franziskus bei Rilke wegen der Farbe der franziskanischen Kutte und der darin ausgedrückten Erdnähe. Unter dieser Farbe war das ‚Braunhemd‘, das die Sonne verehrte, auch dem Nationalsozialismus willkommen, in dessen Swastika schließlich ein Symbol des Sonnenrads fortlebte. Im Auge zu behalten ist, dass in der Geschichtstheorie des Joachim von Fiore und der joachimitischen Franziskanerspiritualen das – nach dem ‚Reich des Vaters‘ und dem ‚Reich des Sohnes‘ – erwartete ‚Reich des (heiligen) Geistes‘ auch im christlich-heterodoxen Kontext des 12. und 13. Jahrhunderts bereits das ‚Dritte Reich‘ (tertium imperium) genannt wurde und mit dem Auftreten eines ‚Führers‘ (dux) einhergehen sollte. Ehrler kam 1922 in direktem Zusammenhang mit seinem Neofranziskanismus darauf zu sprechen: Von Franziskus und der heiligen Armut wage ich sogar in den Wirtschaften zu reden, bei den Bauern draußen auf dem Land. […] Das Zeichen des Tausendjährigen Reiches glaube ich, unter meinen Linden sitzend, am Himmel hervorkommen zu sehen. Wenn wir reif werden…338 335 Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts, S. 253. 336 Vgl. Markus Thurau: Franziskanerorden. In: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Wolfgang Benz. Bd. 5: Organisationen, Institutionen, Bewegungen. Berlin, Boston 2012, S. 254–257. 337 Rilke: Gedichte 1895 bis 1910, S. 251. 338 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 141 f. Vgl. zu dieser Art der Rückführung des ‚Dritten Reichs‘ auf die geistlichen Reformbewegungen des hohen und späten Mittelalters Dempf: Sacrum Imperium, S. 269 ff., ders.: Das Dritte Reich. Schicksale einer Idee. In: Hochland 29/1 (1931/32), S. 36–48 u. S. 158–171, sowie im Anschluss an Dempf Voegelin: Die politischen Religionen, S. 37–40 („Apokalypse“); von germanistischer Seite Julius Petersen: Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich in deutscher Sage und Dichtung. Stuttgart 1934, S. 13 u. S. 29. Dazu Bärsch: Die politische Religion des Nationalsozialismus, S. 54 ff., Richter: Nationales Denken im Katholizismus der Weimarer Republik, S. 163, sowie Robert Konrad, Günter Lanczkowski, Jürgen Lebram u.a.: Apokalyptik/Apokalypsen. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. v. Gerhard Müller. Bd. 3. Berlin, New York 1995, S. 189–289, hier S. 283.
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Der Dichter folgte hier einer ominösen Inklination des joachimitischen Geschichtsmodells, Franziskus für den „Christus des dritten Reichs“ zu halten und die franziskanische Lehre für das „Gesetz des dritten Weltalters“.339 Mit den Worten, die der ‚Abendländer‘ Alois Dempf 1931 in seinem Hochland-Aufsatz Das Dritte Reich. Schicksale einer Idee über das hohe Mittelalter gewählt hat: „Vor allem aber war der stigmatisierte heilige Franz in so hohem Maße eine wirkliche Erfüllung der Ideale Joachims, Armut und Keuschheit, daß ihn jene, die Joachims Schriften kannten, für den apokalyptischen Engel, der das Zeichen des lebendigen Gottes trägt, ansehen mußten“, nämlich jene „Eiferer“ und „Spiritualisten“, welche die „Hoffnung auf das dritte Reich“ nicht aufgegeben hatten.340 Der Hochschullehrer Dempf wie auch sein Kollege und Mitstreiter Hermann Platz, der Ehrlers Werk hochschätzte (s. Kap. V.3), enthielten sich dabei jedoch akuter Naherwartungen für die große Weltwende. Der undistanzierte Anspruch des Charismatikers Hitler, „das Jahrtausend eines neuen Zeitabschnittes“341 in der eigenen Gegenwart heraufgeführt zu haben, kam Ehrlers Erwartungen einerseits entgegen; andererseits konnte unter den Umständen von 1932/33, auch angesichts der wenig Konsens verratenden Reichstagswahlergebnisse, keine Rede davon sein, dass die ausdrückliche Kondition ‚Wenn wir reif werden‘ erfüllt wäre. Im Juni 1939 untersagte Hitler die offizielle Verwendung des Begriffs ‚Drittes Reich‘, um die ideen- und politikgeschichtliche Exzeptionalität der NS-Herrschaft zu unterstreichen.342 Dieser Vorgang gehört in einen Zeitraum, in dem sich die Entfremdungsmomente zwischen Ehrler und dem Nationalsozialismus häuften. Zum genauen Verständnis von Ehrlers neofranziskanisch fundierten Einheitsfantasien muss schließlich festgehalten werden, dass sie sich – in Übereinstimmung mit römisch-katholischer Lehre und entgegen der Sakralisierung des GermanischRassischen in der völkischen Bewegung – entschieden antirassistisch präsentierten. Ehrler schloss tatsächlich nicht zu den Versuchen eines ‚völkischen Katholizismus‘ auf, in denen „die Verschiedenartigkeit der biologischen Erbanlagen unter den Völkern“ zu den „Voraussetzungen einer göttlichen Schöpfungsordnung“343 339 Dempf: Sacrum Imperium, S. 291 f. 340 Dempf: Das Dritte Reich, S. 42. Vgl. zum theologischen Hintergrund knapp Joseph Dan, WolfDieter Hauschild, David Hellholm u.a.: Apokalyptik. In: Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Aufl. Hg. v. Walter Kasper. Bd. 1. Freiburg/Br. 1993, Sp. 590–600, hier Sp. 595. 341 Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen, Bd. 2/1, S. 1865. Vgl. zu Hitlers Geschichtsverständnis in dieser Beziehung Frank-Lothar Kroll: Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und geschichtliches Handeln im Dritten Reich. Paderborn, München u.a. 1998, S. 32 ff. 342 Vgl. Kroll: Utopie als Ideologie, S. 185 ff. 343 Josef Cardaun: Hat die Kirche auch noch die Massen hinter sich? In: Ermländisches Kirchenblatt 3 (1934), S. 2 f., hier S. 2.
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gezählt wurde. Ansätze zu einer Vermittlung von Katholizismus und völkischer Bewegung vertraten unter anderem die heimatbewegten Seelsorger Christian Frank (in Bayerisch-Schwaben) und Lorenz Pieper (in München und in Westfalen) sowie der deutschlandweit aktive Dichterpriester Ernst Thrasolt.344 Im engsten Mitarbeiterkreis von Thrasolts Das Heilige Feuer. Religiös-kulturelle Monatsschrift für naturgemäße, deutsch-völkische und christliche Kultur und Volkspflege praktizierte Nikolaus Ehlen die Franziskusverehrung, um Heimat- und Naturliebe an einen katholischen Traditionsstrang anzuknüpfen.345 Für Ehrler hatte das Charisma der allgemeinen Schöpfungsgeschwisterschaft jede Differenzkategorie zu überschreiten. Sein Antipluralismus ließ Vielfalt stets nur unter augenblicklicher Zusammenfassung zu größeren Einheiten zu: Heimaten bilden Deutschland, Völker das Reich, Konfessionen die Ökumene; den äußersten Kreis zieht die kreatürliche Gotteskindschaft, die nicht Verschiedenartigkeit, sondern Einheit betont. Ein Beispiel dafür bietet sein noch im Katholizismus der Nachkriegszeit populäres Gedicht Societas aus der Sammlung Die Lichter schwinden im Licht von 1932. Hier wird ein Bild entworfen, in dem das lyrische Ich als Beter in der Kirchenbank kniet und sich zunächst gestört fühlt, weil ein „Fremder“, nämlich ein „Neger“, hinzukommt. Umgehend aber finden die beiden Menschen zur Gebetsgemeinschaft: Und die stille Wölbung horchte, Als wir beide stumm begannen In uns mit dem Vaterunser.346
Als Stellungnahme gegen „das törichte Rassengeschwätz“347 und für die Gemeinschaft als Teilhabe am Gebetsritus ist Societas ein demonstrativer und im Umschlag eines Langen-Müller-Buches durchaus bemerkenswerter Text, der auf Gertrud Fusseneggers katholisch-antirassistische Mohrenlegende (1937) vorausweist.348 Er 344 Zu Christian Frank vgl. Steber: Ethnische Gewissheiten, S. 145–155 („Völkische Heimatideologie in katholischem Gewande“), zu Lorenz Pieper Hastings: Catholicism and the Roots of Nazism, S. 113 ff., zu Ernst Thrasolt Puschner: Die völkische Bewegung, S. 66 ff., S. 131 f. u. S. 203 ff., zu dessen Monatsschrift Thomas Reinecke: „Das Heilige Feuer“. Eine katholische Zeitschrift 1913–1931. In: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918. Hg. v. Uwe Puschner, Walter Schmitz u. Justus H. Ulbricht. München, New Providence u.a. 1996, S. 164–171. 345 Vgl. Richter: Nationales Denken im Katholizismus der Weimarer Republik, S. 180. 346 Ehrler: Die Lichter schwinden im Licht, S. 77. 347 Friedrich Muckermann: Die positive Überwindung des Nationalsozialismus. In: Der Gral 26 (1931/32), S. 269–274, hier S. 271. 348 Gertrud Fussenegger: Mohrenlegende. Potsdam 1937. Vgl. zusammenfassend zur Diskussion um diesen Text Frank-Lothar Kroll: Intellektueller Widerstand im Dritten Reich. Möglichkeiten
4. „Jünger des Poverello“: literarischer Franziskanismus | 131
bezieht sich auf die von Karl Adam, Friedrich Muckermann und anderen Theologen intensiv diskutierte „Frage, ob dem Katholiken ‚der gläubige Hottentot näher stehe als der ungläubige Volksgenosse‘“349. Diese Frage wird nun nicht im Verhältnis zu den atheistischen oder nichtkatholischen Deutschen beantwortet, aber doch dahingehend, dass man sich gar nicht näherkommen kann, als es das Bild der Beter unterm Kirchengewölbe imaginiert. Der theologische Titelterminus des Gedichts referiert insbesondere auf den Anfang des ersten Johannesbriefs: „societas nostra sit cum Patre et cum Filio eius Iesu Christo“ (1. Joh 1,3). In Das Gesetz der Liebe führte Ehrler im Kapitel „Die christliche Gemeinschaft“ zu diesem Topos aus: „Und nun kommt der innerste Binnenlaut des wundersamen Christenworts hervor: B r u d e r , S c h w e s t e r . Wir sind verwandt worden, […] tiefer als mit Mutterblut verzwillingt im Blut des Mittlers zum Vater.“350 In Societas vollzieht sich eben diese menschliche Gemeinschaft durch Christus vor Gott. Ihre Grundlage bildet die Heilsfähigkeit jedes einzelnen Menschen, die wiederum in der von Franziskus klassisch formulierten Schöpfungsgeschwisterschaft begründet liegt. Ehrlers katholisch-missionarisches Anliegen ist dabei nicht gering zu veranschlagen. Kirche, Kniefall und Herrengebet sind die Bedingungen der aktualisierten Gemeinschaft in Societas. Mit einer regelrechten Missionierungskette endet Ehrlers zweiter Roman, Die Reise ins Pfarrhaus: Dort lässt sich zunächst eine deutsche Jüdin taufen, die dann ihrerseits in die katholische Afrikamission zieht und damit gewissermaßen die Voraussetzung der weltkirchlichen Rassenbegegnung in Societas schafft. Seinem zionistischen Freund Jacob Picard hat Ehrler das Kreuz in der Kriegsschrift An einen Juden vorgehalten – freilich mit verheerendem Erfolg (s. Kap. IV.3).
und Grenzen. In: Schriftsteller und Widerstand. Facetten und Probleme der „Inneren Emi gration“. Hg. v. dems. u. Rüdiger von Voss. Göttingen 2012, S. 13–44, hier S. 40 f., ausführlich Friedrich Denk: Die Zensur der Nachgeborenen. Zur regimekritischen Literatur im Dritten Reich. Weilheim 1995, S. 326 ff. 349 Karl Adam: Die geistige Lage des deutschen Katholizismus (unveröff. Ms.), zit. n. Scherzberg: Katholizismus und völkische Religion, S. 320. Vgl. auch Muckermann: Die positive Überwindung des Nationalsozialismus, S. 271 mit Stellungnahme für die „Mischung sehr verschiedener Rassen, der germanischen und afrikanischen“, gegen die Annahme „minderwertige[r] Rassen“. 350 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 232.
132 | II. Literatur als Seelsorge 5. „Innerlichkeit des Reichs“: literarische Reichsmetaphysik
Im katholischen deutschen Wortlaut der Zeit begann das Paternoster: „Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name; zu uns komme Dein Reich“. Die Bitte um das Reich deutete für Ehrler und andere christliche Reichsmetaphysiker wie Josef Magnus Wehner und Joseph Lortz nicht allein auf die Parusie oder etwa die Weltkirche,351 sondern stand zumindest so weit im politischen Raum, dass jedes ‚Dritte Reich‘ über sich selbst hinaus auf die absolute Ordnung des Gottesreichs hätte weisen sollen.352 Vereinzelt sprach Ehrler für sein ältestes, angeblich seit Primanerzeiten verfolgtes Anliegen vom „inneren Deutschland“353, insofern noch in nationaler Beschränkung. Die vorherrschende Rhetorik und Semantik ist allerdings, vor allem nach den weltanschaulichen Radikalisierungseffekten des Ersten Weltkriegs und seiner Aufarbeitung, eine weiter gefasste, abendländisch dimensionierte. Als „christlicher Dichter“, der „dem Reich im ‚Reich‘“ diene, definierte sich Ehrler 1931 in der von einem Großteil der literarischen Prominenz der Zeit bestückten Sammlung Dichterglaube. Stimmen religiösen Erlebens.354 1938 vertraute er dem Jahrbuch des Langen Müller Verlags sein Credo an: „Das durch Leiden erhaben gewordene Wort erfüllt die heilige Aufgabe aller in sich echten und reinen Dichtung, das Reich im Reich zu bilden und zu erhalten.“355 „Das Reich im Reich“ ist das Schlusskapitel seines im selben Jahr erschienenen Langen-MüllerBuches Mit dem Herzen gedacht überschrieben; es handelt von geistig-spirituellen 351 So aber z.B., aus Ehrlers späterem Publikationskontext im Bonifacius Verlag, Johannes Hatzfeld: Vom Reiche Gottes. Sieben Predigten. Paderborn 1940, S. 7–20 („Was ist Reich Gottes?“) u. S. 71–106 („Reich Gottes in der Gemeinde“). 352 Vgl. Seefried: Reich und Stände, S. 143: „Der Reichstopos in der Neuzeit fußte auf der historischen Erfahrung des Heiligen Römisches Reiches, aber auch auf der ‚quasi-religiösen Weihe‘, die der Begriff als ‚Reich Gottes‘ im Sinne des Vaterunser erhielt; und schließlich vermengte er sich als neuzeitliches Phänomen auch mit dem nationalen Gedanken.“ – Zu Lortz vgl. GrabnerHaider: Hitlers mythische Religion, S. 179 f. Wehner widmete der Vaterunser-Bitte „Zu uns komme Dein Reich!“ eine Neufassung der Longinus-Legende, in der der römische Hauptmann, ein ungehobelter, aber ehrlicher Provinzler, Aufnahme in den Himmel findet und von Gott den Auftrag erhält, auf seine soldatische Weise in die Welt einzugreifen: „die goldene Lanze flog und traf die Frevler in ihren Gründen und Gedanken“: Josef Magnus Wehner: Das große Vaterunser. Legenden um die sieben Bitten. München 1935, S. 14–33 (Die Tropfenlegende, zuerst 1923), hier S. 33. 353 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 48. 354 Hans Heinrich Ehrler: [ohne Titel]. In: Dichterglaube. Stimmen religiösen Erlebens. Hg. v. Harald Braun. Berlin 1931, S. 75–78, hier S. 77 f. 355 Hans Heinrich Ehrler: Nachts mit Schiller. In: Ausritt. Almanach des Verlags Albert Langen – Georg Müller 1938/39. München 1938, S. 124–126, hier S. 125.
5. „Innerlichkeit des Reichs“: literarische Reichsmetaphysik | 133
„Erlebnissen“ namentlich mit Dürer, Schiller, Hölderlin und Mörike.356 Dieses ‚Innere Reich‘ öffnet sich mit dem Begriffsbestandteil des Reichs zu einer der „wichtigsten Gestaltideen des deutschen politischen Lebens“357 zwischen den Weltkriegen, dem „Grundgedanken […], auf dem [die] gesamte politische Erziehung“358 des deutschen Volkes bisher beruhte habe: der „heilige[n] politische[n] Idee, die seit zwei Jahrtausenden in den besten deutschen Männern nach Ausdruck und Erfüllung“ ringe.359 Mit der Perspektive auf das Innere schließt es in der älteren Linie an die romantische, von Novalis, Friedrich Schlegel und Joseph von Eichendorff vorangetriebene Spiritualisierung der Reichsidee nach dem faktischen Reichsverlust an,360 in der jüngeren Linie an die neuromantische und wilhelminismuskritische ‚Reichsbeseelung‘ Friedrich Lienhards. Als Formel für geistige Macht stand das ‚Innere Reich‘ aber nicht im Gegensatz zu jeglichem ‚äußeren Reich‘, sondern diente der Auffassung des Reichs als doppeltem „Kampf um politische Macht und um kulturelle Führerschaft“, denn die „Reichsidee“ wurde, wie Fritz Gaupp in seinem Buch Deutsche Fälschung der abendländischen Reichsidee 1946 analysierte, „immer auch als eine geistige Aufgabe betrachtet: als Appell zur Ausbreitung einer spezifisch nationalen Kultur auf internationalem Gebiet“.361 Ehrlers Version des ‚Inneren Reichs‘ erkannte wie die seines deutschnationalen Schriftstellerkollegen bei Langen Müller, Paul Alverdes, in der Tradition „mehr [...] als ästhetische Werte, oder reine Bildungsschätze“, sondern die „lebendige Gegenwart“ einer endlosen, das Geisteserbe weiterkredenzenden Kette der Geschlechter.362 Es ging demnach, in den Worten von Alverdes, um die „uralten, immer neuen Reichtümer der Seele, die in heiligem Wechselspiel als letzter Gewinn allem Handeln und Trachten des deutschen Volkes entsprossen sind, um zu Segen
356 Ehrler: Mit dem Herzen gedacht, S. 131–159. 357 Frieda Eckrich: Die Idee des Reiches in der nationalpolitischen Literatur seit Beendigung des Weltkrieges. Saarbrücken 1937 (Diss. Heidelberg 1934), S. 68. 358 Fritz Gaupp: Deutsche Fälschung der abendländischen Reichsidee. Bern 1946, S. 9. 359 Gerhard Schumann: Heimat im Reich. In: ders.: Ruf und Berufung. Aufsätze und Reden. München 1943, S. 14 f., hier S. 15. Zum Reichsterminus als dem „komplizierteste[n], vielschichtigste[n] und aspektreichste[n] Begriffsfeld älterer Staatssprache“ vgl. Fehrenbach: Reich, S. 423. 360 Vgl. Markus Hien: Altes Reich und neue Dichtung. Literarisch-politisches Reichsdenken zwischen 1740 und 1830. Berlin, Boston 2015, S. 500 ff. 361 Gaupp: Deutsche Fälschung der abendländischen Reichsidee, S. 11. 362 Paul Alverdes: Rede vom inneren Reich der Deutschen. In: Das Innere Reich. Zeitschrift für Dichtung, Kunst und deutsches Leben 1 (1934), S. 829–843, hier S. 833.
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und Aufwärtssteigerung immer wieder auf den Einzelnen zurückzukehren“.363 In Ehrlers Worten: um einen „Immerbrunnen“, der hell aus dem „dunkle[n] Berg“ der Zeit breche,364 um „das innere Erbgut der Ahnenschaft“365, um „jenes ohne Zerfall bestehende geistige Allmendgut, welches dem demütigen Auge ein unübersehbares Schatzgewölbe“366 sei und dem staatlich-gesesellschaftlichen Verfall entgegengesetzt werden könne. Es handelte sich hierbei um einen Glauben an die Tradition und Tradierung, an dem selbst ein konservativer christlicher Autor wie Ernst Wiechert 1933 auszusetzen hatte, dass „es nicht so ist, daß der Eimer mit dem Wasser des Lebens von Hand zu Hand, das heißt von Vätern zu Söhnen gereicht wird, sondern daß jedes Geschlecht von neuem ausziehen muß, um das Wasser des Lebens zu suchen“.367 Was diese so wortreich beschworene Tradition umfassen sollte und welches Potential aus ihr zu aktualisieren war, darüber herrschte zwischen den Autoren keine Einigkeit. Alverdes, kulturnationalistisch aufgestellt, hielt alles vor den Merseburger Zaubersprüchen für nicht mehr lebendig vergegenwärtigbar.368 Dagegen setzte Ehrler bei Platon an und integrierte das Christentum, exemplarisch im folgenden, antike Weisheit, christliche Heiligkeit und germanischen Heldenmut verbindenden Gedichtanfang unter dem Titel „Auch das Große muß sterben“: Das ist nicht wahr! es ist noch nie gestorben, Nie Zeichenhaftes spurlos je verdorben. Die Heiligen und Weisen sind geblieben, Der Helden Halsperg klingt von Sagenhieben.369
Ehrlers ‚Inneres Reich‘ ist auf der Spur von Lienhards Höhen-Dreischritt ‚Akropolis, Golgatha, Wartburg‘ synkretistisch. Es bezieht sich mit dem „aufgehäufte[n] Geistesleben der Gezeiten“ oder dem „Erbgeist“370 auf die philosophia perennis, 363 Paul Alverdes u. Karl Benno von Mechow: Inneres Reich. In: Das Innere Reich. Zeitschrift für Dichtung, Kunst und deutsches Leben 1 (1934), S. 1–8, hier S. 7 f. 364 Ehrler: Die Lichter schwinden im Licht, S. 57. Vgl. diese Metaphorik auch bei Hans Heinrich Ehrler: Der Brunnen der Nacht. In: Über Land und Meer. Oktav-Ausgabe „Der Monat“ 22 (1905/06), S. 378, und ders. (Hg.): Wenn alle Brünnlein fließen... Deutsche Liebeslieder. Ausgewählt aus den deutschen Volksliedern. Stuttgart 1918, S. 5 f. (Vorwort). 365 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 148. 366 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 75. 367 Ernst Wiechert: Der Dichter und die Jugend [1933]. In: ders.: Spiele, Reden, Gedichte, Miscellanea. Wien, München u.a. 1957 (= Sämtliche Werke, Bd. 10), S. 349–367, hier S. 351. 368 Vgl. Alverdes: Rede vom inneren Reich der Deutschen, S. 830. 369 Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 68. 370 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 75–79 („Der Erbgeist“).
5. „Innerlichkeit des Reichs“: literarische Reichsmetaphysik | 135
in deren Mittelpunkt die „wunderbare platonische Idee des römisch-deutschen Reiches“371 stehen sollte. Dafür vertrat Ehrler auch die alte translatio imperii-Theorie, nach der das antike Imperium abgelöst wurde, um es im Lichtstrahl des Kreuzes „erhöht wieder zu gestalten“.372 Alverdes, auch und gerade in seiner 1934 bis 1944 herausgegebenen Zeitschrift Das Innere Reich, in der zu veröffentlichen sich Ehrler nur einmal und erfolglos bemüht hatte, praktizierte demgegenüber eine konfessionelle Zurückhaltung, die das ‚Innere Reich‘ im Sinne der Kunstautonomie auslegte und damit in Entgegensetzung zum Bereich der äußeren Zwecke wie der religiös-erbaulichen Funktionalisierung von Literatur.373 Näher an Ehrlers literarisch-politischer Religiosität liegen da, trotz ihrer schärferen, rassistisch-imperialistischen Begleittöne, die Reichsfantasien des aus der Rhön stammenden, in München zu Erfolg gelangten und 1933 in die Preußische Akademie der Künste aufgenommenen Schriftstellers Josef Magnus Wehner. Schon die biografisch-werkgeschichtlichen Parallelen zwischen Ehrler und Wehner sind ausgeprägt: die Kultivierung einer provinzialen Herkunft, obwohl beide Autoren nur die Kindheitsjahre in dörflichen oder landstädtischen Umgebungen verbracht und keinen lebendigen Anteil an den von ihnen aufgerufenen ‚volkhaften‘ Beziehungsgeflechten hatten, die individualistisch und fantastisch überformte Katholizität, die Prophetenrolle, die Beschwörungen eines höheren Sinns des Schlachtentodes, schließlich die Nachkriegsidentität als christlicher Eremit und beschaulicher Heimatdichter.374 Wehner zufolge nahm die „Innerlichkeit des Reichs […] ihren Ausgang von Gott“ und kam das Reich selbst zunächst mit Christus auf die Welt: „Reich“ sei das „Urwort, das Gott bei der Weltschöpfung uns Deutschen mitgab“, als Wort sei es aber primär geistig-innerlich zu verstehen. Erst wenn die „Innerlichkeit des Reiches“ begriffen worden sei und das Reich als 371 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 179. 372 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 99. 373 Zum Programm oder vielmehr Programmverzicht des Inneren Reichs vgl. Horst Denkler: Janusköpfig. Zur ideologischen Physiognomie der Zeitschrift Das Innere Reich (1934–1944). In: Die deutsche Literatur im Dritten Reich. Hg. v. Horst Denkler u. Karl Prümm. Stuttgart 1976, S. 382–405, bes. S. 385 f., Marion Mallmann-Biehler: Das Innere Reich. Analyse einer konservativen Kulturzeitschrift im Dritten Reich. Bonn 1978, sowie Werner Volke: Das Innere Reich 1934–1944. Eine „Zeitschrift für Dichtung, Kunst und deutsches Leben“. Marbach 1983 (= Marbacher Magazin, H. 26), bes. S. 11–30 („Die Anfänge“). Zur redaktionellen Ablehnung eines Gedicht Ehrlers als geschmacklos und bestenfalls niedlich im Februar 1934 vgl. Volke: Das Innere Reich, S. 18 f. 374 Vgl. für Wehner umfassend Joachim S. Hohmann: „Pg. Wehner hat ein Interesse daran, als Nationalsozialist unbelastet dazustehen“. Leben und Werk des Kriegs- und Heimatdichters Josef Magnus Wehner. Fulda 1988.
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ein „gewaltiger Geisterdom“ vor dem Volk stehe, erst dann werde auch „unsere Macht ewig währen“, nämlich um der Welt die „Freiheit“ zu bringen.375 Wie Ehrler legte Wehner (in seinem Reisebericht Das Land ohne Schatten von 1930) auf die Erlebbarkeit der griechischen Antike Wert.376 Wehner, seit Mai 1933 NSDAPMitglied, profilierte sich in seiner Konstruktion des ‚Inneren Reichs‘ allerdings als ausgesprochener „war poet“: „every inch a product of the trenches on the Western front“377. Die Antike beleuchtete er so als Zeitalter eines gewaltigen Heroismus und das Christentum als Kult der kämpferischen Bewährung. Sein „innere[s] Reich der Deutschen, das keinen Anfang hat und kein Ende, das unsterblich ist, auch wenn seine Formen zerbrechen“378, fließt aus den Wunden der Helden und aus dem Opfertod vom Schierlingsbecher über Golgatha bis zu den Gräben von Verdun, ein – wie die Forschung in Umschreibung des Synkretismusbefundes kon statiert hat – „schwer zu entwirrendes Konglomerat aus Elementen mythologischheidnischer und christlich-katholischer Herkunft“379. Die Formen des von Gott gewollten Reichs, ein geografisch, verfassungs- und gesellschaftspolitisch nicht konkretisiertes „Reich der Gerechtigkeit, der Ordnung und des Friedens in seinem Namen“,380 sollen darauf aus dem von Gott geschenkten Sieg über diese Widerwärtigkeiten wachsen. Ehrler hingegen integrierte das Heroische als ein Moment neben Weisheit und Heiligkeit. Meist rief er es nur so pittoresk auf wie im zitierten Gedicht „Auch das Große muß sterben“ mit der stabreimenden Anspielung auf das Nibelungenlied: ‚Helden‘, ‚Halsperg‘, ‚Hiebe‘. Wie der Nationalkonservative Alverdes betont Ehrler in erster Linie die Humanität des ‚Inneren Reichs‘. Diese Unterschiede und Gemeinsamkeiten gelten auch für die jeweils einschlägigen Kriegsbücher der drei Autoren: Wehners Sieben vor Verdun (1930) ergeht sich im masochistischen Märtyrer-Aktivismus und visionsreichen Todesrausch einer an sich unüberwindlichen, aus ihrem gesunden, gottunmittelbaren Instinkt 375 Josef Magnus Wehner: Das unsterbliche Reich. München 1933, S. 11–34 („Von der Innerlichkeit des Reiches“), hier S. 17, S. 19 u. S. 33 f. Vgl. Baird: Hitler’s War Poets, S. 66–95 („Josef Magnus Wehner and the Dream of a New Reich“). 376 Vgl. Christopher Meid: Griechenland-Imaginationen. Reiseberichte im 20. Jahrhundert von Gerhart Hauptmann bis Wolfgang Koeppen. Berlin, Boston 2012, S. 177 ff. 377 Baird: Hitler’s War Poets, S. 25. Vgl. auch Michael Gollbach: Die Wiederkehr des Weltkrieges in der Literatur. Zu den Frontromanen der späten Zwanziger Jahre. Kronberg/Ts. 1978, zu Wehner hier S. 185–209. 378 Josef Magnus Wehner: Stadt und Festung Belgerad. Hamburg 1936, S. 30. 379 Gollbach: Die Wiederkehr des Weltkrieges in der Literatur, S. 203. Klarer glauben Mohler u. Weissmann: Die Konservative Revolution, S. 371, Wehners Verhältnisse zu sehen: „Fronterlebnis und katholische Reichstradition verbinden sich in ihm“. 380 Josef Magnus Wehner: Sieben vor Verdun. Ein Kriegsroman. München 1930, S. 141.
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handelnden Frontjugend, die von einer blutleeren, verbildeten Elite in der Heeresführung am Siegen gehindert wird. Keine Verehrung hier, wie in Ehrlers Kriegspublizistik, für die erzengelhaft heiligen Generäle, hinter denen qua Bildung, Weisheit und Sendung das ‚Innere Reich‘ stünde. Wehners Vision vom „unsichtbaren deutschen Reiche“ steigt aus dem Blut, nicht aus der Bildung auf.381 Der ‚Heilige Geist‘ ist bei ihm somit auch keine Umschreibung von Bildungs- und Kulturwerten, sondern kommt aus den pfingstlichen, missionarisch-martialisch verstandenen Flammen. Alverdes’ Die Pfeiferstube (1929) bzw. Ehrlers Wolfgang (1925) spielen im Wesentlichen gar nicht an der Front, sondern in einem Krankenzimmer, in dem sich Kriegsversehrte aus unterschiedlichen Nationen, aber vom selben gehobenen Bildungshintergrund mit Schach therapieren,382 bzw. im Klassen- und Jugendzimmer des 16-jährigen Gymnasiasten Wolfgang, der die Frontbriefe seines professoralen Vaters reflektiert.383 Dass Ehrler katholisch-ökumenischer (im buchstäblichen Sinn von κατά ὅλον) und Alverdes national-germanischer dachte, entschied aber noch nicht über das Maß der jeweils möglichen NS-Beziehungen. Grundsätzlich waren beide epigonale Autoren von dem kulturpolitischen Versprechen adressiert, die ‚nationale Erneuerung‘ von 1933 bedeute auch die „Wiederauferstehung einer seit Urzeiten bestehenden, aber zeitweilig verschütteten wahrhaft deutschen Dichtung“384. Der Münchner Alverdes, Mitglied des eng gezogenen Lippoldsberger Dichterkreises und vom NS-Literaturpapst Hellmuth Langenbucher als unzeitgemäßer Nur-Ästhet angefeindet, rang dabei zwar um die betont „e c h t e Volkstümlichkeit“385 seines ‚Inneren Reichs‘, hatte aber sichtlich Schwierigkeiten damit, sich aus der kulturelitären Abgeschlossenheit herauszuargumentieren, und zeigte Interesse daran, auf kunstautonom begründete Distanzierungsmöglichkeiten gegenüber den zeitgeschichtlichen Verfänglichkeiten zumindest nicht zu verzichten: Ein Dichter, so Alverdes undiplomatisch, habe „weder seiner Nation noch sonst irgendwem oder was“ unmittelbar weiterzuhelfen.386 Der Stuttgarter Erbauungsschriftsteller Ehrler 381 Wehner: Sieben vor Verdun, S. 307. Zu Wehners Gegensatzbildung zwischen Front und Führung vgl. Gollbach: Die Wiederkehr des Weltkrieges in der Literatur, S. 195 ff.; zur Abgrenzung zwischen Alverdes und Wehner näherhin Jörg Lehmann: Imaginäre Schlachtfelder. Kriegsliteratur in der Weimarer Republik. Norderstedt 2014, S. 118 ff. u. S. 222 ff. 382 Vgl. Paul Alverdes: Die Pfeiferstube. Frankfurt/M. 1929. 383 Vgl. Hans Heinrich Ehrler: Wolfgang. Das Jahr eines Jünglings. Stuttgart 1925. 384 Hermand: Kultur in finsteren Zeiten, S. 116. 385 Alverdes: Rede vom inneren Reich der Deutschen, S. 837 (Hervorhebung im Original). 386 Vgl. Hellmuth Langenbucher: Volkhafte Dichtung der Zeit. 4. Aufl. Berlin 1941, S. 24: „Paul Alverdes äußerte die Ansicht, daß es ‚das Wesen aller echten Poesie wie aller echten Kunst‘ sei, daß sie ‚keinen Standpunkt besitze‘. Paul Alverdes schreibt: ‚Wenn einer eine Geschichte erzäh-
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stand mit den Publikumsbedürfnissen sowie der religiösen und politischen Praxis auf viel vertrauterem Fuß, hat daher auch mehr Förderung durch die volkstümlich und propagandistisch interessierten NS-Juroren erfahren. Häufiger als Alverdes, aber seltener als der Rassist Wehner benutzte Ehrler das Wort vom „Blut“ und die entsprechenden Wortverbindungen: „Brunnen meines Blutes“387, „Blut des Volkes“388, „Blutgang“389, „Blutheimat“390 etc. Ehrlers ‚Inneres Reich‘ ist trotz seiner kulturidealistischen Reinheitsrhetorik immer auch ein Zwischenreich zwischen Geist und Macht, zwischen Immaterialität und Volkskörper. Dadurch blieb es anschlussfähig an literaturpolitische Diktate wie von Langenbucher, nach dem der „Geist“ zwar „eine ‚Innenmacht‘“ sei, aber sich doch „nicht im Gegensatz zum Blut“ befinde, im Gegenteil: „Er hat seine tiefste und stärkste Wurzel im Blut. Er schwebt nicht frei im Raume, sondern lebt aus der Bindung an das Erdreich des Volkes.“391 Dies war unmittelbar gegen die Vorstellung formuliert, dass Sprache über Rasse gehe und gerade das Deutsch-Nationale vornehmlich in geistiger Substanz bestehe.392 Auch dem in nationalsozialistischen Kulturtheorien ausdrücklich erhobenen Vorwurf gegen Innenreichsideen in den Varianten zwischen Paul Alverdes, Stefan George und Oskar Loerke, sie dienten nur der eitlen Selbstneutralisierung und dem blasierten Desengagement, nähmen dem Geist das Wirkliche und ließen den geistigen Menschen individualistisch entarten,393 musste sich der allbereite Volksredner und im Schillerverein organisierte Schwabe, Pongs len will oder ein Gedicht machen, so wird er sich durch die Einsicht, daß er weder seiner Nation noch sonst irgendwem oder was damit unmittelbar weiterhelfe, von seinem Vorsatz nicht abbringen lassen.‘ Diesen Satz aussprechen heißt, die Auseinandersetzung über die Aufgabe des Dichters auf die Ebene des Spielerischen herabdrücken. Einer, der von uns heute als Dichter unseres Volkes ernst- und wichtiggenommen werden will, wird die Aufgabe des Dichters ganz anderswo sehen als da, wohin Alverdes sie mit seiner Auffassung schieben möchte.“ Dazu Mallmann-Biehler: Das Innere Reich, S. 120. 387 Hans Heinrich Ehrler: Ein Brief aus dem Graben. In: Feldzeitung derer vom Infantrie-Regiment 457, 1. Oktober 1917. 388 Hans Heinrich Ehrler: Ludwig Uhland. In: Frankfurter Zeitung, 13. November 1912. 389 Hans Heinrich Ehrler: Die Stimme. In: Die Neue Literatur 39 (1938), S. 218–220, hier S. 220. 390 Hans Heinrich Ehrler: Charlotte. Tübingen 1946, S. 12. 391 Hellmuth Langenbucher: Dichtung als Lebenshilfe. Betrachtungen über Persönlichkeiten und Werke der deutschen Gegenwartsdichtung. Berlin 1944, S. 62. 392 Vgl. exemplarisch Richard Benz: Geist und Reich. Um die Bestimmung des Deutschen. Jena 1933, S. 12 u.ö. 393 Vgl. Steding: Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, S. 58 ff., Langenbucher: Dichtung als Lebenshilfe, S. 62 u. S. 89, sowie Hans Rössner: George und Ahasver oder vom geistigen Reich. In: Die Weltliteratur 3 (1941), S. 244–248. Zu den diesbezüglichen Angriffen Stedings auf George vgl. Michael Petrow: Der Dichter als Führer? Zur Wirkung Stefan Georges im „Dritten Reich“. Marburg 1995, S. 145 ff.
5. „Innerlichkeit des Reichs“: literarische Reichsmetaphysik | 139
und Langenbucher zufolge Verwahrer der „Urbilder […] aus den Erfahrungen der Ahnen, des Stammes, des Volkes“394, kaum stellen. Zu dieser Kompatibilität verhalf ihm wesentlich seine Anlehnung an die von Friedrich Lienhard ausgeformte Sonderposition eines völkischen Kulturidealismus, der Langenbucher eigens eine Monografie, Friedrich Lienhard und sein Anteil am Kampf um die deutsche Erneuerung (1935), gewidmet hat. Demnach führt die lienhardsche „Idee von der Reichsbeseelung“ auf der Basis „christlich-religiöser Gedankengänge“ zwar „viel zu weit von unserer Sehnsucht nach dem Reich weg“; Brückenköpfe sah der nationalsozialistische Literaturpolitiker aber in dem Ansatz der Reichsbeseeler, „auseinanderwogende Massen durch die innere Erfüllung mit einer Idee [sc. des Reichs] zu einer Volksgemeinschaft umzuformen“.395 Ehrlers ‚Inneres Reich‘ im Besonderen ist stets ‚Reich im Reich‘: nicht selbstgenügsam, wie das ‚unsichtbare Reich‘ Loerkes, sondern auf die Emanation in ein Außen von Volk, Kirche und Staat angelegt. Ehrler verstand sich als ein Prophet dieses Reichs, war aber – im Gegensatz zu George – weit davon entfernt, sich selbst dessen Erschaffung, nämlich in der Poesie, anzumaßen. Dafür war er zu sehr spiritueller Realist und Supranaturalist und zu wenig ästhetischer Fundamentalist.396 In dieser Beziehung gehört er in die Nähe der literarischen NS-Legitimatoren Gerhard Schumann und Friedrich Franz von Unruh. Der SA-Aktivist Schumann, mit dem Ehrler von Mitte der 1930er bis Ende der 1940er Jahre in Kontakt stand, deklarierte für die Dichter nach seinem Geschmack: „wir stehen nicht in pathetischer Vereinsamung beiseite, wir suchen nicht die schöngeistigen Zirkel der Intellektuellen, wir suchen die deutsche Jugend, das deutsche Volk“.397 Der in Freiburg niedergelassene Unruh, ein enger Gesprächspartner von Schumann wie auch von Pongs,398 hatte die Idee des ‚Inneren 394 Pongs: Zur Lyrik der Zeit, S. 1567. 395 Hellmuth Langenbucher: Friedrich Lienhard und sein Anteil am Kampf um die deutsche Erneuerung. Hamburg 1935, S. 110 u. S. 130. Zur Rezeption Lienhards im Nationalsozialismus vgl. Hildegard Châtellier: Friedrich Lienhard. In: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871– 1918. Hg. v. Uwe Puschner, Walter Schmitz u. Justus H. Ulbricht. München, New Providence u.a. 1996, S. 114–130, hier S. 128 f. Zu seiner antirassistischen und kulturelitären Sonderrolle in der völkischen Bewegung Puschner: Die völkische Bewegung, S. 71 ff. 396 Vgl. dagegen Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt 1995, S. 114 ff., sowie ders.: Zeitkritik und Politik. In: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Hg. v. Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer u. Ute Oelmann. Berlin, Boston 2012, S. 771–826, ferner Ernst Osterkamp: Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich. München 2010, S. 83 u. S. 112. 397 Gerhard Schumann: Bekenntnis. In: Ruf und Berufung. Aufsätze und Reden. München 1943, S. 5 f., hier S. 5. 398 Vgl. Sarah Reuß: Friedrich Franz von Unruh (1893–1986). Eine biographische Skizze. In: Friedrich Franz von Unruh: Weltanschauliche Schriften. Freiburg/Br. 2007 (= Kritische Werkausgabe, Bd. 5), S. IX–CXCV, hier S. CXXXVIII f.
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Reichs‘ zuerst 1915 unter den Beschreibungen als „das geistige Reich“, „das heimliche Reich“, „innerstes Erbe von Ahn zu Ahn“ umkreist und die privaten Diskussionen darüber in seinem autobiografisch-weltanschaulichen Roman Der innere Befehl von 1939 nachgezeichnet.399 Der Wunsch zielt in diesem Buch auf ein Reich, „das nicht Macht nur und Kraft besäße, sondern auch alles, was das Leben im tiefsten Sinn gültig, ja herrlich mache“. Es sollte jedoch nicht um ein „Reich im Mond“ gehen, dessen Bewohner keine Position in der Welt ergriffen.400 Noch mehr als für Alverdes gilt für den 1926 aus der Kirche ausgetretenen Unruh, dass sein Reichs idealismus nicht im Doppelzeichen von Kreuz und Adler steht, was doch für Ehrler von seiner Rezeption des Deutschen Ordens her bis zu seiner Verbindung mit den ‚Abendländern‘ entscheidend ist. Das Christentum, so der preußische, 1919 nach Baden umgesiedelte Generalssohn, habe seinen Herrschaftsrang eingebüßt und reiche zur Gestaltung der Zukunft nicht mehr hin. Ganz anders Ehrler, der die Verjüngung des reichstragenden Christentums durch die ökumenische Bewegung erwartete (s. Kap. IV.5). Was Ehrler, Schumann, Unruh und Wehner miteinander verbindet, ist über die süddeutschen, heimatideologisch abgesicherten Lebensstandorte hinaus (selbst Unruh sprach von seiner „Heimat am Oberrhein“401), dass ihr literarischer Reichs idealismus die nationalsozialistische Kulturforderung erfüllte, das „Reich“, „Inbegriff europäischen In-Takt-Seins“, müsse als „objektive Welt“ von „verbindlicher und verpflichtender Autorität“ verstanden werden.402 Die geistige Natur des Reichs als Idee und Kulturträger durfte demnach keine „Flucht nach Innen“ begründen, vielmehr sollten die „Wälle der alten deutschen Innerlichkeit“, die namentlich von Mörike bis George „Ver-innerlichung als In-zucht“ begünstigt hätten, weiter abgetragen werden.403 Unbequem wurde es für Ehrler im Dritten Reich am ehesten dann, wenn ihm die Rolle als „christlicher Einsiedler“ in Waldenbuch, als „ewige[r] Kurgast“ in Bad Mergentheim, als Vertreter „süddeutsche[r] Reservatrechte“ oder als auf dieser Welt per se nicht befriedigbarer Gottesreichsutopist404 399 Friedrich Franz von Unruh: Der innere Befehl. Chronik eines Weges. In: ders.: Autobiographische Schriften. Hg. v. Leander Hotaki. Freiburg/Br. 2007 (= Kritische Werkausgabe, Bd. 4), S. 3–98, hier S. 33 u. S. 91. Vgl. Reuß: Friedrich Franz von Unruh, S. CXV ff., sowie Dieter Kasang: Wilhelminismus und Expressionismus. Das Frühwerk Fritz von Unruhs 1904–1921. Stuttgart 1980, S. 253–258 („Eine Unterhaltung: Machtsteigerung oder inneres Reich als Kriegsziel“). 400 Unruh: Der innere Befehl, S. 91. 401 Zit. n. Reuß: Friedrich Franz von Unruh, S. XIV. 402 Steding: Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, S. 50 u. S. 202 f. 403 Steding: Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, S. 204 f. 404 Steding: Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, S. 205 f., S. 221, S. 223 u. S. 225.
5. „Innerlichkeit des Reichs“: literarische Reichsmetaphysik | 141
dahingehend ausgelegt werden konnte, dass es ihm an Commitment mangle, er ein bloßer Ästhet und Literat sei und die katholische Dekadenz exemplifiziere (so dann der Vorwurf gegen seinen Roman Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm, s. Kap. V.1). Rückkehr zum und Übereinstimmung mit dem ‚Volk‘ stellten Pongs, Langenbucher und andere als Rahmenforderung für reichsmetaphysische Dehnübungen auf. Ehrler hatte von seiner regionalistischen Erdung und journalistisch-propagandistischen Erfahrung her wenig Schwierigkeiten, sich in diesem Rahmen zu halten.
III. Literarisch-politische Vernetzungen
1. „Reichsbeseelung“ und „Grüner Gott“: Situierungen zwischen Lienhard und Loerke
Mit der Verpflichtung auf das kulturelle Erbe des ‚Inneren Reichs‘ konnte Ehrler, der ‚getreue Haushalter‘1, nicht häufig Anlass haben, sich auf zeitgenössische Schriftsteller zu beziehen. Netzwerke zu bilden und Verbündungen zu erklären, Fraternitäten gleichsam im mittelalterlichen Sinn, lag ihm in der Verfolgung seines Synkretismus gleichwohl nahe. Die journalistische und freiberufliche Laufbahn erforderte sie, die Strukturen vor allem des konservativen und des katholischen Milieus unterstützten sie. Die semantische Klammer war dabei weit gefasst und lautete im Wesentlichen so defensiv, wie Ehrler sie 1931 gegenüber Börries von Münchhausen formuliert hat: „Es muß einen Kreis in unserer verwüsteten deutschen Dichtung geben, der zusammensteht.“2 Mit diesem ‚Kreis‘ war ein keineswegs sich rundendes, aber bis zu einem bestimmten Grad effektives Netzwerk angesprochen, in dem Ehrler eine Reihe von Kontakten zwischen protestantischem Neoidealismus, abendländisch gerichtetem Kulturkatholizismus, völkischem Ethnonationalismus und süddeutscher Kulturbewegung einschließlich ihrer starken liberalen Anteile zu verknüpfen vermochte. Die höchste Stabilität und Dichte weist dieses Gesamtnetzwerk in seinem katholischen Teilbereich auf: von der Privaterziehung im Pfarrhaus über engste Kontakte zu Herman Hefele und der katholischen Publizistik bis hin zu den Seelsorgern des Lebensabends. Dem steht der völkisch-ethnonationalistische Teilbereich nur wenig nach, in dem Ehrler die ersten Beziehungen um 1905 aufbaute und zu Ludwig Finckh zunächst Georg Schmückle, dann das Haus Langen Müller und zuletzt Gerhard Schumann hinzukamen. Im Rahmen der süddeutschen Kulturbewegung kamen Ehrler und der jüdische Erinnerungsschriftsteller Jacob Picard zwischen 1905 und 1950 wiederholt mit hoher emotionaler Intensität aufeinander zurück. Weniger dicht, wenngleich ähnlich stabil gestaltete sich die in Briefen, Besuchen und journalistisch-literarischen Referenzen 1 2
Vgl. Hans Heinrich Ehrler: Die ungetreuen Haushalter. An die deutschen Professoren der deutschen Sprache in England. In: Frankfurter Zeitung, 6. Juni 1915. Hans Heinrich Ehrler an Börries von Münchhausen, 9. August 1931, GSA Weimar, Nachlass Börries von Münchhausen, Sign. GSA 69/761.
144 | III. Literarisch-politische Vernetzungen
gelebte Beziehung zu Theodor Heuss, der von 1913 bis 1951 als „Nothelfer“3 über dem Duzfreund schwebte. Für Ehrlers vorrangiges Interesse am Gespräch mit den Toten und Verklärten des ‚Inneren Reichs‘ ist zunächst bezeichnend, dass sich einige der frühen literarischen Adressen an hochbetagte oder kürzlich verstorbene Schriftsteller richten: Wilhelm Raabe, Emil Gött und Christian Wagner. Auf Raabe hat Ehrler im November 1910 den Nachruf in der Frankfurter Zeitung geschrieben. Dieser Text verrät einiges über Ehrlers ästhetische Maßstäbe, über seine Sympathie für die Tradition und seine Auffassung von der Modernisierung als Schicksal. Raabe sei der „liebevolle Sachwalter jener lieben kleinen Welt [gewesen], die er n i c h t m e h r r e t t e n kann“.4 Sein Werk stellte ein Plädoyer für den „schrulligen Individualismus des sitzengebliebenen Kleinbürgers“ dar: Es ist der schmerzliche Kleinkrieg eines auf verlorenem Posten Gebliebenen gegen die Regimenter der marschierenden Zeit; auf einem Ehrenposten. Der Dichter steht bei seiner Klientel und stattet sie mit phantastischen Rechten und Rechtsbeweisen aus, wie ein Advokat, der sein Herz ausgibt um ein Urteil, das er schon gesprochen weiß.
Dieses Klientel seien die idealistischen Antimodernisten und edlen Provinzler, die Raabe aufrichte und um die er es „hell und freundlich“ werden lasse. Ehrler genoss und bewunderte die behagliche psychologische Wirkung Raabes: eine tröstende und erwärmende Kunst, um die es ihm selbst zu tun war. An Ehrlers Raabe-Urteil knüpft sich eine klare politische Position gegen Deutschland als militärischindustriellen Machtstaat und gegen dessen unorganisch-künstliche Einigung im Zeichen Preußens. Raabes Version des Patriotismus, so Ehrler, meine „die Liebe zum deutschen Geist, so wie man ihn herkömmlich als dem Land der Träumer eigentümlich pries, nicht die Liebe zur demonstrativen Macht“. Als eine gewissermaßen raabesche Figur präsentierte Ehrler den 1908 verstorbenen Freiburger Lebensreformer Emil Gött Ende 1911 in einer launigen Laudatio für die Frankfurter Zeitung, in der er diesem „zerebral überladenen Natursohn“ und „in Menschenliebe [sich] verschwendenden Egoisten“ letztlich bescheinigen musste, als Dichter „nicht aus den Schlacken gekommen“ zu sein: „der Dichter Gött“ sei „in 3 4
Hans Heinrich Ehrler an Theodor Heuss, undat. (März 1949), Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Nachlass Theodor Heuss, Sign. N 1221/127 (= Bundesarchiv Koblenz) (künftig: NL Heuss). Hans Heinrich Ehrler: Wilhelm Raabe. In: Frankfurter Zeitung, 20. November 1910. Die folgenden Zitate hiernach.
1. „Reichsbeseelung“ und „Grüner Gott“: Situierungen zwischen Lienhard und Loerke | 145
dem Menschen Gött stecken geblieben“.5 Den 80. Geburtstag des ‚Bauerndichters‘ Christian Wagner beging Ehrler im August 1915, wiederum mit einem Artikel in der Frankfurter Zeitung, unter dem Titel Einem alten Dichter. Es handelt sich um die mit Raabe provinzverliebte Lobrede auf den „Verbliebene[n] eines Paradies, Hüter und Priester eines Asyls, aus dem uns böse Trompeten riefen“.6 Dabei ist mit den ‚bösen Trompeten‘ auf den Ersten Weltkrieg als Menetekel der Modernisierung abgehoben. Unter den Lebenden stand Friedrich Lienhard an erster Stelle in Ehrlers Referenzsystem. Die Briefe aus meinem Kloster sind von ihrer Grundanlage her, der Adressierung an einen „Gottfried Luithard“, eine Art Hommage an den Theoretiker der „Reichsbeseelung“7 und Autor der Wege nach Weimar (1905 ff.), die „zur Erneuerung des Idealismus“8 führen sollten. Die ersten Sätze des Buches fragen, aus dem nachkriegszeitlichen „Schlamm der Sintflut“ heraus, bei ihm als geistigem Vater um Rat: „Sag, was sollen wir reden, schreiben, tun? Wohin gehen, denken, schauen nach den Zeichen des Heiles?“9 Ehrler fingierte in diesem Briefroman einen Dialog mit Lienhard, bei dem die Anreden so solidarisierend lauten wie: „Du glaubst auch, daß Deutschland nur um ein neues, von innen erneuertes Bürgertum herum wieder aufgerichtet werden könne.“10 Ehrlers Protagonist Nikolaus Köstlin teilt seine Biografie weithin mit Ehrler: Die Stationen sind – ohne Namensnennung, aber in der Charakteristik eindeutig – Mergentheim, Ingolstadt, Ellwangen 5 6
Ehrler: Emil Gött. Hans Heinrich Ehrler: Einem alten Dichter. In: Frankfurter Zeitung, 4. August 1915. Vgl. den Brief von Hans Heinrich Ehrler an Christian Wagner, undat. (1909), DLA Marbach, Sign. A:Wagner, sowie den „Ehrenabend“ für Wagner, den Ehrler im Oktober 1909 an der Freien Bühne Stuttgart veranstaltet hat: Stadt Stuttgart, Gemeinderat (Hg.): Chronik der Haupt- und Residenz-Stadt Stuttgart 1909. Stuttgart 1910, S. 117. Zu Wagner selbst vgl. Matthias Bormuth: Christian Wagner – Weltfrommer Prophet und antiker Realist. In: Wiederentdeckung eines Autors. Christian Wagner in der literarischen Moderne um 1900. Hg. v. Burckhard Dücker u. Harald Hepfer. Göttingen 2008, S. 152–177. 7 Friedrich Lienhard: Der Meister der Menschheit. Beiträge zur Beseelung der Gegenwart [1919– 1921]. In: ders.: Gesammelte Werke in drei Reihen. Stuttgart 1924–1926, Abt. 3, Bd. 5 u. 6, hier Bd. 5, S. 84: „dem d e u t s c h e n R e i c h s k ö r p e r muß noch eine d e u t s c h e R e i c h s s e e l e g e s c h a f f e n w e r d e n “. – Zur Idee der Reichsbeseelung als einer „seltsamen Mischung klassisch-humanistischer, protestantisch-neureligiöser und hybrid-chauvinistischer Ideen“ vgl. Hermand: Der alte Traum vom neuen Reich, S. 65 ff. (Zitat S. 70), sowie Châtellier: Friedrich Lienhard [1996], S. 126 f. 8 Friedrich Lienhard: Wege nach Weimar. Beiträge zur Erneuerung des Idealismus. In: ders.: Gesammelte Werke in drei Reihen. Stuttgart 1924–1926, Abt. 3, Bd. 2–4. 9 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 1. 10 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 32.
146 | III. Literarisch-politische Vernetzungen
etc. Er steigt mit Vorliebe auf Türme, um das Große und Ganze des „Vaterlands“ zu überschauen, ein Vorbild für andere: „Indes auch heut ist noch Zeit für jeden im Volk, auf den Turm zu steigen.“11 Diese Anspielungen zielen auf Lienhards kulturpatriotisches Kampfblatt Der Türmer. Einzelne Texte Lienhards werden indirekt angesprochen, z.B. wenn sich Köstlin bei Luithard bedankt: „Wie schön schreibst Du mir von Hölderlin!“12, womit auf ein Kapitel in Lienhards Der Meister der Menschheit. Beiträge zur Beseelung der Gegenwart (1919–1921) angespielt ist.13 Fast sämtliche zuerst von Lienhard justierten Axiome hat Ehrler in der einen oder anderen Abwandlung vertreten: den bildungsbeflissenen, aber antiintellektuellen Neoidealismus (für ein „Hochland vornehmer Kultur“14), die Theorie des dekadenten Materialismus der Gründerzeit (gegen die „Unvornehmheit der Gesinnung und Unschönheit der nervösen Bewegung“ unter dem „Zeichen einer glänzenden Industrie“15), den Regionalismus mit Weltgeltungsanspruch (Motto: „Wartburg, Wittenberg, Weimar“16), die Verquickung von humanistischer Geistigkeit, christlicher Liebesreligiosität und nominell nichtrassistischem Nationalismus (Motto: „Akropolis, Golgatha, Wartburg“17). Wie sich Lienhard nach Weimar zurückgezogen hat („ein Weg in die schöpferische Stille“, in „einen engsten Kreis“, um sich „doch die Welt offen“ zu halten18), so suchte Ehrler seinen „innere[n] Weg“19 im Dreieck zwischen Marbach, Tübingen und Maulbronn: in beiden Fällen „Los von Berlin“, wie eine sprichwörtlich gewordene Schrift des Elsässers L ienhard von 1900 titelte. Lienhard hat den Gruß der Briefe aus meinem Kloster von 1922 jedenfalls dankend empfangen. 1924 hat er Ehrlers Folgeroman Wolfgang zum Vorabdruck in den Türmer angenommen.20 In Lienhards Weimarer Nachlass sind zwei Briefe Ehrlers von 1921 und 1924 erhalten, in denen Ehrler die „Gemeinschaft“ 11 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 32. 12 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 163. 13 Lienhard: Der Meister der Menschheit, S. 84–107. 14 Friedrich Lienhard: Heimatkunst [1900]. In: ders.: Gesammelte Werke in drei Reihen. Stuttgart 1924–1926, Abt. 3, Bd. 1, S. 78–85, hier S. 83. 15 Lienhard: Heimatkunst, S. 79 f. 16 So die Überschrift der Einleitung von Lienhard: Deutsche Dichtung in ihren geschichtlichen Grundzügen. Vgl. Justus H. Ulbricht: Wartburg, Wittenberg, Weimar oder: In Kaisersaschernland. In: Mythical Landscapes Then and Now. The Mystification of Landscapes in Search for National Identity. Hg. v. Ruth Büttner u. Judith Peltz. Yerevan 2006, S. 92–113, sowie ders.: Der ‚Geist von Weimar‘. 17 So der Titel von Lienhard: Der Meister der Menschheit, Tl. 2. 18 Lienhard: Wege nach Weimar, Bd. 2, S. 2 u. S. 5. 19 Vgl. das Kapitel „Der innere Weg“ bei Lienhard: Wege nach Weimar, Bd. 2, S. 6–14. 20 Hans Heinrich Ehrler: Wolfgang. Das Jahr eines Jünglings. Roman. In: Der Türmer. Monatsschrift für Gemüt und Geist 27 (1925), S. 7 ff., S. 102 ff., S. 199 ff., S. 293 ff. u. S. 488 ff.
1. „Reichsbeseelung“ und „Grüner Gott“: Situierungen zwischen Lienhard und Loerke | 147
mit Lienhard und den notwendigen Zusammenhalt der „Sorgenträger des deutschen Menschenwesens“ beschwor.21 Der lienhardsche Ideenzirkel in den Briefen aus meinem Kloster umfasst einige Anlehnungen an Stefan George, in denen das wilhelminische Kaiserreich mit Verachtung gestraft und die ‚Germano-Romanitas‘ im Dienste eines welthaltigen Deutschlands und einer deutscherfüllten Welt verfolgt wird.22 Mit einem Exemplar von Georges Siebentem Ring (1907) ereignet sich in den Klosterbriefen ein erbauliches Gotteszeichen. Nachdem Nikolaus Köstlin bereits an der raubtierischen Grausamkeit der Natur zu verzweifeln begonnen hatte, lassen sich auf dem violetten Einband nacheinander drei Insekten nieder: das erste grün, das zweite rot und das dritte weiß: „Heiliges Wunder! durchzückte es mich, und aller zerronnene Trost strömte in mich zurück.“23 Georges Gedichtbuch wird so – auf der Handlungsebene des Maulbronnromans – nicht eigentlich gelesen, sondern wie ein Altar für naturfromme Offenbarungsriten behandelt. Auf der diskursiven Ebene autorisierte Ehrler sein individualistisches Mönchstum so mit dem ästhetischen Katholizismus des Siebenten Rings. Georges Gedichte wie Leo XIII, Litanei, Kölnische Madonna, Kolmar: Grünewald oder Trausnitz: Konradins Heimat24 werden nicht wörtlich, auch nicht der strengen Haltung und schon gar nicht der homoerotischen Privatreligion nach bemüht, aber doch in der feierlichen Verbindung von Andacht und Kunst, Landschaft und Geschichte. In Richtung auf den Renouveau catholique bekannte sich Ehrler – besonders in einem Beitrag zur Frankfurter Zeitung von 1911 – mit einiger Verve zum flämischen Lyriker Emil Verhaeren, von dem er sich „durch Begeisterungen und Erleuchtungen fortgenommen“ fühlte. Gemeint war freilich nicht der Verhaeren der naturalistischen Phase, sondern der zum pantheistischen Monismus Bekehrte, „zu den ländlichen Quellen, von denen er kam“, Heimgekehrte, „freier und reicher geworden“. Die früheren Großstadtgedichte des Brüsseler Autors seien rückblickend als „Visionen einer ungeheuren Ve r g e w a l t i g u n g , eine f l a m m e n d e A n k l a g e gegen einen Antichrist“ zu lesen. In seiner Lyrik nach der Bekehrung hingegen habe das „Pandämonium […] dem Eudämonium Platz gemacht“: „Jetzt ist er der Entriegelte und Entsiegelte, ein Gottbesitzer und Gottbesessener. Ein Franz 21 Ehrler an Lienhard, 20. Februar 1921. 22 Zu George in dieser Beziehung vgl. Melissa S. Lane u. Martin A. Ruehl: Introduction. In: A Poet’s Reich. Politics and Culture in the George Circle. Hg. v. dens. Rochester/NY 2011, S. 1–22, sowie Breuer: Zeitkritik und Politik, S. 779 ff. 23 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 27. 24 Stefan George: Der siebente Ring. Bearb. v. Ute Oelmann. Stuttgart 1986 (= Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. 6/7), S. 20, S. 129, S. 176, S. 177 u. S. 180.
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von Assisi eines erfüllten Glaubens an die selige Einheit aller Erscheinungen. Er verschwindet in den Dingen.“ Die geistige Biografie Verhaerens war Ehrler in einer typisch jungkonservativen, bei Carl Christian Bry wiederzufindenden Gedankenfigur (s. Kap. III.2) ein Beweis dafür, dass die literarische Moderne – „die Tafeln der Tradition zu zerschlagen und die Wege der Vorfahren zu verwerfen“ – eine vorübergehende Verwirrung war: „Verhaeren hat durchgemacht und ü b e r w u n d e n , was seine Gefolgschafter als Wesentlichstes und Neues an ihm bewundern. […] Daß sich in ihm die Passion unseres Zeitalters schwer und siegend vollzog, macht ihn uns […] zu unsrem nächsten menschlichen Bruder.“25 Mit den ‚Gefolgschaftern‘ ist kritisch unter anderem auf Verhaerens deutschen Übersetzer, Stefan Zweig, angespielt, den Ehrler noch zu modernistisch fand. Einige persönliche und poetologische Anhänglichkeit bewies Ehrler gegenüber Oskar Loerke, der ihn bei einem Berlinbesuch 1928 begleitet und ins Haus von Hermann Kasack eingeführt hat. Auf Loerkes Initiative ging Ehrlers Teilnahme an der Kasseler Tagung Literatur und Rundfunk im Herbst 1929 zurück. Beide Gelegenheiten hat der Autor lediglich dazu genutzt, seine Verständnislosigkeit gegenüber der literarischen Moderne und seinen „abseits gebildeten Standpunkt“26 zu demonstrieren. Ehrler schätzte den moderat modernen Naturlyriker – wie er sich in einem Beitrag zur Glückwunschmappe für Loerkes 50. Geburtstag 1934 ausdrückte – für die Erschaffung eines lyrischen „Raum[s], worin alles sonderbar zeichenhaft und sonderbar wirklich zugleich ist“, „wo die Gleichnisse sich zeigen und leuchten und zu lebendigen Wesen werden“.27 Ehrlers Nachlassbibliothek umfasst nahezu sämtliche Buchpublikationen Loerkes, darunter ein auf April 1928 datiertes Widmungsexemplar von Der Oger: „An H. H. Ehrler mit herzlichem Gruss, Wunsch, Dank.“ Die poetologische Verbindung zwischen Ehrler und Loerke besteht in dem, was man für die religiöse und naturmagische Dichtung der Zwischenkriegszeit 25 Ehrler: Emil Verhaeren. Zur gemeinten Entwicklung vgl. Hans-Joachim Lope: Emile Verhaeren. Poète de la ville. In: Emile Verhaeren. Poète, dramaturge, critique. Hg. v. Peter-Eckhard Knabe u. Raymond Trousson. Brüssel 1984, S. 19–40. 26 Zit. n. Ehrlers Redebeitrag im Protokoll der Kasseler Tagung: Dichtung und Rundfunk – 1929. Ein Dokument der Stiftung Archiv der Akademie der Künste. Hg. v. Helga Gutsche u. Marita Gleiss. Mit einem Essay von Hermann Naber. Berlin 2000, S. 127. – Vgl. die Szene im Haus von Kasack bei Ehrler: Meine Fahrt nach Berlin, S. 62, ferner die Erinnerung an den gemeinsamen Besuch der Kasseler Gemäldegalerie bei Hermann Kasack: Jahrgang 1896. Rückblick auf mein Leben [1966]. In: Hermann Kasack zu Ehren. Eine Präsidentschaft in schwerer Zeit. Hg. v. Herbert Heckmann u. Bernhard Zeller. Göttingen 1996, S. 27–66, hier S. 46. 27 Hans Heinrich Ehrler: [Oskar Loerke zum 50. Geburtstag], DLA Marbach, Sign. A:Loerke Geburtstagskassette.
1. „Reichsbeseelung“ und „Grüner Gott“: Situierungen zwischen Lienhard und Loerke | 149
als „theophanen Realismus“28 bezeichnet hat: Die Weltgegenstände sollten hier zu Repräsentanten einer spirituellen Realität werden, die sich in ihnen zu erkennen gibt. Angesprochen war damit – in den Worten Loerkes – der „Glaube“ an einen objektiven „Grundgedanken“ der Welt, der sich im „Gesang der Dinge“, im „Dasein des Grünen Gottes“ geheimnisvoll ausspreche.29 In den Worten Ehrlers, dass die Erscheinungen „Transparente des Mysteriums“ seien,30 die Naturerfahrung „des Vorhangs Saum“ zu einem „Mysterienraum“ bilde.31 Wie wenig dabei an einen persönlichen Gott gedacht war, zeigt z.B. Loerkes Rede von einem „religiösen Glauben“ nur an die „Gestaltung“32 und Ehrlers Bemerkung: „Wir wollen uns das Tor zum Göttlichen offen halten, auch wenn kein Thron eines Gottes dahinter steht.“33 In „Andachten des Hörens und Sehens“, in der Überwindung der „Selbstsucht“ durch die „Liebe“ – Topoi bei Loerke wie bei Ehrler –, könne das „kleine Ich der Person“ in das „große Du des Kosmos“ hinüberwechseln. Anleitung dazu bot das „von den früheren Meistern Gestiftete“, „nie Veraltende“, wobei sich Loerke mehr auf die Mystik Meister Eckharts, Ehrler mehr auf die von ihm auch sogenannte „Pantheophanie“34 des Franziskus bezog. Was bei Ehrler mit Blick auf dieses geistige Erbe das ‚Innere Reich‘ heißt, beschwor Loerke 1935 als das „unsichtbare Reich“: die „Sammlung des irgendwo und irgendwie Begonnenen in einem Binnenraum“, der „Religion des Heiligen Geistes“.35 Wie Loerke hielt Ehrler für die Lyrik an Reim und Metrum fest, um im rituellen Gleichklang der Worte der analogen Übereinkunft der Dinge nachzuspüren und den „Rhythmus
28 Daniel Hoffmann: Die Wiederkunft des Heiligen. Literatur und Religion zwischen den Weltkriegen. Paderborn, München u.a. 1998, S. 16, zu Loerke hier S. 95 ff. Vgl. auch Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 180 ff., zum „magischen Realismus“. Einen „spiritualistischen Realismus“, verstanden als das Ineinander von Natur und Übernatur, hat man überhaupt als Grundlage der katholischen Dichtung seit der Romantik beschrieben, vgl. Schmidt: Handlanger der Vergänglichkeit, S. 48 ff. 29 Oskar Loerke: Meine sieben Gedichtbücher. In: ders.: Gedichte und Prosa. Hg. v. Peter Suhrkamp. Frankfurt/M. 1958, Bd. 1, S. 651–673, Zitate S. 652 f. 30 Ehrler: Meine Fahrt nach Berlin, S. 16. 31 Ehrler: Frühlingslieder, S. 33. Teils wortgleich ders.: Moos (aus dem Nachlass). In: Tübinger Blätter 43 (1956), S. 45. 32 Oskar Loerke: Das unsichtbare Reich. Johann Sebastian Bach. In: ders.: Gedichte und Prosa. Hg. v. Peter Suhrkamp. 2 Bde. Frankfurt/M. 1958, Bd. 2, S. 54–95, hier S. 95. 33 Ehrler: Ein Pfingstbrief, S. 292. 34 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 260. 35 Loerke: Das unsichtbare Reich, S. 71.
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in den Weltbeständen“36 zu messen. Diese Formensprache vollzieht idealiter die Zauberkraft des Bindens, welche die Welt als Kosmos zusammenhält: Wie nimmst die Worte du, o Reim, Die fortgegangenen in dich heim, Wie seines Rundes Rätselraum Der Ring in den Mysteriensaum.37
Nach 1934 verlor sich die Beziehung zwischen den beiden Autoren in dem Maß, in dem Loerke aus dem öffentlichen Leben gedrängt wurde und Ehrler seine vorläufige Förderung anderen wie Langenbucher und Pongs zu verdanken hatte.
2. „jungkonservativ“ und „neukatholisch“: Wertorientierung mit Carl Christian Bry und Herman Hefele
Absichten zur Wiederherstellung und Verjüngung von im Christentum überlieferten Werten verbanden Ehrler mit dem jungkonservativen Publizisten Carl Christian Bry und dem katholischen Ästhetiker Herman Hefele. Bry, 20 Jahre jünger als Ehrler, hatte 1917 in Heidelberg bei dem Kulturhistoriker Eberhard Gothein über ein buchwissenschaftliches Thema promoviert und lebte nach Lektoratsjahren im Gothaer Perthes Verlag vorwiegend in München. 1920 gründete er in Pasing den Verlag Die Heimkehr, in dem er seine gesammelten literarischen Feuilletons herausbrachte (Die Umwelt. Eine Menschenkunde jüngster Dichtung) und das Frühwerk des NS-affinen Reichskatholiken Josef Magnus Wehner betreute (Die mächtigste Frau, 1922; Die Tropfenlegende, 1923). Im Januar 1921 trat er in die NSDAP ein. Für kurze Zeit gehörte er zum Mitarbeiterstab des Völkischen Beobachters. Carl Christian Bry steht für einen Teil katholisch gerichteter Kräfte, die den frühen Nationalsozialismus in dessen Münchner Umfeld unterstützt hatten und sich in dem Augenblick von ihm entfremdeten, als die Partei seit 1923 den Weg einer hochgradig stilisierten politischen Religion mit säkular-liturgischer Symbolik und mit messianischen Ansprüchen Hitlers einschlug.38 Als Mitarbeiter der an deutsche Rückwanderer adressierten Zeitschrift Heimkehr und als hoch engagierter 36 Loerke: Meine sieben Gedichtbücher, S. 652 f., S. 663 u. S. 669. Zur Ritualisierungsfunktion von Reim und Rhythmus vgl. Braungart: Ritual und Literatur, S. 166 ff. 37 Ehrler: Die Lichter schwinden im Licht, S. 7. Vgl. auch die poetologischen Gedichte wie Das reine Lied und Auf die schreibende Hand in Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 138 f. 38 Vgl. Hastings: Catholicism and the Roots of Nazism, S. 4 u. S. 163.
2. „jungkonservativ“ und „neukatholisch“: Wertorientierung mit Bry und Hefele | 151
Deutschlandkorrespondent des Argentinischen Tageblatts hat er sich, wie Ehrler in anderen Foren, mit heimatpflegerischen Absichten an ‚Auslandsdeutsche‘, die ‚verlorenen Söhne‘, gewandt. Bis zu seinem frühen Tod in Davos 1926 wirkte Bry als ökumenisch aufgeschlossener Beiträger des katholischen Hochlands und der evangelischen Christlichen Welt, die bei seinem früheren Arbeitgeber Perthes erschien. Mitte der 1920er Jahre kam es offenbar zu einer persönlichen Begegnung zwischen beiden Autoren im bayerischen Alpenvorland: „Zum Angedenken an den Ammersee“, lautet jedenfalls die Autorwidmung von Brys Des Buches Werdegang und Schicksal (1924) in der Nachlassbibliothek Ehrlers.39 Bry hat sich mehrfach mit besonderem Nachdruck für Ehrler eingesetzt. Im Organ Das neue Deutschland. Wochenschrift für konservativen Fortschritt widmete er ihm im Sommer 1918 den Essay Die Heimkehrenden.40 Dort kritisierte er die altkonservative Kulturkritik, weil sie sich nicht eigentlich von der Moderne der letzten 30 Jahre abgeschlossen, sondern „gerade die weniger gescheiten Schlagworte“ daraus aufgenommen hätte. Desgleichen verwarf er progressive Kulturtheorien, weil sie sich im „Chaos“ der gegenwärtigen Literaturzustände einrichten zu müssen glaubten, statt es überwinden zu wollen. Dagegen setzte Bry die Gruppe der „Heimkehrenden“ ins Recht, die auch „Jungkonservative“ oder „Neuromantiker“ genannt würden. „Jeder von ihnen“ sei aber nicht primär Gruppenmitglied, sondern „eine selbständige Persönlichkeit“.41 Der Essay nennt zunächst – und damit wird klar, wohin die Reise dieser Heimkehr geht – Hermann Burte, den völkischen Kultautor von Wiltfeber der ewige Deutsche. Die Geschichte eines Heimatsuchers (1912), und Hermann Löns, den Naturschutzpropheten von Erfolgsromanen wie Das zweite Gesicht (1911). Gemeinsam sei den „Jungkonservativen“, dass sie – eine 39 Vgl. zu Brys Biografie und Beziehungen Fuchs: In memoriam C. Ch. Bry, Hans Brandenburg: Nachruf auf C. C. Bry. In: Münchner Neueste Nachrichten, 5. März 1926, Albrecht Kindt (Hg.): In memoriam Carl Christian Bry. Geboren 12. April 1892 zu Stralsund, gestorben 9. Februar 1926 zu Davos. Leipzig 1926 (mit Nachrufen von Klabund und Karl August Meißinger), Ernst Wilhelm Eschmann: Carl Christian Bry. Versuch eines Porträts. In: Carl Christian Bry: Verkappte Religionen. Hg. v. Klaus E. Zippert. 3. Aufl. Lochham 1964, S. 9–43, sowie Martin Gregor-Dellin: Vorwort. In: Carl Christian Bry: Der Hitler-Putsch. Berichte und Kommentare eines Deutschland-Korrespondenten, 1922–1924, für das Argentinische Tag- und Wochenblatt. Hg. v. dems. Nördlingen 1987, S. 5–16. – Für Kontakte zu Personen des jungkonservativen Heidelberger Tat-Kreises vgl. Mohler u. Weissmann: Die Konservative Revolution, S. 135 ff., S. 246 u. S. 490 ff., für die NSDAP-Beziehung Hastings: Catholicism and the Roots of Nazism, S. 163. 40 Carl Christian Bry: Die Heimkehrenden. In: Das neue Deutschland. Wochenschrift für konservativen Fortschritt 6 (1918), Nr. 22, S. 526–531, hier S. 526 f. Zur Zeitschrift vgl. die Hinweise bei Mohler u. Weissmann: Die Konservative Revolution, S. 54, S. 78, S. 317 u. S. 352. 41 Bry: Die Heimkehrenden, S. 527.
152 | III. Literarisch-politische Vernetzungen
recht großzügige Deutung der betreffenden Biografien und Werkgeschichten – durch die Moderne als dem „soziale[n], politische[n], literarische[n] Fegefeuer“ hindurchgegangen seien, um das Alte wiederzuentdecken und mit neuem Wert zu erfüllen: „Volk“, „Staat“, „Macht“, „Gott“ und „Liebe“. Sie glaubten wieder, und zwar auf einer angeblich höheren, weil neu und selbst erarbeiteten Ebene, „an den ewigen Bestand der Weltordnung und die eingeborene Güte des Menschen“.42 Der reinste und reifste von ihnen sei nun Hans Heinrich Ehrler, der „keine große, aber eine um so andächtigere Gemeinde gefunden“ habe. Er sei Dichter „im ursprünglichen, weiten Sinn als moralische und politische Erscheinung“ – eine Eigenschaft, die Ehrler zwischen 1915 und 1940 regelmäßig und von vielen Seiten attestiert wurde. Durch den „Orkus der Großstadt, der Hetze und der ‚Fragen‘ hindurchgegangen“, sei er „aufs Land“ zurückgekehrt (faktisch lebte Ehrler zum Zeitpunkt des Essays in Stuttgart und arbeitete für das Kriegsministerium). Aber der „über die Fremde Zurückgekommene“ erlebe die „Erbschaft des Blutes neu, nicht mehr in der Hütte der Idylle, sondern aus einer neuen Höhenlage“. In ihm brenne die Sehnsucht, so umschrieb Bry das, was bei Ehrler zum ‚Inneren Reich‘ gehörte, „nach der Tiefe und Schönheit des Ererbten“. Die Art dieses Erbes wird näherhin damit bestimmt, dass Ehrler seine stärksten Inspirationen aus der „Jahrtausende alten Überlieferung der Kirche“ nehme, „jener seltsamen, auf dieser Erde vielleicht nur einmal gelungenen Verbindung von Diplomatie und Humanität, Stolz und Demut, Zucht und Heiterkeit“. Mit Ehrlers Vorbild müsse sich die „Zahl und Wirkung“ derer vermehren, die „heimkehren aus der Friedlosigkeit des Geistes“.43 Bry kam nach 1918 noch mehrfach auf Ehrlers Werk zurück, und dies immer in der Verbindung von Jungkonservatismus und Neokatholizismus. In einem Hochland-Aufsatz von 1923 z.B. verglich er seinen Dichter mit dem im Vorjahr zum Katholizismus konvertierten Gilbert Keith Chesterton: Ehrler spiele die „Chestertonsche Weise in Moll“, übe nämlich die Kritik am modernen Materialismus und die Bewunderung für den mittelalterlichen Idealismus mit mehr Pathos als Humor.44 Im Nachwort seines Erfolgsbuchs Verkappte Religionen. Kritik des kollektiven Wahns, eines Versuchs, „dem Glauben“ durch die Beseitigung ideologischen
42 Bry: Die Heimkehrenden, S. 527 f. Nicht nur die Vorstellung der betreffenden Dichter als ‚Persönlichkeiten‘, sondern auch der Anspruch des durch die Moderne ‚Hindurchgegangenseins‘ lässt diese Ausführungen anklingen an Lienhard: Heimatkunst, S. 79 u. S. 84. Zum Jungkonservatismus als „Konservatismus der Persönlichkeiten“ vgl. auch Mohler u. Weissmann: Die Konservative Revolution, S. 118. 43 Bry: Die Heimkehrenden, S. 528–531. 44 Carl Christian Bry: G. K. Chesterton. In: Hochland 20/1 (1922/23), S. 374–391, hier S. 374.
2. „jungkonservativ“ und „neukatholisch“: Wertorientierung mit Bry und Hefele | 153
Aberglaubens „Bahn [zu] brechen“45, erklärte der NSDAP-Renegat sein Interesse an den lebenden Dichtern, die uns „lehren können, den Menschen und Dingen, den Bestrebungen und Bewegungen ganz unbefangen ins Gesicht zu schauen“. Dafür nannte er wiederum zunächst Chesterton und ging dann ausführlich auf Ehrler ein, um zu dem Schluss zu kommen: Hans Heinrich Ehrler hat manchen Satz geschrieben, der aufs Zentrum auch meines Buches geht. „Wollen wir nicht“, sagt bei ihm ganz unfeierlich und menschenfromm der geistliche Fürsorger zum weltlichen, der Pfarrer zum Arzt, „wollen wir nicht die Menschen inzwischen ein bißchen leben lassen, damit sie auf jeden Fall zwischen unseren beiderseitigen Bemühungen etwas Greifbares haben?“ Der innere und tiefe Grund meines Aufräumbuches ist in diesem einfachen Satz gestaltet, wärmer und leuchtender, als ein Kritiker es kann.46
Bry bezog sich vor allem auf Die Reise ins Pfarrhaus und auf die Briefe aus meinem Kloster, in denen er Ehrler als Vorbild freier Denkungsart bei gleichzeitiger Traditionsverbundenheit aufstellte. Ehrler, „ein Katholik und ein Europäer“, „jeder Scharlatanerie […] abgeneigt“,47 sei gleich weit entfernt von nationaler Beschränktheit wie von charakterlosem Internationalismus. Im Gegensatz zu den Vertretern der modernen „Afterreligionen“ habe er sich eine Liebe zur Schöpfung bewahrt, die keine Reduktion der Realität erlaube, wie sie etwa Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus betrieben. Ehrler sei der vorbildliche Vertreter eines „heimkehrenden Denkens“, das die Welt nicht als Kampfplatz von Ideologien, sondern als Wohnplatz für Menschen begreife. Was katholisch sei, nahm Bry im weitesten Sinn: vor allem Humanität und Weltoffenheit, sodann Realismus verstanden als Verzicht auf die Ambition des Weltumsturzes und auf die Hybris der Selbsterlösung. Zum völkisch besetzten Thema der „Veredelung“ stellte er fest, dass sie kein rassenhygienisches, sondern ausschließlich ein individuelles Projekt sein könne: „keine Angelegenheit der Völker und Volkssippen, noch nicht einmal der Familie, sondern ein schwer zu tragendes, weil unschuldigschuldig errungenes Glück begnadeter Einzelner“; auch dies ergebe sich aus der ethischen Haltung Ehrlers, wie sie namentlich aus seinen Briefen vom Land hervorträte.48 45 Fuchs: In memoriam C. Ch. Bry, S. 503. 46 Bry: Verkappte Religionen [Ed. Gregor-Dellin], S. 244. 47 Bry: Verkappte Religionen [Ed. Gregor-Dellin], S. 53 u. S. 244. 48 Carl Christian Bry: Verkappte Religionen. Kritik des kollektiven Wahns. Gotha 1924, S. 241 f. (fehlt in der Neuausgabe von Gregor-Dellin).
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Wie Bry den Dichter beschrieben hat, gehört er politisch-ideengeschichtlich eindeutig in diejenige Strömung der „Konservativen Revolution“, die später auch Armin Mohler, unter Voranstellung Wilhelm Stapels, als „jungkonservativ“ bestimmt hat: mit den Kriterien des nichtrassistisch katholisch-protestantischen Ordnungsdenkens, der überstaatlichen Reichsidee, des ständestaatlichen Föderalismus und der christlich-sozialen Tradition, dabei in Erwartung einer grundlegenden Erneuerung von Staat und Gesellschaft nach eben diesen Maßgaben und somit im Unterschied zu einem nur verharrenden Altkonservatismus.49 Auch dass der Jungkonservatismus, wie sich Mohler ausdrückte, „eine gewisse Elastizität in der Einstellung zur Republik“50 zeigen und die Revolution 1918/19 als naturhaftorganischen Vorgang betrachten konnte, deckt sich mit der politischen Biografie Ehrlers. Tatsächlich war es ein patriotisch akzentuiertes Anliegen Brys, es mögen aus den „befristeten Republikanern“ der frühen 1920er Jahre „ganze“ und „mitarbeitende Republikaner“ für einen „Freistaat“ werden, dessen rechtsnationale Gegner sich im völkischen Rausch des Hitler-Ludendorff-Putsches diskreditiert hätten.51 Die jungkonservative Einordnung lässt sich nachfolgend durch Ehrlers Position im Katholizismus präzisieren. Denn dort stand er rechtskatholischen, reichsvisionär und ständestaatlich ausgerichteten Kreisen nahe, für welche die ideologische Überschneidung und Verschmelzung mit dem Jungkonservatismus als charakteristisch gelten kann.52 Der in der jüngeren Forschung zum Kulturkatholizismus und zur politischen Theoriegeschichte umfangreich berücksichtigte Italianist Herman Hefele, aus einer Familie hoher katholischer Amtsträger (der Vater Emil von Hefele war Präsident des württembergischen Oberkirchenrats), hatte 1909 in Tübingen über die
49 Vgl. Mohler u. Weissmann: Die Konservative Revolution, S. 115 ff., S. 277 ff. u. S. 490 ff.; in der Erstausgabe: Armin Mohler: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Grundriß ihrer Weltanschauungen. Stuttgart 1950, S. 172 ff., zu Bry hier S. 230 u. S. 246. Vgl. zur Bestimmung des Jungkonservatismus auch Weiß: Moderne Antimoderne, S. 68 ff. unter Bezug bes. auf Moeller van den Bruck: Das dritte Reich, S. 197–243 („Konservativ“). Zur Kritik dieser (Selbst-)Beschreibungen einschließlich eines angeblichen Programm- und Bewegungscharakters der ‚Konservativen Revolution‘ vgl. Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution, S. 180 ff. 50 Mohler u. Weissmann: Die Konservative Revolution, S. 132. 51 Bry: Der Hitler-Putsch, S. 90. 52 Vgl. Gabriele Clemens: Rechtskatholizismus zwischen den Weltkriegen. In: Katholizismus, nationaler Gedanke und Europa seit 1800. Hg. v. Albrecht Langner. Paderborn, München u.a. 1985, S. 111–130, hier S. 119 ff. u. S. 125 f.
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Anfänge des Franziskaner- und des Dominikanerordens promoviert.53 Eine anschließende Priesterausbildung brach er aus Opposition gegen die antimodernistischen Lehrschreiben von Pius X. ab. Im München der Vorkriegszeit war er am Forschungsprojekt „Historischer Atlas von Bayern“ angestellt, engagierte sich in der liberalkatholischen Krausgesellschaft und schrieb für deren Zeitschrift Das Neue Jahrhundert.54 Während Ehrler in Freiburg und Stuttgart Weltkriegspropaganda betrieb, diente Hefele im Roten Kreuz mit Einsätzen unter anderem in Belgien und Südfrankreich. 1919 wechselte er auf eine Stelle als Regierungsrat im Württembergischen Staatsarchiv Stuttgart. Zu dieser Zeit wirkte er bereits an Eugen Diederichs jungkonservativ sich entwickelnder Zeitschrift Die Tat mit und steuerte mehrere Bücher zu Diederichs’ neoreligiös ambitioniertem Verlagsprogramm bei, darunter die in der Liturgiebewegung einflussreiche, zwischen 1919 und 1928 mehrfach aufgelegte Poetik Das Gesetz der Form.55 In anderen Verlagen veröffentlichte Hefele unter anderem eine ausführliche Dante- und eine schmalere Machiavelli-Werkbiografie (1921 bzw. 1933) sowie eine Auswahlübersetzung aus Machiavelli (1927). Ab Mitte der 1920er Jahre beteiligte sich der Romanist intensiv an der auf europäische Verständigung durch katholische Erneuerung ausgerichteten Zeitschrift Abendland und besuchte deren Unterstützerkreis im westfälischen Wallfahrtsort Werl. Der protestantische Religionshistoriker Ernst Troeltsch schätzte Hefeles Bei53 Vgl. Clemens Bauer: Herman Hefele. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Freiburg/Br., Basel u.a. 1965, S. 487–515, Ruster: Die verlorene Nützlichkeit der Religion, S. 157 f., Vollhardt: Hochland-Konstellationen, S. 87 ff., Dahlheimer: Carl Schmitt und der deutsche Katholizismus, S. 63 ff., S. 106 ff., S. 134 f., S. 255 f. u. S. 294 ff., sowie Otto Weiß: Der Modernismus in Deutschland. Ein Beitrag zur Theologiegeschichte. Regensburg 1995, S. 377–382 („Vom ‚Modernismus‘ zum ‚Römischen Katholizismus‘ – Herman[n] Hefele“); ferner Karsten Kruschel: Hefele, Herman(n Josef). In: Deutsches Literatur-Lexikon. Das 20. Jahrhundert. Begr. v. Wilhelm Kosch. Hg. v. Lutz Hagestedt. Bd. 15. Berlin, New York 2010, Sp. 360–362. 54 Vgl. zu Verein und Organ ausführlich Jörg Haustein: Liberal-katholische Publizistik im späten Kaiserreich. Das Neue Jahrhundert und die Krausgesellschaft. Göttingen 2001, S. 21, S. 139, S. 147 u.ö. 55 Vgl. Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs, S. 101, S. 109, S. 236 f. u. S. 308, zum Diederichs-Kreis instruktiv Friedrich Wilhelm Graf: Das Laboratorium der religiösen Moderne. Zur „Verlagsreligion“ des Eugen Diederichs-Verlags. In: Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen-Diederichs-Verlag – Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme. Hg. v. Gangolf Hübinger. München 1996, S. 243–298, sowie Edith Hanke u. Gangolf Hübinger: Von der „Tat“-Gemeinde zum „Tat“-Kreis. Die Entwicklung einer Kulturzeitschrift. In: ebd., S. 299–334. – Zum Gesetz der Form vgl. Sandra Richter: A History of Poetics. German Scholarly Aesthetics and Poetics in International Context 1770–1960. Berlin, New York 2010, S. 201–204; zur Rezeption durch Guardini vgl. Lorenz Wachinger: Der andere Guardini. Autobiographisches, Tagebücher, Briefe. In: Stimmen der Zeit 226 (2008), S. 693–704, hier S. 703.
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träge, namentlich Das Gesetz der Form und Dante, als „geistreiche Vertretungen dieser ganzen Gedankenwelt“, nämlich des „Neukatholizismus“ oder katholischen Modernismus.56 Carl Schmitt, der mit Hefele in brieflicher und persönlicher Beziehung stand, bezog sich mehrfach positiv auf ihn für einen römisch gerichteten Ordnungskatholizismus, in dem Fragen der Transzendenz und des Seelenheils hinter Aspekte der ästhetischen, rechtlichen und politischen Form zurücktraten: Hefele habe am Leitfaden Machiavellis „das Politische gegenüber dem Oekonomischen wieder in seine menschlichen Rechte eingesetzt“57, habe den Staat als eine „Form im ästhetischen Sinne“58 begründet. In der politisch-religiösen Literatur der 1920er und frühen 1930er Jahre wurde Hefele mit Schmitt, Guardini, Alois Dempf und Hermann Platz regelmäßig in einem Atemzug genannt.59 1929 folgte Hefele dem Ruf auf ein Ordinariat für Geschichte mit dem Schwerpunkt Literaturgeschichte an der Staatlichen Akademie Braunsberg (Braniewo) im Bistum Ermland, einer kleinen, konfessions- und minderheitenpolitisch jedoch exponierten Einrichtung für die katholische Diaspora in Ostpreußen.60 Die Hochschule umfasste neben der Theologischen eine Philosophische Fakultät, die vor allem der Allgemeinbildung der Theologiestudenten und des Priesternachwuchses diente. Hefele, befriedigt über den Titel eines „Universitätsprofessors in Braunsberg i. Pr.“, hat sich mit dieser auf ihn zugeschnittenen Aufgabe identifiziert und sich 1931/32 auch als Rektor für die Belange der Akademie eingesetzt.61 Seine 56 Ernst Troeltsch: Rezensionen und Kritiken (1915–1923). Hg. v. Friedrich Wilhelm Graf. Berlin, New York 2010, S. 547. 57 Carl Schmitt: Machiavelli. Zum 22. Juni 1927. In: Kölnische Volkszeitung, 21. Juni 1927, zit. n. Dahlheimer: Carl Schmitt und der deutsche Katholizismus, S. 296. 58 Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. 7. Aufl. Berlin 1996, S. 34. Vgl. auch Carl Schmitt – Rudolf Smend: „Auf der gefahrenvollen Straße des öffentlichen Rechts“. Briefwechsel 1921–1961. Hg. v. Reinhard Mehring. 2., überarb. Aufl. Berlin 2012, S. 71 mit der Bemerkung Schmitts vom 26. April 1928, ein „Aufsatz Hefeles über den Begriff des Politischen [bringt] meinen Gedankengang besser nahe als meine eigene, unzulängliche Darlegung“; gemeint ist: Herman Hefele: Zum Problem des Politischen. In: Abendland 3 (1928), S. 203–205. Zu Schmitts Hefele-Rezeption vgl. Dahlheimer: Carl Schmitt und der deutsche Katholizismus, bes. S. 294 ff., sowie Reinhard Mehring: Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie. München 2009, S. 149, S. 618 u. S. 634. 59 Vgl. Dahlheimer: Carl Schmitt und der deutsche Katholizismus, S. 96 ff. 60 Faktenreich hierzu Roland Engelhart: Die Berufung Herman Hefeles an die Staatliche Akademie Braunsberg im Jahre 1929. In: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands 46 (1991), S. 117–143; vgl. zur Stellung der Akademie zwischen römischer Kirche und preußischem Staat auch Gerhard Reifferscheid: Das Bistum Ermland und das Dritte Reich. Köln, Wien 1975, S. 54 ff. 61 Vgl. Hans Preuschoff: Bischof Kaller, die Braunsberger Akademie und der Nationalsozialismus. In: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands 40 (1980), S. 105–133, hier S. 119.
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Bestattung erhielt er 1936 auf eigenen Wunsch am nahen Bischofssitz in Frauenburg (Frombork). Ehrler hat ihm unter dem Titel Abschied von Herman Hefele Nachrufe im Euphorion und im Wort in der Zeit geschrieben: einmal in Gedichtform, einmal in Form eines Briefes, wie auch Hefeles Hauptwerk Das Gesetz der Form in Briefen an tote viri illustres (wie Cäsar, Dante, Erasmus und Napoleon) abgefasst war. Ehrler wollte der Erste sein, „Dir einen letzten Gruß zu schicken, […] über Deutschland hinweg nach Ostpreußen in die Deutschordensstadt Frauenburg, wo sie Dich morgen begraben“.62 Von einer Begegnung im Winter 1919/20, zur Zeit von Hefeles Umzug von München nach Stuttgart,63 datiert jene intime Beziehung, in der Hefele die Manuskripte des Dichters kommentierte, ihm neue Kontakte wie zu Joseph Bernhart64 sowie zum Werl-Soester Kreis (s. Kap. V.3) verschaffte und ihm nicht zuletzt zur Auszeichnung mit dem Preis des Württembergischen Goethebundes 1927 verhalf: Hefele war Mitglied des Preiskomitees und auf Ehrler eingeschworen.65 Im selben Jahr setzte Ehrler dieser Freundschaft in der als Buch veröffentlichten Novelle Bruder Hermans Klause ein Denkmal: Zu dem Klausner mit Hefeles Vornamen (in der spezifischen Schreibung mit nur einem ‚n‘) tritt dort ein Altarmaler namens Heinrich und malt ein Madonnenbild, welches das Gesicht der Geliebten Hermans, eines Symbols der sophia perennis, trägt.66 Wie Bry sah Hefele in Ehrler nicht den „gemütvollen Schwabendichter[]“, zu dem ihn die völkischen Kreise „für ihre eigenen kleinen politischen Ziele“ erklärten,67 sondern einen weltoffenen Europäer: „In das, was man die schwäbische Dichtung nennen mag, ist Ehrler nur schwer einzureihen. […] So steht er im Grund genommen trotz mancher Ähnlichkeit des lyrischen Ausdrucks Mörike viel ferner als dem symbolisch ernsten und festen Goethe.“68 Der „letzte Inhalt, auf den Ehrlers Symbolwille“ ziele, sei „die große 62 Hans Heinrich Ehrler: Abschied von Herman Hefele [Offener Brief]. In: Das Wort in der Zeit 3 (1935/36), S. 1057 f., hier S. 1057. Wenige Wochen zuvor hatte Ehrler noch eine Laudatio auf Hefele aus Anlass von dessen 50. Geburtstag verfasst, vgl. Hans Heinrich Ehrler: Herman Hefele zum 50. Geburtstag. In: Das Wort in der Zeit 3 (1935/36), S. 793–796. 63 Vgl. Herman Hefele an Hans Heinrich Ehrler, 18. Februar 1920, DLA Marbach, Sign. A:Ehrler. 64 Vgl. Bernhart: Erinnerungen, Bd. 1, S. 857. 65 Vgl. Hefele an Ehrler, 2. Dezember 1927. 66 Vgl. Hans Heinrich Ehrler: Bruder Hermans Klause. Stuttgart 1927. 67 Bry: Verkappte Religionen [Ed. Gregor-Dellin], S. 244. 68 Herman Hefele: Zu Hans Heinrich Ehrlers Lyrik. In: Der Schwäbische Bund 3 (1921/22), S. 391–394, hier S. 392 u. S. 394. Zur oft konstatierten Ähnlichkeit von Ehrlers Lyrik mit derjenigen Mörikes vgl. z.B. C. N.: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Lieder an ein Mädchen. In: Zeitschrift für Bücherfreunde 5 (1913), S. 27: „Seit Mörike vernahmen wir nicht wieder solche Klänge“. Vgl. auch Hans Heinrich Ehrler: Dem alten Mörike. In: ders.: Gedichte [1919], S. 104,
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Einheit der schaffenden Natur, der eng lebendige Ring von Sonne und Blut, von Erde und Mensch, von Jahreszeit und Geschichte“; „unter all der Mannigfaltigkeit seiner stofflichen Welt“ sei doch „immer nur das eine Urerlebnis des sonnengesegneten Quellens und Keimens wirksam, das in Liebe und Geschichte gegebene Aufleuchten des Bewußtseins aus dem Meer der Natur“.69 Damit wies Hefele in Richtung jenes Pantheismus, den Ehrler früh unter franziskanischen Auspizien ausgesponnen hat. Gegenüber einem rassistisch-nationalistischen Wortsinn von Blut und Boden wollte der an Dante geschulte Ästhetiker zugleich betont haben: [Ehrlers] lyrisches Schaffen ist mit unvergleichlicher Reinheit und Klarheit auf die einzige Aufgabe symbolischer Deutung gerichtet. […] Ihm ist alles Sein vollgültiges Gleichnis. […] Dies ist auch der tiefere Sinn seiner leidenschaftlichen Hinneigung zu den großen Tatsachen von Heimat und der Familie und zu dem Wunderwerk der bindenden und ewig fortgestaltenden Überlieferung […].70
Ein „sehr kritischer Freund“71 war der Klassizist Hefele dem ‚Neuromantiker‘ Ehrler dort, wo er auf der Basis eines elitären Bildungskatholizismus und katholisch-renaissancistischen Rationalismus die romantische Annahme bestritt, dass Religion Gefühl sei und Dichtung an dieses Gefühl appelliere. „Der Katholizismus“, diktierte Hefele 1920 im Gral, „ist innere Ordnung, seelische Gestaltung und Formung, eine bewußte Kultur des Geistes nach fremdem Gesetz, eine gewollte Gliederung des seelischen Eigenlebens nach einer sicheren, unverrückbaren, ewig geltenden Hierarchie der Werte“.72 Substantielle Religion, so die Position Hefeles im Referat durch Ernst Troeltsch, bestehe in „festen logischen Ordnungen und Formen“; dagegen bleibe die Gottesidee bei diesem katholischen Modernismus „in
ders.: Vorwort. In: Eduard Mörike: Gedichte. Mit neun Scherenschnitten von Maria Jutz. Stuttgart 1920, S. V–VII, ders.: Eduard Mörike in Mergentheim. Zu seinem 50. Todestag. In: Frankfurter Zeitung, 4. Juni 1925, ders.: Das Erlebnis mit Eduard Mörike. In: ders.: Mit dem Herzen gedacht, S. 135–141. 69 Hefele: Zu Hans Heinrich Ehrlers Lyrik, S. 392 f. 70 Hefele: Zu Hans Heinrich Ehrlers Lyrik, S. 392 f. 71 Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 43. Zur persönlichen Nähe und konzeptionellen Diskrepanz zwischen Ehrler und Hefele vgl. auch Hermann Binder: Herman Hefele. In: Dichtung und Volkstum. Neue Folge des Euphorion 38 (1937), S. 157–170, sowie Bernhart: Erinnerungen, Bd. 1, S. 854 ff. 72 Hefele: Über die Möglichkeiten einer katholischen Literatur, S. 236. Zum Katholizismus nicht als Weltanschauung, sondern als „ritueller Ordnungsästhetik“ vgl. mit Belegen aus dem GeorgeKreis Braungart: Ästhetischer Katholizismus, S. 176 ff. (Zitat S. 181).
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einer gewissen skeptischen Ferne“.73 Es ist eben diese Ferne, die Ehrler ‚pantheophanisch‘ zu überbrücken trachtete, und es ist der Hang zur Distanzaufhebung, mit der er sich in die Nähe des Kitsches oder, wie Hefele auch sagte, des Melodramatischen begab. Auf Das Gesetz der Form (1919, Neuauflagen 1921 und 1928) antwortete Ehrler 1928 mit seinem umfangreichen Weltanschauungsbuch Das Gesetz der Liebe, laut Klappentext ein „religiöses Brevier für jedermann“, in dem er eine Literatur der emotional und intellektuell entgegenkommenden Erbauung mit der Schwäche der menschlichen Natur begründete. In den Positionen Hefeles und Ehrlers stehen sich somit die Prinzipien von formal organisierter Rechtskirche und pneumatisch unsichtbarer Liebeskirche gegenüber, deren Verhältnis in der katholischen Theologie der Zeit heftig diskutiert wurde und als deren Exponenten einerseits Carl Schmitt, andererseits Ernst Michel (Politik aus dem Glauben, 1926) galten.74 Die Enzyklika Mystici corporis Christi von 1943 hat beiden Seiten schwere Irrtümer attestiert: den Schwärmern einer selbst ausgedachten, aus Liebe aufgebauten Kirche ebenso wie denen, die den Katholizismus als eine effiziente menschliche Organisation ohne notwendigen Realbezug zur Übernatur verstanden.75 Wie Ehrler war Hefele ein literarisch-politischer Autor, der neben und mit der poetologischen Theoriebildung immer auch zu öffentlichen Richtungsdiskussionen beitrug wie in seinen Aufsätzen Autorität und Freiheit (1910), Die konservative Aufgabe des deutschen Katholizismus (1919), Demokratie und Liberalismus (1924/25), Zum Problem einer Politik aus dem katholischen Glauben (1927) und Zum Problem des Politischen (1928). Auf diesem Gebiet zeigte er sich einerseits wenig offen für das liberal-republikanische Uhlanderbe, das Ehrler zeitlebens in Pflege nahm, andererseits nüchterner als Ehrler gegenüber politisch-religiösen Heilsversprechungen. Hefeles Lehraufgaben im katholischen Ermland umfassten Veranstaltungen für die Erwachsenenbildung. Einer öffentlichen Vorlesung im 73 Troeltsch: Rezensionen und Kritiken, S. 547 f. 74 Vgl. aus dem Erscheinungsjahr von Das Gesetz der Liebe die zusammenfassende Abwägung von Gallus Maria Manser: Rechtskirche und Liebeskirche. In: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 6 (1928), S. 3–13; zu Schmitt und Michel vgl. Dahlheimer: Carl Schmitt und der deutsche Katholizismus, S. 82 ff. 75 Pius XII.: Mystici corporis Christi. In: Acta Apostolicae Sedis 35 (1943), S. 193–248, hier S. 222 f.: „Ex iis, quae adhuc, Venerabiles Fratres, vobis scribendo explanandoque persecuti sumus, omnino patet gravi eos in errore versari, qui ad arbitrium suum quasi latentem minimeque conspicuam fingant Ecclesiam; itemque qui eam perinde habeant atque institutum quoddam humanum cum certa quadam disciplinae temperatione externisque ritibus, at sine supernae vitae communicatione. […] Quapropter funestum etiam eorum errorem dolemus atque improbamus, qui commenticiam Ecclesiam sibi somniant, utpote societatem quandam caritate alitam ac formatam, cui quidem […] aliam opponunt, quam iuridicam vocant.“
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Wintersemester 1933/34 legte er Ehrlers Roman Die Frist zugrunde.76 In dieser Wahl lenkte ihn wohl nicht zuletzt die Annahme von der Unbestechlichkeit des Dichters durch den Nationalsozialismus, zu dem Hefele nicht die Hand reichte. Anfang 1933 hatte sich der Ordinarius mit Rückendeckung seines Bischofs, Maximilian Kaller, gegen die Mehrheit seiner Braunsberger Kollegen wie Hans Barion, Karl Eschweiler und Joseph Lortz gestellt, die zu den überhaupt einschlägigsten ‚Brückenbauern‘ der Zeit gehörten, nämlich einen katholischen Zugang zur nationalsozialistischen Weltanschauung im Horizont von Antiliberalismus und Antirationalismus, Glaubensbereitschaft und Gemeinschaftsbewusstsein zu weisen suchten.77 Dieser nachhaltige Konflikt hatte sich bereits unmittelbar nach den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 abgezeichnet. Noch bei einem gemeinsamen Besuch der Marienburg im Februar des Jahres hatten sich Hefele, Barion und Carl Schmitt, der von Berlin angereist war, offenbar bestens verstanden.78 In Schmitts Tagebuch vom 4. August, das einen Besuch Eschweilers und Hefeles in Berlin dokumentiert, zeigt sich hingegen das Zerwürfnis, in dem Hefele für das Zentrum („die Jesuiten“) Partei ergriff, Schmitt dagegen „ganz auf der Seite von Eschweiler“ stand, der dem Nationalsozialismus das Recht auf restlose Beseitigung des politischen Konfessionalismus zuerkannte.79 Unter dem direkten Einfluss Schmitts haben Eschweiler und Barion, die beide in die NSDAP eintraten, die staatlichen Machtbefugnisse über Leib und Leben weiter ausgelegt, als es kirchlicher Lehrmeinung entsprach, und darüber hinaus die Möglichkeit einer Trennung von Religion und Weltanschauung zum Zweck der Koexistenz erwogen. Sie bewarben den Nationalsozialismus im akademischen Unterricht und standen ferner im Verdacht, 76 Vgl. Herman Hefele an Hans Heinrich Ehrler, 27. Dezember 1933 u. 15. Februar 1934, DLA Marbach, Sign. A:Ehrler. Zu öffentlichen Vorlesungen mit für das ermländische Publikum geeigneten Themen war Hefele auch in den Berufungsverhandlungen verpflichtet worden, vgl. Engelhart: Die Berufung Herman Hefeles, S. 138; zu Hefeles regionaler Popularität vgl. ebd., S. 139. 77 Im Detail hierzu Reifferscheid: Das Bistum Ermland und das Dritte Reich, S. 34 ff. Zu Eschweiler und Lortz auch Hürten: Deutsche Katholiken, S. 221 ff., zu Eschweiler ferner Ruster: Die verlorene Nützlichkeit der Religion, S. 293 ff., zu Hefeles Opposition auch Weiß: Der Modernismus in Deutschland, S. 382, sowie Robert Anthony Krieg: Catholic Theologians in Nazi Germany. New York 2004, S. 44. Zu Bischof Kallers vergleichsweise langem Festhalten am Zentrum und an der Verurteilung des Nationalsozialismus als einer Irrlehre vgl. Sösemann: Konziliante Kommunikation im Katholizismus während der NS-Diktatur, S. 146. Zu den Affinitäten und Friktionen zwischen Rechtskatholiken und Nationalsozialismus grundsätzlich Clemens: Rechtskatholizismus zwischen den Weltkriegen, S. 127 ff. 78 Carl Schmitt: Tagebücher 1930–1934. Hg. v. Wolfgang Schuller in Zusammenarbeit mit Gerd Giesler. Berlin 2010, S. 179: „schön mit Hefele über Goethe und Hölderlin geplaudert“. 79 Schmitt: Tagebücher 1930–1934, S. 206.
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die Reichsregierung zur Politik gegenüber der katholischen Kirche zu beraten. Der Uniformträger Eschweiler bekundete in der Tat „Freude und Befriedigung“, zu jenem „durch Adolf Hitler ermöglichte[n] Werk der nationalen Einigung und Erneuerung“ beizutragen, das „für das zeitliche wie für das ewige Heil jedes Deutschen so wichtig“ sei.80 Eine nicht zu unterschätzende Stimme in der ostpreußischen Diaspora war das Ermländische Kirchenblatt, Organ der „Katholischen Aktion“ im Ermland und Hauspostille von Bischof Kaller. Von dieser Seite unternahm man im Gefolge von Kallers vehementem Aufruf Unsere katholischen Aufgaben von heute vom April 1933 eine Mobilisierung des katholischen Selbstbewusstseins: „Wir leben in einer […] radikalen Zeit. Auch wir müssen radikal sein. Radikal katholisch, begeistert katholisch.“81 Dies schloss Wendungen gegen eine faktische Nationalsozialisierung der Akademie ein, besonders gegen den Sportunterricht in SA-Kleidung und gegen die Befürwortung von Weltanschauung neben Religion. Eine klare Sprache der Opposition wurde hier nicht geführt, aber die Vorgeschichte einer ‚verdeckten Schreibweise‘ eröffnet, in der es z.B. hieß: „Es ist leider wahr, daß im ‚christlichen‘ Europa Christen, und katholische Christen, vergessen haben, daß C h r i s t u s unser F ü h r e r ist, dem alle folgen sollen“82, und zum Thema der Trennung von religiöser und weltanschaulicher Autorität: „für einen Christen [kann] die Formulierung nur lauten: ‚Jesus Christus ist unser höchster Führer im Himmel und auf Erden.‘“83 Für Sachkundige eindeutig war folgende Stichelei gegen die NS-Fraktion an der Akademie: „In Deutschland ist heute eine Menschensorte aufgestanden, die wir die Weltanschauer nennen wollen. [...] Auch theologische und andere Professoren schauen heute die Welt an, während sie früher nur die Bücher, die Examina und ihr Gehalt anschauten.“84
80 Zit. n. Hans Preuschoff: Zur Suspension der Braunsberger Professoren Carl Eschweiler und Hans Barion. In: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands 45 (1989), S. 115–140, hier S. 122. Zu den umstrittenen Lehrmeinungen und der Rolle Schmitts vgl. Reifferscheid: Das Bistum Ermland und das Dritte Reich, S. 36, S. 45 u. S. 52 f., sowie Dahlheimer: Carl Schmitt und der deutsche Katholizismus, S. 486 ff. 81 Maximilian Kaller: Unsere katholischen Aufgaben von heute. In: Ermländisches Kirchenblatt 2 (1933), S. 206 f. 82 August Scharnowski: „Herr, hier ist gut sein für uns“. In: Ermländisches Kirchenblatt 2 (1933), S. 129 f. 83 [Anon.]: „Jesus Christus ist der höchste Führer im Himmel, auf Erden aber...“. In: Ermländisches Kirchenblatt 3 (1934), S. 331 f., hier S. 332. Vgl. August Scharnowski: Christus unser Führer. In: Ermländisches Kirchenblatt 2 (1933), S. 296 f. 84 Otto Miller: Aus dem Reich der Weltanschauer. In: Ermländisches Kirchenblatt 3 (1934), S. 184.
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Ende 1934 intervenierte der Vatikan in die Braunsberger Angelegenheiten: Die Kurie entzog Barion und Eschweiler die Lehrbefugnis und schaltete beide Professoren damit für den Unterricht aus. Kaum ein Jahr später jedoch wurden die Suspensionen, unter anderem zur Durchführung der Abschlussprüfungen, wieder aufgehoben. Barion und Eschweiler sollen beim Reichswissenschaftsministerium in Berlin versucht haben, Hefele als den Opponenten des ‚Brückenbaus‘ an der Akademie an eine größere Universität versetzen zu lassen, „weil er dort nach ihrer Meinung weniger Schaden anrichten könne als in Braunsberg“.85 Eine allgemein gehaltene Note gegen die Angriffe aus dem Ermländischen Kirchenblatt hat Hefele im Juli 1934 mitunterzeichnet, um einem Ansehensverlust der Akademie zu begegnen. In Forschung und Lehre galten seine „Regimegegnerschaft“ und damit seine „Sonderstellung“ im Kollegium als unzweifelhaft.86 Hefele starb 50-jährig am 30. März 1936, einen Tag nach der Volksabstimmung über die Rheinlandbesetzung, die Bischof Kaller mit Hirtenbrief vom 24. März 1936 begeistert und gegen die Einwände Ungenannter begrüßt hat: Um den Gewissensbedenken, die an mich herangebracht werden, zu begegnen, erkläre ich: In aufrichtiger Liebe zu unserem Vaterlande, in Treue zu unserem Volk und seinem Führer, geben wir heute in freier Entschließung dem Vaterlande unsere Stimme, weil unser Gewissen uns verpflichtet, in einer so entscheidungsvollen Stunde in geschlossener Einmütigkeit für die Freiheit unseres Landes, für die Ehre unseres Volkes und für den Frieden der Welt einzutreten.87
Hefele vertrat, nach einer liberalkatholischen Phase vor dem Ersten Weltkrieg, dezidiert staatsautoritäre und ordohierarchische Politik- und Gesellschaftsvorstellungen, die er ausführlich zuerst in Das Gesetz der Form entwickelte, einem Buch, das seine Entstehung an den flandrischen Kriegsschauplätzen – im „politische[n] Elend dieser Tage“, in dem sich „die Menschheit um der Macht willen [zerfleischt]“ – beständig mitreflektiert.88 Er verneinte jedoch die Vermittlungsmöglichkeit des römisch-katholischen Universalismus gegenüber den völkisch-rassistischen Grundlagen des Nationalsozialismus. Aus dem Ethnischen als der Natur, der Will-
85 Preuschoff: Zur Suspension der Braunsberger Professoren Carl Eschweiler und Hans Barion, S. 127. 86 Vgl. Reifferscheid: Das Bistum Ermland und das Dritte Reich, S. 46 f. u. S. 49 f., Zitate S. 50. 87 Maximilian Kaller: Erklärung zur Abstimmung am 29. März 1936. In: Ermländisches Kirchenblatt 5 (1936), S. 208. 88 Herman Hefele: Das Gesetz der Form. Briefe an Tote. Jena 1919, S. 102 u. S. 113.
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kür und dem „engen Zirkel des Eigennutzes“89 zugehörig, ließ sich für ihn kein Ideal ableiten. Allerdings sprach er von einem unterschiedlichen Wert der Völker, nämlich insoweit sie einen unterschiedlich stark ausgeprägten Willen zur Idee, zur Ordnung und zum Staat in sich trügen.90 Deutschland und Italien besaßen für ihn in diesem Sinne den Vorrang, solange sich der deutsche Katholizismus am ewigen, in der Kirche lebendigen Rom orientiere und damit die „Brücke vom deutschen Wesen zu den dem römischen Geist verwandten Kulturen Westeuropas“91 schlage. Frankreich würdigte er wohlwollend, weil es „neben einer reifen Kultur als altes römisches Erbe ein gewisses Maß von Rechtsbewußtsein und politischer Logik“ besitze,92 das Napoleon auf einen europäisch vorbildlichen Höchststand gebracht habe. Wie Ehrler z.B. in seinem Gedicht 1813 (s. Kap. IV.1) wandte sich Hefele gegen die antinapoleonische Agitation im deutschen Nationalismus. Sein Kerneuropa bildete die ‚Romanitas‘ Italiens und Frankreichs zusammen mit der katholischen ‚Germanitas‘ Süd- und Westdeutschlands. „Der Katholizismus“, lautete einer von Hefeles Leitsätzen, „ist in erster Linie römisch, oder er ist gar nicht.“93 Die italienische Renaissance, in ihrer absoluten intellektuellen und ästhetischen Überlegenheit über die deutsche Reformation, hielt der Rationalist und Antiromantiker nicht für den Ausdruck irgendeines Nationalgeistes, sondern für den Höhepunkt eines Universalismus, in dem absolute Ordnungen in einer unerreichten Reinheit und Klarheit gedacht und formuliert worden seien. Der Katholizismus könne und müsse der Träger dieses „universalen Kulturwillens“94 in Deutschland werden. Nicht das deutsche Kaisertum, sondern der guelfische Kleinstaat, selbstständig, aber der Gottesreichsidee des Papsttums zugeordnet (‚Gottesreich‘ oder ‚Reich Gottes‘ hier als ins Diesseits gespiegelte Transzendenz verstanden), war ihm das Muster politischer Ordnung, das in den Reichsreformdebatten der Weimarer Republik und in Forderungen der Zentrumspartei nach regionaler Autonomie bzw. Wahrung der ‚Stammeseigenarten‘ nicht ohne aktuelle Bezüge war.95 Ein Lob der alten deutschen Reichsstadt formulierte er 89 90 91 92 93
Hefele: Das Gesetz der Form, S. 121. Vgl. Hefele: Das Gesetz der Form, S. 112. Herman Hefele: Der Katholizismus in Deutschland. Darmstadt 1919, S. 50. Hefele: Das Gesetz der Form, S. 115. Hefele: Über die Möglichkeiten einer katholischen Literatur, S. 235, wortgleich ders.: Der Katholizismus in Deutschland, S. 49. 94 Hefele: Der Katholizismus in Deutschland, S. 50. 95 Vgl. Hefele: Der Katholizismus in Deutschland, S. 43–49 („Die guelfische Aufgabe des deutschen Katholizismus“). Dazu Klöckler: Reichsreformdiskussion, Kemp: Das Deutschlandbild der Deutschen, S. 139–152 („Konstruktionen eines Raumes: Deutsche Raumsensibilität, deutsche Raumhysterie, deutsche Raumplanung“), Klaus-Jürgen Matz: Länderneugliederung. Zur
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mit der Annahme, Machiavelli, „ein glühender Verehrer deutschen Wesens“, habe „das vollendete und gesunde politische Volk und seine virtù in der Gestalt des in seinen Reichsstädten demokratisch organisierten deutschen Volkes“ bewundert; bei den „kleinen süddeutschen Reichsstädten namentlich“ hätten seine Gedanken verweilt. Vom „freie[n] Deutschland“ habe sich Machiavelli „eine Erneuerung des Abendlands“ erhofft.96 Eine „gesunde Heimatliebe“97 schien dem Schwaben Hefele mit dem abendländischen Projekt sehr vereinbar, ja notwendig, um das Weltumspannungsstreben des Reichs im Regionalen zu verankern. Ansätze einer stammesethnologischen Literaturbetrachtung fanden in seinem Kunstideal einschließlich seines Ehrlerurteils gleichwohl keinen Platz. Schiller-, Hölderlin- oder Mörike-Adulationen kamen für den Romanisten und Goetheverehrer nicht in Betracht, nicht die Heidelberger „Phantasten der Romantik“98 und noch weniger so etwas wie Heimatliteratur. Sein unvollendetes Spätwerk, eine Schillerbiografie, deren umfangreicher erster Teil im Jahrbuch des Schillervereins von 1936 unter dem Titel Schillers Entwicklung bis zur Mannesreife herausgegeben wurde, konzentriert sich kritisch auf „Schillers politische Leidenschaft“, rügt das „unerträgliche Pathos“ darin und setzt Herzog Karl Eugen demgegenüber in ein günstiges Licht.99 In Aufsätzen wie für die Zeitschriften Hochland und Abendland, aber auch in seinem Beitrag Die römische Wirklichkeit (1927) zur Festschrift für Carl Muth, den Archegeten des katholischen Klassizismus, hat Hefele antiindividualistische und antiliberale Positionen apodiktisch ausgesprochen, insbesondere die Ein- und Unterordnung des Subjekts unter einen autoritären Staat nach kirchlichem Vorbild und im ewigen Geist der ‚römischen Zucht‘ idealisiert.100 Noch 1933 in seiner 1944 Genese einer deutschen Obsession seit dem Ausgang des Alten Reiches. Idstein 1997, S. 53 ff., sowie Jürgen John: „Unitarischer Bundesstaat“, „Reichsreform“ und „Reichs-Neugliederung“ in der Weimarer Republik. In: „Mitteldeutschland“. Begriff – Geschichte – Konstrukt. Hg. v. dems. Rudolstadt, Jena 2001, S. 297–375; für den katholischen politischen Regionalismus Lekan: Imagining the Nation in Nature, S. 88 ff., Steber: Ethnische Gewissheiten, S. 198 ff., sowie Retterath: Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte, S. 245 ff. 96 Herman Hefele: Niccolo Machiavelli. Lübeck 1933, S. 19 u. S. 24 f. 97 Hefele: Das Gesetz der Form, S. 109. 98 Hefele: Das Gesetz der Form, S. 117. 99 Herman Hefele: Schillers Entwicklung bis zur Mannesreife. In: ders.: Geschichte und Gestalt. Sechs Essays. Mit einem Nachwort hg. v. Clemens Bauer. Leipzig 1940, S. 117–282, hier S. 174 f. u. S. 191. 100 Vgl. Herman Hefele: Die römische Wirklichkeit. In: Wiederbegegnung von Kirche und Kultur in Deutschland. Eine Gabe für Karl Muth. München 1927, S. 195–206. Zu diesen Positionen Faber: Über politisch-religiöse Ganzheitsvorstellungen europäischer Faschismen, S. 50 f. u. S. 111 f. Zum kirchlichen Hintergrund für Antiliberalismus und autoritäre Staatsvorstellungen zusammenfassend Joachim Köhler: Der deutsche Katholizismus zwischen Widerspruch zur na-
2. „jungkonservativ“ und „neukatholisch“: Wertorientierung mit Bry und Hefele | 165
als Feldpostausgabe neu aufgelegten Monografie Niccolo Machiavelli hat er die Unterwerfung des Individuums unter den unbedingten Staatswillen nachvollzogen und den guten Bürger als „aufopferungsfähige[n] Patriot[en]“101 entworfen. Hefele unternahm schwierigste Operationen, um die Demokratie vom Liberalismus zu trennen. Tatsächlich hielt er beide geradezu für unvereinbar und ihre Verwechselung für einen der größten Irrtümer der deutschen, protestantisch-romantisch getrübten Ideengeschichte. Hierbei definierte er Liberalismus durch freiwüchsigen Egoismus, Demokratie durch gepflegten Gemeinsinn: Liberalismus ist Natur; seine Kenntnis trägt jeder, willig oder widerwillig, in sich selbst. Demokratie ist geformte Kultur; ihre Kenntnis will erworben sein. […] Jeder Liberalismus geht aus vom Glauben an den bestimmenden Wert des einzelnen und vom Mißtrauen gegenüber dem Wert der Gemeinschaft und ihrer Forderungen. Der demokratische Mensch aber ist von Natur Objektivist. […] Er fühlt sich, räumlich wie zeitlich, nur als Glied der Kette der Gemeinschaft.102
Das Mehrheitsprinzip galt Hefele nichts: Um den „immanenten Willen der Gesamtheit“, nämlich des „durch Familie und Beruf gegliederte[n] Volk[es]“ geht es in dem, was er die „wesenhafte Demokratie des mittelalterlichen Europa“ nannte.103 Der Volkswille finde seinen „angemessenen Ausdruck im augustinischen Kleinstaat inmitten großer nationaler Verbände“104, d.h. in der Verbindung von Regionen und Reich. Die politischen Motive von Hefeles Italo- und Frankophilie liegen daher in der „Universalmonarchie Dantes oder Napoleons“105, die eine bürgerlich-ständische Ordnung im Kleinstaat mit einer übernationalen Rechtsordnung verbinde. Ähnliche Ideen der Aufeinanderbezogenheit von Föderalismus tionalsozialistischen Ideologie und nationaler Loyalität. In: Die katholische Schuld? Katholizismus im Dritten Reich – Zwischen Arrangement und Widerstand. Hg. v. Rainer Bendel. 2. Aufl. Münster 2004, S. 143–176, hier S. 153 ff. 101 Hefele: Machiavelli, S. 10. 102 Herman Hefele: Demokratie und Liberalismus. In: Hochland 22/1 (1924/25), S. 34–43, hier S. 36 u. S. 38. Vgl. ders.: Autorität und Freiheit. In: Das Neue Jahrhundert 2 (1910), S. 253–257. 103 Hefele: Demokratie und Liberalismus, S. 35 u. S. 40. Zum verfestigten Gemeinschaftsbegriff in der katholischen Dogmatik der Zeit, mit der Kirche als einer „geschlossene[n], geordnete[n] Einheit der Gläubigen, als eine über den Persönlichkeiten webende, in heiligen Ordnungen und Ämtern sich auswirkende Gemeinschaft“ vgl. Adam: Das Wesen des Katholizismus, S. 44 f.; dazu Scherzberg: Katholische Dogmatik und Nationalsozialismus, S. 183 ff. 104 Hefele: Demokratie und Liberalismus, S. 40. 105 Hefele: Demokratie und Liberalismus, S. 41. Vgl. ders.: Zum Problem einer Politik aus dem katholischen Glauben. In: Abendland 2 (1927), S. 195–197.
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und Universalismus unter Berufung auf das dezentral-subsidiär aufgebaute Weltreich augustinischen Entwurfs spielten noch in den katholischen Einschlägen der Südweststaatsdiskussionen nach 1945 eine Rolle.106 Die Novemberrevolution, für die Ehrler ein gewisses Verständnis aus unbefriedigtem 48er-Geist aufbrachte, fand bei Hefele Anfang 1919 ein vernichtendes abschließendes Urteil: Sie habe ihre „bestimmte Physiognomie“ nicht vom „Wesentliche[n] des bürgerlichen Geistes“ erhalten, dem „ewige[n] Wille[n] zu Recht, Ordnung und Form, zu objektiver Fülle und zu gesitteter Gestaltung“, sondern von jenem „beweglicheren und vorlauteren Teil ihrer Anhängerschaft [...], von diesen Menschen, die nicht aus wirtschaftlicher, sondern aus seelischer Not, aus einem dauernden Unbehagen liberaler Provenienz heraus in revolutionäre Bewegtheit“ geraten seien.107 Seinen einschlägigen Aufsatz Revolution und Bürgertum hat Hefele in der von Ehrler mitherausgegebenen Zeitschrift Der Schwäbische Bund veröffentlicht. Den Italofaschismus beurteilte der katholische Theoretiker gewissermaßen als ein Fegefeuer in der Überwindung des subjektivistisch und kapitalistisch aufgestellten Liberalismus, seine Zukunftserwartungen setzte er auf die Christdemokratie. Über Luigi Sturzo, den Anführer der 1926 verbotenen Zentrumsschwesterpartei „Partito Popolare Italiano“ und späteren Gründer der „Democrazia Cristiana“, hat er in einer Rezension von dessen Buch Italien und der Faschismus (in der deutschen, von Alois Dempf verantworteten Ausgabe 1926) geurteilt: Sturzo gilt in Italien, und zwar weit über die Grenzen seiner eigenen Partei hinaus, als der Gegenspieler Mussolinis […]. Er vertritt auch als einziger neben Mussolini eine Sache der Zukunft: die Sache der vom Liberalismus gereinigten Demokratie. Zweifellos ist seine politische Idee reicher, geistiger, menschlicher und darum endgültiger als die Mussolinis.108 106 Vgl. Klöckler: Abendland – Alpenland – Alemannien, bes. S. 90 ff. 107 Herman Hefele: Revolution und Bürgertum. In: Der Schwäbische Bund 1 (1919/20), S. 111– 117, hier S. 111. 108 Herman Hefele: Sturzo und der Faschismus. In: Hochland 24/2 (1926/27), S. 706 f., hier S. 707, unter Bezug auf Luigi Sturzo: Italien und der Faschismus. Übers. v. L. u. A. Dempf. Köln 1926. – Dempf selbst hat Übereinstimmungen zwischen Katholizismus und Faschismus im Antiliberalismus und Antisozialismus gesehen, aber auch „eine grundsätzliche Verschiedenheit der Kulturanschauung“ herausgestellt und sich konkret gegen den „fascistischen Einparteienstaat“ ausgesprochen, in dem der Katholizismus seine Rechte nicht durch eine eigene Partei vertreten könne; vgl. Alois Dempf: Die Stellung des Katholizismus zum Fascismus. In: Europäische Revue 8 (1932), S. 750–754, Zitate S. 753 f. Zum Hintergrund Wolfgang Altgeld: Katholisches Christentum im faschistischen Italien 1922 bis 1943 und in der Zeit der Resistenza. In: Christ-
2. „jungkonservativ“ und „neukatholisch“: Wertorientierung mit Bry und Hefele | 167
An derselben Stelle heißt es aber ebenso, und dies konnte anderen als Argument für eine transitorische, bestenfalls absorbierende Kooperation mit dem deutschen Faschismus gelten: Es versteht sich von selbst, daß die ausführliche Schilderung der faschistischen Revolution und der mit so vieler Härte verbundenen Bildung des faschistischen Staats durchaus kritisch gemeint ist. Und doch klingt Sturzos Buch in vielem wie eine Apologie Mussolinis. Was blieb auch diesem vom Liberalismus verseuchten und entnervten […] Lande anderes übrig.109
Über das Ethos Machiavellis erklärte Hefele 1933 schlüsselhaft für die eigenen Lebensumstände in der Weimarer Republik ebenso wie im NS-Staat: Machiavelli ist kein Überläufer gewesen. […] Er hat […] die Republik in der Zeit der Krisis nicht, wie so viele andere, verlassen, als er es noch mit Nutzen hätte tun können. Er blieb auf dem sinkenden Schiff und stand zu seiner Sache, bis sie entschieden und rettungslos verloren war. Dann erst als das Spiel der Republik verloren und ehrlich liquidiert war, als eine neue Partie begann, meldete er sich zur Mitarbeit. […] Das Entscheidende war ihm der Staat, und er war groß und selbstlos genug, dem Staat zu dienen auch in einer Form, die nicht nach seinem persönlichen Geschmack war.110
Hefele ‚diente‘ dem NS-Staat defensiv in Erfüllung seiner Aufgaben an der Akademie, brachte sich aber im Unterschied zu seinen Kollegen Barion und Eschweiler nicht proaktiv etwa mit Vorschlägen und Gutachten beim Reichswissenschaftsministerium ein und wollte sich hüten, ein „Agent der Tyrannis“111 zu werden. Zu dieser Engagementbeschränkung trug eine jungkonservativ elitaristische Grundeinstellung bei, mit welcher der Tübinger Alumnus vertrat, dass ein „klares Erfassen des lateinischen Geistes“ ohnehin stets auf eine „verschwindende Minderheit“ liches Ethos und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Europa. Hg. v. Anselm Doering-Manteuffel u. Joachim Mehlhausen. Stuttgart 1995, S. 86–101. 109 Hefele: Sturzo und der Faschismus, S. 707. Zum positiven Interesse deutscher Rechtsintellektueller an der gesellschaftlichen Disziplinierung durch den Faschismus, am cäsarischen Führungsstil Mussolinis sowie der Restitution des Staates als sichtbarer und verantwortlicher Machtinstanz vgl. Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution, S. 124–135 („Italia docet“), sowie Weiß: Moderne Antimoderne, S. 343–364 („Jungkonservatismus und Faschismus“). 110 Hefele: Machiavelli, S. 38 f. 111 Hefele: Machiavelli, S. 10.
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beschränkt bleibe.112 Unter diese Elite rechnete er aber nicht die Politiker und Minister, die ohnehin ständig wechselten (davon ging er noch 1933 aus), sondern die höheren Beamten wie Machiavelli – und sich selbst.113 Hefele war im Braunsberger Rechtskatholizismus von seinem Profil her eigentlich richtig aufgehoben und eine konsequente Besetzung. Sein politisch-ästhetischer, römisch-cäsaristisch orientierter Klassizismus hätte die theologischen Positionen von Barion, Eschweiler und Lortz zu einer schmittianischen Hochburg in Ostpreußen ergänzen können. Trotzdem führte von dieser Affinität zum autoritären Denken in der Tat „keine Einbahnstraße“114 zu nationalsozialistischen Bekenntnissen oder auch nur zu Kollaborationsversuchen. Hefeles katholisch-triumphalistische Ordnungstheorien waren letztlich zu straff entworfen, zu konzis auf historische Autoritäten und europäisch-kleinstaatliche Vorbilder festgelegt, mithin mehr an einem europäischen Deutschland als einem deutschen Europa interessiert, als dass er sich am katholisch-nationalsozialistischen ‚Brückenbau‘ hätte beteiligen können. Er hielt intransigent an der Überzeugung fest, dass der römische Katholizismus in Deutschland „um sich herum alle Strebungen konservativer Festigung des geistigen Lebens zu kristallisieren“ habe.115 Die Kirche als Form dieses Katholizismus behielt ihre Unverfügbarkeit gegenüber dem Staat, der „als solcher nie ein Letztes und Absolutes“116 sein könne. Dass die Kirche als Erbin des antik-römischen Geistes ein Memento staatlicher Organisation bedeutet, führte dabei gerade nicht zu Kreuz-und-Adler-Synthesen. Ehrler wusste gut, warum er in seinem Prosanachruf Abschied von Herman Hefele zur nationalen Frage sehr vorsichtig formulierte: „Die Wertung der hohen gestalthaften Zeiten führte Deine Neigung zeitweilig der Vorliebe für die italienische Renaissance zu, aber wer Deinem Innenweg nachging, sah Dich im Vorhof der Gestaltung unserer deutschen Dinge.“117 Richtig ist, dass Hefele „meilenweit entfernt von nationalem Pathos“ operierte, sein Sendungsgedanke nicht Deutschland an sich, sondern dem Katholizismus galt, der die „supranationale Aufgabe des Brückenbaus zwischen den Kulturen“ zu erfüllen hatte.118 Abendland und Reich auf eine genuin deutsche Mission zu beziehen, verband Ehrler weniger mit dem ‚Römer‘ Hefele als mit den beiden Innenreichstheoretikern Paul Alverdes und Josef Magnus Wehner (s. Kap. II.5) 112 Hefele: Der Katholizismus in Deutschland, S. 52 f. 113 Vgl. Hefele: Machiavelli, S. 14. 114 Dahlheimer: Carl Schmitt und der deutsche Katholizismus, S. 100. 115 Hefele: Der Katholizismus in Deutschland, S. 50. 116 Hefele: Zum Problem einer Politik aus dem katholischen Glauben, S. 196. 117 Ehrler: Abschied von Herman Hefele [Offener Brief], S. 1058. 118 Dahlheimer: Carl Schmitt und der deutsche Katholizismus, S. 107.
3. „Aber deutsch wollen wir doch sein“: Ethnonationalismus | 169
sowie mit zwei badisch-württembergischen Exponenten des Ethnonationalismus, Ludwig Finckh und Georg Schmückle.
3. „Aber deutsch wollen wir doch sein“: Ethnonationalismus mit Ludwig Finckh und Georg Schmückle
Eng, aber nicht durchgehend freundschaftlich gestalteten sich Ehrlers Beziehungen zu Ludwig Finckh und Georg Schmückle, Vertretern eines deutsch-alemannischen Ethnonationalismus und literarischen Vorreitern des Rechtsextremismus im Südwesten der Weimarer Republik.119 Mit dem in Freiburg und Berlin ausgebildeten Mediziner Finckh war Ehrler bereits von gemeinsamen Bodenseetagen um 1905 her bekannt. Als nächster Vertrauter Hermann Hesses begann Finckh kurz nach der Jahrhundertwende eine Karriere als „Heimatdichter der eher sentimentalen Art“120. In seiner Autobiografie Himmel und Erde von 1961, die vor allem Hesse vereinnahmt, erinnerte er sich gönnerhaft auch an Ehrler: „Ich entdeckte frische Talente. Da war ein Mensch an eine Konstanzer Zeitung geraten, der ein wirklicher Dichter war, er schrieb einen ganz unzeitgemäßen Stil und schöne Gedichte, er hieß Hans Heinrich Ehrler. Ich stellte ihn vor.“121 Offenbar hat Finckh den Redakteur Mitte 1911 an den Langen Verlag vermittelt, bei dem er selbst gerade mit Die
119 Vgl. zu den ideologischen Führungsrollen beider Autoren Otto Borst: Dichtung und Literatur. In: Das Dritte Reich in Baden und Württemberg. Hg. v. dems. Stuttgart 1988, S. 183–210. 120 Decker: Hermann Hesse, S. 136. Vgl. Bosch: Bohème am Bodensee, S. 45 ff., mit apologetischer Tendenz Julia Jäger: Ludwig Finckh. Ein Leben als Arzt und Dichter (1876–1964). Herzogenrath 2006, sowie zusammenfassend Hans Sarkowicz: Finckh, Ludwig. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2. Aufl. Hg. v. Wilhelm Kühlmann. Bd. 3. Berlin, New York 2008, S. 446 f. – Zur zeitgenössischen Einschätzung vgl. Hugo Ball: Hermann Hesse. Sein Leben und sein Werk [1927]. Hg. v. Volker Michels. Göttingen 2006, S. 93 f.: „Er hat nicht die Schärfe eines Grammatikers, nicht jene Skrupel seines Handwerks, die dem Schriftsteller eignen müssen, wenn seine Stimme soll vorhanden sein. Er schreibt seine Sätze wacker und frisch heraus, wie sie der Dialekt seines Herzens und seiner Heimat ihm eingeben. Aber er ist, in gemeinsamen Gaienhofener Tagen, ein Landarzt, ein Tier- und Menschenfreund, wie es wenige gibt. Er liebt sein Reichsstädtchen Reutlingen, als sei die ganze Welt aus diesem Punkte zu kurieren.“ Vgl. dagegen mit ausdrücklicher Kritik an der Wertung Hugo Balls die Hochschätzung durch Erhard Jurrian Bruder: Ludwig Finckh. In: Die Neue Literatur 37 (1936), S. 196–208, hierzu auch Bruder: Über Hans Heinrich Ehrler. 121 Ludwig Finckh: Himmel und Erde. 8 Jahrzehnte meines Lebens. Stuttgart 1961, S. 23, vgl. auch ebd., S. 94, sowie Georg Fahrbach, Hilde Böklen, Otto Heuschele u.a.: Ludwig Finckh zum hundertsten Geburtstag. Ulm 1976, S. 36 f.
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Reise nach Tripstrill aufgenommen worden war.122 Am Ende desselben Jahres hat sich Ehrler mit der Bitte um Rezension seines Romandebüts Briefe vom Land, „an notabler Stelle, etwa in Zürich“,123 an Finckh gewandt. Der Dichterarzt reagierte umgehend mit Laudationen wie über den neue[n] Mann, von dem niemand etwas wußte und der gleich mit einem fertigen, untadeligen Kunstwerk ans Licht trat […]. Er ist lange Zeit auf einem Redaktionsstuhl gesessen in Konstanz und in Karlsruhe, sogar in Politik verstrickt, und seit Jahren raunten sich Eingeweihte etwas ins Ohr von einem sagenhaften Gedichtband, der bei Cotta liege und nie herauskomme. Dann machte er sich eines Tages frei, setzte sich ins Vaterland, in die aufgehende Sonne, nach Friedrichshafen hinein und ließ nun wie wilde Tauben seine „Briefe vom Lande“ los […], die dem guten Rousseau das Herz im Leibe lachen ließen, wenn er’s kennte. […] Das Buch hat Stil und Rasse und jeder einzelne Brief ist ein feingeschlagenes Stück Goldarbeit.
Finckhs Auffassung vom Protagonisten der Briefe vom Land – „Einer auf dem Lande, der zuviel Kultur geschluckt hat“ – geht an Ehrlers idealistischen Intentionen allerdings vorbei, ist vielmehr charakteristisch für sein eigenes Misstrauen gegenüber Kultur im Abstand zur Natur.124 Trotzdem überrascht das rasche und gründliche Zerwürfnis von 1913. An den Journalisten Hermann Missenharter von der Württembergischen Zeitung schrieb Ehrler am Ende jenes Jahres: „EunuchenKitsch darf man nicht aufnehmen, auch wenn er von dem nicht mehr Dichter L. F. Gaienhofer stammt“ (Ludwig Finckh lebte in Gaienhofen am Bodensee).125 Während des Ersten Weltkriegs und der Novemberrevolution hatten sich Finckhs nationalistische und antirepublikanische Haltungen so weit verfestigt, dass er – nach dem Urteil seines enttäuschten Freundes Hesse „ein typischer Deutschnationaler“126 – in einem Offenen Brief unter dem Titel An Hans Heinrich Ehrler. 17. November 1918 gegen die „Linksblock-Politik“ und den reichsro122 Vgl. Hans Heinrich Ehrler an Ludwig Finckh, 21. September 1911, Stadtarchiv Reutlingen, Nachlass Ludwig Finckh (künftig: NL Finckh), Sign. N 14 e prov. Nr. 9. – Zur parallelen Dichterkarriere von Ehrler und Finckh vgl. auch Rudolf Krauss: Jung-Schwaben in der deutschen Literatur. In: Der Greif. Cotta’sche Monatsschrift 1 (1913/14), S. 109–128. 123 Hans Heinrich Ehrler an Ludwig Finckh, 16. November 1911, NL Finckh, Sign. N 14 b Nr. 13. 124 Finckh: Schwabenbücher, S. 107. 125 Hans Heinrich Ehrler an Hermann Missenharter, 6. Dezember 1913, Stadtarchiv Stuttgart, Autographensammlung. 126 Hermann Hesse an Ludwig Finckh, 6. März 1947, zit. n. Decker: Hermann Hesse, S. 643. Vgl. zu Finckhs politischer Entwicklung Jäger: Ludwig Finckh, S. 33 ff.
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mantischen Partikularismus Ehrlers Front machte, ihm hierbei ausdrücklich auch vorwarf, „undeutsch“ zu denken, zu fühlen und zu handeln: „Aber deutsch“, so Finckhs Appell an Ehrler, „wollen wir doch sein, nicht in der Enge des Kleinstaates verkrümeln, nicht in die Nebel des Weltstaats verblauen.“127 Finckh teilte nicht das Interesse an einer größeren politischen Ordnung im Gleichgewicht zwischen Kleinstaaten und Reichsverband, wie es Ehrler vertrat und in den sogenannten Großschwaben-Plänen der Reichsreformdiskussion widerklang.128 Der Ethnonationalist wollte die national-deutsche ‚Eiche‘ aus den stammesethnischen ‚Wurzeln‘ wie insbesondere der alemannischen kurieren. An kleinstaatlich-reichsverbandliche Formen, an eine ‚alemannische Republik‘, den perikleischen Kulturstaat eines ‚schwäbischen Volkes‘, wie Ehrler sie in zwei großen Stuttgarter Reden vom November und Dezember 1918 ansprach,129 war dabei weniger gedacht, auch nicht an Demokratiemodelle uhlandscher oder alemannisch-schweizerischer Prägung. Finckh wandte sich gegen eine ‚Verschweizerung‘ im Sinne des Partikularismus und der weltanschaulichen Liberalität. Der Eindruck, Ehrler habe 1918/19 an der rechtsintellektuellen Seite Finckhs gestanden, um „die seit dem 9. November vielfach erschütterten Ordnungsbegriffe wieder zurechtzurücken“ und den Menschen zu helfen, „sich auf die stellenweise abhandengekommene Haltung zu besinnen“,130 ist daher nur bedingt zutreffend, wurde auch von Zeitgenossen so nicht geteilt.131 Zu verzeichnen ist allerdings, dass Ehrler mit Finckh und anderen einen „Öffentlichen Einspruch“ in der Süddeutschen Zeitung gegen die „Losreißung von Elsaß-Lothringen“ und gegen die Einräumung einer überwiegenden Kriegsschuld
127 Ludwig Finckh: An Hans Heinrich Ehrler. 17. November 1918. In: ders.: Wiederaufbau. Konstanz 1919, S. 7 f., hier S. 7. 128 Vgl. Wolfgang Benz: Süddeutschland in der Weimarer Republik. Ein Beitrag zur deutschen Innenpolitik 1918–1923. Berlin 1970, S. 260 ff., Günther Bradler: Der „Großschwaben-Plan“ des preußischen Regierungspräsidenten Dr. Emil Belzer innerhalb der Diskussion um die „Reichsreform“ in den Jahren 1920 bis 1922. Eine Vorstufe zur Entstehung des Bundeslandes Baden-Württemberg. In: Zeitschrift für hohenzollerische Geschichte 13 (1977), S. 91–118, Matz: Länderneugliederung, S. 58, Klöckler: Abendland – Alpenland – Alemannien, S. 17 ff., sowie John: „Unitarischer Bundesstaat“, S. 328. – Zum Widerstreit zwischen ‚deutschen‘ und ‚schwäbischen Gefühlen‘ im Württemberg der Kaiserzeit vgl. Confino: The Nation as a Local Metaphor, S. 64 ff., dort S. 120 auch ein Hinweis auf Finckh (Beitrag zur „Schwäbischen Landesaustellung für Reise- und Fremdenverkehr“ in Stuttgart 1912). 129 Vgl. Hans Heinrich Ehrler: Reden an das schwäbische Volk I. In: Stuttgarter Neues Tagblatt, 27. November 1918, ders.: Reden an das schwäbische Volk II. In: ebd., 1. Dezember 1918. 130 Wilhelm Kohlhaas: Chronik der Stadt Stuttgart 1918–1933. Stuttgart 1964, S. 9. 131 Zu den Differenzen, die 1918/19 zwischen Ehrler und Finckh herrschten, vgl. ausdrücklich Gotthold Wurster: Der deutsche Finckh. Leben und Werk. 2. Aufl. München 1943, S. 31.
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Deutschlands („den Krieg hat es nicht gewollt“)132 lancierte. Im selben Jahr steuerte Ehrler zur von Finckh konzipierten Textsammlung Des Reiches Sonnenwende bei, in deren Zentrum die Forderungen nach einer nationalen Revolution standen. Während Finckh hier in Pamphleten wie Mehr Würde! und Ist das Volk seine Freiheit wert? die Rute über vermeintliche Defätisten und Proleten schwang,133 räsonierte Ehrler in seinem Beitrag Der Geist und unsre Not über die Erneuerung des Idealismus. Man blieb sich im gesellschaftlichen Verkehr zwischen Stuttgart und dem Bodensee verbunden, wobei „Freund Finckh“134 in Ehrler dauerhaft einen „Schatzhalter“135 der literarischen Tradition von Schiller, Hölderlin und Mörike achtete. Seit 1933 war Finckh in der NSDAP engagiert, übte streckenweise auch ein Parteiamt als kommunaler Kulturwart aus, wirkte aber hauptsächlich als Naturschützer, Dichter und Sachbuchautor, der – so Langenbucher – „als Künder seiner Stammesart schon immer Sprache und Geheimnis des Blutes verstehen und deuten gelehrt“ habe.136 Aus der Sicht Hesses demonstrierte Finckhs Werdegang den „kurzen Weg vom treudeutsch schwäbisch-deutschen Patrioten zum militanten Nationalisten und Anhänger Hitlers“.137 Finckhs frühe Idyllenromane über das Leben des Landbürgertums wie Der Rosendoktor (1906) und Der Bodenseher (1914), größtenteils bei der eher liberal geprägten Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart verlegt, standen den Arbeiten Ehrlers noch nahe, befinden sich auch – zumeist mit persönlichen Verfasserwidmungen – in dessen Nachlassbibliothek. Ähnlich wie in Ehrlers Briefen vom Land vorgeführt, geht es um den hehren Anspruch, nicht aus Hinterwäldlertum, sondern aus Kenntnis der modernen Welt und Großstadt in dörflich-kleinstädtische Ordnungsstrukturen umkehren zu wollen, ein märchenhafter „Hans Kehrum“138 zu werden. In diesen antiurbanen Texten prägt sich jedoch bereits eine biologistisch-vitalistische Grundhaltung aus, die mit Ehrlers Kulturpathos und Vorliebe für körpervergessene Schwärmer kontrastiert. Finckhs Figuren, vorzugsweise Ärzte, Väter und Mütter, gewinnen ihre Sicherheit aus Natur und Instinkt bzw. deren ‚realistischer‘ Kenntnis und Handhabung. Als volkserzieherischer Genea132 Emanuel von Bodman, Hans Heinrich Ehrler, Ludwig Finckh u.a.: Öffentlicher Einspruch. In: Süddeutsche Zeitung, 30. Januar 1919. 133 Ludwig Finckh: Mehr Würde! In: Des Reiches Sonnenwende. Stuttgart 1919, S. 34–36; ders.: Ist das Volk seine Freiheit wert? In: ebd., S. 74–78. 134 Hans Heinrich Ehrler an Ludwig Finckh, 29. Juli 1919, NL Finckh, Sign. N 14 e prov. Nr. 71. 135 So die Verfasserwidmung in Finckh: Ahnenbüchlein, NL Ehrler. 136 Langenbucher: Schwäbische Leistung im gesamtdeutschen Schrifttum, S. 242. 137 Decker: Hermann Hesse, S. 461. Zu Finckhs NS-Engagement vgl. auch Wurster: Der deutsche Finckh, S. 106 ff. 138 Ludwig Finckh: Die Jakobsleiter. Stuttgart 1920, S. 239.
3. „Aber deutsch wollen wir doch sein“: Ethnonationalismus | 173
loge machte sich der auch als ‚Ahnen-Finckh‘ bekannte Dichterarzt mit seinem bis 1943 vielfach aufgelegten Ahnenbüchlein von 1921 einen Namen, das eine Arbeitsanleitung für Familienforscher am Beispiel der Familie Finckh bot. Der Antrieb ist hier noch nicht so sehr biologisch-szientifisch als bürgerlich-sentimental. Die Zweckformulierung lautet: „Es ist schön, sich zu flüchten in der Ahnen Schoß, wenn die Tage zu schwer und zu lastend werden. Es gibt Mut zu holen bei ihnen, Vertrauen und Selbstbewußtsein für die kommende Zeit, Trost für Kinder und Enkel.“139 Ähnlich wie in Ehrlers ‚Innerem Reich‘ weben und schweben die Ahnen durch die jeweilige Gegenwart, bestimmt die Vergangenheit über die Gegenwart unter dem Imperativ der Erinnerung: Ich kenne feingebildete Menschen, die gerade noch wußten, wie ihre Großeltern hießen, nicht aber, wer die Väter ihrer Großväter, die Mütter ihrer Großmütter waren; viel weniger ihre Lebensmerkmale. Und doch bin ich, bist du zusammengesetzt aus deinen vier Großeltern und acht Urgroßeltern, sind wir weit mehr Enkel und Urenkel noch als Söhne. Deine Ahnen leben in dir, und du – weißt nichts von ihnen.140
Vorüberlegungen zum Thema des Ahnenbüchleins erschienen 1919 im ersten Jahrgang der von Ehrler mitherausgegebenen Zeitschrift Der Schwäbische Bund unter dem Titel Ahnenkunde. Dort lautete die Diagnose und Behandlungsempfehlung: So wenig Halt und Wurzel hat der Mensch der neuen Zeit in seinem Blut, wenn er nicht noch Ehrfurcht und Nachdenklichkeit zu üben gewohnt wird. Aber er trägt sie deswegen doch in sich, seine Ahnen, sie kennen ihn besser als er sie, sie spucken in ihm, und er täte gut, sich mit ihnen zu befreunden und abzugeben.141
Anders allerdings als in Ehrlers goldener Kette der abendländischen Geister hegte dieses genealogische Ahnentum in den ethnonationalen Raum ein: „Ich war“, so Finckh über das Ergebnis seiner Arbeit an Kirchenbüchern und Magistratsakten, „nicht mehr zusammenhanglos in dies Leben hereingestellt, der Blutstropfen regte sich und pochte an die Wand: Du bist ein Deutscher.“142 Dass er unter seinen Vorfahren des 17. Jahrhunderts auf einen „Hans Jud, Krämer in Metzingen“ stieß, ir139 Finckh: Ahnenbüchlein, S. 13. 140 Finckh: Ahnenbüchlein, S. 10. 141 Ludwig Finckh: Ahnenkunde. In: Der Schwäbische Bund 1 (1919/20), S. 313–320, hier S. 314. 142 Finckh: Ahnenbüchlein, S. 11 f.
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ritierte ihn nur vorübergehend: Weitere ‚Forschungen‘ ergaben, dass der Nichtjude diesen Namen für sein „kaufmännisches Talent“ erhalten habe.143 Ab Mitte der 1920er Jahre wich der selbstgenügsam-bildungsbürgerliche Gestus von Finckhs Schriften einem technischeren, pragmatisch-züchterischen Ansatz wie in Bruder Deutscher (1925): „Unsere Jungen und Mädchen“, hieß nun der rassenhygienische Merksatz, „müssen den Blick dafür bekommen, ein Gefühl, eine Unterstimme, wer guter Rasse ist, wer hochwertige Erbteile in sich trägt, wer unverdorben im Blute und im Mark ist.“144 Von hier führte Finckhs Weg zur Unterstützung der „Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe“.145 Finckhs weiterhin reichlich sprudelnde Belletristik der 1930er Jahre erschien hauptsächlich im Deutschen Volksverlag, der von München aus für Heimat und Scholle, für den ‚arischen Jesus‘, gegen Juden, Jesuitismus und Bibelforscher kämpfte. In historischen Romanen wie Ein starkes Leben (1937) und offen propagandistischen Gedichtbänden wie Trommler durch die Welt (1938) suchte der badische Autor deutsche Geltung im weltregenerierenden Aktivismus von eigentlich nach Innen gewandten Menschen. Dafür revozierte er die im älteren Antimodernismus gängige Dichotomie von Krieger und Priester, die für Ehrler noch Verbindlichkeit besaß. Selbst von evangelischer Konfession war Finckh mit einer Katholikin verheiratet und legte auf die katholische Linie seiner Ahnentafel wert: Sie führte ihn in die ehemalige Fürstpropstei Ellwangen, wo Ehrler das Gymnasium besucht hatte.146 In seinem von den politischen Richtungskämpfen der Novemberrevolution aufgeladenen Weltanschauungsbuch Brückenbauer von 1919 hat er Mitte-links-Koalitionen eine Absage erteilt, hingegen das Zusammengehen der konservierenden Kräfte in Christentum und Deutschtum zum Schutz der Heimat verlangt. Die Kirche sollte das höchste Gebäude in jenen alten Reichsstädten und ‚gesunden‘ Landgemeinden bleiben, in denen die Bauern von früh bis spät arbeiteten, ohne je auf ‚volksverräterische‘ Streikgedanken zu kommen (vgl. Abb. 9).147 Über dieses Büchlein Brückenbauer hat der NS-Kanonmacher Langenbucher 1936 geurteilt, es wöge „hundertmal schwerer als die gesamte Emigranten143 Finckh: Ahnenbüchlein, S. 42. 144 Ludwig Finckh: Bruder Deutscher. Ein Auslandsbüchlein. Stuttgart 1925, S. 41. 145 Zu Finckhs genealogischer Tätigkeit zusammenfassend (und beschönigend) Jäger: Ludwig Finckh, S. 77 ff. 146 Vgl. Finckh: Ahnenbüchlein, S. 25. 147 Vgl. Ludwig Finckh: Brückenbauer. Stuttgart, Berlin 1919, S. 48 ff. Zur Kritik der radikalen Rechten an Arbeitskämpfen vgl. Sven Oliver Müller: Die Nation als Waffe und Vorstellung. Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg. Göttingen 2002, S. 223 ff. u. S. 365 f.
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Literatur der letzten fünfzehn Jahre“148. Figurenrede, gleichwohl programmatisch für den Apothekersohn Finckh selbst, sind die Sentenzen wie in seinem Roman Die Jakobsleiter: „Ich bin der Sohn eines Bauern; im Bauerntum liegt der Keim unserer Wiedergeburt. Wer die Natur anrührt, wird gesund.“149 Dies besitzt einige Anklänge z.B. an Ehrlers Briefe vom Land, ist aber doch viel wörtlicher gemeint als Ehrlers franziskanischer Acker der Erbauung. Als einer der radikalsten Landschaftsschützer seiner Zeit entfaltete Finckh in Baden und Württemberg unter anderem gegen Tagebau und Autobahnen gerichtete Protestaktivitäten, die dem staatszentralistischen, kriegswirtschaftlich ausgelegten und auf die größere rassistische Neuordnung Europas hin orientierten NS-System nicht bequem waren, auch zu scharfen Verweisen und zeitweiser Gestapoüberwachung führten.150 „Die deutsche Landschaft aber darf nicht zum Gelände entarten“, so lautete auch Ehrlers Auffassung, wenngleich nicht mit Betonung der Volks- und Erbgesundheit, sondern der kulturräumlich-historischen Überlieferung: „Überall ist die Väterzeit und das Väterwesen aufbewahrt für uns.“151 Dieser Landschaftsschutz griff für beide Autoren insoweit in Gesellschaftsmodelle hinüber, als dabei auch an die Stimulierung des Heimatgefühls sowie an die Konservierung des Bauernstandes und der Handwerke gedacht war, namentlich der vom Aussterben bedrohten wie des Müllers oder des Wachsziehers, zu denen sich Ehrler in Die Engertsmühle (1935) und Mein Vater geäußert hat.152 Ehrler resümierte sein Verhältnis zu Finckh in einer brieflichen Bemerkung vom Juli 1932, d.h. zur Zeit der umkämpften Reichstagswahl: „Wir wollen zusammenhalten, weil wir zusammen gehören.“153 Vorgefallene Spannungen wurden hierbei offenbar vorausgesetzt. Sie dürften zu diesem Zeitpunkt auch in Ehrlers unzweideutigem, mit Hefele geteiltem Votum für das Zentrum und gegen die NSDAP bestanden haben, wie es Ehrler dann auch in der Verfassungsfeierrede vom August 148 Langenbucher: Schwäbische Leistung im gesamtdeutschen Schrifttum, S. 242. 149 Finckh: Die Jakobsleiter, S. 239. 150 Vgl. dazu faktenreich Uekoetter: The Green and the Brown, S. 85–99. Zu den Friktionen zwischen Heimatschutz und Nationalsozialismus vgl. Oberkrome: Stamm und Landschaft, S. 83 ff., ferner Heuser: Von der Naturromantik zu den Reagrarisierungs- und Entvölkerungsplänen. 151 Hans Heinrich Ehrler: Von unseren Augen. Mit Radierungen von Walter Romberg. In: Der Bosch-Zünder 17 (1935), S. 169–171, hier S. 171. 152 Vgl. Hans Heinrich Ehrler: Die Engertsmühle. In: Der Bosch-Zünder 17 (1935), S. 85 f., ders.: Mein Vater; zu den sozialkonservativen Zielen des Landschafts- und Heimatschutzes bes. Lekan: Imagining the Nation in Nature, S. 69 ff. (zum Heimatschutz als ‚Rasseschutz‘ am Beispiel der Schriften von Hermann Löns hier S. 70 f.), sowie Rohkrämer: Konservative Raum- und Heimatvorstellungen. 153 Hans Heinrich Ehrler an Ludwig Finckh, 7. Juli 1932, NL Finckh, Sign. N 14 b Nr. 133.
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1932 artikulierte. Gleichwohl war der katholische Reichsvisionär Ehrler für das bald darauf errichtete NS-System in mancher Hinsicht nützlicher als der Ethnonationalist Finckh, nämlich für nach Europa ausgreifende Pläne (die „tief empfundene[] Verantwortung für das Gemeinschaftsleben der europäischen Nationen“154), in denen die regionalen Heimaten vor allem mit kulturell-historischen Sentiments und bei der Aufstellung landsmannschaftlich homogener Truppenteile bedacht wurden. Den beschworenen ‚Zusammenhalt, weil wir zusammen gehören‘, realisierten die beiden Akteure jedenfalls bis über 1945 hinaus, als Ehrler beispielsweise noch eine Einladung zu Finckhs 75. Geburtstag erhielt und Finckh einen beatifikatorischen Nachruf auf Ehrler verfasste Abb. 9: Ludwig Finckh: Brückenbauer (1919), (s. Kap. VII.2). Einbandillustration von Karl Sigrist. Eine ebenfalls jahrzehntelange Beziehung verband Ehrler mit dem großbürgerlich in San Remo und Silvaplana aufgewachsenen, in Heidelberg promovierten Juristen, Richter und Fabrikdirektor Georg Schmückle.155 Der literarische Verwandtschaftsgrad zwischen beiden Autoren ist niedrig, insofern der signifikante Bestseller Schmückles, Engel Hiltensperger (1930), einen von Rom ebenso 154 Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen, Bd. 1/1, S. 227 („Tag von Potsdam“, 21. März 1933). 155 Vgl. einführend zu ihm Georgia Hauber: Georg Schmückle. In: Von Weimar bis Bonn. Begleitband zur Ausstellung „Esslingen 1919–1949. Von Weimar bis Bonn“. Hg. v. Stefan Beck. Esslingen 1991, S. 475–477, Jürgen Hillesheim u. Elisabeth Michael: Lexikon nationalsozialistischer Dichter. Biographien, Analysen, Bibliographien. Würzburg 1993, S. 395–402, sowie Hermann Schreiber: Schmückle, Georg. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2. Aufl. Hg. v. Wilhelm Kühlmann. Bd. 10. Berlin, Boston 2011, S. 474. Ein ausführliches Quellenzeugnis zu Schmückle in seiner Funktion als Gaukulturwart bietet Bernhard Blume: Narziß mit Brille. Kapitel einer Autobiographie. Hg. v. Fritz Martini u. Egon Schwarz. Heidelberg 1985, S. 151 ff.
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wie von Luther abgefallenen, letztlich neugermanischen Priester, Bauernkriegsführer und nationalen Märtyrer, Engelbert Hiltensperger, in den Mittelpunkt stellt, damit aber gewalttätigen Heroismus, rücksichtsloses Führertum und ein von der römischen Kirche befreites Reich in straff militärischer Organisation.156 Während Ehrlers Romane und Erzählungen von Figuren humanistisch abgeklärter katholischer Geistlicher durchzogen sind, hielt sich der Dichterjurist bei der Schilderung ‚volksfeindlicher Pfaffen‘ und des ‚rasselos‘ universalistischen Christentums als einer verweichlichten Liebeslehre nicht zurück. Hiltensperger nimmt sich an Jesus vor allem als Führerpersönlichkeit ein Vorbild. Für Ehrler ist das Mittelalter von Augustinus über Franziskus zu Dante eine geistige Schatzkammer. In Engel Hiltensperger ist der Fackelträger des ‚Dritten Reichs‘ ein Rebell gegen das ‚Erste Reich‘. Schmückles „kulturelle Betrachtungen“ Zeitliches und Ewiges von 1940, die bis 1942 eine Auflage von 60.000 Exemplaren erreichten und darüber hi naus als Jahresgabe des Schwäbischen Schillervereins verteilt wurden, unterlegten diese Art von Romanen mit einer Idolatrie des „deutschen Blutes“, der Ewigkeit der Gemeinschaft und des Kampfes gegen „fremdes Wesen“ unter Behauptung eines „Gesetz[es] der Natur, welche Reinheit von Art und Rasse verlangt von ihren Geschöpfen“.157 Schmückle war Hauptautor des Stuttgarter Hohenstaufen-Verlags, den der württembergische Gauobmann der „Gruppe Buchhandel“ in der Reichsschrifttumskammer, Karl Gutbrod, leitete. Dieser Verlag konzentrierte sich auf die Förderung der Reichs-, Staufer- und Schwabenmythologie, unter anderem im Jahrbuch des Schwäbischen Dichterkreises, Brot und Wein. Dichtergabe aus Südwestdeutschland.158 Persönlich nahe standen sich Ehrler und Schmückle zunächst durch den gemeinsamen Dienst in der 1916 gegründeten Abteilung für Kriegsgeschichte des württembergischen Kriegsministeriums. Aus dieser ca. zweijährigen Zusammenarbeit gingen die insgesamt vier Bände Militaria Schwäbische Kunde aus dem großen Krieg 156 Vgl. dazu Frank Westenfelder: Genese, Problematik und Wirkung nationalsozialistischer Literatur am Beispiel des historischen Romans zwischen 1890 und 1945. Frankfurt/M., Bern u.a. 1989, S. 171 ff. u. S. 299 ff. 157 Georg Schmückle: Zeitliches und Ewiges. Die schaffende Freud – das schaffende Leid. Kulturelle Betrachtungen eines Dichters. Stuttgart 1940, S. 12 f. 158 Gerhard Schumann hat dieses Verlagslabel später mit unvermindertem Einsatz für ein „Friedensreich der Mitte“ schwäbisch-staufischen Angedenkens weitergeführt; vgl. Karl-Heinz J. Schoeps: Zur Kontinuität der völkisch-nationalkonservativen Literatur vor, während und nach 1945. Der Fall Gerhard Schumann. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur 91 (1999), S. 45–63, hier S. 57, sowie im größeren Zusammenhang des Kohlhammer Verlags Thomas Garke-Rothbart: „... für unseren Betrieb lebensnotwendig ...“. Georg von Holtzbrinck als Verlagsunternehmer im Dritten Reich. München 2008, S. 77 ff., S. 127 u. S. 171.
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hervor: folklorisierende Schilderungen einer ganzen Reihe von hier als ‚schwäbisch‘ deklarierten Divisionen, Brigaden und Regimentern im Zusammenhang mit dem XIII. (Königlich Württembergischen) Armee-Korps und der 1917 aufgestellten Heeresgruppe Herzog Albrecht von Württemberg. Der faktischen, in Stuttgart bedauerten Zersplitterung dieser Streitkräfte, die außer an der Westfront auch in Italien, Polen, Serbien und Rumänien operierten, sollte eine erzählte Ganzheit entgegengesetzt werden.159 Schmückle dominierte dieses breit angelegte Unterfangen in seiner Stellung als Hauptmann – Ehrler rangierte als Landsturmmann – und mit seinem deutlich ausgeprägteren Interesse an Waffengattungen und Heldentaten, Fronten- und Schlachtenbeschreibungen sowie an teils spannenden, teils schwankhaften Gefangenschafts- und Fluchtgeschichten. Allerdings bestätigte das Ministerium gerade auch Ehrler hohe propagandistische Energie: Er habe „als Mitarbeiter des Heldenbuches ‚Schwäbische Kunde‘ all sein Können“ eingesetzt, „um dieses Werk in die erste Reihe der schwäbischen Kriegsliteratur stellen zu können“.160 Das an König Wilhelm II. von Württemberg gerichtete Widmungsgedicht des ersten Bandes stammt aus Ehrlers panegyrisch bewährter Feder. Vonseiten des Verlags, der Deutschen Verlagsanstalt, war er der am höchsten dotierte Co-Autor: mit insgesamt 1300 RM, die vom 1. November 1917 bis zum 30. November 1918 zusätzlich zu seinem staatlichen Sold an ihn flossen.161 Über unterhaltende Folklore ging dieses Projekt insofern hinaus, als es mit dem Appell ans Stammesethnische zugleich eine Fundamentalpolitisierung vornahm, die jeden Landsmann auf ein Ethos des Stolzes und Ehrenschutzes nicht nur für ein abstrakteres Großes und Ganzes der Nation, sondern für die nähere, sozial unmittelbar sanktionsfähige ‚Heimat‘ im 159 Schwäbische Kunde aus dem großen Krieg. Im Auftrag des Königl. Württ. Kriegsministeriums bearb. v. Leutnant der Reserve Robert Silbereisen [ab Bd. 2 von Hauptmann der Reserve Georg Schmückle] unter Mitwirkung von Landsturmmann Hans Heinrich Ehrler u.a. 4 Bde. Stuttgart, Berlin 1918–1921; verarbeitet bei Otto von Moser: Die Württemberger im Weltkriege. Ein Geschichts-, Erinnerungs- und Volksbuch. Stuttgart 1927 (3. Aufl. 1938). – Zum Föderalismus im Heer und zu württembergischen Militärverbänden im Ersten Weltkrieg vgl. Christian Stachelbeck: Deutschlands Heer und Marine im Ersten Weltkrieg. München 2013, S. 99 ff., HansJoachim Harder: Militärgeschichtliches Handbuch Baden-Württemberg. Stuttgart, Berlin u.a. 1987, S. 75 ff., sowie Eberhard Naujoks: Württemberg 1864 bis 1918. In: Handbuch der badenwürttembergischen Geschichte. Hg. v. Hansmartin Schwarzmaier u. Meinrad Schaab. Bd. 3. Stuttgart 1992, S. 333–432, hier S. 419 ff. 160 Kriegsministerium, Kriegsarchiv, Kriegsgeschichtsschreibung, „Schwäbische Kunde aus dem Großen Krieg“ (Gruppe d), Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Sign. M 1/11 Bü 160, Bl. 8: Kriegsarchiv I (gez. Hauptmann Franz Knoch) an den Herrn Minister (Generaloberst Otto von Marchtaler), 21. November 1917. 161 Kriegsministerium, Kriegsarchiv, Kriegsgeschichtsschreibung, „Schwäbische Kunde aus dem Großen Krieg“ (Gruppe d), Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Sign. M 1/11 Bü 160, Bl. 18, Beilage 4.
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Sinne der regionalen Gemeinschaft verpflichtete. Aus der Ferne von Kriegsschauplätzen, die im Stile von Reise- und Abenteuererzählungen erschrieben wurde, und angesichts eines kriegsbedingten Unitarisierungsschubs, in dem Berliner Stellen faktisch an Gewicht gewannen, sollte sie in neuer Verbindlichkeit erstrahlen. In seiner Flugschrift Den heimkehrenden Schwaben vom November 1918 resümierte Ehrler indirekt auch die Botschaft der Schwäbischen Kunde aus dem großen Krieg: Und die Württemberger standen immer inmitte. Keine Truppe wurde so oft und so rühmlich im Tagesbericht genannt, auf keine vertrauten die Heerführer so sicher in brennender Stunde. Kundige schätzen, keine zähle weniger Gefangene, keine mehr Tote. Ja kommt, wir dürfen Euch das Eichlaub auf den Helm stecken; und nicht klanglos soll in die Truhe gelegt werden, was Ihr getan, getragen habt.162
Diese ‚Siegerehrung‘ mit den von Ehrler versiert benutzten panegyrischen Mitteln stützte sich auf Zahlen über württembergische Kriegsverluste, die jedenfalls über dem Reichsdurchschnitt lagen.163 Während die ersten drei Bände der Schwäbischen Kunde aus dem großen Krieg noch 1918 im Kaiserreich erschienen, setzte der juristisch erfahrene Schmückle die Publikation des vierten, schließlich 1921 erschienenen Bandes gegen gerichtliche Unterbindungsversuche der republikanischen Behörden durch.164 Die Verantwortungsbeschreibung für die ethnonationalistische Kriegsverherrlichung variierte nun lediglich mit „Im Auftrag des früheren Württ. Kriegsministeriums bearbeitet von Hauptmann der Res. Schmückle unter Mitwirkung von Landsturmmann Hans Heinrich Ehrler“. Das Stuttgarter Kriegsministerium war bereits im Juni 1919 aufgelöst worden; württembergische Reservatrechte aus der Reichsgründung von 1871 entfielen in der Republik.165 Der Haupttitel des regionalistisch 162 Hans Heinrich Ehrler: Den heimkehrenden Schwaben. Stuttgart 1918, S. 1. 163 Vgl. Wolfgang von Hippel: Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1800 bis 1918. In: Handbuch der baden-württembergischen Geschichte. Hg. v. Hansmartin Schwarzmaier u. Meinrad Schaab. Bd. 3. Stuttgart 1992, S. 477–784, hier S. 768 f. 164 Vgl. Schmückles Klage vom 9. Oktober 1919 vor dem Landgericht Stuttgart gegen den Reichsmilitärfiskus; Kriegsministerium, Kriegsarchiv, Kriegsgeschichtsschreibung, „Schwäbische Kunde aus dem Großen Krieg“ (Gruppe d),, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Sign. M 1/11 Bü 160, Bl. 114–121. 165 Vgl. Paul Sauer: Württemberg in der Weimarer Republik. In: Handbuch der baden-württembergischen Geschichte. Hg. v. Hansmartin Schwarzmaier u. Meinrad Schaab. Bd. 4. Stuttgart 2003, S. 73–149, hier S. 83 f.
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Ruhm kündenden Werks lehnte sich an Uhlands Schwäbische Kunde von 1814 an („Als Kaiser Rotbart lobesam“), ein Gedicht, das vom Ende des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts praktisch jedes württembergische Schulkind auswendig zu lernen hatte, das Krieg als Kreuzzug eines „frommen Heer[es]“ nahelegte und die Schlagkraft des schwäbischen Kriegers gegen eine heidnische Übermacht legendarisierte.166 Mit dieser Bezugnahme auf die populäre Ballade Uhlands zeigten die Verfasser allenfalls ungewollt die Fiktionalität ihrer anfangs amtlichen Kriegsgeschichtsschreibung an, zielten bewusst aber auf die Bücherregale möglichst aller württembergischen Haushalte. In der Deutschen Verlagsanstalt hatte man einen zu dieser Ambition passenden Vertriebspartner. Im unmittelbaren Anschluss an ihre Propagandatätigkeit für das Kriegsministerium setzten Ehrler und Schmückle ihre Kooperation in einem unabhängigen Zeitschriftenprojekt fort. Zusammen mit dem Tübinger Germanisten und Stuttgarter Archivrat Hermann Missenharter, einem Anhänger völkischer Ideologie, mit Ehrler spätestens ab 1913 in Kontakt,167 hoben sie Ende 1918 das literarischpolitische Magazin Der Schwäbische Bund. Eine Monatsschrift aus Oberdeutschland bei dem Suevica- und Heimatschutz-Verlag Strecker & Schröder aus der Taufe. Der theologische Hauptbeiträger Joseph Bernhart schätzte die Rollenverteilung im Herausgebergremium so ein, dass Schmückle („sehr sehr reicher Herr“) die Finanzen geregelt und Missenharter das „eigentlich Redaktionelle“ übernommen habe, Ehrler aber der „eigentliche geistige Urheber“ und „zweifellos die begabteste Erscheinung im ganzen Kreis“ gewesen sei.168 Ehrler lebte in diesen Jahren im Stuttgarter Stadtgebiet und hatte jede Gelegenheit zu täglichen Einmischungen in die dort in der Olgastraße 77 ansässige Redaktion; seine Briefe des Zeitraums 166 Vgl. Ludwig Uhland: Schwäbische Kunde. In: ders.: Werke. Hg. v. Hartmut Fröschle u. Walter Scheffler. Bd. 1: Sämtliche Gedichte. München 1980, S. 207 f. (Zitat S. 207), ferner Albrecht Keller: Schwaben und Schwabenstreiche. Mit einem Geleitwort von Ludwig Finckh. Stuttgart 1915, S. 7–14 („Die ersten Schwabenstreiche“). Zur ‚Schwabenstreich‘-Mythologie knapp Utz Jeggle: Der tapfere Schwabe. In: Schwabenbilder. Zur Konstruktion eines Regionalcharakters [Katalog zur Ausstellung]. Hg. v. Angelika Brieschke. Tübingen 1997, S. 35–38. 167 Vgl. Hans Heinrich Ehrler an Hermann Missenharter, 6. August 1913, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Nachlass Missenharter, Sign. Cod. hist. 4° 591. Zur Person vgl. Walter Riethmüller: Missenharter, Hermann. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2. Aufl. Hg. v. Wilhelm Kühlmann. Bd. 8. Berlin, New York 2010, S. 253, sowie Vordermayer: Bildungsbürgertum und völkische Ideologie, S. 144. 168 Bernhart: Erinnerungen, Bd. 1, S. 856 f.; vgl. den Kommentar in Bd. 2, S. 1552 f. Zum Verhältnis der Mitherausgeber vgl. auch Klöckler: Reichsreformdiskussion, S. 289 f., der annimmt, Ehrlers Beteiligung habe mehr „der Werbung für die Zeitschrift in breiteren Bevölkerungsschichten“ gedient.
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wie an Finckh dokumentieren eine weitgehende Identifikation mit dem Unternehmen.169 Sicherlich auf Ehrlers Betreiben ging zurück, dass seine Nichte, die Grafikerin Maria (Andler-)Jutz, mit mehreren Arbeiten im ersten Jahrgang vertreten war. Als Begleitpublikationen zum Schwäbischen Bund erschienen im selben Verlag Das schwäbische Liederbuch. Eine Auswahl aus der klassischen schwäbischen Lyrik und Das neue schwäbische Liederbuch. Eine Auswahl aus der zeitgenössischen schwäbischen Lyrik, Ersteres von Ehrler, Letzteres von demselben zusammen mit Missenharter herausgegeben und die „Wurzelhaftigkeit unsrer schwäbisch-alemannischen Kultur“, die „guten Geister unseres alten Stammes“ unter dem Stern der deutschen Nation beschwörend.170 An den gebildeten, politisch verunsicherten Mittelstand gerichtet, erreichte das Magazin rasch bis zu 5000 Abonnenten. Man wollte den verschiedensten politischen Positionen im bildungsbürgerlichen Spektrum Raum geben: den „viele[n] geistig gerichteten Männer[n] und Frauen in Süddeutschland“171, wie es in der von Missenharter aufgesetzten, von Theodor Heuss korrigierten Gründungserklärung heißt. Der Schwäbische Bund konnte sich in den Anfängen auf prominente Beiträger wie Heuss und auch Hesse verlassen, die offen erklärten, dass – im Wortlaut Hesses – für „uns Süddeutsche und Liberale […] eine starke Mitbeteiligung des deutschen Südens an der Gestaltung der deutschen Politik eine Lebensfrage bedeutet“.172 Die Zeitschrift war daher auch eine Plattform für Planspiele um einen vitalen, möglichst weit gefassten Südweststaat, zu dessen Konturierung man historische, stammesethnologische und wirtschafts-
169 Vgl. z.B. Ehrler an Finckh, 29. Juli 1919. 170 Hans Heinrich Ehrler (Hg.): Das schwäbische Liederbuch. Eine Auswahl aus der klassischen schwäbischen Lyrik. Stuttgart 1918 (Vorwort S. III–VIII), Hans Heinrich Ehrler u. Hermann Missenharter (Hg.): Das neue schwäbische Liederbuch. Eine Auswahl aus der zeitgenössischen schwäbischen Lyrik. Stuttgart 1919, darin Hermann Missenharter: Zum Geleit, S. V–VIII (Zitat S. VI). 171 Hermann Missenharter: Der Schwäbische Bund – eine Monatsschrift aus Oberdeutschland. Herausgegeben von Hans Heinrich Ehrler, Georg Schmückle, Hermann Missenharter. Stuttgart 1919 (Flugblatt), Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Flugschriftensammlung, Sign. J 150/538 Nr. 9. 172 Hermann Hesse: [Rez.] Theodor Heuss: Schwaben und der deutsche Geist. In: ders.: Die Welt im Buch II. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1911–1916. Hg. v. Volker Michels. Frankfurt/M. 2002 (= Sämtliche Werke, Bd. 17), S. 492 f. (zuerst in: Neue Zürcher Zeitung, 11. August 1915), hier S. 492. Vgl. Ball: Hermann Hesse, S. 94 f.: „Hesse bezieht das Alemannische stets auf das Große und Ganze. […] Er wird an seinem Alemannentum festhalten, aber auch die Schweizer und Elsässer dazurechnen und selbst diejenigen, die frankophil empfinden. […] Im Grunde ist er auch schwäbischer als Finckh, nämlich im alten deutschen, im universalen Sinn, der den Schwaben seit ihrer Staufenzeit eignet.“
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geografische Kriterien heranzog.173 In der jungkonservativen Deutschen Rundschau wurde sie als Organ der „junge[n] schwäbische[n] Bewegung“ begrüßt, das „kräftige Ansätze“ und einen „starken Eigenton“ besitze. Auch hier betonte man die gewünschte Einheit des Heimatlichen mit dem Nationalen: „Der Weg über ein bewußtes Alemannentum braucht durchaus kein Umweg zum wahren Deutschtum zu sein.“174 Von Ehrler stammt der Eröffnungsbeitrag des Auftaktheftes: das Langgedicht Die Muttergottes von Stuppach, gemünzt auf das in einer Dorfkapelle bei Bad Mergentheim hängende Grünewald-Gemälde, dessen Verbindung von Naivität und Supranaturalismus – im Sinne des Erbauungsdichters – den „getreue[n] Trost“ spende, „[d]aß Gottes Licht noch bei den Menschen weilet“.175 Die Muttergottes empfahl sich dabei schon als Patronin der in Mergentheim stationierten Deutschherren, den „Dienstleuten der hehrsten Frau“176. Wie bei seinen Franziskusberufungen entfernte sich Ehrler hier vom christologischen Zentrum der Dogmatik und rief in der Ekphrasis eine volkskatholisch-chthonische Schutzgottheit über Land, Menschen und Künste an: Sieh, alles, was die Heimat für uns birgt, Kommt ausgefaltet in den Garten her Zu dir, Maria, deinem Sommerfest, [...] Der Immenstand, die Stadt der Abendruhe, Des Regenbogens weiter Heiligenschein, Der Wald, der Berg, des Münsters Dämmerbau.177
Dieser im protestantisch-völkischen Umfeld von Missenharter und Schmückle überraschend katholische Auftakt des Schwäbischen Bundes dürfte auf die katho173 Vgl. Klöckler: Abendland – Alpenland – Alemannien, S. 17, sowie ders.: Reichsreformdiskussion. Zu Schmückle als Ansprechpartner bayerischer Großschwaben-Anhänger im Dritten Reich vgl. Steber: Ethnische Gewissheiten, S. 369 f. 174 [Anon.]: Ein- und Auskehr [Sammelbesprechung von Neuerscheinungen]. In: Deutsche Rundschau 46 (1920), S. 409–419, hier S. 411 f. 175 Ehrler: Die Muttergottes von Stuppach, S. 1. 176 Ehrler: Der Spiegel des Hoch- und Deutschmeisters Maximilian Franz, S. 10. 177 Ehrler: Die Muttergottes von Stuppach, S. 3. Vgl. Heiler: Katholizismus als Synkretismus, S. 23 u. S. 26: „Der v u l g ä r e Katholizismus ist ja nicht streng monotheistisch und christozentrisch, sondern zeigt unverkennbar polytheistische Neigungen. Um Christus schart sich das ganze Heer der Heiligen, an ihrer Spitze die Gottesmutter und Himmelskönigin. […] es gibt kein lehrreicheres Beispiel für das pagane Element im Katholizismus als den Madonnenkult.“
3. „Aber deutsch wollen wir doch sein“: Ethnonationalismus | 183
lisch-heimatbewegten Lesergruppen in Baden und Bayerisch-Schwaben gezielt haben, wie die Herausgeberbesetzung mit Ehrler nicht zuletzt dem konfessionellen Proporz gedient haben mag.178 Auf Ehrler folgte in der ersten Nummer des Schwäbischen Bundes charakteristischerweise der österreichische, damals in der Schweiz lehrende Stammestheoretiker Josef Nadler mit seiner Kunde Vom Reich des alamannischen Geistes. Er formulierte Thesen zum „staatliche[n] Schöpfertrieb Alamanniens“179, zu einer alemannischen Staatsidee, die die des Hohenstaufer- und nicht des Bismarck-Reiches, des Völkerstaates und nicht des Volksstaates sei. Ein „einheitliches Gerüst“ über den „naturgegebenen Aufbau des deutschen Volkes“ gezwängt zu haben, so Nadler, sei ein „doktrinäre[r] Versuch“ Preußens mit „verheerende[n] Folgen“ gewesen.180 In diesem ersten akademischen Beitrag zum Schwäbischen Bund spiegelt sich vor allem die Diskreditierung des deutschen Nationalstaats durch den Weltkrieg und die Konjunktur einer ethnokulturellen Vorstellung von der deutschen Nation wider. Nadlers Gedanken fügen sich insofern zur katholischen Dichterpolitik Ehrlers, als sie den Völkerstaat erstens aus der Erinnerung des vorreformatorischen „alten Reichtums“ und zweitens aus seiner „künstlerische[n] Größe und Schönheit“ heraus legitimieren.181 Schmückle und Missenharter brachten die Zeitschrift auf einen zunehmend radikalnationalistischen und republikfeindlichen Kurs, worauf sich Ehrler im September 1920 aus dem Unternehmen zurückzog. Der Dissens entschied sich im Verhältnis zu Hermann Hesse, der für Ehrler, wie noch das Maulbronnbuch Briefe aus meinem Kloster von 1922 zeigt, eine unantastbare Autorität bedeutete, von Missenharter und Schmückle hingegen systematisch diffamiert wurde. Im Augustheft 1920 las man zu Klingsors letzter Sommer (1919), dass Hesse dichte, „als wäre in den letzten zehn Jahren nicht der ganzen Menschheit der Star gestochen worden“, und: „Weh dir, Hermann Hesse, daß du ein Bürger bist! Oder wenigs-
178 Zur katholischen Prägung der Heimatbewegung in Bayerisch-Schwaben vgl. Steber: Ethnische Gewissheiten, S. 145 ff. 179 Josef Nadler: Vom Reich des alamannischen Geistes. In: Der Schwäbische Bund 1 (1919/20), S. 5–26, hier S. 7. 180 Nadler: Vom Reich des alamannischen Geistes, S. 19. 181 Nadler: Vom Reich des alamannischen Geistes, S. 5 u. S. 8. Zur katholisch-habsburgischen Kritik gerade an den reichsideologischen Defiziten des Bismarckstaates vgl. Matthias Stickler: Reichsvorstellungen in Preußen-Deutschland und der Habsburgermonarchie in der Bismarckzeit. In: Imperium/Empire/Reich. Ein Konzept politischer Herrschaft im deutsch-britischen Vergleich. Hg. v. Franz Bosbach u. Hermann Hiery. München 1999, S. 133–154, hier S. 150 ff.
184 | III. Literarisch-politische Vernetzungen
tens einmal warst!“182 Im Septemberheft hieß es über den vermeintlichen Verräter an der „heiligste[n], innerste[n] Lebensgewißheit seines Volkes“, den angeblichen Goetheverkenner und Dostojewskijünger: Von Hermann Hesse erscheint jetzt vielerlei in einem Tempo, das natürlicher Reifung nicht gemäß ist. Er ist, auf der Mittagshöhe seines Lebens, in eine schwere seelische Notlage geraten, in der ihm niemand, am wenigsten ein Kritiker, helfen kann. […] Er sieht von seinem schweizerischen Asyl aus die deutschen und die europäischen Dinge arg schief; man muß ihm das mit aller Deutlichkeit sagen. Über das andere, das wahre Deutschland mag er sich in der Broschüre Wem bleibt der Sieg von Erwin Guido Kolbenheyer unterrichten.183
In Wem bleibt der Sieg von 1919 nahm der später führende, von Missenharter nach Kräften geförderte völkische Dichter Kolbenheyer ausdrücklich gegen den von Hesse vertretenen Pazifismus Stellung und erwartete das europäische Gleichgewicht von volksbiologischen Entwicklungen, in denen sich die ‚junge deutsche Rasse‘ naturgesetzlich an die Spitze stellen werde.184 Im selben Monat, in dem Ehrler seine Herausgeberschaft niederlegte, hat Hesse die von Missenharter verwaltete Schriftleitung angeschrieben, um diese Herabsetzungen seiner Person und Arbeit festzustellen und seine Mitarbeit an der Zeitschrift aufzukündigen. Dabei ließ er es sich nicht nehmen, das von den Herausgebern vertretene Diskussionsniveau mit dem eines „Stuttgarter Kegelverein[s]“ zu vergleichen.185 Mit seiner Kritik an dem „Schwindel […], daß es nur auf die Seele und das Gemüt ankomme, und daß so ein edles, treues, inniges Gemüt wie das deutsche sonst nirgends zu finden sei, usw.“, hatte Hesse gegenüber den Herausgebern schon zuvor nicht zurückgehalten.186 Auch vom mutwillig antirationalistischen „Patriotismus“ der „Kegelclubs und Dichterkränzchen“, den „wilde[n] 182 Hermann Missenharter: [Rez.] Hermann Hesse: Kleiner Garten, Klingsors letzter Sommer. In: Der schwäbische Bund 2 (1920), S. 447 f. 183 Hermann Missenharter: Über Bücher und Dichter. In: Der schwäbische Bund 2 (1920), S. 527 f. 184 Vgl. Erwin Guido Kolbenheyer: Wem bleibt der Sieg? Tübingen 1919; dazu bündig Vordermayer: Bildungsbürgertum und völkische Ideologie, S. 47 f. 185 Vgl. Hermann Hesse: [Aus einem Brief vom September 1920 an Hermann Missenharter, Stuttgart]. In: ders.: Die politischen Schriften. Eine Dokumentation. Hg. v. Volker Michels. Frankfurt/M. 2004 (= Sämtliche Werke, Bd. 15), S. 287 f. Zum Rechtsruck der Zeitschrift und zum Konflikt mit Hesse vgl. Klöckler: Reichsreformdiskussion, S. 287 f. u. S. 300 f. 186 Hermann Hesse an Hermann Missenharter, 16. Juni 1919, zit. n. ders.: „Der Vogel kämpft sich aus dem Ei“. Eine dokumentarische Recherche der Krisenjahre 1916–1920. Korrespondenzen und Quellennachweise. Hg. v. Jürgen Below. Hamburg 2017, S. 120.
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Psychosen“ der kleinen Leute, war dabei die Rede.187 An den Stellen, an denen Schmückle, NSDAP-Mitglied seit 1931, in seiner 1936 erschienenen Autobiografie auf den Schwäbischen Bund zu sprechen kam, nannte er ihn – vom Ende des 1922 eingestellten Organs her argumentierend – ein Kampfblatt „wider den inneren Feind und […] die Regierenden“, führte aber nur Missenharter als Mitstreiter an und überging Ehrler.188 Allerdings ist bemerkenswert und deutet auf alte Seilschaften, dass sich Schmückle im Juli 1934, kurz nach seiner Installierung in politischen Ämtern, für eine finanzielle Unterstützung des Dichters beim Staatsministerium einsetzte.189 Mit demselben Ziel wandte er sich Ende 1936 mündlich und schriftlich an den RSK-Präsidenten Hanns Johst, wobei er Ehrlers literarischen Einsatz für Volkstum und Reich in Geistesbruderschaft mit dem Nationalsozialismus unterstrich.190 Missenharter arbeitete inzwischen für die Stuttgarter Zweigstelle der Schillerstiftung und unterstützte Ehrler von dieser, finanziell sehr maßgeblichen, Seite. Als Ehrler in einem nachgelassenen Rechtfertigungstext Die „Entmilitarisierung“ beschönigend auf seine ministerielle Tätigkeit während des Ersten Weltkriegs einging, tilgte er seinerseits das Andenken an den völkischen Hardliner Schmückle und brachte stattdessen den schöngeistigen Bodensee-Bohemien Emanuel von Bodman ins Bild, den literarischen Mentor seines jüdischen Freundes Jacob Picard.191
4. „waren wir nicht alle Deutsche?“: Zuwendung zum Landjudentum mit Jacob Picard
Es zeichnet Ehrlers Position als eines verflechtungsgeschichtlich produktiven Synkretisten aus, dass er die Sonne der franziskanischen All-Liebe, wie er sie verstand, auch auf diejenigen scheinen lassen wollte, die in weiten Teilen der katholischen 187 Hermann Hesse an Hermann Missenharter, 12. Februar 1919, zit. n. ders.: „Der Vogel kämpft sich aus dem Ei“, S. 78. 188 Georg Schmückle: Mein Leben. Eine Plauderei vom Werdegang eines Dichters. Berlin 1936, S. 79 f. 189 Vgl. Georg Schmückle (Gaukulturleitung) an Staatsministerium, 30. Juli 1934, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Akten des Staatsministeriums, Sign. E 130 b Bü 271. Der Antrag wurde mit Verweis auf das vorrangig zuständige Kultusministerium abgelehnt. 190 Vgl. Schmückle an Johst, 3. November 1936 (Deutsche Schillerstiftung, Personenakte Ehrler). Zu Schmückles politischen Verbindungen vgl. Rolf Düsterberg: Hanns Johst, „Der Barde der SS“. Karrieren eines deutschen Dichters. Paderborn, München u.a. 2004, S. 285 f. 191 Vgl. Hans Heinrich Ehrler: Die „Entmilitarisierung“, NL Ehrler. Zu Bodman kenntnisreich Bosch: Bohème am Bodensee, S. 408 ff.
186 | III. Literarisch-politische Vernetzungen
Tradition vor allem als Gottesfeinde galten. Der Name seines zuerst enthusiastischen und zuletzt frustrierten Freundes Jacob Picard steht für eine konservative, dem Landjudentum zugewandte Strömung der deutsch-jüdischen Literatur des 20. Jahrhunderts. 1883 geboren, wuchs Picard am Bodensee auf, promovierte 1914 in Heidelberg zum Thema Die friedengefährdende Klassenverhetzung und kam nach einer Laufbahn als Rechtsanwalt in Konstanz und Köln erst nach 1933 und unter den Bedingungen beruflicher Ausgrenzung zur literarischen Hauptbeschäftigung. Seine Erzählungen aus dem Landjudentum unter dem Titel Der Gezeichnete erschienen 1936 im Verlag der Jüdischen Buchvereinigung und gehören, spätestens seit der englischen Übersetzung The Marked One von 1956 und der Neuauflage in der Deutschen Verlagsanstalt 1963, zu den bekanntesten Dokumenten jüdischer Literatur im nationalsozialistischen Deutschland. Ergänzt werden sie durch die von April bis Juni 1938 in der jüdischen Monatsschrift Der Morgen publizierte Autobiografie Erinnerung eigenen Lebens, deren amerikanische Fassung 1959 unter dem Titel Childhood in the Village erschien. Publizistische Beiträge Picards beschäftigen sich unter anderem mit der „Judenfrage in Deutschland“192, mit dem „Jude[n] in der deutschen Dichtung“193 sowie naheliegend auch mit dem Schwarzwälder Dorfgeschichtenautor Berthold Auerbach als einem legitimen „Volksschriftsteller“, den es gegen die nationalsozialistische Verleumdung zu verteidigen galt, ein „jüdischer Anempfinder“ auf dem Gebiet „dörflicher Literatur“, ein „Unkraut“ in der „Fülle der Dorfgeschichten-Literatur“ gewesen zu sein.194 Picard lebte seit 1940 überwiegend in New York und verstarb 1967 in Konstanz.195 192 Jacob Picard: Die Judenfrage in Deutschland. In: Neue Zürcher Zeitung, 16. März 1920. 193 Jacob Picard: Der Jude in der deutschen Dichtung. In: Kölner Jüdisch-liberale Zeitung, 15. Juni 1928. 194 Jacob Picard: Berthold Auerbach – ein zu Unrecht Vergessener. Zum 150. Geburtstag des Volksschriftstellers. In: Stuttgarter Zeitung, 28. Februar 1962, gegen Hellmuth Langenbucher: Einleitung. In: Klassische Dorfgeschichten. Hg. v. dems. Stuttgart 1944, S. 7–26, hier S. 14. 195 Vgl. aus der Forschung am gründlichsten Schreuder: Jüdische Erzählliteratur im nationalsozialistischen Deutschland, dies.: Re-Konstruktion von Tradition. Jacob Picards Kehilla-Geschichten in der Jüdischen Buch-Vereinigung. In: Populäre Konstruktionen von Erinnerung im deutschen Judentum und nach der Emigration. Hg. v. Yotam Hotam u. Joachim Jacob. Göttingen 2004, S. 123–151; ferner Max Barth: Das Herz und die Heimat. Über den Erzähler Jacob Picard. In: „Waren wir nicht alle Deutsche?“ Judentum im Alemannischen. Hg. v. Hermann Bausinger, Adolf Muschg u. Martin Walser. Baden-Baden 1989 (= allmende 9, H. 24/25), S. 39–47 (mit Hinweis auf Ehrler S. 41), Michael Schmidt: „Faule Geschichten“? Über „Landjuden“ und deutsche Literatur. In: Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte. Hg. v. Monika Richarz u. Reinhard Rürup. Tübingen 1997, S. 347–371, Arndt Kremer: Deutsche Juden – deutsche Sprache. Jüdische und judenfeindliche Sprachkonzepte und -konflikte 1893– 1933. Berlin, New York 2007, S. 201 ff., Manfred Bosch: Jacob Picard. Erzähler des deutschen
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Ab 1907 literarisch aktiv, vertrat Picard eine nicht-assimilatorische Judenemanzipation und zugleich eine süddeutsche Kulturbewegung, die sich auch in ihrer jüdischen Variante gegen die von Lienhard problematisierte „Vorherrschaft Berlins“196 wehrte, hier nämlich gegen den Anspruch des „Ostjudentum[s] und seiner Abkömmlinge in Deutschland, die meist im Norden und vor allem in Berlin lebten, […] allein Vertreter jüdischer Kultur noch gewesen zu sein“. Picards verallgemeinernde Kritik lautete letztlich, dass das „snobistische[] Berliner Judentum“ sowohl seine Assimilation als auch seine Profilierung auf Kosten des Landjudentums verfolgt habe.197 „Überhaupt“, schrieb er über die Reaktionen auf seine Erinnerungsarbeit, tat man erstaunt darüber, daß es anderswo auch noch Juden gab, die gläubig waren bis in unsere Tage und stolz darauf, sich bekennen zu können gegenüber der Umwelt. […] ‚Ach, daß es das noch gab in Süddeutschland, das haben wir gar nicht gewußt!‘ Das hörte ich immer wieder. Dabei gab es ‚das‘ in blühenden Kehillahs bis und über 1900 hinweg, ja, bis zum Kriege gar, in hunderten von Orten mit ganz einheitlicher Kultur, wo jetzt freilich nur noch Reste davon sind.198
Picard teilte das Interesse am Ostjudentum, das sich unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs und seiner antisemitischen Begleittöne entwickelte. Er kannte und schätzte namentlich „unsere östlichen Epiker“199, sah sich selbst aber zum Zeugen des süddeutschen Landjudentums und dessen selbstbewussten Lebensverhältnissen berufen, in denen er am Bodensee aufgewachsen war. Deren Bild wiederzugeben, sollte sowohl Klischees von jüdischer Existenz aufbrechen als auch, mit entLandjudentums. In: Jüdische Künstler und Kulturschaffende aus Südwestdeutschland. Hg. v. Haus der Geschichte Baden-Württemberg. Heidelberg 2009, S. 113–128, Sabina Becker: Picard, Jacob. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2. Aufl. Hg. v. Wilhelm Kühlmann. Bd. 9. Berlin, New York 2010, S. 216, sowie Verf.: An einen Juden – An einen Deutschen. Jüdische und deutsche Identität im Dialog zwischen Jacob Picard und Hans Heinrich Ehrler. In: Von den Rändern zur Moderne. Studien zur deutschsprachigen Literatur zwischen Jahrhundertwende und Zweitem Weltkrieg. Festschrift für Peter Sprengel zum 65. Geburtstag. Hg. v. Tim Lörke, Gregor Streim u. Robert Walter-Jochum. Würzburg 2014, S. 431–456. Zur deutsch-jüdischen Literatur im Dritten Reich vgl. auch Gregor Streim: Deutschsprachige Literatur 1933–1945. Eine Einführung. Berlin 2015, S. 130 ff. 196 Friedrich Lienhard: Die Vorherrschaft Berlins [1900]. In: ders.: Gesammelte Werke in drei Reihen. Stuttgart 1924–1926, Abt. 3, Bd. 1, S. 129–181. 197 Jacob Picard: Erinnerung eigenen Lebens. In: ders.: Werke. Hg. v. Manfred Bosch. Konstanz 1991, Bd. 2, S. 171–257, hier S. 248 u. S. 250. 198 Picard: Erinnerung eigenen Lebens, S. 248. 199 Picard: Erinnerung eigenen Lebens, S. 248.
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scheidender Funktion nach 1933, die historische Normalität jüdisch-christlicher Koexistenz demonstrieren: im Medium einer dem Bürgerlichen Realismus und dessen Idealisierungsoperationen verpflichteten Poetik, die das Miteinander vom faktischen Ende her inszenierte. Picard zufolge – er bezog sich dafür auf ein im 19. Jahrhundert bedingt „eingeübte[s] Miteinander von Juden und Katholiken“200 in Südwestdeutschland namentlich gegenüber dem Protestantismus – haben die badischen Dorfjuden mit den „bäuerlichen Nachbarn katholischen Glaubens“ in einer „Gemeinschaft besonderer Art“ gelebt. Man sei „ein ungeschwächtes, aufrechtes Volk im Dorfe“ gewesen.201 Der „Ghettojude“, so Picard, der „ewig Ängstliche“, der sich „vor direkter Gewalt“ wie „vor der Entdeckung seines Judeseins“ gefürchtet habe, sei „stets nur der Stadtjude“ gewesen.202 Das Gegenbild begründete er pragmatisch damit, dass der Landjude von seinen christlichen Nachbarn nicht habe abgeschlossen leben können. Statt sich zu assimilieren, habe man in diesen Kreisen auf die „Ehre“ der jüdischen Gemeinde geachtet, habe sich „überheblich […] für besser“ gehalten, weil man den rechten Glauben hatte, andererseits eine Einheit mit den nichtjüdischen Nachbarn gefühlt, denn: „waren wir nicht alle Deutsche?“203 Auch jenseits des ländlich-heimatlichen Settings sollte diese deutsche Gleichheit erfahrbar gewesen sein, nämlich auf den Feldern des Weltkriegs, auf denen unter anderem Picards autobiografische Kriegserzählung Der Bruder (erschienen im Oktober 1933) spielt: „es war“, meinte Picard vom Frontalltag, „unter uns überhaupt kein Problem, wir waren Kameraden. Dabei muß ich ausdrücklich betonen, daß jedermann wußte und es vor allem anerkannte, daß wir gläubige Juden waren.“204 Die geistige Verbindung zwischen Picard und Ehrler bestand in beider Einsatz für das Projekt einer moderierten Moderne süddeutscher Provenienz und für eine kulturidealistische Deutschlandvorstellung, welche die Einheit der Nation im „Gefühl der gemeinsamen Sprache“205 erkennen wollte. Wie Ehrler verfolgte Picard eine poetische Praxis, die auf Vorbilder des 19. Jahrhunderts eingeschworen war. Neigte Ehrler hierbei zu den klassisch-romantischen Modellen von Goethe bis 200 Andrea Hoffmann: Schnittmengen und Scheidelinien. Juden und Christen in Oberschwaben. Tübingen 2011, S. 30. 201 Picard: Erinnerung eigenen Lebens, S. 176 u. S. 179. 202 Picard: Erinnerung eigenen Lebens, S. 250. 203 Picard: Erinnerung eigenen Lebens, S. 179. 204 Vgl. Jacob Picard: Der Bruder. In: ders.: Werke. Hg. v. Manfred Bosch. 2 Bde. Konstanz 1991, Bd. 2, S. 101–127, sowie ders.: Vergeltung. In: ebd., S. 148–170 (Zitat S. 152). 205 Jacob Picard: Offener Brief an Wilhelm Schäfer! In: C.-V.-Zeitung. Blätter für Deutschtum und Judentum, 16. Oktober 1925, S. 681 f., hier S. 681. Vgl. Kremer: Jüdische und judenfeindliche Sprachkonzepte, S. 205 f.
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Hölderlin, bevorzugte Picard die realistische Schule von Johann Peter Hebel bis Gottfried Keller. Wie Ehrler hielt Picard an einer metaphysischen Absicherung seiner Arbeit fest: am „Glauben an das Wesen, an das Heilige, trotz allem“, wie man sich brieflich versicherte.206 Eng verband beide Autoren die Wirkungsabsicht des Trostes und der Erbauung. Picard wollte seiner Leserschaft unter Bezug auf die „consolatio bzw. adhortatio judaica“207erklärtermaßen helfen, die Erfahrungen von Ausgrenzung und Verfolgung zu bewältigen: „Trost der Seele brauchen wir durch eine Gestaltung der ewigen Gefühle, die nie ihre Wirkung verliert. […] Das Ziel kann neben der Religion nur durch die Kunst erfüllt werden.“ Der Intellektuelle Picard entschuldigte diesen psychologischen Pragmatismus mit seiner leidvollen Notwendigkeit: „diesen banalen Satz auszusprechen, wollen wir uns nicht scheuen, da Zahllose unter uns vor Ve r l a s s e n h e i t nicht aus noch ein wissen.“208 Wie Picard im größeren Tableau so malte Ehrler zumindest in kleineren Szenen die Existenz eines vitalen süddeutschen Landjudentums aus. Die „jüdischen Handelsleute“, die mit den katholischen und evangelischen Christen ein buntes Gewimmel auf dem Wochenmarkt bilden,209 die „Viehjuden“ und der „Judenladen“210 gehören als Requisiten des Selbstverständlichen zur Atmosphäre von Ehrlers ländlichen Idyllen. Durch Die Reise ins Pfarrhaus läuft der Handlungsstrang der ersten Liebe, die der Pfarrerszögling Jakob Meister zu einer jungen Jüdin fasst: Selma Höchheimer, die schließlich zum Katholizismus konvertiert und in die Afrikamission geht, während ihr Vater zu einem „stillen, inwendig lächelnden Greis“ wird, der der Tochter „halb traurig, halb feierlich […] einen Fluch und einen Segen“ hinterherschickt.211 Durch Ehrlers frühe Lyrik spukt eine Figur namens Rebekka, die erotische Unordnung verbreitet.212 Der elegische Darstellungsmodus verhüllt weder im Roman noch in den Gedichten den judenfeindlichen Subtext, der die ‚schöne Jüdin‘ als sinnliche Verführerin lanciert – „eine ausländische, duftende 206 Jacob Picard an Hans Heinrich Ehrler, 17. September 1931, Leo Baeck Institute New York, Jacob Picard Collection (künftig: NL Picard). 207 Schreuder: Jüdische Erzählliteratur im nationalsozialistischen Deutschland, S. 42. 208 Jacob Picard: Unsere Dichtung in diesen Tagen. In: Jüdische Rundschau, 22. November 1935, S. 6 (Hervorhebung im Original). 209 Ehrler: Die Reise in die Heimat, S. 17. 210 Ehrler: Die Reise ins Pfarrhaus, S. 12 u. S. 72. Zu diesen Sozialstrukturen vgl. Paul Sauer: Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale. Stuttgart 1966, S. 34, S. 70 f. u. S. 118 f., sowie Hoffmann: Juden und Christen in Oberschwaben, S. 103 ff.; zu ihrem Fortbestehen bis Ende der 1930er Jahre Peter Longerich: „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945. München 2006, S. 104 ff. 211 Ehrler: Die Reise ins Pfarrhaus, S. 315. 212 Vgl. Ehrler: Frühlingslieder, S. 58 u.ö.
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Blume“213 – und den ‚edlen Patriarchen‘ Höchheimer dem Vergangenen und Aussterbenden anheimgibt. Ähnlich verfuhr Ehrler im Roman Wolfgang mit der Figur der Rabbiwitwe, zu der es den jungen Protagonisten Wolfgang Schelling hinzieht. Das Jüdische ist auch hier ein Stimmungselement des Verzauberten und Verwunschenen, politisch aufgeladen durch die angenommene Analogie deutschen und jüdischen Schicksals: [Im Haus des Rabbiners] war es merkwürdig, voller Geheimnisse; die jüdische Frau sprach rätselhafte Dinge. Wie wenn sie zu Füßen Jeremias und Hesekiels gesessen wäre. Die Predigerin fluchte dem Mammon. Von Deutschland redend frug sie: „Wie oft ist Israel in die Wüste geführt worden und in die Verbannung?“214
Wie sehr sich Ehrler der Bedeutung dieser Elemente bewusst war, verrät die kurze Rückfrage bei Einreichung des Wolfgang-Manuskripts für den völkischen Türmer: „die zwei kleinen Judenabschnitte?“, so merkte Ehrler im Begleitbrief an, um sich Lienhards Zustimmung zu versichern.215 Lienhard legte großen Wert darauf, den Rassenantisemitismus abzulehnen und die geistige Tradition des Judentums wertzuschätzen, bestritt aber einen schöpferischen Beitrag von Juden zur deutschen Kultur.216 Ehrlers ästhetische Präsentation von Landjuden schließt insgesamt mehr an die Literatur des 19. Jahrhunderts an, besonders an Wilhelm Raabes Holunderblüte (1862/63) und Frau Salome (1879),217 als dass er Picards jüdische Erzählungen der 1930er Jahre vorwegnehmen würde. Zeitgenössisch angepasst ist allerdings Ehrlers Annahme eines gemeinsamen jüdischen und deutschen Außenseiterschicksals gegenüber der internationalen Umwelt: ‚Verbannung‘ scheint hier wie dort das Stichwort. Die unter diesem Druck angeblich gefestigte jüdische Frömmigkeit hielt Ehrler für vorbildlich. Im Weltanschauungsbuch Das Gesetz der Liebe von 1928 erklärte er seinen an die Religiosität geknüpften Respekt für das „Volk des Alten Bundes“: 213 Ehrler: Die Reise ins Pfarrhaus, S. 129. 214 Ehrler: Wolfgang [Buchausgabe 1925], S. 104. 215 Hans Heinrich Ehrler an Friedrich Lienhard, 24. November 1924, GSA Weimar, Nachlass Friedrich Lienhard, Sign. GSA 57/493. 216 Vgl. Thomas Gräfe: Deutsch-jüdischer Parnaß. In: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Wolfgang Benz. Bd. 7: Literatur, Film, Theater und Kunst. Berlin, New York 2015, S. 68–70, hier S. 69. 217 Vgl. Ehrler: Wilhelm Raabe; dazu Irving Massey: Philo-Semitism in Nineteenth-Century German Literature. Tübingen 2000, bes. S. 97–107 („Wilhelm Raabe: Jewish Women“), sowie Schmidt: Über „Landjuden“ und deutsche Literatur, S. 350 ff.
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Die gewaltigste, erschütterndste religiöse Dichtung wuchs darunter, nachher dem Christentum dessen Offenbarung erschließend. Und wie der Widerspruch die Wiege größter Dinge ist, so kam aus dem […] völkisch umzäunten Messianismus die an alle Völker der Welt gerichtete Verkündung des […] internationalen Heiles. […] Heute noch ist dieses Volk metaphysisch gefüllt, sein Gott hat es trotz weit in sein Gewebe greifender Rationalisierung und Materialisierung nicht verlassen.218
Mehrfach bezog sich Ehrler auf „das Buch eines Juden über Politik“, um die Meinung zu vertreten, dass jede echte Erneuerung des Staates in religiöser Beleuchtung stehen müsse.219 Gemeint war das Buch Große Politik (1926) des UllsteinLektors und Katholiken jüdischer Herkunft Ferdinand Lion, das die europäischen Großmachtbeziehungen seit dem frühen Mittelalter unter dem Aspekt der politischen Werte betrachtet. Lion bezog sich dabei tatsächlich kaum auf das Judentum, sondern auf das europäische Potential des „Christentum[s] als Bundesreligion“220. Den gemeinsamen Lebenshintergrund Picards und Ehrlers bildete die Boheme am Bodensee: die Zirkel um Hesse, Finckh, Jacques, Bodman und einigen anderen, unter denen die Autobiografie von Jacques „unsere jüdischen Freunde“ nennt.221 Hesse feierte Weihnachten 1905 mit Ehrler, Picard und Jacques im Konstanzer Stephanskeller,222 lud Ehrler Ende 1906 in sein Haus nach Gaienhofen ein223 und charakterisierte ihn 1915 in seiner Rezension des Bodenseebuchs als den „lieben Schwärmer Hans Heinrich Ehrler“224. Hesse war es auch, der Texte Ehrlers und Picards in die von ihm mitherausgegebene Zeitschrift März aufnahm. Aber nur Picard konnte sich auch nach dem Ersten Weltkrieg auf die Förderung durch Hesse verlassen. 1937 stand er mit einer nachdrücklich positiven Besprechung des Ge-
218 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 254. 219 Vgl. Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 309; ders.: Meine Fahrt nach Berlin, S. 110. 220 Ferdinand Lion: Große Politik. Stuttgart, Berlin 1926, S. 172. 221 Jacques: Roman meines Lebens, S. 88; vgl. Scholdt: Der Fall Norbert Jacques, S. 48. Grundlegend hierzu Bosch: Bohème am Bodensee, ferner Decker: Hermann Hesse, S. 223 ff. 222 So jedenfalls die Erinnerung von Jacob Picard im Brief an Hermann Hesse, 20. Januar 1952, NL Picard. 223 Vgl. Hermann Hesse an Hans Heinrich Ehrler, 7. Dezember 1906, DLA Marbach, Sign. A:Wildermuth/Sammlung Spieth. 224 Hermann Hesse: Gruß vom Bodensee [Rez. v. Das Bodenseebuch. Ein Buch für Land und Leute 2 (1915)]. In: ders.: Die Welt im Buch II. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1911– 1916. Hg. v. Volker Michels. Frankfurt/M. 2002 (= Sämtliche Werke, Bd. 17), S. 377–380 (zuerst in: Der Bund [Bern], 24. November 1914) (Zitat S. 378), unter Bezug auf Ehrlers Beitrag Wein.
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zeichneten zu ihm. 1952 kam er in einem Brief an Picard zu dem ernüchternden Ergebnis: Die Leute unsrer damaligen kleinen Literatenschicht am Bodensee haben sich ohne Ausnahme nicht bewährt, die einen literarisch nicht, die anderen menschlich und politisch nicht, die meisten versagten und enttäuschten in Beidem. Wie hübsch und liebenswert hatte Ehrler mit seiner frühen Lyrik begonnen, auch Finckh, und was ist aus ihnen geworden!225
Während Picard in den Jahren nach 1933 auf einen ghettoisierten jüdischen Literaturbetrieb beschränkt blieb, erhielt Ehrler 1930 das große Forum von Langen Müller. Während sich Picard im Ausland anerkannt fand, standen die verordneten Hymnen auf Ehrler in den führenden deutschen Blättern wie der Neuen Literatur und der Frankfurter Zeitung. In den Erzählungen Picards fand Hesse für die Neue Zürcher Zeitung „ein Kleinleben reich an gewinnenden und an heiteren Zügen, reich an Anekdoten, an Überlieferung, an Frömmigkeit, ja an stiller Größe“.226 In Ehrlers Mit dem Herzen gedacht sah FZ-Rezensent Hanns Martin Elster, zugleich Pressereferent bei der Reichsleitung der NSDAP, die „Dokumentierung des letzten, zu reifer Weisheit und inniger Wahrheit erhobenen Sinns eines Menschentums, das mit den Geheimnissen des Daseins gerungen hat, um in abgeklärter Reinheit nur noch dem Göttlichen im Irdischen zu gehören“, eine Höchstleistung „deutscher Innerlichkeit“.227 So unterschiedlich die Werdegänge, so unmissverständlich bekannten sich Picard und Ehrler zu ihrem frühen und fortgesetzten Freundschaftsbund. Die Forschung hat vorzugsweise Picards regen Austausch mit Gertrud Kolmar betont, der sich seit 1937 entwickelte.228 Aus der Kölner Zeit Anfang der 1930er Jahre rührte 225 Hermann Hesse an Jacob Picard, undat. (Ende Januar / Anfang Februar 1952), NL Picard. 226 Hermann Hesse: [Rez.] Jakob Picard: Der Gezeichnete. In: ders.: Die Welt im Buch V. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1935–1962. Hg. v. Volker Michels. Frankfurt/M. 2005 (= Sämtliche Werke, Bd. 20), S. 233 f. (zuerst in: Neue Zürcher Zeitung, 11. April 1937), hier S. 234. Zu Hesses Rezensionstätigkeit dieser Zeit und den damit verbundenen nationalsozialistischen Anwürfen, er verrate die deutsche Gegenwartsliteratur an das Judentum, vgl. Marco Schickling: Hermann Hesses Literaturkritik der dreißiger Jahre. In: Hermann Hesse Today / Hermann Hesse Heute. Hg. v. Ingo Cornils u. Osman Durrani. Amsterdam, New York 2005, S. 121–132. 227 Hanns Martin Elster: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Mit dem Herzen gedacht. In: Frankfurter Zeitung, 5. Juni 1938. 228 Vgl. Jacob Picard: Gertrud Kolmar: The Woman and the Beasts. In: Commentary 10 (1950), S. 459–465, und ders.: Gertrud Kolmar. Reminiscences. In: Jewish Frontier 27 (1960), S. 12–17,
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die Freundschaft zu Stefan Andres, der 1937 ins Exil nach Italien ging.229 Picard selbst hat die Tatsache seiner engen Beziehung zu Ehrler nicht verhehlt. In seiner ersten selbstständigen Veröffentlichung, dem Lyrikbändchen Das Ufer (1913), widmete er ihr das Gedicht Hymne.230 In seinen Erinnerungen an die Heidelberger Studienzeit erklärte er 1962 mit Blick auf 1914: Mein enger Freund aber ist damals am See Hans Heinrich Ehrler gewesen, der als Redakteur jahrelang in Konstanz lebte. Die Freundschaft hat mehr als dreißig Jahre gedauert, bis ich ihm 1938 den Laufpaß geben mußte, aus den bitteren Gründen. Er las meine neuesten Strophen wie ich die seinen, so sehr ich schließlich andere Wege ging…231
Bei der Veranschlagung von ‚mehr als dreißig Jahren‘ setzte Picard für den Beginn das Jahr 1904 an, in dem Ehrler seine Redaktionsstelle in Konstanz antrat, überging allerdings eine zwischenzeitliche Entfremdung, über die auch eine Wiederanknüpfung in den 1930er Jahren nicht hinweghalf. Mit einem Brief vom 17. September 1931 scheint sich Picard zum ersten Mal seit der gemeinsamen Bodenseezeit wieder an Ehrler gewendet zu haben. Er brachte nächtliche Gedichtlesungen auf der Reichenau 1911 in Erinnerung und ehrte Ehrler für seine Schriftstellerlaufbahn: „Was ist aus uns geworden – Du hast wohl Vieles von dem erreicht, was Du träumtest, von da und dort kamen mir die Zeichen dafür, und immer freute ich mich darob.“232 Am 3. Januar 1932 bezog sich Picard auf Ehrlers positive Antwort und erklärte sich (Ehrlers Ehefrau Melanie einschließend) „im Gefühl Euch verbunden und mir dessen auch bewußt in all der Zeit“. Er sah ein Jahr voraus, „das so geheimnisvoll und drohend vor uns allen liegt und während dessen wir einander vielleicht alle innerlich freundschaftliche Zuflucht sein müssen, mehr als je“.233 dazu Dieter Kühn: Gertrud Kolmar. Leben und Werk, Zeit und Tod. Frankfurt/M. 2008, S. 124 u.ö., sowie Marion Brandt: Gertrud Kolmar an Jacob Picard. Briefe aus den Jahren 1937–1939. In: Jüdischer Almanach 1995, S. 136–140. 229 Vgl. Michael Braun: Stefan Andres. Leben und Werk. Bonn 1997, S. 47 u.ö. 230 Jakob Picard: Das Ufer. Heidelberg 1913, S. 9, mit dem Untertitel „Meinen Freunden Ewald Bender und Hans Heinrich Ehrler“; Bender war Kunsthistoriker, der sich vor allem mit Gegenwartskunst aus der Schweiz beschäftigte. 231 Jacob Picard: Ernst Blass, seine Umwelt in Heidelberg und Die Argonauten. Biographisches Fragment. In: ders.: Werke. Hg. v. Manfred Bosch. Konstanz 1991, Bd. 2, S. 271–283, hier S. 278. Vgl. auch ders.: Letztes Idyll. Biographisches Fragment [undat. aus dem Nachlass]. In: ebd., S. 89–99, hier S. 99. 232 Jacob Picard an Hans Heinrich Ehrler, 17. September 1931, NL Picard. 233 Jacob Picard an Hans Heinrich Ehrler, 3. Januar 1932, NL Picard.
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Danach muss der Kontakt wiederum abgerissen sein, denn unter dem Datum des 8. Juli 1937 – Picard hatte sich inzwischen von Köln an den Bodensee zurückgezogen – kommentierte der jüdische Freund sein neuerliches Schreiben mit der vieldeutigen, auf die politischen wie die zwischenmenschlichen Verhältnisse anspielende Frage: „du wirst wohl sehr überrascht sein, plötzlich diesen Brief von mir zu erhalten, noch zu erhalten?“ Die äußere Veranlassung wird mit der namenlosen Intensität der frühen Freundschaft bekräftigt: „diesen Morgen nun las ich in der Zeitung, Du seist 65 Jahre alt geworden, das hat mich sehr ergriffen. Ich muß hier nicht erst sagen, weshalb. An alles, alles muß ich denken.“ Neben die erneute Anerkennung des Schriftstellerfreundes setzte der Schreiber nun selbstbewusst den eigenen literarischen Durchbruch, den „bedeutenden Erfolg“ des Gezeichneten, über dessen „Stoffkreis“ er sagt: „Es ist die Atmosphäre des süddeutschen Landjudentums in seiner Verbindung mit der nichtjüdischen Umgebung und der Landschaft, und sie ist zum ersten Mal so gestaltet worden.“ Die Bedeutung ergebe sich, wie er hinzufügte, „in ideeller Beziehung, denn ‚unser‘ Raum ist ja so eng geworden“.234 Damit signalisierte Picard dem Freund nicht nur erstmals, unter der nationalsozialistischen Judenverfolgung zu leiden (seit April 1933 galt das Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft, seit September 1935 die Nürnberger Rassengesetze235), sondern problematisierte auch das in Anführungszeichen gesetzte ‚Unser‘: Es schließt Ehrler nicht mehr ein, stellt aber auch eine exklusive gemeinsame Identität der Verfolgten in Frage. In den Schlusszeilen, die eine persönliche Wiederbegegnung in Aussicht stellen, wies Picard nochmals unzweideutig auf seine existentielle Gefährdung hin, relativierte jedoch nicht mehr die jüdische Gruppenzugehörigkeit: „Im Herbst komme ich zu Vorträgen nach Stuttgart – wenn nichts dazwischen kommt, muß unsereins nun immer sagen.“236 Der Oberrat der badischen Juden ermöglichte Picard im Jahr 1937 zwei Lesereisen, mit Stationen unter anderem in Stuttgart und Berlin, um seinen Ende 1936 erschienenen Gezeichneten bekannt zu machen.237 Ob es dabei zu einer Begegnung mit Ehrler kam, ist ungewiss. Es fehlten nur noch die Trennungsbriefe, die nicht lange auf sich warten ließen. Das Jahr 1938 brachte, anlässlich der ‚Heimholung‘ Österreichs ins Reich, Ehrlers 234 Jacob Picard an Hans Heinrich Ehrler, 8. Juli 1937, NL Picard. 235 Zur verhaltenen Resonanz darauf in der deutschen Bevölkerung vgl. Longerich: Die Deutschen und die Judenverfolgung, S. 58 ff. u. S. 75 ff., sowie Rauh-Kühne: Katholisches Milieu und Kleinstadtgesellschaft, S. 407–421 („Nationalsozialistische Verbrechen im lokalen Erfahrungsraum“). 236 Picard an Ehrler, 8. Juli 1937. 237 Vgl. Bosch u. Grosspietsch: Jacob Picard, S. 20 f.
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öffentlichkeitswirksam inszeniertes Glaubensbekenntnis zum Nationalsozialismus und seine größeren Beiträge zum Hitlerkult. Dabei floss ein zwar nicht rassistischer, aber kulturalistischer Antisemitismus an der Stelle ein, an der Ehrler das angeblich „engstirnige Gerede von einer ‚gräco-judäischen‘ Herkunft des Christentums“, die er 1928 in Das Gesetz der Liebe noch selbst unterstrichen hatte, verworfen sehen wollte.238 Er stellte die hebräische Grundlage der christlichen Tradition in Frage, um dem von Alfred Rosenberg formulierten Verdacht zu begegnen, dass die Zentralstellung der Bibel den Versuch bedeute, „uns geistig zu Juden zu machen“.239 Dies fiel ihm umso leichter, als seine neofranziskanische Liebesmystik systematische Schwierigkeiten aufwarf, an den fordernden Gott des Alten Bundes anzuschließen, den Gott der Gesetze und Vorschriften, den Rosenberg als einen zornerfüllten Wüstendämon im Widerspruch zur germanisch-deutschen Freiheit sehen wollte.240 Das harmoniebetont „einige Reich der Deutschen“241 schien so nicht ohne Österreich, wohl aber ohne das Judentum auskommen zu können. Mitte 1938 verzeichnete Picard für die neue deutsche Exklusionsidentität resigniert: „Wir dürfen nicht mehr jüdische Menschen in der deutschen Landschaft darstellen, auch nicht mehr sagen, daß wir Göthe, Hölderlin und George und Hans Thoma geliebt haben!“242 Im Juli zog er vom Bodensee ins ungeliebte Berlin, um seine Ausreise über die Sowjetunion in die USA vorzubereiten. Sie begann Anfang Oktober 1940. Während eines Aufenthalts in der japanischen Hafenstadt Kobe erfuhr er Ende Oktober von der Deportation der badischen Juden ins Internierungslager Gurs. Den bitteren Bruch mit Ehrler schilderte er Hesse im Jahr 1952 eindringlich und nicht ohne Wehmut: 238 Ehrler: Das einige Reich der Deutschen, S. 381. 239 Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts, S. 658: „Abgeschafft werden muß danach ein für allemal das sogen. Alte Testament als Religionsbuch. Damit entfällt der mißlungene Versuch der letzten anderthalb Jahrtausende, uns geistig zu Juden zu machen, ein Versuch, dem wir u.a. auch unsere furchtbare materielle Judenherrschaft zu danken hatten.“ Vgl. dagegen Pius XI.: Mit brennender Sorge, S. 151: „Nur Blindheit und Hochmut können ihr Auge vor den heilserzieherischen Schätzen verschließen, die das Alte Testament birgt. Wer die biblische Geschichte und die Lehrweisheit des Alten Bundes aus Kirche und Schule verbannt sehen will, lästert das Wort Gottes, lästert den Heilsplan des Allmächtigen.“ Zusammenfassend zu dieser Diskussion Steigmann-Gall: The Holy Reich, S. 91 ff., sowie Olaf Blaschke: Antijudaismus und Antisemitismus im deutschen Katholizismus. Warum die Kirche keine rechtzeitige Verurteilung aussprechen konnte. In: Katholizismus in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Richard Faber. Würzburg 2005, S. 143–156. 240 Vgl. Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts, S. 158. 241 Ehrler: Das einige Reich der Deutschen, S. 377. 242 Zit. n. Bosch: Bohème am Bodensee, S. 56.
196 | III. Literarisch-politische Vernetzungen Dem Ehrler habe ich 1938 all seine Buecher zurueckgeschickt, und er hat sichs wohlweislich ruhig gefallen lassen. Und jetzt ist er gestorben; ich erfuhr es durch das Kreuzchen hinter einem kleinen Gedicht seiner reinsten Lyrik, das nicht lange her in der „Staatszeitung“ hier [in New York] gedruckt war. Und das Gedicht hat er mir handschriftlich gegeben, kurz nachdem es, 1909, entstanden war, und das besitze ich auch noch, ja. Man kann eben doch nichts dagegen tun; wir leben doch nur aus dem Vergangenen. Manchmal war es sehr schoen.243
Die doppelte Trauer um Ehrler, als Verräter und als Verstorbener, dokumentierte der damalige katholische Starautor Stefan Andres in seinem Artikel zu Picards 70. Geburtstag: Für den jüdischen Schriftsteller sei Ehrler Teil „einer geheimen Geschichte“ gewesen, „in der sich die Literatur, aber noch mehr der deutsche Mensch der letzten fünfzig Jahre“ spiegle.244 Einen öffentlichen Reflex erhielten diese heiklen Beziehungen mithin in der Autobiografie von Norbert Jacques, Roman meines Lebens (1950). Der Luxemburger bestätigte ohne Namensnennung, aber eindeutig genug Picards Anteil an der Bodenseeer Schriftstellerkolonie und schrieb zum assimilatorischen Missverständnis: „unsere jüdischen Freunde hatten von der Bodennähe ihrer Abstammung eine regionale Färbung behalten, die sie zunächst sich kaum von Nichtjuden unterscheiden ließ“. Andererseits hielt Jacques die Erfahrung eines „Nichtauflösungswille[ns]“ dieser Gruppe „in der arischen Umwelt“ fest und bemerkte sehr im Allgemeinen: „Später ergaben sich dann allerdings auch Konflikte.“ Picard hat diese suspekten Memoiren genau gelesen und die letztlich negative Darstellung seiner Person vor allem darauf zurückgeführt, dass er Jacques ein 1946 erbetenes Leumundszeugnis zu dessen Entnazifizierungsverfahren, den ‚Persilschein‘, verweigert hatte.245 ‚Manchmal war es sehr schön‘, kommentierte Picard sein Verhältnis zu Ehrler. Letztes Idyll betitelte er im selben elegischen Ton einen autobiografischen Text von 1964, in dem die Figur Jacques’ als gastfreier Herr über Bodenseeschloss Luxburg und herzlich lachender Freund auftritt, der die vom See Ankommenden am Ufer erwartet und ihnen beim Ausstieg aus dem schwankenden Boot die sichernde Hand reicht.246 243 Picard an Hesse, 20. Januar 1952. 244 Stefan Andres: Jakob Picard zum heutigen 70. Geburtstag. In: Der Aufbau (New York), 11. Januar 1953. 245 „Jacques hat sich dann in seiner sehr fragmentarischen Autobiographie etwas kleinlich gerächt, nicht schlimm, und so, daß nur wir beide es wissen konnten, wen er meinte“, Jacob Picard an Karl Willy Straub, undat. (Anfang 1956), zit. n. Bosch u. Grosspietsch: Jacob Picard, S. 50. 246 Picard: Letztes Idyll, S. 91 f.
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5. „neue Heimat“: gebremste Moderne mit Theodor Heuss
Ehrlers neokatholische Religiosität in Kombination mit einem Reichsidealismus, der die Integration des Regionalen, Nationalen und Übernationalen einer politischen Metaphysik des kulturellen Erbes anvertraute, begründete seine Einordnung als Jungkonservativer durch den dazu berufenen Publizisten Carl Christian Bry im Jahr 1919. Den damit verbundenen Fehlgewichten hielt zunächst eine Verpflichtung auf den südwestdeutschen Liberalismus die Waage. Ehrlers frühe Karriere stand weitgehend im Dienst der Linksliberalen: der besonders in Bayern, Baden und Württemberg stark aufgestellten Deutschen Volkspartei, die für großdeutschen Föderalismus und antipreußische Zentralisierungskritik eintrat, für die Paulskirchen-Tradition und Parlamentsrechte, für Sozialpolitik und Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie, gerade in Bayern und Baden auch für den Liberalkatholizismus in Auseinandersetzung mit dem Integralkatholizismus.247 Ehrler blieb diesen Programmpunkten in den Nachfolgeorganisationen Fortschrittliche Volkspartei/ FVP (ab 1910) und Deutsche Demokratische Partei/DDP (ab 1918) treu, mit antiliberalen Wendungen zum Teil auch bei seiner späteren Annäherung an das Zentrum und an die NSDAP. Als Chefredakteur der Konstanzer Abendzeitung und des Karlsruher Badischen Landesboten, beides volksparteiliche Organe, war er dem jeweiligen Ortsvorstand gegenüber direkt verantwortlich. Norbert Jacques sprach Ehrler in seiner Autobiografie als „demokratische[n] Redakteur“248 an, Otto Ernst Sutter erinnerte an seinen engen Umgang mit den badischen Linksliberalen Karl Heimburger, Oskar Muser, Martin Venedey und Hermann Hummel, die Mandate 247 Eindrücklich hierzu Dieter Langewiesche: Sozialer Liberalismus in Deutschland. Herkunft und Entwicklung im 19. Jahrhundert. In: Sozialliberalismus in Europa. Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Hg. v. Detlef Lehnert. Wien, Köln u.a. 2012, S. 35–50. – Zu den südwestdeutschen Parteienverhältnissen im Detail vgl. David Blackbourn: Class, Religion and Local Politics in Wilhelmine Germany. The Centre Party in Württemberg before 1914. New Haven 1980, S. 122 ff. u. S. 221 ff., Hans-Otto Rommel: Aufbau und Zusammenbruch der Demokratie in Württemberg. In: Die FDP/DVP in Baden-Württemberg und ihre Geschichte. Liberalismus als politische Gestaltungskraft im deutschen Südwesten. Hg. v. Paul Rothmund u. Erhard R. Wiehn. Stuttgart 1979, S. 131–164, Naujoks: Württemberg 1864 bis 1918, S. 408 ff. u. S. 427 ff., sowie Fenske: Baden 1860 bis 1918, S. 188 ff. u. S. 229 ff. – Zu Liberal- und Integralkatholizismus vgl. bes. August M. Knoll: Glaube zwischen Herrschaftsordnung und Heils erwartung. Studien zur politischen Theologie und Religionssoziologie. Wien, Köln u.a. 1996, S. 213 ff. 248 Jacques: Roman meines Lebens, S. 88. Vgl. Albert Herzog: Ihr glücklichen Augen. Ein Karlsruher Journalist erzählt aus seinem Leben. Karlsruhe 2008, S. 143; Herzog war parallel zu Ehrlers Amtszeit beim Badischen Landesboten Chefredakteur der Badischen Presse in Karlsruhe.
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im Landtag und im Parteivorstand versahen.249 Bei den Novemberunruhen 1918 und den Wahlgängen vom Januar 1919 (am 12. Januar für die Verfassungsgebende Landesversammlung, am 19. für die Nationalversammlung) trat er als öffentlicher Redner in Stuttgart auf. Die Politik- und Anzeigenteile der Süddeutschen Zeitung und des Stuttgarter Neuen Tagblatts spiegeln sein Engagement in der von den rechten Kritikern wie Ludwig Finckh sogenannten Linksblock-Politik, bei der die von Fortschrittlichen und linken Teilen der Nationalliberalen gegründete DDP eine christlich-caritativ fundierte Kooperation mit den gemäßigten Teilen der Sozialdemokratie und den Christsozialen der Zentrumspartei verfolgte.250 Ehrler erklärte sich hierüber unumwunden und mit eindeutig synkretistischem Akzent: „Der Sozialismus hat sich in unsere Wirtschaft hereingeschoben. Keine Gegenbewegung vermöchte ihn wieder wegzuschieben. So gilt’s ihn einzubauen. […] weil das Evangelium der Bruderschaft sich darin kündet, sei er uns willkommen.“251 Der Sozialismus hätte nur dort Wurzeln schlagen können, wo ihm die Liebesbotschaft des Christentums den geistigen Boden bereitet habe. In seinen Vorkämpfern sah Ehrler ein apostolisches Feuer brennen, nicht anders als im Heiligen Franz von Assisi, dem Poverello. Im Auftrag eines sozialdemokratischen Arbeitsministers, Hugo Lindemann, der am 6. November 1918 in die kurzlebige Regierung des linksliberalen Ministerpräsidenten Theodor Liesching eingetreten war, verfasste er die Flugschrift Den heimkehrenden Schwaben, an deren Ende er den Soldaten zurief: „Ihr kommt als Bürger […]. Wände sind zwischen uns eingestoßen, und Krusten um uns gesprungen, leichteren Atems wollen wir einander näherrücken… […] Weg mit der Waffe, her mit der Kelle!“252 Auch als Mitglied der Stuttgarter Uhland-Gesellschaft, die sich in Traditionsanknüpfung an die „Uhlandessen“ des 19. Jahrhunderts zum „zwanglosen Gedankenaustausch“ traf und mit ihrem Vortragsprogramm „politische und kulturelle Aufgabe[n]“ verfolgte,253 hat sich Ehrler, neben den Amtsträgern Conrad Haußmann und Fritz Elsas, linksliberal bekannt. Haußmann, führender württembergischer Demokrat, von 1890 bis zu seinem Tod 1922 Abgeordneter des Reichstags, 249 Vgl. Sutter: Karlsruher Erinnerungen, S. 176. 250 Vgl. z.B. die Anzeigen in Süddeutsche Zeitung, 24. November 1918 u. 24. Januar 1919, sowie den Veranstaltungsbericht [Anon.]: Wirkungsvolle Kundgebungen der D. d. P. In: Stuttgarter Neues Tagblatt, 7. Januar 1919. – Zum Gedanken einer „einheitlichen Linke[n]“, der sich „im Süden, in Baden wie in Bayern, […] Heimatrecht verschafft“ habe vgl. z.B. Theodor Heuss: Nationalliberale Verlegenheiten. In: März 8 (1914), S. 505–507 (Zitat S. 505); feindselig dazu Finckh: An Hans Heinrich Ehrler, S. 7. 251 Ehrler: Reden an das schwäbische Volk II. 252 Ehrler: Den heimkehrenden Schwaben, S. 3. 253 Elsas: Erinnerungen, S. 121 f.
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außerdem Anwalt des Langen Verlags in dessen wiederholten Obrigkeitskonflikten, glaubte an die Symbiose von liberaler Politik und bildender Literatur.254 Er förderte Ehrler wirksam mit einem Empfehlungsschreiben vom 24. Februar 1903, in dem er ihm „journalistisches Temperament“, „Geschick und Geschmack“ attestierte.255 Mit dieser Unterstützung übernahm Ehrler 1904 die Leitung der Konstanzer Abendzeitung. Der spätere Berliner Bezirksbürgermeister Fritz Elsas würdigte Ehrlers Anteil am politischen „Erwachen des Bürgertums“256 in seinen Erinnerungen an die Jahre 1918/19. Auf Elsas, der dem Gemeinderat und der Stadtverwaltung Stuttgart angehörte, dürfte Ehrlers Beauftragung mit einem erbaulichen Gedicht auf den kommunalen Notgeldscheinen der Inflationszeit zurückgehen.257 Theodor Heuss, mit dem Ehrler aus diesen Kreisen am engsten und längsten verbunden blieb, trat zuerst in Rezensionen der Jahre 1913 und 1914 für den agilen Schriftsteller ein und prägte für den späten, zur Bürde gewordenen Ehrler das Bonmot vom „Statthalter Mörikes auf Erden“258. Vom Ende der Biografien her gesehen scheint es erklärungsbedürftig, wie ein bekanntermaßen NS-belasteter Dichter und der erste Bundespräsident in eine so enge Gesellschaft kommen konnten, dass Heuss noch zwischen 1949 und 1951 herzliche Freundschaftsbriefe in den Hans-Heinrich-Ehrler-Weg sendete. Heuss’ Toleranzgrenzen waren nur an gut begründeten Stellen weit gefasst und in dem, was brieflich zum Gesprächsthema werden konnte, vorsichtig gezogen. Sie verstehen sich, wie im benachbarten Fall des völkischen Jungkonservativen Wilhelm Stapel, der Ehrler 1930 für den Langen Müller Verlag vorgeschlagen hat, aus gemeinsamen biografischen und politischen Ausgangspunkten im christlich geprägten, einem „großstädtisch-entwurzelten Libertinismus“ entgegengesetzten Linksliberalismus, aus Sympathie für eine „volksbürgerliche[]“ Herkunft aus dem selbstständigen Handwerkertum und aus Respekt vor einem geistigen Individualismus, 254 Vgl. Helga Abret: Von Poesie und Politik. In: Hermann Hesse u. Conrad Haußmann: Von Poesie und Politik. Briefwechsel 1907–1922. Hg. v. ders. Frankfurt/M. 2011, S. 7–55. Zu Haußmanns Engagement für den Verlag und seine Autoren vgl. dies.: Albert Langen. Ein europäischer Verleger. München 1993, S. 113–120. 255 Conrad Haußmann: [Empfehlungsschreiben für Heinrich Ehrler], NL Ehrler. 256 Elsas: Erinnerungen, S. 96. 257 „War den Vätern gutes Geld / Nicht ein Hausknecht in der Welt / Bücket heut sich mehr um mich. / Bin nur Schein, der Glanz verblich. // Aber Du, o deutscher Mann, / Greif mich doch vertraulich an. / Deiner treuen Arbeit Sold / Wandelt wieder mich in Gold.“ Zit. n. Lempp: Ehrler [2002], S. 15. 258 Zit. n. K. R.: In memoriam Hans Heinrich Ehrler. In: Stuttgarter Zeitung, 23. Februar 1961; dokumentiert ist darin die Rede des Altbundespräsidenten auf einer Gedenkveranstaltung der Württembergischen Bibliotheksgesellschaft zum zehnten Todestag Ehrlers.
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der sich nicht in „Parteicliché[s]“ fügt.259 Der Inhalt der Briefe an Ehrler, obwohl unter dem Briefkopf des Amtes, hält sich streng im Privaten der jahrzehntelangen „Zuneigung“ und der „Treue“, die nur die „ältesten Freunde“ verdienten.260 Allein im Kondolenzschreiben an die Witwe, die den jährlichen, von Heuss mitermöglichten Ehrensold ihres Mannes von 2000 DM (ab 1967: 3000 DM) weiterbeziehen durfte,261 kommt eine vorsichtige literarische Würdigung zum Vorschein: Die lange Freundschaft sei „das Persönliche“, aber: „ich weiss auch sachlich, dass in manchem der Werke des Entschlafenen die Unrast der Zeit überdauernde Werte gefasst sind“.262 Die ‚rastlose Zeit‘ ist dabei auch ein Code für das Dritte Reich, während die literarische ‚Fassung überdauernder Werte‘ auf das hinweist, was Ehrler für Heuss eigentlich interessant gemacht hat. Die Verbundenheit zwischen Ehrler und Heuss ging auf die politisch-literarische Szene des späten Kaiserreichs zurück und erstreckte sich bis in die Anfänge der Bundesrepublik. Die früheste fassbare Korrespondenz datiert vom Juli 1913, als Ehrlers Reise ins Pfarrhaus erschien,263 die späteste vom Mai 1950.264 Sie begleitete ein Zusammenspiel, in dem Ehrler bis zuletzt die Inhalte – mit Bitte um Rezension, Publikation oder Publikationsvermittlung – lieferte, Heuss zumindest bis Ende der 1920er Jahre die Plattformen und Kontakte bot, sich um 1940, als er selbst nur noch unter Schwierigkeiten veröffentlichen konnte,265 und nach dem Krieg, als er in politischer Verantwortung stand, eher ratlos gab.266 Der erste gemeinsame Schauplatz war die Revue März, die – 1907 gegründet – zunächst 259 Theodor Heuss an Berthold Mitte, 13. August 1946. In: ders.: Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945–1949. Hg. v. Ernst Wolfgang Becker. München 2007 (= Stuttgarter Ausgabe. Briefe, Bd. 4), Nr. 44. Zu Heuss’ Toleranzen vgl. Radkau: Theodor Heuss, S. 200 ff. 260 Theodor Heuss an Hans Heinrich Ehrler, 26. September 1949, NL Heuss. 261 Vgl. Kultusministerium, Personalakten, Heinrich und Melanie Ehrler, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Sign. EA 3/150 Bü 3160, Bl. 69a: Melanie Ehrler ist „der Ehrensold ihres Mannes seit seinem Ableben in unveränderter Höhe weitergereicht worden“. 262 Theodor Heuss an Melanie Ehrler, 18. Juni 1951, NL Heuss. 263 Vgl. Hans Heinrich Ehrler an Theodor Heuss, 6. Juli 1913, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Nachlass Theodor Heuss, Sign. Au 2081. 264 Theodor Heuss an Hans Heinrich Ehrler, 2. Mai 1950, NL Heuss. 265 Vgl. z.B. Hans Heinrich Ehrler an Theodor Heuss, 11. August 1942, NL Heuss. Dazu Merseburger: Theodor Heuss, S. 293 ff., Radkau: Theodor Heuss, S. 237 ff., sowie Elke Seefried: Einführung. Theodor Heuss in der Defensive. Briefe 1933–1945. In: Theodor Heuss: In der Defensive. Briefe 1933–1945. Hg. v. Elke Seefried. München 2009 (= Stuttgarter Ausgabe. Briefe, Bd. 3), S. 15–70, hier S. 63 f. 266 Vgl. z.B. Hans Heinrich Ehrler an Theodor Heuss, undat. (1945/46), DLA Marbach, Sign. A:Heuss (Ehrler bat hier um die Vermittlung zur Stuttgarter Zeitung, Nachfolgerin seines jahrzehntelangen Stammblattes Stuttgarter Neues Tagblatt).
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von Haußmann, Hesse und Thoma, seit Juli 1913 auch – bis zur Einstellung Ende 1917 – von Heuss mitherausgegeben wurde. Wie ihr satirisches Schwesterblatt, der Simplicissimus, erschien sie in Ehrlers Hausverlag Albert Langen. Das Profil des Journals nach französischem Vorbild bestand in der Verbindung von Kultur und Politik, und zwar – trotz der formal zunächst getrennten Rubriken „Politik“, „Volkswirtschaft“, „Wissenschaft“, „Kunst und Kultur“, „Erzählungen“ – nicht als ein Nebeneinander, sondern als der Versuch, Bildung grundsätzlich auch als politische Bildung zu entwerfen. Der im altliberalen Sinn der 48er-Revolution sogenannte März sollte der Gründungsanzeige zufolge „in litterarischer Form“ sagen, was Deutschland „zu gesicherten politischen Zuständen“ nottue.267 Zu den literarischen Beiträgern gehörten neben Hesse und Thoma regelmäßig auch Ehrler sowie dessen Freunde Jacques und Picard. Die politischen Urteile der Revue wandten sich gleichermaßen gegen die kaiserliche Regierung in Berlin wie gegen den politischen Katholizismus Süd- und Westdeutschlands. Zu den Hauptanliegen gehörte die europäische Verständigung, besonders mit Frankreich – ein Motiv, das Ehrler in seiner Kritik am „eitel aufgedunsene[n] Wettstreit der Nationen“ einschließlich „unserer [der Deutschen] rohen Hoffahrt“ teilte268 (und ihn zu seinem späteren Anschluss an die katholische Abendlandbewegung disponierte). Gleichzeitig stand hier das regionale ‚Erbe‘ im Rahmen einer über die kleindeutschen Grenzen hinausreichenden „Land- und Volkskunde“269 zur Pflege. Es ist zum Verständnis der März-Bestrebungen ausschlaggebend, dass der Regionalismus dabei zum wenigsten als provinzielle, vielmehr als großdeutsch-abendländische Angelegenheit behandelt wurde. Der Gründungsherausgeber und Reichstagsabgeordnete Haußmann gab dafür die Linie vor: „Der Zug in die Welt und der Zug zum heimatlichen Winkel kreuzen sich, ohne sich aufzuheben.“270 Und Heuss formulierte das Credo: „Stolz auf die Sonderart des Stammes, Unabhängigkeitssinn, sehr starke Heimat-
267 Zit. n. Reiner Burger: Theodor Heuss als Journalist. Beobachter und Interpret von vier Epochen deutscher Geschichte. Münster 1999, S. 127. Vgl. zur Begründung des März-Titels auch Theodor Heuss: Erinnerungen 1905–1933. Tübingen 1963, S. 188. Zum Profil und den Hintergründen der Zeitschrift vgl. Harry Pross: Literatur und Politik. Geschichte und Programme der politisch-literarischen Zeitschriften im deutschen Sprachgebiet seit 1870. Olten, Freiburg/Br. 1963, S. 69 f., Helga Abret: Versuch einer Politisierung des Geistigen. Die kulturpolitische Zeitschrift März (1907–1917). In: Revue d’Allemagne 12 (1980), S. 567–588, Merseburger: Theodor Heuss, S. 145 ff., sowie Decker: Hermann Hesse, S. 262. 268 Hans Heinrich Ehrler: Titanic. In: Württemberger Zeitung, 27. April 1912. 269 Hannsludwig Geiger: Es war um die Jahrhundertwende. Gestalten im Banne des Buches: Albert Langen, Georg Müller. München 1953, S. 65. 270 Conrad Haußmann: Wir Schwaben. In: März 8 (1914), S. 8–10, hier S. 9.
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liebe, mit der sich ein freier Zug zur Anerkennung fremden Wesens eigentümlich [verträgt] – Partikularisten als Weltbürger“.271 Zu Ehrlers zahlreichen Beiträgen im März gehören zum einen essayistische Betrachtungen unter oft seriellen Titeln wie Eine Maiepistel für den „März“ (1910)272, Ein Märzbrief an den „März“273, Ein Pfingstbrief an den „März“274, Herbst275 (alle 1912) und Das Kreuz. Geschrieben am Karfreitag 1915 (1915)276. Teils verbinden sie die Subjektivität der modernen Briefform mit dem Lehrcharakter der Apostelbriefe, teils bestehen sie in den Monologen einer Rollenprosa, in denen ein exemplarisches Ich über gesellschaftliche Erneuerung, über Liebe und Opfer räsoniert. Fast alle gehen von pantheistischen Naturbetrachtungen aus und münden in Wünsche für einen politischen Frühling sowie für eine Klassen- und Völkerverständigung, bei der ein Verjüngungsschub „durch Deutschland hindurch, über Europa oder gar übers Wasser hin“277 entstehen, sich die pfingstliche Wiederentdeckung einer „geheimen Gemeinschaft der Menschheit“278 in Revision der babylonischen Zerstreuung vollziehen soll. Alle rufen zu der christlichen Aufgabe auf, die Trägheit des Herzens, die sich in soziale und ethnische Schranken einschließt, zu überwinden und die Gruppen und Klassen der Gesellschaft mit dem Geist der Liebe zu durchdringen – eine namentlich von Pastor Friedrich Naumann geprägte Idee, auf die der späte Heuss ironisch als auf die „Organisation massenhafter Liebe“279 zurückblickte. Soweit es die Jahreszeitenmetaphorik betrifft, legte Ehrler hierbei nichts anderes als die organologische Titelprogrammatik der Revue aus. Andererseits bedient sich Ehrler des christlichen Festtagskalenders – besonders Karfreitag, Ostern und Pfingsten –, um sozialen Wandel an traditionelle Strukturen zurückzubinden. Harry Pross hat dazu in seiner grundlegenden Untersuchung über politisch-literarische Zeitschriften festgehalten: „Solche Titel verwandeln die gesellschaftliche Bedrängnis in eine akzeptable Form. Was zunächst als Zwang
271 Theodor Heuss: Die schwäbische Volkspartei. In: Die Hilfe 20 (1914), S. 427 f., hier S. 428. 272 Hans Heinrich Ehrler: Eine Maiepistel für den „März“. In: März 4 (1910), S. 193–196. 273 Hans Heinrich Ehrler: Ein Märzbrief an den „März“. In: März 6 (1912), S. 441–443. 274 Ehrler: Ein Pfingstbrief. 275 Ehrler: Herbst. 276 Hans Heinrich Ehrler: Das Kreuz. Geschrieben am Karfreitag 1915. In: März 9 (1915), S. 37–40. 277 Ehrler: Eine Maiepistel, S. 193. 278 Ehrler: Das Kreuz, S. 38. Vgl. zur Klassenverständigung auch Hans Heinrich Ehrler: Besitz. In: März, 13. Juli 1912. 279 Theodor Heuss: Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit. München 1968 (zuerst Stuttgart 1937), S. 81.
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empfunden wird, die unaufhaltsame gesellschaftliche Veränderung, erscheint objektiviert als Elementarereignis wieder und daher erträglicher.“280 Größeren Raum als Ehrlers politisch-gesellschaftliche Schriften nehmen seine Erzählungen im März ein, darunter Das romantische Fräulein281, Josef Zembrods Töchter (beide 1912)282, Der heilige Sebastian (1913)283 und Media Vita… (1914)284. Bei den meisten handelt es sich um Künstlernovellen, die wie Josef Zembrods Töchter zeitkritische Subtexte aufweisen: Zembrod, „Musiker der Stadt, professioneller Kirchen- und Leichensänger“, unterliegt in einer „süddeutschen Duodezresidenz[]“ der „Konkurrenz einer Militärkapelle“, der er sich mit den letzten sieben Männern der Stadtkapelle, „über die Hälfte schon wackelige Altbürger“, entgegengestemmt hat. Die Offiziere der Garnison senken das moralische Niveau der „kleinen, hellen Provinzstadt“. Die verwaisten Töchter des Musikdirektors werden von ihrem ausgewanderten Bruder in die USA nachgeholt. Ehrlers Alter Ego Franz Schinacher, musisch begabter „Sohn eines ehrsamen kleinen Handwerkers“, hat das Nachsehen.285 In dieser Novelle finden sich Anspielungen auf Ehrlers Herkunftsort Mergentheim, der zwischen 1868 und 1914 Garnisonssitz war, und auf Ehrlers Großvater mütterlicherseits, Christoph Heuerling, Stadtmusikmeister in Wimpfen.286 Andere Geschichten wie Media Vita… bringen allgemeinste Exempel der conditio humana, mahnen im Moralisationsstil zur Ehrfurcht vor dem Schicksal – „In schauernder Demut entdecken wir, es treffe der Tod kein Leben, das ihm nicht schon verfallen und reif sei seiner Hand“ – und empfehlen eine Betrachtung des Todes, „als sei das Gestorbensein nur ein vorläufiger Zustand“.287 Der heilige Sebastian enthält eine Erklärung der erbaulichen Kunstwirkung: Ein Augsburger Bildschnitzer und Gildenmeister des 16. Jahrhunderts, Jost Mendel, spricht sich darin über sein Arbeitsziel aus, den Menschen die „Tortur seines Martyriums vergessen [zu] lassen“ und die „Schwere des Schmerzes“ so zu sublimieren, dass sie „wie von süß schwärmenden Schwingen [getragen]“ scheine. Hinter dem Kunstwerk solle die „Ergebung in den Willen des Herrn Gottes und schon ein[] 280 Pross: Literatur und Politik, S. 69 f. 281 Hans Heinrich Ehrler: Das romantische Fräulein. Novelle. In: März 6 (1912), S. 105–111 u. S. 138–145. 282 Hans Heinrich Ehrler: Josef Zembrods Töchter. Novelle. In: März 6 (1912), S. 255–262 u. S. 303–311. 283 Hans Heinrich Ehrler: Der heilige Sebastian. In: März 7 (1913), S. 774–779. 284 Hans Heinrich Ehrler: Media Vita… In: März 8 (1914), S. 17–19. 285 Ehrler: Josef Zembrods Töchter, S. 255 f. u. S. 257. 286 Vgl. Harder: Militärgeschichtliches Handbuch Baden-Württemberg, S. 285, sowie Borst: Ehrler, S. 361. 287 Ehrler: Media Vita…, S. 19.
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Schein der Freude auf die Tröstungen der himmlischen Glorie“ geschaut werden können.288 An den Rezensionen, die Heuss zu Ehrlers beiden ersten Romanen – Briefe vom Land und Reise ins Pfarrhaus – geschrieben hat, wird deutlich, dass der Journalist und Politiker in seinem württembergischen Landsmann das Projekt einer gebremsten Moderne süddeutscher Prägung förderte.289 Diese Wertschätzung erklärt sich in einem Kontext, in dem Heuss um 1910 warme Worte vornehmlich für Enrica von Handel-Mazzetti und Lulu von Strauß und Torney fand, mithin für Autorinnen und Autoren, die unmittelbar wertorientiert, insbesondere der Familie und dem (christlichen) Gemeinwesen zugewandt waren und nicht jenen „gefährliche[n] Weg von Ibsen herunter“ gegangen sind, der – nach Ehrler – „in hilfloser Mühsal und wüster Öde“ ende.290 Der Schriftsteller, ein „überwiegend asoziale[r] Typus“, gewinnt nach Heuss’ Ansicht allzumal und werde geradezu „erhöht“ durch „dienstbereite[s] Gemeinschaftsgefühl“, durch Mitverantwortung für die Zeitgestaltung,291 ohne reformerische „Besessenheit“, versteht sich, sondern mit der „Gelassenheit des Schauens“.292 Alle Kunst sei „Auswirkung“ einer „idealistisch-ethische[n] Grundgesinnung“, sie beherberge „starke erzieherische Kräfte“.293 Heuss ließ sich bei seiner persönlichen Literaturförderung unter anderem von der Überlegung leiten, dass man das deutsche Volk mit der europäischen Moderne nicht versöhnen könne, wenn man dieses vorwiegend als problematisch darstelle, wenn man etwa die typische „deutsche Mittelstadt“ als „eine Sammlung von Eseln, Lüstlingen, Bonzen usw.“ wie Heinrich Mann in Der Untertan (1914) präsentiere.294 Heuss kam in die 288 Ehrler: Der heilige Sebastian, S. 775 f. 289 Zu Heuss’ Rezensionspolitik vgl. Frieder Günther: Einführung. Der junge Theodor Heuss im Kaiserreich. Briefe 1892–1917. In: Theodor Heuss: Aufbruch im Kaiserreich. Briefe 1892–1917. Hg. v. Frieder Günther. München 2007 (= Stuttgarter Ausgabe. Briefe, Bd. 1), S. 15–38, hier S. 20 f. 290 Hans Heinrich Ehrler: Aus der Residenz. In: Neckar-Zeitung, 9. Januar 1904. Zu Heuss’ literarischen Präferenzen vgl. Michael Kienzle u. Dirk Mende: Politik durch Kultur? In: Theodor Heuss: Politik durch Kultur 1949–1959. Hg. v. dens. Bonn 1984, S. 9–14, hier S. 11 f.: „Sein Verständnis von Kultur indes war eher traditionalistisch ausgerichtet: Benn, Kafka und Brecht […] blieben außerhalb seines Gesichtskreises. [...] Die Moderne endete für Heuss mit Hesse, Wedekind, Zuckmayer“, er bevorzugte „Beruhigendes, Nostalgisches“. Vgl. für die Neigung zum Handwerklich-Gediegenen in Heuss’ Kunstgeschmack auch Günther: Einführung. Der junge Theodor Heuss, S. 19 u. S. 30. 291 Theodor Heuss: Die Politisierung des Literaten. In: ders.: Politiker und Publizist. Aufsätze und Reden. Hg. v. Martin Vogt. Tübingen 1984, S. 76–83, hier S. 77. 292 Theodor Heuss: Frank Wedekind. In: Die Hilfe 20 (1914), S. 480 f. 293 Theodor Heuss: Vor der Bücherwand. Skizzen zu Dichtern und Dichtung. Tübingen 1961, S. 198. 294 Heuss: Vor der Bücherwand, S. 289.
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Nähe einer Apologie des Kitsches, wenn er als politisch denkender Mensch hinterfragte, warum sich moderne Literatur durch Glücksverzicht, Scheitern und Hermetik auszeichnen solle, durch Steigerung statt Beruhigung und durch Beschleunigung statt Verlangsamung. Kunst sei „nie ‚fortschrittlich‘“, denn sie lebe „aus der Beimischung, mag sie auch bescheiden sein, des Ewigen“295 – hierin klingen die Worte aus Heuss’ Kondolenzschreiben an Ehrlers Witwe an. Das Sensorium für dieses ‚Ewige‘ und für die ‚überdauernden Werte‘ soll sich an den regionalen Rändern der modernen Gesellschaft mehr erhalten haben als in ihren großstädtischen Zentren. Gegen Provinzialismus zwar und Berlinpolemik hat sich Heuss verwahrt. Es sei unabdingbar, so erklärte er zu dem Zeitschriftenprojekt Der Schwäbische Bund, an dem Ehrler als Mitherausgeber beteiligt war (s. Kap. III.3), „die Trennung vom Selbstgefällig-Kleinbürgerlichen und Pausbäckigen, das der schwäbischen Tradition vielfach noch anhängt, klar durchzuführen“296. Vor „Tiraden“ auf schwäbische Geistesgröße und staufische Reichsambitionen warnte er die Herausgeber Ehrler, Missenharter und Schmückle (letztlich vergeblich): „wir müssen uns wirklich gegen unsere legendären schwäbischen Größen etwas wappnen.“297 Aber ähnlich wie Julius Langbehn für die niederdeutsche Kulturbewegung298 sah Heuss in Süddeutschland eine reiche, lebenswerte und menschenfreundliche Realität, die nicht als unwiederbringlich verloren zu gelten habe, sondern sich selbstbewusst stärken lasse. Stellte Langbehn den bildenden Künstler Rembrandt in den Mittelpunkt, so empfahl sich Württemberg als Dichterland von Wieland, Schiller, Hölderlin, Uhland und Mörike. Wie das Niederdeutsche in diesem kulturräumlichen Verständnis die Grenzen des deutschen Staates nordwestlich überschreiten sollte, so war auch das Süddeutsche fundamental großdeutsch angelegt, und zwar nicht allein Österreich, sondern im Maßstab des Alemannischen auch die deutschsprachige Schweiz und das Elsass umfassend. Dabei standen die diversen Großschwaben-Projekte, von denen sich im Todesjahr Ehrlers 1951 das ‚rheinschwäbische‘ Baden-Württemberg realisierte, teilweise in Spannungen mit 295 Theodor Heuss: Zur Kunst dieser Gegenwart. Tübingen 1956, S. 44. 296 Theodor Heuss an Hermann Missenharter, 24. April 1919. In: ders.: Bürger der Weimarer Republik. Briefe 1918–1933. Hg. v. Michael Dorrmann. München 2008 (= Stuttgarter Ausgabe. Briefe, Bd. 2), Nr. 22. Vgl. dazu anhand von Heuss’ Publikation Schwaben und der deutsche Geist (1915) Dieter Langewiesche: Liberalismus und Demokratie im Staatsdenken von Theodor Heuss. Stuttgart 2005, S. 18 f. 297 Theodor Heuss an Hermann Missenharter, 11. November 1919. In: ders.: Bürger der Weimarer Republik. Briefe 1918–1933. Hg. v. Michael Dorrmann. München 2008 (= Stuttgarter Ausgabe. Briefe, Bd. 2), Nr. 27. 298 Zum ‚Niederdeutschen‘ als einem ästhetischen Konzept emotionaler Krisenbewältigung aufschlussreich Ketelsen: Literatur und Drittes Reich, S. 128 ff.
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Österreich und Bayern, soweit es um die Stellung von Vorarlberg bzw. BayerischSchwaben ging.299 Das Regionale war in diesen Entwürfen immer auch das Supranationale und das Überkonfessionelle. Es hatte eine Seite nach der pragmatischen, nicht zuletzt wirtschaftsliberal motivierten Mitteleuropaarbeit der NaumannSchule,300 war aber auch für alle Höhenflüge und Niederungen der Reichsromantik offen, im süddeutschen Fall der blütenreichen Hohenstaufer-Mythologie und der Ideen von einer ‚Reichsbegabung‘ des alemannischen ‚Altstammes‘: „auf altem Kulturboden, der lange Zeit den Schwerpunkt deutscher Reichsmacht bedeutet“ habe.301 Gerade das Reichsdenken sah einen nur fließenden Übergang zwischen Provinzen und ganzen Staaten vor, die das Reich unter seinen Schutzmantel nehmen können sollte. Es war national, aber nicht nationalstaatlich ausgerichtet, mit Deutschland als Föderativnation und dem Reich als Nationalitätenstaat.302 Die „alte Reichstradition“, konstatierte Heuss 1948, habe deshalb auch „nirgendwo so [nachgeklungen] wie im kleinstaatlichen Südwestraum“.303 Heimat bedeutete für Heuss, aus Entwicklungen des 19. Jahrhunderts heraus, Bürgerrecht für alle, Demokratisierung und Partizipation. Zu Konzepten und Praktiken von Heimatkunst in der verschärft völkischen Prägung durch Adolf Bartels hielt Heuss Abstand.304 Wenn Ehrler verschiedentlich der Heimatkunst zugerech299 Vgl. Klöckler: Abendland – Alpenland – Alemannien, S. 18 f., sowie Steber: Ethnische Gewissheiten, S. 198 ff. u. S. 336 ff. 300 Vgl. dazu Winfried Becker: Mitteleuropa-Vorstellungen deutscher Publizisten. Joseph Edmund Jörg und Friedrich Naumann. In: Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Perspektiven zur neuen internationalen Staatenordnung. Festschrift für Prof. Dr. Jürgen Schwarz. Hg. v. Heinrich Oberreuter, Armin A. Steinkamm u. Hanns-Frank Seller. Wiesbaden 2004, S. 281–294. 301 Richard M. Meyer: Die deutsche Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Hg. u. fortges. v. Hugo Bieber. 7. Aufl. Berlin 1923, S. 607 (zu Ehrler, Peter Dörfler und Wilhelm Schussen. Vgl. für Ehrler z.B. das Konradin-Gedicht Torre d’Astura (Gesicht und Antlitz, S. 111), sowie Briefe aus meinem Kloster, S. 62. 302 Vgl. Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, S. 282 f. u. S. 304 f., sowie Dieter Langewiesche: Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa. München 2008, S. 180 ff. Zur Reichsideologie im Zusammenhang mit dem süddeutschen Partikularismus vgl. auch Faber: Über politisch-religiöse Ganzheitsvorstellungen europäischer Faschismen, S. 11–19 („Organizistische und hierarchische Ständestaaten Oberdeutschlands“), sowie Fehrenbach: Reich, S. 502 ff. Zum transnationalen Regionalismus systematisch Peter Schmitt-Egner: ,Regionale‘ und ‚Europäische Identität‘. Theoretische, methodische und normative Überlegungen zur Konstitution einer Beziehung. In: Region – Literatur – Kultur. Regionalliteraturforschung heute. Hg. v. Martina Wagner-Egelhaaf. Bielefeld 2001, S. 19–48. 303 Theodor Heuss an Friedrich Middelhauve, 9. November 1948. In: ders.: Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945–1949. Hg. v. Ernst Wolfgang Becker. München 2007 (= Stuttgarter Ausgabe. Briefe, Bd. 4), Nr. 156. 304 Vgl. Merseburger: Theodor Heuss, S. 37. Zur Heimatkunst als „Literatur der Reaktion“ vgl. Kay Dohnke: Völkische Literatur und Heimatliteratur. In: Handbuch zur „Völkischen Bewe-
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net wurde, so bei Bartels selbst und in Meyers Lexikon von 1925,305 dann im von Lienhard mit humanistischen Ansprüchen weitgefassten Sinn eines „‚Hochland[s]‘ des Geistes und Herzens“, einer „innere[n] Heimat“, die eine konstruktive Leistung des Geistes sein soll: „Heimat ist schon der geistige und lebendige Umkreis, in dem sich eine P e r s ö n l i c h k e i t eingebaut und abgezirkelt hat von der weiteren Umwelt; Heimat ist auch meine G e d a n k e n w e l t und die Welt meiner Kräfte.“306 Die ethische und ästhetische Spiritualisierung der Heimat zeichnet sich unter anderem in Ehrlers Adresse an die 7. Armee im Kriegsjahr 1916 ab: „die Heimat ist nicht die Stadt, das Dorf, die Gasse, das Haus, wohin Ihr kehrt, sondern die Luft und das Licht, die Ihr dahin zurückbringt.“307 Sie sei „Instinkt und Atmosphäre“, damit zugleich „das Wertvollste und Wesentliche unsrer Menschlichkeit“.308 Diese Entmaterialisierung blieb aber (im Unterschied zur Subjektivierung der Heimat bei Hesse309) an einen christlichen Platonismus gebunden, der das streng Objektive und Gesetzhafte regionaler Ordnung so betonte wie im Gedicht Communio: Die Heimatstadt hab ich im Schlaf gebaut. Es steigen Kirchen, Höfe, Gassen, Platz Aus nie betretnem Zauberformenschatz, Und doch im goldenen Gesetz geschaut.310 gung“ 1871–1918. Hg. v. Uwe Puschner, Walter Schmitz u. Justus H. Ulbricht. München, New Providence u.a. 1996, S. 651–684 (Zitat S. 565), zum jungkonservativen Selbstverständnis der Heimatliteratur bei Lienhard erhellend Barbara Beßlich: „Höre ich nur ‚Heimathkunst‘, so vomire ich schon.“ Naturalistischer Schulterschluss und poetische Rüpelei zwischen Friedrich Lienhard und Karl Bleibtreu. In: Realität als Herausforderung. Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten. Festschrift für Wilhelm Kühlmann zum 65. Geburtstag. Hg. v. Ralf Bogner, Ralf Georg Czapla, Robert Seidel u.a. Berlin, New York 2011, S. 413–426. 305 Vgl. Bartels: Geschichte der deutschen Literatur, S. 605 f., sowie den Ehrlerartikel in Meyers Lexikon. 7. Auflage. Bd. 3. Leipzig 1925, Sp. 1246. 306 Lienhard: Heimatkunst, S. 81. Vgl. dazu Châtellier: Friedrich Lienhard [1996], S. 120 ff., sowie das ausführliche Lienhardkapitel bei Giacomin: Zwischen katholischem Milieu und Nation, S. 109–130. 307 Hans Heinrich Ehrler: Vor den Entscheidungen. Ein Wort an unser Heer. In: Kriegszeitung der 7. Armee, 5. April 1916. 308 Ehrler: Eine Maiepistel, S. 196. 309 Hermann Hesse: Wanderung [1920]. In: ders.: Autobiographische Schriften I. Wanderung. Kurgast. Die Nürnberger Reise. Tagebücher. Frankfurt/M. 2003 Hg. v. Volker Michels. Frankfurt/M. 2003 (= Sämtliche Werke, Bd. 11), S. 5–35, hier S. 21: „Heimat ist nicht da oder dort. Heimat ist in dir innen, oder nirgends.“ 310 Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 144. Vgl. ebd., S. 14 f. die Gedichte An die Heimat und Antwort, mit der Wendung: „Heimat, o du Schoß der letzten Ferne, / Aus Gestirnraum lag ich einst in dir.“
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Die Kirchenbauten sind das erste und oberste Moment dieser im Traum erscheinenden ‚Heimatstadt‘. Bei der Betonung von ‚Gassen‘ und dem Fehlen von Straßen handelt es sich um die deutsche Kleinstadt, deren Formen hier der proportio divina folgen. Ehrlers intentional antiphiliströse Naturromantik und Großstadtskepsis verbinden sich mit lebensreformerischen Absichten wie Selbstversorgung, künstlerische Persönlichkeitsentfaltung und Liebesehe. Sein Romandebüt Briefe vom Land, eine Art Werther-Pastiche mit Happy End, beginnt mit Maibriefen, in denen der Schreiber Nikolaus Köstlin (dem Namen nach aus der württembergischen Gelehrtenfamilie Köstlin/Schelling und Protagonist dann auch der Briefe aus meinem Kloster) erklärt: „Ich werde also nicht mehr dauernd in die Stadt zurückkehren“ und: „Das Land wird einmal wieder eine neue Heimat der Menschen werden. Wenn diese in sich die Kraft zu einer neuen Einsamkeit werden gefunden haben.“311 Köstlins werthersches Wahlheim ist das Allgäudorf Erisried, von dem aus er Wanderungen in eine mild-erhabene Berglandschaft unternimmt. Sein am gewöhnlichen christlichen Maßstab unfrommes Ziel besteht darin, die Frau eines Reichstagsabgeordneten aus ihrer Konventional- und Großstadtehe herauszureden und in seine Landkommune zu locken. Dabei solle es gerade nicht um die „Rückkehr […] unter den Schleier von Mythen“ gehen, sondern – der Analyse Brys von einem ‚Hindurchgegangensein durch die Moderne‘ entsprechend – um einen Weg in die humane Zukunft, der notwendig „durch die Stadt […] gegangen“ werden müsse.312 Oder wie Ehrler sich anderweitig ausdrückte: „[Die] Vorbedingungen wachsen zu einer schließlich wiederkommenden Dezentralisierung und zu einer Rückkehr der in der Stadt reifer und wieder stiller gewordenen Menschheit nach dem mütterlichen Boden der Natur, aus dem kein Zeitalter ungestraft sich ganz entwurzeln kann.“313 Der lebensreformerische Anspruch im Bergland an der deutsch-österreichischen Grenze lautet: „Ich bin der Entdecker einer neuen Welt von Licht, Farbe und Bewegung.“314 Von den Auswüchsen „apostolische[r] Instinkte“ will sich der wohltemperierte Protagonist fernhalten: „Ich bin weder Vegetarier, noch Alkoholgegner, noch Wollmensch, noch sonst ein Hygienär und Menschheitsreformer.“315 Der heimatkünstlerische Einschlag bei Ehrler hat den Rezensenten Heuss unter diesen Bedingungen ebenso wenig gestört wie bei seiner niederdeutschen Freundin Strauß und Torney, der Romanautorin von Bauernstolz (1901) und Der Hof 311 Ehrler: Briefe vom Land, S. 9 u. S. 24. 312 Ehrler: Briefe vom Land, S. 24. 313 Ehrler: Emil Verhaeren. 314 Ehrler: Briefe vom Land, S. 78. 315 Ehrler: Briefe vom Land, S. 199.
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am Brink (1906). Den „eigentlichen Kunstwillen“ aller Dichtung erblickte er darin, „eine wahre und klärende Darstellung der Natur wie der eigenen Empfindungen zu geben“.316 In diesem Sinn erfreute ihn an der konfessionellen Belletristik Ehrlers, dass hier „nicht nur das Verbogene Literatur“ werde, wie er an Heinrich und Thomas Mann zu bemängeln hatte, sondern auch die vorhandenen „Freundlichkeiten der Gegenwart“ hervorträten. Geistige Desorientierung, emotionale Verwirrung und soziale Unzufriedenheit zerflössen, so ehrte Heuss an Ehrlers Romanen, „in der Klarheit und Heiterkeit des reinen Wollens“.317 „Schönheit, Kraft, Heiterkeit“ sprächen aus ihnen. Alles, was an Problematischem geschähe, müsse „zum Besten dienen“, und das „Problem des seelischen Ausgleiches“ erscheine als lösbar. Ehrler verstöre seine Leser nicht, sondern biete ihnen „manchen weiten und tiefen Ausblick in das breit gelagerte Gelände des Lebens“, mit anderen Worten: Orientierung. Empfindlich gegen jeden Anflug von Dogmatismus wollte Heuss in diesen Büchern nichts finden, was „agitatorisch anklingen“ könne. Es schwinge in ihnen vielmehr stets „das Allgemeine, das Menschliche als tragender Grundton mit“. Wie die meisten Rezensenten strich auch Heuss besonders Ehrlers Stilistik heraus: „jenen lauteren Wortschatz, der ohne Beladenheit und ohne wegfließenden Lyrismus das Dargestellte ins bildmäßige“ hebe, die überzeugenden „Proben einer feinen, konzentrierten Erzählerkunst“.318 Der Journalist und Rezensent ist vom Politiker Heuss nicht zu trennen. Mit seinem Projekt einer „Politik durch Kultur“319 unterstützte er keine „Literatenpolitik“320. Er verfolgte aber die Einheit von Politik und Kultur, in der Literatur ein geistiges Reservoir für Gestaltungswillen und Kontinuitätssinn eröffnen können sollte. Im Lebensprojekt des politischen Pädagogen Heuss, die Erziehung zur Demokratie als Selbsterziehung der Deutschen zu leisten, sind Literatur und literarische Bildung ein wesentliches Lehrmittel.321 So interessiert ihn auch an Ehrlers literarischer Weltordnung von Anfang an das Potential zur gesellschaftlichen Befriedung: „unser 316 Heuss: Zur Kunst dieser Gegenwart, S. 93. 317 Theodor Heuss: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Die Reise ins Pfarrhaus. In: März, 31. Januar 1914. 318 Theodor Heuss: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Briefe vom Lande. In: Neckar-Zeitung, 13. November 1913. 319 Ralf Dahrendorf: Theodor Heuss. Zur geistigen Gestalt des Politikers und Publizisten. In: Theodor Heuss: Politiker und Publizist. Aufsätze und Reden. Hg. v. Martin Vogt. Tübingen 1984, S. 13–20, hier S. 18 f. 320 Heuss: Die Politisierung des Literaten, S. 77. 321 Zu Heuss als Erzieher zur Demokratie und zu seinen Mitteln vgl. Ernst Wolfgang Becker u. Martin Vogt: Einführung. Die andere Seite der Macht: Die Autorität des Bundespräsidenten. Briefe von Theodor Heuss 1949–1954. In: Theodor Heuss: Der Bundespräsident. Briefe 1949–1954. Hg. v. Ernst Wolfgang Becker, Martin Vogt u. Wolfram Werner. Berlin, Boston 2012
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Traum von Harmonien“, wie es in der Korrespondenz heißt.322 Heuss betrachtete Die Reise ins Pfarrhaus explizit „mit den Augen des Politikers“, denn in diese äußerlich idyllische Geschichte aus den 1890er Jahren „gewittern die ersten Anfänge der Politisierung des Klerus“, die ideologischen Verengungen durch „‚Volksverein‘, Augustinusverein, Zentrumspresse“ und d.h. durch einen Verbandskatholizismus, der mit Gründung des Volksvereins für das katholische Deutschland 1890 auf sämtliche deutsche Katholiken im Sinne einer Gefolgschaft durchzugreifen suchte und dafür eine eigene Presseorganisation, den Augustinusverein, aufbaute. Heuss bezog sich auf die im Roman geschilderten Agitationen von Anhängern der Zentrumspartei, die zum „Turm Roms im protestantischen Deutschland“323 ausgerufen wird. Ehrler stelle dem, so Heuss, einen „Typus des katholischen Klerus“ entgegen, der auszusterben drohe: einen „freundwilligen und aufgeschlossenen Menschen“, der „jenes Maß innerer Freiheit, jene geklärte Humanität, jenes sichere und edle Wesen des beruhigten Menschen“ besitze.324 Damit wurde aber nicht dem unpolitischen Idyll das Wort geredet, sondern einer überparteilichen Sozialethik und der liberalkatholischen Ablehnung klerikaler Bevormundung, Kultur- und Lebensfeindlichkeit. In der Herausarbeitung dieses Typus, meinte Heuss, wolle Ehrlers Pfarrhausroman mehr als Dichtung sein. Die Kritik des politischen Katholizismus und der Zentrumspartei, insofern sie religiöse Schlagwörter politisch missbrauchten, Gesinnungskontrolle über die Gläubigen übten sowie Ausgrenzungen gegenüber anderen Konfessionen und Religionen vornähmen, teilte Ehrler zu dieser Zeit mit Heuss auf der Basis des besonders in Südwestdeutschland starken Liberalkatholizismus des 19. Jahrhunderts.325 Mit Ehrlers Anschluss an Hefele und die ‚Abendländer‘ in den 1920er Jahren und seiner um 1930 abgeschlossenen Annäherung an das Zentrum hat sich sein politisch-weltanschaulicher Weg von Heuss getrennt, ohne dass der soziale Verkehr und die wechselseitigen Freundschaftsdienste ausgeblieben wären. So hat die Berliner Karriere, vor allem seit dem ersten Reichstagsmandat im Jahr 1924, Heuss offenbar nicht daran gehindert, seinen Duzfreund bis 1947 verschiedentlich in Waldenbuch aufzusuchen.326 Ein Gegenbesuch Ehrlers hatte eine Gedenkveran(= Stuttgarter Ausgabe. Briefe, Bd. 5), S. 15–64, Merseburger: Theodor Heuss, S. 535 ff., sowie Radkau: Theodor Heuss, S. 324 ff. u. S. 362 ff. 322 Hans Heinrich Ehrler: Theodor! (dat. 31. Januar 1950), NL Heuss. 323 Ehrler: Die Reise ins Pfarrhaus, S. 141. 324 Heuss: [Rez.] Die Reise ins Pfarrhaus. 325 Zu innerkatholischen Vorbehalten gegenüber dem Zentrum vgl. Haustein: Liberal-katholische Publizistik, S. 44 f., sowie Hürten: Deutsche Katholiken, S. 86 ff. 326 Vgl. Hans Heinrich Ehrler an Theodor Heuss, 27. Januar 1947, NL Heuss.
5. „neue Heimat“: gebremste Moderne mit Theodor Heuss | 211
staltung im Plenarsaal des Reichstags zum Anlass: Die nationalkonservative, unter anderem von dem bekannten Germanisten Eugen Kühnemann gelenkte „Gesellschaft für deutsches Schrifttum“ beging den Todestag Albrecht Dürers, der sich am 6. April 1928 zum 400. Mal jährte. Hauptredner war der völkische LangenMüller-Autor Wilhelm Schäfer. In die begleitende Festschrift zur Albrecht-DürerFeier im Reichstag nahm man auch zwei bildbeschreibende Gedichte Ehrlers auf: Hieronymus im Gehäuse und Melencolia.327 In den Wochen darauf entstand Ehrlers zehnteilige Artikelserie Reise nach Berlin, die von Mai bis September 1928 nicht nur in der Süddeutschen Zeitung erschien, sondern auch in der Vossischen Zeitung, für die Heuss regelmäßig schrieb. Heuss spielt in diesen Reisefeuilletons, ohne Namensnennung, aber als Figur des bodenständigen Schwaben und weltaufgeschlossenen liberalen Politikers unverkennbar, eine nicht unwesentliche Rolle. Er führt den Berlinbesucher mit einigen Parlamentariern zum Gespräch über die gesellschaftlichen ‚Spaltpilze‘ zusammen. In der Weinstube von Lutter & Wegner kneipen Ehrler und Heuss als Postfiguration von E. T. A. Hoffmann und Ludwig Devrient, sprechen über die Bürden der Politik und die Möglichkeiten der Literatur.328 Der Tenor geht zwar dahin, dass Literatur der Politik als Mittel der gesellschaftlichen Integration überlegen sei. Gleichwohl erscheint Heuss im Licht des Vertrauens und der Verklärung. Der Wahlberliner, der ununterbrochen seit 1918 in der Reichshauptstadt lebte, hatte bei seinem württembergischen Landesverband keinen leichten Stand. Bei den Wahlen vom Mai 1928 verpasste er den Wiedereinzug in den Reichstag auch deshalb, weil man ihm keinen ausreichend hohen Listenplatz anvertraut hatte.329 Vor diesem Hintergrund leistete Ehrler mit seinen populären Feuilletons und deren positiver Heussdarstellung eine Art Imagekampagne, in der er das reichsföderalistische Unbehagen an der nationalstaatlichen Zentralisierung in Berlin entschieden aufgriff – „nicht von ungefähr“ sträube sich „der unbewußte Wille der ‚Provinz‘ und besonders der Instinkt unseres Südens gegen Berlin“ –, die Reichshauptstadt aber doch auch als „Zentrum der deutschen und humanen Frage“ anerkannte.330 Die Buchausgabe der Feuilletons, 1929 unter 327 Vgl. Hans Heinrich Ehrler: Hieronymus im Gehäuse / Melencolia. In: Festschrift zur AlbrechtDürer-Feier im Reichstag. Hg. v. d. Gesellschaft für deutsches Schrifttum. Berlin 1928, S. 8. Zu Gayda und zur „Gesellschaft für deutsches Schrifttum“ vgl. Vordermayer: Bildungsbürgertum und völkische Ideologie, S. 83. 328 Vgl. Ehrler: Meine Fahrt nach Berlin, S. 104 ff., ferner die Berlinepisode in Ehrler: Die Frist, S. 85 ff. 329 Vgl. Ernst Wolfgang Becker: Theodor Heuss. Bürger im Zeitalter der Extreme. Stuttgart 2011, S. 51 ff. 330 Ehrler: Meine Fahrt nach Berlin, Vorwort (unpag.) u. S. 2. Zu Ehrlers Berlinbuch vgl. auch die negative Rezension von Hermann Linden: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Meine Fahrt nach Ber-
212 | III. Literarisch-politische Vernetzungen
dem kokettierenden Titel Meine Fahrt nach Berlin. Erlebnisse eines Provinzmanns und als Komplement zu Ehrlers Die Reise in die Heimat von 1926 erschienen, trägt die Widmung „Meinen Freunden“ und bezieht sich sowohl auf Heuss als auch auf Loerke. Nach seinem späten großen Aufstieg in die Spitzenpolitik hatte Heuss diese literarische Schützenhilfe nicht mehr nötig. Nur als privater Gelegenheitstext verstand sich ein achtstrophiges Akklamationsgedicht, das Ehrler zum Jahreswechsel 1949/50 an den frisch gewählten Bundespräsidenten schickte. Unter dem im Weiteren mit der Etymologie von ‚Gottesgabe‘ ausgelegten Titel Theodor! beginnt es mit Zeilen, die auf Flucht und Vertreibung anspielen und an Heuss’ Selbstverständnis als demokratischem Staatsoberhaupt eigentlich vorbeigehen: „Du bist ein Mensch, der Menschen ordnen soll / Auf einem Erdfleck voll und übervoll.“331 Ein Glückwunschgedicht von Agnes Miegel hat Heuss im Nachgang seines 70. Geburtstags zurückgewiesen, weil deren „überschwängliche[r] Dithyrambus“ auf Hitler „unvergessen“ sei, wie er durch seinen Referenten ausrichten ließ.332 Auf Ehrlers Hymne antwortete er Anfang 1950 persönlich mit einem verständnisvollen Dankesbrief: „[F]ür die Verse, die Du mir gesandt hast und das treue Gedenken, was aus ihnen spricht, darf ich Dir herzlich danken.“333 Um Ehrlers Vergangenheit als volksparteilicher Redakteur und liberalkatholischer Herold willen legte er hier einen Unterschied zwischen den Freund und Miegel, obgleich auch Ehrler eine in der Nachkriegszeit wohlbekannte Geschichte als ‚Priester‘ des Hitlerkults teilte. In Ehrlers Entnazifizierungsverfahren hat Heuss 1946 noch helfend eingegriffen (s. Kap. VII.1). Von der Möglichkeit persönlicher Begegnungen nahm er in den darauffolgenden Jahren jedoch Abstand. Im Februar 1949 schrieb er aus Bonn nach Waldenbuch: „[D]ass ich auch wieder einmal nach Dir sehen kann, vermag ich heute noch nicht zu übersehen“,334 im Mai 1950: „Die Freiheit der lockeren Entschließungen und Entscheidungen ist dahin.“335 Der panegyrische Impetus, der Ehrlers Arbeit von früh an bestimmt hatte, trieb den Lobredner Anfang 1951 zu einer letzten Annäherung an Heuss, als es um das Projekt einer neuen Nationalhymne ging (s. Kap. VIII).
lin. In: Frankfurter Zeitung, 26. Mai 1929 (Literaturblatt), positiv dagegen Erich Bockemühl: Hans Heinrich Ehrler. In: Die christliche Welt 46 (1932), Sp. 602–604. 331 Ehrler: Theodor! 332 Zit. n. Merseburger: Theodor Heuss, S. 565. 333 Theodor Heuss an Hans Heinrich Ehrler, 6. Februar 1950, NL Heuss. 334 Theodor Heuss an Hans Heinrich Ehrler, 13. Februar 1949, NL Heuss. 335 Theodor Heuss an Hans Heinrich Ehrler, 2. Mai 1950, NL Heuss.
IV. Vom Kulturkrieg zum Katechon
1. „will bewundern, preisen!“: republikanische Panegyrik im Zeichen Uhlands
Die Forderung, dass Literatur „Durchgeistigungsarbeit“ zu sein und an der „Höherbildung der Menschheit“ mitzuwirken habe, führte schon bei Ehrlers akademischem Lehrer Volkelt dazu, den Schriftsteller zur Teilnahme „an dem sittlichen Ringen seiner Zeit“ zu verpflichten: Er dürfe sich nicht von den „um die Ideale geführten Kämpfen“ aristokratisch abschließen, sondern müsse sie „mildernd und versöhnend“ begleiten.1 Selbst sein puristischer Freund Herman Hefele hat Ehrler 1922 zugebilligt, er dürfe „– vielleicht als einziger lebender Dichter – es wagen, an Gegenstände zu rühren, die nach ihrer inhaltlichen und formalen Bedingtheit anfechtbar und ästhetisch gefährdet sind“, darunter „an die Bestimmtheiten politischer Meinung“.2 Eine von Ehrlers wichtigsten Kontaktpersonen im Zeitungswesen, der langjährige Chefredakteur des Stuttgarter Neuen Tagblatts Wilhelm Günzler, variierte diesen Befund 1924 mit der Feststellung, der Dichter habe das Bedürfnis, „zu den Zeitereignissen sich auch politisch auszusprechen“, sei dabei stets jedoch von versöhnender „franziskanischer Weltstimmung“ getragen.3 Nicht selten hatten auch Ehrlers Rezensenten Anlass, seine Texte als „Gelegenheitsschrift[en]“ anzusprechen und günstigenfalls zu bemerken, er habe „seine für einen Dichter nicht ungefährliche Aufgabe mit Takt und Geschmack angefaßt“.4 Das Literarische Echo, das Ehrlers Person und Werk den Leitartikel der Märzausgabe 1919 widmete, hielt unter den deutschen Bürgerkriegsbedingungen fest, der Dichter sei in die politische Arena gestiegen, aber nicht, um mit den Berufspolitikern zu konkurrieren, sondern – und hier wird die Kongruenz von Erbauungsliteratur und politischer Publizistik nochmals klar zum Ausdruck gebracht – um „durch die Kraft des Dichterworts die gebeugten Seelen aufzurichten
1 Volkelt: Kunst, Moral, Kultur, S. 332 f. 2 Hefele: Zu Hans Heinrich Ehrlers Lyrik, S. 392. 3 Wilhelm Günzler: Schwaben in Vergangenheit und Gegenwart. Reutlingen 1924, S. 33 u. S. 57. Vgl. ähnlich Fritz Schneider: Hans Heinrich Ehrler. Zu seinem 50. Geburtstag. In: Süddeutsche Zeitung, 6. Juni 1922. 4 Krauss: [Rez.] Die Reise in die Heimat, S. 674.
214 | IV. Vom Kulturkrieg zum Katechon
und sie reif und rein zu machen zur Mitarbeit am Bau einer besseren deutschen Zukunft“.5 Anfang der 1920er Jahre hieß es im ultra-katholischen Gral über Ehrler: Es wird viele Heutige geben, die seinen Dichtungen […] Freund sind. […] Er benutzt den Frieden stiller Einkehr zur Aussprache seines Persönlichen an die Zeit. Es ist bei aller bewußten Fremdheit gegenüber ihren treibenden Energien eine wogende Liebe zu ihr, die Bereitschaft eines Mannes, der in der Gesellschaft des drängenden Heute eine Aufgabe zu sehen vermag – aus seiner Stellung zu ihr.6
Am Ende der Weimarer Republik umschrieb das protestantische Leitorgan Die christliche Welt die „überaus starke[] W i r k u n g der Ehrlerschen Bücher“ und deren Gratwanderung zwischen Poesie und Propaganda mit der Formulierung: „Sie rufen nicht an und rufen nicht auf – aber sie zwingen!“7 Im Dritten Reich charakterisierte der bekannte evangelische Dichterpriester Albrecht Goes das gesellschaftlich-politische Engagement des Schriftstellers Ehrler damit, dass er „seinem Volk und seiner Zeit leidenschaftlich zugetan“ sei, als „ein Liebender und ein Frommer“.8 Das ‚Innere Reich‘, das Ehrler ausrief und für das er Bewohner suchte, war so nicht der Elfenbeinturm, sondern darauf angelegt, die ‚Zwei-Reiche-Theorie‘ einer Getrenntheit von Kultur und Politik zu überwinden. Der ästhetische Fundamentalismus Georges mit seinem verächtlichen Desinteresse gegenüber politischen Parteien und staatlichen Institutionen, sozialen Fragen und Verfassungsproblemen konnte zeitgeschichtlich kommentierende Paränesen und Panegyriken, z.B. gegenüber Kaiser Wilhelm II. und Papst Leo XIII., aus der Prophetenrolle ableiten. Bei Ehrler trat die Rolle des Erbauungsschriftstellers hinzu, um eine Haltung zu begründen, die sich auf die Ebene konkreterer Übel und Hilfen bezog. Ich will nicht klagen, will bewundern, preisen! Hab ich die Kreatur im Leid gesehen Und war in Kummerländern weit auf Reisen, Nun offenbart sich, warum das geschehen.9 5 Krauss: Hans Heinrich Ehrler, Sp. 710. 6 Otto Steinbrinck: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Briefe aus meinem Kloster. In: Der Gral 17 (1922/23), S. 183 f. 7 Bockemühl: Hans Heinrich Ehrler, S. 603. 8 Albrecht Goes: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Mit dem Herzen gedacht. In: Die Literatur. Neue Folge des Literarischen Echos 40 (1937/38), S. 569. 9 Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 8.
1. „will bewundern, preisen!“: republikanische Panegyrik im Zeichen Uhlands | 215
In diesen Versen wird der Panegyriker, der die hoffnungsvollen Zeitzeichen liest, direkt aus dem Erbauungsdichter abgeleitet, der sich mit den Leiden der Zeit vertraut gemacht hat. Eine nähere Beziehung zur geschichtlichen Gegenwart fand Ehrler außerdem dadurch, dass die Annahme eines ‚Inneren Reichs‘ vorderhand nicht im unbedingten Widerspruch zur äußeren Form einer Republik bzw. eines Reichs als Republik stehen musste. Zu den wichtigsten panegyrischen Übungen Ehrlers, soweit sie zunächst vom südwestdeutschen Liberalismus getragen waren, gehört das achtstrophige Simplicissimus-Gedicht mit dem einfachen, die Personenverehrung herausstellenden Titel Uhland (1912). Nun unterhält die panegyrische Redekunst enge Beziehungen zur Politischen Theologie, steht hingegen eher in Spannung zu Politikkonzepten, wie sie das Münchner Wochenmagazin im Spektrum zwischen Nationalliberalismus und linksliberaler Demokratiebewegung vertrat.10 Panegyrik postuliert die Auserwähltheit ihres Gegenstandes. Die Idee der Auserwählung setzt aber eine höhere Macht voraus, welche die selektive und exklusive Heraushebung und möglicherweise auch eine Beauftragung allererst vornimmt. Panegyrische Auserwähltheitsimaginationen sind, mit anderen Worten, dazu disponiert, eine göttliche Instanz über den Dingen in Anschlag zu bringen und den Umgang mit ihr in religiösen Formen zu regeln.11 Panegyrik ist ihrer geschichtlichen Verbreitung und ihren regelhaften Erfordernissen nach jedenfalls alles andere als eine republikanische Redeform. Was die Uhlandhuldigung als eine Art demokratischer Personenkult vorderhand ermöglicht, ist die Besetzung des Gegenstands mit einer verstorbenen Person, für die das traditionelle de mortuis nihil nisi bene gilt, ebenso aber der Brettlstil mit Einschaltung ironisch-spielerischer Elemente, vor allem bei der Rhythmik und Reimbildung.
10 Zur Simplicissimus-Politik vgl. Ruprecht Konrad: Politische Zielsetzungen und Selbstverständnis des Simplicissimus. In: Simplicissimus. Eine satirische Zeitschrift, München 1896–1944. Hg. v. Haus der Kunst München. München 1977, S. 88–109, hier bes. S. 91 f.; zur Simplicissimus-Lyrik Karl Riha: Politisch engagierte Lyrik um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert. In: Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland. Hg. v. Walter Hinderer. Aktual. Neuaufl. Würzburg 2007 (zuerst Stuttgart 1978), S. 249–270. Zum Problem von Huldigungen im Konstitutionalismus vgl. Jan Andres: „Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet“. Huldigungsrituale und Gelegenheitslyrik im 19. Jahrhundert. Frankfurt/M., New York 2005, S. 134 ff. 11 Vgl. hierzu auch Langewiesche: Reich, Nation, Föderation, S. 70 ff., sowie Verf.: Panegyrik zwischen Tradition und Faschismus. Hans Heinrich Ehrler als Staatsdichter 1912–1951. In: Das literarische Lob. Formen und Funktionen, Typen und Traditionen panegyrischer Texte. Hg. v. Norbert Franz. Berlin 2014, S. 359–384.
216 | IV. Vom Kulturkrieg zum Katechon
Auf den 13. November 1912 fiel der 50. Todestag des Tübinger Spätromantikers und Paulskirchenpolitikers, den Heuss als „beste[n] Bürger seines Landes“12 und, in gesamtdeutscher Perspektive, als „ein Stück Volksbesitz“13 bezeichnet hat. Für den März übernahm Haußmann die Laudatio mit Erklärungen wie: „Wir haben […] keinen Mann, in dem sich der Dichter, der Politiker und der Mensch zu einer gleichgroßen Gesamtwirkung vereinigt hat. Die unerhörte Lauterkeit seines Wesens und seines Wirkens ist auch in seinem Lied lebendig. ‚Ich hatt’ einen Kameraden‘ – besitzt Deutschland ein ergreifenderes Volkslied?“14 Mit seinen Parteifreunden Heuss und Haußmann war auch Ehrler auf Uhland eingeschworen und in dessen Werken, einschließlich der politischen Stellungnahmen (wie der sogenannten Eichenansprache von 1834, der Kaiserrede von 1849 und der Schillerlaudatio von 1859), wohlbelesen. Die Simplicissimus-Redaktion räumte zu diesem altliberalen Gedenkanlass eine ganze Seite ein, auf der Ehrlers zweispaltig gedruckter Text von einer aufwendigen Illustration des Hausgrafikers Wilhelm Schulz eingefasst wird (Abb. 10). Die Figur des grauhaarigen Uhland in schwarzem Rock steht vor dem Schloss Hohentübingen; zwei Trikoloren im Schwarz-Rot-Gold der Demokratiebewegung flankieren sie. Der Performanzaspekt der gelungenen, feierlich inszenierten Darbietung ist für die Panegyrik von wesentlicher Bedeutung.15 Im Simplicissimus haben Texte Ehrlers noch zweimal solche paramediale Rahmungen erhalten: halbseitig in einem weniger politischen Kontext für das Gedicht Warte nur (1908, illustriert von Rudolf Sieck), ganzseitig für das Kriegsgedicht Das goldene Haus (1916, illustriert wiederum von Wilhelm Schulz).16 Bei späteren Panegyriken Ehrlers wurde diese Funktion auch durch Einbindung in ein Rundfunkprogramm (z.B. die Verfassungsfeierrede 1932 und der Weihespruch bei der Schillerfeier 1934), durch die Position als Leitartikel (z.B. von Das einige Reich der Deutschen, 1938), durch Begleitmusik (z.B. in Unsere Frau Muttersprache, 1938) oder auch durch Vertonungen erfüllt (z.B. der Gedichte Platon, Michelangelo und Franziskus durch Hermann Reutter).
12 Theodor Heuss: Schwaben und der deutsche Geist. Konstanz 1915, S. 69. 13 Heuss: Vor der Bücherwand, S. 123. Zur Uhlandkanonisierung im Zeichen der ‚inneren Nationbildung‘ vgl. Ilonka Zimmer: Uhland im Kanon. Studien zur Praxis literarischer Kanonisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt/M., New York u.a. 2009, S. 64 ff. 14 Vgl. Conrad Haußmann: Uhlands geistige Persönlichkeit. In: März 6 (1912), S. 215–218, hier S. 218. 15 Vgl. Andres: Huldigungsrituale und Gelegenheitslyrik, S. 101 ff. 16 Ehrler: Warte nur; ders.: Das goldene Haus. In: Simplicissimus 21 (1916), S. 304.
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Abb. 10: Hans Heinrich Ehrlers Uhland im Simplicissimus 1912, Illustration von Wilhelm Schulz.
Das Gedicht beginnt mit Versen, deren Aussage insbesondere auf Uhlands 1809 geschriebenen, 1825 vertonten Nationalschlager Ich hatt’ einen Kameraden zielt: Von deiner Stimme tönet alles Land, Und wo ein Deutscher singt, da dankt er dir, Auch wenn er lang vergessen, wer das Band Der schlichten Reime knüpfte zu des Liedes Zier.
Der Schlussvers, in dem Uhland selbst als „du guter Kamerad!“ angesprochen wird, schließt den Kreis der Anspielung, indem er die Schlusszeile des Prätexts, „Mein guter Kamerad!“, aufnimmt.17 Ehrlers an die Formen des Volks- und des 17 Hans Heinrich Ehrler: Uhland. In: Simplicissimus 17 (1912), S. 540. Vgl. Ludwig Uhland: Der gute Kamerad. In: ders.: Werke. Hg. v. Hartmut Fröschle u. Walter Scheffler. Bd. 1: Sämtliche Gedichte. München 1980, S. 148 f., hier S. 149.
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Kirchenlieds anschließenden Strophen – sechs Strophen zu vier kreuzgereimten Fünfhebern und zwei zu acht Vierhebern – erfüllen alle Kriterien der panegyrischen Rede: die kasualpoetische Bindung an einen besonderen Anlass oder casus (hier den Todestag), die persönliche Adressierung (hier wiederholt mit dem vertraulichen ‚Du‘), die Ausbeutung der rhetorischen Mittel von Hyperbolik („tönet alles Land“) und Oxymora („du stiller Held“).18 Das preisende Genus konnte von seinen antiken Anfängen und systematischen Optionen her immer auch Korrektur und Kritik entfalten, am Gepriesenen oder an der Gegenwelt des Gepriesenen. Diese Möglichkeit ließ sich auch Ehrler nicht entgehen, indem das Gedicht den Topos der Göttervisitation aufruft: Wenn heut dein Geist herunterstiege, Du Sänger und du stiller Held, Und sähe diese Frucht der Siege. Nicht wie er’s suchte, fände er’s bestellt.
Mit Referenz auf Uhlands verschiedene Parlamentsmandate (zwischen 1819 und 1848/49), seinen Tod 1862 und die Reichsgründung 1871 zeigte sich Ehrler, bei grundlegend antiborussischer Stoßrichtung, unzufrieden damit, dass die deutsche Einheit in Form eines Reichs statt einer Republik kam: Auch riefest du nach einem deutschen Vaterland Nach einem freien, ganzen, recht und gleich. Man sargte deine Sehnsucht ein mit starker Hand Und gab uns dann dafür ein deutsches Reich.
Ehrler beklagte den „grobe[n] Eifer“, der „bei uns waltet“, die „kalte[n] Werke und Geschäfte“ des öffentlichen Lebens. Dagegen lebe „in den Stuben“ und in des „Volkes Herz“ das bessere Deutschland, identisch mit der Gemeinde Uhlands. So diente dieses panegyrische Gelegenheitsgedicht der kulturellen Gedächtnisbildung des bedrängten (südwest)deutschen Liberalismus und der Stabilisierung eines politischen Gründungs- und Kontinuitätsmythos von den (wie Theodor Heuss for18 Vgl. zu diesen Grundelementen Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977, bes. S. 113 ff., Rudolf Drux: Panegyrikus. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Hg. v. Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 2003, S. 5–8, sowie Michael Mause: Panegyrik. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 6. Berlin, New York 2003, S. 495–502.
1. „will bewundern, preisen!“: republikanische Panegyrik im Zeichen Uhlands | 219
mulierte) „Männer[n], die uns vorangingen“19. Der Text selbst gibt kaum einen Hinweis auf die spezifische Veranlassung durch den Todestag, versucht vielmehr, eine zeitlich übergreifende Bedeutsamkeit zu generieren – und dies auch für die Poetologie der Panegyrik. Jeder Panegyriker demonstriert, dass er Größe erkennt, wenn er sie sieht, dass er mithin dem Gepriesenen moralisch verwandt ist. ‚Mein guter Kamerad!‘, sagte Ehrler in diesem Sinn über Uhland als den Kronzeugen eines politisch aktiven Literatentums und des meinungsbildenden Gebrauchswerts von Literatur. Uhland erscheint damit nicht nur als Verkörperung des politischen Programms, sondern zugleich als Modell einer gesellschaftlich verpflichteten Literatur, die in Ich hatt’ einen Kameraden propagandistische Effizienz mit suggestiven ästhetischen Qualitäten verbindet und somit die Differenz von ‚Kunstwerk‘ und ‚Machwerk‘ zu unterlaufen sucht. Das Lied vom treuen Kameraden, meinte Ehrler, sei „d a s deutsche Lied“ geworden: „Kein anderes Reimgeflecht hat sich gleich ihm in die Phantasie des deutschen Volkes verflochten und ist darin etwas Selbstverständliches und wie ein Urlaut geworden.“ Desgleichen sei Uhland „ins Blut des Volkes übergegangen“; die „Fäden eines wunderbaren Gewebes“ gingen von seiner Gestalt aus.20 Diese Erläuterung stammt aus dem Feuilletonartikel Ludwig Uhland, den Ehrler am 13. November 1912 in der Frankfurter Zeitung publiziert hat und der auch die anderen Programmpunkte der lyrischen Uhlandeloge im Simplicissimus kommentiert. Dem Artikel liegt wohl der Uhlandvortrag zugrunde, den der damals in Friedrichshafen lebende Redakteur an einem „Volksunterhaltungsabend“ in Stuttgart gehalten hat.21 Ein Übriges ist, dass Ehrler seine Beiträge zum Uhlandgedenken zwei Monate später, am 6. Januar 1913, d.h. im Vorfeld des Jahrestags der Reichsgründung (18. Januar), mit dem Simplicissimus-Gedicht Der Trauermarsch ergänzt hat. Auch darin geht es um einen Todesfall, nämlich eines Veteranen des deutsch-französischen Kriegs. Der mit großem Pomp zu Grabe Getragene wird nun allerdings typensatirisch und philisterkritisch damit charakterisiert, dass er ein „Hungerkerl“ mit „Demutsaugen“ und nur am Sedantag voller Heldenfeierlichkeit gewesen sei.22 Der Autor nimmt damit den „Militarismus der ‚kleinen Leute‘“23 und das Brauch19 Theodor Heuss: Aufzeichnungen 1945–1947. Hg. v. Eberhard Pikart. Tübingen 1966, S. 162. 20 Ehrler: Ludwig Uhland. 21 Stadt Stuttgart, Statistisches Amt im Auftrag des Gemeinderats (Hg.): Chronik der Haupt- und Residenz-Stadt Stuttgart 1912. Stuttgart 1913, S. 113. Vgl. zu Ehrlers Vortragstätigkeit in Stuttgart auch Kohlhaas: Chronik der Stadt Stuttgart 1913–1918, S. 142. 22 Hans Heinrich Ehrler: Der Trauermarsch. In: Simplicissimus 17 (1913), S. 691. 23 Thomas Rohkrämer: Der Militarismus der „kleinen Leute“. Die Kriegervereine im Deutschen Kaiserreich 1871–1914. München 1990.
220 | IV. Vom Kulturkrieg zum Katechon
tum der kaiserzeitlichen Kriegervereine aufs Korn, die in Feiern wie zum Sedantag das Reich verherrlichten und darüber hinaus im Wesentlichen Begräbnisvereine waren, die für ihre verstorbenen Mitglieder aufwendige Trauerzüge mit Fahne, heldenverehrenden Nachrufen, Ehrensalven und klingendem Spiel organisierten, damit immer auch die militaristische Grundlage des Kaiserreichs als eines antifranzösischen Machtstaats zelebrierten.24 Dieser deutsche Typus, nationalistisch überhoben und politisch unterwürfig, ist Ehrlers Anti-Uhland und als solcher von der eigentlichen Quelle idealer staatlicher Ordnung in Deutschland, dem ‚Inneren Reich‘, abgeschnitten. Das Motiv der Militär- oder Kriegervereinskapelle hat zentrale Bedeutung auch in Ehrlers Erzählung Josef Zembrods Töchter, weil es dort die soldatischen Marschbläser sind, die dem kunstverständigen Berufsmusiker Zembrod buchstäblich die Butter vom Brot nehmen und seine Kinder zur Auswanderung in die USA bewegen. Josef Zembrods Töchter erschien im November 1912, parallel zum Gedicht Uhland, im Simplicissimus-Pendant März. Eines von vielen Dokumenten für Ehrlers republikanisch ebenso wie kulturhistorisch begründete Frankophilie, in der er zuerst von Heuss, später von Hefele und den ‚Abendländern‘ bestärkt wurde, erschien am 20. Oktober 1913 ebenfalls im Simplicissimus. Es handelt sich dabei um ein schlicht 1813 betiteltes, wiederum im Brettlstil gehaltenes Gedicht zur deutenden Erinnerung an die Völkerschlacht bei Leipzig. Die meist auf den 18. Oktober gelegten Centenarfeiern (die Schlacht selbst dauerte vom 16. bis 19. Oktober) dienten dem aggressiven völkischen Nationalismus des späten Kaiserreichs als geschichtssymbolisches Aufmarschgebiet, dominiert von einer grundsätzlichen Feindschaft gegenüber Frankreich und einer Dämonisierung Napoleons, verbunden mit dem propreußischen Mythos von Deutschlands Einigung durch ‚Blut und Eisen‘ 1813 wie 1871.25 Statt den siegreichen Verbündeten Preußen und Österreich zu huldigen, erinnerte Ehrler an das gebrochene Verfassungsversprechen, laudatierte in der Spur des Personenkults dem europäischen Gesetzgeber Napoleon und endete – ein knappes Jahr vor Ausbruch des Großen Krieges – mit rhetorischen Fragen zur deutsch-französischen Freundschaft:
24 Vgl. Rohkrämer: Der Militarismus der „kleinen Leute“, S. 57 ff. u. S. 187 ff.; zu den geschichtspolitischen und konfessionellen Schwierigkeiten mit dem Sedantag in Württemberg Confino: The Nation as a Local Metaphor, S. 27 ff., am Beispiel des Oberamts Esslingen auch Pahl: Die Kirche im Dorf, S. 195 ff. 25 Vgl. Uwe Puschner: Leipzig, 16. bis 19. Oktober 1813. Die Leipziger Völkerschlacht in der deutschen Erinnerung und Politik. In: Jahrbuch für Europäische Geschichte 14 (2013), S. 39–60, hier S. 53 ff.
1. „will bewundern, preisen!“: republikanische Panegyrik im Zeichen Uhlands | 221
Wenn deutsche Bürger von Rechten reden, Müssen sie nicht vor den Franzmann treten? Und ihre Hand hinüberreichen übern Rhein, Sagend, wir wollen jetzt Brüder sein?26
Typisch für die Verflechtungen des Europäischen mit dem Regionalen bei Ehrler ging es hier um einen neuen Rheinbund, der damit indirekt zugleich den alten, von Napoleon geschmiedeten Rheinbund legitimieren sollte, in dem die Reformstaaten Baden und Württemberg keine ganz unfreiwilligen Bündnispartner waren. Ehrler stand hier fest in der altliberalen Tradition, die „1813“ als „Freiheitskrieg“ für konstitutionelle Verhältnisse, nicht als „Befreiungskrieg“ von Fremdherrschaft deutete.27 Nachdem er in seinen Kriegsschriften den französischen Nachbarn von allfälligen Attacken weitgehend ausgespart hatte, engagierte sich Ehrler seit November 1918 in Übereinstimmung mit seinen Vorkriegsüberzeugungen für republikanische Grundsätze. Dabei sparte er nicht daran, den Krieg selbst und nicht nur die Niederlage dem gescheiterten „konservative[n] Staatsbegriff, verkörpert in Preußen“, und einer vom Mammon besessenen Gesellschaft auf dem „ungeheueren Weg zur Macht“ anzulasten.28 Schon in einem seiner Propagandatexte für die Frankfurter Zeitung, unter dem Titel Das Fest der Deutschen am 21. Januar 1915 erschienen, wollte er den Tag der Reichsgründung am 18. Januar nur provisorisch gelten lassen und verlangte für die Zeit nach dem Krieg einen neuen Staatsfeiertag: „einen friedlich geklärten im Zeichen des siebenfarbigen Bogens“.29 Mit flüchtiger Referenz auf seine eigene Kriegspropaganda und mit größerer Betonung seines angeblich besseren Vorauswissens wollte er sich erinnern: Da war das Reich mächtig und stark und galt als das unüberwindliche. Wir selber empfanden und priesen es am meisten als solches. Aber ich und wohl noch manche wussten und spürten etwas in der Luft, man wurde es nicht los, es war wie ein giftiges Gas, das roch ich sogar bei einer Kaiserparade, und ich sah an unserem 26 Hans Heinrich Ehrler: 1813. In: Simplicissimus 18 (1913), S. 482. 27 Puschner: Die Leipziger Völkerschlacht in der deutschen Erinnerung und Politik, S. 48. 28 Hans Heinrich Ehrler: [ohne Titel]. In: Unser Bekenntnis zur neuen Zeit. Gemeinsamer Vortrag, gehalten im Kuppelsaal des Kunstgebäudes in Stuttgart am 5. Januar 1919 von Anna Schieber und Hans Heinrich Ehrler. Stuttgart 1919, S. 16–21, hier S. 16 f. Zu dieser in katholischen Akademikerkreisen weitverbreiteten Kriegsdeutung vgl. Stephan Fuchs: „Vom Segen des Krieges“. Katholische Gebildete im Ersten Weltkrieg. Eine Studie zur Kriegsdeutung im akademischen Katholizismus. Wiesbaden 2004, S. 283 ff. 29 Hans Heinrich Ehrler: Das Fest der Deutschen. In: Frankfurter Zeitung, 21. Januar 1915.
222 | IV. Vom Kulturkrieg zum Katechon so rasch in der Welt emporkommenden Volk eine Krankheit: die Krankheit der materialistischen Grossmannssucht!30
Der Dolchstoßlegende trat er warnend entgegen: „Hindenburg, der Oberbefehlshaber, muß bekennen, daß unsere Wehr zerschlagen. [...] Denn das ist das erste: den Jammer sehen. Wissen, das Reich liegt elend geschlagen.“31 Das Lob der republikanischen Freiheit sang Ehrler in seinen beiden Reden an das schwäbische Volk, die am 27. November und 1. Dezember im Stuttgarter Neuen Tagblatt, dem Sprachrohr der Deutschen Demokratischen Partei, abgedruckt wurden. Diese Texte beginnen ausdrücklich als „Klagelieder“ nach dem Muster der alttestamentlichen Jeremiaden, um dann in den Modus der Verteidigungsrede mit panegyrischen Anteilen überzugehen. Darin heißt es zum Vorteil der gründlichen Staatsumbildung unter anderem, sie sei „kein Machwerk“ und dürfe aus „keinem engen Gesichtswinkel“ betrachtet werden: Das Ereignis wird Revolution genannt, aber es war mehr. Was da kam, war schon geworden und hervorgewachsen. […] Darum, weil die Natur wirkte, wird an dem Geschehenen auch nichts mehr zu ändern sein. Wer Augen hat zu sehen, erkenne das Schwergewicht der Idee.32
Hier spiegelt sich eine unter anderem linksliberale Deutung der Novemberrevolution als geistiges Kind nicht allein von Arbeitern und Soldaten, sondern des Volkes, im Regionalen als des ‚schwäbischen Volkes‘. Die Formel von einem schwäbischen oder württembergischen Volk war in den Regierungsproklamationen dieser Tage und in der Abdankungserklärung König Wilhelms II. vom 30. November ebenso gängig wie die integrative Rede von der Liebe zur Heimat.33 An anderer Stelle be30 Hans Heinrich Ehrler: Rede bei der Verfassungsfeier der Württ. Staatsregierung, der Reichsbehörden und der Stadtverwaltung Stuttgart [Rundfunktyposkript], DLA Marbach, Sign. A:Ehrler, Bl. 2. Vgl. ähnlich Theodor Heuss: Staat und Volk. Betrachtungen über Wirtschaft, Politik und Kultur. Berlin 1926, S. 114: „Wir übernahmen uns, mußten uns vielleicht übernehmen, und waren für die Lösungsversuche weder geistig noch institutionell vorbereitet“; das „Gefühl und Bewußtsein des Volkes […] verwinkelt sich in der Idylle oder überschlägt sich ins Maßlose“. 31 Ehrler: Reden an das schwäbische Volk I. 32 Ehrler: Reden an das schwäbische Volk I. 33 Vgl. Sauer: Württemberg in der Weimarer Republik, S. 75 u. S. 77. Zur Revolution in Württemberg ebd., S. 75–81, zu Ehrler als Autor mit „große[m] Leserkreis“ ebd., S. 140. Zu liberalen Volksbegriffen ferner Retterath: Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte, S. 170 ff.
1. „will bewundern, preisen!“: republikanische Panegyrik im Zeichen Uhlands | 223
kräftigte Ehrler für die Reichsebene und in Umschreibung eines als essentiell synkretistisch verstandenen Prozesses: Und die Zeitmächte werden gewaltiger sein als die konservativen Kräfte. Es hilft nichts, wir müssen uns neue Augen anschaffen für das neue Gesicht der Dinge. Denn dieses ändert sich ganz gewiß und gründlich, auch wenn unsere ästhetische Optik sich nicht darauf einstellen wollte. […] nach dem verlorenen Krieg hatte Deutschland einen kommunistisch gemeinten Zusammenbruch. Daraus ging eine Staatsform hervor, deren Präsident alter Reichsgeneral und deren Kanzler Sozialist ist, ein Zwischengeschöpf wohl, aber auch Beispiel, wie das erhaltende Prinzip zur Inselbildung das Korallenriff gibt. Ja so selbstbewußt und selbstwüchsig eine neue Zeit auch einbricht, die scheinbar fremdkörperliche muß, um sich zu verkörpern, die demonstrativ abgestoßenen Elemente der gewesenen Zeit aufnehmen.34
Die rhetorische Technik, den gesellschaftlichen Umbruch als natürlichen Vorgang zu metaphorisieren, setzte Ehrler in einer Reihe von Wahlkampfauftritten im Januar 1919 fort. Vor den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar, zu denen auch sein Förderer Haußmann aufgestellt war, sprach Ehrler am 5., 9. und 15. Januar auf Kundgebungen der DDP.35 Die erste Rede, im Kunstgebäude am Stuttgarter Schlossplatz gehalten, wurde unter dem Titel Unser Bekenntnis zur neuen Zeit als Flugblatt verbreitet. ‚Bekenntnis‘ ist sicherlich weniger als Panegyrik, mehr Anerkennung einer Wahrheit als Euphorie über Glanz und Größe. Die Demokratie, heißt es hier wiederum naturalisierend, sei „die Luft […], in der wir leben und… genesen müssen“. Auch für die Kirche, die vom Staat getrennt werden müsse, sieht er in der Demokratie eine Erneuerungschance: Sie werde „jetzt aus einer Kruste genommen, in der sie wohl geborgen war, aber in der sie selber Gefahr lief zu verkrusten“. Ehrler kehrte zu seinem Simplicissimus-Ausgangspunkt bei Uhland und der 48er-Bewegung zurück, indem er dazu aufrief: Wir müssen den neuen Weg gehen, und er knüpft an jene Zeit, da Uhland in der Paulskirche zu Frankfurt sprach und da er ein einiges, alle Stämme umfassendes Vaterland forderte, ohne Vormacht, mit dem vollen Tropfen des demokratischen Öles auf dem Haupt seiner Lenker.36 34 Ehrler: Zum Geleit, S. 3. 35 Vgl. [Anon.]: Wirkungsvolle Kundgebungen der D. d. P., sowie [Anon.]: [ohne Titel, Wahlkampfveranstaltungen der DDP]. In: Stuttgarter Neues Tagblatt, 17. Januar 1919. 36 Ehrler: [ohne Titel, Unser Bekenntnis zur neuen Zeit], S. 16 u. S. 18.
224 | IV. Vom Kulturkrieg zum Katechon
Das von Uhland selbst stammende Bild des „demokratischen Oeles“37 ist ein Oxymoron, das für die hier waltende Zerrissenheit zwischen Moderne und Antimoderne charakteristisch ist. Mit plebiszitärem Zuspruch gesalbte Führerfiguren hat Ehrler von Hindenburg bis zu Hitler noch manche gefunden. ‚Ohne Vormacht‘ bezieht sich dabei auf die stammesethnische Ordnung, genauer auf die Gleichberechtigung Süddeutschlands mit allem Preußischen. Mithin weist die Wendung von einem ‚alle Stämme umfassenden Vaterland‘ auf das Konzept von Deutschland als Stammesnation,38 welches das ‚Deutschtum‘ durch die Verpflichtung auf regionale Heimaten definierte und von Ehrler verstärkt erst in seinen Kriegsschriften entfaltet wurde. Den Verdacht antimodernistischer Fallen unter der Oberfläche einer gutwilligen Modernisierungszugewandtheit bestätigt ein Blick auf die von Ehrler 1918 herausgegebene, 1919 bereits in zweiter Auflage erschienene Anthologie Das schwäbische Liederbuch. Eine Auswahl aus der klassischen schwäbischen Lyrik. Sie beginnt republikanisch genug mit Schubarts Fürstengruft, nimmt Schillers Worte des Glaubens über Freiheit, Tugend und Gott auf, lässt Hölderlins Gesang des Deutschen über das heilige Vaterland nicht aus und widmet sich dann ausführlich Uhland, dessen lyrisches Werk freilich von der Mittelalterromantik bestimmt wird, darunter in den Gedichten Als Kaiser Rotbart lobesam, König Karls Meerfahrt und Ein Sänger in den frommen Rittertagen.39 Zukunftsbezogen gemeint war im zeitgeschichtlichen Kontext von 1918/19 dagegen die Auswahl des Richtfest-Gedichts Zimmerspruch, das mit den Versen beginnt: „Das neue Haus ist aufgericht’t, / Gedeckt, gemauert
37 Aus der Rede gegen das Erbkaisertum zit. n. Joachim Knape: Ludwig Uhland als politischer Redner. In: Ludwig Uhland. Tübinger – Linksradikaler – Nationaldichter. Hg. v. Georg Braungart, Stefan Knödler, Helmuth Mojem u.a. Tübingen 2012, S. 69–83, hier S. 69. 38 Vgl. grundlegend hierzu (anhand der Rheinpfalz) Celia Applegate: A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat. Berkeley, Los Angeles u.a. 1990, S. 13 ff., für Württemberg bes. Confino: The Nation as a Local Metaphor, S. 95 ff., zusammenfassend S. 212 f.: „The Heimat idea was more than the sum of its parts: its singularity in European culture was the merging of local, regional, and national identities in one representation of the nation. While the connection between localness and nationhood has been common in national symbolism, German appeared to set themselves apart by finding in these relations an essence of German national identity“, ebd., S. 214: „and what makes the Heimat idea so interesting is that it reveals the profundity of the national idea“. 39 Vgl. Hans Heinrich Ehrler (Hg.): Das schwäbische Liederbuch. Eine Auswahl aus der klassischen schwäbischen Lyrik. Stuttgart 1918 (Vorwort S. III–VIII), zu Uhland hier S. 62–102. Vgl. den Eintrag bei Joachim Bark u. Dietger Pforte (Hg.): Die deutschsprachige Anthologie. Bd. 1: Ein Beitrag zu ihrer Theorie und eine Auswahlbibliographie des Zeitraums 1800–1950. Frankfurt/M. 1970, S. 29.
2. „verjüngtes Reich des deutschen Geistes“: Kriegsschriften 1915/16 | 225
ist es nicht“,40 eine Anspielung auf den „Neubau der deutschen Freiheit“41, den der politische Redner Politiker Uhland avisiert hatte. Mit der Berufung auf Uhland wurde ein gewissermaßen paradoxer Modernisierungsanspruch erhoben, der die Staatsreform aus dem Geist des ‚guten alten Rechts‘ der Stände und der angestammten Würde des allem erst Halt gebenden ‚Volkslebens‘ vorsah: mit Verfassung, Parlament und gewähltem Staatsoberhaupt in nichterblicher Kaiserwürde, mit budgetrechtlichen Vorrichtungen gegen den Militarismus, dabei unbedingt in großdeutscher Anlage, um den ‚Dom‘ Deutschlands über den ‚Turm‘ Preußens hinaus zu bauen und sich den Anschluss an die ‚Romanitas‘, an das ‚Rauschen des Adriatischen Meeres‘ zu erhalten. In diesem Sinne nannte sich Uhland selbst einen „Freund deutscher Volksfreiheiten und deutscher Nationaleinheit“42 und kommentierte Ehrler den Mittelalterkomplex des Politikerdichters für die Frankfurter Zeitung: „Uhland, der uns die alte Zeit des Rittertums wieder singen ließ, […] schaute und rief doch, vielleicht eben darum klar und nach vorn gerichtet in die Z u k u n f t . “43 Umso weniger sollten sich idealisiertes Reich und praktizierte Republik ausschließen müssen. Uhland jedenfalls konnte bis weit in die 1940er Jahre sowohl von NS-Kreisen (als „Vorkämpfer für das Deutschtum“) wie auch von der Moskauer Exilzeitschrift Das Wort (als „freiheitlich gesinnte[r] Demokrat“) für die je eigene Sache beansprucht werden.44 Für Ehrlers eigene Dichterpolitik blieb die in seiner Zeit mehr jungkonservative als noch liberale Denkfigur einer ‚zukunftsgerichteten Wiederherstellung‘ prägend, konkretisierte sich mithin in Anstrengungen zu einer renovatio oder Verjüngung des ‚Inneren Reichs‘.
2. „verjüngtes Reich des deutschen Geistes“: Kriegsschriften 1915/16
Dass Ehrler aus Opposition gegen das Kaiserreich von 1871 heraus schrieb, änderte sich grundlegend im August 1914, als er aufgrund seiner über zehnjährigen 40 41 42 43
Ehrler (Hg.): Das schwäbische Liederbuch, S. 74. Zit. n. Knape: Ludwig Uhland als politischer Redner, S. 78. Zit. n. Knape: Ludwig Uhland als politischer Redner, S. 76. Ehrler: Ludwig Uhland. Vgl. Langewiesche: Reich, Nation, Föderation, S. 126–142 („Vom Scheitern bürgerlicher Nationalhelden. Friedrich Ludwig Jahn und Ludwig Uhland“), hier S. 142: Uhland steht „für das Kernproblem der deutschen Nation im 19. Jahrhundert: entscheiden, in welcher staatlichen Gestalt sie künftig leben will.“ 44 Vgl. Herwarth Walden: Ludwig Uhland. 1787–1862. In: Das Wort 3 (1938), H. 10, S. 87–90, Zitate S. 87.
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journalistischen Erfahrung und seines jungen literarischen Ruhms zum „Aufklärungsdienst“, d.h. zum Propagandaeinsatz für das Königlich Württembergische Kriegsministerium unter Generaloberst Otto von Marchtaler eingezogen wurde. Die wesentliche Aufgabenstellung war zumindest bis zum Ende des Krieges klar formuliert: „Das Ziel des Aufklärungsdienstes ist, die innere Kraft des deutschen Volkes im Kriege zu stählen.“45 Die Bestallung von Schriftstellern und Künstlern zu diesem Zweck war durch den ausdrücklichen Ruf nach „freien Persönlichkeiten“ gedeckt, der sich mit der Rede von „selbständige[r] Persönlichkeit“46 im jungkonservativen Diskurs berührte: „Die praktische Arbeit kann nur von freien Persönlichkeiten geleistet werden. […] // Andererseits muß sie indessen auch planvoll und einheitlich sein. Dazu bedarf sie der Organisation.“47 Die Form dieses Dienstes in der staatlichen Öffentlichkeitsarbeit, welche die Gerechtigkeit des deutschen Krieges, die Burgfriedensideologie, die wirtschaftlichen Erfordernisse und den ‚Blutzoll‘ zu vermitteln hatte, scheint eher lässlich gewesen zu sein. So musste Ehrler seinen Wohnort zunächst nicht nach Stuttgart verlegen, sondern konnte die Zeitungen, vor allem die Frankfurter Zeitung und die Kriegszeitung der 7. Armee, vom Freiburger Schreibtisch aus versorgen. Wenn hinter Ehrlers Namen in dieser Zeit „Freiburg“ gedruckt steht, verstand sich für die Zeitgenossen, dass die katholische Universitätsstadt zu den frontnächsten deutschen Städten im Westen gehörte und den meisten Luftangriffen ausgesetzt war.48 Erst nach Gründung der Abteilung „Kriegsarchiv I“ im September 1916 lebte Ehrler fest in der württembergischen Hauptstadt. Zu einer persönlichen Begegnung mit Marchtaler kam es, einer von Ehrler oft erzählten Anekdote zufolge, auf der Stuttgarter Seestraße, wo der Landsturmmann – als Zeichen lebensreformerischer Nonkonformität – einen Strohhut 45 Reichsministerium des Innern (Hg.): Richtlinien für den Aufklärungsdienst in der Heimat. Berlin 1918, Nr. 1. 46 Bry: Die Heimkehrenden, S. 527. 47 Reichsministerium des Innern (Hg.): Richtlinien für den Aufklärungsdienst in der Heimat, Nr. 3. Vgl. dazu Gunther Mai: „Aufklärung der Bevölkerung“ und „Vaterländischer Unterricht“ in Württemberg 1914–1918. Struktur, Durchführung und Inhalte der deutschen Inlandspropaganda im Ersten Weltkrieg. In: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 36 (1977), S. 199–235. 48 Zu Freiburg als Frontstadt vgl. Christof Strauß: Der Erste Weltkrieg am Oberrhein: zum Stand der deutschsprachigen Forschung. In: Menschen im Krieg. 1914–1918 am Oberrhein / Vivre en temps de guerre des deux côtés du Rhin 1914–1918. Kolloquium zur gleichnamigen Ausstellung. Hg. v. Jörn Leonhard, Kurt Hochstuhl u. dems. Stuttgart 2014, S. 67–87, hier S. 67 f., S. 69 u. S. 72, ferner Robert Neisen u. Markus Eisen: Einleitung: Zwischen den Fronten. Der Oberrhein im Ersten Weltkrieg. In: Der Erste Weltkrieg am Oberrhein. Hg. v. dens. Freiburg/ Br., Berlin u.a. 2015, S. 7–17.
2. „verjüngtes Reich des deutschen Geistes“: Kriegsschriften 1915/16 | 227
zur Uniform getragen haben und vom Minister dafür zur Rede gestellt worden sein soll. „Ein deutscher Dichter“, will Ehrler zur Antwort gegeben haben, als Marchtaler nach seiner Identität gefragt habe. „Ach, dann ist’s verständlich“, die Antwort des Generals. Die bildungsbürgerliche Gemeinsamkeit sollte demnach überwiegen, das ‚Innere Reich‘ seine ungebrochene Geltung beweisen.49 Die Realität der propagandistischen Auseinandersetzung, des „Kriegs der Geister“ (Hermann Kellermann), war umso weniger kunstsinnig, als Ehrlers direktem Vorgesetzten im Kriegsarchiv, Hauptmann der Reserve Georg Schmückle, mehr an einer literarischen Verherrlichung der Haubitzen und an der Beschwörung eines staufischalemannischen Kreuzrittermutes lag. Ehrler glaubte, wie er 1915 in der Frankfurter Zeitung erklärte, an der Heraufkunft eines „verjüngten Reich[s] des deutschen Geistes“50 mitzuwirken, und stand darin einmal mehr dem völkischen Neoidealisten Friedrich Lienhard nahe, der vom Krieg erwartete, dass dessen „großartige[r] Lebensbegriff […] den deutschen Geist segnen“51 werde. Eine „Weltkur“ und „Rassengenesung“, den „Ostersonntag im Kalender der Menschheit“ hatte Ehrler seit Jahren beschworen – der Krieg musste sie bringen.52 Die pamphletistische Schärfe und der Öffentlichkeitsgrad des Kulturkriegs, mithin die amtlich-politische Kontrolle durch das Ministerium, zwangen Ehrler, seine besonders in den Romanen Briefe vom Land und Die Reise ins Pfarrhaus entwickelten Dispositionen von humanistischem Bildungsidealismus, christlichabendländischem Traditionsbewusstsein und materialismuskritischem Antimodernismus aus den Wolken katholisch-lebensreformerischer Experimentalität in festere Ordnungsvorstellungen zu bringen. Eine spezifische Hilfskonstruktion zur reichsseligen Legitimation des Propagandaeinsatzes bildete hierbei die Figur einer Fraternität von Geistlichem und Krieger. Mit Eremit und Ritter (1915) betitelte Ehrler archaisierend und romantisierend ein diesbezügliches Programmgedicht zu Moritz von Schwinds Gemälde Ein Einsiedler führt Rosse zur Tränke (um 1850), das er aus der Münchner Schack-Galerie kannte (Abb. 11). Hier wird eine Beziehung modelliert, in dem der Eremit dem Ritter, also der Geistliche dem Soldaten oder der ‚Lehrstand‘ dem ‚Wehrstand‘, Rat und Hilfe nach dem mittelalterlichen Modell von consilium et auxilium gewährt. Des Eremiten „gedorrte Hand“ weist ins „blaue Land“ des Abenteuers, gibt „Segen“, reicht „Schwert und Schild“, verspricht schließlich einen Rückzugsraum für die Zukunft: „In meinem Spind auch 49 So die Darstellung in Ehrlers Nachlasstext Die „Entmilitarisierung“, NL Ehrler. 50 Ehrler: Die ungetreuen Haushalter. An die deutschen Professoren der deutschen Sprache in England. 51 Lienhard: Deutsche Dichtung in ihren geschichtlichen Grundzügen, S. 137. 52 Ehrler: Ein Märzbrief, S. 443.
228 | IV. Vom Kulturkrieg zum Katechon Abb. 11: Moritz von Schwind: Ein Einsiedler führt Rosse zur Tränke, um 1850.
das stille Kleid für dich hängt.“ Das Rollengedicht, in dem der Eremit spricht, endet mit dem erbaulichen Ergebnis: „Wir sind verbrüdert Ritter und Gottesmann! / Wer Leuchtendes sucht, das Licht nicht fehlen kann.“ Bezeichnend für die öffentliche Anerkennung, die sich mit solchen Legitimationsdienstleistungen verbinden konnte, gehört Eremit und Ritter zu den in die Reclam-Anthologie Moderne deutsche Lyrik aufgenommenen Texten Ehrlers.53
53 Benzmann (Hg.): Moderne deutsche Lyrik, S. 120. Vgl. auch das ebd., S. 119, unmittelbar vorausgehende Gedicht Der Einsiedler, in dem die Situation von Eremit und Ritter vorbereitet wird: „Mein Pfad steigt an dem Fluß hinan, / dort hat der Fels sich aufgetan, // nimmt zum Gebet den Pilgrim ein. / Sucht, Brüder, morgen mich im Stein!“
2. „verjüngtes Reich des deutschen Geistes“: Kriegsschriften 1915/16 | 229
Vom ersten Januar bis zum 24. Dezember 1915 erhielt Ehrler in der Frankfurter Zeitung den Raum auf der jeweils ersten Seite für eine systematische Serie von im Durchschnitt zweiwöchentlich publizierten Feuilletons. Etwa zur Hälfte handelt es sich dabei um Ermahnungen zur Solidarität mit der Front (z.B. „Zeichnet die Kriegsanleihe!“54, Die deutsche Ernte55 und Zeichnet die dritte Kriegsanleihe56), um konsolatorische Texte auf dem „Weg eines Trostes aus dem ungeheuren Geschehen“ (z.B. An eine Witwe57, Die Heimkehr58, Die geschwundene Heimat59, Die Geburt60), schließlich um moralische Ermahnungen wie dazu, keinen Wettbewerb um Ordensauszeichnungen zu treiben (Das „Eiserne“): Die innere Einheit sollte im Zeichen des Kreuzes stehen, der Kult um das „Eiserne Kreuz“ daher mit Würde erfolgen; militärischer Karrierismus sei hingegen „Sünde am Geist dieses Heeres und dieses Krieges“.61 Ehrler behandelte die militärische Auszeichnung mit dem 1813 gestifteten „E. K.“ ungefähr wie die katholische Heiligsprechung: Sie exemplifiziert die Heiligkeit aller. Katholiken und Protestanten wurden dabei systematisch gemeinsam adressiert, Deutsche jüdischen Glaubens in diesem Kontext vorläufig ausgeklammert (aber in den Süddeutschen Monatsheften angesprochen, s. Kap. IV.3). Die andere Hälfte dieser Texte besteht teils in scharfen Schmähreden gegen vermeintliche Feinde und Verräter (z.B. An Flämisch-Belgien62, An die deutschen Professoren der deutschen Sprache in England63, An Spitteler64, das Gedicht Italien65 direkt unter dem politischen Leitartikel Italiens Eintritt in den Krieg), teils in Lobreden wie auf den schollenfesten ‚Bauerndichter‘ Christian Wagner und auf die Gruppe der Deutschamerikaner, „[w]illkommenste Bundesgenossen“, deren kul54 Hans Heinrich Ehrler: „Zeichnet die Kriegsanleihe!“ Eine Betrachtung. In: Frankfurter Zeitung, 4. März 1915. 55 Hans Heinrich Ehrler: Die deutsche Ernte. Eine poetische Epistel an die Fronten. In: Frankfurter Zeitung, 14. Juni 1915. 56 Hans Heinrich Ehrler: Zeichnet die dritte Kriegsanleihe. In: Frankfurter Zeitung, 15. September 1915. 57 Hans Heinrich Ehrler: An eine Witwe. In: Frankfurter Zeitung, 4. Juli 1915, hieraus das Zitat. 58 Hans Heinrich Ehrler: Die Heimkehr. In: Frankfurter Zeitung, 5. September 1915. 59 Hans Heinrich Ehrler: Die geschwundene Heimat. In: Frankfurter Zeitung, 14. Dezember 1915. 60 Hans Heinrich Ehrler: Die Geburt. In: Frankfurter Zeitung, 24. Dezember 1915. 61 Hans Heinrich Ehrler: Das „Eiserne“. An die Ungeschmückten. In: Frankfurter Zeitung, 15. August 1915. 62 Hans Heinrich Ehrler: An Flämisch-Belgien. In: Frankfurter Zeitung, 1. Januar 1915. 63 Ehrler: Die ungetreuen Haushalter. An die deutschen Professoren der deutschen Sprache in England. 64 Hans Heinrich Ehrler: An Spitteler. In: Frankfurter Zeitung, 2. Januar 1915. 65 Hans Heinrich Ehrler: Italien. In: Frankfurter Zeitung, 25. Mai 1915.
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turelle Bindung an Deutschland nun neu aufleben sollte (An die Deutschen in den Vereinigten Staaten66). Diese Feuilletons sind Musterexemplare professioneller Propaganda, die die literarischen Mittel bedingungslos in den politischen Dienst stellte, mit der Panegyrik patriotische Vorbilder aufrichtete und mit Diatriben als gewissermaßen umgekehrter Panegyrik ‚undeutsches Verhalten‘ geißelte. Der Rahmen des Erbaulichen wurde hier in einer Weise gesprengt, die Ehrlers eigene literarische Ideale verletzte: „Kannst du dir einen wahrhaften Dichter denken, der da jemals geeifert hätte? Den Goethe? Den Eichendorff? Den Mörike? Den Storm?“, so hatte Ehrler 1910 im März formuliert, um zu bedauern, dass der „Deutsche des zwanzigsten Jahrhunderts [...] kein Gleichmaß“ besitze.67 Der März befand sich seit August 1914 freilich selbst im Kriegstaumel, ebenso wie der Simplicissimus, zu dem Ehrler 1916 ein letztes Gedicht, Das goldene Haus, beitrug, das dieselben Töne anstimmte und „jedem frommen Soldaten“68 die ewige Seligkeit in der domus aurea des jenseitigen Gottesreichs versprach. Seltener waren die entschärfenden Töne wie in Ehrlers Simplicissimus-Erzählung Der Paradiesvogel vom Oktober 1915 über russische Kriegsgefangene im Schwarzwald. Der Anteil der Kriegsgefangenen unter den Arbeitskräften in der badischen und württembergischen Landwirtschaft stieg bis 1916 auf rund zehn Prozent.69 Dabei schien es angemessen, eine Propaganda der Bestialisierung des Gegners geflissentlich zurückzunehmen: „Die Einbildung der Landleute trug im Spiegel die grausamen Verwüster Ostpreußens, die Brandstifter, Mörder und Frauenschänder; ihr gruselte leis vor den Fremdlingen. Nun ist sie überrascht, einen Trupp harmloser, gutmütiger Menschen unter sich zu finden.“70 Diese Beschwichtigung erklärt sich mit generellen Tendenzen zur Umstellung des deutschen Hauptfeindbildes von Russland auf England und im Besonderen damit, dass der Katholik Ehrler nicht jene rassistischen Weltanschauungsgrundlagen teilte, die zur radikalen Diffamierung des slawischen Gegners ausschlugen.71 Abgesehen davon hielt sich die süddeutsche Betroffenheit von der ‚Ostpreußennot‘ in Grenzen, obwohl der Auf-
66 67 68 69 70 71
Ehrler: An die Deutschen in den Vereinigten Staaten. Ehrler: Eine Maiepistel, S. 194 f. Ehrler: Das goldene Haus. Vgl. Hippel: Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1800 bis 1918, S. 771. Hans Heinrich Ehrler: Der Paradiesvogel. In: Simplicissimus 20 (1915), S. 358. Zu den Schwankungen zwischen deutscher Anglo- und Russophobie vgl. Müller: Die Nation als Waffe und Vorstellung, S. 113 ff.
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forderungsgrad dazu seit Anfang 1915 hoch war und nationale Kreise gerade in München die russischen Grausamkeiten gegen ‚deutsche Brüder‘ hervorhoben.72 Theodor Heuss vermochte aus Ehrlers Freundeskreis noch am ehesten Maß zu halten und sah das von ihm geleitete März-Magazin nach Kriegsbeginn wiederholt wegen einzelner Artikel zensiert und schließlich insgesamt unter Präventivzensur gestellt.73 In seinem März-Artikel Der Weltkrieg bezeichnete er die Augustereignisse als das „Unausdenkbare, das nur der erhitzten Phantasie unverantwortlicher Leute anzugehören schien“: „die europäischen Staaten stürzen aufeinander, sich zu zerfleischen“.74 Ehrlers Beiträge waren dagegen geeignet, die politisch erwünschte Kriegsverherrlichung auch im März abzubilden. Selten finden sich in dieser Zeitschrift so weitgehende christliche Kriegslegitimationen wie durch Ehrler, etwa in dessen Beitrag Das Kreuz. Geschrieben am Karfreitag 1915: Die Welt ist vollgeronnen von dem Licht aus der Geschichte von Golgotha, die zum erstenmal groß verkündete, daß sich ein Sterben aus L i e b e begeben habe und als Opfer im neuen Sinn einer geheimen Gemeinschaft der Menschheit. Und wir hören daheim, die Deutschen ziehen ihm [sc. dem Tod] singend entgegen… Der Dunkle ist ihnen verklärt. Wie vom Schein Golgothas getroffen, erhellt sich sein Weg. Ja wisset, streitende Brüder, auf jedem, der unter Euch fiel, bricht sich der Strahl einer Erlösung; jeder stirbt einen Tod der Liebe, eines Opfers, den F ü r t o d , verwandt und würdig des hohen Vorbildes am Kreuz.75
Mit der hauptsächlich schlachtfeldtouristischen Kriegspublizistik von Norbert Jacques, die zunächst ebenfalls durch die Frankfurter Zeitung vertrieben wurde, teilen Ehrlers Kriegsschriften den diatribischen Impetus, mit dem die Mittelmächte als Kulturträger verteidigt und die Ententemächte in kultureller Hinsicht herabge72 Exemplarisch Georg August Baumgärtner: Ostpreussennot und Bruderhilfe. KriegsGedenkblätter. München 1915, S. 20 ff. 73 Vgl. Günther: Einführung. Der junge Theodor Heuss, S. 26 f. u. S. 35. 74 Theodor Heuss: Der Weltkrieg. In: März 8 (1914), S. 221–225, hier S. 221. 75 Ehrler: Das Kreuz, S. 38 f. Vgl. unter den ähnlichen Zeugnissen aus dem christlichen Linksliberalismus z.B. Friedrich Naumann: Der Kriegsglaube. In: Die Hilfe 21 (1915), S. 576 f.: „Unser Volk nimmt den gewaltigen Tod mit tapferer Ruhe auf, […] mit einer Grundstimmung, die nur als Glaube bezeichnet werden kann […]. […] Es siegt das Innerliche, das den Tod überwindet. Daß wir in unserem Volke so viel von diesem Innerlichen finden […], das ist uns allen eine gewaltige und herrliche Stärkung, wodurch immer neue Gläubige gewonnen werden.“
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setzt wurden.76 Die alten Bodenseegefährten kämpften so als Kulturkrieger Seite an Seite, wobei sich Ehrler kaum einmal gegen Frankreich, aber heftig gegen England und die Regierenden der USA mit einem Meterialismusvorwurf aussprach, den er vor und nach dem Krieg vielmehr beim Deutschen Kaiserreich abgeladen hat. Es galt einen Kampf der „daheimgebliebenen Bildungsbürger“ zur Erhaltung des ‚geistigen Wesens‘ der deutschen Nation.77 In der Frankfurter Zeitung wurde dieser Kulturkrieg in seiner neoidealistischen, an der deutschen Kulturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts ausgerichteten Version geführt und von prominenten Gelehrten wie Gundolf und Wolfskehl eröffnet.78 Für die täglichen Bedürfnisse des Gesamtjahrgangs 1915 übernahm Ehrler diesen ideologischen Feuilletonismus als routinierter und beweglicher Gelegenheitsautor, der dafür in staatlichem Sold stand. Bevor Ehrler ab der zweiten Jahreshälfte 1916 bis zum Ende des Kriegs vor allem mit seinen (nicht individuell gezeichneten) Anteilen an der vierbändigen Schwäbischen Kunde aus dem großen Krieg beschäftigt war, schrieb er vor allem noch für die Kriegszeitung der 7. Armee. Zur 7. Armee, die nach Einsätzen im Elsass hauptsächlich an der mittleren Westfront stand, gehörten größere Teile des XIII. Armeekorps, das in allen Waffengattungen fast ausschließlich aus Württembergern bestand.79 Die vom Karlsruher Verwaltungsbeamten Karl Joho redigierte Kriegszeitung der 7. Armee erschien 1916 zweimal wöchentlich in professioneller Aufmachung. Wie andere Armeezeitungen in dieser Phase des Krieges diente sie insbesondere der kontrollierten „Belehrung und Erbauung“80 der Soldaten. ‚Er76 Zu den Kriegsschriften von Jacques vgl. Scholdt: Der Fall Norbert Jacques, S. 195 ff. Jacques hatte sich im September 1914 der Frankfurter Zeitung als Kriegsberichterstatter angeboten und reportierte seit Oktober als Augenzeuge von den Kriegsschauplätzen. 77 Vgl. Barbara Beßlich: Wege in den ‚Kulturkrieg‘. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914. Darmstadt 2000, bes. S. 1–15 (Zitat S. 3), zuletzt auch Steffen Bruendel: Ideologien: Mobilmachungen und Desillusionierungen. In: Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Hg. v. Niels Werber, Stefan Kaufmann u. Lars Koch. Stuttgart, Weimar 2014, S. 280–310, hier S. 291: „Der Rekurs auf die als wahrhaft und tiefgründig definierte deutsche Kultur […] war eines der verbindenden Elemente kriegspublizistisch tätiger Dichter und Schriftsteller.“ 78 Vgl. Beßlich: Wege in den ‚Kulturkrieg‘, S. 7. 79 Vgl. Naujoks: Württemberg 1864 bis 1918, S. 419 ff. Zum dezidiert landsmannschaftlichen Führungsgeist Daniel Kirn: „Nix preußisch“. Der Adel im XIII. königlich württembergischen Armeekorps zur Zeit des Kaiserreichs (1871–1914). In: Die Herausforderung der Moderne. Adel in Südwestdeutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Eckart Conze u. Sönke Lorenz. Ostfildern 2010, S. 35–50. 80 Zit. n. Lipp: Meinungslenkung im Krieg, S. 40. Zur Entwicklung der Militärzeitungen vgl. ebd., S. 39 ff., zur Spannung zwischen Zentralisierung und unter anderem landsmannschaftlichen Eigenarten der Militärzeitungen ebd., S. 47 f. u. S. 96 ff. Zu den heerespsychologischen Vorgaben
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bauung‘ war freilich ein entscheidendes Stichwort für den Einsatz Ehrlers: In unserem Dorf81, Liebe82, Deutsche Wallfahrt83 und Ein Wunder84 lauten einige typische Überschriften seiner hier, in der Rubrik „Aus der Heimat“, zwischen Februar und Juli 1916 erschienenen Artikel. Im volkspädagogischen Rahmen der Militärzeitung waren die Botschaften drastischer formuliert als in der bildungsbürgerlichen Frankfurter Zeitung. Der Sinn des Krieges sollte im Sinn und in den Symbolen des Christentums gefunden werden: Der Krieg hat das grösste Wunder an uns getan, das einem Menschen wie einer Nation widerfahren kann. Er hat uns die Hingabe gelehrt und damit in den Sinn und das Ziel unseres Wesens geführt: gewissermaßen hat er uns erlöst. Draussen sterben sie in Scharen. Wie wäre das zu ertragen, wenn wir nicht wüssten – es geschehe freien Willens? Wie könnten wir das Liebste von uns weglösen lassen, wenn nicht der Glanz des Opfers den grausamen Vorgang umschiene? Hell durchschauert setzt man sich manchmal hin und denkt an all die schmerzhafte Glorie, die da über unser Vaterland aufstieg.85
So warb Ehrler für die Zeichnung der vierten Kriegsanleihe. Und über die Verhältnisse des christlichen Deutschland zu seinen europäischen Feinden sollten die Soldaten wissen: Noch nie ist ein Volk so gehasst worden wie das unsrige, noch nie hat eines so wenig gehasst. Dennoch werden wir siegen, wie noch kein Sieg errungen wurde. […] Man frage unsere Urlauber: sie wissen alle nichts vom Hass. […] Man denke etwa daran, wie unsere Leute die gefallenen Franzosen begraben und wie es umgekehrt geschieht. […] Der Sinn des Christentums hat sich allgemach mit dem deutschen Wesen gemischt und seinen Aether darin versenkt. […] In die erhöhte Mitte gerückt, darf Deutschland sich wie noch nie das Herz Europas nennen, das heilige Herz der Völker. Die zerrissenen Adern der Nationen werden sich wieder ineinanderflechten… Sein Schlag muss es schlichtend tun.86
81 82 83 84 85 86
aus dem württembergischen Kriegsministerium vgl. die Broschüre von Theodor Bäuerle: Ziele und Wege der Truppenaufklärung. Stuttgart 1917. Hans Heinrich Ehrler: In unserem Dorf. In: Kriegszeitung der 7. Armee, 9. Februar 1916. Hans Heinrich Ehrler: Liebe. In: Kriegszeitung der 7. Armee, 26. Februar 1916. Hans Heinrich Ehrler: Deutsche Wallfahrt. In: Kriegszeitung der 7. Armee, 1. April 1916. Hans Heinrich Ehrler: Ein Wunder. In: Kriegszeitung der 7. Armee, 20. Juli 1916. Ehrler: Deutsches Geld. Ehrler: Liebe.
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Alles in allem erschien der Krieg hier ungefähr wie eine Osterwallfahrt: „unter dem großen, überragenden Zeichen des Opfers und der hingebenden Liebe“,87 nicht nur die sozialen Schichten, sondern auch die deutschen Landschaften „im Reich des kommenden Friedens“88 vereinigend, denn der Osterglaube an Deutschland und an das deutsch-österreichische Bündnis greife in diesem Geschehen „von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt über das ganze weite Vaterland“, ein „Wunder“ der Vielheit und Einheit.89 Indem Ehrlers Artikel für die Kriegszeitung der 7. Armee so ganz auf eine politisch-religiöse Kriegslegitimation abgestellt waren, fehlten ihnen wiederum auch nicht die Diatriben gegen ‚Ungläubige‘: Der SPD-Linke und Kriegskritiker Hugo Haase verfiel hier unsäglichen Beleidigungen wegen seiner Ablehnung der neuen Kriegskredite.90 Ehrlers Kriegsschriften zeichnen sich zum einen dadurch aus, in der für diesen Autor typischen Weise das Regionale mit dem Globalen zu verknüpfen, nämlich gerade unter Bezug auf die südwestdeutschen 48er-Emigranten die ‚Auslandsdeutschen‘ in Italien, England und den USA zu adressieren und – in der organologischen Metaphorik unter anderem von Uhlands Eichenansprache91 – an ihre Wurzeln zu erinnern. Diesen Gruppen das Hohelied der Heimat zu singen, sie zur Treue zu mahnen und ihnen mit dem Vorwurf des Egoismus und der Strafe des Glücksverlusts zu drohen, hatte Ehrler bereits vor dem Krieg übernommen, als er mit der New Yorker Staatszeitung in Kontakt trat.92 Dort kam 1912 und nochmals 1951 (mit der Anzeige von Ehrlers Tod) das oft vertonte Gedicht O Heimat, wir sind alle dein zum Einsatz, das in Hermann Klauß’ Feierstunden der deutschen Schule (1941) ausdrücklich für die Verwendung in Feiern des ‚Auslandsdeutschtums‘ empfohlen wurde.93 Der Offene Brief An die Deutschen in den Vereinigten Staaten vom Februar 1915 steht dabei im Schnittpunkt von Ehrlers Vorstellungskreisen: Erinnerung an die bürgerliche Revolution uhlandschen Angedenkens, Di87 88 89 90 91
Ehrler: Deutsche Wallfahrt. Ehrler: Vor den Entscheidungen. Ehrler: In unserem Dorf. Vgl. Ehrler: Vor den Entscheidungen. Zur Eichenansprache vgl. Knape: Ludwig Uhland als politischer Redner, S. 73 ff.; zu Uhlands Referenz an die nach Amerika emigrierten Deutschen in seiner Schillerrede von 1859 ebd., S. 80 f. 92 Vgl. Otto Lohr (Staats-Zeitung New York) an Hans Heinrich Ehrler, 11. November 1912, NL Ehrler. 93 Vgl. Klauß: Feierstunden der deutschen Schule, S. 58 u. S. 63. Zur Heimatliteratur für Auslandsdeutsche mit den genannten Stereotypen vgl. Schumann: Heimat denken, S. 106–110 („Heimat als Ferne“), ferner Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 197–215 („Literarische Gestaltung des Heimat-Begriffs aus einer Verlust-Erfahrung heraus“).
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abolisierung eines angeblichen englischen Materialismus, vor dem Amerika durch die dortigen ‚Deutschen‘ gerettet werden müsste, und Verjüngung des ‚Reichs des deutschen Geistes‘ durch die Erneuerung transatlantischer Kulturanbindungen.94 Der Autor hat später mehrfach geschildert, wie demoralisierend die Kriegserklärung der USA vom April 1917 auf ihn gewirkt habe. Es sei eine „Angstperiode“ gewesen, als die Amerikaner kamen und als man da und dort Stimmen aus der Front und aus der Heimat hörte, die einem die Tränen der Furcht in die Augen trieben. Damals wusste ich plötzlich, dass der Krieg verloren sei, aber ich gestand es mir nicht ein. Es gibt keine geistige Qual, die diesem zwiespältigen Zustand eines liebenden Patrioten zu vergleichen wäre.95
In einem Leitartikel für das Organ des staatlichen, 1917 gegründeten „Deutschen Ausland-Instituts“ hat Ehrler das Thema der ‚Auslandsdeutschen‘ 1919 im Licht der neu eingetretenen Situation nachbearbeitet. Zeugen ist der Text überschrieben, der die „deutschen Brüder draußen in der Welt“ mit einem jüdisch-christlichen Begriff als „Diaspora“ verstanden haben will, näherhin als ein Häuflein der Gerechten, das – wie der in den letzten Kriegsmonaten auf Java verstorbene Max Dauthendey – den wahren deutschen Idealismus in der Welt bezeuge, notfalls als Märtyrer im Zeichen von „neue[m] Heldentum, neue[r] Dulderschaft“. Ehrler rief zu einer „zweiten Welle“ auf: „wieder müssen die Deutschen hinaus“, zu ihrem eigenen Leid, aber zum Besseren der Welt. Unterstützt werden müssten sie durch eine internationale Kulturarbeit, die insbesondere die Beziehungen zwischen ‚Auslandsdeutschen‘ und ihren Herkunftsregionen zu erhalten und zu stärken habe.96 Der Zeugen-Artikel spiegelt die entschiedene Aufwertung der auswärtigen Kultur94 Vgl. zum propagandistischen Umfeld mit Hinweis unter anderem auf Hermann Onckens Broschüre Deutschlands Weltkrieg und die Deutschamerikaner, ein Gruß des Vaterlandes über den Ozean von Ende 1914 Egbert Klautke: Unbegrenzte Möglichkeiten. „Amerikanisierung“ in Deutschland und Frankreich (1900–1933). Stuttgart 2003, S. 110–152 („Amerika in der Kriegsliteratur, 1914–1920“). – Zum Interesse an den deutschstämmigen Amerikanern als Teil einer Geschichte der deutschen Demokratie vgl. Theodor Heuss: Die Deutschen im amerikanischen Bürgerkrieg. In: März 6 (1912), S. 383–386. 95 Ehrler: Rede bei der Verfassungsfeier, Bl. 2. 96 Hans Heinrich Ehrler: Zeugen. In: Mitteilungen des deutschen Ausland-Instituts 2 (1919), H. 7, S. 1. Zu der Zeitschrift und dem Institut vgl. Julia Landau: Der Auslanddeutsche / Deutschtum im Ausland. In: Handbuch der völkischen Wissenschaften. Hg. v. Ingo Haar u. Michael Fahlbusch. Unter Mitarb. v. Matthias Berg. München 2008, S. 62–65, sowie Martin Seckendorf: Deutsches Ausland-Institut. In: ebd., S. 140–149.
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politik wider, wie sie sich aus dem außenpolitischen Machtverlust Deutschlands notgedrungen ergab. Zumindest das Reich des deutschen Geistes sollte noch so weit reichen, wie deutsche Dichter, Professoren und Bücher in die Welt gingen. Oder wie sich Ludwig Finckh 1921 in einer Neufassung des Ideenkriegs als Kulturmission ausgedrückt hat: „wir wollen zu den anderen unsere deutsche Seele bringen, die Seele Dürers und Bachs und Goethes und derer, die über allem Neid und Kleinmut stehen: der Schöpfer.“97 Diese Absicht zur internationalen Kulturpflege stand keineswegs im Widerspruch, vielmehr im Bedingungsverhältnis zu den Zielen der Heimatschutzbewegung: Der „Bund für Heimatschutz in Württemberg und Hohenzollern“ rechnete in Paragraf 1 Absatz 3 der Satzung zu seinen Aufgaben: „Pflege der Beziehungen zu unseren auswärts lebenden Landsleuten, denen das Bild der Heimat besonders teuer ist“.98 Ehrlers O Heimat, wir sind alle dein stand unter dem Heimatpflege- und Auswanderungsgesichtspunkt seit 1924 im vielfach aufgelegten Lesebuch für die Volksschulen Badens, nämlich als Eröffnungstext zum Kapitel „Deutsche Arbeit in der weiten Welt“.99 Ein weiterer Grundzug von Ehrlers Kriegsschriften besteht in einem Personenkult, der die panegyrische Tradition ausbeutet und die Vermischung des Religiösen mit dem Profanen fortschreibt, exemplarisch im Artikel An die deutschen Feldherren in der Frankfurter Zeitung vom August 1915. Dem Deutschen Orden aus seiner frühen Biografie verbunden, musste Ehrler eine besondere Sympathie für die ‚Revanche von Tannenberg‘ fassen, bei der im August 1914 die ‚Scharte von 1410‘, die historische Niederlage des Deutschordensheeres, ausgewetzt worden sein sollte.100 Nicht nur sprach Ehrler von den „heiligen Fieber[n] des Kampfes“, sondern übertrug Attribute des jüngeren Papsttums auf Hindenburg und Ludendorff: Sie seien von einer „geheimnisvollen Unfehlbarkeit umgürtet“, von „Erleuchtungen“ erfüllt, vom „Wissen um eine Sendung“ begleitet und gehörten zu den „Erwählten“, die das Schicksal sendet, um nicht nur Deutschland, sondern – urbi et 97 Finckh: Ahnenbüchlein, S. 2 f. 98 Bund für Heimatschutz in Württemberg und Hohenzollern: Aus der Satzung. In: Kriegsheft des Bundes für Heimatschutz in Württemberg und Hohenzollern. Stuttgart 1916 (= Schwäbisches Heimatbuch, Bd. 4), S. 1–5, hier S. 1. Der badische Heimatverein gab sich über die generell beabsichtigte „Weckung und Vertiefung der Heimatliebe“ hinaus keinen besonderen Auftrag für das ‚Auslandsdeutschtum‘, vgl. „Badische Heimat“, Verein für Volkskunde, ländliche Wohlfahrtspflege, Heimat- und Denkmalschutz: Satzung der „Badischen Heimat“. In: Mein Heimatland. Badische Blätter für Volkskunde, ländliche Wohlfahrtspflege, Heimat- und Denkmalschutz 1 (1914), S. 129–134, hier S. 129. 99 Ministerium des Kultus und Unterrichts (Hg.): Lesebuch für die Volksschulen Badens, S. 406. 100 Vgl. zum Tannenberg-Mythos zusammenfassend Bruendel: Mobilmachungen und Desillusionierungen, S. 292, sowie Ehlers: Die propreußische Rezeption des Deutschen Ordens, S. 121 f.
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orbi – auch „der Welt den Segen“ zu bringen.101 Es versteht sich bei dieser traditionalistisch-religiösen Auratisierung, dass dem modernen Krieg mit Giftgasen, Panzern und U-Booten, der bei fortschrittlicheren Autoren wie selbst Jacques die Sprache der Gewalt und Versehrung erweiterte, der Eingang in Ehrlers Textwelt verwehrt war. In einem Artikel Den deutschen Tauchboten, der 1916 in der Kriegszeitung der 7. Armee erschien, konnte Ehrler in einem der technologisch fortgeschrittensten Kriegsgeräte nur Undinen und fliegende Holländer sehen: „Kinder der neuen Romantik, Wundergeschöpfe“, „Beheimatete des Uferlosen“ und „Wirklichkeit gewordene Gespensterschiffe“.102 Die profane „Sinnlosigkeit eines wahnsinnigen Geschehens“103 ließ sich für ihn nicht bellizistisch, wohl aber durch die bildschweren Semantiken von Sintflut, Prüfung, Opfer und kommendem Heil verklären. Darin blieb er dem von ihm bewunderten Renouveau catholique-Autor Emil Verhaeren verbunden, der sich inzwischen jedoch in einen belgischen Nationaldichter verwandelt hatte und Deutschland als den Antichristen bekämpfte.104 Die begütigenden Töne von Ehrlers Ode An Flämisch-Belgien versuchten auf die katholisch-abendländische Gemeinsamkeit Rücksicht zu nehmen, indem Belgien als erwähltes Opferlamm für den ewigen Frieden stilisiert wurde.105 Von dieser Art des Trostes, in der Gewalt einen höheren, opfer- und leidenstheologischen Sinn zu sehen, spendete Ehrler auch in seiner Ende 1915 monografisch publizierten Gedichtfolge für Kriegerwitwen, Die Liebe leidet keinen Tod. Ein „Tröster, Helfer und 101 Hans Heinrich Ehrler: An die deutschen Feldherren. In: Frankfurter Zeitung, 27. August 1915. – Zur religiösen Ikonografie um Hindenburg grundsätzlich, aber ohne Belege von Papstvergleichen Jesko von Hoegen: Der Held von Tannenberg. Genese und Funktion des Hindenburg-Mythos. Köln 2007, S. 99 ff. – Zur Anpassung religiöser Ideen und Formen an das nationalistische Denken im Ersten Weltkrieg vgl. Roland Haidl: Ausbruch aus dem Ghetto? Katholizismus im deutschen Heer 1914–1918. In: „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Hg. v. Gerd Krumeich u. Hartmut Lehmann. Göttingen 2000, S. 263–272, Thomas Schulte-Umberg: Berlin – Rom – Verdun. Überlegungen zum Verhältnis von Ultramontanismus und Nation. In: Religion und Nation / Nation und Religion. Beiträge zu einer unbewältigten Geschichte. Hg. v. Michael Geyer u. Hartmut Lehmann. Göttingen 2004, S. 117– 140, Thomas Rohkrämer: Ideenkrieg: Sinnstiftung des Sinnlosen? In: Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Hg. v. Niels Werber, Stefan Kaufmann u. Lars Koch. Stuttgart, Weimar 2014, S. 385–409, hier S. 385 f. u. S. 402 ff., sowie ders.: Der Militarismus der „kleinen Leute“, S. 206 ff. 102 Hans Heinrich Ehrler: Den deutschen Tauchboten. In: Kriegszeitung der 7. Armee, 11. März 1916. 103 Friedrich Muckermann: Vom Rätsel der Zeit. Gedanken zur Reichsidee. München 1933, S. 171, mit kritischem Bezug unter anderem auf Wehner. 104 Vgl. Geert Buelens: Europas Dichter und der Erste Weltkrieg. Übers. v. Waltraud Hüsmert. Berlin 2014, S. 87 u. S. 158 f. 105 Ehrler: An Flämisch-Belgien.
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Förderer“ beim „Niederkämpfen des Leides“ zu sein, war die erbauliche Funktion dieses Bandes, aus dem mehrere Stücke in die Anthologie Deutschlands Dichter von 1917 eingingen.106 „Das ist die einzige Art von Kriegslyrik, die sich auch heute noch ertragen läßt“, urteilte Das literarische Echo 1919 über diese lyrische Laienseelsorge, die Frauen – entgegen deren faktischer Mobilisierung für die Kriegswirtschaft – nur als Liebende, Pflegende und Trauernde am häuslichen Herd ins Bild brachte.107 Ehrlers Kriegsschriften wie An die deutschen Feldherren, An FlämischBelgien und Die Liebe leidet keinen Tod stießen in ein mit der Grenzerfahrung des Ersten Weltkriegs geöffnetes Orientierungsvakuum und trugen an einschlägigen Stellen zum ‚religiösen Wiedererwachen‘ der Zeit bei. In ihnen wurden katholische Denk- und Deutungsmuster von Stellvertretung, Selbstverleugnung und Opfer für den Nationalismus wirksam gemacht, genauer, wie im Folgenden zu zeigen ist, für einen spezifisch deutschen Ethnonationalismus. Die Grundidee dieses durch den Weltkrieg forcierten Ethnonationalismus lautete, dass Deutschland als eine ‚Nation von Heimaten und Heimatmenschen‘ weniger aus seiner Staatlichkeit als aus seinen ‚Stämmen‘ lebe, dass die Regeneration des Ganzen daher von der Pflege des Regionalen zu erwarten sei. „Die ‚Heimatarbeit‘ avancierte“, so fasst Martina Steber zusammen, „zur Speerspitze im Kampf des ‚Kulturkrieges‘“.108 Für das 1916 erschienene Kriegsheft des Bundes für Heimatschutz in Württemberg und Hohenzollern steuerte Ehrler den programmatischen Text Der Bund bei, der zeitgleich unter anderem in der Zeitschrift des Vereins „Badische Heimat“, Mein Heimatland. Badische Blätter für Volkskunde, ländliche Wohlfahrtspflege, Heimat- und Denkmalschutz, abgedruckt wurde. Mit dem Titelstichwort vom ‚Bund‘ waren sowohl der Heimatschutzbund als auch die Einheit der deutschen ‚Stämme‘ angesprochen. Dabei wollte der Propagandist des Stuttgarter Kriegsministeriums den Soldaten der deutschen Armee zugerufen haben: bl e i bt w i e i h r s e i d , Far b e u n d Vi e l f ä lt i g ke it [ … ] , bl e i bt S t ä m m e u n d L a n d s m a n n s c h a f t e n , j e g l i c h e r, w o e r a u c h m a r s c h i e r e , u n t e r d e r g e h e i m e n F a h n e d e r H e i m a t ! Ihr könnt in keiner Weise bessere Deutsche sein, in keiner stärkeren Hand die Reichssturmfahne tragen! […] Es gibt keinen d e u t s c h e r e n G e d a n k e n , als den der
106 Ernst Krauß: Geleitwort. In: Deutschlands Dichter. Neuzeitliche deutsche Lyrik. Mit 65 Dichterbildern und biographischen Notizen. Hg. v. dems. Leipzig 1917, S. 99; vgl. die biographische Notiz zu Ehrler hier S. 78 u. die Gedichte S. 187–189. 107 Krauss: Hans Heinrich Ehrler, Sp. 709. 108 Steber: Ethnische Gewissheiten, S. 89.
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freien Bünde. […] wer hineinsieht, wie durch den Wechsel die Einheit gewinnt, der will die Teilung nie mehr missen. Es ist die fruchtbare Spaltung der Keime.109
Während der Zentralismus der Kriegsdiktatur den Regionalismus einschließlich der Reservatrechte des württembergischen Armeekorps faktisch abbaute, mühte man sich hier in gefährlichen Bildern (‚geheime Fahne‘, ‚Spaltung der Keime‘) mit defensiven Begründungen, warum die innerdeutsche Diversität einen siegreichen ‚Reichssturm‘ entfachen könne. Eine gegenüber dem Heimatschutzbund sicherlich bedeutendere Instanz bei der hier vorliegenden „Nationalisierung des Regionalen“110 war das 1903 eröffnete Schillermuseum auf der Marbacher Schillerhöhe. Den Erinnerungen des Gründungsdirektors Otto von Güntter zufolge sind gerade während des Krieges Besucher „aus allen Teilen des Reiches“111 in das Museum geströmt. Ehrler hat seit 1914 mehrfach Lesungen im Schillermuseum abgehalten, gehörte dem Schillerverein, dem Träger des Museums, seit April 1918 als „korrespondierendes Mitglied“ an, bewarb die Tätigkeit von Verein und Museum unter anderem in einem Artikel für die Hamburger Zeitung von 1920 und hielt 1928 die Festrede zu Güntters 70. Geburtstag.112 Güntter hat sich seinerseits wiederholt auf Ehrler bezogen.113 Die wesentliche Kriegspublikation aus diesem Kreis war das von Güntter 1916 herausgegebene Haus- und Feldbuch schwäbischer Erzähler mit Beiträgen unter anderem von Ludwig Finckh, Bruno Frank und Hermann Hesse. Im Stile des Ethnonationalismus war dies kein Unternehmen ‚von Schwaben für Schwaben‘, vielmehr sah Güntter es generell „für das deutsche Volk“ vor, das „im schweren Kampfe“ stehe. In seinen Erinnerungen Mein Lebenswerk schrieb er 1948: „In großer Anzahl wurde das ‚Haus- und Feldbuch schwäbischer Erzähler‘, das ich 1916 herausgab, unent-
109 Ehrler: Der Bund, S. 95 f. (Hervorhebungen im Original). Zu den diversen Metaphern für das deutsche ‚Multiversum‘ vgl. bes. Kemp: Das Deutschlandbild der Deutschen, S. 26–30 („Deutschland, ein Multiversum“) u. S. 31–33 („Vielfalt entfalten“), anhand von Württemberg auch Confino: The Nation as a Local Metaphor, S. 125 f. („A Thousand German Heimats“). 110 Steber: Ethnische Gewissheiten, S. 164. 111 Otto Güntter: Mein Lebenswerk. Stuttgart 1948, S. 51. 112 Vgl. Schwäbischer Schillerverein (Hg.): Vierundzwanzigster Rechenschaftsbericht. Stuttgart 1920, S. 83, ders. (Hg.): Neunundzwanzigster und dreißigster Rechenschaftsbericht. Stuttgart 1926, S. 6 u. 34, ders. (Hg.): Einunddreißigster Rechenschaftsbericht. Stuttgart 1927, S. 33, sowie ders. (Hg.): Zweiunddreißigster Rechenschaftsbericht. Stuttgart 1928, S. 34 f. 113 Vgl. Otto Güntter: Das Schiller-Nationalmuseum in Marbach. Stuttgart 1935, S. 26, sowie ders.: Mein Lebenswerk, S. 69 u.ö.
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geltlich an Lazarette, Truppenteile und Einheiten der deutschen Flotte gegeben.“114 An einem im Verlag des Schwäbischen Schillervereins bereits 1911 erschienenen, ebenfalls von Güntter herausgegebenen Hausbuch schwäbischer Erzähler hatte Ehrler noch keinen Anteil. Nun erhielt der literarische Newcomer das Vorwort, Vorwort der Dichter, die vom Krieg erzählen betitelt, und den ersten Beitrag, Die Heimkehr des Blinden. Das Vorwort bemüht sich um eine Legitimation des Erzählens vom Krieg, indem das Verhältnis von Schreibtischarbeit und Soldatensterben als bedenklich eingeräumt wird: „Wir erzählen, während die Welt brennt; indes Hunderttausenden der letzte Seufzer entflieht, fügen wir Worte zusammen zu Geschichten; ein paar von uns setzen sich im Waffenrock zu dem stillen Tun hin; vielleicht bersten die Granaten um das Gehäus ihrer Phantasie.“115 Ehrler zeigte sich hier skeptisch gegenüber dem Versuch, das Kriegsgeschehen und Kriegserleben als solche zu schildern. Zwar sprach er obligatorisch vom „Heldentum“ des Soldaten, wollte aber nicht den Krieg verherrlicht und die Front imaginiert haben, sondern auf die Heimkehr und den Frieden in einer ständisch-agrarromantisch restaurierten Gesellschaft vorbereiten: „Der ererbte Boden unseres Lebens wie unserer Liebe blieb unberührt, die Krieger werden darauf wieder Bauern und Bauleute sein.“ Nur unter dieser Prämisse dürften Dichter vom Krieg erzählen. Dichtung soll „aus dem Wirrsal in den Frieden“ führen und eine Blume „aus dem Garten des Trostes“ reichen.116 Ehrlers Erzählung von einem Kriegsversehrten, Die Heimkehr des Blinden, führt das Modell vor, und zwar ganz im Kontrast zu den Mustern, mit denen die eigentlich kriegskritische Literatur die Figuren von Versehrten als Antihelden einsetzte.117 Das Leiden macht den Menschen geistiger, empfindsamer, moralischer. Die Blindheit stellt ihn in ein neues, nach innen gewandtes Leben. Innerhalb der Welt lebt er bereits in der Überwirklichkeit der göttlichen Urbilder.118 Oder wie Ehrler es in knapper Form für den Kranken in seiner Erzählung Elisabeths Opferung von 1924 formuliert hat: „Die Augen, welche hinübergeschaut hatten ins andere Reich, waren anders, größer, übersichtig geworden.“119 Nicht diese spezielle Wendung zur visionären 114 Güntter: Mein Lebenswerk, S. 51. Zu dieser Art von literarischen ‚Heimatgrüßen‘ an die Front vgl. Applegate: A Nation of Provincials, S. 108 ff. 115 Hans Heinrich Ehrler: Vorwort der Dichter, die vom Krieg erzählen. In: Haus- und Feldbuch schwäbischer Erzähler. Hg. v. Otto Güntter. Stuttgart 1916, S. VII f. 116 Ehrler: Vorwort der Dichter, die vom Krieg erzählen, S. VII f. 117 Vgl. hierzu Lehmann: Imaginäre Schlachtfelder, S. 68 ff. 118 Vgl. Hans Heinrich Ehrler: Die Heimkehr des Blinden. In: Haus- und Feldbuch schwäbischer Erzähler. Hg. v. Otto Güntter. Stuttgart 1916, S. 1–14. 119 Ehrler: Elisabeths Opferung, S. 4.
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‚Übersichtigkeit‘, aber das überharmonische Rückkehrszenario selbst lag durchaus im Sinn der politischen Lenkung der Frontlektüre: Die Verbindung der Soldaten zum Zivilleben sollte jederzeit aufrechterhalten werden, um die soziale Reintegrierbarkeit der Truppe und ihre Solidarität mit dem Hinterland nicht zu gefährden.120 Ehrlers Vorwort und Erzählung im Haus- und Feldbuch berücksichtigen darüber hinaus auch die Warnung, die Hermann Hesse in seinem an die reichsdeutschen Schriftsteller und Künstler gerichteten Appell O Freunde, nicht diese Töne! in der Neuen Zürcher Zeitung vom 3. November 1914 ausgesprochen hatte. Von einer Stuttgart-Reise im Oktober 1914 war Hesse mit Entsetzen über die dort gesehenen Verwundungen und gehörten Kriegsgeschichten in die Schweiz zurückgekehrt.121 Nun schrieb er über die kulturelle Dimension der europäischen Auseinandersetzung: Wer den Krieg „ins Reich des Geistes hinübertragen“, am Schreibtisch blutige Schlachten schlagen und den Völkerhass schüren wolle, vergehe sich an der „abendländisch-christliche[n] Gesittung“ und an der Verpflichtung des Künstlers auf die Idee der Menschenliebe.122 Hesse führte seine pazifistische Position auch in das Haus- und Feldbuch ein. In diesem großen Krieg, so Hesse in seinem Beitrag Zum Gedächtnis, tobe sich der „fatale Geist der Welt“ aus, der „unsrer Seele fremd“ sei.123 Ehrlers Anteil an dem ethnonationalen Buchprojekt stand damit insofern in Einklang, als der Freiburger Autor der literarischen Kriegsfantasie mit Skepsis begegnete und sich wie Hesse die vertiefte Erkenntnis vom Krieg erwartete, dass „Liebe höher sei als Haß“124. Über diese Liebesmetaphysik ist Hesse in den weiteren Kriegsjahren durch seine Beschäftigung mit der Psychoanalyse hinausgekommen, die ihn den Krieg nicht als Fremdes, sondern als Eigenes der gestörten Seele sehen lehrte.125 Ehrler, hierin gewissermaßen in seinem franziskanischen Optimismus aufgehoben, sah zwar Probleme des ‚Heils‘ oder 120 Vgl. Siegfried Lokatis: Der militarisierte Buchhandel im Ersten Weltkrieg. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Börsenverein des Deutschen Buchhandels / Historische Kommission. Bd. 1: Das Kaiserreich 1871–1918. Tl. 3. Berlin, New York 2010, S. 444–469, hier S. 457 ff. Zum kirchlichen Einfluss auf die Frontlektüre vgl. Haidl: Katholizismus im deutschen Heer, S. 263 u. S. 271 ff. 121 Vgl. Theodor Ziolkowski: Spiegel der gestörten Psyche. Hermann Hesse und der Erste Weltkrieg. In: Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne. Hg. v. Uwe Schneider u. Andreas Schumann. Würzburg 2000, S. 209–228, hier S. 212. 122 Hermann Hesse: O Freunde, nicht diese Töne! In: ders.: Die politischen Schriften. Eine Dokumentation. Hg. v. Volker Michels. Frankfurt/M. 2004 (= Sämtliche Werke, Bd. 15), S. 10–18. 123 Hermann Hesse: Zum Gedächtnis. In: Haus- und Feldbuch schwäbischer Erzähler. Hg. v. Otto Güntter. Stuttgart 1916, S. 58–72, hier S. 58, wieder in ders.: Autobiographische Schriften II. Selbstzeugnisse, Erinnerungen, Gedenkblätter und Rundbriefe. Hg. v. Volker Michels. Frankfurt/M. 2003 (= Sämtliche Werke, Bd. 12), S. 297–307. 124 Hesse: O Freunde, nicht diese Töne!, S. 14. 125 Vgl. Ziolkowski: Hermann Hesse und der Erste Weltkrieg, S. 220 ff.
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der ‚Heimatlosigkeit‘ der ‚Seele‘, die ihm als solche aber der unsichtbare göttliche Funke aller Kreatur in unterschiedlicher Konzentration und damit das Medium der All-Liebe blieb. Theoretisch trennte ihn das vom völkischen Rassismus, wofür seine Freundschaft mit Jacob Picard zur Probe wurde.
3. „Der Vortrupp der Versöhnung“: Ehrlers An einen Juden und Picards An einen Deutschen 1917
Einen eigenen Kommentar innerhalb der Kriegsschriften verlangt Ehrlers Navigation im Beziehungs- und Spannungsfeld von Christentum und Judentum. Wie gesehen (Kap. III.4), gingen die für den Zeitraum von 1931 bis 1937 überlieferten Privatbriefe Picards an Ehrler in ihrer eigenen Semantik zunehmend von einem ‚Juden‘ an einen ‚Deutschen‘. Die Vokabeln fielen so nicht, standen aber, wie die Beteiligten sehr gut wussten, zwischen ihnen. Denn die oben berührten Schwierigkeiten mit dem ‚Unser‘, wen es und auf welcher Grundlage umfasse, gingen auf Problemlagen des Kaiserreichs zurück, die Picard und Ehrler bereits in einem publizistischen Dialog des Jahres 1917 diskutierten: in einem Wechsel Offener Briefe unter den reziproken Titeln An einen Juden und An einen Deutschen. Auf dieses Ereignis dürfte die zwischenzeitliche Entfremdung zu datieren sein, die Picard Anfang der 1930er Jahre zu überbrücken versucht hat. Die nationale Identität des Deutschen Kaiserreichs ging, dessen zentraler Stiftungslegende zufolge, auf die hohe geistige Kultur zurück, die neben Werken wie Wallenstein, Faust und Hyperion eben auch das Reich erschaffen haben soll. In Ehrlers Worten über das ‚Innere Reich‘: Aus dem Geist wurde Deutschland geboren. […] Um den Stern Schillers wuchs der Inbegriff durch das Jahrhundert herauf. Das stillere Licht Goethes wärmte das Erdreich unseres Wesens und die Romantik wurde zur Atemwelle der Beseelung. […] Aus dem Geist und aus der Idee wird es wieder geboren werden. Das ist mein Glaube, welchen mir die Zuflucht in das ‚Reich‘ gegeben hat.126
126 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 125. Vgl. Peter Sprengel: Von Luther zu Bismarck. Kulturkampf und nationale Identität bei Theodor Fontane, Conrad Ferdinand Meyer und Gerhart Hauptmann. Bielefeld 1999, S. 7 ff., sowie Langewiesche: Reich, Nation, Föderation, S. 218 ff. Zum Bildungsnationalismus als Konvergenz von „discourses on the national spirit and soul of literature“ vgl. auch Lee M. Roberts: Literary Nationalism in German and Japanese Germanistik. New York 2010, S. 201.
3. „Der Vortrupp der Versöhnung“ | 243
Der antikatholische Kulturkampf von 1871 bis 1878 und der fast unmittelbar anschließende Berliner Antisemitismusstreit von 1879 bis 1881 offenbarten das Konfliktpotential, das in der näheren Bestimmung des beschworenen Nationalgeistes und der Integration vornationaler Kulturelemente in die nationalistische Staats- und Gesellschaftsorganisation lag.127 Der Große Krieg, der im sozialliberalen Lager wie im katholischen Milieu als Chance der inneren Reichseinigung begriffen wurde, ließ diese Identitätsfragen kulminieren. Ein wichtiges Symptom dafür war, dass die Reichsregierung zum 1. November 1916 dem antisemitischen Vorwurf der nationalen Unzuverlässigkeit mit einer amtlichen ‚Judenzählung‘ nachgab: Die Frage „Wieviel Personen jüdischen Stammes stehen an der Front?“128 wurde damit als berechtigt und klärungsbedürftig eingeräumt, die ‚Personen jüdischen Stammes‘ in dieser Formulierung schon nicht mehr direkt als Deutsche angesprochen, sondern mit dem ethnonationalistischen Modell als Gruppe, die wie andere ‚Stämme‘ zur deutschen, ethnisch gefächerten Sondernation gehören konnten – oder auch nicht. Obwohl der Ausdruck ‚Stamm‘ potentiell eine „nationale Integrationsvokabel“129 betraf, die im Berliner Antisemitismusstreit von der anti-antisemitischen Seite fiel und tatsächlich auch von Picard benutzt wurde, obwohl der führende Zentrumspolitiker Matthias Erzberger die Kategorie ‚Konfession‘, also weder ‚Stamm‘ noch ‚Rasse‘, geprüft haben wollte, bediente die inquisitorische ‚Judenzählung‘ das antisemitische Bild vom ‚Drückeberger‘ in erheblichem Ausmaß.130 Die Ideenwende vom kaiserlichen ‚Ich kenne nur Deutsche‘ zur Ausgrenzung derer, die den vermeintlich längst fälligen, für 1915 definitiv erwarteten Sieg verzögert haben mussten, war darin vollzogen.131 127 Vgl. Keith Pickus: Native Born Strangers. Jews, Catholics and the German Nation. In: Religion und Nation / Nation und Religion. Beiträge zu einer unbewältigten Geschichte. Hg. v. Michael Geyer u. Hartmut Lehmann. Göttingen 2004, S. 141–156. 128 So der Wortlaut in der Eingabe des Reichstagsabgeordneten Ferdinand Werner (Deutschvölkische Partei) vom 17. Juni 1916, zit. n. Jacob Rosenthal: „Die Ehre des jüdischen Soldaten“. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen. Frankfurt/M. 2007, S. 52. 129 Matthias Hambrock: Die Etablierung der Außenseiter. Der Verband Nationaldeutscher Juden 1921–1935. Köln, Wien u.a. 2003, S. 57. Vgl. auch Michael Brenner: Religion, Nation oder Stamm. Zum Wandel der Selbstdefinition unter deutschen Juden. In: Nation und Religion in der deutschen Geschichte. Hg. v. Heinz-Gerhard Haupt u. Dieter Langewiesche. Frankfurt/M., New York 2001, S. 587–601. 130 Vgl. Rosenthal: Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg, S. 54 ff. (zur Haltung Erzbergers), S. 63 ff. (zum Erlass des Kriegsministeriums) u. S. 156 ff. (zur ‚Drückeberger‘-Diskussion), sowie Volker Ullrich: „Der Drückeberger“. In: Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus, Vorurteile und Mythen. Hg. v. Julius H. Schoeps u. Joachim Schlör. Augsburg 1999, S. 210–217. 131 Vgl. Steffen Bruendel: Zeitenwende 1914. Künstler, Dichter und Denker im Ersten Weltkrieg. München 2014, S. 75 ff. (zur Einheitssemantik), S. 135 ff. u. S. 183 ff. (zu Ideenwende und Aus-
244 | IV. Vom Kulturkrieg zum Katechon
Heuss hatte sich in einem ungezeichneten Artikel der Heilbronner Neckar-Zeitung vom 6. November scharf und grundsätzlich gegen den „Judenzensus“ ausgesprochen: Er kritisierte die Maßnahme als einen „Tiefstand […] unbeschäftigter Köpfe“, durch den sich die „Gemeinheit antisemitischer Treibereien“ an die Öffentlichkeit wagen dürfe. Offenbar gäbe es, so der Chefredakteur, „immer noch zahlreiche Leute, die keine nützlichere Arbeit wissen, als nachzuzählen, ob für ihren Bedarf nicht zu viel Juden hinter der Feuerlinie“ stünden. Die „Heuchelei“ der Behauptungen von jüdischer Drückebergerei und Kriegsgewinnlerei müssten „einem christlichen Gewissen unerträglich“ sein; „unseren Kindern wird einstweilen immer noch das kriegerische Heldentum von David, Simson und den Makkabäern eingebläut, die schließlich doch auch – Juden waren“.132 In einem Privatbrief der Zeit unterstrich Heuss, dass dieser „volkstümlichen Ungerechtigkeit und Gedankenlosigkeit schroff entgegenzutreten“ sei, er beklagte aber auch, dass er mit seinem kritischen Vorstoß weitgehend isoliert in der journalistischen Landschaft stünde: „Mir schien es nötig, daß wenigstens ein Journalist soviel ‚Zivilcourage‘ u. praktisches Christentum aufbringen mußte.“133 Ehrler leistete so auch seinem Freund Heuss Schützenhilfe, als er zum Februar 1917 seinen Offenen Brief An einen Juden in den Süddeutschen Monatsheften lancierte. Die Monatshefte, in denen Ehrler hier nicht zum ersten Mal publizierte,134 waren ihrem Profil als literarischpolitischer Revue süddeutscher Prägung nach mit dem März vergleichbar, nach ihrer Auflagenstärke (bis zu 100.000 Exemplaren) diesem aber weit überlegen. Zu den regelmäßigen Beiträgern zählten unter den Schriftstellern zunächst Ludwig Ganghofer, Paul Heyse und Ludwig Thoma. Der personelle Tauschverkehr mit den Münchner Magazinen März und Simplicissimus, für die Ehrler ohnehin regelmäßig geschrieben hatte, war rege. Der Herausgeber Paul Nikolaus Cossmann, grenzungen). Zur ‚Judenzählung‘ als Wendepunkt in der deutsch-jüdischen Emanzipationsgeschichte auch Bruendel: Mobilmachungen und Desillusionierungen, S. 303 f. 132 Theodor Heuss: [ohne Titel, Kommentar zur „Judenzählung“]. In: Neckar-Zeitung, 6. November 1916. 133 Theodor Heuss an Eberhard Goes, 14. November 1916. In: ders.: Aufbruch im Kaiserreich. Briefe 1892–1917. Hg. v. Frieder Günther. München 2007 (= Stuttgarter Ausgabe. Briefe, Bd. 1), Nr. 207. Vgl. knapp dazu Günther: Einführung. Der junge Theodor Heuss, S. 32 f. – Tatsächlich gab es Kritik an der ‚Judenzählung‘ auch an anderen Stellen, so in der Frankfurter Zeitung. Vgl. Rosenthal: Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg, S. 56 f., und Müller: Die Nation als Waffe und Vorstellung, S. 140 ff. Zur eher verhaltenen Reaktion in den zionistischen Organen vgl. Eva Edelmann-Ohler: Sprache des Krieges. Deutungen des Ersten Weltkriegs in zionistischer Publizistik und Literatur (1914–1918). Berlin, Boston 2014, S. 235 ff. 134 Vgl. z.B. Hans Heinrich Ehrler: Der Hof des Patrizierhauses. In: Süddeutsche Monatshefte 8 (1911), S. 549–565.
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deutsch-nationaler, 1905 konvertierter Katholik jüdischer Herkunft, beabsichtigte, mit seiner jungkonservativ geprägten Zeitschrift „einen Weg in die Zukunft“ unter der Maßgabe „nationalpolitischer Aufklärung“ zu weisen. Dafür befanden er bzw. sein langjähriger Schriftleiter Josef Hofmiller noch im September 1931 in Vorschau auf den kommenden (28.) Jahrgang neben christlich-nationalkonservativen Autoren wie Mechow, Schröder, Wehner und Wiechert ausdrücklich auch Ehrler für tauglich. Cossmann bezeichnete „die Juden in manchem für die Deutschen als vorbildhaft“, namentlich in der „innere[n] Einheit“ angesichts von Verfolgung und Bedrängung.135 Im katholischen Bekenntnis sah er nicht den geringsten Widerspruch zum Judentum, im Gegenteil, da ja „die Juden, unter denen der Heiland und seine Jünger geboren wurden, an erster Stelle berufen waren, das Christentum aufzunehmen und auszubreiten“.136 Gleichzeitig beklagte und bekämpfte Cossmann eine aus seiner Sicht bedeutende antinationale Richtung im jüdischen Kulturleben des Reichs. Er öffnete sein Publikumsorgan wiederholt für antisemitische Manifeste bis hin zu Ernst Jüngers radikalem Theorieelaborat Über Nationalismus und Judenfrage (1930), in dem sich nicht allein die elementare Unvereinbarkeit von Deutschtum und Judentum postuliert findet,137 sondern auch die konfessionelle Anpassung des konservativen süddeutschen Judentums als „katholische Farce“ bezeichnet wird.138 Für den Weltkrieg stellte sich Cossmann hinter den Versuch einer evangelisch-katholisch-jüdischen ‚Einheitsfront‘. Das Februarheft 1916 der Süddeutschen Monatshefte widmete er dem Thema „Ostjuden“. Es beginnt mit der Mahnung: „Die Zeit ist ernst genug, daß Philosemiten und Antisemiten ihren Gefühlen einigen Zwang antun und sich zu einer ruhigen Aussprache entschließen 135 Wolfram Selig: Paul Nikolaus Cossmann und die Süddeutschen Monatshefte von 1914–1918. Ein Beitrag zur Geschichte der nationalen Publizistik im Ersten Weltkrieg. Osnabrück 1967, S. 66. Zu Cossmann als „strange phenomenon“ eines „Jewish anti-Semite“ vgl. Donald L. Niewyk: The Jews in Weimar Germany. 2. Aufl. New Brunswick 2001, S. 99, zum selben dagegen als publizistischem Temperament, das „scharfe Kontroversen [liebte]“, Helmuth Kiesel: Ernst Jünger. Die Biographie. München 2009, S. 313. – Zum Profil der Zeitschrift vor allem HansChristof Kraus: Kulturkonservatismus und Dolchstoßlegende. Die Süddeutschen Monatshefte 1904–1936. In: Konservative Zeitschriften zwischen Kaiserreich und Diktatur. Fünf Fallstudien. Hg. v. dems. Berlin 2003, S. 13–44, ferner Pross: Literatur und Politik, S. 70 ff. 136 [Anon.]: Die Judenfrage. Vorwort der Schriftleitung. In: Süddeutsche Monatshefte 27 (1929/30), S. 801. 137 Vgl. Ernst Jünger: Über Nationalismus und Judenfrage. In: Süddeutsche Monatshefte 27 (1930), S. 843–845, hier S. 845: „Die Erkenntnis und Verwirklichung der eigentümlichen deutschen Gestalt scheidet die Gestalt des Juden ebenso sichtbar und deutlich von sich ab, wie das klare und unbewegte Wasser das Öl als eine besondere Schicht sichtbar macht.“ 138 Jünger: Über Nationalismus und Judenfrage, S. 843.
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können.“139 Dabei wurde Ehrlers Beitrag offenbar auf der ‚philosemitischen‘ Seite verortet, was im Folgenden zu problematisieren ist. Ehrler argumentierte in An einen Juden einerseits anti-antisemitisch, indem er sich gegen die sittliche Rohheit des Antisemitismus aussprach. Andererseits versuchte er, mit scheinbar philosemitischen Argumenten in die Offensive zu gehen. Der im Sold des württembergischen Kriegsministeriums stehende Propagandist bewegte sich damit in der schmalen Strömung des sozialliberalen Philosemitismus, der jedoch von erheblichen Ambivalenzen bestimmt war.140 Von Liebe – wie in Heuss’ einschlägigen Stellungnahmen, die in der Ansprache Mut zur Liebe (1949) gipfelten141 – ist in dem Text vielfach die Rede, mit „Lieber Jakob!“ angefangen und mit „lieber Freund!“ endend.142 Ehrler unterzeichnete den Brief mit eigenem vollem Namen und machte es, indem er auf Picards Bodenseebuch Das Ufer anspielte, den literarisch interessierten Lesern auch sonst nicht schwer, den Adressaten zu identifizieren. Picard hatte sich im August 1914 als Kriegsfreiwilliger gemeldet und erhielt bereits im Oktober 1914 – „vom Regimentskommandeur persönlich“, wie er in der Erinnerung eigenen Lebens zufrieden schrieb143 – das Eiserne Kreuz. „Du hast Dir das Eiserne Kreuz geholt […]. So gehörst Du dem deutschen Vaterland wie nur irgend einer“,144 damit bezog sich Ehrler auf diesen Umstand und exponierte das Thema der nationalen Identität. Es folgt eine kleine dramatische Szene, in der die Figur Ehrlers die Hauptrolle dabei spielt, die Ehre der jüdischen Soldaten und Bürger verteidigen zu wollen. In einem Gasthaus sitzend, muss der Freund Picards antisemitische Gespräche des benachbarten Stammtischs mit anhören, durch die er sich „grob gestört“ fühlt. Schimpfliches von Juden. Von einem polnischen Schnapshändler, der deutschen Soldaten Methylalkohol verkaufte und ihrer elf tödlich vergiftete, von ostpreußischen Viehhändlern, denen das Militärkommando ihr Bauern bewucherndes Geschäft einstellte, von Goldaufkäufern und von englischen Lords, deren Wiegen 139 Zit. n. Kraus: Kulturkonservatismus und Dolchstoßlegende, S. 35. 140 Unter Bezug vor allem auf die protestantische Mission und den Pazifismus vgl. Michael Brenner: „Gott schütze uns vor unseren Freunden“. Zur Ambivalenz des Philosemitismus im Kaiserreich. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 2 (1993), S. 174–199, zu Problemen des literarischen Philosemitismus vgl. Alan T. Levenson: Between Philosemitism and Antisemitism. Defenses of Jews and Judaism in Germany 1871–1932. Lincoln 2004, S. 45–63. 141 Vgl. Theodor Heuss: Mut zur Liebe. In: ders.: Politiker und Publizist. Aufsätze und Reden. Hg. v. Martin Vogt. Tübingen 1984, S. 381–386. 142 Hans Heinrich Ehrler: An einen Juden. In: Süddeutsche Monatshefte 14 (1917), S. 599–602. 143 Picard: Erinnerung eigenen Lebens, S. 239. 144 Ehrler: An einen Juden, S. 599. Zum Thema des „E. K.“ vgl. auch Ehrler: Das „Eiserne“.
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in deutschen Judengassen standen, die indes heut an der ja schon missglückten Verderbung Deutschlands ihren wetteifernden Ehrgeiz aufwenden.145
Ehrler, genauer seine Figur, erblickt sich an der Heimatfront und beginnt – ganz wie Heuss, der sich in seinem Artikel auf das „[unerträgliche] Stammtischgerede“146 bezog –, um die Hoheit über die Stammtische zu kämpfen. An die Nachbartische gewendet, spricht er sich gegen derartige Verhetzungen aus, weist sie als „ungeheuerliche Verallgemeinerung“ und grobe Feindseligkeit zurück, die die Betroffenen „schmerzhaft empfinden“. Man habe ihm, versichert er Picard, zugehört, „ein Teil“ beigestimmt. Ehrlers erzähltes Ich zieht sich darauf an den Schreibtisch zurück und unternimmt es nun von dort, gegen den Antisemitismus mobilzumachen. Er diskreditiert die Krakeeler, die „extra Eingeweihten“, die den „Profit des ganzen Weltbrandes“ dem „Judenkapital“ zuschlagen, bedauert aber auch den im Punkt des Antisemitismus „roh gezimmerten Unverstand“ in „unserem Bürgertum“.147 Somit versuchte der Autor Ehrler nicht etwa, antisemitische Strömungen für außerbürgerlich oder gesellschaftsunfähig zu erklären, konfrontierte sich vielmehr damit, dass sie mitten durch sein geliebtes Landbürgertum zogen.148 In einem zweiten rhetorischen Bogen folgen die philosemitischen Argumente, die aus einer geschichtlichen Topik von der Antike bis zur Kriegsgegenwart gezogen sind und sich in eine politisch-soziale und eine literaturhistorische Rubrik unterteilen. Politisch-sozial setzt Ehrler beim biblischen Israel an, das überhaupt die erste eigentliche Nation gewesen sei: „das geschlossenste Volk bürgerlicher Gemeinschaft“, dessen „Glaubensschrift […] das religiöse Grundbuch der Welt geworden“ sei. Es folgt der Hinweis auf den jüdischen Beitrag zum deutschen Wohlstand: „Geh’ in ein paar große Städte, in denen der Jude mitschafft. Nirgends zeigt sich Wohlfahrt und Fürsorge so großzügig und vielfältig durchgliedert wie dort; nirgends finden auch Wissenschaft und Kunst so reich begründete Heimstädten.“ Schließlich spricht Ehrler den „starken politischen Willen“ im deutschen Judentum an, allerdings nicht, um auf den Zionismus einzugehen, sondern auf den sozialdemokratischen Reformismus, d.h. die Perspektive einer Kooperation zwischen 145 Ehrler: An einen Juden, S. 599. 146 Heuss an Goes, 14. November 1916 (Stuttgarter Ausgabe). 147 Ehrler: An einen Juden, S. 599 f. 148 Zum bürgerlichen Antisemitismus zusammenfassend vgl. Wolfgang Benz: Was ist Antisemitismus? München 2004, bes. S. 100 ff.; zu den genannten Vorwürfen im Einzelnen vgl. Ullrich: „Der Drückeberger“, sowie Jan-Philipp Pomplun: Kriegs- und Krisengewinnler. In: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Wolfgang Benz. Bd. 3: Begriffe, Theorien, Ideologien. Berlin, New York 2010, S. 181 f.
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dem rechten Flügel der Sozialdemokratie und den Linksliberalen.149 Als exemplum virtutis dafür wird – wie auch bei Heuss und in Picards Erinnerung eigenen Lebens150 – der jüdische SPD-Politiker Ludwig Frank angeführt: ein „Prediger staatlicher Freiheit und deutscher Kultur“, der „dem Boden jüdischen Kleinbürgertums entstammend [...] wirklich […] im Volkstum [gewurzelt]“ habe: „wie erzählte er von Heimat und Jugend! Und hatte immer das markig Aufrechte, Grade der Leute, die vom Schwarzwald kommen.“151 Frank figuriert hierbei nicht allein als Vertreter des Reformismus, sondern als badischer Landsmann und aufopferungsbereiter deutscher Patriot wie Picard. Der Mannheimer Rechtsanwalt hatte sich maßgeblich für die Zustimmung der SPD-Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten eingesetzt und war selbst bereits im September 1914 an der Westfront gefallen. Sein Andenken, so Ehrler und so bereits Heuss, würde durch den ‚Drückeberger‘-Verdacht pietätlos verletzt.152 Die literaturhistorische Begründung des Philosemitismus erhält darauf die größere Emphase, setzt indes nicht bei der Aufklärung an (Lessing z.B. ist geradezu Anathema bei Ehrler), sondern bei der vermeintlich so deutschen und frommen Romantik: Soll es keine Brücke geben? War diese nicht schon einmal da? Welche Zeit gibt sich etwa in der Dichtung dem rückwärts Fühlenden als die deutscheste? Ohne Zweifel die Romantik; rein und so unseres Wesens, daß ihr noch eine ahnungsvolle Hülle um dessen Kern übrig bleibt. Mit inmitten jener Dichter und Dichterkreise saßen als Gefährtinnen und Geliebte, Beraterinnen und Verkünderinnen Töchter Sems. Dorothea Schlegel, Rahel Varnhagen, Henriette Herz nennen wir unter den Namen der erlauchten deutschen Frauen; und Goethe hieß die Rahel in der tiefen Bedeutung des ihm teuren Wortes eine schöne Seele.153
Angesichts dieser historischen Vorbilder macht Ehrler gerade den Antisemitismus dafür verantwortlich, dass sich jüdisches Leben nicht noch weitergehend zum Besten der deutschen Gesellschaft entfalte: „Israel […] bringt gewiß daher über die 149 Ehrler: An einen Juden, S. 601. 150 Vgl. Heuss: [ohne Titel, Kommentar zur „Judenzählung“], sowie Picard: Erinnerung eigenen Lebens, S. 251. 151 Theodor Heuss: Ludwig Frank †. In: Die Hilfe 20 (1914), S. 618 f. 152 Zur Person Franks vgl. Karl Otto Watzinger: Ludwig Frank. Ein deutscher Politiker jüdischer Herkunft. Sigmaringen 1995, zu Heuss’ Anteilnahme an Franks Tod ebd., S. 68, zum von Heuss arrangierten Nachruf im März durch den SPD-Rechten Albert Südekum ebd., S. 193 f. 153 Ehrler: An einen Juden, S. 601.
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Jahrhunderte der Zerstreuung gerettete Tugend mit, die sich ganz wiederentfalten könnte, wo freundlicher Garten wäre.“ Der Antisemitismus führe dazu, dass die deutsch-patriotische „Inständigkeit“ und „Freudigkeit“ jüdischer Bürger „unverstanden“ zerrönnen und sich „verletzt“ zurückzögen.154 Die abschließend eröffneten Handlungsperspektiven fallen hinter Ehrlers kritische Diagnosen zurück, sind elitär und akademisch entworfen, von Schriftsteller zu Schriftsteller gesprochen und bleiben im Rahmen des liberalen Bildungsoptimismus: Gegen die Sensationslust der Plebejer sei (hier klingt ein lienhardsches Motiv an) eine Allianz der „edel Suchenden“ zu schließen, ein „Bund der Reinheit“ zwischen den „vielen Guten unter Euch“ und den „vielen Ernsten unter uns“.155 Dem könnten sich sozioökonomische Entwicklungen anschließen, in denen die deutschen Juden von „Handelsgenossen“ zu „Werkgenossen“ in einer auf Handwerker- und Bauerntum gegründeten Gesellschaft würden. Diese Vorstellung von jüdisch-deutscher Symbiose untersteht einer militärischen, dem Hintergrund des Weltkriegs angepassten Metaphorik. Deshalb klingt der Artikel auch mit der eigentümlichen Parole aus: „Der Vortrupp der Versöhnung meldet sich!“156 An einen Juden ist, wie freilich vieles von Ehrler, ein pathetischer und schwülstiger Text, sentimental geschichtsbeflissen und aufdringlich vereinnahmend mit persuasiven Wendungen wie: „nicht wahr, Jakob, Du willst nichts anderes sein als ein deutscher Jude?“, und angesichts des gemeinsamen Landschaftserlebnisses am Bodensee: „Sprach Dein Herz nicht stumm und tief das Wort ‚Vaterland‘ aus?“157 Dabei changiert ‚Vaterland‘ gezielt zwischen regionalen und nationalen Valeurs. Es ist der Text eines Propagandisten im württembergischen ‚Aufklärungsdienst‘. In der umfangreichen Artikelserie Ehrlers, die durch das Gesamtjahr 1915 hindurch in der Frankfurter Zeitung erschienen ist, fand die Form des Offenen Briefs bereits breite Verwendung. Persönlich und an Schriftsteller adressiert waren darunter Einem alten Dichter (an den 1918 verstorbenen Christian Wagner) und An Spitteler. In Letzterem hat Ehrler den damals sehr bekannten Schweizer Schriftsteller Carl Spitteler dazu aufgefordert, die Gerechtigkeit der deutschen Kriegsführung anzu154 Ehrler: An einen Juden, S. 600 f. 155 Ehrler: An einen Juden, S. 599 f. Zu Lienhards vergleichbarem Appell an einen ‚jüdischen Idealismus‘ vgl. Stackelberg: Idealism Debased, S. 91 f., sowie Puschner: Die völkische Bewegung, S. 54–57 („‚Idealistischer‘ Antisemitismus“) u. S. 71–76 („‚Geist‘-Rasse“). 156 Ehrler: An einen Juden, S. 602. Ähnlich Ehrlers spätere, 1929 ausgegebene Parole zur Vereinigung von Katholiken und Protestanten: „Jetzt sind wir Bundesgenossen!“, vgl. Hans Heinrich Ehrler: Luthers Werk und das Schicksal der Christenheit. In: Luther in ökumenischer Sicht. Von evangelischen und katholischen Mitarbeitern. Hg. v. Alfred von Martin. Stuttgart 1929, S. 252–257, hier S. 257. 157 Ehrler: An einen Juden, S. 600 u. S. 602.
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erkennen. Spitteler hatte sich im Dezember 1914 mit seiner Aufsehen erregenden Rede Unser Schweizer Standpunkt für die Neutralitätspolitik ausgesprochen.158 Ebenfalls auf die Kommunikation in Offenen Briefen griff Hermann Hesse 1915 in der Frankfurter Zeitung zurück, nämlich für die pazifistischen Botschaften von Brief aus Bern und Offener Brief an Bernt Lie.159 Ehrlers An einen Juden setzte diesen Stil der zum Teil äußerst persönlichen Aus- und Ansprache fort. Ehrlers Zielvorstellung für die ‚Judenfrage‘ war die vor allem kulturhistorisch begründete, aber offensichtlich zugleich kriegswichtige Integration dieses Bevölkerungsteils: die „Eingliederung“ in „diesen Tagen, da sich das deutsche Volk wunderbar neu zusammenfindet“.160 Picard wie auch dessen Familie, in der man zum Teil bereits christlich-jüdische ‚Mischehen‘ eingegangen war,161 stellte er als Modell dafür hin. Der Kulturkrieg, den Ehrler zumindest 1915 in vorderster Front mitgefochten hat, erforderte mehr als die Wiederherstellung des bloßen ‚Burgfriedens‘, den die Reichsregierung gegenüber den Juden gebrochen hatte. Mit der darüber hinausgehenden Behauptung einer jüdisch-deutschen Wahlverwandtschaft, Interessengleichheit und Schicksalsverbundenheit lag der Synkretist Ehrler auf der Linie Cossmanns, konnte aber auch an elaboriertere Positionen wie die des Marburger Philosophieprofessors Hermann Cohen anschließen, der in Schriften wie Über das Eigentümliche des deutschen Geistes (1914) und Deutschtum und Judentum (1915) die nationale Verschmelzung von deutschen Juden und Nichtjuden mit vielen historischen und psychologischen Annahmen vertrat,162 nicht die unwichtigste davon die Innerlichkeit, die Cohen als Proprium des deutschen wie des jüdischen Geistes galt163 und auch ein Konstituens von Ehrlers ‚Innerem Reich‘ war. Ehrler hatte im Übrigen ein naheliegendes Interesse, die Verfolgung und Ächtung durch den Rest der Welt als jüdisches ebenso wie deutsches Schicksal herauszustreichen, nämlich angesichts des Ersten Weltkriegs und seiner Ergebnisse. In der Frankfurter Zei158 Vgl. Buelens: Europas Dichter und der Erste Weltkrieg, S. 234 f. u. S. 347. 159 Vgl. Ziolkowski: Hermann Hesse und der Erste Weltkrieg, S. 219. 160 Ehrler: An einen Juden, S. 599. 161 Vgl. Ehrler: An einen Juden, S. 601. Der „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ empfahl christlich-jüdische Konnubien als bestes Mittel für den gewünschten Verschmelzungsprozess; vgl. Brenner: Zur Ambivalenz des Philosemitismus, S. 180. Zur Forderung nach der ‚Mischehe‘ und der seit der Jahrhundertwende rasant wachsenden Zahl entsprechender Verbindungen vgl. auch Niewyk: The Jews in Weimar Germany, S. 97 f., sowie Hambrock: Der Verband Nationaldeutscher Juden, S. 56 f., für die Region aufschlussreich Hoffmann: Juden und Christen in Oberschwaben, S. 271 ff. 162 Vgl. Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe. Berlin 2001, S. 231 ff. 163 Vgl. Hermann Cohen: Über das Eigentümliche des deutschen Geistes. Berlin 1914, S. 22.
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tung hat Ehrler im August 1915, anspielend auf den jüdischen Widerstand gegen die Seleukidenherrschaft und auf die im Dezember 1914 von Hugo Zuckermann formulierte Parole „Laßt uns Makkabäer sein!“, „die makkabäische Kraft unserer deutschen Art“ beschworen.164 Im November 1918 griff er zu einem anderen Vergleich mit der jüdischen Geschichte: „Als Jeremia seine Klagelieder auf den zerbrochenen Mauern Jerusalems sang, war das Volk der Juden nicht tiefer gedemütigt, nicht härter ins Mark getroffen. Städte und Dörfer sollten wie damals in Sack und Asche trauern. Gott, scheint es, hat uns verlassen.“165 Deutsche und Juden würden derart geprüft, lautete die Erklärung, weil sie von Gott zu einer heilsgeschichtlichen Sendung „auserwählt“ und „berufen“ seien.166 Oder wie Ehrler 1919 unter Verwendung gewagter Oxymora reimte: Wie auf Jerusalems gebrochenen Mauern Saß Jeremia im beaschten Kleid […] So sind wir von dem Fluch gebenedeit. Und morgen werden unsres Jammers Qualen Kundschaft des Heiles in die Welten strahlen.167
Ein Übriges war daneben der ‚gebenedeite Fluch‘ einer babylonischen Gefangenschaft, in der sich Deutschland durch den Versailler Vertrag befunden haben soll.168 Ein weiteres Motiv Ehrlers, das ihn mit dem Wahlkatholiken Cossmann verband, lag schließlich in der gemeinsamen Minderheitsposition von Juden und Katholiken im deutschen Staatsgebilde seit 1871 und in der Hoffnung, durch den Krieg und durch das in ihm erneuerte Reich aus den respektiven ‚Ghettos‘ und ‚Türmen‘ ausbrechen zu können. „Ohne Juda, ohne Rom wird erbaut Germaniens Dom!“, in dieser Sentenz verdichtete sich der antirömisch-antisemitische Doppelkomplex der völkischen Bewegung bereits des Kaiserreichs.169 Den Gedanken des solidarischen Minderheitenschutzes hatte wirksam zuerst der Zentrumsführer 164 Ehrler: An die deutschen Feldherren. Zur differenzierten zionistischen Verwendung von Zuckermanns Ausspruch vgl. Edelmann-Ohler: Sprache des Krieges, S. 99–110 („‚Laßt uns Makkabäer sein!‘ Modernes Makkabäertum im Ersten Weltkrieg“). 165 Ehrler: Reden an das schwäbische Volk I. 166 Ehrler: An einen Juden, S. 602. 167 Hans Heinrich Ehrler: Gebet in der Silvesternacht 1919. In: Der Schwäbische Bund 1 (1919/20), S. 369 f., hier S. 370. 168 Vgl. z.B. Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 78. 169 Vgl. Puschner: Die völkische Bewegung, S. 207 ff., sowie Wolfgang Altgeld: Katholizismus und Antisemitismus. Kommentar. In: Zeitgeschichtliche Katholizismusforschung. Tatsachen, Deu-
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Ludwig Windthorst entwickelt. Er wirkte bis in die Zeit des Dritten Reichs nach, in der unter anderen der Münchner Kardinal Faulhaber befürchten konnte, die Judenverfolgung werde die Katholikenverfolgung nach sich ziehen. Dieses Argument relativierte sich indes in dem Maß, in dem der deutsche Katholizismus durch die nationalsozialistische Expansionspolitik bis 1938 aus der Drittelmehrheit – gegenüber nur ca. einem Prozent Bevölkerungsanteils, der sich wie Picard zur jüdischen Religionsgemeinschaft rechnete – herauswuchs und an die quantitative Parität mit dem Protestantismus heranreichte (s. Kap. V.4).170 Die von Ehrler unterbreiteten Avancen waren nur auf den ersten Blick schmeichelhaft. So setzte die engagierte Einrede gegen antisemitische Stereotype wiederholt ihre Halbwahrheit voraus: Wenn Ehrler meinte, dass die Vorwürfe wegen Preistreiberei und Vaterlandsbetrug nur auf eine Minderheit der Juden zuträfen, ging er immer noch davon aus, dass sie spezifisch bei Juden und nicht genauso bei anderen aufträten. Auch nahm er es als gegeben an, dass Juden reich („Geldmacht und Besitz“) und/oder klug seien („die Inbrunst […] Eures Geistigen“),171 wandte die Stereotype damit lediglich ins Positive, ohne ihre antisemitische Grundlage zu berühren. Dass es „große Städte“ seien, in denen „der Jude mitschafft“,172 läuft auf den Topos hinaus, dass diese Minderheit am Ende doch mehr dem städtischen Leben angehöre.173 Den jüdischen Beitrag zur deutschen Literatur mit den Frauen an der Seite der Romantiker (als „ehelichen Kameradin[nen]“174) zu bestimmen, implizierte eine Rollenverteilung zum relativen Nachteil der jüdischen Seite. Die jüdisch-deutsche Konjugation erfolgte im Stellenplan des alten bürgerlichen Ehemodells: Die Frau nimmt den Namen des Mannes an, das Judentum tungen, Fragen. Eine Zwischenbilanz. Hg. v. Karl-Joseph Hummel. Paderborn, München u.a. 2004, S. 49–55, hier S. 52. 170 Zum Minderheitenschutz als einem der „‚klassischen‘ anti-antisemitischen Argumente“ vgl. Olaf Blaschke: Katholizismus und Antisemitismus im deutschen Kaiserreich. Göttingen 1997, S. 127, zur Wiederauflage nach 1933 vgl. Konrad Repgen: Judenpogrom, Rassenideologie und katholische Kirche im Jahre 1938. In: Die katholische Schuld? Katholizismus im Dritten Reich – Zwischen Arrangement und Widerstand. Hg. v. Rainer Bendel. 2. Aufl. Münster 2004, S. 60–95, hier S. 75 f., sowie Thomas Brechenmacher: Die Kirche und die Juden. In: Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten. Hg. v. Karl-Joseph Hummel u. Michael Kißener. Paderborn, München u.a. 2010, S. 125–143, hier S. 135 u. S. 142. Zu Ähnlichkeiten und Unterschieden bei der Minoritätserfahrung vgl. Pickus: Jews, Catholics and the German Nation, S. 154 ff. 171 Ehrler: An einen Juden, S. 600 u. S. 601. 172 Ehrler: An einen Juden, S. 601. 173 Vgl. Joachim Schlör: Das Ich der Stadt. Debatten über Judentum und Urbanität, 1822–1938. Göttingen 2005, S. 211 ff. 174 Ehrler: An einen Juden, S. 601.
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geht im Deutschtum auf. Aus synkretismustheoretischer Sicht wurde hier also ein absorbierender Synkretismus verfolgt, bei dem nominelle Elemente des Judentums wie die Erwähltheit, Leidensfähigkeit und ‚makkabäische Kraft‘ in das christlichdeutsche System integriert werden sollten. Eine andere Lösung war im philosemitischen Diskurs des Kaiserreichs kaum vorgesehen, auch nicht von Heuss.175 Eine Ausnahme bildete Hesse. In seiner Rezension von Picards Gezeichnetem machte er die Grenzen deutlich, die dem „liebevolle[n] Erfassen und Darstellen des deutschjüdischen Lebens durch reindeutsche Dichter“ gesetzt war: „man wollte den Juden nicht als Juden sehen, man übersah seine seit so langer Zeit mit allerlei Scham behaftete Nationalität und Eigenart“.176 Zu den Ambivalenzen philosemitischer Ansätze im Kaiserreich gehörte mithin die Neigung, Wunschbilder von jüdischer Existenz in einem christlich-deutschen Monolog zu kreieren. Mit der direkten Adresse des Offenen Briefes hat Ehrler eine Antwortmöglichkeit wohl kaum beabsichtigt, aber objektiv eröffnet. Und Picard machte Gebrauch davon. Das wie die Süddeutschen Monatshefte in München herausgegebene Jüdische Echo, die Wochenschrift der Zionisten in Bayern, druckte Ehrlers Text am 9. März 1917, auf der Titelseite beginnend, nach und schloss Picards Replik an: unter dem Titel An einen Deutschen – nicht etwa ‚An einen Christen‘, was schon signalisiert, dass Picard nicht dazu bereit war, das Jüdische analog zum Christlichen als eine Angelegenheit der bloßen Konfessionszugehörigkeit zu behandeln. Der Text endet nicht, wie bei Ehrler, mit dem vollständigen Namen des Urhebers, sondern zurückhaltender mit „Jakob“ (in der Schreibung mit ‚k‘, die Picard bis in die 1930er Jahre bevorzugte).177 Die Redaktion, die seit dem Vorjahr von der Soziologin Helene Hanna Cohn geleitet wurde, enthielt sich jedes Kommentars; allerdings setzte Cohn ihre Initialen („H. H. C.“) direkt hinter Picards Vornamen, wohl zum Zeichen, dass sie die Aussagen mitträgt. Das jüdische Echo war für seinen nationaljüdischen Standpunkt bekannt. Die Chefredakteurin engagierte sich für den Aufbau einer neuen jüdischen Gesellschaft in Palästina.178 175 Treffend hierzu Blaschke: Antijudaismus und Antisemitismus im deutschen Katholizismus, S. 149: „Sogar diejenigen, die den Antisemitismus in guter Absicht eindämmen wollten, saßen in demselben Diskursgefängnis, das sie nicht sehen ließ, wie sehr sie selber von judenfeindlichen Vorstellungen geprägt waren.“ Vgl. auch Levenson: Between Philosemitism and Antisemitism, S. 18 f. Zu Heuss in diesem Zusammenhang Becker: Theodor Heuss, S. 76 f., und Hambrock: Der Verband Nationaldeutscher Juden, S. 344. 176 Hesse: [Rez.] Der Gezeichnete, S. 233. 177 Jacob Picard: An einen Deutschen. In: Das jüdische Echo 4 (1917), S. 110–112, hier S. 112. 178 Zum Organ vgl. Falk Wiesemann: Die nationaljüdische Antwort. Das Jüdische Echo. Bayerische Blätter für die jüdischen Angelegenheiten (1913–1933). In: Le milieu intellectuel conservateur en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1890–1960) / Das konservative Intellektuellenmilieu in
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Das Blatt gab aber auch derjenigen Position Raum, die Ehrler unter der Voraussetzung seines propagandistisch-zweckvoll beschränkten Konzepts von Identität nicht recht vorsah: dass man nämlich „ein sehr treuer nationaler Jude […] und gleichzeitig dabei ein aufrechter starker deutscher Patriot“ sein könne.179 Picard erklärte, sich angesichts von Ehrlers ‚Vortrupp der Versöhnung‘ mit einem „Gewoge widerstreitender Gefühle“180 erfüllt zu sehen. Die Publikation war offenbar nicht mit ihm abgesprochen, persönliches Vertrauen somit für den öffentlichen Zweck wenn nicht missbraucht, so doch entfremdet. Der jüdische Anwalt und Schriftsteller erneuerte, wie von Ehrler nahegelegt, sein Bekenntnis zum Kriegseinsatz auf deutscher Seite, weil ihn „ein unlösliches Band mit diesem Volke“ verknüpfe. Er dankte dem Freund, den er beständig mit vollem Namen als Hans Heinrich Ehrler anspricht, für seinen Einsatz gegen den Antisemitismus: dass „Du die Hydra des Judenhasses, die schon Tausende und Abertausende meines Stammes verschlungen hat, aufs Haupt schlägst wo Du ihr begegnest“. Darin bewähre sich Ehrler als der „Streiter gegen die Lüge“, als den Picard ihn kenne.181 Picard wollte ihm noch für „das Geschenk Deiner Freundschaft“ gedankt haben, bevor er das grundsätzliche und bittere Missverständnis formulierte: Aber im übrigen, Hans Heinrich Ehrler, ich muß es Dir sagen, wenngleich ich Dir Schmerz damit bereite: im Übrigen hat Dein Brief mir bewiesen, daß ich Dir trotz unseres gemeinsamen Erlebens ein Fremder geblieben bin, dessen tiefstes Fühlen und Sehnen Dir verschlossen ist.182
Insbesondere wollte Picard nicht nach Ehrlers Bild in der deutschen Nation aufgehen, sondern „mit allen Juden der Welt verknüpft“ bleiben: Ich aber will es Dir sagen: dieses Bekennen zum Judentum, dieses Bejahen meiner jüdischen Art, es entspringt dem Wissen, daß, wie mein Äußeres mich gründlich vom Germanen, vom Arier unterscheidet, auch mein Inneres, mein ganzes Fühlen und Denken (wie stark deutsche Einflüsse auch hingeflossen sein mögen) ein Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890–1960). Hg. v. Michel Grunewald u. Uwe Puschner. Bern, Frankfurt/M. u.a. 2006, S. 219–238, zu Helene Hanna Cohn hier S. 226. 179 Alfred Klee: Zionismus und Vaterland. In: Das jüdische Echo 1 (1914), H. 3, S. 28–30, hier S. 30. Zur innerjüdischen Auseinandersetzung über ‚Deutschtum und Judentum‘ vgl. auch Sieg: Jüdische Intellektuelle, S. 231 ff. 180 Picard: An einen Deutschen, S. 110. 181 Picard: An einen Deutschen, S. 110. 182 Picard: An einen Deutschen, S. 110 f.
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Erbteil des Volkes ist, das die Bibel schuf, und daß diese ererbten Werte etwas Hohes und Heiliges sind, daß ich stolz bin, zu ihrem Hüter bestellt zu sein.183
Picard gedachte der „unendlichen Opfer an Gut und Blut“184, die Juden zur Erhaltung ihrer Eigenart gebracht hätten und noch jeden Tag brächten. Sie aber dürften nicht umsonst gewesen sein. Deutsche Juden sollten sich nur dort an die christliche deutsche Kultur anschließen, wo nicht gleiche Werte in der jüdischen Lehre vorhanden seien. Der Propagandist Ehrler hatte Picard unter anderem an der Tatsache seiner freiwilligen Meldung zu den deutschen Streitkräften packen wollen, zumal daran, dass er das Eiserne Kreuz, „ein christliches Zeichen“,185 trage. Dem hielt der aktive Offizier nun entgegen, dass gerade das Kriegserlebnis, bei ihm und anderen, den Wunsch nach einer festeren Bindung an das Judentum habe wachsen lassen. Für diese Behauptung griff er auf den auch von Ehrler verwendeten Topos der deutschjüdischen Schicksalsverwandtschaft zurück, um ihm zuletzt eine überraschende Wendung zu geben: Die Juden wüssten, was es heißt, wie die Deutschen für nationale Eigenart und Geltung gegen eine neidvolle Welt zu ringen, mithin die „Feindschaft der ganzen Welt“186 zu tragen. So konnte Picard die deutschen Kriegsziele rechtfertigen und zugleich argumentieren, der jüdische Kampf für Deutschland wecke und stärke den zionistischen Kampfeswillen. Die Mitarbeit „an der Erstarkung des deutschen Volkes“ erschien in diesem Licht als die Vorarbeit zum Judenstaat: in demjenigen Land, „in dem die Wiege des jüdischen Volkes stand und in das, dem Prophetenwort zufolge, der ‚Rest der übrig bleibt‘, zurückkehren wird“.187 Picards fulminante Ehrlerreplik reiht sich an dieser Stelle in die Hinweise dafür ein, dass der im Ersten Weltkrieg erstarkende Antisemitismus jüdischerseits die Infragestellung der Emanzipationsidee verschärfte und einen geschichtsskeptischen Messianismus beförderte. Die Figur vom ‚Rest Israels‘ war hierbei, in verschiedenen Varianten, das zentrale prophetische Geschichtssymbol.188 Im Mittelpunkt von Picards Argumentation ersetzt sie das Symbol des (Eisernen) Kreuzes, das der 183 Picard: An einen Deutschen, S. 111. 184 Picard: An einen Deutschen, S., 111. 185 Ehrler: An einen Juden, S. 599. Zum „E. K.“ als „Anzeiger apologetischer Bemühungen um Konformität und schließlich […] Symbol des Scheiterns deutsch-jüdischer Symbiosebestrebungen“ vgl. Edelmann-Ohler: Sprache des Krieges, S. 110 ff. (Zitat S. 112). 186 Picard: An einen Deutschen, S. 111. 187 Picard: An einen Deutschen, S. 111. 188 Vgl. Elke Dubbels: Figuren des Messianischen in Schriften deutsch-jüdischer Intellektueller 1900–1933. Berlin, Boston 2011, S. 211 f., sowie Sieg: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg, S. 257 ff. u. S. 274 ff.
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Autor abschließend gleichwohl mit Ehrlers Figur des ‚Vortrupps der Versöhnung‘ assoziierte, um es als „Zeichen der Versöhnung“189 gelten zu lassen. Während Picard den persönlichen und ideologischen Eklat, den die Konstellation von An einen Juden und An einen Deutschen bedeutete, künftig mit Schweigen überging, kam Ehrler nach über 30 Jahren in seinem Alterswerk Das Buch der Verantwortung darauf zurück. Von einem „nicht eingeschlafenen Schmerz“ sprach der knapp 80-jährige Autobiograf mit Blick zunächst auf das Jahr 1938, in dem Picard ihm endgültig die Freundschaft aufgekündigt hatte. Der jüdische Schriftsteller, erfahren wir hier, hatte Ehrler nicht nur die Widmungsexemplare von dessen Büchern zurückgeschickt, sondern auch die der eigenen Publikationen zurückgefordert. Ehrler erzähltes Ich, die „befehlsmäßige Arisierung und ihre rohen Folgerungen“ in der „mir verborgenen Sündenzeit des Dritten Reiches“ beklagend, sucht in den ‚guten Zeiten‘ von 1917 Trost. Es nimmt sich die Ausgabe des Jüdischen Echos vor, jene beiden Texte, die – so Ehrler in unverändert vereinnahmender Diktion – „an manche unserer Gespräche anknüpfend, vom Judentum im Deutschtum“ handelten. Das Licht der Verklärung, das so vieles im Buch der Verantwortung weichzeichnet, reicht gleichwohl nicht dorthin. Die Revision weicht der Resignation: „Die Hervorholung macht aber doch nicht leichter, sondern schwerer. Das Gelesene wirkt gleich dem Riß der Geschehnisse im Menschen. Es gibt keine Brücke.“190 Letztere Formulierung revoziert eine Stelle in An einen Juden, an der Ehrler noch rhetorisch gefragt hatte: „Soll es keine Brücke geben?“, um die positive Antwort im ‚Reich des deutschen Geistes‘ zu finden, dessen Verjüngung die Kulturkriegsschriften des Autors insgesamt verfolgten.
4. „Geschwollene Spinnen“: die Stuttgarter Verfassungsfeierrede 1932
Anfang 1932 sah Picard im Brief an seinen vorläufig wiedergewonnenen Freund Ehrler ein bedrohliches Jahr voraus, in dem man einander eine geistige Zuflucht sein müsse.191 Ehrler enttäuschte den alten Gefährten zunächst nicht. Nachdem die NSDAP aus den Reichstagswahlen vom Juli 1932 als stärkste Partei hervorgegangen war, positionierte er sich klar gegen den Nationalsozialismus. Bereits in der Rubrik „Zeitgedichte“ seines im selben Jahr publizierten Lyrikbandes Die Lichter schwinden im Licht griff er zu drastischen Bildern des Verfalls, die die ihm geläufige 189 Picard: An einen Deutschen, S. 112. 190 Hans Heinrich Ehrler: Das Buch der Verantwortung, unpag. 191 Picard an Ehrler, 3. Januar 1932.
4. „Geschwollene Spinnen“: die Stuttgarter Verfassungsfeierrede 1932 | 257
Erbauungsmetaphorik umkehrten. Unheimlich erschien dabei nicht die Weimarer Republik selbst, der Ehrler noch 1929 das Potential zum synkretistisch zusammenwachsenden ‚Korallenriff ‘ attestiert hatte.192 Die Furcht galt einem Radikalismus, der das Bestehende nicht respektierte. Exemplarisch sind die folgenden Zeilen aus Die Lichter schwinden im Licht: Und viel zerbröckelt jetzt nach innen. Schutt häuft inwendig sich in Hauses Raum. Ruinen wachsen zwischen Wänden drinnen Und zu Gerümpel sind vom bösen Traum Verhext die Sachen dort. Geschwollene Spinnen Besteigen sie, bis mit dem Drüsenschaum Herin gewesene Zeit ist überwoben, Vergittert in ein hintres Sein geschoben.193
Das Bild der ‚geschwollenen Spinnen‘ wird in einem zeitgleichen Text Ehrlers, der Rede bei der Verfassungsfeier der Württ. Staatsregierung, unmissverständlich aufgelöst: in Richtung auf „Hitler und seine Millionen, ein ebenso unglaublich rapid geschwollenes Zeitphänomen, wie unter dem Krieg und Kriegsende die internationale sozialistische Bewegung“.194 Ehrlers Bildlichkeit hat auch insofern ihre eigene, einmal mehr zugleich urbanitätskritische Logik, als diese Spinnen auf die „Insektenwolke“ des gottlosen Großstadtlebens bezogen werden.195 Das BizarrDrastische dieses Panoramas kommt aus der Weltsicht der biblischen Katastrophenliteratur und der apokalyptischen Zeugnisse. Als Vertreter der Liebeskirche trieb Ehrler nun zwar nicht zu der von einigen Politischen Theologen angesagten ‚letzten Schlacht‘, etwa nach Schmitt zwischen dem Katholizismus und dem atheistischen Sozialismus.196 Das lebensfreundliche Ethos des literarischen Franziskanismus schränkte den Willen zur eschatologischen Forcierung von Konflikten unter Billigung aller Kollateralschäden an der Schöpfungsherrlichkeit, am metaphysisch 192 Ehrler: Zum Geleit, S. 3. 193 Ehrler: Die Lichter schwinden im Licht, S. 51. 194 Ehrler: Rede bei der Verfassungsfeier, Bl. 4 (Hervorhebung StKT). 195 Ehrler: Meine Fahrt nach Berlin, S. 1, S. 33 u. S. 129; vgl. dazu Mattenklott u. Mattenklott: Berlin Transit, S. 17. Zur apokalyptischen Bildlichkeit vgl. Klaus Vondung: Die Apokalypse in Deutschland. München 1988, S. 265 ff. 196 Vgl. Schmitt: Politische Theologie S. 75; zum Fortleben des „Symbolismus der Reichsapokalypse“ in Kommunismus und Nationalsozialismus auch Voegelin: Die politischen Religionen, S. 40. Dazu Jürgen Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik. München 2001, S. 45 ff.
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überglänzten Diesseits und am menschlichen Ebenbild Gottes, bedeutend ein. Allerdings führte das Sicheinlassen auf den Apokalypse- und Untergangsdiskurs in den Problemkreis der Parusieverzögerung, der von alters her religiöse und religiös-literarische Einlassungen auf aktuelle politische Verhältnisse provozierte. Zur Stuttgarter Feier der Weimarer Verfassung am 11. August 1932, nur zehn Tage nach dem Wahlsieg der verfassungsfeindlichen Kräfte, vertraute die Landesregierung unter dem Zentrumspolitiker und späteren Widerstandskämpfer Eugen Bolz dem bekennenden Katholiken Ehrler die heikle Aufgabe der Festrede an (s. Abb. 12).197 Die auftragsgemäße Panegyrik galt hier keiner Person mehr, sondern folgt der modernen Tendenz zur Depersonalisierung der Huldigung.198 Zu Beginn seiner predigthaften Ansprache, die vom Süddeutschen Rundfunk aus der Liederhalle übertragen wurde, führt sich Ehrler als berufener Hüter der deutschen Sprache und des literarischen Erbes ein. Dazu huldigt er „‚unserer lieben Frau-Muttersprache‘, […] wie unsere Dichter und Denker sie gebildet und geformt“ hätten, denn diese Sprache sei „der wundersame, magische, geistige Körper unserer nicht durch Grenzen zu zerstückelnden Nation“. Aus der Amtskraft des Dichtertums heraus attestiert sich der Redner treuherzig die Autorität des „ehrliche[n] Munde[s]“, ja stellt sich indirekt selbst in die von ihm beschworene Reihe der „erhabenen Geister dieser Sprache“, der „hohen Geister unseres deutschen Gewissens“, wo auf Goethe und Schiller der politisch aktivere und volkstümlichere Uhland bereits auf dem dritten Platz der Aufzählung folgt.199 Soweit positionierte sich Ehrler in einem nationalen, süddeutsch akzentuierten Kulturkonzept, das die Existenz und Einheit des Reichs in einem ‚Inneren Reich‘ begründet sah: in „deutschen Wortes Majestät“200 und einem „Band des Geistes“201. „Und auch das Haus wäre nimmer da, / Wenn nicht ein Licht noch darinnen glömme“202, lautet ein Verspaar in Ehrlers Programmgedicht Die Zelle des Denkers (1937): Das staatliche Gehäuse, sollte das heißen, besitzt keinen eigenen Wert, sondern bezieht diesen – gegebenenfalls – von einem geistigen Innenleben. Diese Abstufung wird vollends deutlich in Ehrlers Formel „Heiliges Reich im geheiligten Reich“203, der zufolge das ‚Innere Reich‘ 197 Zu den politischen Hintergründen vgl. Schnabel: Württemberg zwischen Weimar und Bonn, S. 126 ff., sowie Sauer: Württemberg in der Weimarer Republik, S. 120 ff. 198 Vgl. den Ausblick bei André Holenstein: Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800–1800). Stuttgart, New York 1991, S. 493 ff. 199 Ehrler: Rede bei der Verfassungsfeier, Bl. 1 u. Bl. 5. 200 Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 53. 201 Hans Heinrich Ehrler: Das Band des Geistes. In: Das Wort in der Zeit 3 (1935/36), S. 729–731. 202 Ehrler: Unter dem Abendstern, S. 92. 203 Ehrler: Unter dem Abendstern, S. 62.
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an sich heilig ist und die Heiligung erst spendet, die das Staatsgebilde ‚Reich‘ nur passiv erfährt. Als Priester dieses geistigen Innenreichs nimmt der Redner Ehrler im Fortgang seiner Ansprache die Rolle des religiösen Mahners ein. Er bekennt sich zur „Gott sei Dank“ durch „metaphysisch-religiöse[n] Bindestoff “ noch zusammengehaltenen Deutschen Zentrumspartei und spricht sich folgendermaßen über den Nationalsozialismus aus, der die „bürgerlichen Parteien“ jenseits des Zentrums „bis auf Reste zerrieben“ habe: Im alten Griechenland würde vielleicht ein ernster Mann, einer der Geronten, einer der geehrten Alten, die Ergreifer der Macht mit einem sakrosankten Wort warnend begrüsst haben: Hütet Euch vor der Hybris, vor der Ueberhebung, denn sie ist die fatalste, von den Göttern mit dem tragischen Sturz belegte Sünde! Die ganze hellenische Tragödie ist ihre Tragödie, die Tragödie der Ueberhebung.204
Statt des Panegyrikers steht hier der Protreptiker, der seine Zeitkritik in den Begriffen von Hybris und Sünde fasst und sich als Geront der ‚Jungen Mannschaft‘, dem nationalsozialistischen ‚Ikarus‘, entgegenstellt. Wie unter anderem der Fall von Josef Magnus Wehner zeigt, sah sich bei Weitem nicht jede bildungskatholisch fundierte Innenreichstheorie im spontanen Gegensatz zum lautstarken und handgreiflichen Nationalsozialismus. Wehner hat seine Version des ‚Inneren Reichs‘ ein halbes Jahr nach Ehrlers Verfassungsfeierrede bei einem äußerlich ähnlichen, inhaltlich entgegengesetzten Anlass dargeboten: einer Berliner Feier zum Jahrestag der Reichsgründung am 18. Januar. Diese Ansprache, zwei Wochen vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler gehalten und dann unter dem Titel Das unsterbliche Reich gedruckt, hat Wehner unmittelbar in eine steile NS-Karriere katapultiert.205 Die Laudatio zum eigentlichen Redeanlass, der in der Goethestadt verabschiedeten Konstitution, kommt mit effektbewusster Verzögerung. Zuerst notiert der Festredner, im Modus der Klagerede, die chronische Unfeierlichkeit Weimarer Verfassungsfeiern. Ich habe noch nicht von der Verfassung geredet, die wir zu feiern gekommen sein sollen. Ich frage mich heute, wie hätte […] ein Fundament bleibender Zu204 Ehrler: Rede bei der Verfassungsfeier, Bl. 4. Vgl. Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 182: „Schon die Griechen sahen als oberste der Sünden ὕβρις, die Überhebung, Auflehnung gegen das Noumenon. […] Es gibt Gesetze, welche man übertreten kann. […] Aber das übertretene Gesetz muß seinen Ausgleich suchen in der Strafe, im Fluch.“ 205 Vgl. Baird: Hitler’s War Poets, S. 79.
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Abb. 12: Plakat zur Verfassungsfeier in Stuttgart 1932.
stände geregelt werden können? Es ist und gibt leider keine deutsche Demokratie, d.h. kein nationales, einiges deutsches Staatsbürgertum, das sich darauf hätte einrichten können. Die zu den Feiern pflichtmässig gehen mussten, die sassen verschämt auf ihren Stühlen.206
Damit berührt er den kritischen Punkt, den es in der klassischen Laudationstechnik zu überspielen galt: dass die πανήγυρις (panégyris), die ‚festliche Volksversammlung‘, unter Umständen gegen ihre innere Gestimmtheit zum äußeren Zweck zusammenkommt. Es ist gewissermaßen das Kainsmal der Laudatio und ihres von der Antike an nicht zweifelsfreien Rufs, dass man gewöhnlich an ihre rituelle Form, aber nicht gleichermaßen an ihren Inhalt glaubt, dass sie mithin das Festlich-Außeralltägliche dem Rhetorisch-Routinierten (und wahrscheinlich gut Bezahlten) anvertraut. Der Redner gesteht die protokollarische Pflichtmäßigkeit
206 Ehrler: Rede bei der Verfassungsfeier, Bl. 5.
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der Huldigung ein, um sie mit einer Ehrlichkeitsgeste beiseitezuräumen und freien Raum für einen laudatorischen Neuansatz zu gewinnen: Aber in dieser Zeit heute, wo bösartig und leichtfertig alles, was seit 1918 getan und geschaffen wurde, geschmäht wird, da ist doch von ehrlichem Munde zu sagen: Diese Verfassung hat ganz gewiss verhindert, dass das Reich nach dem Zusammenbruch auseinandergefallen ist; sie hat die Notfunktion auf sich genommen, unsere Einheit den zerstückelungslustigen Feinden gegenüber zu wahren. Man denke, was unter ihrem Schutz die Rheinländer für diese Einheit getragen haben! Sie half mit, dass unser ganzes Volk durch diese schicksalhafte Notzeit hindurchkriechen konnte und trotzdem bis heute noch in keine Krisen der Selbstzerstörung verfallen ist, wie sie jetzt drohen. Sie hat unvermerkt bis weit in die linken Schichten hinein den Humus, das Erdreich des deutschen Staatsbewusstseins zum Ansatz gebracht und hat langsam den Druck des Tributzwangs sprengen helfen.207
‚Retter in der Not‘ und ‚Verhinderer der Katastrophe‘ sind die Ehrennamen, die Ehrler der Verfassung gibt und die eine ganz bestimmte Gedankenfigur aufrufen: die des Katechon, des Aufhalters des Antichristen. Die nur hemmende, aber niemals siegende Macht des Katechon, die in der Politischen Theologie jener Jahre, vor allem im sogenannten Hamburger Kreis um Wilhelm Stapel, eine schillernde Rolle spielte, fügt sich in eine christliche, antiutopische Geschichtsauffassung, in der das Gute unter weltlichen Bedingungen nie erreicht, nur das Schlimmere verhindert werden kann. Das Katechon ist eine äußere, weltliche Kraft, die bereits für ihre Herkunft aus der Paulinischen Theologie (2 Thess 2,6–7) meist mit dem (Römischen) Reich bzw. als der Katechon mit dem Kaiser in Verbindung gebracht wurde.208 Das ‚Innere Reich‘ ist auf ihn weder als Beschützer noch als Erhalter angewiesen, vermag ihm allerdings Unterstützung in der Wahrnehmung dieser Funktionen für Staat und Gesellschaft zu leisten. Die Lobrede vermag das Katechon immer nur als zwiespältigen Gegenstand aufzugreifen, dessen Platz unter den Krisenbedingungen der menschlichen Existenz zwar stets ausgefüllt sein 207 Ehrler: Rede bei der Verfassungsfeier, Bl. 5 f. 208 Vgl. Paul Metzger: Katechon. II Thess 2,1–12 im Horizont apokalyptischen Denkens. Berlin, New York 2005, S. 15 ff. Zur Funktionalisierung der Katechonfigur in der Politischen Theologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vgl. Günter Meuter: Der Katechon. Zu Carl Schmitts fundamentalischer Kritik der Zeit. Berlin 1994, sowie Motschenbacher: Katechon oder Großinquisitor?, bes. S. 33 ff., S. 135 ff. u. S. 187–224 („Apokalyptische Geschichtsphilosophie: Der Katechon“).
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muss, aber zu verschiedenen Zeiten verschieden besetzt werden kann. Die Weimarer Verfassung als Katechon herauszustellen, schreibt ihr einen relevanten Wert zu, garantiert aber nicht, dass sie nicht abgelöst werden könnte und müsste, etwa durch Hitler und den Nationalsozialismus. An dieser entscheidenden Stelle hält der Redner für einen kurzen rhetorischen Trommelwirbel ein – „an diesem Punkt – man höre mich an –, drängt es mich, zu bekennen“ –, um dann „Hitler und seine Millionen“ mit folgenden Worten für die Aufgabe des Katechon zu verwerfen: Man sagt, wenn die Nationalsozialisten die Gewalt hätten, würde die Stunde des internationalen Sozialismus bei uns geschlagen haben; er würde zerrieben werden, wie auch die Reste der bürgerlichen Parteien – das Zentrum inbegriffen – zur Aufzehrung vorgemerkt sind. Das sind sehr gerade, durch ihre kühne Vereinfachung verblüffende Grundsätze. Aber die Wirklichkeit wird, wenn darnach verfahren werden sollte, ein anderes Gesicht zeigen. Man mag im Besitz der Staatswaffen jede von links her drohende Gegenbewegung niederhalten oder niederschlagen und an der Decke einer harten Kruste die Ruhe herstellen, was aber darunter wächst, wird schaurig und arg sein.209
Die Gründe für Ehrlers (vorläufige) Ablehnung des Nationalsozialismus lagen in dem Vorgefühl, dass diese „betont und begeistert nationale Bewegung“ zugleich mit den kältesten Seiten der Moderne, mit den „Krisengesetzen des noch nicht zur Ruhe kommenden Zeitalters der Maschine“, im Bund stehe, dass sie mithin „neugründerisch“ sei, nämlich „weder politisch, noch sozial, noch ethisch, noch instinkthaft ein Erbe der Bürgerwelt“ anerkenne: Sie versteige sich dazu, „die Welt und darin ihr Vaterland neu und womöglich ohne Vorbild zu erschaffen“.210 Es ging Ehrler im Einklang mit seinem Auftraggeber Eugen Bolz211 um die Wahrung der christlich-abendländischen Tradition, die er durch die „Rutenbündelträger“212 in Frage gestellt sah. Deshalb verband er mit der Aussicht auf eine NSDAP-Herr209 Ehrler: Rede bei der Verfassungsfeier, Bl. 4. Zur Befürchtung, zwischen den „zwei Lagern“, „Nationalisten“ und „Kommunisten“, werde „der Bindestoff des Bürgertums“ aufgebraucht, vgl. bereits Ehrler: Meine Fahrt nach Berlin, S. 73. 210 Ehrler: Rede bei der Verfassungsfeier, Bl. 4. 211 Zu dessen Position vgl. Joachim Köhler: Zwischen den Fronten. War die Haltung des Zentrums politikers und ehemaligen Ministerpräsidenten Eugen Bolz christliches Bekenntnis oder politischer Widerstand? In: Christentum und Politik. Dokumente des Widerstands. Zum 40. Jahrestag der Hinrichtung des Zentrumspolitikers und Staatspräsidenten Eugen Bolz am 23. Januar 1945. Hg. v. dems. Sigmaringen 1985, S. 7–22. 212 Ehrler: Rede bei der Verfassungsfeier, Bl. 6.
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schaft eine neue „Angstperiode um unser deutsches Volk“213. Ehrler gestaltete die Geringschätzung dieses Gegners dadurch noch eindringlicher, dass er sich jedes harte Wort, das über die politische Sonntagsrede hinausging, mit schwermütigem Bedauern von seinem Willen zur Liebe abgerungen haben wollte, so schon im ersten Satz: „ich möchte […] beinahe einiges zurücknehmen, was ich nachher aber trotzdem sagen muss“.214 Die handschriftlichen Korrekturen, die Ehrler vermutlich Anfang September 1932 für den letztlich ausgebliebenen Druck vorgenommen hat, verschärften den Ton noch. Aus einem den Nationalsozialisten zugeschriebenen „politischen Willen“ z.B., „mag er noch so rein, stark und idealistisch sein“, strich Ehrler „rein“ und fügt vor „idealistisch“ „scheinbar“ ein.215 Ein Zeitungsbericht vom Tag nach der Veranstaltung vermerkt: „Es war eine Rede […] voll schmerzhafter herber Anklage […]. Mancher scharfe Satz, von einem anderen Munde gesprochen, hätte da und dort Anstoß erregt.“216 Auch dem Jünger des Heiligen Franz schienen Versöhnung und Ausgleich, die er seit 1918 so oft beschworen hat, hier nicht mehr möglich. Damit erkannte er die Gefahr des Nationalsozialismus weit klarer als sein Freund Heuss. Die beruhigte Fantasie und das pragmatische Kalkül von Heuss reichten vor und nach dem Ermächtigungsgesetz, dem er bekanntlich zugestimmt hatte, nicht so weit wie der poetisch lizenzierte Schwung, mit dem sich Ehrler in die Rolle des Propheten begab. In seinem Buch Hitlers Weg, wie Ehrlers Rede aus dem Jahre 1932, bemühte er sich fortgesetzt um Sachlichkeit und Ausgewogenheit, bestritt mithin die Radikalität und Neuartigkeit des Nationalsozialismus, dessen Auftreten er eher aus den schlechten politischen Manieren des Kaiserreichs herleitete.217 Noch als eben dieses Buch im Mai 1933 verbrannt wurde, hielt Heuss es für das Beste, den Vorgang „nicht zu tragisch“218 zu nehmen. Ehrler betonte dagegen gerade das Revolutionäre und Neugründerische der ‚Bewegung‘ und befand die Hybris der bevorstehenden ‚Machtergreifung‘ im Wortsinn der griechischen Tragödie für dramatisch. Wie bei Heuss allerdings, der die parlamentarische Demokratie vorübergehend auszusetzen bereit war,219 erstreckte sich Ehrlers Anerkennung der Weimarer Ver213 Ehrler: Rede bei der Verfassungsfeier, Bl. 4. 214 Ehrler: Rede bei der Verfassungsfeier, Bl. 1. 215 Ehrler: Rede bei der Verfassungsfeier, Bl. 4. 216 [Anon.]: Die Verfassungsfeier in Stuttgart. In: Süddeutsche Zeitung, 12. August 1932. 217 Theodor Heuss: Hitlers Weg. Eine historisch-politische Studie über den Nationalsozialismus. Stuttgart, Berlin 1932. Zur Bewertung des Buchs vgl. bes. Merseburger: Theodor Heuss, S. 241 ff. 218 Aus dem Nachlass zit. n. Becker: Theodor Heuss, S. 76. 219 Becker: Theodor Heuss, S. 72 f.
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fassung im Wesentlichen auf die Vergangenheit, nicht auf die Zukunft, für die er vielmehr einen grundlegenden Verfassungs- und Gesellschaftswandel erwartete. Das Katechon, das diese Rettung anführen müsse, fand er in nichts anderem als in einer Rückbesinnung auf die Kontinuitätsmacht des Religiösen und in der Bildung einer christlich-demokratischen Union: Das Religiöse aber verbindet das Seiende ebenso eng mit dem Gewesenen als mit dem Zukünftigen; es hat bewahrende, konservative Kräfte in sich, die geehrt werden wollen. Der deutsche Protestantismus muss nach meinem Gefühl und nach meinem Glauben mit dem deutschen Katholizismus Hand in Hand […] gehen, sonst sind wir verloren.220
Gerade den Punkt der Christunion hob denn auch der offizielle Veranstaltungsbericht im Staatsanzeiger für Württemberg hervor, der zuerst die „eindringlichen Worte[]“ Ehrlers, die „Warnung […] gerichtet an den Radikalismus von rechts und links“, ausführlich und zustimmend wiedergab, um zu schließen: „Auf einer neuen geistigen Ebene der Gemeinschaft, in der Protestantismus und Katholizismus Hand in Hand gehen bei der Erneuerung des deutschen Innenreichs, müsse und werde ein neues, starkes und echtes Bürgertum erstehen.“221
5. „Werkbund der Christenheit“: Einsatz für die ökumenische Bewegung
Christliche Ökumene und politische Interkonfessionalität, die in der Zentrumspartei nach dem Irenikverbot der Enzyklika Mortalium animos von 1928 nicht auf der Tagesordnung stehen konnten,222 gehörten zu den ältesten Anliegen des Synkretisten Ehrler. Als Fahnenträger des Deutschen Ordens war der Dichter von seiner Mergentheimer Herkunft her auf eine Institution verpflichtet, die sich – „einzigartig in der neuzeitlichen Reichsgeschichte“223 – trikonfessionell zusam220 Ehrler: Rede bei der Verfassungsfeier, Bl. 5. 221 [Anon.]: Verfassungsfeier in Stuttgart. In: Staatsanzeiger für Württemberg, 12. August 1932. 222 Pius XI.: Mortalium animos. In: Acta Apostolicae Sedis 20 (1928), S. 5–16. Vgl. dazu Margaret L. Anderson: Windhorsts Erben. Konfessionalität und Interkonfessionalismus im politischen Katholizismus 1890–1918. In: Christliche Demokratie in Europa. Grundlagen und Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert. Hg. v. Winfried Becker u. Rudolf Morsey. Köln 1988, S. 69–90, sowie Ruster: Die verlorene Nützlichkeit der Religion, S. 173–179 („Ökumene und Dialogunfähigkeit“). 223 Germanisches Nationalmuseum (Hg.): 800 Jahre Deutscher Orden, S. 140.
5. „Werkbund der Christenheit“: Einsatz für die ökumenische Bewegung | 265
mensetzte: aus Katholiken, Lutheranern und Calvinisten. Als Württemberger hing Ehrler einem festen regionalen Selbstbild der konfessionellen Friedfertigkeit und religiösen Toleranz an.224 In der Stuttgarter Verfassungsfeierrede von 1932 hat er die Ökumene als Überlebensfrage der bürgerlichen Gesellschaft abendländischen Erbes, mithin als Frage des Rettungsankers und Katechon exponiert.225 Bei Herman Hefele, der Luthers „Entfesselung der Willkür“ der katholischen „Sache […] der Ordnung“ streng entgegensetzte und den „Katholizismus in seiner ganzen Härte und Wirklichkeit“ wollte,226 fand er dafür wenig Rückhalt. Eine frühe, national perspektivierte Vorgabe dazu kam aus der Kulturtheorie Friedrich Lienhards, der in Der Meister der Menschheit formuliert hatte: Kultur- und Geistesgeschichte ist ein Kräftespiel; Katholizismus und Protestantismus sind eine nach dem Volksinnern verlegte Fortsetzung der alten Polarität Mittelmeer und Nordland. Freilich: es sind F e s t t a g e d e u t s c h e n G e i s t e s , wenn uns einmal Menschen und Zeiten beschwert werden, in denen b e i d e s versöhnlich lebendig ist.227
Darüber hinaus ergab sich die ökumenische Forderung einerseits aus der Reichsund Abendlandprogrammatik, die eine konfessionelle Einigungsdimension zur Rettung des christlichen Europas notwendig ins Auge fassen musste. In einer Flugschrift der Rheinischen Zentrumspartei hatte Hermann Platz 1924 formulieren können: „Und auch die Idee der Allumfassenheit (Oekumene) ist nicht tot. Vom Orient ist sie ausgegangen, hat den Okzident als Kern und Krone gefasst und gebunden, ohne sich je in ihrer schöpferischen Kraft verausgabt zu haben.“228 Der Abendland-Mitherausgeber Platz sagte deshalb auch seine führende Mitarbeit an der 1925 gegründete Vierteljahrsschrift Una Sancta zu, dem Organ des 1924 entstandenen Hochkirchlich-Ökumenischen Bundes (ab 1927 Ökumenischer
224 Zu den Ansprüchen der württembergischen Konfessionspolitik vgl. Dominik Burkard: Ökumenische Tradition? Zum Verhältnis der Konfessionen in Württemberg im 19. und 20. Jahrhundert. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 101 (2001), S. 114–152. 225 Zur Notwendigkeit, den Synkretismusbegriff auch auf die Ökumene anzuwenden, vgl. Walter Sparn: „Religionsmengerei“? Überlegungen zu einem theologischen Synkretismusbegriff. In: Im Schmelztiegel der Religionen. Konturen des modernen Synkretismus. Hg. v. Volker Drehsen u. dems. Gütersloh 1996, S. 255–284, hier S. 277. 226 Hefele: Das Gesetz der Form, S. 89. 227 Lienhard: Der Meister der Menschheit, Bd. 6, S. 77. 228 Hermann Platz: Deutschland – Frankreich und die Idee des Abendlandes. Köln 1924, S. 30.
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Bund).229 Das Programm der Una Sancta (ab 1927 als Religiöse Besinnung und ab 1934 als Eine heilige Kirche fortgesetzt) wurde in jüngerer Zeit als „utopisches ganzheitlich religiöses und soziales Einheitsprojekt für Europa“ beschrieben, ihre politische Linie „am ehesten als überparteilicher Antiliberalismus“ eingeschätzt.230 Die Ökumene war andererseits eine Implikation des Franziskanismus, denn die konfessionelle Abgrenzung und das eifersüchtige Wahrheitsmonopol konnten als Widerspruch zum Liebesgebot betrachtet werden. Die Wiedervereinigung im Glauben war demnach von der christlichen Liebe kategorisch gefordert – gerade auch unter diesem Aspekt wurde die konfessionelle Annäherung in den 1920er und 30er Jahren diskutiert, und gerade vor der schwärmerischen, die Glaubensdogmatik überspringenden Berufung auf die caritas warnte die genannte Enzyklika von Papst Pius XI., indem sie sich auf den vorsichtigeren ‚Liebes-Apostel‘ Johannes berief: „Si quis venit ad vos et hanc doctrinam non affert, nolite recipere eum in domum“ (2 Joh 10).231 Franz von Assisi, „der große Apostel der Versöhnung“,232 war in den panchristlichen Bestrebungen, die zunächst auf die – wie im Fall der Abendlandbewegung – kleinen, aber bildungselitären Kreise der Hochkirchlichen Vereinigung und des (Hochkirchlich-)Ökumenischen Bundes beschränkt blieb, die herausragende Referenzfigur. Ein Sonderheft der Zeitschrift Una Sancta war 1926 ganz seiner Person und Lehre gewidmet.233 Friedrich Heiler sah in seinem Beitrag zu diesem Heft den umbrischen Propheten als Integrationsfigur wirken, weil die Neuerweckung der Franziskusforschung 1893 durch einen calvinistischen Theologen (Paul Sabatier) erfolgt sei, weil sich in der Reformierten Kirche Frank229 Vgl. Karl Buchheim: Eine sächsische Lebensgeschichte. Erinnerungen 1889–1972. Hg. v. Udo Wengst u. Isabel F. Pantenburg. München 1995, S. 141 f. 230 Pöpping: Abendland, S. 151 f. 231 Vgl. Pius XI.: Mortalium animos, S. 6 u. S. 12: „At fucata quadam recti specie nonnulli facilius decipiuntur cum de unitate agitur christianos inter omnes fovenda. Nonnedictitari solet – aequum est, immo etiam cum officio consentaneum, quotquot Christi nomen invocant, eos et a mutuis criminationibus abstinere sese et mutua tandem aliquando caritate coniungi? Ecquis enim dicere audeat, ab se Christum amari, nisi pro viribus optata ipsius perficienda curet, Patrem rogantis ut discipuli sui ‚unum‘ essent? […] Nemo sane ignorat, Ioannem ipsum, caritatis Apostolum, qui in evangelio suo Cordis Iesu Saeratissimi videtur secreta pandidisse perpetuoque memoriae suorum praeceptum novum ‚Diligite alterutrum‘ inculcare consueverat, omnino vetuisse ne quid cum iis haberetur commercii, qui Christi doctrinam non integram incorruptamque profiterentur: ‚Si quis venit ad vos et hanc doctrinam non affert, nolite recipere eum in domum, nec ave ei dixeritis.‘“ 232 Heiler: Der heilige Franz von Assisi, S. 59. 233 Alfred von Martin (Hg.): Franz von Assisi. Stuttgart 1926 (= Una Sancta, Sonderheft 2). Vgl. dazu Leonard Swidler: The Ecumenical Vanguard. The History of the Una Sancta Movement. Pittsburgh 1966, S. 82 f. u. S. 113.
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reichs 1923 ein neuer franziskanischer Tertiarenorden gegründet habe und weil die römische und die anglikanische Kirche seit 1924 einen gemeinsamen Gedächtnistag für den Heiligen begingen.234 Ein Ansatz zur Lösung der Konvergenz- oder Unionsfrage sollte mithin in der franziskanisch geprägten Theorie der ecclesia spiritualis oder des ‚Idealkatholizismus‘ gefunden werden. Demnach ist das Katholische eine Konfession, aber auch der an sich bereits überkonfessionelle Sinn für die ‚Wirklichkeit des göttlichen Lebens‘, das der Schöpfer in die Kreatur gelegt habe.235 Vor diesem Hintergrund hat Ehrler in Das Gesetz der Liebe 1928 rabuliert: „Es ist das schwerste und das einfachste christliche Lebensproblem, Katholik zu sein.“236 Schwer ist es unter der Bedingung einer ‚pneumatisierten‘ Liebeskirche, die keine organisatorischen Strukturen anbietet, aber tiefe Innerlichkeit zusammen mit einer umfassenden Schöpfungsbejahung verlangt. Bereits Ehrlers 1913 publizierte Reise ins Pfarrhaus ist vom ökumenischen Geist getragen, durch den die Erzieherfigur des weisen Pfarrers Konrad Steinherr Abstand von seinen für das Zentrum agitierenden Amtsbrüdern wahrt (sein Zögling „vermißte […] unter dem allgemeinen Beifall das zustimmende Wort des Herrn Pfarrers“), hingegen die wechselseitige Amtsstellvertretung mit dem evangelischen Geistlichen praktiziert und das Vaterunser in der Übersetzung Martin Luthers spricht.237 Dass sich Ehrler als volksparteilicher Redakteur und Politredner für die fortgesetzte Parlamentarisierung im Königreich Württemberg einsetzte, geschah gegen die Absichten des mit den südwestdeutschen Liberalen damals erbittert angefeindeten, klerikal dominierten Zentrums, das die Macht des katholischen Adels in der Zweiten Kammer und die Privilegien des Bischofs von Rottenburg konservieren wollte.238 Ehrlers nach dem Weltkrieg langjährig bevorzugter Ort für Arbeitsklausuren, das säkularisierte und evangelisch genutzte Kloster Maulbronn, war ihm und den frühen politischen Weggefährten Heuss und Elsas das Symbol der konfessionellen Symbiose, denn es sei „das Reizvolle […], wie die katholische Tradition in eine evangelische abbiegt und die Werke frommen Mönchtums, die 234 Vgl. Heiler: Der heilige Franz von Assisi, S. 54 ff., zu Heilers Franziskusbild auch Ernesti: Ökumene im Dritten Reich, S. 30 ff. 235 Exemplarisch hierfür Arnold Rademacher: Um Erscheinung und Wesen der Kirche. In: Religiöse Besinnung. Vierteljahresschrift im Dienste christlicher Vertretung und ökumenischer Verständigung 3 (1930/31) S. 31–40. Zum Begriff des Idealkatholizismus vgl. Pöpping: Abendland, S. 145 ff. 236 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 238. 237 Vgl. Ehrler: Die Reise ins Pfarrhaus, S. 140 ff. u. S. 163 f. (Zitat S. 141). 238 Zum zugespitzten Konflikt bes. zwischen Haußmann und dem Zentrum vgl. Blackbourn: Class, Religion and Local Politics, S. 122 ff. u. S. 221 ff., sowie Naujoks: Württemberg 1864 bis 1918, S. 424 f.
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Zeugnisse künstlerischer Gestaltung, von einer nicht minder wertvollen Luft geistigen Lebens umgeben sind.“239 Um 1928 hat sich Ehrler vorläufig an den Verlag von Leopold Klotz gebunden, der einen Programmschwerpunkt auf dem Gebiet der ökumenischen Bewegung pflegte. Im dort erschienenen Buch Das Gesetz der Liebe hat Ehrler ausführlich von der christlichen Union geschwärmt. Die weltumspannende christliche Bruderschaft sei ein vergrabener Schatz, der zur finsteren Gegenwart heraufleuchte. „Das ‚Reich‘ käme“, wenn die ökumenische Bewegung die „760 Millionen Christen auf der Welt“ zusammenführen könnte.240 Ehrler bezog sich auf die Stockholmer Weltkirchenkonferenz von 1925, die vorläufig nur den gemeinsamen Dienst, nicht das vereinheitlichte Dogma zum Ziel erhoben habe. Die katholische Kirche ermahnte er, sie werde, ohne schwere Verantwortung auf sich zu nehmen, bei diesem vorläufigen We r k b u n d d e r C h r i s t e n h e i t nicht abseits bleiben dürfen, auch nicht wenn sie auctoritativ glaubt Una Sancta zu sein und Verwalterin der Schlüssel, wenn sie meint, von sich aus in ihrer kanonischen Sicherheit warten zu können. In den christlichen Mindestdienst muß sie demütig mit eintreten.
Dagegen bescheinigte er den evangelischen Kirchen, „eine ungemeine Summe reinen, Gnade suchenden Willens“.241 Überall in Das Gesetz der Liebe finden sich zum Teil äußerst positive Referenzen auf die evangelische Theologie, darunter auf die ebenfalls bei Klotz erschienene Gotteslehre des Marburger Dogmatikers Martin Rade, derzufolge der „Nächste […] schon im Gottesbegriff “242 enthalten sei. Genauer heißt es in Rades Glaubenslehre (1924) unter der Überschrift „Gott und der Nächste“: Die Theologie, die Dogmatik, auch die Predigt hat kaum begriffen, um was es sich hier handelt. Wie es sich um G o t t handelt, wo wir nur vom N ä c h s t e n sprechen müssen. Wie es Gott, unsern Gott, nicht g i b t o h n e den Nächsten. Natürlich redet die Theologie vom Nächsten, denkt an den Nächsten, zum
239 Theodor Heuss: Herbsttage in Maulbronn [1923]. In: ders.: Bilder und Gestalten. Hg. v. Friedrich Kaufmann. Stuttgart, Hamburg 1963, S. 13–18, hier S. 16. Vgl. Elsas: Erinnerungen, S. 67, sowie Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 116 f. 240 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 242 f. 241 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 245 u. S. 247. 242 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 232.
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mindesten in der Ethik. Aber das ist viel zu spät. Der Nächste ist s c h o n i m G o t t e s b e g r i f f . 243
„Wahrhaft hier sitzt das Siegel“,244 akkordierte Ehrler aus dem Kontext seiner Definition von Religion als Liebe und störte sich nicht daran, dass Rade ein tonangebender Kulturprotestant war und die „Schatzkammer unsrer lutherischen Orthodoxie“ für diejenige Instanz hielt, in der „zum letzten Male auf deutschen Boden die christliche Gedankenwelt ein einheitliches, allgemein anerkanntes Gefüge besessen“ habe.245 Diese Kultur- und Glaubenseinheit sah Ehrler selbst doch vielmehr im Zeitalter des Franziskus. Im Zuge der Zusammenarbeit mit dem Protestanten Klotz publizierte Ehrler vereinzelt auch im Eckart, den einflussreichen Blättern für evangelische Geisteskultur,246 und war an deren gewichtiger, von Thomas Mann, Gottfried Benn und vielen anderen, „Verfechter[n] neben Verächtern“,247 mitgetragenen Positionensammlung Dichterglaube (1931) beteiligt. Sein Bekenntnis in dieser Anthologie betrifft nicht nur das „religiöse Element als Leitmotiv“ seiner gesamten literarischen Tätigkeit, sondern ist auch ökumenisch abgewogen: Er verstehe sich, so Ehrler, als „Katholik, das heißt Christ“, sowie als „Deutscher und Mensch“.248 Daher konnte der Stuttgarter Schriftsteller auch in der evangelischen Literaturkritik freundliche Beachtung finden, so wiederum im Eckart,249 aber auch in der von Rade herausgegebenen Christlichen Welt, die „den o b j e k t i v e n Wert seiner Dichtung“ vorteilhaft zu bestimmen wusste: In seinen Beweisführungen interessant, in seinen Darstellungen der Philosophien des Altertums, der Religionen der Völker überaus reich, in seiner Sprache lebendig und klar, ist sein besonderes Erlebnis aber der Sieg der urchristlichen Idee, das Hell- und Hellerwerden der christlichen Liebesidee, die Behauptung
243 Vgl. Martin Rade: Glaubenslehre. Buch 1: Von Gott. Gotha 1924, S. 36. 244 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 233. 245 Rade: Von Gott, S. VIII. 246 Z.B. Hans Heinrich Ehrler: Cantate im Lenz. In: Eckart. Blätter für evangelische Geisteskultur 4 (1928), S. 216; ders.: Rosemarie. In: ebd., S. 217–219, ders.: Berliner Tagebuch. In: ebd. 5 (1929), S. 216 f. 247 Harald Braun: Einleitung. In: Dichterglaube. Stimmen religiösen Erlebens. Hg. v. dems. Berlin 1931, S. 7–11, hier S. 8. 248 Ehrler: [ohne Titel, Dichterglaube], S. 76. 249 Z.B. Alwin Müller: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm. In: Eckart. Blätter für evangelische Geisteskultur 11 (1935), S. 90.
270 | IV. Vom Kulturkrieg zum Katechon und der Beweis ihrer Endgültigkeit. […] Man möchte dieses Buch [sc. Das Gesetz der Liebe] in vielen Händen wissen, um der Klärung willen, die es bringt.250
Von dieser Seite konnte dem katholischen Autor ebenso zugutegehalten werden, dass er, „der bibelstarke“, „mit Luthers urdeutschem Schrifttum vollgesogen“ sei,251 nicht zuletzt auch, dass er sich frei zu protestantischen Leitfiguren bekenne, wenn sie nur so aufrichtig fromm seien wie Luther, Paul Gerhardt, Matthias Claudius und Eduard Mörike (wobei Mörike konfessionsverbindend mit einer Katholikin, Margarethe von Speeth, verheiratet war252). Tatsächlich hat sich Ehrler 1929 an einer Luther gewidmeten Publikation des Ökumenischen Bundes beteiligt: Luther in ökumenischer Sicht, einem außerhalb der Zeitschrift Una Sancta bzw. Religiöse Besinnung, aber im selben Verlag (Frommann) mit demselben Herausgeber (Alfred von Martin) veröffentlichten Band, zu dem von den Katholiken unter anderem auch Friedrich Heiler beigetragen hat. Ehrler erhielt hier den eschatologisch dramatisierenden Schlussartikel, Luthers Werk und das Schicksal der Christenheit, in dem er die „Verheidung“ der „abendländischen Menschheit“ zunächst anhand der Begegnung mit einem jungen Flieger, „Edeltyp der deutschen Jugend“, beschrieb: „Mit der Kirche“, so verrät dieser Ikarus vom „Leben seines Horstes“, „waren wir, eins, zwei, drei fertig. Brauchen wir nicht.“253 Die neuheidnische Jugend, die für das Diesseits nach einem imperial verstandenen Reich und für das Jenseits allenfalls nach Walhall verlangte, sollte sich für Hans Heinrich Ehrler später noch in dem bekannten Jagdflieger Heinrich Ehrler verkörpern, der nicht aus derselben Familie wie der Dichter, aber wie dieser aus Bad Mergentheim stammte. Angesichts solcher Beispiele aus seiner Alltagserfahrung rief der literarische Laientheologe zu einer Zusammenfassung der christlichen Kräfte auf, die allein noch den „Prozeß religiöser Sterilisierung“ aufhalten könne: zu einer „ K a m p f f r o n t z u n ä c h s t nicht mehr gegen die Häresie, sondern […] gegen jenen ungeheuer inszenierten Abfall, gegen die allgemeine Entg ö t t e r u n g u n d Ve r h e i d u n g d e s A b e n d l a n d e s “. 254 Dafür rückte er „Luthers Werk“ an das „schönste und echteste katholische Binnenwunder des Kirchenbodens“ heran, die „franziskanische Erhebung“: Nicht viel habe gefehlt, 250 Bockemühl: Hans Heinrich Ehrler, Sp. 603 f. 251 Krauss: [Rez.] Briefe aus meinem Kloster, S. 1446. 252 Vgl. Ehrler: Mörike in Mergentheim: „Man vergißt es dem evangelischen Pfarrherrn noch nicht, daß er eine Katholikin heiratete.“ 253 Ehrler: Luthers Werk und das Schicksal der Christenheit, S. 252. Vgl. auch die 1928 erschienene mahnungsvolle Gedichtfolge Einem Flieger (Gesicht und Antlitz, S. 126 f.). 254 Ehrler: Luthers Werk und das Schicksal der Christenheit, S. 253 u. S. 256.
5. „Werkbund der Christenheit“: Einsatz für die ökumenische Bewegung | 271
dass der Ketzer Martinus ein kanonischer Heiliger wie Franziskus geworden sei.255 Die Reformation war für Ehrler schließlich deshalb nicht aufgebbar, weil sie ein unverkennbar deutsches Werk für die Weltchristenheit gewesen sein soll. Dafür konnte er sich auf Aussagen Luthers stützen, nach denen es besondere Gnade gewesen sei, dass Gott gerade Deutschland mit dem volkssprachlichen Evangelium beschenkt habe.256 Auch Ehrlers autobiografische, im katholischen Verlag Kösel & Pustet publizierte Reise in die Heimat von 1926, die eine Eloge auf den Deutschen Orden mit panegyrischen Ausflügen zu Tilman Riemenschneider (Marienaltar) und Matthias Grünewald (Stuppacher Madonna) darstellt, endet mit einem das katholische Element ergänzenden Bekenntnis zum protestantischen Vorbild: Der 50-jährige Heimatbesucher betritt am Ende der Reise sein altes Zimmer im Geburtshaus am heutigen Hans-Heinrich-Ehrler-Platz und findet unter seinen prägendsten Jugendlektüren Johann Heinrich Jungs pietistische Romanautobiografie Henrich Stillings Jugend (1777): „Die Gedenkschrift schlichtesten Wesens. Hohe Kunst, fromme Kunst.“257 In seinem ersten Lyrikband bei Langen Müller, Die Lichter schwinden im Licht, griff Ehrler 1932 das ökumenische Stichwort von der Una Sancta, der Einheit der heiligen Kirche Jesu Christi, sogar als Titel eines der letzten Gedichte der Sammlung auf, mit der ausgesprochenen Erwartung: „Dann aber kommt der große Tag der Christen.“258 Wie Ehrlers Verfassungsfeierrede vom August 1932 eindrucksvoll dokumentiert, erstarkte der ökumenische Gedanke in Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Herrschaftsanspruch.259 Allerdings griff die NSDAP als Sammelbewegung ihrerseits das Versprechen einer nationalen, prospektiv abendländischen Einigung der Konfessionen im neuen Reich auf und erschwerte den ökumenisch Bewegten damit die Abgrenzung.260 Die franziskanischen Anteile des 255 Ehrler: Luthers Werk und das Schicksal der Christenheit, S. 254. Zum Verhältnis von Franziskus und Luther vgl. auch Heiler: Der heilige Franz von Assisi, S. 49 f. 256 Vgl. Konrad, Lanczkowski, Lebram u.a.: Apokalyptik/Apokalypsen, S. 281. 257 Vgl. Ehrler: Die Reise in die Heimat, S. 176. Dazu Eckert: Die Reise in die Heimat, S. 175. 258 Ehrler: Die Lichter schwinden im Licht, S. 77. 259 Vgl. Heinz-Albert Raem: Die Anfänge der ökumenischen Bewegung im katholischen Raum. In: Katholiken in der Minderheit. Diaspora – Ökumenische Bewegung – Missionsgedanke. Hg. v. Erwin Gatz. Freiburg/Br. 1994, S. 145–165, hier S. 149 ff. 260 Zur nationalsozialistischen ‚Irenik‘, die sich von Präferenzen für den Protestantismus zuletzt nicht löste, vgl. Wolfram Weiße: Praktisches Christentum und Reich Gottes. Die ökumenische Bewegung Life and Work 1919–1937. Göttingen 1991, S. 493 ff., Bucher: Hitlers Theologie, S. 125 ff., sowie Steigmann-Gall: The Holy Reich, S. 51 ff. Zum Problem der ‚braunen Ökumene‘ ausführlich Ernesti: Ökumene im Dritten Reich, S. 220 ff.
272 | IV. Vom Kulturkrieg zum Katechon
christlichen Einigungsprogramms verbanden sich mit der Erwartung des ‚Dritten Reiches‘ im joachimitischen Sinn einer geschichtlich abschließenden Epoche des wahren Geistes und der wahren Geistigen, zu denen Ehrler sich rechnete. Auch in weniger esoterischen Teilen des Reichsdiskurses der 1920er Jahre galt die konfessionelle Konvergenz oder, vorsichtiger formuliert, die „Neuausrichtung des Katholizismus und des Protestantismus auf ihre Christlichkeit“ als „Voraussetzung für die Konstituierung des Reiches“.261 Dabei verstand sich dieses Einigungsprogramm energisch antiliberal als Abkehr vom ‚spaltenden Individualismus‘ und als Hinwendung zu einer neuen, emphatisch gefassten Gemeinschaftlichkeit jenseits politischer Parteien und parlamentarischer Fraktionen: „Damit alle eins seien“.262 Aus den Motivlagen von Reichsidee und Gemeinschaftssehnsucht heraus blieb Ehrlers klare Absage an die ‚Ergreifer der Macht‘ leider nicht sein letztes Wort zum Nationalsozialismus. Die in seinem Beitrag zum Band Dichterglaube geäußerte Hoffnung, dass sich eine neue „Symbiose des Religiösen mit dem Welthaften“263 vorbereite, traf sich mit Wilhelm Stapels Organisation einer überkonfessionellen „antisäkulare[n] Front“264, in die Ehrler unter anderem durch Stapel persönlich, wie im nächsten Kapitel zu zeigen ist, eingegliedert wurde.
261 Eckrich: Die Idee des Reiches, S. 68. Vgl. auch Adam: Das Wesen des Katholizismus, S. 15, zur „Aufgabe, den unheilvollen Riß, der uns seit Jahrhunderten auseinanderhält, endlich einmal zu beseitigen, eine neue geistige Einheit, eine religiöse Heimat zu schaffen und dadurch die einzige mögliche Grundlage für einen Wiederaufbau, für eine Wiedergeburt der abendländischen Kultur zu bereiten.“ Zu den Wunschvorstellungen einer Einheit von Glaube und Volk vgl. auch Manfred Gailus: „Ein Volk – ein Reich – ein Glaube“? Religiöse Pluralisierungen in der NS-Weltanschauungsdiktatur. In: Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert. Hg. v. Friedrich Wilhelm Graf u. Klaus Große Kracht. Köln, Wien u.a. 2007, S. 247–268. 262 [Martin u. Platz]: Was wir wollen, S. 1, nach Joh 17,21. 263 Ehrler: [ohne Titel, Dichterglaube], S. 76. 264 Wilhelm Stapel: Der christliche Staatsmann. Eine Theologie des Nationalismus. Hamburg 1932, S. 6. Vgl. dazu immer noch grundlegend Breuning: Die Vision des Reiches, S. 314–320 („Die ‚antisäkulare Front‘“).
V. Das ‚Innere Reich‘ im Dritten Reich
1. „Reichs-, Ahnen- und Heimatverbundenheit“: in der nationalsozialistischen Kanonbildung
Es mochte Ehrler eingeschüchtert haben, dass die ihm nahestehende, unter dem Dach der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart verlegte Zeitschrift Die Literatur (bis 1923 unter dem Titel Das literarische Echo) im April 1933 einen neuen, NSkonformen Herausgeber erhielt. Wilhelm Emanuel Süskind, bis dahin freier Mitarbeiter im Münchner Lektorat der DVA, ersetzte Ernst Heilborn, der seit 1911 auf der einflussreichen Position gewirkt und Ehrlers Dichterlaufbahn von der ersten Stunde an wohlwollend begleitet hatte. Heilborn, Berliner Protestant jüdischer Herkunft, gehörte Ehrlers Generation an und teilte unter anderem dessen Verpflichtung auf die deutsche Literatur des Barock und der Romantik.1 Unter der jungen Leitung von Süskind brachte das maßgebliche Literaturorgan, in dem Ehrler 20 Jahre lang nur die lobendsten Worte erhalten hat, 1934 einen scharfen Verriss des in den christlichen Kulturzeitschriften gleichzeitig umjubelten Bildungsromans um einen Kirchenarchitekten, Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm. Man müsse „dieses Buch und seine Gestalten“, so der Rezensent Wilhelm Heise, Berliner Pädagoge und Deutschdidaktiker, „ablehnen“, seine „bedeutendseinwollende Schönrednerei“, seinen „geschwollenen Ausdruck“ und seine „eitle Pose“ entlarven. Es fehle dem Roman an einer „inneren Sauberkeit“.2 Dieses hygienische Verdikt galt der Geschichte eines jungen Katholiken, der sich auf Wanderjahren unter anderem durch Frankreich befindet und zwischen seinen ausgiebigen ästhetisch-weltanschaulichen Reflexionen drei jeweils nur kurze Beziehungen zu Frauen eingeht, darunter eine Eugenie Laroche. Nach zahlreichen Anspielungen auf Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre endet der Roman wie Eichendorffs Ahnung und Gegenwart damit, dass sich der Protagonist zur monastischen Entsagung bekehrt. Auch in den Folgejahren des Dritten Reichs war dieses Buch als 1
2
Vgl. Benno Reifenberg: Heilborn, Ernst Friedrich. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 8. Berlin 1969, S. 257 f., sowie Anneli Hartmann: Heilborn, Ernst (Friedrich). In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2. Aufl. Hg. v. Wilhelm Kühlmann. Bd. 5. Berlin, New York 2009, S. 158 f. Wilhelm Heise: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm. In: Die Literatur. Neue Folge des Literarischen Echos 37 (1934/35), S. 216.
274 | V. Das ‚Innere Reich‘ im Dritten Reich
„umstritten“3 eingestuft, wobei es weniger um das Bildungspathos und die Epigonalität ging, als vielmehr um vorgebliche Sittenmängel katholischer Lebenshaltung und den alten Verdacht nationaler Unzuverlässigkeit. Das Beitrittsgesuch zur Reichsschrifttumskammer begleitete Ehrler 1934 mit mehreren sehr persönlichen Schreiben an den Kammerpräsidenten und nationalkonservativen Schriftstellerkollegen Hans Friedrich Blunck, in denen er nicht nur auf seine schwache Gesundheit hinwies (mehrere Kuraufenthalte in Bad Wiessee seit 1933), sondern auch seine literarische Integrität beteuerte: Man wird mich in den kleinen Kreis derer rechnen müssen, deren Schriften kein Wort enthalten, das nicht im Augenblick der Niederschrift dem reinen Wesen entflossen wäre. Ich habe einmal das Angebot einer großen Berliner Bildzeitschrift abgelehnt, ihr einen Roman zu liefern, wie ein anderes Mal den wiederholten Vorschlag Theodor Wolffs, in die Schriftleitung des Berliner Tagblatts einzutreten.
Während er sich so einerseits von liberalen Presseorganen und inzwischen entlassenen Redakteuren wie Theodor Wolff distanzierte, verwies er andererseits auf seine Verbindung zum „Türmerverlag“, d.h. zum Kreis um Lienhard und dessen Position eines völkischen Neoidealismus.4 „Ich warte inständig. Unterwegs mit schweren Gedanken“,5 lautete eine weitere Botschaft an Blunck, mit der Ehrler seine Bereitschaft zur Anpassung an die neuen Verhältnisse signalisierte. Bedingungen für die Aufnahme in die berufszulassende RSK waren laut Durchführungsverordnung zum Reichskulturkammergesetz „Zuverlässigkeit und Eignung“6 des Antragstellers, die unter anderem von der NSDAP-Gauleitung bestätigt werden konnten. Ehrlers Befürchtungen waren übrigens unbegründet. Sein Name stand bereits auf den ersten ‚Weißen Listen‘, z.B. einer mit „Vertraulich!“ gekennzeichneten Übersicht Schwarze Liste. Weiße Liste, die am 26. Mai 1933 durch den Münchner Zeitungsverlag Knorr & Hirth kursierte, um, wie es unumwunden hieß, „jene Dichter und Schriftsteller zusammenzustellen, deren Mitarbeit erwünscht ist und gegen 3 4 5 6
Franz Lennartz: Die Dichter unserer Zeit. Einzeldarstellungen zur deutschen Dichtung der Gegenwart. 4. Aufl. Stuttgart 1941, S. 101 f., hier S. 100. Hans Heinrich Ehrler an Hans Friedrich Blunck, 8. Juni 1934, Deutsche Schillerstiftung, Personenakte Hans Heinrich Ehrler, GSA Weimar, Sign. GSA 134/134,4. Hans Heinrich Ehrler an Hans Friedrich Blunck, 14. Juni 1934, Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel, Nachlass Hans Friedrich Blunck/Reichsschrifttumskammer. Zit. n. Barbian: Arbeits- und Lebensbedingungen, S. 32.
1. „Reichs-, Ahnen- und Heimatverbundenheit“: in der nationalsozialistischen Kanonbildung | 275
die keine politischen Einwendungen bestehen“.7 Auch in seinem Hausverlag besaß Ehrler eine feste Burg. Wilhelm Stapel, Vertreter der jungkonservativen, christlichreichsidealistischen Strömung innerhalb der ‚Konservativen Revolution‘ und graue Eminenz des rechtsnationalen Publikationswesens, sorgte 1930 für die Aufnahme Ehrlers in die Verlagsfusion Langen Müller. Der neue große Verlag, hinter dem zunächst der der NSDAP nahestehende Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband stand, bildete die zentrale Plattform für nationalsozialistische Hochkulturvertreter und solche Autoren, die von der Verlagsleitung als nationalsozialistisch kompatibel, insbesondere als ‚volksecht‘, ‚lebensfreundlich‘ und ,reichszugewandt‘ eingeschätzt wurden.8 In dieser (laut Eigenwerbung) „Sammlung wesenhaft deutscher Autoren“, welche die „Aufgabe der Bewahrung und Erneuerung einer wahrhaft deutschen geistigen Kultur“ auf sich genommen haben sollen,9 publizierten überzeugte NS-Anhänger wie Kolbenheyer neben christlich bekennenden Dichtern wie Bergengruen und Britting. Dass Ehrler eine Vergangenheit im Langen Verlag besaß, kam bei seiner Aufnahme offenbar kaum in Betracht, obwohl der Autor selbst – wie aus einem Brief an den langjährigen Geschäftsführer Korfiz Holm hervorgeht – den Vorgang als Rückkehr verstanden wissen wollte.10 Für den gläubigen Protestanten Wilhelm Stapel, der über Ehrler zu gutachten hatte, fiel zunächst ins Gewicht, dass sich mit diesem Kandidaten die Wunschmöglichkeit einer völkisch-christlichen Synthese verfolgen ließ, konkret eine Kooperation von Christentum und Nationalsozialismus, um – wie Stapel meinte – dem 7
Arthur Hübscher (gez.): Schwarze Liste. Weiße Liste, 26. Mai 1933, Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, Sign. ED 620-1-46. 8 Zum Profil Stapels vgl. Roland Kurz: Nationalprotestantisches Denken in der Weimarer Republik. Voraussetzungen und Ausprägungen des Protestantismus nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Begegnung mit Volk und Nation. Gütersloh 2007, S. 193–313. – Zur Gründung des Verlags vgl. Andreas Meyer: Die Verlagsfusion Langen-Müller. Zur Buchmarkt- und Kulturpolitik des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes (DHV) in der Endphase der Weimarer Republik. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 32 (1989), S. 1–271, zu seiner Rolle im Nationalsozialismus vgl. bes. Jan-Pieter Barbian: Literaturpolitik im NS-Staat. Von der „Gleichschaltung“ bis zum Ruin. Frankfurt/M. 2010, S. 43 ff., ferner Christian Adam: Lesen unter Hitler. Autoren, Bestseller, Leser im Dritten Reich. Berlin 2010, S. 281 ff., sowie Reinhard Wittmann: Literarische/belletristische Verlage. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Börsenverein des Deutschen Buchhandels / Historische Kommission. Bd. 3: Drittes Reich. Tl. 1. Berlin, Boston 2012, S. 295–380, hier S. 316 ff. 9 [Anon.]: Vorwort. In: Ausritt. Almanach des Verlags Albert Langen – Georg Müller 1933/34. München 1933, S. 5–7, hier S. 6 f. 10 Vgl. Hans Heinrich Ehrler an Korfiz Holm, August 1932, zit. n. Dirk Heißerer: „ich – kleingeschrieben“. Autographen und Dokumente aus den Mappen des Dichters und Verlegers Korfiz Holm (1872–1942). Tutzing 2008, S. 10.
276 | V. Das ‚Innere Reich‘ im Dritten Reich
Glauben praktische Geltung und der Nation idealen Sinn zu verschaffen.11 Wie Ehrler verfolgte Stapel, Autor der Bücher Sechs Kapitel über Christentum und Nationalsozialismus (1931) und Der christliche Staatsmann (1932), eine von „pseudotheologische[r] Überhöhung“12 getragene Reichsvision, die einen supranationalen Föderalismus und christlichen Universalismus mit deutschen Überlegenheits- und Führungsansprüchen verband. Weiterhin war für ihn Ehrlers 1928 in der Vossischen Zeitung veröffentlichte Feuilletonserie Reise nach Berlin von Interesse. In ihr gab sich der „Provinzmann“13 Ehrler demonstrativ abwägend bei der Bewertung der deutschen Hauptstadt und entfaltete menschlich hoffnungsvolle Szenen mit Familienangehörigen (Ehrlers Nichte Maria Andler-Jutz14), Freunden (Heuss) und allerlei Passanten (Arbeitern, Prostituierten, Obdachlosen), deren Fremdheit er nicht gelten lassen wollte. In der permanenten Übertragung kleinstädtischen Verhaltens auf eine Großstadt, die Ehrlers erzähltes Ich als „ewiger Kannitverstan“15 durchstreift, lag aber auch schon deren Kritik. Dass die Leistungskultur der Großstadt eine „Heimat“, d.h. eine legitime Lebenswelt, bieten könne, statuierte Ehrler nur im Vergleichsweisen und Irrtumsbefangenen: Im sausenden Maschinensaal einer Metallfabrik sagte mir einmal ein Werkmeister, in diesem Raum der Geräusche höre er besser als in der Stille. Daran muß ich hier denken. Den Berlinern scheint es ähnlich mit den Geräuschen ihrer Stadt zu gehen. Diese haben offenbar einen Kontrapunkt für sie und werden etwas wie Heimatlaut. Darum hält der Städter sein Tempo (anspruchslos irrend) für seine Kultur.16
Ehrler wiederholte hier keine lienhardschen ‚Los von Berlin‘-Parolen mehr wie noch Anfang der 1920er Jahre, als er die Antithese aufstellte: „Die Stadt hat uns
11 Vgl. Wilhelm Stapel: Sechs Kapitel über Christentum und Nationalsozialismus. Hamburg 1931, S. 29. Zu Stapels ‚deutschem Christentum‘ vgl. Kurz: Nationalprotestantisches Denken, S. 299 ff., zu seinem Hoffnungen und Enttäuschungen im Verhältnis zum Nationalsozialismus ebd., S. 311 ff., sowie Vordermayer: Bildungsbürgertum und völkische Ideologie, S. 328 ff. 12 Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution, S. 107. 13 Ehrler: Meine Fahrt nach Berlin, S. 19. 14 Damals in Berlin-Zehlendorf wohnende Buchgrafikerin bei S. Fischer. Sie hat unter anderem den Umschlag von Döblins Berge Meere und Giganten (1924) entworfen. Unter ihrem Mädchennamen Maria Jutz hat sie Ehrlers Mörikeausgabe von 1920 und einzelne Hefte von Der Schwäbische Bund illustriert. 15 Kemp: Das Deutschlandbild der Deutschen, S. 383. 16 Ehrler: Meine Fahrt nach Berlin, S. 90.
1. „Reichs-, Ahnen- und Heimatverbundenheit“: in der nationalsozialistischen Kanonbildung | 277
verdorben, das Land soll uns wiedergebären.“17 Noch weniger lag ihm als Katholiken an den in der völkischen Bewegung verbreiteten ‚rassischen‘ Vorbehalten gegenüber dem angeblich slawischen und jüdischen Berlin. Er setzte sich aber angelegentlich für das kulturelle und politische Eigengewicht der Regionen gegen einen vom ‚guten alten Recht‘ nicht gedeckten Zentralismus ein, Kunstprodukt des wilhelminischen Kaiserreichs aus dem utilitaristisch-atheistischen Geist Preußens. Deutschland müsse für immer viele Hauptstädte im bunten Teppich von Konstanz nach Husum besitzen: „Scheuert nicht am Glanz unserer alten Städte, keine soll um einer nahen oder fernen Nachbarin verblassen, sie sollen Hauptstädte bleiben klingenden Namens und bedeutenden Schaffens, Nährstädte der Landschaften.“18 In eigener Sache hatte sich der traditionsverbundene Dichter bitter über das „vernichtende Gebot der literarischen Diktatur“ aus Berlin zu beklagen, von der er glaubte, dass sie das „Gewachsene“ verkenne und die Poesie, die als solche aus deutscher Heimat, christlichem Glauben und abendländischer Bildung erstehe, zum Tode verurteile.19 Die zum Tod verurteilte Poesie war eines der beliebtesten von Ehrlers Berlinfeuilletons, mit Wiederabdrucken unter anderem in der Anthologie Hier schreibt Berlin von 1929 und noch in der Kölnischen Zeitung des Jahrgangs 1934.20 Stapel rief zu Beginn desselben Jahres, in dem er Ehrler die Tür zu Langen Müller öffnete, zum „ A u f s t a n d d e r L a n d s c h a f t g e g e n B e r l i n“ auf und setzte der „neuberlinischen Literatur“ eine „Literatur der Landschaft“ entgegen. Der Vordenker des ‚Hamburger Kreises‘ forderte ein „gesundes und selbstbewußtes Kunstleben“ überall „in der deutschen Landschaft“, ausdrücklich auch die „ kons er vat ive Auf lehnung des südwestdeuts chen demok rat i s c h e n B ü r g e r t u m s “ gegen den Vorabdruck von Alfred Döblins ultra-urbanistischem Roman Berlin Alexanderplatz in der Frankfurter Zeitung. Es gelte den Kampf gegen eine geistige Kolonisierung, besonders gegen die „Provinzialisierung des Südwestens“ durch die Intellektuellen der Hauptstadt zu führen. Dämme seien 17 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 17. 18 Ehrler: Der Bund, S. 96. Zur Auffassung der deutschen Städte unterschiedlicher Größe als jeweiligen ‚Zentralorten‘ in einem organischen Siedlungsgeflecht vgl. eindrücklich Kemp: Das Deutschlandbild der Deutschen, S. 141 ff. Zur milieukatholischen Kritik am künstlichen, rationalistisch-zweckgemeinschaftlichen Zentralismus preußischer Prägung vgl. Retterath: Volksund Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte, S. 245 ff. 19 Ehrler: Meine Fahrt nach Berlin, S. 62. 20 Vgl. Herbert Günther (Hg.): Hier schreibt Berlin. Eine Anthologie von heute. Berlin 1929, S. 410–414, dazu die Erinnerung von Herbert Günther: Drehbühne der Zeit. Freundschaften, Begegnungen, Schicksale. Hamburg 1957, S. 141; Kölnische Zeitung, Nr. 469 von 1934, dazu Oelze: Das Feuilleton der Kölnischen Zeitung im Dritten Reich, S. 419.
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zu bauen, damit die „geistigen Kloaken Berlins“ nicht „über das Land“ ausgespült würden.21 Zum Vorteil der ‚Provinzmänner‘ (von Frauen war in dieser virilen Kraftrhetorik tatsächlich kaum die Rede) glaubte er urteilen zu dürfen: Wenn wir uns vergegenwärtigen, welche von den deutschen Dichtern h e u t e urbanistisch und welche landschaftlich sind, kommen wir zu einem Ergebnis, das vielleicht manche überrascht: die b e d e u t e n d e n Dichter der Gegenwart leben in der L a n d s c h a f t und ziehen ihre Kraft aus der Landschaft.22
Die von Stapel im Januar 1930 angeheizte Berlin-Provinz-Kontroverse führte im Oktober zum Eklat in der Preußischen Akademie der Künste zwischen Döblin und den Langen-Müller-Autoren Kolbenheyer, Schäfer und Strauß. Der AlexanderplatzAutor wandte sich dabei generell gegen die „Dichter des total platten Landes“, die „Heimat nur um eine Dorfscheune mit Ententeich und um eine Wiese mit weidender Viehherde aufbauen wollten“ und von Berlin „nichts begriffen, die Spießer von anno dazumal, die sich in den viel zu vielen Straßen verirrten“.23 Bis hin zum Kriterium der „innig-treuen Naturschwärmerei“24 erfüllte Ehrler dieses Profil. Prompt im November setzte Stapel die Aufnahme des Stuttgarter Dichters in den Langen Müller Verlag durch. Wie sehr es Ehrlers Beitrag zur Berlin-Provinz-Kontroverse war, der ihn in der nationalsozialistischen Literaturförderung empfahl, zeigt auch eine Bemerkung des RSK-Funktionärs Alfred Richard Meyer, der 1934 im Amts21 Vgl. Wilhelm Stapel: Der Geistige und sein Volk. Eine Parole. In: Deutsches Volkstum 12 (1930), S. 1–8, hier S. 5 u. S. 8, sowie ders.: Mädchen, warum fährst du nach Berlin? In: ebd., S. 79. Mit dem ‚Mädchen‘ ist die Frankfurter Zeitung gemeint. – Zu Stapels Literaturkritik vgl. Ulrike Haß: Vom „Aufstand der Landschaft gegen Berlin“. In: Literatur der Weimarer Republik 1918–1933. Hg. v. Bernhard Weyergraf. München 1995 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 8), S. 340–370, Armin Leidinger: Hure Babylon. Großstadtsymphonie oder Angriff auf die Landschaft? Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz und die Großstadt Berlin. Eine Annäherung aus kulturgeschichtlicher Perspektive. Würzburg 2010, S. 180 ff., sowie jetzt Kemp: Das Deutschlandbild der Deutschen, S. 202 ff., dort auch im Vergleich mit Nadler. 22 Stapel: Der Geistige und sein Volk, S. 8. 23 Alfred Döblin: Alfred Döblin schreibt dem „Ulenspiegel“. In: ders.: Schriften zu Leben und Werk. Hg. v. Erich Kleinschmidt. Olten, Freiburg/Br. 1986, S. 276 f. (Zitat S. 276), vgl. Kommentar S. 665. Zum Hintergrund vgl. Jochen Meyer: Berlin – Provinz. Literarische Kontroversen um 1930. Marbach 1985 (= Marbacher Magazin, H. 35), S. 48 ff., sowie Verf.: Alfred Döblin. Massen, Medien, Metropolen. Würzburg 2018, S. 241ff. Zur Bestimmung von Heimat als Natur, Landschaft und Kleinstadt am Beispiel der württembergischen Heimatbewegung vgl. Confino: The Nation as a Local Metaphor, S. 177 ff. 24 Döblin: Alfred Döblin schreibt dem „Ulenspiegel“, S. 276.
1. „Reichs-, Ahnen- und Heimatverbundenheit“: in der nationalsozialistischen Kanonbildung | 279
briefwechsel mit der Schillerstiftung festhielt: „Ehrlers Entdeckung und Ablehnung Berlins seinerzeit in der Vossischen Zeitung war recht amüsant und rührend.“25 Stapel fand in Ehrler keinen großen, aber einen feinen Schöpfer, der dem ‚Angriff auf die Landschaft‘ an seinem Platz, nämlich für die ‚Stillen im Lande‘ wie in Die Reise in die Heimat, wehren können sollte. Schäfer versuchte Ehrlers verlegerische Aufwertung noch zu verhindern und warnte vor dem Feuilletonismus sowie der süßlichen Sentimentalität des Kandidaten. Stapel hielt dem pragmatisch entgegen: „Mon dieu, ein Dichterverlag kann nicht nur aus Halbgöttern bestehn, die auf literaturgeschichtlich fundierten Postamenten in die Ewigkeit ragen.“26 Verlagsleiter Gustav Pezold, zuvor Kommandeur der Organisation Consul in deren Oberbezirk Tübingen,27 verteidigte die Aufnahme seines Landsmannes im Geschäftsbericht von 1930 unter Hinweis auf die stammesethnisch verstandenen Qualitäten von Besinnlichkeit und Tiefgründigkeit: „Er wird zwar nie an das Format unserer vier Großen: Kolbenheyer, Ernst, Schäfer, Strauß heranreichen; der stille und feinsinnige schwäbische Dichter konnte aber auf diese Weise vor der Verschleuderung bewahrt werden.“28 Dabei bezieht sich ‚Verschleuderung‘ auf die Auflösung des Stuttgarter Verlags Greiner & Pfeiffer, der einen Teil der Rechte an Ehrlers Werken hielt, darunter die Buchausgabe der Berlinfeuilletons. Der Anschluss an einen der marktmächtigsten deutschen Verlage, den zentralen Literaturverlag der nächsten Zukunft, brachte Ehrler publizistisch und finanziell einen erheblichen Zugewinn.29 Er konnte damit an seine besten Zeiten in den 1910er Jahren bei Albert Langen anschließen, nachdem die Bücher bei Greiner & Pfeiffer erkennbar weniger Erfolg und erst die beiden gut ausgestatteten Bände bei Leopold Klotz 1928 wieder größeres Aufsehen erregt hatten. Sein erstes Buch im neuen Haus, der Roman Die Frist, handelt im Sinne der alten ars bene moriendi von den Sterbevorbereitungen eines für unheilbar krank Erklärten, der sich an das Epigramm aus dem Cherubinischen Wandersmann hält: „Das Ende krönt das Werck / das Leben ziehrt der Tod: / Wie herrlich stirbt der Mensch / der treu ist 25 Vgl. Alfred Richard Meyer an Heinrich Lilienfein, 20. Juni 1934, Deutsche Schillerstiftung, Personenakte Hans Heinrich Ehrler, GSA Weimar, Sign. GSA 134/134,4. 26 Wilhelm Stapel an Wilhelm Schäfer, 29. November 1930, DLA Marbach, Sign. A:Langen-Müller/Pezold. 27 Vgl. Sonja Levsen: Elite, Männlichkeit und Krieg. Tübinger und Cambridger Studenten 1900– 1929. Göttingen 2006, S. 285. 28 Gustav Pezold: Geschäftsbericht für 1930, Bl. 4, zit. n. Meyer: Die Verlagsfusion Langen-Müller, S. 82. 29 Zu Ehrlers Einkünften bei Langen Müller vgl. die Absatzaufstellung im DLA Marbach, Sign. A:Langen-Müller.
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seinem Gott!“30 Im Einklang mit der frühneuzeitlichen Sphäre hängt er sich Dürers Ritter, Tod und Teufel in die Stube, dem ausgiebige Bildmeditationen gelten. Über diese Ebene lagern sich etliche Anspielungen auf Hölderlin (unter anderem Hälfte des Lebens) und Mörike (Mozart auf der Reise nach Prag). Der Protagonist stirbt mit innerer Freiheit, nachdem er ein Bad im ‚heilig nüchternen‘ Schmelzwasser eines Gebirgsbachs genommen hatte. Der umfangreiche Pressespiegel, der den Band volltönend abschließt, versammelt positive Pressestimmen zu Ehrler aus allen Teilen Deutschlands bis hin zur Königsberger Allgemeinen Zeitung.31 Der Verlag übernahm die meisten alten Titel wie Briefe vom Land, Briefe aus meinem Kloster, Elisabeths Opferung und Meine Fahrt nach Berlin,32 bewarb den Vorzeigekatholiken 1931 außerdem mit einer Porträtfoto und Schriftprobe umfassenden Anzeige im Verlagsalmanach Ausritt, in dem Ehrler auch in den kommenden zehn Jahren regelmäßig mit Werkausschnitten vertreten war. Einen wahren, zur höheren Schau und zum edlen Wohllaut befähigten Dichter habe man gewonnen, der mit anderen zur Erneuerung der deutschen Kulturtradition berufen sei. Die Werbung polierte nochmals die Rolle des Schriftstellers als Priester und Prophet auf, die Ehrler in der späten Kaiserzeit angenommen hatte.33 Im Kleinen Buch der Dichterbilder des Langen Müller Verlags von 1941 reihen sich 72 Porträtfotos und Bio-Bibliografien in alphabetischer Folge, scheint sich der schwäbische Einsiedler und fromme Reichsseher Ehrler (Abb. 13) organisch einzufügen zwischen Paul Alverdes, Hermann Claudius, Erwin Guido Kolbenheyer, Gertrud von le Fort, Gerhard Schumann und Will Vesper: ein Kanon, dessen ‚Perlen‘ sorgsam unter anderem aus den verschiedenen Konfessionen und Regionen aufgelesen waren, die es für die „ideologische Überwölbung“34 durch die nationalsozialistische Sammlungsbewegung gleichmäßig zu bedienen galt. Nachdem Ehrler in seinem Berlinbuch eine diskursive Diktatur der literarischen Moderne zu bedauern hatte, zog er in der polybürokratischen Mediendiktatur des Dritten Reichs intensive Fördermaßnahmen auf sich. Die interne Begutachtung seiner Arbeiten durch die „Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums“ 30 Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann. Kritische Ausgabe. Hg. v. Louise Gnädinger. Stuttgart 1984, S. 167 (4. Buch, Nr. 95). 31 Ehrler: Die Frist, S. 203–205. Vgl. darüber hinaus Ernst Feise: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Die Frist. In: Books Abroad 6 (1932), S. 232, mit dem wohlwollenden Ergebnis: „Ehrler’s mysticism has succeeded in illustrating even for the unphilosophical reader the old romantic problem of life in death and death in life.“ 32 Meyer: Die Verlagsfusion Langen-Müller, S. 228. 33 Zur totalitaristischen Reaktivierung der Priesterdichter-Rolle vgl. Rohrwasser: Schriftsteller im Zeitalter des Totalitarismus, S. 186 ff. 34 Mühlenfeld: Was heißt und zu welchem Ende studiert man NS-Propaganda?, S. 545.
1. „Reichs-, Ahnen- und Heimatverbundenheit“: in der nationalsozialistischen Kanonbildung | 281
Abb. 13: Ehrler im Kleinen Buch der Dichterbilder des Langen Müller Verlags 1941.
kam 1933/34 zu uneingeschränkt positiven Ergebnissen: Der Leser begegne hier „einer edlen humanistischen Kultur“, einer „höheren Wertwelt“ nach den „strengen seelischen Gesetzen von Liebe, Heiligung, Schuld, Verzicht und Opfer“.35 Die Bücher des Autors eigneten sich „vorzugsweise“ für „gebildetere, süd- und mitteldeutsche wie katholische Leserkreise“36 – ein Urteil, das auch die für das Literatursystem der 1920er und 1930er Jahre charakteristische Differenzierung in konfessionelle und regionale Teilöffentlichkeiten spiegelt.37 Das „Amt für Schrifttumspflege“ stellte 1937 in seiner tonangebenden Rezensionszeitschrift Bücherkunde die höchsten Noten für den Gedichtband Unter dem Abendstern aus:
Mit diesen neuen Gedichten wird unsere Lyrik um ein schönes und reifes Geschenk reicher. Gewiß sind diese Gedichte nicht einfach; sie verlangen Stille und innere Bereitschaft, aber sie geben eine Fülle tiefsten Empfindens. Sie sind in schönstem Sinne deutsch, hingegeben an das Erlebnis des Göttlichen in Mensch und Natur, ringend um die tiefsten Dinge, suchend nach der Sinnhaftigkeit der Erscheinungen. Die ganze Weisheit und Abgeklärtheit eines alten und dennoch nicht überalterten Lebens tritt uns hier entgegen […]. Aber Ehrler bleibt immer eine starke eigene Persönlichkeit, denkt seine Gedanken, spricht seine eigene starke und bildhafte, gepflegte und dabei sehr volkstümliche Sprache. Er stelle hohe Ansprüche an seinen Leser, ohne sich irgendwie in überzüchtete Geistigkeit zu verlieren [...].38
35 Karl August Kutzbach: Gutachten für die Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums, Hans Heinrich Ehrler, Universitätsbibliothek Regensburg, Paul-Ernst-Archiv, Nachlass Karl August Kutzbach, Sign. 250/AM 95805 M2-28,1/1. Vgl. auch ders.: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Unter dem Abendstern. In: Die Neue Literatur 38 (1937), S. 463 f., sowie ders.: Autorenlexikon der Gegenwart. Bonn 1950, S. 82 f. u.ö. 36 Kutzbach: Gutachten für die Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums. 37 Zu den Teilöffentlichkeiten der Weimarer Republik und des Dritten Reichs vgl. Wilhelm Haefs: Einleitung. In: Nationalsozialismus und Exil 1933–1945. Hg. v. Wilhelm Haefs. München 2009 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 9), S. 7–52, hier S. 19 ff. 38 [Anon.]: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Unter dem Abendstern. In: Bücherkunde 4 (1937), S. 725.
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Hier sind auf engstem Raum einige der wichtigsten Topoi jenes Sinn- und Erlebnisangebots versammelt, das die NS-Kulturpolitik, in Ausnutzung unter anderem des jungkonservativen Diskursbestandes, von ‚Dichtung‘ erwartete: Schollenbindung (‚deutsch‘, ‚lebendig‘, ‚volkstümlich‘) und Antiintellektualismus (‚ohne überzüchtete Geistigkeit‘), Religiosität (‚Erlebnis des Göttlichen‘) und Opferbereitschaft (‚Geschenk‘, ‚Hingabe‘), Elitedenken (‚nicht einfach‘, ‚gepflegte Sprache‘, ‚Anspruch‘) und Personenkult (‚Weisheit‘, ‚Stärke‘, ‚Persönlichkeit‘) mit der Möglichkeit, gerade den traditionsverbundenen Dichter als Führer in die Zukunft zu empfehlen. Ein Pressereferent der NSDAP-Reichsleitung griff 1938 zur Feder, um Ehrlers Neuerscheinung Mit dem Herzen gedacht in der Frankfurter Zeitung buchstäblich zu der Weisheit letztem Schluss zu erklären: Das Buch dokumentiere den „letzten, zu reifer Weisheit und inniger Wahrheit erhobenen Sinn[] eines Menschentums, das mit den Geheimnissen des Daseins gerungen hat, um in abgeklärter Reinheit nur noch dem Göttlichen im Irdischen zu gehören“, sei eine Leistung „von deutscher Innerlichkeit wie von unbegrenzter Aufgeschlossenheit gegenüber dem Kosmos, der Erde und ihren Menschen“. Die in dem Band versammelten „Betrachtungen“ summierten sich zur inneren Autobiografie einer deutschen Dichterpersönlichkeit und zeugten von einer „Harmonie, welche Freiheit beschert“. Waren damit vor allem Ehrlers franziskanische Dispositionen angesprochen (das ‚Göttliche im Irdischen‘, die ‚unbegrenzte Aufgeschlossenheit‘), wurde zuletzt sein Verständnis von Kunst als erbaulicher Dienst an Mensch und Gesellschaft akzentuiert: „[ein] Vermächtnis, das Licht ausstrahlt und durch die unbedingte Wesensechtheit seines Gehalts und die klare Schönheit seiner Form der Gegenwart wie der Zukunft dient“.39 Unter den gegebenen germanistischen Referenzen für Ehrlers institutionelle Förderung standen Bartels’ Geschichte der deutschen Literatur und Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (s. Kap. II.1) nicht so sehr im Vordergrund wie die Arbeiten des Lektoratsleiters der „Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums“, Hellmuth Langenbucher, der aus Baden stammte, an 39 Elster: [Rez.] Mit dem Herzen gedacht. – Zu den hier waltenden Staatsbehörden bzw. Parteidienststellen und ihren Wertungskriterien vgl. Barbian: Literaturpolitik im NS-Staat, S. 81 ff., sowie ders.: Verordneter Kanon. Literarische Kanonbildung während der NS-Diktatur 1933– 1945. In: ders.: Die vollendete Ohnmacht? Schriftsteller, Verleger und Buchhändler im NSStaat. Ausgewählte Aufsätze. Essen 2008, S. 59–77. – Zu dem hymnischen Rezensionsstil, der auch auf die Ersetzung der Literaturkritik durch die ‚Literaturwürdigung‘ zurückgeht („Erlaß zur Neuformung des deutschen Kulturlebens“ vom November 1936), vgl. Schäfer: Kultur als Simulation, S. 385, sowie Linthout: Das Buch in der nationalsozialistischen Propagandapolitik, S. 166.
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der Universität Heidelberg promoviert hatte und wie Ehrler die meiste Zeit seines Lebens im Umfeld von Stuttgart verbrachte.40 Er belobigte Ehrler bereits in der Erstausgabe seiner rasch zum Standardwerk avancierten Literaturgeschichte der Gegenwart, Volkhafte Dichtung der Zeit (1933), umso mehr in den erheblich erweiterten Folgeauflagen. Selten, so Langenbucher im Kapitel „Deutsches Schicksal – Deutsches Leben“, finde man „derart bei einem so innig im Heimatlichen verwurzelten Dichter das Hinausgreifen aus dem nur Landschaftlichen in die Weite des deutschen Lebensraumes und der deutschen Lebensaufgabe“.41 Die Titel von Ehrlers Arbeiten schienen nur genannt werden zu müssen, um den nationalsozialistischen Dreiklang der Werkklassen Heimatroman, Weltkriegsliteratur und Feierdichtung volltönend anzuschlagen. Wenn Langenbucher den schollenhaften Eigensinn und die geistige Selbstständigkeit seines Landsmannes pries, bezog er sich auf das nationalkonservative Verständnis von Unparteilichkeit, das freilich höchst parteilich war, und auf den Markenwert ‚Persönlichkeit‘, den schon Bry für Ehrler reklamiert hatte: Ehrler nahm an keinem der Literatur-Ismen teil, die während der drei Jahrzehnte seines Schaffens an ihm vorüberdrängten. Er fragte nie nach Erfolg oder Anerkennung und widerstand mit lächelnder Eigensinnigkeit jeglicher Etikettierung durch die Zünftigen, da er sich nur unter das Gesetz des Dichterischen stellte und derart eine eigengeartete Welt um sich aufbaute.42
Selbst in seiner 1935 gegründeten Zeitschrift Weltliteratur, die die internationale Geltung völkischer Literaturprinzipien herauszustreichen suchte, eröffnete Langenbucher dem von einer „mystischen Gottessehnsucht“ erfüllten Dichter die Bühne und variierte sein Urteil: „Der so alles tiefe Leben der Heimat aus Gründen hob, in die sonst hinabzusteigen uns nicht vergönnt ist, war zugleich ein leidenschaftlicher Eiferer für das Deutschland des Reiches, an das er glaubte und für 40 Für die ausgiebige Forschung zu Langenbuchers Karriere und Rolle als NS-Kanonmacher vgl. Vondung: Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literaturtheorie, S. 114 ff., Ketelsen: Literatur und Drittes Reich, S. 72 ff., Karl-Heinz Schoeps: Literatur im Dritten Reich (1933– 1945). Neuausgabe Berlin 2000, S. 54 ff., Ralf Bähre: Hellmuth Langenbucher (1905–1980). Beschreibung einer literaturpolitischen Karriere. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 47 (1997) S. 249–308, sowie zuletzt Jan-Pieter Barbian: Leser und Leserlenkung. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Börsenverein des Deutschen Buchhandels / Historische Kommission. Bd. 3: Drittes Reich. Tl. 1. Berlin, Boston 2012, S. 197–228. 41 Langenbucher: Volkhafte Dichtung der Zeit (4. Aufl.), S. 365–367. 42 Hellmuth Langenbucher: Hans Heinrich Ehrler. Zum 60. Geburtstag am 7. Juli 1932. In: Süddeutsche Zeitung, 6. Juli 1932. Vgl. denselben Gedanken bei Bry: Die Heimkehrenden, S. 527.
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das er in der Stille wirkte.“43 Diese innige Verschränkung von Heimat und Reich folge aus einer ererbten Anlage des „schwäbische[n] Geist[es]“: „das Spintisieren, Grübeln, das religiöse Sich-versenken, die heiße Sehnsucht, im kleinsten Raum den Sinn der großen Welt auszudeuten“.44 Dabei bestätigte Langenbucher Ehrlers ecce homo-Haltung des an seiner Schau leidenden Propheten, der „nicht selten mit dem Zerbrechen bedroht“ werde, und paarte den Geronten absichtsvoll mit dem viril-vitalistischen SA-Lyriker Gerhard Schumann: „Und neben ihm steht heute der Vertreter der jungen Kämpfergeneration, ein paar Jahre über zwanzig, Gerhard Schumann, der Dichter im Braunhemd, Schwabe und Rufer des Reichs, selbstverständlich in seiner Treue, glühend in seinem Bekenntnis und Wollen.“45 In der für den nationalsozialistischen Literaturbetrieb entscheidenden Meinungsbildung von Will Vespers Zeitschrift Die Neue Literatur erschien Ehrler zuerst 1932 und danach noch vielfach als „schwärmerischer reiner Dichter“ und „Wandler zwischen Tagwelt und Seelenwelt“, dessen pantheistisch-magische „Belebung der Dingwelt“ der spirituellen „Erhöhung der Heimat“ diene.46 Vorbildlich wirke er durch ein „starkes Gefühl der Reichs-, Ahnen- und Heimatverbundenheit“, das den Nahraum mit dem Kosmos und der Geschichte verbinde.47 Unter den Gratulanten zu Ehrlers 60. Geburtstag im Juli 1932 urteilte Vesper, ähnlich wie Langenbucher: „Ehrler hat es stets verstanden, abseits von literarischen Richtungen seinen eigenen stillen Weg zu gehen. In dieser Vereinzelung steht er heute vor uns als eine der lautersten Dichtergestalten der Gegenwart.“48 Ein von Vesper hierbei für eines der nächsten Hefte angekündigter Aufsatz zur Einführung in das Gesamtwerk des Dichters ist dann allerdings nicht erschienen, wäre nach Ehrlers Distanzierung vom Nationalsozialismus in seiner Verfassungsfeierrede vom Au43 Langenbucher: Schwäbische Leistung im gesamtdeutschen Schrifttum, S. 241. Zur Zeitschrift Weltliteratur vgl. Thomik: Nationalsozialismus als Ersatzreligion, zu Ehrler hier S. 70 f. u. S. 85. Zum nationalsozialistischen Begriff von Weltliteratur vgl. auch Linthout: Das Buch in der nationalsozialistischen Propagandapolitik, S. 119 f. u. S. 325 f. 44 Langenbucher: Schwäbische Leistung im gesamtdeutschen Schrifttum, S. 241. 45 Langenbucher: Schwäbische Leistung im gesamtdeutschen Schrifttum, S. 241. Zu Schumann und der ‚Jungen Mannschaft‘ vgl. Streim: Deutschsprachige Literatur 1933–1945, S. 104 ff. 46 Franke-Heibronn: [Rez.] Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm. Zu Vespers Politik gegenüber den christlichen Autorinnen und Autoren vgl. Gisela Berglund: Der Kampf um den Leser im Dritten Reich. Die Literaturpolitik der Neuen Literatur (Will Vesper) und die Nationalsozialistischen Monatshefte. Worms 1980, S. 99–109 („Nichtnationalsozialisten, Angepaßte oder doch Innere Emigranten?“). 47 Kutzbach: [Rez.] Unter dem Abendstern, S. 463. 48 [Anon.]: Mitteilungen [60. Geburtstag von Hans Heinrich Ehrler]. In: Die Neue Literatur 33 (1932), S. 339.
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gust des Jahres auch inopportun gewesen. Überhaupt eskamotiere die nationalsozialistische Kanonisierung des Autors dessen unzweifelhaften Einsatz für die DDP um 1920 und für das Zentrum um 1930. Langenbucher erklärte das einschlägige Engagement des Volksredners Ehrlers mit einer angeblich nur antikommunistischen Motivation: Im „Widerstand gegen den Spartakusbund“ sei er als „Warner vor dem Umsturz aufgetreten“.49 Das mochte klingen, als habe Ehrler die Revolution von 1918/19 grundsätzlich abgelehnt, tatsächlich hat er sie aus linksliberaler Sicht als notwendig und berechtigt verteidigt. Außerdem legte Langenbucher nahe, der Dichter habe sich gegen die internationale Umwelt Deutschlands gewandt und auf einen rein nationalen Standpunkt gestellt. Er sei nämlich in den Jahren nach dem Kriege nicht müde geworden, die Stimme zum inneren Wiederaufbau des deutschen Volkes zu erheben, und er war fest davon überzeugt, daß wir keines von draußen geholten Erlösers bedürften, um wieder aufzustehen, sondern daß die Kraft zur Erhebung aus der Not im deutschen Volk selbst liegen würde.50
Langenbucher paraphrasierte hier tatsächlich nicht Ehrler, sondern Hitler, der entsprechende Wendungen in mehreren Reden Anfang 1933 benutzt hat.51 Ehrler hatte vielmehr (in den Briefen aus meinem Kloster) geschrieben: Wir brauchen nach keinem neuen Erlöser zu rufen; nicht von außen wird er kommen, von keinem Rednerpult und keiner Gasse, aus keinem Morgen- noch Abendland, sondern innen aus uns. Nicht aus dem Nachbar, sondern aus m i r […].52
Der Erbauungsdichter bezog sich hier stärker im Sinne einer persönlichen Religion auf den christlichen Topos von Lk 17,20–21: 49 Langenbucher: Volkhafte Dichtung der Zeit (4. Aufl.), S. 607. 50 Langenbucher: Volkhafte Dichtung der Zeit (4. Aufl.), S. 367. 51 Vgl. z.B. Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen, Bd. 1/1, S. 205 (10. Februar 1933): „Ich will ihnen nicht versprechen, daß dieser Wiederaufstieg unseres Volkes von selbst kommt. // Wir wollen arbeiten, aber das Volk muß mithelfen. Es soll nie glauben, daß plötzlich Freiheit, Glück und Leben vom Himmel geschenkt wird. Alles wurzelt nur im eigenen Willen, in der eigenen Arbeit. // […] Wir glauben niemals an fremde Hilfe, niemals an Hilfe, die außerhalb unserer eigenen Nation, unseres eigenen Volkes liegt. Nur in sich selbst allein liegt die Zukunft des deutschen Volkes.“ 52 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 124.
286 | V. Das ‚Innere Reich‘ im Dritten Reich Da er [Jesus] aber gefragt ward von den Pharisäern: Wann kommt das Reich Gottes? antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden; […] Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch.53
Langenbucher überging mithin die abendländisch-romanophilen Inklinationen Ehrlers, der „von jeher“ eine „im tiefsten d e u t s c h e Haltung“ eingenommen habe und von „glühender Liebe und Sehnsucht und Sorge um Deutschland“ erfüllt sei. Letztlich rechnete er dem Autor, der „mit der ganzen Fülle seiner dichterischen Aufgabe der inneren Wiederaufrichtung seines Volkes zugewandt“ sei, einen Anteil an der ‚nationalen Renaissance‘ des Dritten Reichs zu.54 Hatte Langenbuchers Volkhafte Dichtung der Zeit so den Ton vorgegeben, hielten sich auch die meisten anderen NS-germanistischen Referenzwerke zur jüngeren und jüngsten Literaturgeschichte nicht damit zurück, Ehrlers Werk und Wirken in die Vorgeschichte des Dritten Reichs einzuordnen. Johannes Beers Deutsche Dichtung seit hundert Jahren (1937) verortete Ehrler unmittelbar neben Johannes Linke, Hermann Löns und Hans Friedrich Blunck, „in den harten Kämpfen der letzten zwanzig Jahre“, in denen die „Festigung und Erneuerung der völkischen Idee“ errungen worden sei.55 Franz Lennartz’ vielbenutztes Kompendium Die Dichter unserer Zeit (zuerst 1938) führte ihn als „volksnahe[n] Lyriker und Erzähler aus schwäbischer Heimat“, ohne seine Herkunft aus „katholischer Geisteswelt“ zu verleugnen: „Tiefe Religiosität“ durchklinge seine Dichtungen, jedoch in nationalkultureller Verpflichtung darauf, „‚das innere Licht des deutschen Wesens‘ an[zu]zünden“. Betont wurde, wie zu Zeiten des Ersten Weltkriegs, der „Opfergedanke“, der das christliche Bekenntnis mit dem vaterländischen Einsatz zu verbinden geeignet war, sowie der homo religiosus als der „ringende Mensch […], der Anfang und Ende aller Welt sucht“ und damit unversehens an Faust, den deutschen Nationalmythos, erinnerte.56 Norbert Langers Die deutsche Dichtung seit dem Weltkrieg (1940) schließlich behandelte Ehrlers Werk nicht etwa im „Das Gesetz der Landschaft“ überschriebenen Kapitel der ‚Stammesliteraturen‘, sondern unter der Überschrift „Erlebtes Leben und gestaltete Wirklichkeit“ als Bestandteil der großdeutschen Nationalliteratur.57 Ohne jede Einschränkung hinsichtlich sei53 Wortlaut der Lutherübersetzung in der Revision von 1912: Biblia. Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers. Durchges. im Auftrag der Deutschen Evangelischen Kirchenkonferenz. Stuttgart 1912. 54 Hellmuth Langenbucher: Volkhafte Dichtung der Zeit. Berlin 1933, S. 73 f. 55 Johannes Beer: Deutsche Dichtung seit hundert Jahren. Stuttgart 1937, S. 199. 56 Lennartz: Die Dichter unserer Zeit (4. Aufl.), S. 101 f. 57 Langer: Die deutsche Dichtung seit dem Weltkrieg, S. 55 u. S. 134.
1. „Reichs-, Ahnen- und Heimatverbundenheit“: in der nationalsozialistischen Kanonbildung | 287
ner poetischen Gestaltungskraft und politischen Zuverlässigkeit erschien Ehrler hier als makellosester Dichter und neuer Franziskus, als großer Versöhner von Heimat und Welt, von Immanenz und Transzendenz: Das bauende und gestaltende Vermögen Ehrlers steht unter der Gabe der inneren Schau, der betrachtenden Weisheit, des Gefühls für die feinsten seelischen Regungen, für die stillen Freuden, für das Horchen auf das Stumme. Die Reinheit eines edlen Herzens [...] verbündet sich mit der Klarheit einer hohen menschlichen Reife. [...] Religiöse Haltung und tiefe Innerlichkeit, Liebe zu Heimat und Volk vereinigen sich in den Werken Ehrlers, die – alles in allem – der Besinnung auf unser Wesen dienen. [...] Bei aller Reife hat Ehrler die Kindlichkeit, das andächtige Versenken in die Wunder der Welt nicht verlernt. Aus dem Staunen über diese Welt erschließt sich ihm ihr Geheimnis fast griechisch heiter und weise. [...] Das Herz ist allem offen, es schließt nichts aus, es wehrt nichts ab, es durchlebt alles stark und bejahend [...].58
Der aus der Kirche ausgetretene österreichische NS-Funktionär Langer, Abteilungsleiter im „Volksbund für das Deutschtum im Ausland“ und Chefredakteur der Zeitschrift Der Volksdeutsche,59 tat sich auch deshalb so leicht mit dem katholischen Dichter, weil er auf dessen feierliche Hitlerbekenntnisse von 1938 zurückgreifen konnte, mit denen Ehrler auf die Stufe einer Kollaboration durch ‚Führer‘-Loyalität getreten war.60 Zur Abrundung der Ehrlerdarstellung zitierte er nichts anderes als den Schlusssatz von Ehrlers Hitlerbetrachtung Die Stimme: „Das hellste Wort unserer deutschen Muttersprache ist das J a “, das ‚Ja‘ nämlich zum ‚Rufer‘ Hitler.61 Die literaturhistoriografische Kanonisierung des Dichters begann bei Langenbucher 1933 mit Vorschussangeboten auf die Zugehörigkeit zum Nationalsozialismus, verband sich aber auch mit einer mehrstufigen Kollaborationsgeschichte, die in den folgenden Kapiteln nachzuzeichnen ist.
58 Langer: Die deutsche Dichtung seit dem Weltkrieg, S. 85. 59 Vgl. den detaillierten Eintrag bei Uwe Baur u. Karin Gradwohl-Schlacher: Literatur in Österreich 1938–1945. Bd. 1: Steiermark. Wien, Köln u.a. 2008, S. 217 ff. 60 Vgl. das Stufenmodell der Kollaboration von Olaf Blaschke: Stufen des Widerstands – Stufen der Kollaboration. In: Widerstand? Forschungsperspektiven auf das Verhältnis von Katholizismus und Nationalsozialismus. Hg. v. Andreas Henkelmann u. Nicole Priesching. Saarbrücken 2010, S. 63–88, hier S. 80 f. 61 Langer: Die deutsche Dichtung seit dem Weltkrieg, S. 86.
288 | V. Das ‚Innere Reich‘ im Dritten Reich 2. „Heilige Heimat“: zwischen christlicher Gegenkanonisierung und Kollaboration
Die linksgerichtete Literaturkritik und Literaturgeschichtsschreibung hat die rechtskonservativ-nationalsozialistischen Ehrlereinschätzungen mehr oder weniger gleichgültig bestätigt. Das SPD-Organ Die Neue Zeit fand schon in der Periode der Linksblockpolitik um 1920 zumindest keine Gegenliebe für den Autor, der dem Bürgertum melancholisch-sentimentale Trauerflore umhänge. Wer die Geschichten von Der Hof des Patrizierhauses mit Genuss lesen wolle, müsse sich zuvor „Schlafrock und Pantoffeln“ anziehen, so der Münchner Literaturkritiker Edgar Steiger, der bei Ehrler nur „Kleinmalerei des Augenblicks“ und allenfalls „manche[n] blitzartigen Einblick in eine Menschenseele“ entdecken konnte.62 Die Weltbühne akzeptierte im März 1933 bereitwillig Ehrlers Einordnung in die lange Reihe derer, von Alverdes über Carossa bis zu Wehner, die die NS-Agenturen auf ihrer Seite sehen wollten und zu einer „Literatur fürs Dritte Reich“ rechneten.63 Dagegen nahmen christliche Literaturkreise einen regelrechten Kampf um Ehrlers weltanschauliche Zugehörigkeit auf. Ihnen kam entgegen, dass der ursprünglich liberalkatholische Autor besonders seit dem Lyrikband Gesicht und Antlitz von 1928 verstärkt an die kirchlich verfasste Religiosität Anschluss suchte. Neben der neofranziskanisch erlebten Natur, wie im Gedicht Beter am Meer64, wurde ihm auch die Kirche wieder zum Gebets- und Wunderraum, der Unterordnung verlangen durfte, programmatisch in Flectamus genua! (‚Beuget die Knie!‘): Und in der Kirche – seit wie vielen Jahren – ? Zum ersten Mal sinkt wieder er ins Knie. Ein rauer Schmerz ist ins Gelenk gefahren. Das eitel steife bog sich draußen nie. […] 62 Edgar Steiger: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Der Hof des Patrizierhauses. In: Die Neue Zeit. Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie 37 (1919), S. 549. 63 Vgl. Walther Karsch (als Quietus): Literaturgeschichte fürs Dritte Reich. In: Die Weltbühne 29 (1933), S. 327–330, hier S. 329, bezogen auf Paul Fechter: Dichtung der Deutschen. Eine Geschichte der Literatur unseres Volkes von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin 1932, S. 794, bei dem unter den Erzählern der Gegenwartsliteratur Alfred Döblin oder selbst Thomas Mann mit keinem Wort erwähnt werden, Ehrler hingegen neben „dem Elsässer René Schickele“ steht. 64 Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 135. Wiederabgedruckt unter anderem im Jahrbuch der Hamburger Gesellschaft der Bücherfreunde: Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde 5 (1934), nach S. 136. Vgl. den Kommentar von Joachim Maaß: Das lyrische Gedicht im zeitgenössischen Deutschland. In: ebd., S. 133–144.
2. „Heilige Heimat“: zwischen christlicher Gegenkanonisierung und Kollaboration | 289
Wie eine Taufe wills an ihm geschehen. Was wird wohl sein, taucht er daraus herauf? Indes ob dem noch tief Versenkten gehen Des Gnadenbildes Augen droben auf.65
Das bildungskatholische Literaturmagazin Hochland, das noch angesichts der Briefe aus meinem Kloster von 1922 gewünscht hatte, Ehrlers katholisches Gefühl möge sich über das nur literarische Christentum hinaus bedeutend steigern,66 formulierte 1934 wie in beschwörender Absicht: „Ehrlers Gesinnung, von katholischen Kräften reich durchformt, ist unantastbar.“67 Auch die integralistische Kulturzeitschrift Der Gral, in Abgrenzung zum modernistischen Hochland von der strengen Observanz und die Unterordnung der Kunst unter die Kirche fordernd, stipulierte in diesen Jahren Ehrlers Christlichkeit: „Es ist die Weltweise des Katholizismus, die sich hier auftut und zu dem sich der Dichter in schlichter Gläubigkeit bekennt.“ Der Traditionsbewusste habe die Fäden Goethes „fortgesponnen“, „ummerklich hineinverklärt in die größere Tiefe und Schönheit der christlichen Religion“.68 In Wilhelm Koschs Personenlexikon Das katholische Deutschland er-
65 Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 12. 66 Herwig: [Rez.] Briefe aus meinem Kloster, S. 112. 67 Heinrich Lützeler: [Rez.] Neue Romane. In: Hochland 32/1 (1934/35), S. 260–265, zum Baumeister Wilhelm hier S. 260 f. (Zitat S. 260). 68 [Anon.]: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm. In: Der Gral 29 (1934/35), S. 36 f. Vgl. dagegen z.B. die vorsichtige Formulierung von A. Kamp: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Das Gesetz der Liebe. In: Der Gral 23 (1928/29), S. 526: „Im Eros und seiner Bindung sucht er die Lösung des Alls zu finden und kommt dabei in manchen grundlegenden Fragen dem Christentum sehr nahe.“ – Zu Gral, Hochland und deren Differenzen vgl. Manfred Weitlauff: „Modernismus litterarius“. Der „Katholische Literaturstreit“, die Zeitschrift Hochland und die Enzyklika Pascendi dominici gregis Pius’ X.. vom 8. September 1907. In: ders.: Kirche zwischen Aufbruch und Verweigerung. Ausgewählte Beiträge zur Kirchen- und Theologiegeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2001, S. 388–460, Felix Dirsch: Das Hochland – Eine katholisch-konservative Zeitschrift zwischen Literatur und Politik 1903–1941. In: Konservative Zeitschriften zwischen Kaiserreich und Diktatur. Fünf Fallstudien. Hg. v. Hans-Christof Kraus. Berlin 2003, S. 45–96, Gilbert Merlio: Carl Muth et la revue Hochland. Entre catholicisme culturel et catholicisme politique. In: Le milieu intellectuel catholique en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1871–1963) / Das katholische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871–1963). Hg. v. Michel Grunewald u. Uwe Puschner. Bern, Frankfurt/M. u.a. 2006, S. 191–208, sowie Giacomin: Zwischen katholischem Milieu und Nation, S. 66 ff., ferner Knoll: Glaube zwischen Herrschaftsordnung und Heilserwartung, S. 227–232 („Der ‚Kulturstreit‘ zwischen Integral- und Liberalkatholizismus“), sowie Weiß: Kulturkatholizismus, S. 42 ff.
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schien der Sohn Bad Mergentheims 1933 fest in den konfessionellen Reihen.69 Zumal Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm, als Romanautobiografie eines Kirchenarchitekten, deren Episoden in Süddeutschland, in Straßburg und in der Dordogne, mithin sämtlich auf katholischem Grund, spielen, sollte dafür die Garantie bieten: „ein wundervolles Werk [...], wohlüberlegt im Aufbau, vornehm in der Sprache, klug in der Lebensweisheit, adlig in der menschlichen und religiösen Gesinnung“: „Hans Heinrich Ehrler hat uns ein Meisterwerk geschenkt, in dem sich dreimal Leben und Tod begegnen, woraus auf den Reichtum zu schließen ist, mit dem es uns beglückt.“70 Konfessionell besonders befriedigen musste, dass der junge katholische Künstler Wilhelm in der Kathedrale von Périgueux, am Jakobsweg in Südfrankreich, zum geregelten Glauben und zur Amtskirche zurückfindet. Eine Generalbeichte wird ihm erst über die Verwendung der französischen Sprache möglich, die er zuvor an den Pensées (1670) von Pascal einübt.71 Dem Hochland wie dem Gral ging es bei ihren Lobeshymnen um einen hochgeschätzten Autor, der „die tiefe Einsicht eines gläubigen Herzens in die Gründe der Gestaltlosigkeit der Welt und eines großen Teiles der heutigen Dichtung“ besitze,72 der „als Lyriker zu unseren größten Dichtern“ zähle und dessen „unvergängliche Gebilde“ mit „Mörikes, Rilkes und Georges Versen unser bleiben“ würden.73 Beide Organe – und zwar mit den seinerzeit prominenten katholischen Stimmen von Johannes Kirschweng und Heinrich Lützeler – betrieben eben in dem Augenblick die christliche Kanonisierung Ehrlers, als seine nationalsozialistische Kanonisierung konkurrierend zur Option stand. Dass Ehrler, selbsterklärter „liebende[r] Patriot[]“74, seinerseits zumindest mit dem Hochland fremdelte, weil er es nicht für ausreichend vaterlandsverpflichtet hielt,75 ließ man auf sich beruhen. 69 Vgl. Wilhelm Kosch (Hg.): Das katholische Deutschland. Biographisch-bibliographisches Lexikon. 3 Bde. Augsburg 1933–1938, Bd. 1 (1933), Sp. 589. Wohl auf einen, wenn auch nicht unsymptomatischen Redaktionsfehler geht Ehrlers Zuordnung zum nationalkirchlichen Altkatholizismus im deutschen Who is Who zurück: [Herrmann A. L. Degener]: Degeners Wer ist’s? 10. Ausg. Berlin 1935, S. 346; zu altkatholischen Kräften in der Heimatbewegung vgl. Steber: Ethnische Gewissheiten, S. 227 ff. 70 [Anon.]: [Rez.] Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm, S. 36 f. 71 Vgl. Ehrler: Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm, S. 101: „Wilhelm beichtete […], mühsam in französischer Sprache. Aber gerade dies Hilfsmittel machte die schwere Handlung leichter.“ 72 Johannes Kirschweng: Neue Lyrik. In: Hochland 30 (1932/33), S. 76–82, hier S. 81 f. 73 [Anon.]: [Rez.] Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm, S. 37. 74 Ehrler: Rede bei der Verfassungsfeier, Bl. 2. 75 Vgl. Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 127: „In dieser Zeitschrift findet sich Jahrgänge hindurch das Wort: Vaterland nicht. Die ‚Geistigen‘ ihres Kreises nehmen es nicht in den Mund. Die engste Grenze, darin sie denken zu können sich einbilden, ist Europa, die Menschheit.“ Zu
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Der saarländische Dichterpriester Kirschweng und der Bonner Kunsthistoriker Lützeler verstanden ihre Deutungsbemühungen offenbar als Konkurrenz und als Gegenkanonisierung.76 Ehrlers rechtsradikalen Förderern wie Stapel und Vesper ging es dagegen gerade nicht um eine Alternative zwischen Nationalsozialismus und Christentum. Die christliche Grundlage seiner Erbauungsliteratur wurde von dieser Seite kaum jemals unterschlagen. Sie stellte kein per se ausschließendes Kriterium für die nationalsozialistische Inanspruchnahme dar, bot sich vielmehr zu einer komplizierten Kollaboration an.77 Von Ehrlers ersten drei Büchern im nationalsozialistisch gelenkten Verlag Langen Müller warteten die Romane Die Frist und Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm mit christlichen Helden auf, behandelte der Lyrikband Die Lichter schwinden im Licht von der ersten Seite an „GOTTES Wunder“ und endete mit einer Flut geradezu christlich-klerikaler Gedichte, darunter Charisma, ΙΧΘΥΣ/Der Fisch, In der Apsis, Vor dem Münster, Una Sancta, Sacerdos, Aeternum und (Franziskus zitierend) Nullu homo ene dignu te mentovare. Die katholische Orientierung bedeutete freilich schon deshalb keine sichere Abgrenzung gegen den Nationalsozialismus, weil das Verhältnis zwischen Glaube und Politik in Begriffsfeldern wie des Charismas, des Reichs und der heiligen Einigkeit nicht nur vonseiten der Sammelbewegung und der „Konsensdiktatur“78, sondern auch der Konfession und der Kirche offen war. Die Mehrzahl gerade von Ehrlers Gedichten in Die Lichter schwinden im Licht, wenige Monate vor dem Anbruch des ‚Dritten Reichs‘ erschienen, konnten wie von Langenbucher als ‚Rufe nach dem Reich‘, nach der joachimitischen Zeitenwende und der großen Einheit aller mit allen verstanden werden. den Spannungen zwischen katholischem Klassizismus und deutschen Nationalismus im Hochland, vgl. bes. Dirsch: Authentischer Konservatismus, S. 160 ff., sowie Giacomin: Zwischen katholischem Milieu und Nation, S. 91 ff. u. S. 389 ff. 76 Zu Kirschwengs und Lützelers Verhältnissen zum Nationalsozialismus vgl. Steinmeyer: Literatur und Politik im Werk von Johannes Kirschweng, S. 286 ff., sowie Frank-Lothar Kroll: Intellektueller Widerstand im Dritten Reich. Heinrich Lützeler und der Nationalsozialismus. Berlin 2008, bes. S. 79 ff. Lützeler war insofern ein berufener Rezensent von Ehrlers Baumeister Wilhelm, als er sich mit dessen sakralarchitektonischen Fragen im selben Zeitraum beschäftigt hat; vgl. Heinrich Lützeler: Der deutsche Kirchenbau der Gegenwart. Düsseldorf 1934, sowie ders.: Deutscher Geist im katholischen Kirchenbau der Gegenwart. In: Die christliche Kunst 31 (1934/35), S. 225–244. 77 Zum Begriff der Kollaboration vgl. Blaschke: Stufen des Widerstands – Stufen der Kollaboration, S. 80 ff., mit der Unterscheidung von „1. Punktuelle Zufriedenheit“, „2. Kooperation und Anpassung“, „3. Loyalität bis zum Konsens“, „4. Aktive Kollaboration“. 78 Götz Aly: Historische Demoskopie. In: Volkes Stimme. Skepsis und Führervertrauen im Nationalsozialismus. Hg. v. dems. Frankfurt/M. 2006, S. 9–21, hier S. 14.
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Groß angelegte, für den nationalsozialistischen Eklektizismus charakteristische Anthologieprojekte79 haben sich spezifisch auf den christlichen Ekstatiker Ehrler berufen. So nahm das in der Organisationsstruktur von Rosenbergs „Kampfbund für deutsche Kultur“ 1932 gegründete Jahrbuch der deutschen Dichtung Ehrlers Gedicht Deutschland einschließlich einer Kurzbiografie und eines Porträtfotos des Autors bereits in den ersten Jahrgang auf (neben Alverdes, Bergengruen, Blunck, Carossa, Finckh u.a.) und hob ihn ausdrücklich unter den „katholischen Dichtern“ hervor, unter denen er „der mit den feinsten Organen zu seelischer Schau begabte“ sei.80 Die inhaltliche Verantwortung für das von der Münchner Raabe-Stiftung herausgegebene Jahrbuch trugen der völkische Romanschriftsteller Werner Jansen und der deutschnationale Balladendichter Börries von Münchhausen, der 1931 aus eigener Initiative den Kontakt zu Ehrler gesucht hat – zu dessen Überraschung.81 Jansen und Münchhausen negierten das christliche Feld nicht, sondern suchten in ihm einen Beitrag dazu, „das deutsche Volk von innen heraus gesund zu machen“; die bestehenden Beziehungen zwischen katholischer Literatur und ländlichem Traditionalismus mochten namentlich zur Koalition gegen diejenigen „verantwortungslosen Großstadtkreise[]“ dienen, in denen „volksfremde, mittelmäßige Talente unter deutscher Flagge zu ‚Genies‘ gestempelt“ worden seien.82 Der Vorwurf der provinziellen Plattheit, der zumeist rechtskonservative ebenso wie katholische Autorinnen und Autoren traf, wurde hier insbesondere mit der Behauptung einer 79 Vgl. hierzu Wilhelm Haefs: Lyrik in den 1930er und 1940er Jahren. In: Nationalsozialismus und Exil 1933–1945. Hg. v. dems. München 2009 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 9), S. 392–416, hier S. 396 ff., ferner Dietger Pforte: Die deutschsprachige Anthologie. Ein Beitrag zu ihrer Theorie. In: Die deutschsprachige Anthologie. Bd. 1: Ein Beitrag zu ihrer Theorie und eine Auswahlbibliographie des Zeitraums 1800–1950. Hg. v. Joachim Bark u. Dietger Pforte. Frankfurt/M. 1970, S. XIII–CXVI, hier S. CXI ff. 80 Verein Raabe-Stiftung (Hg.): Jahrbuch der deutschen Dichtung 1 (1932), S. 61–63. 81 Vgl. Ehrler an Münchhausen, 9. August 1931: „Lieber Herr Baron! // Sie haben mir mit ihrem Brief und ihrer Besprechung große Freude gemacht. Diese steckt besonders auch darin: der Gruß und das Einverständnis kommen von Ihnen! Freilich habe auch ich mich schon oft an Ihrer Dichtung wie von Ihren männlichen, adeligen Lebensäußerungen sonstiger Art erquickt. Es muß einen Kreis in unserer verwüsteten deutschen Dichtung geben, der zusammensteht. So wollen auch wir uns nicht aus den Augen verlieren und ich bin mit vielen guten Wünschen Ihr // Hans Heinrich Ehrler“. 82 Zit. aus dem Aufruf des Vereins Wilhelm-Raabe-Stiftung 1932 n. Hanna Leitgeb: Der ausgezeichnete Autor. Städtische Literaturpreise und Kulturpolitik in Deutschland 1926–1971. Berlin, New York 1994, S. 223 (Hervorhebung im Original). Zum Verständnis des Christentums als einer wesentlichen Quelle der nationalen Renaissance, mit Präferenzen allerdings für den ‚jungen‘ und ‚männlichen‘, von Luther geprägten Protestantismus und Vorbehalten gegen einen ‚greisen‘ und ‚verweichlichenden‘, von Rom bestimmten Katholizismus vgl. Steigmann-Gall: The Holy Reich, S. 114–154 („National Renewal: Religion and the New Germany“).
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seelischen Armut der literarischen Moderne vergolten. Religiös inspirierte Dichtung schien hingegen „Seele und ethische[n] Gehalt“ sowie das „Empfinden für die organische Einheit des Lebens“ zu besitzen, die zum „Neuaufbau des Kulturlebens im Dritten Reiche“ gebraucht würden, so der Leiter der aus dem Kampfbund hervorgegangenen „NS-Kulturgemeinde“ Walter Stang unter Belobigung von Jansens und Münchhausens Sammlungsbemühungen.83 Aufschlussreich ist auch Ehrlers Behandlung in der 45 Lyrikerinnen und Lyriker berücksichtigenden Anthologie Das Neue Deutschland im Gedicht von 1935. In deren programmatischer Einleitung wurde die „Systemzeit“ als gottlos diffamiert, der „große[n] innere[n] Erneuerungsbewegung“ des Nationalsozialismus hingegen zuschrieben, dass sie „vor allem der religiösen Dichtung zugute“ komme. Wie verschiedentlich auch in der Literaturhistoriografie rangierte Ehrler hier direkt neben den bekennenden Katholiken Carossa und Linke: „Besonders eigenartig und selbständig wirken H a n s C a r o s s a , H a n s H e i n r i c h E h r l e r und Johannes Linke, die sich ganz mit allem Geschaffenen eins wissen und immer den göttlichen Hintergrund spüren lassen.“ Ehrlers franziskanischer Pantheismus wurde dabei als „Verbundenheit mit der deutschen Natur“ und als Offenheit für die „unbewußten Kräfte der Erde und des Blutes“ verstanden.84 Diese bei Velhagen & Klasing aufgelegte Anthologie nahm nicht weniger als sechs Gedichte von Ehrler auf (im Vergleich z.B. von vier von le Fort und 13 von Miegel), mit Schwerpunkt auf dem naturreligiösen Element (Ruhig steht das Firmament, Ich riech wie Wald und Farn und Moos und Der Atem von dem Blütenbaum), mit einem großstadtkritischen Text (Ob wohl die armen Frauen in den Städten) und zwei Trostgedichten (Sei still, mein Kind, Abschied vom Tod jenseits). Der Herausgeber, Hans Gille, erläuterte die Bedeutung religiöser Lyrik in einem Aufsatz, der wie die Anthologie den Titel Das Neue Deutschland im Gedicht trug. Publikationsort war die vom preußischen Kultusministerium herausgegebene Monatschrift für Höhere Schulen, was auch dem Zielpublikum von Velhagen & Klasing als Schulbuchverlag entsprach. Gille bekräftigte hier die Auffassung, dass die vom Nationalsozialismus durchgesetzte „allge83 Walter Stang: Grundlagen nationalsozialistischer Kulturpflege. Berlin 1935, S. 9, S. 13 u. S. 20. Zur Metapher des Organischen in diesem Zusammenhang vgl. Ralf Klausnitzer: Blaue Blume unterm Hakenkreuz. Die Rezeption der deutschen literarischen Romantik im Dritten Reich. Paderborn, München u.a. 1999, S. 381 ff. 84 Hans Gille: Einleitung. In: Das Neue Deutschland im Gedicht. Eine Auswahl. Hg. v. dems. Bielefeld, Leipzig 1934, S. I–XII, hier S. VI f. u. S. X (Hervorhebungen im Original), vgl. die Ehrlertexte hier S. 103–106. Zu Johannes Linke und seiner literarischen Gestaltung einer „katholische[n] Umwelt“ vgl. Horst Denkler: Werkruinen, Lebenstrümmer. Literarische Spuren der „verlorenen Generation“ des Dritten Reiches. Tübingen 2006, S. 139 ff. (Zitat S. 139).
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meine We n d u n g z u m I d e a l i s m u s “ und die Wiederaufstellung „geistige[r] und seelische[r] Hochziele“, nämlich „Unterordnung, Opferbereitschaft, Entsagung und hingebungsvoller Gehorsam“, „besonders unserer r e l i g i ö s e n L y r i k zugute gekommen“ seien.85 Stefan George, „Seher und Prophet des Dritten Reiches“, stehe „dieser ganzen neuen idealistischen Lyrik“ als „Wortführer“ voran, aber auch (in dieser Reihenfolge) Rainer Maria Rilke, der märkische Heimat- und Kirchenlieddichter Gustav Schüler, Hans Heinrich Ehrler und Gertrud von le Fort seien „stark hervorgetreten“.86 Als Zeugen dafür, dass „heute stärker die innige Naturgemeinschaft ins Bewußtsein [tritt], die Mensch und Tier, Mensch und Pflanze, schließlich auch immer wieder Mensch und Mensch zusammenführt“, rangierten Carossa und wiederum Ehrler: „zwei feine süddeutsche Poeten […], die sich in dieser religiösen Naturbetrachtung begegnen“.87 Was an dieser Weltsicht religiös sein sollte, wurde unter anderem mit folgenden Versen Ehrlers illustriert, in denen die Eigenschaften von Naturgegenständen zu selbstständigen Entitäten gerinnen und zu einem Leben vor Gott erwachen: Der Atem von dem Blütenbaum Und eines Brunnens Kühle Sind in dem stillen dunklen Raum Wie Wesen, die ich fühle. Was sonst war, trat zurück, gibt acht, Ihr Spiel nicht zu berühren. Sie dürfen heut in dieser Nacht Sich GOTT dem HERRN vorführen.88
Nachdem Herbert Böhme 1938 seine erfolgreiche Konkurrenzanthologie Gedichte des Volkes beim Deutschen Volksverlag München herausgebracht hatte (darunter mit Ehrlers Gebet des Deutschen),89 erneuerte Gille seine Sammlung 1939 unter dem Titel Der ewige Born. Gedichte um Deutschland, verteilte die Texte auf The85 Hans Gille: Das Neue Deutschland im Gedicht. In: Monatschrift für Höhere Schulen 34 (1935), S. 161–175, hier S. 161 f. 86 Gille: Das Neue Deutschland im Gedicht, S. 161 f. 87 Gille: Das Neue Deutschland im Gedicht, S. 164. 88 Ehrler: Die Lichter schwinden im Licht, S. 28. 89 Herbert Böhme (Hg.): Gedichte des Volkes. Vom Jahr 1 bis zum Jahr 5 des dritten Reiches. München 1938, vier Auflagen bis 1941, Gebet des Deutschen hier S. 55, vgl. Ehrlers Kurzbiografie ebd., S. 458.
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menkreise und nahm Gedichte auch des 18. und 19. Jahrhunderts auf. Die nationalsozialistisch geförderte Gegenwartslyrik erschien so in legitimierender Verflechtung mit den besten deutschen Geistestraditionen: Ehrlers Ich riech wie Wald und Farn und Moos und Der Atem von dem Blütenbaum wurden in die Abteilung „Stimme der Natur“ neben ein Lied von Clemens Brentano gesetzt, Abschied vom Tod jenseits kam unter „Leben und Sterben“ neben ein Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer, Ruhig steht das Firmament als Eröffnungsgedicht unter „Gott und Ewigkeit“, Sei still, mein Kind als Eröffnungsgedicht unter „An stillen Herden“ vor Wiegenliedern von Storm, Brentano und Goethe, Ob wohl die armen Frauen in den Städten unter „In Not und Tod“ neben Miegels Gedicht Aufschrei.90 Auch Langenbucher, der doch „Befehle aus Rom“ an „viele Millionen von deutschen Menschen“ strikt unterbunden sehen wollte,91 machte keinen Hehl aus Ehrlers Christlichkeit, brachte 1937 in seiner Zeitschrift Weltliteratur vielmehr sogar Gedichte wie Christmorgen und damit Bekenntnisse zur unbefleckten Empfängnis sowie zu Christus als Bringer des Friedensreichs: Zu stören zagt mein Menschentritt Den stillen weißen reinen Flaum, Die Augen scheuen vor dem Raum, Der kein Berühren noch erlitt. Die Landschaft heißt Gebenedeit, Darüber ging zur Mondscheinzeit Die Kunde von dem HEILIGEN KIND Und ihre Glocke im Wind. Und Friede den Menschen auf Erden… Ist jede der Silben nicht ein Mirakel, Zu lesen wie Schrift geworden aus Sternen? Es kam diese Nacht der MENSCH ohne Makel.
90 Vgl. Hans Gille (Hg.): Der ewige Born. Gedichte um Deutschland. Bielefeld, Leipzig 1939, S. 21, S. 93 f., S. 118 u. S. 239. Die Zusammenstellung von Ehrler- mit Stormgedichten ist ausgeprägt bereits in der Anthologie der Oberschulbehörde Hamburg / Geschäftsstelle der Jugendschriftenwarte (Hg.): Blumen. Mit Holzschnitten von Josua Leander Gampp. Hamburg 1929: Von Ehrler stammt der reich illustrierte Eröffnungstext Und warum ist die Blume schön?, darauf folgen insgesamt vier Stormtexte. 91 Langenbucher: Dichtung als Lebenshilfe, S. 70.
296 | V. Das ‚Innere Reich‘ im Dritten Reich Legendenwiesen sind bläuliche Fernen. Wann werden die Silben denn wieder werden?92
Voraussetzungen für die christliche Literatur im nationalsozialistischen Rahmen waren zum einen die strategische ‚Aufnordung‘ christlicher Elemente, konkret ihre Erklärung aus einer reklamierten „Nähe der deutschen Mystiker“, zum anderen die Engführung von Glaube und Heimat, d.h. die (zutreffende) Beobachtung, dass „[h]eimatliches und religiöses Gefühl“ bei Ehrler „in eins“ verschmölzen: „Seine religiöse Haltung verbindet sich in schöner Weise mit dem schwäbischen Stammeserbe“, so Langenbucher.93 Unter ähnlichen Maßgaben scheute sich auch Ehrlers Freund Pongs nicht, rundheraus auszusprechen: „Ehrlers Idealismus gründet in der katholischen Christlichkeit und ihrem metaphysischen Trost.“94 In der Überblicksdarstellung Deutsche Literatur der Gegenwart des Berliner Hochschulgermanisten Waldemar Oehlke lautete dieser Topos zuletzt (im Jahr 1942): „In Ehrlers Kunst verbinden sich religiöse Züge mit vaterländischen, besonders heimatlichen. Man kann ihn den Typus des besinnlichen, herzbeglückenden Schwaben nennen.“ Für die Einheit des religiösen und des patriotischen Elements bei diesem „[b]edeutende[n] Lyriker und Erzähler“ verwies Oehlke auf die katholisch-regionalistische Reise in die Heimat und die Langen-Müller-Bücher Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm und Unter dem Abendstern.95 Von konfessioneller Seite bestätigte der österreichische, dem Gral-Kreis nahestehende Literaturkritiker Otto Forst de Battaglia in seinem Buch Deutsches katholisches Schrifttum gestern und heute (1936) die höhere Einheit von Ehrlers „schollenhafte[m] 92 Ehrler: Die Lichter schwinden im Licht, S. 66. Vgl. Hans Heinrich Ehrler: Christmorgen. In: Weltliteratur 3 (1937), S. 241 (neben einem Gedicht Bergweihnacht von Schumann); im Weihnachtsheft desselben Jahrgangs außerdem ders.: Durch das Jahr hin. In: ebd., S. 418 (neben einem Gedicht von Bartels). 93 Langenbucher: Volkhafte Dichtung der Zeit (4. Aufl.), S. 365 f. Vgl. das Kapitel „Der Mystiker“ bei Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 89–104, unter Verweis bes. auf Angelus Silesius. – Für die ‚völkische Heimholung‘ christlicher Feste in der NS-Literatur vgl. Vondung: Magie und Manipulation, S. 79 ff., zum religionspolitischen Hintergrund Besier: Die Kirchen und das Dritte Reich, S. 247 f., sowie für die regionale Praxis Rauh-Kühne: Katholisches Milieu und Kleinstadtgesellschaft, S. 388 ff., speziell für die Zeitschrift Weltliteratur auch Thomik: Nationalsozialismus als Ersatzreligion, S. 71 u. S. 84 f. Beispiele bieten neben Ehrlers Christmorgen und Schumanns Bergweihnacht unter anderem Heinrich Anackers Gedicht Deutsche Ostern 1933, Kurt Eggers’ Prosatext Weihnachten sowie Ehrlers Ansprache Eine kleine Weihnachtsrede von 1935. 94 Hermann Pongs: Neue Kriegs- und Nachkriegsbücher. In: Dichtung und Volkstum. Neue Folge des Euphorion 37 (1936), S. 219–235, hier S. 222. 95 Waldemar Oehlke: Deutsche Literatur der Gegenwart. Berlin 1942, S. 148.
2. „Heilige Heimat“: zwischen christlicher Gegenkanonisierung und Kollaboration | 297
Realismus, alemannischen Blutes“ mit dem ‚Himmlischen Jerusalem‘, für die er sich ausdrücklich mehr auf die moralisch geschlossenen Arbeiten seit Elisabeths Opferung als auf die freizügig-liberalkatholischen Frühwerke wie Die Reise ins Pfarrhaus bezog.96 Das Bild einer literarisch lizenzierten Synthese von Nationalsozialismus und Christentum rundet sich ab, wenn man die Sichtweise von Ehrlers Netzwerkpartner Schumann heranzieht, dessen Lieder vom Reich (1935) ihrerseits „die Farben der christlichen Erbauung“97 annahmen und der – wenn auch in seiner selbstlegitimatorischen Autobiografie Von Herkunft, Leben und Schaffen aus dem Jahre 1974 – für sich und seine Tübinger SA-Standarte erklärte: Christentum und Nationaler Sozialismus, wie wir ihn verstanden, wurden von mir und meinen jungen Freunden in jenen Jahren keinesfalls als unüberbrückbare Gegensätze, sondern als Pole fruchtbarer lebensspendender Spannung empfunden. In diesen Jahren hielten während der militärischen Übungen der studentischen SA, die oft an Sonntagen stattfinden mußten, junge Geistliche beider Konfessionen, die übrigens mit Begeisterung dieser SA angehörten, Feldgottesdienste ab, und bei meiner Hochzeit im Herbst 1934 ging ich mit meiner jungen Braut durch ein Fahnen-Spalier der von mir geführten studentischen SA in Uniform zur kirchlichen Trauung in der Tübinger Stiftskirche.98
Was Schumann für die sonntäglichen ‚Wehrkraftübungen‘ als Harmonie von Sturmabteilung und Geistlichkeit beschreibt, sind die Anfänge jener ‚Morgenfei96 Otto Forst de Battaglia (als Dr. Theodor Rall): Deutsches katholisches Schrifttum gestern und heute. Einsiedeln 1936, S. 34, vgl. auch S. 43 f. 97 Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 159. 98 Gerhard Schumann: Von Herkunft, Leben und Schaffen. In: ders.: Besinnung. Von Kunst und Leben. 2. Aufl. Bodman 1976 (zuerst 1974), S. 79–233, hier S. 130 f. Vgl. ebd., S. 104: „Es war für mich und viele meiner Freunde eine fast notwendige Entwicklung von der bündischen Jugend über den christlich-humanistisch-vaterländischen Geist der Seminare, uns der Bewegung anzuschließen, die damals am kompromißlosesten der bolschewistischen Gefahr, dem drohenden roten Umsturz entgegen trat und die zugleich eine versöhnende, zukunftsträchtige Idee: die Volksgemeinschaft jenseits der bisherigen Standesvorurteile und des haßerfüllten Klassenkampfes anzubieten schien.“ – Zum christlichen Selbstverständnis in weiten Teilen des Nationalsozialismus vgl. Steigmann-Gall: The Holy Reich, bes. S. 13–50 („Positive Christianity: The Doctrine of the Time of Struggle“), resümierend S. 50: „Although they clearly departed from conventional theology in their rejection of the Old Testament and insistence on Christ’s Aryanhood, they were not simply distorting Christianity for their own ends or engaging in idiosyncratic religious meandering.“
298 | V. Das ‚Innere Reich‘ im Dritten Reich
ern‘, die den Gottesdienst ersetzen können sollten und zu denen Schumann mit dem chorischen Spiel Größe der Schöpfung (1935) einen der wichtigsten, quasiliturgischen Text lieferte.99 Die kirchlichen Heiraten, bei denen der Bräutigam Parteiabzeichen, SA- oder SS-Uniform trug, sind ein Topos in den zeitgenössischen und autobiografischen Beschreibungen besonders der Jahre 1933/34, der den religiösen Aufschwung im Gefolge der ‚nationalen Revolution‘ bezeichnete. Pastorale Zufriedenheitsbekundungen mit diesen Auftritten, in denen sich Systemvertreter vor der Autorität der Kirche zu verneigen schienen, sind vielfältig dokumentiert.100 Der Hochbegabte Schumann hatte in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre die württembergischen, von Land und Landeskirche gemeinsam getragenen Klosterschulen in Schöntal und Urach durchlaufen – die „in edelstem christlich-humanistischen Geist geführten Internate[]“, wie er sie nannte101 –, dann allerdings nicht das Studium der Theologie, sondern der Germanistik aufgenommen. Eine „wesentlich christlich“ bestimmte Religiosität hielt er für eine Verpflichtung „unseres ehrwürdigen Abendlandes“.102 In seinen Bemerkungen zur Religion von 1948 diktierte er: „Der Sinn des Lebens ist das Hinaufsteigen zu Gott“, wobei er den Gottesbegriff wesentlich vitalistisch auffasste: „Für die religiöse d.h. gottgebundene Existenz geht es letztlich nie um Lehre, sondern immer um Leben. Um Leben freilich in seiner geheimnisvollen Doppelgründigkeit und Doppelbindung: an Gott und an das menschliche Du in der Welt.“ Als nicht den einzigen, aber doch einen sicheren „Weg zu Gott“ empfahl er bei dieser Gelegenheit Kunst und Literatur; Letztere hat er selbst in hohem Maße sakralsprachlich verfasst.103 Einen eigenen Akzent legte Schumann auf die Trostkraft des christlichen Glaubens, die das deutsche Volk in seiner leidvollen Geschichte besonders nötig gehabt habe: „Erst in den Mitternächten der Not vernehmen wir die Stimme [Gottes] in ihrer ganzen unentrinnbaren Gewalt, in ihrem ganzen abgründigen Trost.“104 Die christlich-faschistische Zusammenarbeit war für Schumann mithin alles andere als ein Dilemma: Von der falschen Gemeinschaft der Völker verstoßen, konnte Deutschland seine Rechtfer-
99 Vgl. Vondung: Magie und Manipulation, S. 88 ff. 100 Vgl. Bergen: Christianity and Germanness, S. 83 ff. 101 Schumann: Von Herkunft, Leben und Schaffen, S. 96 f. Zum Klosterschulhintergrund vgl. Schoeps: Der Fall Gerhard Schumann, S. 49 f. 102 Schumann: Von Herkunft, Leben und Schaffen, S. 128 u. S. 133. 103 Gerhard Schumann: Bemerkungen zur Religion. In: ders.: Besinnung. Von Kunst und Leben. 2. Aufl. Bodman 1976, S. 69 f. Zur Sakralsprache vor allem in Schumanns Kriegsgedichten vgl. Jay W. Baird: To Die for Germany. Heroes in the Nazi Pantheon. Bloomington 1992, S. 147 f. 104 Schumann: Bemerkungen zur Religion, S. 69.
2. „Heilige Heimat“: zwischen christlicher Gegenkanonisierung und Kollaboration | 299
tigung seit 1914 ja allein bei Gott suchen. Das große Unternehmen der ‚nationalen Erhebung‘ konnte daraufhin auch nur unter seinen Segen gestellt werden. Für die Verflechtung christlich-religiöser und völkisch-nationalsozialistischer Teilidentitäten gab Ehrler bzw. die Werbestrategie von Kösel & Pustet eine heikle Vorlage, als man seine zum 100. Jubiläum Bad Mergentheims als Kurstadt verfasste Gelegenheitsschrift Die Reise in die Heimat 1926 unter dem Motto „Heilige Heimat“105 vertrieb und 1939 neu auflegte. Insofern sich das Buch vor allem um den Deutschen Orden dreht, stand es in einem Rezeptionskontext, in dem sich namentlich Heinrich Himmler, mit wenigen Einschränkungen (wie dem ‚rassisch‘ unproduktiven Zölibat), vehement auf den Deutschen Orden berief, um die SS dessen imaginierte Tradition aufnehmen zu lassen.106 Die SS übernahm und nutzte in diesem Nachfolgegedanken ‚von Orden zu Orden‘ die Marienburg und das Ordensgebäude in Wien. In Bad Mergentheim wurde 1935 eine „DeutschmeisterKaserne“ eröffnet und vom 3. Bataillon des Infanterie-Regiments 55 bezogen.107 Der Mainzer Matthias Grünewald Verlag brachte einen Auszug aus der Reise in die Heimat in seiner um ideologische Anschlussfähigkeit bemühten Sammlung Ehrsamer Stand. Handwerk im Spiegel deutscher Dichtung (1942), dort unter dem Titel Die Handwerker der Heimatstadt und in Verbindung mit zahlreichen Texten des NS-konformen katholischen Dichters Johannes Linke. Auch im kirchennahen Paderborner Bonifacius Verlag hatte man für eine geplante Anthologie Glück der Jugend Ausschnitte aus demselben heimatseligen Text im Auge, und zwar mit dem die Konzessionen verratenden Anspruch, durch „geschickte Titelauswahl […] den kontrollierenden staatlichen Stellen Konformität vorzutäuschen“108. „Wir wollen die Deutschen wieder gläubig machen, die Heimatlosigkeit des Geistes und der Seele aufheben“, so artikulierte Ehrler selbst die Erwartung einer Glaubenserneu-
105 Hans Heinrich Ehrler: Heilige Heimat. In: Jubiläums Almanach des Verlags Josef Kösel & Friedrich Pustet. München 1926, S. 163–168. 106 Vgl. Wippermann: Der Ordensstaat als Ideologie, S. 262, ferner Arnold: Der Deutsche Orden im deutschen Bewußtsein des 20. Jahrhunderts, S. 45 ff. (zu Himmler und Rosenberg), sowie Wolnik: Mittelalter und NS-Propaganda, S. 125 ff., S. 145 ff. u. S. 162 ff. 107 Vgl. Franz Diehm: Geschichte der Stadt Bad Mergentheim. Äußeres Schicksal und innere Verhältnisse. Bad Mergentheim 1963, S. 227, sowie Harder: Militärgeschichtliches Handbuch Baden-Württemberg, S. 285. 108 Hans-Walter Stork: Geschichte des Bonifatius-Verlages. In: Das Bucharchiv des Bonifatius-Verlages 1869–1994. Hg. v. dems. u. Alfons Wittmann. 2., überarb. Aufl. Paderborn 1997, S. XV– XXX, hier S. XXVI. Zu den Planungen des Bandes Glück der Jugend vgl. Theodor Abele an Hans Heinrich Ehrler, 16. Juni 1940, NL Ehrler.
300 | V. Das ‚Innere Reich‘ im Dritten Reich
erung, die dem Dritten Reich verdankt werden könne.109 Das lange beschworene „Reich[], welches werden will“, und das eigentlich im Zeichen einer „neuen Kirche“ entworfen war,110 wollte im NS-Staat gefunden sein. Logische Spannungen zwischen einer romantisch-symbolischen Definition von Heimat (‚Heimat des Geistes und der Seele‘) und einer ethnonationalistischen Re-Definition, die bei Ehrler bereits im Ideenkrieg um 1915 eingesetzt hatte und von NS-Kanonmachern wie Langenbucher aufgegriffen wurde, gingen in einem katholisch-faschistischen Synkretismus auf. Der germanische Stabreim von ‚Heilige Heimat‘ (wie in ‚Hans Heinrich‘) klang harmonisch genug, und das Attribut ‚heilig‘, das für die transzendente Bedeutung von ‚Heimat‘ stand, erhöhte auch den immanenten ‚Stammesraum‘. Diese ‚heilige Heimat‘ galt zugleich als der mütterlich konnotierte ‚Schoß‘ des ‚Abendlandes‘, das seinerseits in einer religiösen und räumlichen Doppelstruktur aufgefasst wurde.
3. „an der Gestaltung des deutschen und abendländischen Volksraums mitwirken“: die ‚Abendländer‘ und Das Wort in der Zeit
Entscheidende Schritte zu einer Beteiligungsrolle als Legitimator des Nationalsozialismus ging Ehrler im Netzwerk der katholischen Abendlandbewegung. Ehrlers Intimus Herman Hefele pflegte spätestens seit 1927 persönliche Kontakte zu einer Akademikergruppe des rheinisch-westfälischen Katholizismus, dem Werl-Soester Kreis (benannt nach dem populären Marienwallfahrtsort Werl bei Soest), der sich vom Katholischen Akademikerverband abgespalten hatte und maßgeblich zur Kölner Monatsschrift Abendland. Deutsche Monatshefte für europäische Kultur, Politik und Wirtschaft (1925–1930) beitrug, nach Einschätzung Mohlers „ein Organ des westdeutschen Rechtskatholizismus“ wie sich der Kreis selbst „in manchem als katholische[r] Flügel der Jungkonservativen“ verstehen lässt.111 Theodor Abele, 1913 Mitbegründer und bis 1916 erster Generalsekretär des Katholischen Akademikerverbands, danach vor allem volksbildnerisch aktiv, sprach Ehrler gegenüber von einem „Freundeskreis, zu dem außer mir [Heinrich] Brüning, [Hermann] Platz, [Alois] Dempf, [Josef] Aussem, [August Heinrich] Berning gehören“.112 Ne109 Hans Heinrich Ehrler: Von der Berufung des Dichters. In: Brot und Wein. Dichtergabe aus Südwestdeutschland 1 (1939), S. 72 f. 110 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 96. 111 Mohler u. Weissmann: Die Konservative Revolution, S. 140. 112 Theodor Abele an Hans Heinrich Ehrler, 18. Mai 1933, NL Ehrler. Zu einem Besuch Hefeles in Werl vgl. Herman Hefele an Hans Heinrich Ehrler, 19. März 1927, DLA Marbach, Sign.
3. „an der Gestaltung des deutschen und abendländischen Volksraums mitwirken“ | 301
ben dem ersten Präsidialkanzler und letzten Zentrumsvorsitzenden Brüning, dessen politische Karriere im Juli 1933 mit der Selbstauflösung der Partei endete, handelte es sich um zwei Bonner Hochschullehrer – Platz aus der Romanistik, Dempf aus der Philosophie –, die Das Abendland mit herausgegeben hatten, sowie um zwei einschlägige ‚Berufskatholiken‘: Aussem langjähriger Redakteur des Quickborn-Organs Die Schildgenossen und zeitweilig Leiter der katholischen Jugendorganisation, Berning unter anderem Mitarbeiter der zentrumsnahen „Gesellschaft A:Ehrler. – Zum Kreis aus Sicht der Teilnehmer vgl. Hermann Platz: Erste Begegnung mit Maria Laach. Erlebnisse aus der Zeit der beginnenden liturgischen Erneuerung. In: Das Wort in der Zeit 2 (1934/35), S. 508–515 (über eine Pilgerfahrt von 1913 zusammen mit Abele und Brüning); Hermann Platz: Die Welt der Ahnen. Werden und Wachsen eines Abendländers im Schoße von Heimat und Familie, dargestellt für seine Kinder. Nürnberg 1948, S. 44 f., August Heinrich Berning: Eine Lebensfreundschaft mit Hermann Platz. Theodor Abele und die Anfänge der katholischen Akademiker- und der liturgischen Bewegung in Deutschland. In: Hermann Platz (1880–1945). Eine Gedenkschrift. Düsseldorf 1980, S. 78–85, hier S. 83 f. Vincent Berning: Der deutsche Katholizismus am Ausgang der Weimarer Republik unter Berücksichtigung des „Katholischen Akademikerverbands“. Eine Replik. In: Moderne und Nationalsozialismus im Rheinland. Hg. v. Dieter Breuer u. Gertrude Cepl-Kaufmann. Paderborn, München u.a. 1997, S. 577–641, sowie ders.: Die Idee der Person in der Philosophie. Ihre Bedeutung für die geschöpfliche Vernunft und die analoge Urgrunderkenntnis von Mensch, Welt und Gott. Philosophische Grundlegung einer personalen Anthropologie. Paderborn, München u.a. 2007, S. IX, S. 70 u. S. 419 f. Zum Gruppenbegriff ‚Abendländer‘ in Abgrenzung unter anderem von Nationalisten, Völkischen und Paneuropäern vgl. Platz: Abendland, Sp. 3 f. – Aus der umfangreichen Forschung zur Gruppe vgl. Faber: Abendland, S. 116 ff., ders.: Über politisch-religiöse Ganzheitsvorstellungen europäischer Faschismen, S. 19 ff., Richter: Nationales Denken im Katholizismus der Weimarer Republik, S. 141–153 („Abendländer“), Guido Müller u. Vanessa Plichta (später Conze): Zwischen Rhein und Donau. Abendländisches Denken zwischen deutschfranzösischen Verständigungsinitiativen und konservativ-katholischen Integrationsmodellen 1923–1957. In: Journal of European Integration History 5 (1999), H. 2, S. 17–47, Conze: Das Europa der Deutschen, S. 27–51 (zum Kreis um die Zeitschrift Abendland, mit Diskussion über die Zugehörigkeit Carl Schmitts), Pöpping: Abendland, S. 87–100 („Das Hochland, der Katholische Akademikerverband und die Liturgische Bewegung“) u. S. 100–123 („Europadiskussionen in der Zeitschrift Abendland“), Hans Manfred Bock: Der Abendland-Kreis und das Wirken von Hermann Platz im katholischen Milieu der Weimarer Republik. In: Le milieu intellectuel conservateur en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1890–1960) / Das konservative Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890–1960). Hg. v. Michel Grunewald u. Uwe Puschner. Bern, Frankfurt/M. u.a. 2006, S. 337–362 (zur Frage der Brückenfunktion des Abendland-Kreises beim Übergang einiger seiner Vertreter zum Nationalsozialismus), Lucia Scherzberg: Katholische Abendland-Ideologie der 20er und 30er Jahre. Die Zeitschriften „Europäische Revue“ und „Abendland“. In: Christliches Europa? Studien zu einem umstrittenen Konzept. Hg. v. Michael Hüttenhoff. Leipzig 2014, S. 11–28, zuletzt gründlich Weiß: Kulturkatholizismus, S. 81 ff. (zum KAV), S. 110 ff. (zu Platz) u. S. 186 ff. (zum Abendland).
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zur Förderung politischer Bildungsarbeit“. Abele, Brüning und Platz waren seit der Studienzeit und den Anfängen der Liturgischen Bewegung um 1910 eng miteinander vernetzt und hofften, mit dem Werl-Soester Kreis bedeutenden Einfluss im ‚katholischen Deutschland‘ ausüben zu können. Im näheren Zusammenwirken kümmerte sich Abele vor allem um die organisatorische Arbeit einschließlich der Korrespondenz, Brüning und Berning um die Verbindung zur Partei und deren Bildungsarbeit, Dempf und Platz um die geisteswissenschaftlichen Inhalte. Diese westdeutsche Gruppe tat sich unter dem Eindruck des politischen Umsturzes mit der süddeutschen, ebenfalls in der Jugend- und Erwachsenenbildung aktiven Katholischen Tat-Gemeinschaft zusammen, die sich im Adelskreis um die Benediktinerabtei Neuburg bei Heidelberg gebildet hatte und maßgeblich von Adalbert Graf von Neipperg, Abt von Kloster Neuburg, sowie Hans Georg von Mallinckrodt, Mitarbeiter des Deutschen Adelsblatts und der Münchner Sonntagszeitung Der gerade Weg, geführt wurde.113 Mit vereinten Kräften gründete man eine neue katholische Kulturzeitschrift, Das Wort in der Zeit, mit dem für die Liturgische Bewegung programmatischen Untertitel Zeitschrift für Gestaltung des Lebens aus christlicher Idee. Die Monatsschrift wurde noch in der ersten Jahreshälfte 1933 aus der Taufe gehoben: zu einer Zeit, als die Zentrumspartei jede Führungsrolle auch gegenüber der eigenen Klientel aufgegeben hatte, die in der direkten Konkordatspolitik zwischen Berlin und Rom überspielte Bischofskonferenz keine klare Stellung zu finden vermochte und die Gläubigen sich in hohem Maß selbst orientieren mussten. Den Verlag übernahm zunächst das Regensburg-Münchner Traditionshaus G. J. Manz, in dem auch der im März 1933 verbotene Gerade Weg erschienen war, ab 1936 aus verlagsrechtlichen Gründen der bisherige Manz-Lektor Erich Wewel. In der Zusammenarbeit zwischen Werl-Soester Kreis und Katholischer Tat-Gemeinschaft verfügten die Westdeutschen über die größeren freien Ressourcen und dominierten das Projekt. Sie konnten insbesondere aus dem Beiträger- und Themenreservoir des 1930 eingestellten, mittelalterromantisch und modernekritisch fundierten Abendlandes schöpfen. Wie unter anderem die Auflagenentwicklung des Hochlands zeigt, nahm die Zeitschriftennachfrage des verunsicherten katholischen Publikums im Jahr 1933 sprunghaft, im Durchschnitt um ca. 20 Prozent zu 113 Vgl. Benedikt Pahl: Abt Adalbert Graf von Neipperg (1890–1948) und die Gründungs- und Entwicklungsgeschichte der Benediktinerabtei Neuburg bei Heidelberg bis 1949. Münster 1997, S. 33 ff. u. S. 215 ff., zu Mallinckrodt auch Rudolf Morsey (Hg.): Fritz Gerlich – ein Publizist gegen Hitler. Briefe und Akten 1930–1934. Paderborn, München u.a. 2010, S. 377 u.ö. Berning: Der deutsche Katholizismus am Ausgang der Weimarer Republik, S. 628 f., führt die Kooperation beider Gruppen auf eine Vorgabe des Verlags zurück.
3. „an der Gestaltung des deutschen und abendländischen Volksraums mitwirken“ | 303
und blieb über die Folgejahre stabil hoch.114 Die wirtschaftlichen Überlebensaussichten des Worts in der Zeit waren unter diesen Umständen eher positiv. Die Konzeption als Kulturzeitschrift eröffnete Spielräume gegenüber einem politischen Druck, der mit dazu beitrug, dass die ebenfalls im Frühjahr 1933 gegründeten katholischen Organe Zeit und Volk sowie Deutsches Volk bereits nach einem bzw. zwei Jahren wieder eingestellt wurden. Zum Programm der neuen Zeitschrift gehörte, die bevorstehende Selbstauflösung der Zentrumspartei zu quittieren und sich auf die Ebene der Pfarrgemeinde sowohl zurückzuziehen als auch einen neuerlichen Aufbruch von dort aus zu organisieren: „Wir haben die Absicht“, so Abele im Einladungsschreiben an Ehrler, „die Pfarrei, die Zelle des Corpus Christi mysticum, als konkrete übernatürlich-natürliche Gemeinschaft zu aktivieren“.115 Die moderne europäische Alltagswelt, das hieß nun im Wesentlichen der faschistische Alltag, sollte aus der Erfahrung der Liturgie heraus durchdrungen werden. Hierin blieben die Gründer ihrer Herkunft aus der Liturgischen Bewegung treu und wollten sich gerade nicht auf ein gesellschaftlich isoliertes ‚Sakristeichristentum‘ reduzieren lassen. Die Liturgische Bewegung hatte immer schon die Pfarrgemeinde als den Ort angewiesen, in dem Kirche erfahren wurde, der Gläubige sich in der Gemeinschaft erkannte und Vorbereitung auf die Gegenwartswelt erfuhr. In einem Beitrag unter dem Titel Erste Begegnung mit Maria Laach. Erlebnisse aus der Zeit der beginnenden liturgischen Erneuerung zum zweiten Jahrgang von Das Wort in der Zeit zitierte Dempf aus einem Brief Abeles von 1913: „Die Familie, die Gesellschaft, der Staat, die Kirche sind Felder unserer Tätigkeit.“116 Diesen Satz zu wiederholen und Abele als „die Seele der vorbereitenden und zielbewußt hinführenden Arbeit“117 der Liturgischen Bewegung zu erinnern, war mehr als historische Reminiszenz, war Mahnung zum ursprünglichen Auftrag. Gerade auch Aussem und Berning sahen in der Gemeinde-, genauer in der Jugendarbeit, die ‚Keimzelle‘ der werdenden Gemeinschaft jenseits des Parteienstaats, in der jedes weitere Engagement ‚organisch‘ kanalisiert würde.118 114 Zum Einflussgewinn der konfessionellen Presse vgl. Siegfried Kessemeier: Katholische Publizistik im NS-Staat 1933–1938. Grundzüge und Entwicklung. Münster 1973, S. 210 ff. u. S. 308 ff., sowie in Zusammenfassung des Forschungsstands Arning: Diskurse von Katholizismus und Nationalsozialismus im Jahr 1934, S. 127 ff., ferner Sösemann: Konziliante Kommunikation im Katholizismus während der NS-Diktatur, S. 168, sowie Felix Dirsch: Das Hochland. 115 Theodor Abele an Hans Heinrich Ehrler, 18. Mai 1933, NL Ehrler. 116 Platz: Erste Begegnung mit Maria Laach, S. 513. 117 Platz: Erste Begegnung mit Maria Laach, S. 514. 118 Vgl. z.B. August Heinrich Berning: Von politischen Grundsätzen. Gedanken über Staat und Partei. In: Die Schildgenossen 4 (1923/24), H. 3, S. 139–147, dazu Katja Marmetschke: „Nicht mehr Jugendbewegung, sondern Kulturbewegung!“ Die Zeitschrift Die Schildgenossen in der
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Man glaubte, das Bildungsideal des Abendlandes zu vertreten und als ‚Partei des Geistes‘ über den politischen Lagern bzw. den verschiedenen Staatsformen zu stehen, wollte aber auch wissen, dass die Gegenwart von Kulturschäden geprägt sei, die auf Liberalismus und Kapitalismus zurückgingen. Die Konzeption des Worts in der Zeit spiegelte sich in einer gegenüber Gral und Hochland gesteigert aufwendigen Heftgestaltung mit Kunstfotografien und großzügigem Satzbild. Die Titelgrafik zeigte den Umriss einer romanischen Kirche, nämlich des Soester Doms: „die gewaltige kubische Gleichform des Patrokliturmes“, das hieß aber nichts Geringeres als „Mittelmeergedanken […] ins Westfälische übersetzt“, „südliches Maß, statuarische Würde“, selbstverständlich die Verehrung des Patroclus von Troyes: „ein römischer Soldat aus Südfrankreich, ein Märtyrer“.119 Symbolträchtig war auch die Verwendung der Antiqua, die als traditionelle Drucktype der Romania und zugleich als Voraussetzung für die künftige Durchsetzung des Deutschen als europäischer lingua franca galt. Als Zielgruppe benannte Abele gegenüber Ehrler „Laien-Führer und natürlich auch […] die Seelsorger“120, d.h. einen katholischbildungsbürgerlichen Mittelstand, den man für eine Elite (neben dem Adel) hielt, wie sich die Werl-Soester und die Kloster-Neuburger auch selbst exklusive Organisationsformen zu geben suchten.121 Im Eröffnungsbeitrag erklärten Abele und sein Co-Autor Adalbert von Neipperg, „im Sinne eines […] zeitnahen Katholizismus und Christentums an der Gestaltung des deutschen und abendländischen Volksraums mitwirken“ zu wollen, womit man sich zumindest an dieser Stelle von der Konzeption des ‚christlichen Abendlands‘ als Kulturraum entfernte.122 Weimarer Republik. In: Le milieu intellectuel conservateur en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1890–1960) / Das konservative Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890–1960). Hg. v. Michel Grunewald u. Uwe Puschner. Bern, Frankfurt/M. u.a. 2006, S. 281–318, hier S. 303 f. Zur Pfarrgemeinde als „mystische[m] Leib Christi“ und zugleich „Sauerteig des irdischen Gemeinschaftslebens“ vgl. aus der christlichen Soziallehre maßgeblich auch August Pieper: Gemeinschaftsgeist im Wiederaufbau. Freiburg/Br. 1920, S. 20. 119 Theodor Heuss: Soest. In: Die Hilfe 20 (1914), S. 817–819, hier S. 818 f. 120 Abele an Ehrler, 18. Mai 1933. 121 Zum organisatorischen Elitarismus in der Abendlandbewegung vgl. Conze: Das Europa der Deutschen, S. 11 f. 122 Theodor Abele u. Adalbert von Neipperg: Zur Einführung. In: Das Wort in der Zeit 1 (1933/34), S. 1–3, hier S. 3 (Hervorhebung StKT). Zu Kunst und Kultur als Grundlagen des christlichkonservativen Europagedankens vgl. Schilmar: Europadiskurse im Umfeld der „Inneren Emigration, S. 132 ff., sowie Kroll: Heinrich Lützeler und der Nationalsozialismus, S. 66–73 („Abendland als Lebensform“). Zur Unterscheidung eines Begriffs vom Abendland als Bildungsgemeinschaft und „Chiffre für eine moralisch und religiös intakte Welt“ gegenüber einem politisch konzipierten Europabegriff vgl. Hürten: Der Topos vom christlichen Abendland, bes. S. 134 f. u. S. 137 f. (Zitat S. 145).
3. „an der Gestaltung des deutschen und abendländischen Volksraums mitwirken“ | 305
Der nachfolgende Aufsatz Alois Dempfs, Autorität und Macht betitelt, beginnt mit scheinbar emphatischen Hitlerakklamationen unter Bezug auf den Begriff des Charismas: Begeistert geben wir dem Führer die Ehre, die ihm gebührt, und zollen ihn den Dank für die Hilfe. […] Schon das griechische Wort charis und charisma bedeutet Gnade von oben und Volksgunst und Beliebtheit von unten. Der Glaube an einen begabten und tüchtigen Menschen schart seine Anhänge um ihn und gibt ihm für sie ein Entscheidungsrecht von unten her.123
Im Fortgang wendete Dempf diese Hochschätzung jedoch in den Bereich der Gefahren und Verantwortungen: „Mit der steigenden Unsicherheit wächst die Übersteigerung des Führergedankens durch die Geführten. […] Hüten wir uns, blinden Führern von Blinden zu folgen!“ Schließlich rückte er die Verhältnisse zwischen politischem und göttlichem Wort zurecht: Man habe sich zu vergewissern, „welchem entscheidenden Wort wir folgen sollen, wieviel Sicherheit es uns zu geben vermag und wo die wirkliche Macht steht“. Zweideutig, nämlich unter Konditionalisierung mit dem bonum commune, appellierte er an die Leserschaft: „Beugen wir uns gern der Amtsautorität, die das allgemeine Beste will!“124 Für ausgleichende Eindeutigkeit sorgte die Redaktion mit dem Wiederabdruck eines Aufsatzes bzw. Buchkapitels von Hefele aus dem Jahre 1919, Die konservative Aufgabe des deutschen Katholizismus, in dem die Affinität zwischen Konfession und Autoritarismus zum vollsten Ausdruck kommt: Der Katholizismus, hieß es dort, müsse immer „Mut und Stärke finden, zugunsten der großen Forderung der Einordnung und Unterordnung, zugunsten einer auf Zwang und Gewalt gestellten rechtlichen Ordnung“, er müsse „seiner religiösen wie seiner national-kulturellen Aufgabe in gleicher Weise gerecht werden“.125 Mehr aus dem Werkkontext als aus diesem Einzeltext versteht sich, dass Hefele den Katholizismus als staatlich unverfügbares Zentrum der konservativen Kräfte entworfen hat, nicht als Legitimationsinstanz eines nationalsozialistischen Staatstotalitarismus (s. Kap. III.2).
123 Alois Dempf: Autorität und Macht. In: Das Wort in der Zeit 1 (1933/34), S. 22–24, hier S. 22 f. 124 Dempf: Autorität und Macht, S. 23 f. 125 Herman Hefele: Die konservative Aufgabe des deutschen Katholizismus. In: Das Wort in der Zeit 2 (1934/35), S. 283–286, hier S. 285. Vgl. ders.: Der Katholizismus in Deutschland, S. 54– 59 („Die konservative Aufgabe des deutschen Katholizismus“), hier S. 57.
306 | V. Das ‚Innere Reich‘ im Dritten Reich
Bei allen diskursiven Varianzen innerhalb des Worts in der Zeit126 machte sich hier eine grundsätzliche Strategie der katholischen Publizistik geltend, nach Anknüpfungspunkten an das Dritte Reich zu suchen, Harmonisierungen vorzunehmen, Gemeinsamkeiten herauszustellen und Beeinflussungschancen zu prüfen.127 Die äußeren Gründe sind klar genug und wurden von Abele im Briefwechsel mit Ehrler mehrfach beklagt: „Sie können sich denken, was es heißt, heutzutage eine Zeitschrift wie die unsere ohne Mittel, ohne mächtige Unterstützung durchzusetzen.“128 Inhaltlich bot der Komplex jener Reichsideen eine Verständigungsmöglichkeit, die in Abeles/Neippergs Formulierung vom ‚abendländischen Volksraum‘ anklingen, im deutschen Katholizismus besonders seit Ende der 1920er Jahre florierten und maßgeblich in Dempfs Buch Sacrum Imperium (1929) entfaltet wurden. Dempf wollte hier und bei anderen Gelegenheiten (so in seinem Hochland-Aufsatz Das Dritte Reich. Schicksale einer Idee von 1931) kein Rezept für politische Gegenwartsprobleme formuliert haben. Er entwarf aber das suggestive Bild einer Reichstheorie als genuin katholischer und zugleich auf das Ganze des corpus Christianum zielender Staatslehre, in der Katholizismus und Deutschtum zum Ausgleich, ja zur wechselseitigen Steigerung kommen konnten – gegen die zersetzenden Analysen, die Spengler der „Pseudomorphose“ des „germanisch-katholischen Christentums der Gotik“129 hat angedeihen lassen. Diese Theorie war am allerwenigsten völkisch und rassistisch fundiert, vielmehr mit den auch in Ehrlers Wertvorstellungen auftretenden Motiven versehen, das Reich sei mehr als eine Staatsform, mehr als irdisch, nämlich heilig und könne gar nicht dauerhaft untergehen, bevor es nicht seinen heilsgeschichtlichen Auftrag – über Deutschland hinaus – erfüllt habe.130 Dieses Reich sollte, nach den Worten Ehr126 Eher unangepasste Meinungsäußerungen (Kritik am Führerprinzip, am Reichskonkordat, an der Euthanasie) versammelt Breuer: Die Jahre 1933 und 1934 im Spiegel der katholischen Literatur- und Kulturzeitschriften, S. 406 ff. Zu Spielräumen, Oppositionstaktiken und Anpassungen in der katholischen Publizistik vgl. grundsätzlich Kessemeier: Katholische Publizistik im NS-Staat, S. 295 ff. u. S. 325 ff. 127 Vgl. aus der reichen Forschung dazu am schlüssigsten Sösemann: Konziliante Kommunikation im Katholizismus während der NS-Diktatur. 128 Theodor Abele an Hans Heinrich Ehrler, 17. August 1936, NL Ehrler. 129 Spengler: Der Untergang des Abendlandes, Bd. 2, S. 274. 130 Dempf: Sacrum Imperium, S. 88 f.: „Das christliche Reichsbewußtsein ist in unerhörter Fülle und Klarheit als persönliches Offenbarungserlebnis in Christus und zugleich als durchgebildetes wissenschaftliches System des paulinischen Kreises in die Welt getreten. Zum ersten Male ist damit Geschichtsbewußtsein als Erlebnis göttlicher Führung und als Persönlichkeitswachstum in der Geschichte da. […] Von oben, vom göttlichen Führer her beginnt die christliche Geschichte und Reichswirklichkeit. […] Die allgemeine Kultur des römischen Reichs und die allgemeine religiöse Kultur der Kirche steht als innere Kultur über den Volkspersönlichkeiten
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lers, in einem „Raum des Glaubens“ bestehen, der „den Raum des Vaterlandes [überdeckt]“: „Ihn nicht bedrückend, sondern erhöhend und erweiternd und zu edelster Geltung hebend“.131 Es sollte der „Gottesstaat im Menschenstaat“ und das „tausendjährige Reich“ im franziskanisch-joachimitischen Sinn sein,132 mithin ein Ständestaat geordneter Ungleichheiten, dessen Modell Ehrler folgendermaßen im Städtchen Maulbronn erblickte: Die große Not ruft danach, unserem Volk eine neue soziale Schichtung zu schaffen. Hier wie in anderen kleinen Städten ist sie, gewurzelt in Vergangenheit und jung und grün genug für die Zukunft. Da kommt in kleinen Häusern nacheinander ein Maler, ein Maurer, ein Gipser, ein Schreiner, zwei Metzger, ein Wagner, zwei Schneider, ein Schuster, ein Schlosser, ein Sattler, ein Tapezier, zwei Schmiede, zwei Bäcker, ein Barbier, ein Bürstenbinder, ein Uhrmacher, ein Zimmermann, und drinnen im Klosterhof sitzen ein Glaser, ein Küfer, ein Mechaniker, ein Buchbinder, ein Flaschner, ein Metzger.
Alles in allem: „Zeitengeweihtes Bauerntum, unter Gottes Uhr gewachsenes Handwerk“, „geteilte Arbeit und darum auch anderes Offizium“.133 Ehrler wendete hier eine Symbolik der mittelalterlichen deutschen Stadt an, die außer in der überkonfessionellen Heimatschutzbewegung auch in der katholischen Reichsideologie vertreten wurde, darunter vom Gral-Herausgeber Friedrich Muckermann, der hierzu und fügt sie zur altchristlichen äußeren Kultur zusammen.“ Vgl. ebd., S. 91, zur „Eigengesetzlichkeit des neuen Reichs gegenüber der blutsmäßigen Kultgemeinschaft“. 131 Ehrler: Das einige Reich der Deutschen, S. 381. Zur politisch-religiösen Doppelstruktur des Reichs vgl. grundlegend Breuning: Die Vision des Reiches, S. 67 ff., weiterführend Motschenbacher: Katechon oder Großinquisitor, S. 162 ff., sowie Besier: Die Kirchen und das Dritte Reich, S. 696 ff., kenntnisreich, aber unkritisch Meier-Stein: Die Reichsidee, S. 342 ff. Zum Bedeutungsspielraum von ‚Reich‘ zwischen ‚Reich Gottes‘, ,Heiligem Römischen Reich deutscher Nation‘ und deutscher Expansionspolitik in Europa vgl. am Beispiel der katholischen Zeitschrift Unser Kirchenblatt (Recklinghausen) übersichtlich auch Arning: Diskurse von Katholizismus und Nationalsozialismus im Jahr 1934, S. 269 ff. 132 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 303. 133 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 3, S. 6 u. S. 16. Zur inneren Verbindung von Reichsidee und Ständegesellschaft vgl. Helmut Beilner: Reichsidee, ständische Erneuerung und Führertum als Elemente des Geschichtsbildes der Weimarer Zeit. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 28 (1977), S. 1–16; zum Gemeinschaftsideal einer „natürliche[n] Rollenverteilung“ ohne „Gegensätze und Konflikte“ vgl. für das katholische Sozialdenken Baumgartner: Sehnsucht nach Gemeinschaft, S. 25 ff. (Zitat S. 27); zur poetischen Umsetzung Schilmar: Europadiskurse im Umfeld der „Inneren Emigration“, S. 129 ff. Zum Schichtungsdenken als Generalnenner rechtsintellektueller Gesellschaftsentwürfe Breuer: Ordnungen der Ungleichheit, S. 77 ff.
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unter anderem formulierte: „Gibt es eine deutsche Idee, das Wort im Sinne Fichtes und Schillers genommen, Deutschheit als das Umfassende, als das Weltumspannende, warum sollte diese Idee nicht gerade in einem solchen Stadtbild ihr Geheimnis enthüllen?“134 Diese Idealisierung alt- und reichsdeutschen Städtelebens im Zukunftshorizont von Wiederherstellung und Verjüngung sowie die Engführung von stadtnahem Bauerntum und landnahem Handwerk gehört zu einem Diskurs, in dem das Kleinstädtisch-Ländliche als deutsches Wesensmerkmal, mithin als Geburtsort der wahren ingenia teutonica galt.135 Bei Ehrler kam anhand der symbolischen Topografien des Klosterstädtchen Maulbronn und des Hochmeistersitzes Bad Mergentheim ein kirchlich-monastischer Akzent hinzu. Ein Reflex der vom Dichter unterstützten Imaginationen berufsständischer Restaurierung bildet sich bis heute an seinem Geburtshaus ab (am Oberen Markt in Bad Mergentheim): Es erhielt in den 1930er Jahren eine aufwendige Fassadenmalerei des Münchner Künstlers Karl Maria Lechner, die einen ‚altdeutsch‘ gekleideten Wachszieher in dessen Werkstatt darstellt – Zeichen jener „gesunde[n] Volkskraft des schaffenden Bürgertums“136, die von dem Dichter und seinen Gewährsleuten namentlich in den kleinen alten Städten erblickt wurde. Die germanisch-katholische Reichsidee, in der die deutschen als die vorzüglichsten Christen erschienen – Ehrler zufolge „befähigt und berufen, in sich den Sinn des Christentums gereinigt und geweitet zu erfüllen“137 –, bezog sich auf die mittelalterliche Vergangenheit und auf eine danach zu gestaltende Zukunft, jedoch gerade nicht auf das pragmatisch-profane Bismarck-Reich, das lediglich Nationalstaat war. Ihr Stachel war nur indirekt die Niederlage in jenem Weltkrieg, mit dem weitreichende Erneuerungshoffnungen einhergingen, direkt aber die preußischprotestantische Staatsgründung als solche, die Ehrler aus der süddeutschen Kulturbewegung heraus lange genug bemängelt hatte.138 In der romanophilen Version der katholischen Abendlandbewegung erschien diese Reichsidee nicht ausgesprochen imperialistisch, indes mit Vorstellungen vom geistig übergelegenen, aber leidverfolgten ‚Volk der Mitte‘ versehen, wie sie Ehrler vorzugsweise unter Rückgriff auf Hölderlins Gesang des Deutschen (1799) vertrat, beispielsweise in der Schlussstrophe des Gebets in der Silvesternacht 1919: 134 Muckermann: Vom Rätsel der Zeit, S. 20. 135 Eindringlich hierzu zuletzt Steber: Ethnische Gewissheiten, S. 294 ff., sowie Ulbricht: In Kaisersaschernland. 136 Hefele: Machiavelli, S. 24. 137 Ehrler: Das Kreuz, S. 39. 138 Zum „antipreußische[n] Affekt“ der deutschen Abendlandkatholiken vgl. Faber: Abendland, S. 172 ff. (Zitat S. 172).
3. „an der Gestaltung des deutschen und abendländischen Volksraums mitwirken“ | 309
Darf sich der Dichter dem Propheten gleichen: Was Schicksal tut, das hat uns Gott getan. […] Er hielt das Reich, umstoßen von den Tritten, An seinem Herzen in der Menschheit Mitten.139
In Prosa erläuterte Ehrler 1916: „Der Sinn des Christentums hat sich allgemach mit dem deutschen Wesen gemischt und seinen Aether darin versenkt. […] In die erhöhte Mitte gerückt, darf Deutschland sich wie noch nie das Herz Europas nennen, das heilige Herz der Völker.“140 Und 1922 fügte er hinzu: „Das Schicksal hat unser Vaterland wieder einmal heimgesucht, weil es immer noch das Land der Mitte ist, der Boden des Streites und Widerstreites von Ost und West, der Schmelztiegel des Morgens und Abends.“141 Die Weltoffenheit der reichskatholischen Abendlandidee stand so unter der Bedingung einer resakralisierten und im Ordnungsdenken geschlossenen Welt, der im Abendland „ein Vorbild […] zum Heil“142 gesetzt sein sollte. Sie umfasste eine zwar nicht zentralistische, aber hegemoniale Programmatik, in der die Nationen und Stämme des supranationalen und pluriethnischen Reichsverbandes „selbständig und solidarisch“143, aber doch nicht gleich waren. Jeder Teil galt als für das Ganze unentbehrlich, aber nicht als gleichgewichtig. Dieses christliche Europa 139 Ehrler: Gebet in der Silvesternacht 1919, S. 370, anklingend an Friedrich Hölderlin: Gedichte. Hg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt/M. 1992 (= Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden, Bd. 1), S. 224 f., hier S. 224: „O heilig Herz der Völker, o Vaterland / Allduldend […] / Und allverkannt, wenn schon aus deiner / Tiefe die Fremden ihr Bestes haben!“ 140 Ehrler: Liebe. 141 Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 128. – Ähnlich Lienhard: Der Meister der Menschheit, S. 92: „Deutschland ist geographisch Europas Mitte. Deutschland ist, nach Hölderlins schönem Wort, der Völker heilig Herz. Zentralmächte nennt man uns jetzt schon politisch; und so werden wir etwas wie Zentralität in uns entwickeln müssen. Kräfte des ‚Zentrums‘, der Innerlichkeit: Kräfte der Herzensgenialität oder des schöpferischen deutschen Gemütes“. Vgl. ferner die Heilserwartung in Georges Der Dichter in Zeiten der Wirren, „dass einst / Des erdteils herz die welt erretten soll ..“: Stefan George: Das Neue Reich. Bearb. v. Ute Oelmann. Stuttgart 2001 (= Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. 9), S. 27–30, hier S. 30. – Der Braunsberger ‚Brückenbauer‘ Eschweiler sprach im Dezember 1933 vom deutschen Volks- und Staatsleben als dem „endlich wieder gesundeten Pulsschlag des Herzens von Europa und der Christenheit“, zit. n. Preuschoff: Zur Suspension der Braunsberger Professoren Carl Eschweiler und Hans Barion, S. 124. Zum Motiv der deutschen Sonderrolle im Christentum vgl. auch Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich, S. 15. 142 Platz: Abendland, Sp. 5. 143 Platz: Deutschland – Frankreich und die Idee des Abendlandes, S. 30.
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war ganz vom bikonfessionellen Deutschland her gedacht und an der katholischen ‚Achse‘ Köln – Paris ausgerichtet. Die romantische „ d e u t s c h e S e e l e “ sollte durch den „ a b e n d l ä n d [ i s c h e n ] F o r m s i n n“ gewinnen können. Deutschland sollte dem Abendland, um nicht von Hegemonie zu sprechen, dienen, wie die „Idee des Dienstes“ überhaupt „Voraussetzung abendländ[ischer] Erneuerung“ sein mochte.144 Das „nationalstaatliche Macht- und Ehrbewusstsein“, die „Vorzüge der Rasse“ fand man in der deutschen Politik seit dem Weltkrieg einseitig in den Vordergrund gerückt; „ N a t i o n a l m e s s i a n i s m u s “ und die „gottverlassene Herrschaft blinder Hass- und Rachetriebe“ lehnte man strikt ab.145 Historische Schuld für die abendländische Zersetzung fand man bei Ludwig XIV. und Napoleon ebenso wie bei Luther und Fichte. Unaufgebbar war diesen Abendländern der Föderalismus: die „Kleinstaaten“ als „vorzüglichste Quelle deutscher Bildung“ und als Riegel gegen die „Alleinherrschaft eines Gewalthabers“.146 Dabei dachte man besonders an das Rheinland und Süddeutschland, mithin an die deutschen Katholiken, die „im Herzen der humanistisch-europäischen Bildungsgemeinschaft“ stünden und durch die Deutschland allein noch „organisch mit dem Ganzen der geistigen Welt“ zusammenhinge.147 Zwar eröffnete sich so eine ganze Reihe von Unvereinbarkeiten mit den nationalsozialistischen Varianten der Reichsidee: Hitler und Rosenberg lehnten eine Leitbildfunktion des mittelalterlich-frühneuzeitlichen Reichsgebildes ab; Goebbels und besonders Himmler, der mit seiner SS den Deutschen Orden beerben wollte, pflegten den „Nimbus einer höheren, abendländischen Mission“ unter Rückgriff auf das „erste Reich“, dachten dabei aber mehr an eine „germanische Gemeinschaft“ und weniger an die Einheit der germanischen und romanischen Völker.148 Gleichwohl entfaltete das Reizwort vom ‚Reich‘ einen Sog, in dem die reichskatholische Strömung zumindest in Abgrenzungsschwierigkeiten geriet. So assimilierte der nationalsozialistische Kulturbetrieb unschwer z.B. Werner Bergen144 Platz: Abendland, Sp. 2 f. 145 Platz: Deutschland – Frankreich und die Idee des Abendlandes, S. 6 u. S. 10. Vgl. auch die Abgrenzung gegen die „Nationalisten u. Völkischen“ bei Platz: Abendland, Sp. 3. 146 Platz: Deutschland – Frankreich und die Idee des Abendlandes, S. 19. 147 Platz: Deutschland – Frankreich und die Idee des Abendlandes, S. 27. 148 Vgl. Kroll: Utopie als Ideologie, S. 77 ff., S. 147 ff. u. S. 217 ff., Zitate S. 217 f.; zum ‚großgermanischen Europa‘ der NS-Politik ferner Jürgen Elvert: Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918–1945). Stuttgart 1999, S. 309 ff. u. S. 367 ff. Zur Verschiebung des Wortgebrauchs von ‚Reich‘ vom ‚Deutschen Reich‘ zum ‚Germanischen Reich Deutscher Nation‘, angelehnt an das ‚Heilige Römische Reich Deutscher Nation‘, vgl. Horst Dieter Schlosser: Sprache unterm Hakenkreuz. Eine andere Geschichte des Nationalsozialismus. Köln, Wien u.a. 2013, S. 279 ff.
3. „an der Gestaltung des deutschen und abendländischen Volksraums mitwirken“ | 311
gruens zeitkritisch gemeinten, aus der katholischen Konversion des Dichters hervorgegangenen Gedichtzyklus Der ewige Kaiser (1937): Wächter des „Rechts- und Friedensgedankens“, ja „Treuhänder Gottes“ sollte Bergengruens Kaiser sein, das Reich ein „irdisches Vorausbild des kommenden Gottesreiches“ und der „Versuch einer Dienstleistung an der gesamten Menschheit“ mit der autoritären „Pflicht, das Widerstrebende in höheren Zusammenfassungen zu einen“.149 Willkommenere Beschreibungen für sich selbst hat der NS-Staat in seiner eigenen Propaganda nicht gefunden. Für Ehrler als Erbauungsschriftsteller und seine Arbeit der Krisenkonsolation war zuletzt die eingestanden aedifikatorische Funktion der Reichsidee bedeutsam. Auch deshalb fand er es der Mühe wert, den verborgenen Raum des Mittelalters, jenes „innenreichsten Zeitalters“150, dessen er sich in Maulbronn unmittelbar teilhaftig fühlte („Ich lebe lebendig jene Zeit, durchgehe sie, sehe sie, höre sie, schmecke sie, rieche sie, bin von ihrem Atem, Fleisch und Blut.“151), für die Gegenwart zu öffnen. Das „Wahrzeichen der deutschen Träume“ nannte der Italienreisende Torre Astura,152 die Burg, in der der letzte Staufer, der „Knabe Konradin“153, nach seinem gescheiterten Sizilienfeldzug festgesetzt wurde. Diese Träume waren noch nicht zu Ende geträumt. Sie lebten in der franziskanisch-joachimitischen Geschichtskon struktion des ‚Dritten Reichs‘ fort: Dieses, so wiederum Dempf, sei die „Hoffnung gerade der Geistigen in allen finsteren Zeitläuften“ gewesen, die „hofften wider alle Hoffnung, die alle tieffromm und doch fast ausnahmslos heterodox waren“. Vor
149 Werner Bergengruen: Der ewige Kaiser. 2. Aufl. Graz 1951, S. 76 f. Zum widerständigen Potential des zuerst anonym in Österreich publizierten Gedichtzyklus vgl. Klieneberger: The Christian Writers of the Inner Emigration, S. 117 ff., und Kroll: Intellektueller Widerstand im Dritten Reich. Möglichkeiten und Grenzen, S. 26 ff. Zur nationalsozialistischen Aneignung vgl. EhrkeRotermund u. Rotermund: Zwischenreiche und Gegenwelten, S. 272 u. S. 275. Zum ‚Alten Reich‘ als Vorschein des Gottesreichs in der Auffassung Bergengruens vgl. Schilmar: Europadiskurse im Umfeld der „Inneren Emigration“, S. 132 ff. Zur „alteuropäischen Welt von Kaiser, Reich und Papst“ als „Gegenbild“ aus der „Perspektive des Glaubens“ vgl. auch Haefs: Lyrik in den 1930er und 1940er Jahren, S. 401 f., anhand von Reinhold Schneiders Dreißig Sonetten (1941). 150 Ehrler: Die Reise in die Heimat, S. 155. 151 Briefe aus meinem Kloster, S. 104. Vgl. zu Ehrlers Mittelalter-Bewunderung immer noch treffend Lemke: Hans Heinrich Ehrler (Diss.), S. 59 f. 152 Hans Heinrich Ehrler: Die italienische Reise. In: ders.: Elisabeths Opferung. Novellen. Stuttgart 1924, S. 61–84, hier S. 71. Vgl. das Gedicht Torre d’Astura (Gesicht und Antlitz, S. 111). 153 Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 111. Vgl. zu Konradin auch ders.: Die Reise in die Heimat, S. 140.
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„romantischen Zukunftsbildern“ wurde gewarnt, aber auch hinzugefügt: „der Mut zur Hoffnung ist doch nie ganz betrogen worden“.154 Das in der Kirche und im ‚abendländischen Volksraum‘ fortlebende Reich war eine jener ‚göttlichen Ideen‘, die der Abendlandkatholik Abele nur andeutet, als er sich selbst für das Zeitschriftenprojekt regelrecht Mut zusprach und Ehrler zur fleißigen Mitarbeit anhielt: „Wir glauben unerschütterlich an den Sieg der göttlichen Ideen in unserer Zeit […]. Auch für Sie und Ihr Werk kämpfen wir bis zum äußersten.“155 Der süddeutsche Autor erhielt eine Art exklusiven Status als Dichterpapst des Worts in der Zeit, war schon im zweiten Heft, d.h. im August 1933, mit der prononciert erbaulichen Erzählung Die Genesung vertreten und danach bis 1938 jährlich in der Regel mit mehreren Beiträgen, darunter etliche geistliche Lieder und Sonette (wie In der Apsis, Aeternum, Der Engel, O Glaube, Stadt der Agape, Kleine Offenbarung, Doch dich zu rühmen, Wiederbegegnung, Atmet vielleicht die Schrift, Stimmen, als der Heilige kam), idyllische Erzählungen um Dichter- und Priesterfiguren (wie Die Dohle, Die Liebe des Dr. phil. Berthold Horn, Die Stimme), autobiografische Texte (wie Einer Getreuen, Erinnerung), aber auch stärker theoretische Einlassungen, in denen Ehrler seine bildungskatholische „Sorge“ um das „Reich im Reich“ artikulierte.156 Auffällig unterrepräsentiert ist die naturmagische Lyrik (wie in Der Herbst und die Gärtnerin, Ich wandle aus den Dingen), die in nationalsozialistischen Publikationskontexten bevorzugt wurde. Charakteristisch für die literarisch-publizistische Doppelseitigkeit von Ehrlers Werk erschienen seine Texte teils in der Rubrik „Dichtung“ neben Einzelnem von Claudel, Carossa und Weinheber, Hermann Claudius, Johannes Linke und anderen, teils in der Abteilung „Aufsätze und Abhandlungen“ neben den akademischen Beiträgen wie von Platz und Dempf. Die Literaturkritik des Worts in der Zeit verstand Dichtung grundsätzlich als ‚ideenhaftes Schauen‘, näherhin als vertiefende Zusammenschau der Schöpfung und als prophetische Vorausschau auf das Reich Gottes. Dabei feierte man Ehrler wiederholt als den „größten ideenhaften katholischen Lyriker der Gegenwart“157, so in Abgrenzung vom bildstärkeren Carossa, oder gleich als denjenigen „Dichter 154 Dempf: Das Dritte Reich, S. 36 u. S. 171. Zur erbaulich-konsolatorischen Funktion der Reichsidee bereits im deutschen Katholizismus des 19. Jahrhunderts vgl. Fehrenbach: Reich, S. 496 f.; am Fall von Bergengruens Der ewige Kaiser auch Ehrke-Rotermund u. Rotermund: Zwischenreiche und Gegenwelten, S. 273. 155 Theodor Abele an Hans Heinrich Ehrler, 16. August 1935, NL Ehrler. 156 Ehrler: Abschied von Herman Hefele [Gedicht], S. 198. 157 August Heinrich Berning: Lyrik als Barometer der Zeit. In: Das Wort in der Zeit 1 (1933/34), H. 2, S. 27–33, hier S. 33.
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in Deutschland“, dem kein Lebender „an poetischer Gestaltungskraft und vor allem hinsichtlich der Reinheit und Tiefgründigkeit seiner dichterischen Substanz gleichzusetzen“158 sei. Wie im Gral und im Hochland nahm man ihn gegen die Zurechnung zum Nationalsozialismus in Schutz: Es gehe diesem Begnadeten in letzter Instanz nicht um das „Bekenntnis der Heimatliebe und der Verbundenheit mit ‚Blut und Boden‘“, sondern um das „Teilhaben am Schöpfertum Gottes“ einschließlich einer „mystisch berührenden Heimatliebe“, die ein Gleichnis der „jenseitigen Heimat“ gebe.159 Zu wünschen bleibe, dass das „Licht“, das Ehrler spende, „tief in die Menschen unserer Zeit und in unser Volk einstrahlen“ möge.160 Diese Lobeshymnen kamen nicht nur von nachrangigen Beiträgern wie dem in Werl geborenen Journalisten Aloys Christof Wilsmann, der in Münster mit Untersuchungen zum Wertproblem (1929) promoviert hatte, oder der jungen Germanistin Elisabeth Heyer, die außer zu Ehrler auch zu Josef Ponten und Ernst Wiechert arbeitete. Gerade auch Abele, Berning und Platz engagierten sich hier. Letzterer steuerte am Ende des dritten Jahrgangs eine Studie Bernanos und Ehrler. Zwei Pole bei, in der er Georges Bernanos’ Un crime (1935) mit Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm verglich und Ehrler letztlich über den prominenten Vertreter des Renouveau catholique stellte. Ein Vergleich zwischen Bernanos’ Journal d’un Curé de Campagne (1936, dt. im selben Jahr als Tagebuch eines Landpfarrers veröffentlicht) und Ehrlers Briefe vom Land oder Die Reise ins Pfarrhaus hätte mit ihrer Zentrierung auf Geistliche, die sich im bäuerlichen Umfeld mit der menschlichen und göttlichen Natur auseinandersetzen, noch nähergelegen. Die Perspektive des Aufsatzes ist das definitorische „Problem des katholischen Romanschriftstellers“, der sich nicht dadurch bestimmen könne, „erbauliche, apologetische oder moralinhaltige Dinge“ vorzubringen, sondern allein aus der Personalunion des „echte[n] Künstler[s]“ mit dem „um das Höchste ringende[n] Christ[en]“ hervorgehe. Dies sollte nicht ausschließen, dass das „Erbauliche und Apologetische“ bei Ehrler fehle; es gehört nach Platz nur nicht zum Wesentlichen.161 Der NS-Gegner Platz hob Ehrlers Stärken gerade im Erhebenden und Engagierten hervor: „Neigt der Franzose als Psychologe und Analytiker zum Pessimismus, so der Deutsche als Metaphysiker zum Optimismus.“162 Ehrler vertrete „christliche[n] Humanismus 158 Aloys Christof Wilsmann: Der Dichter Hans Heinrich Ehrler. In: Das Wort in der Zeit 2 (1934/35), S. 123–126, hier S. 123. Diesem Aufsatz gehen eine Erzählung und zwei Gedichte Ehrlers voraus: Die Stimme (S. 115–122), In meiner Stube (S. 122), Kleine Offenbarung (ebd.). 159 Wilsmann: Der Dichter Hans Heinrich Ehrler, S. 123–125. 160 Wilsmann: Der Dichter Hans Heinrich Ehrler, S. 125. 161 Platz: Bernanos und Ehrler, S. 935. 162 Platz: Bernanos und Ehrler, S. 939.
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seltener Prägung“, folge in seinem „echte[n], gläubige[n], symbolträchtige[n] Realismus“ den Vorgaben Claudels und habe mit dem Baumeister Wilhelm ein „echt katholisches Werk“, einen „Roman der metaphysischen Ordnung“ vorgelegt, der ein Anrecht auf „liebevolle Beachtung und Dauer“ habe. Dieses Ergebnis lag auf einer Linie mit der Begeisterung seines kunsthistorischen, 1940 ausgeschlossenen Fakultätskollegen Heinrich Lützeler für diesen katholischen Künstlerroman,163 der aus der Berliner Germanistik heraus doch als ‚unsauber‘ attackiert wurde. Die Gegenanzeigen blieben marginal: „Da und dort mag etwas überspitzt und manieriert herauskommen.“164 Wenn Platz die Unterschiede zwischen Bernanos und Ehrler herausarbeitete, so erklärte er die beiden Autoren doch für komplementär: der Aufsatz führt eben jene „abendländische Einheit und Gemeinschaft“ vor, die Platz unter anderem in seinen Schriften Großstadt und Menschentum und Deutschland – Frankreich und die Idee des Abendlandes (1924) als Forderung aus der „abendländische[n] Idee“ abgeleitet hat, eines „landschaftlich gebundene[n] Geistes- und Gefühlsinhalt[s], der einst alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens durchdrungen und durchbildet“ habe, „eine geschichtliche Kraft, […] geboren aus A n t i k e , C h r i s t e n t u m und r o m a n i s c h - g e r m a n i s c h e r Vö l k e r w i r k l i c h k e i t “ mit „Fortschrittsrichtung des einzelnen und Ganzen auf Gott und das ewige Leben“.165 ‚Landschaftlich gebunden‘ hieß hier wie in Ehrlers einander ergänzenden Reisebüchern Reise in die Heimat und Meine Fahrt nach Berlin die Entfernung von der urbanen „Entpersönlichung“ und „Ungeistigkeit“ hin zur einer „neuen Seelenkultur“.166 Wie der ‚Provinzmann‘ Ehrler legte Bernanos auf seine provinziale Herkunft (aus dem Artois) Wert. Eben in den Regionen (und natürlich im großen katholischen Erbe) sah der überzeugte Rheinländer Platz das tragende Element einer abendländischen Überbrückung der Nationalstaaten. Neben der publizistischen Kooperation entspann sich ein Privatbriefwechsel zwischen Ehrler einerseits, Abele und Berning andererseits, in dem Letztere mehrfach ihre Distanz zum NS-Regime kommunizierten. Abele konnte im Rechtsradikalismus unter anderem kein Mittel gegen den Linksradikalismus erkennen und stand der nichtparlamentarischen Regierungsform schon deshalb ablehnend gegenüber, weil er um den Einfluss des Katholizismus in ihr fürchtete. Wenige 163 Zu den Repressionen gegen Lützeler vgl. Kroll: Heinrich Lützeler und der Nationalsozialismus, S. 37 ff. 164 Platz: Bernanos und Ehrler, S. 940 f. 165 Platz: Deutschland – Frankreich und die Idee des Abendlandes, S. 4 u. S. 10. 166 Hermann Platz: Großstadt und Menschentum. München, Kempten 1924, S. 103 f. Wie Ehrlers zwei Jahre jüngere Reise in die Heimat ist dieses Buch bei Kösel & Pustet erschienen. Knapp hierzu Schlör: Das Ich der Stadt, S. 377.
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Wochen, nachdem die Ermordungs- und Verhaftungswelle im Zusammenhang mit dem ‚Röhm-Putsch‘ auch einige politische Katholiken erfasst und den ‚Papenkreis‘ zerschlagen hatte, schrieb er Ehrler Anfang August 1934: „Ueber die gegenwärtigen Zeitläufe möchte ich nur kurz sagen: Wir erleben abermals eine große Tragödie.“167 Am Ende desselben Monats wagte sich der heimatverbundene Modernisierungskritiker mit Andeutungen über die ihm unwillkommene Industrietätigkeit des Dritten Reichs und die beginnende ‚Wehrwirtschaft‘ hervor: Die allgemeinen Verhältnisse sehe ich mit großer Besorgnis. Ich darf Ihnen das nicht verhehlen. Wir leben hier eigentlich in einem etwas weit vorgeschobenen Vorort der Ruhrstadt [sc. Dortmund]. An unserem Haus vorbei führt die Straße Köln-Berlin [sc. Reichsautobahn 4]. Bei Tag und bei Nacht rattert der Verkehr. Vom Industriegebiet her braust unheimliches Leben.168
Als Ehrler 1938 für seine „heilige Verpflichtung zum Reich“ den württembergischen Schillerpreis aus der Hand von Ministerpräsident und Kultusminister Christian Mergenthaler erhielt – ausdrücklich „unter Zustimmung des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda“169 –, glaubte Abele mit folgender Begründung gratulieren zu dürfen: Es ist für unseren Kreis eine beruhigende Tatsache, daß nach Weinheber und Carossa auch Sie hohen Preises würdig erkannt wurden. Diese Anerkenntnis muß
167 Theodor Abele an Hans Heinrich Ehrler, 3. August 1934, NL Ehrler. Zum Beitrag des ‚RöhmPutsches‘, katholische Erwartungen an ‚Brückenbau‘-Möglichkeiten zu dämpfen, vgl. Michael Kißener: Katholische Kirche und Gewalt im nationalsozialistischen Deutschland. Die Bischöfe, der Tyrannenmord und der Krieg. In: Die katholische Kirche und Gewalt. Europa und Lateinamerika im 20. Jahrhundert. Hg. v. Silke Hensel u. Hubert Wolf. Köln, Wien u.a. 2013, S. 101–110, hier S. 102 ff., sowie Andreas Linsenmann: Obrigkeit mit oder ohne Gott? Katholische Priester und Laien in der Diktaturerfahrung des Dritten Reiches. In: ebd., S. 111–122, hier S. 116 f., ferner Karl-Joseph Hummel: Umgang mit der Vergangenheit. Die Schulddiskussion. In: Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten. Hg. v. dems. u. Michael Kißener. Paderborn, München u.a. 2010, S. 217–235, hier S. 218. 168 Theodor Abele an Hans Heinrich Ehrler, 24. August 1934, NL Ehrler. Zu Abeles oppositionellen Einstellungen gegenüber dem NS-Staat vgl. Guido Müller: Der „Katholische Akademikerverband“ im Übergang von der Weimarer Republik ins „Dritte Reich“. In: Moderne und Nationalsozialismus im Rheinland. Hg. v. Dieter Breuer u. Gertrude Cepl-Kaufmann. Paderborn, München u.a. 1997, S. 551–576, hier S. 554 f. 169 Zit. n. [Anon.]: Literarische Nachrichten [Schwäbischer Dichterpreis 1938].
316 | V. Das ‚Innere Reich‘ im Dritten Reich sich in dem Wust von Ideologien und Phraseologien trotz allem klärend und gestaltend auswirken. Jedenfalls hoffen und wünschen wir es aus ganzer Seele.170
Ehrler verriet eines seiner stärksten Motive für den eigenen politischen Neuorientierungsversuch, indem er 1934 an Abele zurückschrieb: „Gibt es jetzt Frieden zwischen Kirche und Reich? Diese Sorge frißt auch bös an mir. […] Ich leide so in allen Schichten meines gegenwärtigen Daseins und werde tief geschleift.“171 Der Einklang der politischen mit der religiösen Ordnungsinstanz, des Adlers mit dem Kreuz, war Teil der Idee vom Reich als heiligem Reich. Sie hatte diejenige Diskrepanz zwischen katholischer Konfessions- und deutscher Volkszugehörigkeit auszugleichen, die Ehrler in vielen Bildern nach dem Muster „Ich bin in Deutschland und ich denk an Rom“172 umkreist hat. Eine Ende 1933 geführte Redaktionsdiskussion über Ehrlers letztlich nicht zur Publikation angenommenen Essay Die Aufgaben der deutschen Katholiken (in der Titelformulierung an Carl Muths ‚klassisches‘ Manifest Die litterarischen Aufgaben der deutschen Katholiken von 1899 angelehnt) zeigt allerdings auch, dass Ehrler beim Wort in der Zeit von Beginn an für die hoffnungsvolleren Töne über das Dritte Reich und für die ‚Brückenbau‘-Konstruktionen zuständig war. Alois Dempf, der frühzeitig zu einer klaren Position gegen den von ihm 1934 sogenannten „Mitgestaltungswahn“173 gefunden hatte, sprach sich entschieden gegen den Artikel aus, weil er „die positiven Deutungen der Ereignisse zum wenigsten für verfrüht“ hielt und „größere Reserve den vordergründigen Ereignissen gegenüber“ verlangte. Auch Mallinckrodt äußerte Bedenken, auf die Abele, Berning und Aussem eingingen, aber den Autor versichert hielten, „daß Ihre Arbeit sehr gut ist, sogar alle möglichen Irrlehren im politischen Raum radikal bekämpft und den verantwortlichen Einsatz der katholischen Substanz bedeutet“. Bei der „augenblicklichen Spannung zwischen Polis und Ecclesia“, wie sich Berning in Vermeidung des Reichsbegriffs ausdrückte, sei die Veröffentlichung jedoch „untragbar“.174
170 Theodor Abele an Hans Heinrich Ehrler, 23. Dezember 1938, NL Ehrler. 171 Hans Heinrich Ehrler an Theodor Abele, 31. Juli 1934, NL Ehrler. 172 Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 22. 173 Zit. n. Müller: Der „Katholische Akademikerverband“, S. 564. 174 Josef Aussem an Hans Heinrich Ehrler, 4. Dezember 1933, NL Ehrler.
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4. „die große Wiederherstellung“: der ‚Anschluss‘-Essay Das einige Reich der Deutschen und das Hörspiel Unsere Frau Muttersprache
Unter steigendem Konformitätsdruck zollte Das Wort in der Zeit zunächst verschiedene kleinere, zwischen dem Werl-Soester Kreis und der Katholischen TatGemeinschaft teils heftig umstrittene Tribute,175 bis man anlässlich der Eingliederung Österreichs aus dem Modus der Harmonisierungen zwischen Katholizismus und Drittem Reich in den der Identifikation überging. Die Süddeutschen Neipperg und Mallinckrodt hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits aus dem Projekt zurückgezogen. Ihre Münchner Vertraute Gertrud Pustet, die Tochter des bekannten Theologieverlegers, die seit 1935 in der Redaktion mitarbeitete, war Mitte 1937 ausgeschieden.176 Den Märzereignissen von 1938 war das Aprilheft des Jahrgangs gewidmet, das durch Ehrlers Essay Das einige Reich der Deutschen eröffnet und – nach einer Art Werbeeinschaltung „JEDER DEUTSCHE BEKENNT SICH AM 10. APRIL ZU GROSS-DEUTSCHLAND“ – von dem Beitrag Wiener Geistigkeit des katholischen Stammeskundlers Josef Nadler im Sinne der süddeutsch-österreichischen, „gemeinbairischen“ Stammesverwandtschaft177 ergänzt wurde. Andere Literatur- und Kulturzeitschriften brachten selbstverständlich ebenfalls Sonderschwerpunkte zur ‚Heimkehr Deutsch-Österreichs ins Reich‘. Das entsprechende Heft des Inneren Reichs eröffnete, im Namen des Volks, des Bluts und des heiligen Leids, mit Weinhebers Hymnus auf die Heimkehr.178 In der Bücherkunde dankte Carossa dem Führer im Namen der „ganze[n] Nation“ und wollte die „Goldklänge des Ewigen“ durch den gewaltig erweiterten „Lebensraum der deutschen Volksgemeinschaft“ klingen lassen.179 Unter dem Titel Blick nach Österreich Anno 1936 brachte im Juliheft 1938 auch Das Wort in der Zeit einen Text Carossas, in dem die Vorzeichen der neuen Einheit geschaut wurden und deren Vollzug selbst als ländliches Volksfest erschien: „Das Tal ist voll Jubel: die dumpfe Feindschaft, die uns und unser Nachbarvolk nun schon solange auseinander hält, sie soll gemildert sein; bald werden wir wieder zum andern Ufer fahren und in dem schönen Lande 175 Vgl. Pahl: Abt Adalbert Graf von Neipperg, S. 221 ff. 176 Vgl. Pahl: Abt Adalbert Graf von Neipperg, S. 228, sowie Franz-Josef Reismann: Gertrud Pustet. In: Christen im Widerstand gegen das Dritte Reich. Hg. v. Joël Pottier. 2. Aufl. Sachsenheim, Stuttgart u.a. 1995, S. 345–353. 177 Josef Nadler: Wiener Geistigkeit. In: Das Wort in der Zeit 5 (1937/38), S. 411 f., hier S. 411. 178 Josef Weinheber: Hymnus auf die Heimkehr. In: Das Innere Reich 5 (1938/39), S. 113–117. Vgl. dazu Denkler: Das Innere Reich, S. 390 f. 179 Hans Carossa: Einsamkeit und Gemeinschaft. In: Bücherkunde 5 (1938), S. 617–621, hier S. 621.
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wandern dürfen.“180 In der Wiener Neuen Freien Presse hat sich Heuss, der von der ökonomisch akzentuierten, 1918/19 vergeblich vertretenen Mitteleuropaidee Friedrich Naumanns herkam, sachlich befriedigt über die „mitteleuropäische Tatsache“181 gezeigt: Schien sich hier doch eine Forderung der liberalen 48er-Bewegung zu erfüllen, und dies ausgerechnet im Monat März, nach dem die seinerzeit von Heuss redigierte, von Ehrler reich belieferte März-Revue benannt war. Ehrlers enthusiastische Interpretation des Einigungsgeschehens zwischen Deutschland und Österreich knüpfte inzwischen jedoch mehr an die katholische Abendlandbewegung an, deren mediävalistische Reichsidee, trotz oder wegen ihrer christlich-europäischen Ausrichtung, für großdeutsche und weitergehende Auslegungen anfällig war. Auch deshalb kann die Publikation dieses Beitrags im Wort in der Zeit nicht als redaktioneller Irrläufer verstanden werden.182 Er reflektiert vielmehr das Verführungspotential, welches der Parität herstellende ‚Anschluss‘ katholischer Konfessionsgebiete für den deutschen Katholizismus objektiv besaß, wie auch den sublimierten Nationalismus, der in Teilen des katholischen Supranationalismus bereits der Weimarer Republik verankert war.183 Die Abendlandidee bedeutete hier weniger, wie Hürten meint, eine „Waffe gegen die nationalsozialistische Anschlußpropaganda“184, als dass umgekehrt der Anschluss eine Waffe gegen katholische NS-Vorbehalte war. Am Beginn steht, in hymnisch-versartiger Absetzung der Einzelaussagen, die unbedingte, idolatrische Verehrung des ‚einen Mannes‘, dem nicht die neugründe-
180 Hans Carossa: Blick nach Österreich Anno 1936. In: Das Wort in der Zeit 5 (1937/38), S. 553. 181 Zit. n. Merseburger: Theodor Heuss, S. 321. Vgl. die Ausführungen zur Naumann-Schule von Elvert: Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung, S. 20 ff. 182 Vgl. dagegen Berning: Geistig-kulturelle Neubesinnung im deutschen Katholizismus, S. 63. Zur redaktionellen Verantwortung für den Abdruck von Das einige Reich der Deutschen auch Pahl: Abt Adalbert Graf von Neipperg, S. 227. 183 Mit Nachdruck hierzu Richter: Nationales Denken im Katholizismus der Weimarer Republik, S. 149 f.: „Die europäische und kosmopolitische Dimension ‚abendländischen Denkens‘, oft gebunden am vorrangigen Kulturauftrag des Katholizismus, enthält vielfach einen nationalistischen Akzent, der eine Führungsrolle Deutschlands in Europa vorrangig geistig begründet, zudem die Integration Österreichs in ein künftiges ‚Großdeutschland‘ […] verlangt.“ Vgl. mit unterschiedlichen Wertungen auch Hürten: Deutsche Katholiken, S. 400–424 („Österreich und das Sudetenland“), Conze: Das Europa der Deutschen, S. 27–110 („Wege ins ‚Abendland‘ 1920– 1945“), sowie Blaschke: Die Kirchen und der Nationalsozialismus, S. 169 f. („Der ‚Anschluss‘ und das Christentum in Österreich“). Zur traditionell entschieden großdeutsch-österreichischen Orientierung gerade der württembergischen Katholiken vgl. Blackbourn: Class, Religion and Local Politics, S. 70 ff. 184 Hürten: Der Topos vom christlichen Abendland, S. 144.
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rische Revolution (wie noch in Ehrlers Rede zur Verfassungsfeier 1932) nachgesagt, sondern die gelungene renovatio attestiert wird. Es gibt Augenblicke, da atmet die Zeit und wir hören ihren Puls gehen. Das einige Reich der Deutschen ist geschaffen. Von einem Mann, welcher sichtbar durch die Vorsehung den Auftrag hat, die große Wiederherstellung vor der Welt zu vollbringen. Vor drei Jahren holte er das Saarland zurück und jetzt nimmt er sein Stammland aus dem Jahrhunderte währenden Zustand der Entzweiung heim. Die Sprache vermag in solcher Stunde kein anderes Bild zu finden, als daß hier ein Traum erfüllt und ein Wunder geschehen sei.185
Neben die Personenverehrung, die dem Gehuldigten eine zeitlos exzeptionelle Stellung im Gefüge der göttlichen Ordnung zuspricht, setzte Ehrler eine weitläufige Geschichtsdeutung. Das Wort von der „Wiederherstellung“, ein direktes Hitlerzitat,186 sucht die angebliche welthistorische Wende an ein Gewesenes und Bewährtes anzuknüpfen. Es liegt auf der Linie von Hitlers eigenen Berufungen der Vergangenheit als Legitimationsinstanz seines Denkens und Handelns.187 Der historische Fokus ist allerdings ein anderer als bei Hitler, dessen Orientierungspunkte auf dem römischen und britischen Weltreich lagen. Die mittelalterlich-frühneuzeitliche „Idee vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“, meinte Ehrler in seinem Eröffnungsbeitrag, habe den „Auseinanderfall des Germanentums“ und dann die „Überflutung Europas durch den Islam“ verhindert. Die reformatorische Glaubensspaltung habe darauf „die geistige Einheit der abendländischen Welt“ zerrissen und einen Riss besonders durch Deutschland gelegt: Der im Protestantismus sich sammelnde abgespaltene Teil der Nation wurde Mehrheit. Die Macht des Schwergewichts bewirkte im Gang der Zeit, daß er als der Träger des deutschen Wesens galt, während der eingesessene Katholizismus als ein mit Fremdstoffen behaftetes, leider nicht ganz verdrängtes Zwittergebilde stigmatisiert worden ist.188
185 Ehrler: Das einige Reich der Deutschen, S. 377. Als „Wunder“ hatte Ehrler bereits die deutschösterreichische Bündnistreue in der Julikrise, genauer den ‚Blankoscheck‘ Wilhelms II. vom 6. Juli 1914 gefeiert, vgl. Ehrler: Ein Wunder. 186 Vgl. z.B. Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen, Bd. 1/1, S. 206, Bd. 1/2, S. 597 u. S. 667. 187 Vgl. Kroll: Utopie als Ideologie, S. 33. 188 Ehrler: Das einige Reich der Deutschen, S. 378 f.
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Ehrler argumentierte gegen den Verdacht der nationalen Unzuverlässigkeit des katholischen Bevölkerungsanteils, gegen die Auffassung des Christentums als Lehre der Schwäche und gegen das „engstirnige Gerede von einer ‚gräco-judäischen‘ Herkunft des Christentums“189. Er übte damit mehr oder weniger offene Kritik an Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts, in dem dieses ‚engstirnige Gerede‘ steht, relativierte in diesem Zug aber auch die jüdische Grundlage der christlichen Tradition.190 Mit ‚Zwittergebilde‘ berührte er die illegitime Seite des Synkretismus, auf dessen legitimer Seite sein ‚Inneres Reich‘ als universalistische Größe zu stehen beanspruchte. Schließlich lehnte er sich eindeutig an die bereits im ‚Deutschchristentum‘ der völkischen Kreise entwickelte und von Rosenberg weiter zugespitzte Idee des ‚arischen Christus‘ an, wenn er formulierte: „Christus, der Verkünder, war der männlichste Mann, der Herr des Lebens in jedem Betracht bis ans Kreuz.“191 Ehrler erklärte die Kompatibilität des Christentums mit dem Nationalsozialismus, ja beider Symbiose, eröffnete ein Feindbild hingegen im „atheistischen Sozialismus“, mit dem zu kooperieren (wie er es in der Linksblockpolitik der 1910er und 1920er Jahre selbst empfohlen hatte), „Sünde gegen den Geist“ gewesen sei.192 Das 189 Ehrler: Das einige Reich der Deutschen, S. 381. 190 Zur katholischen Auseinandersetzung mit Rosenbergs Hauptwerk vgl. grundsätzlich Dominik Burkard: Häresie und Mythus des 20. Jahrhunderts. Rosenbergs nationalsozialistische Weltanschauung vor dem Tribunal der Römischen Inquisition. Paderborn, München u.a. 2005, sowie Scherzberg: Katholizismus und völkische Religion, zur „Relativierung [des] jüdischen Ursprungs [der Heiligen Schrift] mit dem Ziel, den Vorwurf der Verjudung des Christentums zurückzuweisen“, hier bes. S. 302 ff. (Zitat S. 304). Zur ‚energieableitenden‘ Funktion Rosenbergs als ‚bogyman‘ christlicher NS-Kritik vgl. immer noch auch Ian Kershaw: The ‚Hitler Myth‘. Image and Reality in the Third Reich. Oxford 1987, S. 113 f. u. S. 120. 191 Ehrler: Das einige Reich der Deutschen, S. 382; vgl. fast wörtlich ders.: Das Gesetz der Liebe, S. 307. Exemplarisch Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts, S. 659 f.: „Es lag im Interesse der herrschsüchtigen römischen Kirche, die unterwürfige Demut als das Wesen Christi hinzustellen, um sich möglichst viele an diesem ‚Ideal‘ heruntergezüchtete Diener zu verschaffen. […] Jesus erscheint uns heute als selbstbewußter Herr im besten und höchsten Sinne des Wortes. Sein Leben ist es, das für uns germanische Menschen Bedeutung besitzt, nicht sein qualvolles Sterben […]. Der gewaltige Prediger und der Zürnende im Tempel, der Mann, der mitriß, und dem ‚sie alle‘ folgten […]. Unsere paulinischen Kirchen sind somit im wesentlichen n i c h t christlich, sondern ein Erzeugnis der jüdisch-syrischen Apostelbestrebungen […].“ – Zum virilen ‚arischen Christus‘ vgl. Puschner: Die völkische Bewegung, S. 214 ff., sowie Steigmann-Gall: The Holy Reich, S. 95 ff. Zur katholischen Aneignung von Männlichkeitsansprüchen, die sich sonst mit dem Protestantismus verbanden, vgl. Olaf Blaschke: „Wenn irgendeine Geschichtszeit, so ist die unsere eine Männerzeit“. Konfessionsgeschlechtliche Zuschreibungen im Nationalsozialismus. In: Zerstrittene „Volksgemeinschaft“. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus. Hg. v. Manfred Gailus u. Armin Nolzen. Göttingen 2011, S. 34–65. 192 Ehrler: Das einige Reich der Deutschen, S. 379.
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Christentum bleibe, aus einer Geschichte von fünfzehn Jahrhunderten heraus, die elementare Kulturmacht; dagegen führe „vorchristliche[s] germanische[s] Zeitgut“, wie es jetzt wiederentdeckt würde, in einen zu engen „Vorhof “ zurück.193 Gerade dieses letzte Argument verrät, dass Ehrler mit seinen verstiegenen Klettereien auf den Höhenkämmen der europäischen Geschichte eine Apologetik des Christentums erneuerte, die dieses bereits in der Spätantike gegen den Vorwurf nötig hatte, zur Erhaltung des Römisches Reichs seit der Konstantinischen Wende untauglich, ja verhängnisvoll kontraproduktiv gewesen zu sein. Bei Ehrler war sie aus einer Defensive heraus geführt, die dem Essay in Einschätzung der christlichen Position die charakteristische, angstbesetzte Haltung verleiht: der Befürchtung, gegenüber dem Hauptspielfeld der Geschichte selbst in einem Vorhof zurückzubleiben. Die Katholiken, so Ehrler, bildeten eine „Gruppe unseres Volkes, die Millionen ernste Menschen guten Willens“194 umfasse – guten Willens, hieß das, zur Mitarbeit im ‚Dritten Reich‘. Das kollaborative Verhalten der österreichischen Bischöfe („Die Bischöfe der Heimgekommenen bekennen sich zu seinem Werk“) und dass die Glocken des Kölner Doms läuteten, wenn „der Einiger des Reichs“ spreche, führte er als Belege an.195 Damit bezog er sich auf Hitlers Kölner Rede vom 28. März 1936, die den Propagandafeldzug zur Reichstagswahl und zur gleichzeitigen Volksabstimmung über die Rheinlandbesetzung am 29. März beendete. Der Reichskanzler hatte die katholischen und evangelischen Bischöfe mit ‚ergebenster Bitte‘ veranlasst, zum feierlichen Ausklang seines Auftritts sämtliche Kirchenglocken des Reichsgebiets 15 Minuten lang läuten zu lassen. Der Kölner Kardinal Karl Joseph Schulte, der die Rheinlandbesetzung als solche begrüßte und dem Kirchenvolk das vaterländische ‚Ja‘ an den Urnen empfahl, versuchte diesem speziellen, kirchliche Ausdrucksformen in Anspruch nehmenden Wunsch zunächst auszuweichen, kam ihm nach direkter Einmischung aus der Reichsleitung der NSDAP aber nach.196 Das aktuelle Beispiel des Wiener Erzbischofs Kardinal Theodor Innitzer, der zu Hitlers Einzug in Wien am 14. März 1938 die Glocken des Stephansdoms läuten ließ, kam Ehrlers Darstellung faktisch entgegen, wie überhaupt die positive Haltung der österreichischen Bischöfe zum ‚Anschluss‘ seinen Vorstoß mit den ge193 Ehrler: Das einige Reich der Deutschen, S. 381 f. Vgl. zu einer solchen Verteidigung der christlichen Kulturleistung gegen germanisierende Kunstauffassungen bei gleichzeitiger Idealisierung eines ‚Volks im Reich‘ auch Platz: Großstadt und Menschentum, S. 97 ff., sowie Heinrich Lützeler: Die christliche Kunst Deutschlands. Bonn 1936, S. 236 ff., dazu Kroll: Heinrich Lützeler und der Nationalsozialismus, S. 55 ff. 194 Ehrler: Das einige Reich der Deutschen, S. 380. 195 Ehrler: Das einige Reich der Deutschen, S. 380. 196 Vgl. Besier: Die Kirchen und das Dritte Reich, S. 445 f., S. 705 f. u. S. 1038.
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nannten Inhalten wenn nicht rechtfertigen, so doch ermutigen konnte.197 Der Titel Das einige Reich der Deutschen und die ersten Sätze paraphrasieren geradezu die Eingangspassage aus der Feierlichen Erklärung der österreichischen Bischöfe, nach der nun die „tausendjährige Sehnsucht unseres Volkes nach Einigung in einem grossen Reich der Deutschen ihre Erfüllung“198 gefunden habe. Die vor der Öffentlichkeit verborgene Eingaben- und Memorandenpolitik, die der beunruhigte Episkopat gegenüber Ministerien, Reichskanzlei und Vatikan verfolgte, konnte von Ehrler naturgemäß nicht berücksichtigt werden. Für den weiteren Gang der Darstellung ging Ehrler zu einer Taktik über, die weniger den Katholizismus für gut nationalsozialistisch, vielmehr Hitler zum lupenreinen Katholiken erklärt. Seine Expansionspolitik im Ruhrgebiet, in Oberschlesien, im Saarland und in Österreich wird als Einsatz für die Sendung des katholischen Deutschlands verstanden. Der „Führer der Bewegung“ habe immer wieder „von Oben Gnade angerufen und sein Tun der Gnade von Oben unterstellt“.199 Gerade die Kölner Rede schien dafür ein unabweisbarer Beleg, denn um das Glockenläuten zu motivieren, schloss Hitler mit dem Gebetsaufruf: Dieses Volk [...] ist anständiger, besser geworden. Und wir finden: Die Gnade des Herrn wendet sich jetzt uns wieder langsam zu. Und in dieser Stunde, da sinken wir in die Knie und bitten den Allmächtigen, er möge uns die Kraft verleihen, den Kampf zu bestehen für die Freiheit und die Zukunft und die Ehre und den Frieden unseres Volkes, so wahr uns Gott helfe!200
Ehrler problematisierte hierbei nicht, ob der Vorbeter Hitler seine eigene, nationalsozialistische ‚Kirche‘ errichten wollte und die christlichen Gotteshäuser dafür geschickt in Dienst nahm, indem sie gerade auf sein Amen hin ins Werk treten sollten. Der „Führer Deutschlands“, darin gipfelt Ehrlers nicht unbegründete, sondern übermotivierte Auslegung der Zeitgeschichte, rufe „zu den selben Zielen auf, die civilitas humana zu begründen“, wie der „geistliche Hirte in Rom“, Pius XI. Die Botschaften des Papstes seien „Mahnrufe der christlichen Liebesordnung, des Gesetzes der Liebe“, die ganz im Sinne Hitlers lägen.201 Krampfhaft greift hier das 197 Vgl. Maximilian Liebmann: „Heil Hitler“ – Pastoral bedingt. Vom Politischen Katholizismus zum Pastoralkatholizismus. Wien 2009, zum Wiener Glockenläuten hier S. 67. 198 Zit. n. Liebmann: Vom Politischen Katholizismus zum Pastoralkatholizismus, S. 80. 199 Ehrler: Das einige Reich der Deutschen, S. 381. 200 Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen, Bd. 1/2, S. 616. Dazu Besier: Die Kirchen und das Dritte Reich, S. 706 f. 201 Ehrler: Das einige Reich der Deutschen, S. 381 f.
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übergeordnete reichsidealistische Interesse am Gleichklang zwischen dem Oberhirten und dem imperator pacificus durch, in dessen Bild Hitler dafür aufgehen musste und bei Ehrler deshalb für die nächste Zeit auch immer aufging. Reinheit und Unfehlbarkeit waren die laudatorischen Topoi für den Papst ebenso wie für das Reichsoberhaupt. Aus dem Konkordatsjahr 1933 konnten die Zeitgenossen den Eindruck einer unmittelbaren, großsinnigen, kleinliche Bedenkenträger unter sich lassenden Kordialität zwischen dem Reichskanzler in Berlin und der höchsten kirchlichen Autorität in Rom mitnehmen. Unter denen, die sich für diese Einigkeit verbürgten, ragte neben dem Braunsberger ‚Brückenbauer‘ Joseph Lortz auch der Tübinger Theologe Karl Adam heraus: Das Konkordat sei eben letzter Ausdruck des innigen Zusammenhangs von deutschem Volkstum und katholischem Christentum.202 Auf dieser Grundlage verstand Ehrler nun selbst noch die von ihm angesprochenen ‚Mahnrufe der christlichen Liebesordnung‘, nämlich die Enzyklika Mit brennender Sorge vom 14. März 1937. Deren scharfe Verurteilung zumindest der nationalsozialistischen Kirchen- und Religionspolitik ließ sich nur überhören, wenn man die Melodie von der deutschen Verteidigung des christlichen Abendlandes (gegen den asiatischen Bolschewismus) im Ohr hatte, die von den Bischöfen allerdings noch im Hirtenbrief vom 3. Januar desselben Jahres gespielt wurde.203 Die ‚Reichs202 Vgl. Karl Adam: Deutsches Volkstum und Katholisches Christentum. In: Theologische Quartalschrift 114 (1933), S. 40–63. Dazu Scherzberg: Katholizismus und völkische Religion, S. 319 ff. – Zur öffentlichen Wirkung des Konkordats resümierend Matthias Stickler: Kollaboration oder weltanschauliche Distanz? Katholische Kirche und NS-Staat. In: Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten. Hg. v. Karl-Joseph Hummel u. Michael Kißener. Paderborn, München u.a. 2010, S. 83–99, hier S. 85: „Der Konkordatsabschluss vom 20. Juli 1933 stellt in der Tat für die Bewertung der Haltung der katholischen Kirche gegenüber dem Dritten Reich das zentrale Schlüsselereignis dar, weil er scheinbar den krönenden Abschluss eines seit Januar 1933 laufenden Annäherungsprozesses bildete, in der Außensicht das NS-Regime nicht unerheblich aufgewertet wurde und der Eindruck einer Symbiose beider Vertragspartner entstand, was sich nicht zuletzt auf die Anpassungsbereitschaft der katholischen Gläubigen auswirkte.“ – Zur Bewertung des Konkordats als Auftakt kirchlicher Selbstverteidigungsmaßnahmen vgl. Thomas Brechenmacher: Einleitung. In: Das Reichskonkordat 1933. Forschungsstand, Kon troversen, Dokumente. Hg. v. dems. Paderborn, München u.a. 2007, S. 7–12, zur sog. Scholder-Repgen-Kontroverse mit Unterstützung von Scholders ‚Junktim-These‘ einer Kooperation zwischen Kirche und Führerstaat dagegen Blaschke: Die Kirchen und der Nationalsozialismus, S. 88–97 („Kehrtwende im Katholizismus und Reichskonkordat“) u. S. 116–125 („Das Reichskonkordat: ‚Teufelspakt‘ oder Verteidigungslinie?“). 203 Zur Einschätzung der Enzyklika als „Wende zur ‚Konfrontation ohne Bruch‘“ vgl. Thomas Brechenmacher: Die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ als Höhe- und Wendepunkt der päpstlichen Politik gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland. In: Die Herausforderung der Diktaturen. Katholizismus in Deutschland und Italien 1918–1943/45. Hg. v. Wolfram
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heimholung‘ des ehemaligen Habsburgerstaates fiel mit dem Jahrestag der Enzyklika annähernd zusammen, was neben Ehrler auch noch viele andere Beobachter dazu bewog, den Frieden zwischen Kirche und Staat retro- und prospektiv gewahrt zu sehen. Der Liebesbegriff besitzt tatsächlich eine zentrale Stellung in dem (auf Deutsch, vor allem von Faulhaber und Eugenio Pacelli verfassten) Lehrschreiben: Eine […] in Gottesliebe und tätiger Nächstenliebe sich bewährende Christenheit wird der im tiefsten Grunde kranken, nach Halt und Wegweisung suchenden Welt Vorbild und Führerin sein können und müssen, wenn nicht unsagbares Unglück, wenn nicht ein alle Vorstellung hinter sich lassender Niedergang hereinbrechen soll.204
Damit war freilich eine an den „reine[n] Kirchenglaube[n]“205 gebundene, im Doppelgebot Christi verankerte Liebe gemeint, nicht die franziskanisch-pantheistische All-Liebe lebensreformerischen Einschlags. Ohnehin überhörte Ehrler manches aus der Enzyklika, was seine eigenste Rolle als religiöser Dichter und Publizist betraf. Dies gilt für die klare, wenn auch nicht auf Fragen des (Neo-)Franziskanismus eingehende Warnung von Nr. 10: „Wer in pantheistischer Verschwommenheit Gott mit dem Weltall gleich setzt, Gott in der Welt verweltlicht und die Welt in Gott vergöttlicht, gehört nicht zu den Gottgläubigen.“206 Ehrlers naturmystische Tendenz hängt dem Reichsaufsatz aber insofern nach, als ihm ein für Ehrlers Intertexte höchst einschlägiges Zitat aus Hölderlins Der Archipelagus (1800/01) nachgestellt ist: Denn voll göttlichen Sinns ist alles Leben geworden, Und vollendend, wie sonst, erscheinst du wieder den Kindern Überall, o Natur! und, wie vom Quellengebirg, rinnt Segen von da und dort in die keimende Seele dem Volke.207
Einen noch dringlicheren Punkt der weitverbreiteten Enzyklika, den Ehrler nicht auf sich bezogen zu haben scheint, betrifft die erklärte Kritik an der politischen Pyta, Carsten Kretschmann, Guiseppe Ignesti u.a. Tübingen 2009, S. 271–300 (Zitat S. 284). – Zur Überlagerung der antinazistischen durch die antibolschewistische Kommunikation vgl. Blaschke: Die Kirchen und der Nationalsozialismus, S. 166 ff. 204 Pius XI.: Mit brennender Sorge, S. 154. 205 Pius XI.: Mit brennender Sorge, S. 152. 206 Pius XI.: Mit brennender Sorge, S. 148. 207 Hölderlin: Gedichte, S. 262 (V. 267–270).
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Verwendung sakralen Sprechens: „Ein besonders wachsames Auge […] werdet Ihr haben müssen, wenn religiöse Grundbegriffe ihres Wesensinhaltes beraubt und in einem profanen Sinne umgedeutet werden.“208 Ob die nationalsozialistische Ideologie wirklich nur profan ist, also nicht z.B. den Glauben an überirdische Mächte einschließt, das ist freilich der Streitpunkt. Im Sinne der Enzyklika war insbesondere die Anwendung religiöser Sprachformen auf historisch-politische Ereignisse und auf die Natur der Führungsfigur gemeint. Eben dieses Verfahren aber exerzierte Ehrler in Das einige Reich der Deutschen vom ersten Absatz an, wenngleich er es eigens benannte und topisch als notwendig entschuldigte: „Die Sprache vermag in solcher Stunde kein anderes Bild zu finden, als daß [...]“,209 oder an anderer Stelle: „Man soll sakrale Gleichnisse nicht anrühren, aber [...]“.210 Auch trat der päpstliche Rundbrief expressis verbis gegen den von Ehrler mitgetragenen Reichsund Führerkult auf: „Wer […] das Volk, oder den Staat, oder die Staatsform, die Träger der Staatsgewalt […] mit Götzenkult vergöttert, der verkehrt und fälscht die gottgeschaffene und gottbefohlene Ordnung der Dinge.“211 Ehrler verkannte somit grundsätzlich, dass er im präzisen Sinn der Enzyklika Mit brennender Sorge ein „Wahnprophet“212 war. Die Annahme, dass Hitler in seinem persönlichen, vom NSDAP-Programm zu unterscheidenden Bekenntnis gut katholisch sei, nämlich nach Ausweis von Mein Kampf (1925/26) und anderen Äußerungen „sein katholisches Christentum ernst nimmt“213, teilte Ehrler mit mehreren Zeitgenossen wie seinem Fürsprecher Wilhelm Stapel. Karl Adam rief von seinem Tübinger Lehrstuhl über Hitler aus: „aus dem Süden, aus dem katholischen Süden kam er“.214 Kardinal Faulhaber konnte dem Papst von Hitler berichten: „Er spricht sehr fromm, in Königsberg von der Vorsehung und wie er bete.“215 Bischof Kaller, der sich in Verlautbarungen im Erm208 Pius XI.: Mit brennender Sorge, S. 156. 209 Ehrler: Das einige Reich der Deutschen, S. 377. Zur ‚Auslaugung‘ religiöser Bilder im Nationalsozialismus vgl. Vondung: Deutsche Wege zur Erlösung, Schlosser: Sprache unterm Hakenkreuz, S. 181 ff., sowie Horst Denkler: Säkularisation religiöser Bilder. Wiedertäufer – Freimaurer – Nationalsozialisten. In: ders.: Was war und was bleibt? Zur deutschen Literatur im Dritten Reich. Neuere Aufsätze. Frankfurt/M., Berlin u.a. 2004, S. 105–118. 210 Ehrler: Die Stimme, S. 219. 211 Pius XI.: Mit brennender Sorge, S. 149. Zu allen genannten Lehrinhalten der Enzyklika vgl. Heinz-Albert Raem: Pius XI. und der Nationalsozialismus. Die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ vom 14. März 1937. Paderborn, München u.a. 1979, S. 70 ff. 212 Pius XI.: Mit brennender Sorge, S. 152. 213 Stapel: Sechs Kapitel über Christentum und Nationalsozialismus, S. 10. 214 Adam: Deutsches Volkstum und Katholisches Christentum, S. 41. 215 Zit. n. Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich, S. 307.
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ländischen Kirchenblatt und in Fragen der Braunsberger Akademie alles andere als unkritisch gegenüber dem Nationalsozialismus zeigte (s. Kap. III.2), glaubte im April 1933 gleichwohl sagen zu können: „Wir wissen, daß die neuen Machthaber auf der Religion aufbauen wollen. Es ist unsere heilige Pflicht, mitzuarbeiten“, nämlich auf der Grundlage dessen, dass es ein „katholisches Staats- und Reichsideal“ gebe.216 Hitler war tatsächlich niemals aus der Kirche ausgetreten und erreichte am 28. März 1933 die Zurücknahme der synodalen Warnungen vor dem Nationalsozialismus unter anderem mit der Erklärung, er wünsche, von Exkommunikationsdrohungen unbelastet an Gottesdiensten teilnehmen zu können.217 Als Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts nach fast vierjähriger Umlaufzeit im Februar 1934 auf den Römischen Index gesetzt wurde, hat sich Hitler von dem Buch distanziert.218 In seinen Grundsatzreden, auf die sich Faulhaber bezog, nahm er wiederholt die Haltung des öffentlichen Beters ein. So bei einer seiner ersten Ansprachen als Reichskanzler am 10. Februar 1933: mit einer auf das Reich gemünzten Variation des Vaterunsers und einem abschließenden „Amen“,219 am 1. Mai 1933 mit einem Gebet „Herr, Du siehst, wir haben uns geändert“ gegen die „Kleingläubigkeit“ des Volkes und für das „Ertragen aller Opfer“.220 Dem folgten viele weitere Gebete Hitlers bis zum Höhepunkt seiner Macht im Januar 1941: „Ich danke dir, mein Herrgott, daß du mich jetzt dorthin gebracht hast.“221 Ehrler war die Rhetorik des Gebets aus der eigenen literarischen Praxis nur zu vertraut: Der Betende stellt sich mit ihr in ein Vertrauensverhältnis zu Gott und rechtfertigt dadurch auch die Dehnung des sprachlichen Ausdrucks in die äußersten Extreme von Simplizität und Hyperbolik. Erklärungsbedürftig ist zuletzt, wie Ehrler überhaupt in die Situation kam, als Sprecher der deutschen Katholiken aufzutreten und bischöfliche sowie päpstliche Handlungen zu kommentieren. Im Vergleich zum bildungsklassizistischen, über 216 Kaller: Unsere katholischen Aufgaben von heute, S. 207. 217 Zu Hitlers Pflege eines christlichen Image vgl. Kershaw: The ‚Hitler Myth‘, S. 105 ff., zum Selbstverständnis von Hitler und Teilen der NS-Elite, auf christlichem Grund und zugleich über den Konfessionen zu stehen, Steigmann-Gall: The Holy Reich, bes. S. 51 ff. Zur Unvereinbarkeitserklärung der Fuldaer Bischofskonferenz vom 17. August 1931 und deren Zurücknahme vgl. zusammenfassend Stickler: Katholische Kirche und NS-Staat, S. 86 f., sowie Blaschke: Die Kirchen und der Nationalsozialismus, S. 88 ff. 218 Vgl. Burkard: Häresie und Mythus des 20. Jahrhunderts, S. 173 ff. 219 Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen, Bd. 1/1, S. 208. 220 Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen, Bd. 1/1, S. 264. 221 Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen, Bd. 2/1, S. 1659. Zu Hitler als Beter vgl. Bärsch: Die politische Religion des Nationalsozialismus, S. 291–298 („Der Glaube Hitlers an seine spezifische Beziehung zu Gott“), sowie Bucher: Hitlers Theologie, S. 91 f.
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den Mühen der Ebene operierenden Hochland war Das Wort in der Zeit, wie der Titel bereits sagt, stärker auf die zeitgeschichtliche Einmischung angelegt. Es erschien in einem Münchner Theologieverlag, wurzelte aber zugleich im rheinischwestfälischen Katholizismus und beabsichtigte, mit einer auf dem Titelblatt annoncierten norddeutschen und süddeutschen Redaktion222 für den Katholizismus im Reich insgesamt zu sprechen. Für die Anpassungsleistung, die Theodor Abele 1938 im Wort in der Zeit erbringen wollte, war es offenbar von Interesse, dass Ehrler im Gebiet der katholischen Landeskirche von Württemberg (Bistum Rottenburg) lebte. Der zuständige Bischof Joannes Baptista Sproll hatte nur bis 1934 geglaubt, dass der Nationalsozialismus die staatlichen Mittel gegen das einsetze, was – wie Marxismus, Schundliteratur, Freidenkertum etc. – Glauben und Religion zerstöre. Sproll war Mandatsträger der Zentrumspartei, hatte sich im ebenfalls aufgelösten Friedensbund Deutscher Katholiken gegen Kriegsverherrlichung engagiert und beurteilte das Reichskonkordat von 1933 frühzeitig als nur einseitig eingehalten, wozu in Württemberg besonders die repressive Behandlung des Religionsunterrichts durch den Ministerpräsidenten und Kultusminister Mergenthaler Anlass gab. Er predigte gegen die Religionsanmaßungen der nationalsozialistischen ‚Kultgemeinschaft‘, gegen die Vergötterung der Natur und gegen die Diskreditierung des Alten Testaments (wie Ehrler sie in Das einige Reich der Deutschen beiläufig vollzogen hat).223 Seine oppositionelle Einstellung wuchs – im Vorfeld der Volksabstimmung und Reichstagswahl vom 10. April 1938 – bis zur offenen Distanzierung von der NSDAP: „als Experiment und auf mein Risiko“224. Sproll hat nicht den allenthalben populären ‚Anschluss‘ kritisiert, sondern die Form der Volksabstimmung mit gleichzeitiger ‚Wahl‘ einer nationalsozialistischen Einheitsliste für den Reichstag. Staats- und Parteistellen auf Reichs- und Landes- bzw. Gauebene ergriffen gleichwohl die Chance, ihm reichsfeindliches Verhalten vorzuwerfen und ihn ohne entscheidenden Protest der katholischen Bevölkerung an der Amtsaus222 Bei den auf dem Titelblatt anfangs verwendeten Begriffen „Norddeutschland“ und „Süddeutschland“ wird Westfalen, aufgrund von Sprache und Geschichte, als norddeutsch verstanden. 223 Vgl. Scherzberg: Katholizismus und völkische Religion, S. 304 ff., sowie Stolle: Christian Mergenthaler, S. 468 f. 224 Sproll zit. n. Köhler: Der deutsche Katholizismus zwischen Widerspruch zur nationalsozialistischen Ideologie und nationaler Loyalität, S. 164, zu Sprolls Widerstand hier S. 164–171. Alle Details bei Paul Kopf: Die Vertreibung von Bischof Joannes Baptista Sproll. Ursachen – Verlauf – Reaktionen. In: Gelegen oder ungelegen – Zeugnis für die Wahrheit. Zur Vertreibung des Rottenburger Bischofs Joannes Baptista Sproll im Sommer 1938. Hg. v. Dieter R. Bauer u. Abraham P. Kustermann. Stuttgart 1989, S. 111–141, sowie Dominik Burkard: Joannes Baptista Sproll. Bischof im Widerstand. Stuttgart 2013, S. 95–132.
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übung zu hindern. In diesem einzigartigen Konflikt ging es, wie unter anderem Sprolls Korrespondenz und eine Kampagne in der Landespresse zeigen, zentral um die öffentliche Meinung und um die Entscheidung darüber, hinter wem Klerus und Volk letztlich stünden. Der Vatikan verweigerte der NS-Führung die gewünschte Auswechslung des Rottenburger Bischofs. Die Gemeinden der Diözese sollten vielmehr in jedem Gottesdienst ein Gebet für ihn sprechen.225 Ehrler trat somit, auf der Seite seiner staatlich-parteilichen Förderer Mergenthaler und Schmückle, als volkstümlicher Zeuge gegen seinen eigenen Bischof auf. Katholische Laien sollten sich somit in keinem grundsätzlichen Widerspruch zum Nationalsozialismus sehen. Dass Ehrler ein halbes Jahr später, im November 1938, den höchsten Literaturpreis des Landes, den Schillerpreis, erhielt, deutet in dieselbe Richtung: auf den Versuch, dem klerikalen Katholizismus zumindest teilweise durch Ehrlers literarisch-politische, schollen- und reichstreue Religiosität zu begegnen. Die Aktion des Reichsaufsatzes hat das Wort in der Zeit übrigens nicht gerettet: Die Herausgabe der Zeitschrift musste im September 1938 eingestellt werden – nicht aufgrund eines regelrechten Verbots, dessen sich die Betroffenen des ‚Kirchenkampfs‘ später schmeichelten, aber doch aufgrund zielbewusster bürokratischer Auflagen durch die NS-Behörden. Abele beklagte in diesem Zusammenhang das vermeintlich mangelnde Geschick des Münchner Verlegers Erich Wewel und glaubte insbesondere, dass man in das Verbotsschicksal der Wewel-Zeitschrift Prediger und Katechet, einer „aktivistische[n] Vermittlungsstelle populärer Seelsorge-Literatur“, wie er sich ausdrückte, „mit hineingerissen“ worden sei.226 Über die erfolgreiche, 1949 fortgesetzte Traditionszeitschrift Prediger und Katechet, die vor allem Vorschläge zur Predigt und zu anderen geistlichen Redeanlässen bot, erhielt Wewel in der Tat den Ende August 1938 ergangenen Gestapobescheid, sie sei geeignet, die öffentliche Ruhe und Ordnung zu stören. Auch Prediger und Katechet hat es mithin nicht gerettet, sich im März zu ‚Großdeutschland‘ bekannt zu haben.227 Dass die Wiederbeantragung des Worts in der Zeit von den Behörden im Mai 1939 unter Hinweis auf eine angebliche Papierknappheit abgelehnt wurde,228 225 Vgl. Stephenson: Hitler’s Home Front, S. 239 f. 226 Theodor Abele an Hans Heinrich Ehrler, 2. Juli 1939, NL Ehrler. 227 Ausführlich zu dieser Zeitschrift Martin Dust: „Unser Ja zum neuen Deutschland“. Katholische Erwachsenenbildung von der Weimarer Republik zur Nazi-Diktatur. Frankfurt/M., Bern u.a. 2007, S. 107–235, zum Verbot hier S. 109, zum ‚Anschluss‘ S. 233 ff. 228 Vgl. Theodor Abele an Hans Heinrich Ehrler, 8. Mai 1939, NL Ehrler. Mit derselben Begründung wurde ab Ende 1939 auch das Hochland zum Erliegen gebracht; vgl. Dirsch: Das Hochland, S. 94 f. Zur Papierbewirtschaftung als Zensurmittel hauptsächlich erst ab Oktober 1939 vgl. Barbian: Die organisatorische, personelle und rechtliche Neuordnung des deutschen Buchhandels, S. 147 ff., sowie ders.: Der Buchmarkt, S. 181 f. Zu den Maßnahmen gegen katholische
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verrät darüber hinaus einen zuteilungspolitischen Unterdrückungswillen, der sich spezifisch auch gegen dieses Periodikum richtete. Abele hatte an diesem Punkt noch nicht erkannt, dass sich der totalitäre Staat keineswegs damit begnügte, dass die Zeitschrift, wie er sie bildungskatholisch verstand, „der Idee [...], auch der des deutschen Volkes“, dienen wolle.229 Die nationalsozialistische Medienpolitik war geschickt genug, Behauptungen einer staats- und volksfeindlichen „Wühlarbeit der konfessionellen Zeitschriften“230 in der Regel über Vorfeldorganisationen wie den Nationalsozialistischen Lehrerbund zu lancieren, sodass die betroffenen Herausgeber und Schriftleiter im Unklaren darüber blieben, welcher politischer Wille genau hinter den Verboten und Obstruktionen stand. Ehrler und die Redaktion des Worts in der Zeit verrieten bezeichnenderweise Bedenken gegenüber ihrem Vorstoß, als sie am Ende des Textes eine Fortsetzung seines Gedankengangs ankündigten: „Der Dichter gibt uns, während das Heft in Druck geht, noch einen Nachtrag, der nun im nächsten Heft folgen wird.“231 Hieraus sprechen nicht bloß Verlegenheit und Abstimmungsprobleme, vielmehr auch ein Kalkül des Offenhaltens und ein Signal der Vorläufigkeit. Der Nachtrag ist (wie im ähnlich gelagerten Fall von Karl Adams brückenbauendem Aufsatz Deutsches Volkstum und Katholisches Christentum232) nie erschienen. Wie wenig gleichwohl der Abdruck von Das einige Reich der Deutschen im Wort in der Zeit als redaktioneller Unfall anzusehen ist, zeigt im Weiteren Ehrlers Beitrag Unsere Frau Muttersprache. Ein geistiges deutsches Hörspiel im Septemberheft von 1938. Die Titelformulierung von der ‚Frau Muttersprache‘ ruft einen Topos aus dem deutschen Sprachpatriotismus des 17. und 18. Jahrhunderts auf. Von „meiner Hertz-allerliebsten Deutschen Frau Mutter-Sprache“ ist z.B. im Vorwort von Schnabels Insel Felsenburg (1731) die Rede.233 Im ‚großdeutschen‘, auch durch die deutsche Spracheinheit legitimierten Kontext erhielt die Wendung einen Akzent, der zur Melodie des Reichsaufsatzes passte. Insofern funktionierte Unsere Frau Organe als „Schleifung“ der kirchlichen „Außenwerke“ Schatz: Der Weg des deutschen Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, S. 257 ff. (Zitat S. 257). 229 Theodor Abele an Hans Heinrich Ehrler, 10. August 1939, NL Ehrler (Hervorhebung StKT). 230 Vgl. Ludwig Deyerling: Die Wühlarbeit der konfessionellen Zeitschriften. In: Der Weltkampf. Monatsschrift für Weltpolitik, völkische Kultur und die Judenfrage aller Länder 13 (1936), S. 385–399; der Autor war in der Zentrale des Nationalsozialistischen Lehrerbundes für Periodika zuständig. 231 Ehrler: Das einige Reich der Deutschen, S. 383. 232 Vgl. Scherzberg: Katholizismus und völkische Religion, S. 320. 233 Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg. Hg. v. Volker Meid u. Ingeborg Springer-Strand. Stuttgart 1998, S. 10. Vgl. auch Claus Ahlzweig: Muttersprache – Vaterland. Die deutsche Nation und ihre Sprache. Wiesbaden 1994, S. 90.
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Muttersprache mehr als eine Ergänzung denn als eine Korrektur von Das einige Reich der Deutschen. Sieben Freunde, so der Inhalt des als Hörspiel konzipierten, dabei der chorischen Form angenäherten Textes,234 sitzen feierlich an einem runden Tisch. Sie zitieren und kommentieren nacheinander deutsche Gedichte vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Die Namen und Meinungen der Vortragenden beziehen sich zum Teil auf Personen von Ehrlers Netzwerk: Hinter „Hermann“, den die Gruppe gewissermaßen als ihren Vorsitzenden betrachtet, steht Hermann Pongs, der seinen diskursiven Führungsanspruch auch in privater Gesellschaft mit Goebbelsmanier vertrat (Abb. 14); „Wilhelm“ deutet auf Wilhelm Günzler, den früheren Chefredakteur des Stuttgarter Neuen Tagblatts, inzwischen Mitarbeiter im NS-Kurier, „Rudolph“ auf den pensionierten Stuttgarter Staatsarchivar und treuen Ehrlerrezensenten Rudolf Krauss, Verfasser unter anderem einer ausführlichen Schwäbischen Litteraturgeschichte, langjähriges DDP-Mitglied und Vater des bekannten Widerstandskämpfers Werner Krauss.235 Die Ansichten Ehrlers vertritt unverkennbar eine Figur mit dem frommen Namen „Gottfried“. Die Individualisierung von Einzelstimmen und die Praxis geistiger Bruderschaft halten sich in dem Text die Waage – dies durchaus im Unterschied zum chorischen Sprechen der nationalsozialistischen Feierdichtung, die sich mehr durch das Unisono auszeichnet. Demonstriert werden soll, so der Vorspann, eine „Geschichte der deutschen lyrischen Dichtung als einer Gemeinschaft bildenden Grundkraft im Lebensraum der Nation“.236 Dafür zitiert die Honoratiorenrunde insgesamt 20 Gedichte vollständig oder in längeren Ausschnitten. Am Beginn steht, mehr für Ehrler als für Pongs charakteristisch und den Gestus des Kündens etablierend, der katholische Romantiker Clemens Brentano mit Sprich aus der Ferne (1801). Darauf folgen zwei Texte, die bereits mit massiver gemeinschaftsideologischer Tendenz ausgewählt und kommentiert sind: Uhlands in der nationalsozialistischen Feiergestaltung vielgenutztes und beim Gedenken an die ‚November-Toten‘ obligatorisches Ich hatt’ einen Kameraden sowie Hölderlins für die ‚Volk der Mitte‘-Ideologie grundlegender Gesang des Deutschen („O heilig Herz der Völker, o Vaterland!“). Für den zeitlosen Rang beider Gedichte wird auf die Ausstellung ihrer Handschriften im Marbacher Schillermuseum verwiesen. Sie seien der „Nation zum Urlaut des herr234 Zu den chorischen Formen im NS-Kult mit Hinweis auf ihre häufige Realisierung als „Hörwerk“ vgl. Vondung: Magie und Manipulation, S. 70 ff. u. S. 123 ff. 235 Zu Krauss aufschlussreich Günter von Alberti: Rudolf Krauß [sic]. Schriftsteller und Archivar 1861–1945. In: Lebensbilder aus Schwaben und Franken 17 (1991), S. 209–230, zum „freundschaftlichen Verkehr“ mit Ehrler hier S. 224. 236 Hans Heinrich Ehrler: Unsere Frau Muttersprache. Ein geistiges deutsches Hörspiel. In: Das Wort in der Zeit 5 (1938), S. 633–647, hier S. 633.
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lichen Gebildes der Gemeinschaft“ geworden.237 Wilhelm trägt danach, zu Klavierbegleitung, das von Herder in seinen Stimmen der Völker in Liedern (1778) herausgegebene ‚Volkslied‘ Wenn ich ein Vöglein wär vor. Und auch hieran schließt sich ein unmissverständlicher Zeitkommentar an: „Gestern sagten die Literaten noch, es sei sentimental und sei Kitsch.“238 Der Umschwung von der Weimarer, vermeintlich traditionsvergessenen und volksfernen Intellektuellenkultur zur gefühls- und glaubensfreudigen NS-Sphäre wird soweit begrüßt. Eine eigene Rubrik gilt darauf stärker christlich geprägten Texten. Es ist ein Ros entsprungen (16. Jahrhundert) und Klopstocks Frühlingsfeyer (1771) solAbb. 14: Ehrler mit Hermann Pongs (im len beweisen, dass keine Nation eine so Vordergrund links) um 1935. fromme Dichtung habe wie die deutsche. Die anschließenden Goethegedichte sind ebenfalls nach der religiösen Seite hin ausgesucht und kommentiert, bevor Schillers unvermeidliches Lied an die Glocke (1799) zum Zitat kommt, um den deutschen „Trieb zum Vaterlande“ zu beglaubigen und den ‚schwäbischen‘ zugleich zum deutschesten Dichter sowie zum Gemeinschafts- und Reichskünder zu erklären.239 Das Resümee des historischen Durchgangs lautet im Sinne des kulturpatriotischen Gedankens vom ‚Inneren Reich‘: „Die deutsche Sprache baute das deutsche Vaterland.“240 Auffällig ist hier 237 Ehrler: Unsere Frau Muttersprache, S. 635. Zur patriotisch-popularisierenden Hölderlinrezeption um 1940 und Pongs’ Anteil daran vgl. Claudia Albert: Hölderlin. In: Deutsche Klassiker im Nationalsozialismus. Schiller – Kleist – Hölderlin. Hg. v. ders. Stuttgart, Weimar 1994, S. 189– 248 (Zitat S. 191); zur nationalsozialistischen Uhlandrezeption, die den im Vergleich zur Berliner und Jenaer Frühromantik besonders ‚gesunden‘ und ‚volksbewussten‘ Geist der Tübinger Romanik betonte, vgl. Klausnitzer: Blaue Blume unterm Hakenkreuz, bes. S. 569 ff. 238 Ehrler: Unsere Frau Muttersprache, S. 639. 239 Ehrler: Unsere Frau Muttersprache, S. 643. Vgl. zu diesem von Pongs unterstützten Rezeptionsmuster Claudia Albert: Schiller. In: Deutsche Klassiker im Nationalsozialismus. Schiller – Kleist – Hölderlin. Hg. v. ders. Stuttgart, Weimar 1994, S. 48–76. 240 Ehrler: Unsere Frau Muttersprache, S. 645. Vgl. zu diesem Topos auch Ahlzweig: Muttersprache – Vaterland, S. 154 ff.
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einmal mehr, dass sich der Prophet Ehrler mit der aktuellen Entwicklung im Reich noch keineswegs zufriedengeben konnte, ausdrücklich „trotz dem geschehenen politischen Aufbruch“241. Vieles läge noch im Trüben, müsse sich erst klären. Ehrler sprach hier, in einer ohnehin vom Verbot bedrohten Zeitschrift, nicht direkt die Stellung des Christentums im neuen Reich an, implizierte das religiöse Erbe aber in der fortgesetzten Rede vom ‚Inneren Reich‘. Als bleibendes Desiderat sprach er aus: „Die Deutschen haben noch eine große Entdeckung vor sich, das Neuland ihres geistigen Reiches.“242 Es erscheint zweifelhaft, ob Ehrler damit auf der Seite einer konservativen, auch vor dem Dritten Reich nicht haltmachenden Zeit- und Kulturkritik zu verorten ist, die sich von einem generellen Gegenwartsoptimismus der kämpferischen NS-Literatur sicher abgrenzen ließe. Ehrlers junger Freund Schumann, SA-Dichter und vielfacher Amtsträger des Dritten Reichs, erlaubte sich seinerseits durchaus die Artikulation von Unzufriedenheiten, genauer Klagen über eine fehlende „Reinheit des Reichs“ im Sinne pragmatischen Mitläufertums und eines Mangels an ideeller Überzeugung.243 Sicher ist aber, dass Ehrler, der mit den „Gezeichneten Gottes“ wie Hölderlin244 doch immer auch sich selbst meinte, mit seiner Mahnung zum ‚Inneren Reich‘ zugleich Werbung in eigener Sache betrieb. Dieses Sendungsbewusstsein aber stand, wie sich an Ehrlers weiterem Verhältnis zum Nationalsozialismus zeigen lässt, in potentieller Konkurrenz zum Selbstverständnis und zur Selbstinszenierung Adolf Hitlers. Ehrlers mediävalistische, aus dem späten Kaiserreich mitgebrachte Modellierung des Verhältnisses von Dichter und Kämpfer als das von Eremit und Ritter geriet eben dort unter Druck, wo sich der ‚Ritter‘ die priesterlichen Funktionen selbst anmaßte.
241 Ehrler: Unsere Frau Muttersprache, S. 646. 242 Ehrler: Unsere Frau Muttersprache, S. 646 (Hervorhebungen im Original). 243 Gerhard Schumann: Die Reinheit des Reichs. In: ders.: Die Lieder vom Reich. München 1935, S. 40–44; dazu mit Hinweis auf Kräfte um Ernst Röhm und deren Forderung nach einer ‚Zweiten Revolution‘ Erwin Rotermund: Gerhard Schumanns Sonettzyklus Die Reinheit des Reiches [sic] und sein Zeitgedicht Das Gericht. Eine Skizze zur innerfaschistischen Opposition in der Lyrik des Dritten Reiches. In: Traditionen der Lyrik. Festschrift für Hans-Henrik Krummacher. Hg. v. Wolfgang Düsing, Hans-Jürgen Schings, Stefan Trappen u.a. Tübingen 1997, S. 169–182. Mit einer Würdigung von Schumanns Position als Regimekritik aus fehlgeleitetem, aber konsequentem Idealismus Baird: To Die for Germany, S. 139 ff., kritischer Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 159 ff. 244 Ehrler: Unsere Frau Muttersprache, S. 636 f.
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5. „von Denkart zu Denkart“: Nebenschauplätze in Gral, Bosch-Zünder und NS-Kurier
Das Wort in der Zeit war nicht die einzige katholische Kulturzeitschrift, die sich Ehrlers als Brückenkopf zum Nationalsozialismus bediente. Punktuell schloss auch der klerikal verpflichtete, im Münchner Verlag von Kösel & Pustet publizierte Gral an den Autor an, dessen Werke dort bereits seit Langem, mit schwankendem Vertrauen in die Rechtgläubigkeit dieses ‚literarischen Katholiken‘, rezensiert wurden. Der Leiter der damals in Münster ansässigen Redaktion, der Kralik-Schüler Friedrich Muckermann, war in den Jahren um 1930 nicht dabei stehen geblieben, die „Phantastik des Dritten Reiches“245 lediglich zu verwerfen. Der Vision des Reichs als solchem widmete er ein windungsreiches Buch, Vom Rätsel der Zeit. Gedanken zur Reichsidee, das im Herbst 1933 erschien und als „einzigartiges Dokument der katholischen Reichsideologie“246 bezeichnet werden konnte. Muckermann stellte sich hier letztlich hinter die von Ehrler bei der Rezeption des Deutschen Ordens aufgenommene Kreuz-und-Adler-Ideologie, wenngleich im freundlicheren Bild der „mittelalterliche[n] Stadt mit der Kirche und dem Schloß“ und in der geometrisch-harmonischen Figur der Ellipse: Die beiden Brennpunkte von universaler Kirche und universalem Königtum sollten das Reich als Offenbarung der „Ordnung Gottes“ in der „von ihm gewollte[n] Totalität“ konstituieren.247 Dass sich der Jesuit Muckermann dabei nicht auf die heterodoxe Geschichtstheologie des tertium imperium Joachims von Fiore und der Franziskanerspiritualen einließ, obwohl er das „Sonnenlied des heiligen Franziskus“ als Inbegriff christlicher Naturdichtung empfahl,248 versteht sich bereits aus innerkirchlichen Gründen. Auch von der enthusiastischen Reichstheologie der Benediktiner in Maria Laach unter Ildefons Herwegen, „diesen Mönchen des Absoluten“, hat er sich distanziert.249 Wie245 Muckermann: Die positive Überwindung des Nationalsozialismus, S. 273. 246 Breuning: Die Vision des Reiches, S. 218. 247 Muckermann: Vom Rätsel der Zeit, S. 22. Vgl. auch ders.: Die Ellipse. In: Der Gral 27 (1932/33), S. 717–720. Als „Versuch einer ideologischen Unterwanderung und indirekten Infragestellung der Reichsideologie des Dritten Reiches“ diskutiert von Breuning: Die Vision des Reiches, S. 116 f. u. S. 217 ff. (Zitat S. 220), und Hubert Gruber: Friedrich Muckermann S. J. 1883–1946. Ein katholischer Publizist in der Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist. Mainz 1993, S. 119 ff.; kritischer hinsichtlich des „mystischen Duktus“ und „zweideutigen Eindruck[s]“ dieser Schriften Seefried: Reich und Stände, S. 252–271 („Die katholisch-nationale Reichsidee: Friedrich Muckermann“), Zitate S. 256 u. S. 261. 248 Muckermann: Vom Rätsel der Zeit, S. 170. 249 Friedrich Muckermann: Der deutsche Weg. Aus der Widerstandsbewegung der deutschen Katholiken von 1930–1945. Zürich 1945, S. 62.
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derherstellung, Wiedererweckung und Erneuerung aus dem, was „immer noch verborgen in der deutschen Seele lebt“250, lagen seinem nichtrevolutionären Konservatismus näher. Den Nationalsozialismus aus seiner scheinbaren Kreisbahn um den Staat auf die Bahn der Ellipse zwischen Staat und Kirche zu bringen, mochte ein erstrebenswertes Ziel sein. Es spreche, so Muckermann unter dem Titel Die positive Überwindung des Nationalsozialismus im Sommer 1932, manches dafür, daß diese Bewegung, wenn sie sich selbst überlassen bleibt, gerade ihre gefährlichen Triebe besonders stark entwickeln wird. Das würde allerdings ein Unheil sein, dessen Folgen für uns und die Welt unabsehbar wären. Stehen die Dinge aber so, dann erhebt sich die Frage, ob es nicht möglich ist, den Nationalsozialismus so zu beeinflussen, daß die zweifellos auch in ihm liegenden positiven Keime zur Entfaltung kommen. Es ist eigentlich keine Frage, sondern eine Forderung.251
Der Nationalsozialismus, hieß das, müsse als Objekt der christlichen Missionierung von seinem eigenen Bösen erlöst, das Gute in ihm gerettet werden. Die Ehrleranleihen im Gral treten erst dort auf, wo Muckermann bzw. die stellvertretende Redaktionsleitung (Ernst Detmold und Nanda Herbermann252) unter den politisch-behördlichen Druck gerieten, der 1934 zur Beschlagnahmung des Juniheftes und 1937 schließlich zur Einstellung des Blattes führte. In einem ungezeichneten Leitartikel Die deutsche Aufgabe vom November 1934 – Muckermann lebte hier bereits im niederländischen Exil – pries man das Deutsche Reich als den „starke[n] Hüter und de[n] getreue[n] Eckhart eines christlichen Europa“ gegen den „Ungeist von Moskau“: Mitten in diesem Europa, an dessen östlichen Rändern die bolschewistische Flamme hochgeht, und in dessen westlichen Ländern der Abgesandte Moskaus als Bundesgenosse begrüßt worden ist, liegt Deutschland, das Land der Mitte. Der große Krieg hat gezeigt, daß in diesem deutschen Volke eine Kraft schlummert, die stark genug ist, einer Welt von Feinden zu trotzen. Heute noch sind wir überzeugt, daß wir jenes gewaltige Ringen, das alles in allem doch unentschieden 250 Friedrich Muckermann: Die Reichsidee bei der katholischen Jugend. In: Der Gral 26 (1931/32), S. 662–664, hier S. 664. 251 Muckermann: Die positive Überwindung des Nationalsozialismus, S. 269. 252 Vgl. zu ihnen auch Franz Kroos: Friedrich Muckermann (1883–1946). In: Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts 2 (1975), S. 48– 63.
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auslief, als unbestrittener Sieger verlassen hätten, wenn wir alle unsere Kämpfer mit einer einzigen überragenden, metaphysischen Idee hätten erfüllen können […] das Letzte herzugeben. So etwas tut ein einzelner Mensch nur, wenn er sich mit seiner ganzen Seele einer übermenschlich erhabenen Idee verschrieben hat. So etwas tut ein ganzes Volk nur, wenn ihm eine Fahne vorausgetragen wird, mit derem Sieg oder Untergang die letzten heiligsten Überzeugungen der Volksseele verbunden sind. Diese Fahne nun zu dieser Stunde aufzuheben, das schiene uns, wäre die Aufgabe des deutschen Volkes, dem in der Mitte Europas von der Natur selbst die Sendung aufgetragen scheint.253
Der ‚christlich-deutsche Nexus‘, die revanchistischen Neigungen und die deutsche Abendlandsendung, wie sie hier artikuliert sind, richtete sich (noch) nicht auf eine politische Ordnung nach dem NS-Staat, sondern auf eine bestimmte Entwicklung desselben. Die ‚Machtergreifung‘ mit dem Austritt des Reichs aus dem Völkerbund und aus der Genfer Abrüstungskonferenz wurde als „wahrhaft symbolisches Schicksal“ bezeichnet, durch das Deutschland an der „Orgie der Selbsterniedrigung und der völlig verrotteten Moral“, nämlich der angeblichen weltweiten Offenheit für „die bolschewistischen Horden“, „nicht hat teilnehmen brauchen“.254 Damit waren eindeutig die NS-Regierung legitimiert und ein Reichskanzler gewürdigt, der sich angeblich als einziges europäisches Staatsoberhaupt auf den Standpunkt des Papstes stelle und den Bolschewismus kompromisslos verurteile. Die hoffnungsvoll antikommunistische Perspektive auf die Hitlerbewegung hatte Muckermann Anfang der 1930er Jahre selbst vorgegeben: „Zweifellos ist die überragende deutsche und europäische Gefahr im Bolschewismus zu erblicken. […] Auch unsere Erörterungen über den Nationalsozialismus sollen von der Beziehung zur bolschewistischen Frage ihren Ausgang nehmen.“255 An den Artikel Die deutsche Aufgabe schließt unmittelbar und unkommentiert eines der anthologiebewährtesten Gedichte Ehrlers an: O Heimat, wir sind alle dein von der Heimat, die jedem ins „Blut hineingesehen“ habe und niemanden loslasse.256 In denselben 253 [Anon.]: Die deutsche Aufgabe. In: Der Gral 29 (1934/35), S. 49–52, hier S. 50 f. 254 [Anon.]: Die deutsche Aufgabe, S. 49. Zur Kritik der politisch-religiösen Idee, dass das „Urvolk der Deutschen“ befähigt sei, „die Menschheit zu regenerieren und das Gottesreich herbeizuführen“ vgl. Voegelin: Die politischen Religionen, S. 50. 255 Muckermann: Die positive Überwindung des Nationalsozialismus, S. 269. Vgl. Gruber: Friedrich Muckermann, S. 25 ff. Zu den antibolschewistischen Motiven der NS-Unterstützung vgl. grundsätzlich Ernst Nolte: Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus. 5., überarb. und erw. Aufl. München 1997, bes. S. 55 ff. 256 Ehrler: Gedichte [1919], S. 6.
336 | V. Das ‚Innere Reich‘ im Dritten Reich
Jahrgang des Grals fand nicht allein die äußerst wohlwollende Rezension der Drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm Eingang (s. Kap. V.2), sondern auch eine Gesamtwürdigung von Ehrlers Schaffen durch einen der wichtigsten literaturkritischen Beiträger des Blattes, den freiberuflichen Wormser Schriftsteller Peter Bauer. Württembergische Heimat und selbstständiges Handwerkertum stellte Bauer dabei als Grundlagen des katholischen Abendländers Ehrler heraus: „Die Atmosphäre des handwerklichen Heims, in der er aufwuchs, die stille Werkfreude, der fromme Geist des Hauses, die gläubige Verbundenheit mit Gottes Schöpfung weht auch durch seine Dichtungen.“ Qua gebildeter Innerlichkeit und christlicher Demut besäße er die „seltene Kunst, innere Melodien Sprache werden“, „die Tiefen aufleuchten [zu lassen]“.257 Ein wiederum ungezeichneter Leitartikel Der lächelnde Gott… von 1935 fordert eine „Dichtung, die wieder vollgültiger Ausdruck der religiösen Wirklichkeit“ sein müsse, gegen Liberalismus und Materialismus den „Wahrheiten der Offenbarung“ und den „Wahrheiten der Natur“ treu. Ehrler, von der nationalsozialistischen Seite inzwischen als ein Lyriker des ‚Neuen Deutschlands‘ akkreditiert, wurde hier unter die „Dichter“ gerechnet, die noch etwas von der „Souveränität großer Dichtung in sich spürten“.258 Dem Artikel steht Ehrlers Gedicht Gottes echte Kinder nach, das die Offenbarungsfunktion der „echten Dichter“ unterstreicht. Die Literaturauswahl im Gral versammelte, entgegen dem vornehm-elitären Anspruch, überwiegend Epigonales im popularisierten Stil von Hölderlin, Rilke und George. Gesucht waren nicht die großen Unabhängigen, sondern „Mitspieler in einem Orchester, in dem ein bestimmtes Stück gespielt [wird], ein überpersönliches, das Lied der Nation, das Lied der Menschheit“259. Über Gertrud von le Fort, Enrica von Handel-Mazzetti, Peter Dörfler und Hermann Stehr hinaus drehte es sich etwa um Gottfried Hasenkamp, Adolf von Hatzfeld, Reinhold Conrad Muschler und Wilhelm Schmidtbonn, die das Kapitel „Im Reiche der Dichtung“ von Muckermanns 257 Peter Bauer: Hans Heinrich Ehrler. In: Der Gral 29 (1934/35), S. 496–499, Zitate S. 496 u. S. 498. Bauer hatte Ehrler bereits 1920 einen Artikel in der Bücherwelt gewidmet und Gedichte von ihm in eine Anthologie beim Herder Verlag aufgenommen: Die Weggetreuen. Ehegedichte aus deutscher Lyrik der Vergangenheit und Gegenwart. Hg. v. Peter Bauer. Freiburg/Br. 1922, S. 6 (Du hast mir deine Hand gegeben), S. 100 (Ein Traum, den ich im Wachen trage) u. S. 181 (Doch hinter dir und mir). Zur Person knapp Georg Schlatter: Bauer, Peter. In: Deutsches Literatur-Lexikon. Das 20. Jahrhundert. Begr. v. Wilhelm Kosch. Hg. v. Carl Ludwig Lang. Bd. 1. Bern, München 2000, Sp. 724. 258 [Anon.]: Der lächelnde Gott…. In: Der Gral 30 (1935/36), S. 145–148, hier S. 145. Der Artikel wiederholt eindeutig Ansichten von Friedrich Muckermann: Moderne Literatur und Katholizismus. In: Der Gral 27 (1932/33), S. 242–250 u. S. 336–346. 259 Muckermann: Vom Rätsel der Zeit, S. 167.
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Vom Rätsel der Zeit behandelt.260 Deren Texte kamen mit ihrer vorherrschenden Heimat- und Naturthematik zugleich der Rezeption als Blut-und-Boden-Dichtung entgegen, für die freilich ihre mehr oder weniger klar ausgebildete moralisch-allegorische Bedeutungsebene, d.h. der Fluchtpunkt in der ‚himmlischen Heimat‘, übergangen werden musste.261 Ehrlers O Heimat, wir sind alle dein bot sich aufgrund seiner Ambivalenzen zweckmäßig dafür an. Die Immaterialität der gemeinten Heimat in Schlaf und Traum („Du hast uns schon im Kinderschlaf / Ins Blut hineingesehen“, „Wer ganz verlaufen, wird im Traum / Zu dir zurückgetragen“262) konnte ausreichend für ihre Transzendenz sprechen, auf die sich die nachkriegszeitlichen Ehrlerapologeten Karl Hans Bühner und Georg von Albrecht ausdrücklich berufen haben. Auch ließ sich das Wanderschaftsmotiv des Textes leicht mit dem christlichen Topos vom homo viator identifizieren. Bei all dem, zumal wenn Blut und Herkunft ins Spiel kamen, mochte es sich aber auch nur um Hyperbeln der Immanenz handeln. Was die Gral-Redaktion zu Beziehungsversuchen gegenüber dem Dritten Reich führte, waren leidenschaftliche, zum Teil unter dem Schutz einer milden Selbstironie ausgedrückte Hoffnungen, an den „Pforten des Reiches“263 zu stehen – ‚Reich‘ teils verstanden als die Idee der „totalen Gottesordnung“264, teils als „die Versammlung aller Großen, die je durch unsere Gaue geschritten sind“, „die Weisheit unserer Denker und der Traum unserer Dichter“, teils als die „Mauer“, welche Staat und Kirche umschließt,265 immer aber als etwas, zu dem die Deutschen (wie auch Ehrler glaubte) ganz besonders berufen seien: Ist es nun eine Tatsache, daß die Reichsidee in keinem Volke der Welt in solcher geschichtlichen Größe in Erscheinung getreten ist, wie im deutschen, dürfen wir hieraus schließen, daß es eine innere Veranlagung dafür haben mußte […], und
260 Muckermann: Vom Rätsel der Zeit, S. 167–174. 261 Vgl. Breuer: Die Jahre 1933 und 1934 im Spiegel der katholischen Literatur- und Kulturzeitschriften, S. 400 u. S. 406. 262 Ehrler: Gedichte [1919], S. 6. 263 Friedrich Muckermann: An den Pforten des Reiches. Neujahrsgedanken. In: Der Gral 22 (1927/28), S. 207–211, hier S. 209. Muckermann hat eine gekürzte Version dieses Artikels im Sommer 1933 unter dem Titel Volk, Führer und Reich veröffentlicht und damit die Identität des ‚Reichs‘ mit dem ‚Dritten Reich‘ nahegelegt; vgl. Seefried: Reich und Stände, S. 260 f. 264 Muckermann: Die Ellipse, S. 720. 265 Muckermann: An den Pforten des Reiches, S. 209. Zu Muckermanns Reichskonzeption und den darauf basierenden Brückenbauversuchen erhellend Gruber: Friedrich Muckermann, S. 142 ff. u. S. 221 ff., ferner Breuning: Die Vision des Reiches, S. 114 ff.
338 | V. Das ‚Innere Reich‘ im Dritten Reich es eröffnen sich hier wahrhaft göttliche Perspektiven für die Sendung deutscher Nation.266
Aus dem Anspruch globalen Einflusses und geistiger Führerschaft machte Muckermann, dem Demokratie und Pluralismus weitgehend fremd geblieben sind, denn auch keinen Hehl: Kein Volk der Erde wird sich diesem Reiche verschließen können, das alle Kultur unter den konkretesten und doch auch universalsten Gesichtspunkten zusammenfaßt. […] Ein Volk, das berufen ist, die Reichsidee in ganz besonderer Weise als die seine zu empfinden, muß ein Volk der Künstler sein. Hat uns die Welt Dichter und Denker genannt, so ist das nicht verwunderlich für jeden, der um das Geheimnis des Reiches weiß.267
Diese kulturell und geschichtlich akzentuierten Reichsbestimmungen trafen sich mit denen von Ehrlers ‚Innerem Reich‘ – Muckermann sprach es als die „Reichs idee der Seele“268 an – und stellten die Anschlussfähigkeit des Dichters an den Gral her. Sie verbanden sich mit Annahmen einer deutschen Sendung und mit antipluralistischen Gesamtordnungswünschen, die so gerade nicht vom gemäßigt konservativen und gegen den Nationalsozialismus merklich resistenteren HochlandKreis geteilt wurden.269 Zur Reichseuphorie von 1933 fragte Carl Muth im März des Jahres mit trockenem Humor, „ob das Reich überhaupt das Reich sei, um das von je die deutschen Hoffnungen und Wünsche kreisten wie die Raben um den alten Kyffhäuser“270. Ehrlers nur noch wenigen Hochland-Beiträgen nach diesem Zeitpunkt, der Erzählung Susanne und Irene (1934) sowie der autobiografischen Schilderung Tagesanbruch (1936), fehlt denn auch der propagandistische Charakter der Texte im Gral und im Wort in der Zeit. Susanne und Irene ist die Geschichte einer Witwe, deren liebende Trauer den „fortgenommene[n] Tote[n]“ nach seinem 266 Muckermann: Vom Rätsel der Zeit, S. 23 f. 267 Muckermann: Vom Rätsel der Zeit, S. 59 u. S. 64. 268 Muckermann: Vom Rätsel der Zeit, S. 22. 269 Zur Position des Grals vgl. Breuer: Die Jahre 1933 und 1934 im Spiegel der katholischen Literatur- und Kulturzeitschriften, S. 397 ff. – Zum Hochland-Kreis während der NS-Zeit vgl. Dirsch: Das Hochland, S. 83 ff., sowie (mit beatifikatorischer Tendenz) N. Luise Hackelsberger: Das Wort als Waffe. Werner Bergengruen, Carl Muth und der Kreis um die Zeitschrift Hochland im Dritten Reich. In: Die totalitäre Erfahrung. Deutsche Literatur und Drittes Reich. Hg. v. FrankLothar Kroll. Berlin 2003, S. 103–116. 270 Carl Muth: Das Reich als Idee und Wirklichkeit – einst und jetzt. In: Hochland 30/1 (1932/33), S. 481–492, hier S. 481.
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geistigen Bild, seiner „wirklichen Substanz“ wiederauferstehen lässt: „Mächtig war er da, wie vorher nicht, alles verdrängend und überfüllend.“ Eine geistliche Amtsperson, nämlich ein Benediktinerpater, leitet die Witwe zu diesem Wunder an und führt sie „in den Bezirk der großen Tröstung und Sicherung“.271 Stärkte Ehrler hier die orthodoxe Rolle des Ordensmanns, so entfaltete er in Tagesanbruch nochmals sein Selbstbild als Observant des Dritten Ordens. Neben den christlichen waren es auch liberaldemokratische Kreise, die Ehrlers strukturelle Zwischenstellung zur Vermittlung gegenüber dem Nationalsozialismus nutzten. Hier sind vor allem zwei journalistische Unternehmungen des Industriemagnaten Robert Bosch zu nennen: der Bosch-Zünder und das Stuttgarter Neue Tagblatt. Nachdem Ehrler zunächst für die nur 1919/20 aufgelegte Daimler-Werkzeitung geschrieben hatte, gehörte er von Anfang der 1920er bis Ende der 1930er Jahre zu den festen Beiträgern der in Stuttgart redigierten, monatlich erschienenen Werkzeitschrift Der Bosch-Zünder. Diese Tätigkeit war nicht nur so wohldotiert, dass Ehrler mit ihr seinen Hauskauf von 1926 (13.000 RM) anschubweise finanzierte, sondern bedeutete auch eine soziale Aufgabe, bei der es um die mildernde Moderation von Interessenkonflikten zwischen Kapital und Arbeit, um Lebensbedingungen in der Urbanisierung und um eine menschenwürdige Gesellschaftsordnung ging. Es handelt sich um eben diejenigen Themen, die Ehrler während der 1910er Jahre im linksliberalen März behandelt hatte. Zudem ist nicht unwahrscheinlich, dass der März-Herausgeber und spätere Boschbiograf Theodor Heuss den Kontakt zur Bosch AG vermittelt hat: Heuss war mit dem kaufmännischen Direktor der Firma und Neffen von Robert Bosch, Hugo Borst, gut bekannt.272 Außer Heuss hatte schließlich auch Ehrlers Freund Theodor Bäuerle enge Beziehungen zu den Boschwerken: Bäuerle war Direktor des 1918 unter Mitwirkung von Bosch gegründeten Stuttgarter Volksbildungswerks (Verein zur Förderung der Volksbildung), ab 1919 zusätzlich Geschäftsführer des von Bosch gestifteten Begabtenförderungswerks (Verein zur Förderung der Begabten). Zuvor hatte er gemeinsam mit Ehrler im Aufklärungsdienst des Kriegsministeriums gearbeitet.273
271 Hans Heinrich Ehrler: Susanne und Irene. In: Hochland 31/2 (1934), S. 16–28, hier S. 16. 272 Vgl. den Nachweis von 25 Briefen Borsts an Ehrler unter der Mediennummer HS003225434 im DLA Marbach. „Für Hugo Borst / Sommersonnabend 1924 / Hans Heinrich Ehrler“, so lautet die Widmung in einem Exemplar von Ehrlers Elisabeths Opferung (Privatbesitz). Zu Borst vgl. Johannes Bähr u. Paul Erker: Bosch. Geschichte eines Weltunternehmens. München 2013, S. 114 ff. 273 Vgl. Dieter Schmitt: Theodor Bäuerle (1882–1956). Engagement für Bildung in schwierigen Zeiten. Stuttgart 2005; ferner Baumgartner: Sehnsucht nach Gemeinschaft, S. 114 ff.
340 | V. Das ‚Innere Reich‘ im Dritten Reich
1923 sah sich der Dichterprophet Ehrler veranlasst, seine Tätigkeit für ein so profanes Organ wie den Bosch-Zünder mit einem Vom Geist und von der Wirklichkeit betitelten Aufsatz in der Frankfurter Zeitung zu begründen. Die Aufgabe des geistigen Menschen sei, so Ehrler, die von Entfremdung gefährdeten zahlreichen Einzelhandlungen des industriellen Produktionsprozesses zusammenzudenken und ein synthetisiertes Bild von ihnen zu geben: „Des Geistes Auge sieht den Weg der Entstehung“, der „Geist führt zusammen und gestaltet“, „[z]ehntausende tun Einzelnes, in ihm wird es das Eine“. Wenn dem Dichter die Vermittlung dieser geistigen Schau an die sachlich betroffene Leserschaft gelänge, dann wäre auch eine deutsche Fabrik kein Gemäuer mehr, dahinein Scharen von Mühseligen täglich laufen, bloß um mit dem Lohn ihren Hunger und Durst zu stillen, Weib und Kind zu nähren. Der Geist der in Gemeinschaft geschaffenen Arbeit würde auch den Früchten das Gift des Zwiespalts nehmen.274
Den Betrieb als schaffende Gemeinschaft zu denken, die wie die Kirchengemeinde das „Gemeinschaftsleben von unten“275 neu aufbauen können sollte, war eine Tendenz auch der christlichen Soziallehre, konkret bei August Pieper, dem langjährigen Generaldirektor des Volksvereins für das katholische Deutschland, in seinem Buch Gemeinschaftsgeist im Wiederaufbau (1920). Pieper rief darin ausdrücklich nach dem „schauenden und bildhaft gestaltenden Dichter“, der sich vom Intellektualismus losgemacht und der „Liebe der Kinder Gottes“ als „gemeinschaftsbildende[r] Kraft“ zugewandt habe: Von ihm sei ein Bild der Gemeinschaft jenseits tausendfältiger Zersplitterung im Einzel- und Massenegoismus zu erwarten.276 Ehrler hat diese spezifische ‚Berufung‘ offenbar vernommen. Chefredakteur des Bosch-Zünders war der Wissenschaftsjournalist Otto Debatin. Dessen fortschrittlich-liberale Grundüberzeugungen kamen – in Übereinstimmung mit der Unternehmensphilosophie von Robert Bosch – unter anderem darin zum Ausdruck, dass das Organ auch den möglichst offenen Dialog zwischen Geschäftsleitung und Belegschaft zulassen sollte, auf der Grundlage freilich eines verbindenden ‚Bosch-Geistes‘ und ‚Fabrikstolzes‘. Als politisches Leitbild wurde die parlamentarische Demokratie vermittelt. „Erbauung und Belehrung 274 Hans Heinrich Ehrler: Vom Geist und von der Wirklichkeit. In: Frankfurter Zeitung, 2. November 1923. 275 Pieper: Gemeinschaftsgeist im Wiederaufbau, S. 4. 276 Pieper: Gemeinschaftsgeist im Wiederaufbau, S. 5. Zur Empfehlung des ‚katholischen Gemeinschaftsmodells‘ für die ‚Volksgemeinschaft‘ der Nachkriegszeit vgl. auch Ruster: Die verlorene Nützlichkeit der Religion, S. 363 f.
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der Arbeiter“277 sollten im Bosch-Zünder weniger im Vordergrund stehen als bei anderen Werkzeitungen. Unter den sozialorganisatorischen Vorgaben des Dritten Reichs entwickelte sich das Blatt in Richtung eines geistigen Führungsmittels gegenüber der Belegschaft als Gefolgschaft, für das unter anderem die Analogie von „Boschgemeinschaft“ und „Volksgemeinschaft“ beschworen wurde und auch das Verkündend-Erbauliche wieder zu dominieren begann.278 Auf literarische Gastbeiträge wie von den frühen vehementen NS-Bekennern Ludwig Finckh, Heinrich Lersch und Ina Seidel griff Debatin dafür eher selten zurück. Vielmehr genoss Ehrler eine bereits vor 1933 erworbene Sonderrolle als Hausdichter, die einerseits von liberalen Traditionen herkam, sich andererseits an die neuen Bedingungen anschließen ließ. Mehrfach im Jahr durfte er zur Feder greifen. So etwa mit einer Lobrede auf Stuttgart, den Firmenhauptsitz, als Inbegriff ausgeglichen städtisch-ländlicher Lebensweise und als „von der Natur geschaffenes einzigartiges Vorbild“279, mit einem Hoch auf die neue wirtschaftliche Blüte und das Führerprinzip am „Boschtag“ (23. September 1936: 50-jähriges Bestehen der Boschwerke und 75. Geburtstag des Gründers),280 mehr aber noch zu Gelegenheiten des christlichen, im Sinne der menschlichen Gemeinschaftsstiftung ausgelegten Festkalenders wie bei der Weihnachtsansprache 1935, in der er sich in zeitangepasster Diktion an die vielen Tausend „Gefolgschafter“ der Boschwerke wandte, um die Forderung von Lk 2,14 („Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden“) in reichsseligen Fantasien von der großen Sozialharmonie auszulegen: Von oben neigt sich der Himmel herab. Und wenn wir Friede unter uns machen, von Mensch zu Mensch, von Nachbar zu Nachbar, von Stand zu Stand, von Denkart zu Denkart, von Gewissen zu Gewissen, von Geist zu Geist, dann machen wir Friede im Vaterland, schaffen das deutsche Reich des Friedens.281
277 Bähr u. Erker: Bosch, S. 103. 278 Vgl. bes. Alexander Michel: Von der Fabrikzeitung zum Führungsmittel. Werkzeitschriften industrieller Großunternehmen von 1890 bis 1945. Wiesbaden 1997, S. 302 ff., Zitate S. 302, zu Ehrler ebd., S. 162 u. S. 181. Zu Debatin auch Joachim Scholtyseck: Robert Bosch und der liberale Widerstand gegen Hitler 1933 bis 1945. München 1999, S. 152 ff. 279 Hans Heinrich Ehrler: Stuttgart. In: Der Bosch-Zünder 18 (1936), S. 37–40, hier S. 38. Zum Stadt-Land-Ausgleich in der Stuttgarter Regionalplanung vgl. Müller: Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus, S. 221 ff. 280 Hans Heinrich Ehrler: Eine Rede zum Boschtag 1936. In: Der Bosch-Zünder 18 (1936), S. 207. 281 Ehrler: Eine kleine Weihnachtsrede, S. 256.
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Dabei handelte es sich für Ehrler um ein „hoch am Horizont aufgestiegenes Ziel“282, das aber noch lange nicht erreicht sei – weshalb es weiter der Propheten und Psychagogen wie seiner selbst bedürfen sollte. Die Redaktion bedankte sich für Ehrlers spirituelle Führungsfunktion verehrungsvoll unter anderem 1937, zum 65. Geburtstag des Dichters, in einem Gruß an Hans Heinrich Ehrler.283 Ehrlers Beiträge standen üblicherweise in der „Beilage“, die 1938 allerdings eingestellt wurde. Damit verschwindet auch Ehrlers Spur aus dem Bosch-Zünder. Wie der Bosch-Zünder befand sich auch das Stuttgarter Neue Tagblatt unter Kontrolle von Robert Bosch, der 1920 die Mehrheit am Mutterkonzern, der Deutschen Verlagsanstalt, erworben hatte. Jahrzehntelanger Chefredakteur dieses Sprachrohrs des südwestdeutschen Liberalismus war Ehrlers „alter Getreuer“284 Wilhelm Günzler. Das Tagblatt stand als „Sauladen“ einer „Demokratenclique“285 unter dem massiven Druck der NSDAP und ihrer Presse. Bosch wurde 1936 – ein Grenzfall der privatwirtschaftlichen Eigentumsstruktur des Dritten Reichs – mit der Aussicht auf eine entschädigungslose Enteignung konfrontiert, damit er das Blatt an den Verlag des von Gauleiter und Reichsstatthalter Wilhelm Murr herausgegebenen, bis dahin auflagenschwachen NS-Kuriers veräußerte.286 Günzler arbeitete unter der militanten Aufsicht Murrs zunächst für den nun prosperierenden NS-Kurier weiter, bevor er Ende 1938 in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde: „auf Grund eines Briefes an einen ehemaligen Demokraten“ und unter schweren Angriffen des Schwarzen Korps, wie es im Geheimen Lagebericht des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS hieß.287 Theodor Heuss hat Günzler 1956 unter anderem für sein „mannhaftes Verhalten im sogenannten Dritten Reich“288 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. 282 Ehrler: Eine kleine Weihnachtsrede, S. 255. 283 [Anon.]: Gruß an Hans Heinrich Ehrler. 284 Hans Heinrich Ehrler an Hermann Pongs, undat., DLA Marbach, Sign. A:Pongs. 285 Zit. n. Scholtyseck: Robert Bosch, S. 154 f. 286 Vgl. zu diesen Vorgängen Scholtyseck: Robert Bosch, S. 154 ff., zu Günzler ebd., S. 115, sowie Schnabel: Württemberg zwischen Weimar und Bonn, S. 352 ff., zu Günzler ebd., S. 369; ferner Müller: Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus, S. 112 ff., sowie Frei u. Schmitz: Journalismus im Dritten Reich, S. 39 ff. 287 Zit. n. Sauer: Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus (1975), S. 131. 288 as: Verdienstkreuz für Wilhelm Günzler. In: Stuttgarter Zeitung, 5. März 1956. Zu Günzlers Werdegang beim Tagblatt bis 1939 unter Hinweis auf die Konfrontation mit Murr und persönliche Angriffe im Schwarzen Korps vgl. Wilhelm Günzler: [Lebenslauf, dat. 27. Februar 1956], Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Sammlung von Familienpapieren, Wilhelm Günzler, Sign. J 50 Bü 301, S. 4 f., ferner die Akte der NSDAP-Gauleitung Württemberg-Hohenzollern, GauPresseamt, Personalangelegenheiten des Stuttgarter NS-Kurier, Staatsarchiv Ludwigsburg, Sign. PL 501 I Bü 105.
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Günzler war seiner beruflichen Herkunft nach evangelischer Theologe: Absolvent des Tübinger Stifts, Vikar und Pfarrverweser. Er bog nach der Jahrhundertwende in die journalistische Laufbahn ein, um die „Demokratie des guten alten Schlages“289, d.h. den 48er-Liberalismus gegen die radikalen Ränder zu verteidigen. Das zuverlässige journalistisch-literarische Zusammenspiel unter politischen Ausnahmebedingungen stand bereits am Beginn seiner Freundschaft zu Ehrler: Während der Novemberrevolution verbreitete Günzler zwei große Artikel Ehrlers, die beiden Reden an das schwäbische Volk, in denen die Revolution begrüßt, aber vor dem Terror gewarnt wurde (s. Kap. IV.1). Wie die Herausgeber des Worts in der Zeit und unter den Zwängen des 1934 in Kraft getretenen Schriftleitergesetzes, das Redakteure auf die Funktion als Willensübermittler der Staatsführung und Erzieher zur Gemeinschaft festlegte („Nichtbeachtung ist Berufsvergehen“290), bediente sich Günzler seines vielseitigen Freundes als eines Mittlers zum Nationalsozialismus. Die Manuskripte Ehrlers bilden den größten Einzelbestand in Günzlers Marbacher Teilnachlass.291 Aus diesem Reservoir hat er zuletzt insbesondere für die Beilage „Unterhaltung und Kultur“ des NS-Kuriers ausgewählt. Nachdem sich Günzler von der Redaktion zurückgezogen hatte, belieferte Ehrler den NS-Kurier weiter und verschärfte dabei den nationalsozialistischen Ton. Die betreffenden Artikel erschienen hauptsächlich im Zeitraum zwischen Ende 1936 und Mitte 1942. Sie stehen unter Titeln wie Gesicht im Herbst, Werk der Hand, Das große Rasenstück und Im Angesicht der großen Dinge.292 Im Grundton begrüßen sie die „Kreise neuer Bindungen“, in die man von der aktuellen „großen Bewegung des deutschen Wesens“ geführt werde, verurteilen die „gefährlichen, brüchigen Geisteszustände“ der Weimarer Republik, einer jetzt „abgelaufenen Zeitspanne“,293 und beschwören schließlich das göttliche Wirken in diesen Vorgängen. Die Zeichen der Natur sollen erbaulich dafür sprechen: Niedergetretenes Gras richte sich noch immer so auf wie die verschiedenen Gräser und Kräuter auf brauner Scholle im Stillleben Dürers. In eigener Sache versicherte Ehrler seine unverlorene, schwaben- und reichs 289 g: Wilhelm Günzler gestorben. In: Stuttgarter Zeitung, 24. November 1960. 290 Horst Baumann: Der deutsche Schriftleiter und seine Ehrengerichtsbarkeit. Mit einem Überblick über die Stellung der Schriftleiter in anderen europäischen Staaten. Leipzig 1939, S. 33. Dazu Gabriele Toepser-Ziegert: Die Existenz der Journalisten unter den Bedingungen der Diktatur 1933–1945. In: „Diener des Staates“ oder „Widerstand zwischen den Zeilen“? Die Rolle der Presse im „Dritten Reich“. Hg. v. Christoph Studt. Berlin 2007, S. 75–88. 291 Vgl. DLA Marbach, Sign. A:Günzler. 292 Hans Heinrich Ehrler: Gesicht im Herbst. In: NS-Kurier, 3. Oktober 1936, ders.: Werk der Hand. In: ebd., 1. Mai 1938, ders.: Das große Rasenstück. In: ebd., 17. Januar 1941, ders.: Im Angesicht der großen Dinge. In: ebd., 10. April 1941. 293 Ehrler: Werk der Hand.
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treue Bodenständigkeit, und zwar, ohne das katholische Element zu verleugnen: Noch als Würzburger und Münchner Student sei er in den Ferien Geselle seines Vaters gewesen […], des Wachsziehers Johann Michael Ehrler zu Mergentheim. Mit diesem zusammen hat er in hölzernen Hürden, auf Leintücher gebreitet, Bienenwachs gebleicht, aus dem Wachs Kirchenkerzen gegossen, dann am Altar gedient, worauf die Kerzen brannten.294
Dass christlich bekennende Autoren gerade zwischen Ende der 1930er und Anfang der 1940er Jahre, als die Alternativen rar wurden, in NS-Organen publiziert haben – Stefan Andres bekanntlich im Völkischen Beobachter und in der Krakauer Zeitung –,295 beschränkt sich nicht auf Einzelfälle. Dem Selbstverständnis nach wollten die Betreffenden damit in der Regel einen nichtnationalsozialistischen, nonkonformen Gedankenraum für sich und die Leser freihalten. Ehrler ging demgegenüber weiter in Richtung der entschieden nationalsozialistischen Literatur, indem seine Beiträge im NS-Kurier – häufiger meinungshafte ‚Betrachtungen‘ als erzählende oder lyrische Texte – überwiegend eine reichsmystische Rechtfertigung des unruhigen Zeitgeschehens in Erwartung künftiger Segnungen vornehmen. Noch Anfang Juli 1942 legte er im NS-Kurier ein christliches Bekenntnis zur ‚Machtergreifung‘ und letztlich auch zum Vernichtungskrieg ab: „Dann, dann, Mirakel der Mirakel, Fügung der Fügungen war wieder, wieder Anbeginn, der jetzt unter der blutigen Pflugschar dieses kaum mehr mit einem Namen zu fassenden Aufbruchs das Gesicht der Erde verwandeln wird. […] Waltender gib uns herab die Kraft zu dem, was du uns aufgetragen hast.“296 Die legitimierende, radikal sozialharmonische Perspektive richtete sich dabei, dem Zeitmodus der Dichterprophetie gemäß, auf die Zukunft: auf die „stillen Becken [...], worein die beruhigte, befriedigte Fülle einmal einfließen soll, wo A u s g l e i c h , Ve r s t ä n d i g u n g g a n z i n n e n u n s e i n i g gemacht haben wird“297. In der Redaktion des NSKuriers besaß Ehrler im Gegenzug zu seiner politisch-religiösen Kriegslegitimation eine symmetrisch belohnende Popularisierungsinstanz, die den „Liedersänger von Gottes wärmsten Gnaden“ und den Romanautor von „verklärender Heimat-
294 Ehrler: Werk der Hand. 295 Vgl. John Klapper: „Encouragement“ for the „Other Germany“? Stefan Andres’s Publications in the Krakauer Zeitung 1940–1943. In: The Text and its Context. Hg. v. Nigel Harris u. Joanne Sayner. Bern, Frankfurt/M. u.a. 2008, S. 121–132. 296 Hans Heinrich Ehrler: An den toten Vater. In: Stuttgarter NS-Kurier, 5. Juli 1942. 297 Ehrler: Die Stimme, S. 219 (Hervorhebung im Original).
6. „um des Reiches helles Haus“: der Hitleressay | 345
liebe und gottsuchender Religiosität“ als überragenden, schwäbisch-christlichen Künder des Reichs feiern ließ.298
6. „um des Reiches helles Haus“: der Hitleressay Die Stimme und der Segensspruch Zum 20. April 1939
Mit dem Reichsaufsatz im Wort in der Zeit startete Ehrler im Frühjahr 1938 eine politische Bekenntnisoffensive, die seine systemkonforme Interpretation durch die Agenturen der NS-Literaturpolitik um ein der Person Hitlers zugewandtes Selbstverständnis ergänzte und damit die Linie zum „literarischen Nationalsozialismus“ deutlich überschritt.299 Auf diesen Weg führten ästhetische und intellektuelle Dispositionen, die tiefer lagen als das konfessionspolitische Kalkül. So war der Personenkult seit der frühen Bewunderung für Franz von Assisi ein integraler Bestandteil von Ehrlers Werk und erwies sich dem von Heuss sogenannten „Heroenkitsch der Hitlerei“300 gegenüber als anfällig. Zwar rief Ehrler sonst die spirituellen ‚Meister der Menschheit‘ an, die „Dichter und würdige[n] Menschen“301, zu deren Thema er eine eigene Arbeitsmappe angelegt und unter anderem einen 14-teiligen SonettenZyklus (als Teil von Gesicht und Antlitz302) verfasst hat. Die theokratischen Anteile des nationalsozialistischen Machtanspruchs rückten die Gestalt Hitlers aber in eben diesen Umkreis, „weil“, wie Muckermann schrieb, „echtes Führertum dem Heiligen verwandt ist und das Heilige weckt“.303 Ob diese herausragende Gestalt für den Messias, für den Katechon oder unter Vorzeichenänderung für den Satan 298 Fritz Schneider: Hans Heinrich Ehrler zum 70. Geburtstag. In: Stuttgarter NS-Kurier, 6. Juli 1942. 299 Zur Bestimmung nationalsozialistischer Literatur durch die kombinierten Kriterien der offiziellen Inanspruchnahme und des individuellen Bekenntnisses eines Autors vgl. Vondung: Der literarische Nationalsozialismus, S. 45. Zur entsprechenden Stufe der „aktiven Kollaboration“ überzeugter Katholiken mit dem Nationalsozialismus vgl. Blaschke: Stufen des Widerstands – Stufen der Kollaboration, S. 83 ff. 300 Theodor Heuss an Max Roser, 2. März 1950. In: ders.: Der Bundespräsident. Briefe 1949–1954. Hg. v. Ernst Wolfgang Becker, Martin Vogt u. Wolfram Werner. Berlin, Boston 2012 (= Stuttgarter Ausgabe. Briefe, Bd. 5), Nr. 20. Zum NS-Personenkult als „political worship“ vgl. Richard Overy: The Dictators. Hitler’s Germany and Stalin’s Russia. New York, London 2004, S. 98–131 (Zitat S. 100). 301 Titel einer Arbeitsmappe, NL Ehrler. 302 Vgl. Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 50–66. Der Zyklus ist angelehnt an Hefeles Poetik Das Gesetz der Form, die aus fiktiven Briefen an illustre Personen von Caesar über Benedikt und Dante bis zu Goethe und Napoleon besteht. 303 Muckermann: An den Pforten des Reiches, S. 210.
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gehalten wird, ist eine Entscheidung bereits innerhalb desselben eschatologischen Geschichtsparadigmas, das im kosmologischen Maßstab alles auf dem Spiel stehen sieht und politische Erscheinungen religiös überhöht.304 Hinzu kommt zweitens die Ambivalenz des naturfrommen und schöpfungsfrohen, tendenziell unorthodoxen Momentums in Ehrlers katholischer Religiosität: der Synkretismus christlicher und naturmystischer Elemente. Die tendenziöse Auswahl, die nationalsozialistisch gelenkte Zeitschriften und Anthologien aus Ehrlers umfangreichem Werk immer wieder vorgenommen haben, konnte sich zuverlässig auf Texte wie Der Lebensbaum305 stützen, die Ideen über vermeintliches germanisches Brauchtum, über Schollenbindung und Ahnenverehrung entgegenkamen. Ein in der Organisation der „NS-Kulturgemeinde“ ab 1932 herausgegebenes Jahrbuch der deutschen Dichtung brachte das Gedicht bereits in seinem ersten Jahrgang als Beispiel für die Arbeit der „wahre[n] Dichter“, die sich nicht im Kaffeehaus verschlissen, sondern ihre Kraft aus der braunen Erde der deutschen Heimat zögen.306 Will Vesper druckte dieselben Strophen 1933 in der Neuen Literatur ab. Und auch die 21 Autoren umfassende, von 1933 bis 1943 mehrfach aufgelegte Langen-Müller-Anthologie Das kleine Gedichtbuch. Lyrik von heute konzentrierte sich bei der Auswahl von insgesamt acht Ehrlergedichten auf sechs mehr naturmagische und zwei mehr christliche; wiederum ist Der Lebensbaum vertreten, daneben das im Dritten Reich ebenfalls vielbenutzte Ich riech wie Wald und Farn und Moos.307 Für die nationalsozialistische Dimensionierung der theophanen Naturbetrachtung war mithin begünstigend, dass Ehrler die Natureinheit nicht ausschließlich als geheime Erfahrung ‚edler Seelen‘ zelebrierte, sondern dass er auch für die Gesellschaft als bodenständiger Gemeinschaft organologische Grundvorstellungen pflegte. Dies kommt etwa in seiner Mitarbeit an den Werkzeitschriften von Bosch und Daimler zum Ausdruck, in denen er die Fabrik als „Organismus“ bewirbt: „mit dem inne-
304 Zur Gemeinsamkeit des eschatologischen Denkens im Nationalsozialismus und in den christlichen Teilen der ‚Inneren Emigration‘ vgl. immer noch Reinhold Grimm: Im Dickicht der inneren Emigration. In: Die deutsche Literatur im Dritten Reich. Themen, Traditionen, Wirkungen. Hg. v. Horst Denkler u. Karl Prümm. Stuttgart 1976, S. 406–426, hier S. 418. 305 „Ich pflanzte mir nach einem Traum / Im Garten eine Linde. / Doch ist es seltsam mit dem Baum, / Er wächst, dieweil ich schwinde.“ etc. Ehrler: Die Lichter schwinden im Licht, S. 12. 306 Werner Jansen: Zum Geleit. In: Jahrbuch der deutschen Dichtung 1 (1932), S. 5 f.; vgl. das Gedicht ebd., S. 62. 307 Kurt Matthies (Hg.): Das kleine Gedichtbuch. Lyrik von heute. München 1933, S. 14 f., S. 28, S. 46 u. S. 56. Zum „Lebensbaum“ in der germanisierenden Naturmythologie vgl. Michael H. Kater: Das „Ahnenerbe“ der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches. 4. Aufl. München 2006, S. 27.
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ren Gesetz [...] wirkend, wie die Natur“.308 Die NS-Kompatibilität eines naturmystischen Irrationalismus, der aus dem „Untergrund der Seele“ zu schöpfen glaubte und „Weltgefühl“ statt „Weltanschauung“ verlangte,309 bildete ein grundsätzliches Abgrenzungsproblem bekanntlich auch für Autoren wie Ehrlers Idol Loerke, Carossa und andere, die den Faschismus deutlich ablehnten.310 Neben Personenkult und Naturverehrung ist es drittens die abendländischreichstheoretische Vermischung des Sakralen mit dem Politischen, die Ehrler den Weg zum Nationalsozialismus ebnete. Wie die Reichsidee das Christlich-Visionäre und das Nationalsozialistisch-Totalitäre miteinander in Austausch brachte, geht nochmals klar aus Stellungnahmen von Ehrlers aktivistischem Netzwerkpartner Schumann hervor, der von NSDAP und SA überzeugt war, dass eben diese ‚Bewegung‘ dazu bestimmt sei, den Einzelnen aus seiner Verlassenheit, Vereinsamung und Verschlossenheit in die neue Ordnung einer Gemeinschaft zu führen, die gleichzeitig volklich und religiös verstanden war und in der [...] eine neue soziale Gerechtigkeit herrschen sollte, die alle Deutschen in einem Reich als Nationalstaat zusammenführen sollte, das aber über die als gottgewollt anerkannten Organismen der Völker hinaus zu einem über-völkischen Reich, einem heiligen abendländischen Reich europäischer Nation mit dem deutschen Reich als Mitte sich entwickeln sollte, aus der Vision des Propheten Hölderlin her: O heilig Herz der Völker, o Vaterland!...311
308 Hans Heinrich Ehrler: Gedanken im Mai. In: Der Bosch-Zünder 19 (1937), S. 61 f., hier S. 61. 309 Matthäus Gerster: Hans Heinrich Ehrler. Zum 60. Geburtstag am 7. Juli 1932. In: Weltstimmen. Weltbücher in Umrissen 6 (1932), S. 301 f., hier S. 301. Zur Formulierung vom „Weltgefühl“ vgl. Ehrler: Ein Pfingstbrief, S. 292. 310 Vgl. die klassische These von Ralf Schnell: Literarische Innere Emigration 1933–1945. Stuttgart 1976, S. 153: „Der von den Autoren so deutlich abgelehnte Faschismus ist in ideologischer Hinsicht nichts anderes als die Kehrseite ihres eigenen Irrationalismus.“ Wieder in ders.: Dichtung in finsteren Zeiten, S. 129 ff. Ähnlich Grimm: Im Dickicht der inneren Emigration, S. 417 ff., sowie Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 180 ff. – Zur Kritik an der Verwendung des Begriffes ‚Irrationalismus‘ in diesem Zusammenhang vgl. Doris Kirchner: Doppelbödige Wirklichkeit. Magischer Realismus und nicht-faschistische Literatur. Tübingen 1993, S. 26 f., sowie Haefs: Lyrik in den 1930er und 1940er Jahren, S. 399 ff. 311 Schumann: Von Herkunft, Leben und Schaffen, S. 128. Vgl. auch ebd., S. 126: „Die ‚Bewegung‘ bedeutete für mich die Möglichkeit, ‚Das Reich‘, die uralte Sehnsucht der besten Deutschen, zu verwirklichen, und ‚der Führer‘, von Georgeschem Nimbus umstrahlt, das gottgesandte Werkzeug dieser Reich-Werdung.“
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Diese Perspektive richtete sich auf ein „Reich Europa“, in dem die „Brudervölker dieses Abendlandes in letzter Stunde“, nämlich vor der Entfesselung des bolschewistischen Satans, „zusammenwachsen“ sollten, aber nicht so brüderlich, dass die Ideen von 1789 mit Folge der „westlichen Perversion der Freiheit“ darin Platz gehabt hätten.312 Freiheit bezeichnete hier die Entfaltung der ‚organisch‘ in ‚Stämme‘ gegliederten ‚Volksgemeinschaft‘, nicht jedoch die Rechte der Gruppen und Individuen einer Gesellschaft. So zeigt auch Ehrlers Reichsvision, die auf dem Zusammenklang von deutscher Heimat und abendländischer Bildung, von ecclesia und imperium beruhte, keinerlei Verständnis für einen über die ethnisch-föderalistische Vielfalt hinausgehenden Pluralismus. Unter dem Namen des Friedens und der franziskanischen All-Liebe ersehnte er die große Einheit aller mit allen, nicht die aggressive Vernichtung, aber die liebesmystische Aufhebung jeglicher Differenz, die Zeichen des Relativismus hätte sein können. Von der „Volksgemeinschaft“ als Gegensatz „des Eigennutzes und Eigendünkels“ hatte der Propagandist bereits ausgiebig in seinen Kriegsschriften für die Frankfurter Zeitung und die Kriegszeitung der 7. Armee gesprochen.313 In den Berlinfeuilletons von 1928 imaginierte er angesichts der gesellschaftlichen Zersplitterung erwartungsvoll, dass „viereinhalb Millionen sich alle auf einmal einer großen, reinen Begeisterung gemeinsam klar bewusst würden“.314 In Erzähltexten wie der Novelle Käthchen, 1930 in Westermanns Monatsheften erschienen, ging er bis zu Motiven von Organtransplantation, um die „Strahlen der gütigen Anziehung“ und eine Einigkeit zwischen Menschen zu plausibilisieren, „von der es keine Lösung mehr geben konnte“.315 Im Gedicht Deutschland aus der Sammlung Die Lichter schwinden im Licht, abgedruckt auch im Langen-Müller-Almanach auf das Jahr 1933, kulminiert die fiebrige Vision der sozialen unio mystica in der Schlussstrophe, und zwar unter ausdrücklichem Bezug auf die völkisch-nationalsozialistische Thing-Bewegung: Das Volk soll kommen, soll sich versammeln dann. Des Schicksals Anger heißt dieses Thinges Platz. Du [sc. Deutschland] blickst uns an. Auf einmal haben Wir in den Augen die selben Blicke.316 312 Schumann: Von Herkunft, Leben und Schaffen, S. 132 f. Zu Schumanns Reichsvorstellung präg nant Baird: To Die for Germany, S. 133 f. 313 Ehrler: „Zeichnet die Kriegsanleihe!“, vgl. auch ders.: Zeichnet die dritte Kriegsanleihe. 314 Ehrler: Meine Fahrt nach Berlin, S. 116. 315 Käthchen. Novelle. In: Westermanns Monatshefte 74 (1930), S. 161–164, hier S. 162. 316 Hans Heinrich Ehrler: Deutschland. In: Ausritt. Almanach des Verlags Albert Langen – Georg Müller 1933/34. München 1933, S. 117 f., hier S. 118. – Zu den „innerweltlichen Formen der
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Immerzu übertrug Ehrler in dieser Form Gottesreichsvorstellungen auf weltliche Verhältnisse. Und aus demselben Grund konnte er mit der Wirklichkeit des Dritten Reichs niemals ganz zufrieden werden. Mitte 1938, im Jahr 6 der Hitlerherrschaft, fand er seine hohen Hoffnungen noch alles andere als erfüllt, erwartete die große Einigung aber weiterhin für die nahe Zukunft: „Das Volk der Deutschen soll zu einer Gemeinschaft der füreinander Schaffenden umgebildet werden. Frei und eingeordnet.“317 In Nähe zu Ehrler hat auch Muckermann dieses corpus politicum mysticum beschworen und über die damit verbundene Infinalität erklärt: „Gerade wir, denen die Ordnung des Reiches in vorbildlicher Gestalt als geschichtliches Erbe geschenkt worden ist, scheinen den Beruf zu haben, jede Gestalt zerschlagen und immer neue Horizonte suchen zu müssen.“318 Hat Ehrler das Dritte Reich hinsichtlich dessen Einigungskraft und dessen Umgang mit regionaler Heimat und abendländischer Tradition partiell ambivalent erlebt, hat er sich ihm auf den Gebieten der Führerverehrung und der Gemeinschaftsformung doch auch aktiv angedient, am nachdrücklichsten mit dem Essay Die Stimme, den Vesper im April 1938 – als Vorabdruck aus der Sammlung Mit dem Herzen gedacht – in der Neuen Literatur präsentiert hat.319 Die Stimme greift ein zentrales Thema von Hitlers Erscheinungsweise und Selbstinszenierung auf. Mit der Mystifizierung seiner ‚Stimme‘ modellierte der Diktator selbst das Verhältnis zwischen sich als ‚Rufer‘ und den Deutschen als den ‚Berufenen‘. Dabei besetzten zahlreiche Rückgriffe in erster Linie auf das Johannesevangelium den christlichen Wortschatz und die religiöse Sphäre.320 Der erste Teil von Ehrlers in „1.“ und „2.“ gegliederten Essay paraphrasiert geradezu, allerdings vom Standpunkt
unio mystica“ durch „Gemeinschaftsfeiern“ und letztlich auch durch „Sterben im Kampf “ vgl. bereits Voegelin: Die politischen Religionen, S. 54. Zur Berührung zwischen Mystik und Totalitarismus in Vorstellungen von Ich-Auslöschung, All-Frieden und All-Einheit vgl. Günther Bonheim: Zur Einführung. Annäherung an ein „und“. In: Mystik und Totalitarismus. Hg. v. Günther Bonheim u. Thomas Regehly. Berlin 2013, S. 9–16. – Zu Ursprüngen und Reichweite der Thing-Bewegung vgl. Rainer Stommer: Die inszenierte Volksgemeinschaft. Die „Thing-Bewegung“ im Dritten Reich. Marburg 1985, bes. S. 12–22. 317 Ehrler: Werk der Hand. 318 Muckermann: Vom Rätsel der Zeit, S. 189. 319 Zur Führerverehrung in der Neuen Literatur vgl. grundsätzlich Uwe Day: Hohepriester des Hitlerkults und literarischer Inquisitor. Über Will Vesper. In: Griffel. Magazin für Literatur und Kritik 9 (2000), S. 61–73. 320 Vgl. Reichel: Der schöne Schein des Dritten Reiches, S. 142 ff., sowie Werner Telesko: Erlösermythen in Kunst und Politik. Zwischen christlicher Tradition und Moderne. Wien, Köln u.a. 2004, S. 97 ff. u. S. 109 f.
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der ‚Berufenen‘, den Anspruch, den Hitler exemplarisch in der Parteitagsrede vom 11. September 1936 formuliert hat: Ihr habt einst die Stimme eines Mannes vernommen, und sie schlug an eure Herzen, sie hat euch geweckt, und ihr seid dieser Stimme gefolgt. Ihr seid ihr jahrelang nachgegangen, ohne den Träger der Stimme auch nur gesehen zu haben; ihr habt nur eine Stimme gehört und seid ihr gefolgt. […] Das ist das Wunder unserer Zeit, daß ihr mich gefunden habt, unter so vielen Millionen! Und daß ich euch gefunden habe, das ist Deutschlands Glück!321
Entgegen dieser Selbstdarstellung, insofern sie eine langjährige mediale Etablierung Hitlers im Medium des Rundfunks insinuiert, standen ihm die Reichssender erst mit der Machtübernahme zur Verfügung. Erst von da an, im „Reich der Lautsprecher“ (Hesse), begann auch der literarische Diskurs um Hitlers Stimme zu florieren, zu dem Die Stimme ein bemerkenswerter Beitrag ist.322 Ehrler datiert das Ereignis seiner Berufung durch Hitlers Stimme gleich eingangs und demonstrativ zurück, auf den 24. Oktober 1933, den Beginn des Propagandafeldzugs für die Reichstagswahl im November 1933. Die Zuhörer stehen im Rahmen eines zeittypischen ‚Gemeinschaftsempfangs‘ auf dem Stuttgarter Marktplatz; Hitler spricht aus dem Berliner Sportpalast.323 Aber die Distanz zwischen Reichs- und Landeshauptstadt scheint medial und metaphysisch aufgehoben: „Ganz Deutschland wird der Raum der Stimme, und eine Nation horcht. Derjenige, der spricht, könnte vielleicht auch oben über dem Reich, im Zenit unter den Sternen stehen. So ist er in dieser Stunde die Mitte der Nation.“324 Es gehört zu den Grundelementen der von Ehrler ererbten Panegyrik-Tradition, Sachfragen zugunsten des feierlichen Aktes zu suspendieren, den Herrscher mit dem Allwissenden, Allsehenden und Omnipräsenten in Verbindung zu bringen und ihm als einheitsstiftendem Symbol der Nation zu huldigen.325 Ehrler knüpft an all dies an und ‚modernisiert‘ seinen Ansatz diesmal doch soweit in faschistischer Hinsicht, 321 Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen, Bd. 1/2, S. 641. 322 Vgl. das Kapitel bei Scholdt: Autoren über Hitler, S. 209–212 („Stimme“); ferner Schmidt: Herrscherkult und Politische Religion, S. 109 f., Marcel Atze: „Unser Hitler“. Der Hitler-Mythos im Spiegel der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Göttingen 2003, S. 297 ff. 323 Vgl. zu dieser Rede Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen, Bd. 1/1, S. 323 f. Zur Nutzung des Stuttgarter Marktplatzes für spektakuläre Großkundgebungen vgl. Sauer: Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus (1975), S. 137 ff., sowie Müller: Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus, S. 274 ff. 324 Ehrler: Die Stimme, S. 218. 325 Vgl. Mause: Panegyrik, S. 496.
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dass das Ästhetische zum eigentlichen politischen Inhalt wird, das theokratische Ritual den Glauben nicht nur transportiert, sondern überhaupt erst produziert: Spricht die Stimme? Nein, sie bricht durch den Stein der Mauer heraus, sie stürzt herab. Man sieht es beinah, die Brocken, das Geröll, die Strudel. Aus Berggrüften, aus berstenden Erdbebenkammern. Es gibt keinen Ausweg widerstrebender, bedenkender, zager, von einzelnen Wortgeschossen verletzter Verstandesregungen mehr, es kommt herab und ergreift Besitz. Man sucht Vergleiche. In der Geschichte der Völker, in den antiken Chroniken, unter den Namen derer, die man die großen Redner heißt. Aber hier ist etwas anderes, kein Redner, sondern eine tönend gewordene Naturerscheinung. Man soll sakrale Gleichnisse nicht anrühren, aber irgendwie geht Wirkung aus, wie von einem brennenden Dornbusch.326
Hitlers Stimme, dank medialer Aufbereitung larger than life und (wie sonst sein ikonisches Flugzeug, der Focke-Wulf-Condor) aus dem Himmel kommend,327 ist nicht Informationsträger, sondern ästhetisches Ereignis, das individuelles Räsonnement ausschaltet und nationale Gemeinschaft als Einheit eines genießenden Auditoriums herstellt. Der Dornbusch brennt in dieser abendlichen Versammlung, wie die Scheinwerfer, Lichterketten und Fackeln der nationalsozialistischen Feiergestaltung,328 aber er spricht nicht, sondern ‚tönt‘. Hitler ist in diesem Bild nicht mehr nur der gesetzgebende Moses, wie nämlich in Schumanns Liedern vom Reich,329 sondern bereits der sich offenbarende Gott selbst. Das Wort ist folgerichtig nicht Fleisch, sondern Geschoss geworden: Ausdrücklich verletzen diese ‚Wortgeschosse‘ den Verstand, der überwältigt und in Besitz genommen wird – genom326 Ehrler: Die Stimme, S. 218 f. 327 Vgl. exemplarisch Herybert Menzel: Der Führer kommt. In: ders.: Im Marschschritt der SA. Berlin 1933, S. 47: „Im Stadion Millionengewimmel. / Und Fahnen stehn wie ein Wald. / Sie blicken alle zum Himmel. / Nun kommt der Führer bald.“ etc. 328 Vgl. die im Text beschriebene Lichtregie: „[…] abends um 8 Uhr auf dem Stuttgarter Marktplatz. Im Dunkel stehen viele Menschen. Das Licht der Bogenlampen setzt das Dunkel, die Menschen und den Platz unter seine seltsamen, schier zeichenhaften Schattenspiele. Im Rücken ist die Giebelfront eines Hauses von einem Saum von Leuchtkörpern umlaufen. Im Rathaus vorn sind oben auf einer Seite Saalfenster erhellt. Die Gegenwirkung setzt das Bauwerk in tiefere Dämmerung. Am Himmel stehen Sterne.“ – Dazu Reichel: Der schöne Schein des Dritten Reiches, S. 128 ff., sowie Frederic Spotts: Hitler and the Power of Aesthetics. 2. Aufl. New York 2009, S. 58 ff. 329 Vgl. Gerhard Schumann: Da kam die Nacht. Der Eine stand und rang. In: ders.: Die Lieder vom Reich. München 1935, S. 22.
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men werden will. Die akustische Gewalt, das Brüllen, Schreien und Trompeten, das Hesse, Loerke und andere an Hitler so verabscheuten, beeindruckt Ehrler als Urgewalt. Der eingeräumte Zwang, der den Menschen „neue Augen einsetzt“330 und ihren Herzschlag kontrolliert, verbreitet Lust. Aus der Absicht, seinen Zuhörern den Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte zu nehmen, hat Hitler selbst keinen Hehl gemacht,331 und Ehrler scheut nicht davor zurück, hier eher vom Erlebnisbegriff des späten 19. Jahrhunderts und seiner Studienzeit herkommend, das Vorrationale und Unfreiwillige eines Ereignisses zu betonen, welches den Menschen unmittelbar betreffe und dem er nur durch Fühlen und Glauben gerecht werden könne.332 In der Folge erscheint Hitler nicht nur mehr – wie in der klassischen Panegyrik der Kaiser – als das Zeichen, sondern als die eucharistische Realpräsenz der Nation, die nicht regiert werde, sondern sich plebiszitär selbst regiere: Es [das Vaterland] ist auf einmal in einer nie empfundenen Gegenwart vor uns da, daß wir hell erschrecken; gleich zusammengeronnenem Glanz ist es da. Wir spüren seine Strahlung. Glück rührt uns an. Wir erfahren tief hinein, wie wir zu ihm gehören, wie es zu uns gehört, Magnet zu Magnet, Substanz zu Substanz, Gedanke in Gedanke, Gefühl in Gefühl, Pulsschlag in Pulsschlag, Blutgang in Blutgang. Unmöglich, etwas zu beschreiben von dem Wunder dieser Verkörperung, in welcher das Vaterland zu dem Einsamen in seine Stube trat.333
In diesem Text gibt es als politische Kraft nicht – wie in der Verfassungsfeierrede von 1932 – „Hitler und seine Millionen“334, d.h. den organisierten Nationalsozi-
330 Ehrler: Die Stimme, S. 219. 331 Vgl. Max Domarus: Zur Einführung. In: Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Hg. v. dems. Bd. 1/1, München 1965, S. 4–56, hier S. 48 f., sowie ausführlich zuletzt Spotts: Hitler and the Power of Aesthetics, S. 44 ff. 332 Zum Erlebnis als Prinzip der faschistischen Ästhetik vgl. Brockhaus: Faschismus als Erlebnisangebot, hier S. 238 ff. zur „Ästhetisierung und Entwertung der Wirklichkeit“, S. 288 ff. zur „Lust an der Gewalt“; ferner Linthout: Das Buch in der nationalsozialistischen Propagandapolitik, S. 110 f. 333 Ehrler: Die Stimme, S. 220. Zum Mythos von „Hitler als Verkörperung der Nation“ vgl. Aristotle A. Kallis: Der Niedergang der Deutungsmacht. Nationalsozialistische Propaganda im Kriegsverlauf. In: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzung. Hg. v. Jörg Echternkamp. München 2005 (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9/2), S. 203–250, hier S. 210 f. (Zitat S. 211), Overy: The Dictators, S. 113 f., sowie Telesko: Erlösermythen in Kunst und Politik, S. 97 ff. 334 Ehrler: Rede bei der Verfassungsfeier, Bl. 4.
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alismus, sondern nur Hitler, der wiederum kein Mensch, sondern eine ‚tönend gewordene Naturerscheinung‘ ist. Der erste Teil von Die Stimme bediente zusammen mit dem Führerkult das von der NS-Germanistik zur eingehenden Darstellung gewünschte „Gemeinschaftserlebnis“: „Wir beobachten im Werk neuer deutscher Dichter und Erzähler einen auf Zusammenschluß hinzielenden Sinn. […] Man will zur Gemeinschaft, aus der man kommt, aufrufen und der Volkswerdung dienen“, so heißt es suggerierend und fordernd in einer Abhandlung über Das Gemeinschaftserlebnis in der erzählenden und lyrischen Dichtung jüngster Zeit von 1938.335 Ehrler erfüllte diese Forderung unmittelbar, indem er in seiner hymnischen Prosa eine dramatische Situation beschreibt, die sich an Formen des Mysterienspiels und des daraus entwickelten Thingspiels anlehnt: Der Marktplatz vor dem Rathaus bildet das Proszenium, auf dem die versammelte Menschenmasse zugleich Publikum und Akteur ist, eine allegorische Gestalt für „Deutschland“ in Beziehung zur allegorischen Gestalt des „Rufers“, so nämlich die Rollenbezeichnungen in Gustav Goes’ modellbildendem Thingspiel Aufbricht Deutschland! von 1932.336 Soweit bietet Die Stimme ein Stück Gemeinschaftsdichtung, handlungslos entfaltet anhand einer kultischen, quasigottesdienstlichen Feierveranstaltung im öffentlichen Raum. Im zweiten Teil entwirft Ehrler gegenüber der Massenszene das Gegenbild poetischer Einsamkeit in stiller Kammer. Das Datum vom März 1936 – „gestern“ habe die Stimme „Europa zum Frieden aufgerufen“ – bezieht sich auf Hitlers Rede zur Besetzung des Rheinlands am 7. März 1936 und zur „Aufrichtung eines Systems der europäischen Friedenssicherung“.337 Die Stimme erklingt nicht mehr aus einem Lautsprecher, sondern aus dem Gedächtnis, hat sich vergeistigt und eingenistet in der Person des Dichters. Sie ist aus der Symbiose mit technischen Gerätschaften, die der oppositionelle Diskurs über Hitlers Stimme hervorhob, herausgelöst. Im Nachhall entfaltet sie „das Große und Ungemeine“, eine Vision der Hörerschaft als nationaler Sammlung „ohne Rand und Saum“. In dieser Deckung von Hitlers Stimme und eigener Innenwelt bearbeitet Ehrler den objektiven Konflikt, dass Hitler die prophetische Gottesstimme besitzen soll, die der Dichterprophet immer schon für sich selbst beansprucht hatte. Die von Ehrler sonst vorgesehene Trennung zwischen innerem und äußerem Reich kollabiert unter den 335 Friedrich Wilhelm Minster: Das Gemeinschaftserlebnis in der erzählenden und lyrischen Dichtung jüngster Zeit. Frankfurt/M. 1938, S. 4. 336 Gustav Goes: Aufbricht Deutschland! Ein Stadionspiel. Berlin 1932. Zum Thingspiel als Gattung vgl. Vondung: Magie und Manipulation, S. 70 ff., Schoeps: Literatur im Dritten Reich, S. 157 ff., sowie Streim: Deutschsprachige Literatur 1933–1945, S. 93 ff. 337 Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen, Bd. 1/2, S. 582–597 (Zitat S. 595).
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Ansprüchen einer Theokratie, die zu Hitlers Selbstverständnis als von der Vorsehung Auserwählter gehörte.338 Auch in diesem Rahmen ist Hitler somit, wie bei Thomas Mann, „Bruder Hitler“, nur dass Ehrler in dem Diktator nicht, wie Mann, den verhunzten Künstler entlarvt (eine Diagnose, die wohl zu sehr auf ihn selbst zutreffen würde).339 Auf makabre Weise sprach sich dieses Ähnlichkeitsverhältnis bereits darin aus, dass Ehrler seine Zeitungsartikel und Privatbriefe, vor und nach 1933, oft nur mit „H. H. E.“ oder „H. H.“ unterzeichnete. Sein eigener Name, den Ehrler noch 1928 ganz im Sinne der katholischen Reichsidee auf den heiliggesprochenen Kaiser Heinrich II. zurückgeführt hatte,340 fiel darin mit dem ab Juli 1933 staatsoffiziellen Hitlergruß zusammen. Ein weiterer Zufall äußerer Ähnlichkeiten bestand in Ehrlers Bürstenbart (‚Hitlerbärtchen‘). Wie in der Pressezeichnung von Emil Stumpp zu sehen (Abb. 6), trug er ihn spätestens seit Mitte der 1920er Jahre. Auf den Porträtfotos, die Langen Müller seit 1930 verbreitete (Abb. 13), schieben sich jedoch unweigerlich die politische Ikonografie und die scheinbar geistesverwandtschaftliche Bedeutung des Attributs in den Vordergrund. Beide Teile des Essays datieren die Hitlerreden zwar, zitieren sie aber nicht. Kein Wort von der „Mobilisierung der allgemeinen sittlichen und moralischen Werte der deutschen Nation“, vom „Chaos der bolschewistischen Revolution“, von der „deutsche[n] Frage“, von „Gleichberechtigung“ und „Souveränität“ etc.341 Inhalte klingen nur unspezifisch damit an, dass Hitler zum Frieden aufgerufen und dass Deutschland „das Sträflingskleid abgestreift“ habe. Hitlers Stimme ist eben nicht primär Informationsträger, sondern ästhetisches Ereignis, das als solches jedes individuelle Räsonnement ausschaltet und nationale Gemeinschaft als Einheit eines genießenden Auditoriums herstellt. „Die mächtige Inbrunst“ Hitlers dürfe „nicht allein brennen“: „Wir bekennen uns als Mitentzündete“,342 so besiegelte Ehrler sein neues Glaubensbekenntnis, das in der Mystifizierung von Hitlers Stimme und in der Metaphorik des Entbrennens nahe an Texten wie Bruno Brendels Der Führer spricht („Als seine Stimme durch den Äther schwang“, 1939) und Karl Lanigs Der Führer spricht („Des Führers Stimme geht durch unsre Stube“, 1941) steht.343 Trotz 338 Vgl. Bucher: Hitlers Theologie, S. 77–88 („Die Vorsehung: die Geschichtstheologie Hitlers“), sowie Grabner-Haider: Hitlers mythische Religion, S. 152–156 („Die Kraft der göttlichen Vorsehung“). 339 Vgl. Thomas Mann: Bruder Hitler. In: ders.: Gesammelte Werke. Frankfurt/M. 1990, Bd. 12, S. 845–852. 340 Vgl. Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 68. 341 Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen, Bd. 1/2, S. 584–595. 342 Ehrler: Die Stimme, S. 220. 343 Bruno Brendel: 12. September 1938. Der Führer spricht.... In: ders.: Heim ins Reich. Lieder eines Sudetendeutschen. Reichenberg 1939, S. 23; Karl Lanig: Der Führer spricht. In: Wille und
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des Verlustes an äußerer Wirklichkeit, den das so inszenierte Erlebnis bedeutet, steht am Ende von Die Stimme eine zwar religiös verbrämte, im Kern aber höchst pragmatische Wahlempfehlung: „Gottes Finger deutet auf uns herab in unser Gewissen. / Und das hellste Wort unserer deutschen Muttersprache ist das J a ! “344 Damit hat sich Ehrler aber auf eine Parteiliteratur im Sinne der Entscheidung von Machtfragen eingelassen. Im Nachklang zu diesen panegyrischen Aufschwüngen erhielt der Dichter noch im Jahr 1938 den mit 3000 Reichsmark dotierten Schillerpreis und die Ausstattung mit einem lebenslangen staatlichen Ehrensold in Höhe von jährlich 2000 RM. Ab 1939 erhielt er fünf Jahre lang den höchsten Fördersatz der Schillerstiftung, jährlich 1200 RM. Im März 1941 kam ein Ehrensold der Stadt Stuttgart in Höhe von noch einmal jährlich 1200 RM hinzu. Neben dieser materiellen Grundversorgung standen mehrere symbolische Gratifikationen wie zunächst die Einladung zum „1. Großdeutschen Dichtertreffen“ in Weimar, das die Reichsschrifttumskammer und die Schrifttumsabteilung des Propagandaministeriums mit sorgfältiger Auswahl von 250 Autoren, „Meistern der deutschen Sprache“, für die letzten Oktobertage 1938 organisierte.345 Auf der zweitägigen Veranstaltung sollten die Übereinstimmung zwischen Schriftstellern und Schrifttumslenkung zum Ausdruck gebracht, die Autoren in die staatlich-parteiliche Öffentlichkeitsarbeit eingebunden und zu einem dauerhaften politischen Bekenntnis geführt werden. Nach Vorgaben von Goebbels und schon wegen der Wirkung auf das Ausland wurden hier gezielt auch regimeabgewandte Autoren wie Walter von Molo und Ernst Wiechert eingeladen, außerdem (für Ehrler entscheidend) konfessionelle und stammesethnische Rücksichten genommen sowie Fachvertreter wie Bartels, Pongs und Martini eingeladen (alle drei Ehrler wohlgewogen). Die anschließende „Großdeutsche Buchwoche“ mit Schwerpunkt auf dem deutsch-österreichischen Vereinigungsschrifttum präsentierte unter ca. 800 Neuerscheinungen auch Ehrlers Mit dem Herzen gedacht. Einer Anekdote zufolge soll Ehrler den anwesenden Propagandaminister durch eine respektlose Annäherung und persönliche MisstrauMacht. Führerorgan der nationalsozialistischen Jugend 9 (1941), S. 30. – Vgl. auch Rudolf Alexander Schröder Gedicht Deutscher Schwur mit den Zeilen: „Heilig Vaterland, / […] / Sieh uns all entbrannt“, ders.: Die Gedichte. Frankfurt/M. 1952 (= Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd. 1), S. 489 f. 344 Ehrler: Die Stimme, S. 220. 345 Vgl. dazu Burkhard Stenzel: „Buch und Schwert“. Die Woche des deutschen Buches in Weimar (1934–1942). In: „Hier, hier ist Deutschland…“. Von nationalen Kulturkonzepten zur nationalsozialistischen Kulturpolitik. Hg. v. Ursula Härtl, dems. u. Justus H. Ulbricht. Göttingen 1997, S. 83–122, hier S. 101 ff. (Zitat S. 101), sowie Barbian: Literaturpolitik im NS-Staat, S. 327 ff.
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ensbekundung brüskiert haben.346 Dabei handelt es sich vielleicht um mehr als um eine der später üblichen Alibigeschichten, wie sie auch Schumann für eine angeblich schroffe Begegnung mit Goebbels auf dem Weimarer Dichtertreffen 1942 erzählte.347 Goebbels’ Tagebuch verzeichnet zwar nichts von einem entsprechenden Vorfall, allerdings vermerkt ein Briefwechsel zwischen Lilienfein und dem RSKAbteilungsleiter Kurt Metzner von 1939, dass Ehrler „auf der Weimarer Dichtertagung so unangenehm auffiel“348. Ein weiteres Nachspiel seines NS-Bekenntnisses von Mitte 1938 bildet Ehrlers Aufnahme in den Kreis der Dichter, der Anfang 1939 den Band Dem Führer. Gedichte für Adolf Hitler zu Hitlers 50. Geburtstag bediente. Die Beiträge zu diesem „Geschenkwerk […] Namens des deutschen Schrifttums“349, das bis 1942 vier Auflagen erreichte und außerdem in einer limitierten Folioprachtausgabe für den Jubilar und die 100 Beiträger erschien, wurden mit brieflichen Aufforderungen angemahnt, die – nach Einschätzung von Adressierten wie Hans Carossa – eine Ablehnung unmöglich machten: Dergleichen Huldigungen wurden damals wie Steuern eingetrieben, und in diesem Fall mit besonderem Nachdruck, denn dieser Geburtstag war einer von denen, welche Rilke die „betonten“ nannte: der fünfzigste. Eine bloße Gratulation wurde leider von vorneherein als ungenügend bezeichnet […]. Das öfters bewährte Schweigeverfahren blieb erfolglos; die Mahnungen trafen pünktlich ein.350
Die für den 20. April 1939, einen Nationalfeiertag, angekündigte Hakenkreuzbeflaggung der Kirchen sowie die bischöflichen Glückwunschadressen an das Staatsoberhaupt mochten die literarische Beteiligung kirchlich erlaubt und sogar geboten erscheinen lassen. Gefragt waren Originalbeiträge mit klarem Bekenntnis zum 346 Vgl. Willi Habermann (Hg.): Als wär’s ein Stück von ihm. Hans Heinrich Ehrler, * 1872. Spiegelungen 1972. Bad Mergentheim 1972, S. 73. Die Anekdote stammt in dieser 1972 publizierten Form vom Bad Mergentheimer Lehrer Theo Gundling, der bereits 1939 über Ehrler geschrieben und ihn damals noch als vollkommen systemkonform verstanden hat; vgl. Gundling: Hans Heinrich Ehrler. 347 Vgl. Schumann: Von Herkunft, Leben und Schaffen, S. 140. 348 Heinrich Lilienfein an Kurt Metzner, 15. August 1939, Deutsche Schillerstiftung, Personenakte Hans Heinrich Ehrler, GSA Weimar, Sign. GSA 134/134,4. 349 Aus dem Dankschreiben, das Gerhard Schumann im Auftrag der RSK an die Beiträger gerichtet hat, zit. n. Zeller (Hg.): Klassiker in finsteren Zeiten, Bd. 1, S. 139. Vgl. zur Charakterisierung dieser Sammlung ebd., S. 133–138. 350 Hans Carossa: Ungleiche Welten. Wiesbaden 1951, S. 72.
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‚Führer‘. Philipp Bouhler, Vorsitzender der „Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des nationalsozialistischen Schrifttums“351, erhielt die Oberleitung und das Geleitwort. Die herausgeberische Arbeit übernahm Karl Hans Bühner, der Ehrler, „diesen gesegneten Dichter“, auch in anderen Kontexten bedachte.352 Literatur, so die zugrunde liegende Vorstellung, habe sich zu allen Zeiten an den „Großen der Geschichte“ entzündet, deren Inkommensurabilität nur poetisch einzuholen sei. Die Gedichte des Bandes dokumentierten das „Ringen der heutigen Generation um die dichterische Gestaltung des größten Heroen des deutschen Volkes“353; sie seien eine Probe auf die Möglichkeit einer neuen deutschen Literatur. Strenge Auswahl habe geherrscht, um nur das zu präsentieren, was der „genialen Erscheinung Hitlers angemessen“ sei. Eine Widmungsadresse Rosenbergs ergänzte die Folioausgabe mit der Erklärung: Am heutigen Tage grüßt Sie mit der ganzen Partei und dem ganzen deutschen Volke auch der deutsche Dichter. Er erscheint berufen, heute und in Zukunft das Erlebnis unserer großen Zeit in Worten und Gesichten dem Volke zu übermitteln und dem politischen Werke verklärenden Ausdruck zu geben. Einhundert Dichter bitten Sie, Glückwunsch und Bekenntnis zum heutigen Tage entgegenzunehmen in einer Form, die persönlich für Sie, mein Führer, bestimmt und nicht an die Öffentlichkeit gerichtet ist.354
Ehrlers Gedicht ist schlicht Zum 20. April 1939 betitelt. Die Forschung hat es zu den Beiträgen des Bandes gezählt, die – und hier ist noch das gefälschte Ehrlerbild der Nachkriegszeit in Geltung – „auf harmlose Gebiete“ auswichen: Ehrler gehöre zu den Autoren, denen es gelungen sei, „sich so völlig um das geforderte ‚klare Bekenntnis zum Führer‘ zu drücken, daß man ihren Beiträgen in einem anderen
351 Zu dieser Einrichtung, welche die ‚Schrifttumsarbeit‘ der NSDAP koordinierte, vgl. Barbian: Literaturpolitik im NS-Staat, S. 159 ff., sowie Adam: Lesen unter Hitler, S. 120 ff. 352 Vgl. Bühner: Eines stillen Dichters Einsiedelei, ders.: Hans Heinrich Ehrler. Ein Hinweis. In: Schwaben. Monatshefte für Volkstum und Kultur 11 (1939), S. 634–436, sowie ders.: Er war ein Gast in meinem Zimmer. Nachts, über Ehrler-Handschriften gebeugt. In: Deutsches Volksblatt, 1. April 1954 (daraus das Zitat). 353 Philipp Bouhler: Zum Geleit. In: Dem Führer. Gedichte für Adolf Hitler. Hg. v. Karl Hans Bühner. Stuttgart, Berlin 1939, unpag. Vgl. zu eben dieser Literaturauffassung auch Karl Hans Bühner: Zeitgedanken. Um Geist und Leben. Stuttgart, Berlin 1940, S. 24 f. („Große Männer“). 354 Zit. n. der Reproduktion in Zeller (Hg.): Klassiker in finsteren Zeiten, Bd. 1, S. 135.
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Kontext die Herkunft nicht ansähe“.355 Obwohl dem Diktator sehr wohl spezifisch gehuldigt, ihm nämlich das Verdienst einer Wiederbelebung von „des Reiches helle[m] Haus“ zugesprochen wird, fallen Gestus und Ton des sonettförmigen Textes aus dem Rahmen des Buches: Stille Worte nennt man Segen Sollen ihm aufs Haupt sich legen, weil er Stirnen uns erhoben, aus den Augen Schlaf gestoben, welche heut sich freudig feuchten und in seine Augen leuchten, die in ihre Becher gossen, einen Glanz, der war zerflossen. Holend aus der Schatten Graus rief er, was sich mied, heraus um des Reiches helles Haus. Stille Worte nennt man Segen, sollen ihm aufs Haupt sich legen, wenn sich Abgrunds Geister regen.356
Sich aus dem Spektrum liturgischer Formen wie Gebeten, Weihesprüchen und Salusformeln zu bedienen, ist soweit charakteristisch für die Literatur des Dritten Reichs. Auch die Schlusswendung „wenn sich Abgrunds Geister regen“, die in einem jüngeren Kommentar zu dem Gedichtband herausgestellt wurde,357 ist als Anerkenntnis einer dämonischen Gefährdung des Dritten Reichs in jenem chiliastischen Horizont verankert, an dem Agnes Miegel, unmittelbar vor Ehrlers Beitrag, die Weltuntergangsfeuer entzündet.358 Hitler erscheint damit im Bild des Erzengels Michael, der Luzifer niederhält – eine Analogie, die kirchlicherseits durchaus gedeckt war, da der Kölner Kardinal Schulte und andere Bischöfe den 355 Zeller (Hg.): Klassiker in finsteren Zeiten, Bd. 1, S. 136. Kritischer die knappe Einschätzung bei Lionel Richard: Deutscher Faschismus und Kultur aus der Sicht eines Franzosen. Berlin 1982, S. 139. 356 Hans Heinrich Ehrler: Zum 20. April 1939. In: Dem Führer. Gedichte für Adolf Hitler. Hg. v. Karl Hans Bühner. Stuttgart, Berlin 1939, S. 52. 357 Prescher: Peinliche Poesie. 358 Agnes Miegel: Dem Schirmer des Volkes. In: Dem Führer. Gedichte für Adolf Hitler. Hg. v. Karl Hans Bühner. Stuttgart 1939, S. 49 f.
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50. Geburtstag Hitlers mit Messen zu Ehren des Heiligen Michael, des Schutzpatrons des Deutschen Reichs, feierten.359 Als teuflisch galt dabei nicht nur der Bolschewismus, sondern grundsätzlich der Geist der Auflehnung gegen göttliche und staatliche Autorität. Segensbitten für den ‚Führer‘ sind auch von Geistlichen, z.B. vom bayerischen Landesbischof Hans Meiser zum sogenannten Tag der Machtergreifung im Januar 1937, vielfach belegt und bezeichnend für den politisch-religiösen Grenzverkehr zwischen Immanenz und Transzendenz.360 Ehrlers Praxis der literarischen Seelsorge konnte daran anschließen, dem Motiv aber zugleich eine im eigenen Interesse quasisubversive Wendung geben. Gegenüber den anderen ‚Führer-Gedichten‘ des Bandes, die fast durchgehend als Gemeinschaftslieder mit einem lyrischen ‚Wir‘ funktionieren, nimmt sich Ehrlers lyrisches Ich eine ungewöhnliche Intimität heraus, tritt Hitler auf eine Weise nahe, die den Dichter als Segnenden, das Gedicht als Segen setzt. Hatte sich Carossa „aus der Verlegenheit […] helfen“ wollen, indem er „es vermied, das gefährliche Geburtstagskind unmittelbar anzureden“,361 geht Ehrler den genau umgekehrten Weg und erlaubt sich die Nähe des Geronten, des „geehrten Alten“, der die „Kinder der schönsten Kraftgefühle“ unter seine Fittiche nimmt und an den „grosse[n] Waltende[n]“ als den Herrn der Geschichte erinnert.362 Mit der Situation ‚Auge in Auge‘ komplementiert der Verfasser seinen Stimme-Essay vom Vorjahr. Die Relation zwischen der Priesterlichkeit des Dichters und der Kreatürlichkeit des seinen Geburtstag Feiernden ist nun jedoch wiederhergestellt und mit einem katechetisch-belehrenden Ton untermauert. Hitler wird als neuer Katechon legitimiert und zugleich im Namen des ‚Inneren Reichs‘ patronisiert. Mit dem Gedicht Zum 20. April 1939 trug Ehrler zu dem statusbewussten Projekt der antimodernen, gott- und naturnahen ‚Geistigen‘ bei, den ‚Führer führen‘ zu wollen und dabei den eigenen, aus dem Priestermythos abgeleiteten Alleinvertretungsanspruch für das abendländische Geisteserbe zu verteidigen.
359 Vgl. Karl-Joseph Hummel: Die deutschen Bischöfe. Seelsorge und Politik. In: Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten. Hg. v. dems. u. Michael Kißener. Paderborn, München u.a. 2010, S. 101–124, hier S. 117. 360 Vgl. Kershaw: The ‚Hitler Myth‘, S. 111, sowie grundsätzlich Irene Nowell: Macht der Segnung – Segnung der Macht. Grundlegende Erwägungen. In: Concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie 21 (1985), S. 81–88. 361 Carossa: Ungleiche Welten, S. 73. 362 Ehrler: Rede bei der Verfassungsfeier, Bl. 4.
VI. ‚Inneres Reich‘ und ‚Innere Emigration‘?
1. „eine Brücke in die Zukunft schlagen“: Symptome der ‚Inneren Emigration‘
Entgegen ihren christlich-reichsvisionären Unterstützungsdiensten für das Dritte Reich blickten die betreffenden literarischen Dienstleister auf den Zeitraum vorwiegend als „stille Schaffensjahre“1 zurück, in denen sie als „christlich verseucht“2 gegolten hätten und wegen ihrer konfessionellen Überzeugungen benachteiligt oder sogar angefeindet gewesen seien. Hans Heinrich Ehrler berief sich unspezifisch unter anderem auf angebliche Anwürfe gegen seinen Roman Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm im SS-Organ Das Schwarze Korps, auf einen vermeintlichen, religiös-weltanschaulich motivierten Bruch mit seinem Verlag Langen Müller und auf seine Migration in ein ausgesprochen kirchliches Milieu. Die Schwelle der Trennung vom Nationalsozialismus soll demnach das Jahr 1939 gewesen sein. Als Zeuge für den Augenblick einer christlich motivierten Rückzugsentscheidung führte der Schriftsteller 1949 namentlich seinen alten Duzfreund, den Boschangestellten und Volksbildner Bäuerle an, der 1947 bis 1951 als Kultusminister von Württemberg-Baden amtierte.3 Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe von Symptomen dafür, dass Ehrler – allerdings eher ab 1941 – in den größeren, christlich getragenen Strukturen einer ‚Inneren Emigration‘ tätig war. Bis zur sakral tönenden Anthologie auf Hitlers 50. Geburtstag stieß der katholische Dichter auf offene Türen im nationalsozialistischen Literaturbetrieb. Allerdings kam es 1938 zu Machtverschiebungen und Akzentverlagerungen im Langen Müller Verlag, die sich tendenziell zu seinem Nachteil auswirkten: Vertreter der RSK und der Deutschen Arbeitsfront, der Eigentümergesellschaft, stürzten den langjährigen Verlagsleiter Gustav Pezold, weil er sich zu große Freiheiten insbesondere bei der Berücksichtigung klerikal verpflichteter Literatur genommen haben soll.4 Der Parteilose Pezold, früherer Kommandeur der Organisation Consul
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Hohmann: Leben und Werk des Kriegs- und Heimatdichters Josef Magnus Wehner, S. 101. Schöne: Über politische Lyrik im 20. Jahrhundert, Anhang, S. 84 u. S. 87. Vgl. Ehrlers Selbstzeugnis bei Schulz: Hans Heinrich Ehrler, S. 61. Zu Bäuerle vgl. Scholtyseck: Robert Bosch, S. 201 ff. u. S. 225 ff. Zu diesen Vorgängen vgl. Barbian: Literaturpolitik im NS-Staat, S. 62 f., sowie ders.: Zwischen Anpassung und Widerstand. Regimekritische Autoren in der Literaturpolitik des Dritten Rei-
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in deren Oberbezirk Tübingen,5 stand für die Vermittlung zwischen christlichkonservativen und nationalsozialistischen Elementen. 1930 hatte er Ehrlers ältere Werke fast vollständig ins Programm übernommen und seitdem jede Neuerscheinung (insgesamt sechs) unterstützt. Unter der neuen, eher technokratischen Leitung des Parteigenossen Walter Fischer wurde mit Ehrlers Charlotte Anfang 1941 ein Roman abgelehnt, für den die christliche Moral und die regionalistischen Stereotype charakteristisch sind. Die skrupulöse, an der Jahrhundertwende angesiedelte Geschichte um eine Mutter, die ihr uneheliches Kind adoptieren lässt, um sich dann als Amme und Erzieherin um es zu kümmern, beschwört die „deutschen Gaue“ im Allgemeinen als ewige „Blutheimat“.6 Neben der Prüderie um einen Sündenfall, der durch lebenslanges Selbstopfer gesühnt werden muss, fällt sie indes auch durch einen regionalistischen Antagonismus auf, in dem der untreue Verführer ein preußischer Reserveleutnant namens Herbert Granow ist, „im deutschen Süden“ hingegen die „unbegrenzte[] Freiheit“ wohnen und Charlottes Welt wieder heil werden soll.7 Im Umfeld nationalsozialistischer Bevölkerungs- und Zentralisierungspolitik waren diese nostalgischen Anklänge an die süddeutsche Kulturbewegung und die Atmosphäre des Kulturkampfs doppelt inopportun. Hier wehten – typisch für die generationellen Überlagerungen um 1940 – Töne aus dem späten Kaiserreich herüber, nach denen „am süddeutschen Wesen noch einmal die Welt, die uns etwas angeht, genesen“ werde.8 Ein letztes Mal wurde dabei auf dem „Metternich’schen Steckenpferd“ einer süddeutschen, deutschkatholischen und frankophilen Kultureinheit „von Wien bis Straßburg“ geritten.9 Der im Anschluss an Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm entstandene Roman war seit 1935 Gegenstand von Ehrlers Briefwechsel mit den Abendlandkatholiken Abele und Berning, die sich noch bis Ende der 1940er Jahre mit Vorabdrucken und Rezensionen für das Buch einsetzten. Abele hatte dem Autor frühzeitig vorausgesagt, dass er sich namentlich mit den sexualmoralischen Sensibilitäten von Charlotte keine Freunde im Nationalsozialismus machen werde. Dabei reduzierter er die NS-Trägerschaft mehr oder weniger auf das säkularisierte protestantische Milieu:
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ches. In: Schriftsteller und Widerstand. Facetten und Probleme der „Inneren Emigration“. Hg. v. Frank-Lothar Kroll u. Rüdiger von Voss. Göttingen 2012, S. 63–98, hier S. 82. Zur Person vgl. Levsen: Elite, Männlichkeit und Krieg, S. 285. Ehrler: Charlotte, S. 9 u. S. 12. Ehrler: Charlotte, S. 16. Ludwig Thoma: Schwäbische Eindrücke. In: März 8 (1914), S. 11–14, hier S. 13. René Schickele: Süddeutsches Reich, Katholizismus und „Vive la France“. In: März 8 (1914), S. 166–168, hier S. 167.
1. „eine Brücke in die Zukunft schlagen“: Symptome der ‚Inneren Emigration‘ | 363
Sie sind sich wohl selbst darüber klar, daß sich Ihre Dichtung in erster Linie an die katholische Jugend und die Lebendigen unter den erwachsenen Katholiken und natürlich auch an die wirklich Gläubigen unter den Evangelischen Christen richtet. Der liberale Protestant, auch der national-sozial erregte, wird Ihre Dichtung leicht als ‚überspannt‘, als zu wenig naturhaft ablehnen.10
Als einer der hier angesprochenen evangelischen Christen erwies sich der Tübinger Hölderlin-Philologe Paul Kluckhohn, Vizepräsident der Hölderlin-Gesellschaft hinter dem von ihm wenig geschätzten Präsidenten und Ehrlerfreund Gerhard Schumann.11 Kluckhohn vermittelte 1943 die kriegsbedingt erst 1946 erfolgte Publikation von Charlotte im Programm des Tübinger Wunderlich Verlags. Der politisch zurückhaltende Germanist engagierte sich hier aus der Überzeugung heraus, dass in diesem Spätwerk die „wesentlichen Motive“ von Ehrlers früheren Büchern „zu einem vollen Akkord“ zusammenklängen: Der Roman versammle die „heilenden, helfenden und schützenden Kräfte [...], die aus der Tradition des Christentums und der Antike von deutscher Wissenschaft und Dichtung gespeist“ würden.12 Konsequent für eine regimeabgewandte Neuorientierung des Dichters scheint auch seine Zuwendung zu einem streng kirchlichen Verlag zu sein. Es war Abele, der im Sommer 1941 den Kontakt zu Eugen Schüler vom Paderborner Bonifacius Verlag vermittelte.13 Damit begab sich Ehrler unter das Dach des BonifatiusVereins, d.h. derjenigen Organisation des Verbandskatholizismus, die sich unter dem Namen des ‚Apostels der Deutschen‘ auf die innerdeutsche Diaspora- und Missionsarbeit konzentrierte. Hinter dem publizistischen Missionswerk stand eine Zweigorganisation des Vereins, die Akademische Bonifatius-Einigung, welche die Bildungsschichten innerhalb der Diaspora, besonders die katholische Studentenschaft, und damit die potentiellen Multiplikatoren des religiösen Bekenntnisses
10 Theodor Abele an Hans Heinrich Ehrler, 2. Februar 1935, NL Ehrler. 11 Zu Kluckhohns Stellung im Dritten Reich und gegenüber Schumann vgl. Uwe Dietrich Adam: Hochschule und Nationalsozialismus. Die Universität Tübingen im Dritten Reich. Tübingen 1977, S. 93 f. Auch auf Schumanns Installierung in der Hölderlin-Gesellschaft durch Goebbels reagierte er, um die Würde des Dichtergedenkens besorgt, reserviert; vgl. Nils Kahlefendt: „Im vaterländischen Geiste...“. Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe und Hölderlin-Gesellschaft (1938– 1946). In: Hölderlin entdecken. Lesarten 1826–1993. Hg. v. Werner Volke, Bruno Pieger, dems. u.a. Tübingen 1993, S. 115–163, hier S. 142 ff. 12 Kluckhohn an Ehrler, 26. Oktober 1943. 13 Vgl. Theodor Abele an Hans Heinrich Ehrler, 23. August 1941, NL Ehrler.
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ansprach.14 Mit Büchern wie Bernings bemerkenswerter, auch in Ehrlers Nachlassbibliothek vorhandener Anthologie Das ewige Recht. Von der Gerechtigkeit Gottes und der Menschen (1940) erinnerte man – ohne exakte Adressierung, aber doch als ein Thema, das der Zeit nottue – an die naturrechtlichen Normen, die bereits in der Enzyklika Mit brennender Sorge und später im sogenannten Dekalog-Hirtenbrief der Fuldaer Bischofskonferenz für unverbrüchlich erklärt worden sind.15 Staatliche Maßnahmen, die gegen die Grundsätze des in den Zehn Geboten ausgedrückten Naturrechts verstießen, büßten demnach ihren Gehorsamsanspruch ein. Insbesondere sollte jeder Mensch „als Persönlichkeit gottgegebene Rechte“16 besitzen, die ihm durch keine Gemeinschaft entzogen werden könnten. Zu Gottesfurcht und Machtzurückhaltung mahnend, stellte Berning der Sammlung ein Zitat aus Jeremias Gotthelfs Erzählung Die Wege Gottes und der Menschen Gedanken (1848) voran: „Denn es ist die gerechte hohe Hand […], welche die Wache hält und wiegt das Tun der Menschen und austeilt Kronen der Gerechtigkeit oder stempelt mit dem Brandmal der Verwerfung.“17 Berning nutzte mit dieser Anthologie eine Technik des verdeckt zeitkritischen Publizierens, die er mit Abele auch im Wort in der Zeit einsetzte: das Fremdzitat, das potentiell nonkonforme Ansichten aus dem historischen Raum in die nationalsozialistische Gegenwart stellte (s. Kap. VI.2). Die Auswahl von Das ewige Recht versammelt Exempel menschlicher, göttlich gestrafter Hybris aus dem literarischen Kanon besonders des 19. Jahrhunderts. Berning ließ es sich nicht nehmen, hierin auch Annette von Droste-Hülshoffs Die Ju14 Vgl. Stork: Geschichte des Bonifatius-Verlages, S. XXV f., Michael Schmolke: Katholisches Verlags-, Bücherei- und Zeitschriftenwesen. In: Katholizismus, Bildung und Wissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Anton Rauscher. Paderborn, München u.a. 1987, S. 93–117, HansGeorg Aschoff: Die Diaspora zur Zeit der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Herrschaft. In: Katholiken in der Minderheit. Diaspora – Ökumenische Bewegung – Missionsgedanke. Hg. v. Erwin Gatz. Freiburg/Br., Basel u.a. 1994, S. 93–107, hier S. 103 ff., Dieter Langewiesche: Vom Gebildeten zum Bildungsbürger? Umrisse eines katholischen Bildungsbürgertums im wilhelminischen Deutschland. In: Bildung und Konfession. Politik, Religion und literarische Identitätsbildung 1850–1918. Hg. v. Martin Huber u. Gerhard Lauer. Tübingen 1996, S. 107–132, hier S. 109 f., sowie Gangolf Hübinger u. Helen Müller: Politische, konfessionelle und weltanschauliche Verlage im Kaiserreich. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Börsenverein des Deutschen Buchhandels / Historische Kommission. Bd. 1: Das Kaiserreich 1871–1918. Tl. 1. München 2001, S. 347–405, hier S. 374. 15 Vgl. Leugers: Positionen der Bischöfe zum Nationalsozialismus und zur nationalsozialistischen Staatsautorität, S. 131 ff. 16 Pius XI.: Mit brennender Sorge, S. 159. Dazu Raem: Pius XI. und der Nationalsozialismus, S. 88 ff. 17 August Heinrich Berning (Hg.): Das ewige Recht. Von der Gerechtigkeit Gottes und der Menschen. Paderborn 1940, S. 7.
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denbuche (1842) einzuschalten. Obwohl NS-konforme Deutungen dieser Novelle kursierten, in denen man teils die Tatsache eines jüdischen Opfers für peripher halten wollte, teils gerade den ‚jüdischen Rachegeist‘ geschildert zu sehen glaubte,18 wird sie im von Berning hergestellten Kontext dahingehend beleuchtet, dass sich Gottes strafende Gerechtigkeit an dem Judenmörder vollzieht. Im Bonifacius Verlag publizierte Ehrler noch 1941 seine von der ‚verdeckten Schreibweise‘ durchzogene Epigrammsammlung Neuer cherubinischer Wandersmann, deren Titel katholisches Traditionsbewusstsein signalisierte und deren eröffnende Epitaphe auf Angelus Silesius, Jakob Böhme und Meister Eckhart den Nimbus der deutschen Mystik suchten. Im Folgejahr setzte der Autor die Zusammenarbeit mit Eugen Schüler fort, indem er eine Auswahl seiner Erzählungen aus den katholischen Kulturzeitschriften Hochland und Das Wort in der Zeit unter dem Titel Der Morgen versammelte. Auch dieser Band demonstrierte konfessionelle Bindung und zugleich die Verpflichtung auf deutsche Kulturgeschichte. Der Eröffnungstext Der Morgen meditiert auf Philipp Otto Runges gleichbetiteltes allegorisches Gemälde von 1808, verehrt es als Meisterwerk der deutschen romantischen Malerei und betont dabei dessen marianisch-christlichen und mystischen Motive. Der Schlusstext der Sammlung erneuert das franziskanische Bekenntnis: Poverello hieß jetzt die historisch-legendarische Erzählung, die 1926 im Hochland mit Der heilige Franziskus überschrieben war. Die nach dem Erscheinen von Der Morgen geplante Erzählsammlung Wanderer und Pilger erschien nach kriegswirtschaftlich bedingten Schwierigkeiten erst 1950 in dem romtreuen Verlagsprogramm. Sie enthält unter anderem den Wandertext Die italienische Reise (zuerst 1919), in der sich ein deutscher Jüngling in die Obhut eines italienischen Priesters begibt, und die Kriegsopfererzählung Die Heimkehr des Blinden (zuerst 1916), in der ein Soldat sein Augenlicht verloren hat, sich darob aber zum abgeklärten Seher veredelt. Beim Bonifacius Verlag erschien Ehrlers Werk forthin nicht mehr in einem primär literarischen Kontext, sondern zwischen christlichen Lebensratgebern, Predigtsammlungen sowie Papst- und Bischofsworten. Für den praktischen Gebrauchswert seiner erbaulichen Arbeit war dies eine bezeichnende und folgerichtige Umgebung. Parallel zu Ehrlers verlegerischer Neuorientierung verschlechterte sich seine Position gegenüber der RSK und der Deutschen Schillerstiftung, die inzwischen durch die RSK verwaltet wurde. Bei beiden Stellen, die mit seinen bohemistischen Allüren bis dahin viel Geduld gezeigt hatten, war sein Kredit bereits mit 18 So nämlich Langenbucher: Einleitung, S. 23, unter Bezug auf „das starre Gesetz des alten Bundes: Aug um Aug, Zahn um Zahn“.
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der Rempelei gegen Goebbels auf den Weimarer Dichtertagen vom Herbst 1938 drastisch gesunken. RSK-Abteilungsleiter Metzner wies im August 1939 auf die massive Mehrfachförderung des Autors hin und wollte „unter keinen Umständen“ weitere Ehrengaben durch die Schillerstiftung befürworten.19 Generalsekretär Lilienfein glaubte Ehrler „als begabten Dichter doch wohl nicht im Stich lassen“20 zu dürfen, hielt nun aber aktenkundig fest: „Bei aller literarischen Wertschätzung ist E. als Mensch sehr mit Vorsicht anzusehen.“21 In diese Misshelligkeiten versuchte der ehemalige Chefredakteur des Stuttgarter Neuen Tagblattes, Wilhelm Günzler, einzugreifen: Er wandte sich im Winter 1940/41 an Lilienfein, um unter Zurückstellung politischer und verlegerischer Fragen die persönlichen Notumstände des Dichters zu schildern (mehrere Krankenhausaufenthalte seit 1939).22 Schließlich scheint es das Bild einer inneren Emigration abzurunden, dass sich Ehrler verstärkt mit Geistlichen umgab und 1944 sogar damit begann, in seinem Haus die Messe zelebrieren zu lassen. Bei den Seelsorgern handelt es sich zunächst um den jungen, 1909 geborenen Eugen Bernhard Schurr, der seit 1932 als Pater Mauritius in Beuron diente. Ehrler hat ihn Anfang der 1930er Jahre kennengelernt, vermittelt wahrscheinlich durch seinen Schulfreund Maurus Ladenburger, der bereits seit 1899 in dem Donaukloster lebte und dort unter anderem Novizenmeister war.23 Am Rande seiner Kapazität als Vikar der katholischen Stadtpfarrei Böblingen zwischen 1944 und 1946 feierte Schurr die Hausmessen in Waldenbuch, an denen zunehmend auch Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten teilnahmen. Ehrler bezeichnete ihn als „unsere[n] Curaten“24. Die Erzabtei Beuron besaß 19 Kurt Metzner an Heinrich Lilienfein, 18. August 1939, Deutsche Schillerstiftung, Personenakte Hans Heinrich Ehrler, GSA Weimar, Sign. GSA 134/134,4. Zur Person Metzners vgl. Simone Bautz: Gerhard Schumann – Biographie, Werk, Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors. Diss. Gießen 2008, S. 179. 20 Lilienfein an Metzner, 15. August 1939 (Deutsche Schillerstiftung, Personenakte Ehrler). 21 Heinrich Lilienfein: [Aktennotiz], 29. August 1939, Deutsche Schillerstiftung, Personenakte Hans Heinrich Ehrler, GSA Weimar, Sign. GSA 134/134,4. 22 Vgl. Wilhelm Günzler an Heinrich Lilienfein, 4. Dezember 1940, Deutsche Schillerstiftung, Personenakte Hans Heinrich Ehrler, GSA Weimar, Sign. GSA 134/134,4; dies., 18. Januar 1941, ebd. 23 Vgl. Kustermann: Hans Heinrich Ehrler. Zur Rolle von Schurr auch Lempp: Ehrler [2006], S. 60. Vgl. die Fotografie von Ehrler mit „Pater Mauritius, Beuron“, NL Ehrler, Fotoalben. 24 Ehrler an Breucha, 30. September 1945 (Kustermann: Hans Heinrich Ehrler und Hermann Breucha, Nr. 4). Zur weiteren Pfarrversorgung in Waldenbuch bis zu Ehrles Tod vgl. Rainer Bendel: Die Aufnahme von Vertriebenen in katholischen süd- und südwestdeutschen Diasporagebieten. In: Aufnahme – Integration – Beheimatung. Flüchtlinge, Vertriebene und die „Ankunftsgesellschaft“. Hg. v. Josef Pilvousek u. Elisabeth Preuß. Berlin, Münster 2009, S. 61–85, hier S. 69 ff.
1. „eine Brücke in die Zukunft schlagen“: Symptome der ‚Inneren Emigration‘ | 367
seit der Unterstützung für Edith Stein im Jahr 1933 einen Ruf dafür, namentlich in Auseinandersetzung mit dem traditionell deutsch-nationalen und weithin NSfreundlichen Maria Laach, regimekritische Haltungen zu unterstützen und insbesondere den Rassismus sowie die sakralen Anmaßungen des Dritten Reichs abzulehnen. Schurr, Bibliothekar und später Katechet des Klosters, zeitweilig Sekretär von Erzabt Raphael Walzer und geistlicher Begleiter der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, sympathisierte zweifellos mit der Gegnerschaft zum Nationalsozialismus.25 Dabei beschränkte er sich auf die Rolle des Zeugen und auf die Seelsorge, die er in Zeiten einer erhöhten Bedrohung des Seelenheils für das einzig sichere Tor zu einer „übernatürlichen Wirklichkeit“26 hielt: unzweideutiger als Natur und Kunst, obwohl sich Beuron Ende des 19. Jahrhunderts gerade als Zentrum einer modernen Schule der Sakralkunst etabliert hat. Der zunehmend ‚mobile Messeinsatz‘ wie von Schurr bei Ehrler gehörte ins Programm geistlichen Agierens zu Ende des Krieges,27 wie die Nachfrage nach amtskirchlicher Betreuung in der kriegsgeängstigten Bevölkerung generell anstieg.28 25 Vgl. Joachim Köhler: Wiedergutmachung auf Grund der Aufarbeitung der Geschichte. Bausteine zur Biographie des Erzabtes von Beuron Raphael Walzer, 1888–1966. In: „Mehr nützen als herrschen!“ Raphael Walzer OSB, Erzabt von Beuron, 1918–1937. Hg. v. Jakobus Kaffanke u. dems. Berlin, Münster u.a. 2008, S. 53–108, Thomas Jansen: Wider den „Irrwahn“ der Massen. Erzabt Raphael Walzer und Eugen Bolz als Gegner des Nationalsozialismus. In: ebd., S. 294–330, sowie Konrad Repgen: Hitlers „Machtergreifung“, die christlichen Kirchen, die Judenfrage und Edith Stein. Eingabe an Pius XI. vom 9. April 1933. In: Edith Stein-Jahrbuch 2004, S. 31–68. Zum Dissens zwischen Maria Laach und Beuron auch Motschenbacher: Katechon oder Großinquisitor?, S. 165 ff., sowie Marcel Albert: Die Benediktinerabtei Maria Laach und der Nationalsozialismus. Paderborn, München u.a. 2004, S. 44 ff. Zur Schurr und Stein vgl. Waltraud Herbstrith (Hg.): Edith Stein – eine große Glaubenszeugin. Leben, neue Dokumente, Philosophie. Annweiler 1986, S. 162; zu Schurr und der „Weißen Rose“ Jakob Knab: „Verhindert das Weiterlaufen dieser atheistischen Kriegsmaschine!“ – Religion als Leitlinie bei Hans Scholl. In: „Wider die Kriegsmaschinerie“. Kriegserfahrungen und Motive zum Widerstand der „Weissen Rose“. Hg. v. Detlef Bald. Essen 2005, S. 34–56, hier S. 43. 26 Mauritius Schurr: Die übernatürliche Wirklichkeit der Pfarrei. In: Benediktinische Monatsschrift 19 (1937), S. 81–106, hier S. 81. 27 Vgl. Martina Steber: Zwischen Seelsorge, Wehrkraftzersetzung und lokaler Verantwortung. Katholische und protestantische Geistliche am Ende des Krieges. In: Das Kriegsende in BayerischSchwaben 1945. Hg. v. Peter Fassl. Augsburg 2006, S. 55–78, hier S. 62 ff. 28 Vgl. Gailus u. Nolzen: Viele konkurrierende Gläubigkeiten – aber eine „Volksgemeinschaft“?, S. 21 ff., Sven Granzow, Bettina Müller-Sidibé u. Andrea Simml: Gottvertrauen und Führerglaube. In: Volkes Stimme. Skepsis und Führervertrauen im Nationalsozialismus. Hg. v. Götz Aly. Frankfurt/M. 2006, S. 38–58, hier S. 56 f., sowie Joachim Köhler u. Damian van Melis: Einleitung. In: Siegerin in Trümmern. Die Rolle der katholischen Kirche in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Hg. v. dens. Stuttgart, Berlin u.a. 1998, S. 11–17.
368 | VI. ‚Inneres Reich‘ und ‚Innere Emigration‘?
Ehrlers zweiter und wichtigerer Hausgeistlicher war der 1902 geborene, in Tübingen und München ausgebildete, von den Theorien Hefeles herkommende Theologe Hermann Breucha, der in der Pfarrsoziologie und in der Geschichte der ökumenischen Bewegung schon kein unbeschriebenes Blatt ist.29 Mit drei anderen jungen Theologen pilgerte der damalige Kaplan von St. Eberhard in Stuttgart erstmals am 1. Mai 1933 nach Waldenbuch, als – wie er sich unter ausdrücklich politischen Auspizien erinnert – „die ganze Stadt vom Lärm endloser marschierender Züge erfüllt war“ und man bei Ehrler Zuflucht, ja Erbauung suchte: „ein wahres exercitium pastorale“, um „ein inwendig Reicher und Gestärkter [zu] werden“.30 Breucha hatte zuvor bereits fast alle Bücher Ehrlers gelesen, die liberalkatholischökumenisch grundierten Romane Die Reise ins Pfarrhaus und Briefe aus meinem Kloster ebenso zustimmend wie die heimatselig-urbanisierungskritischen Reisefeuilletons Reise in die Heimat und Meine Fahrt nach Berlin.31 1934 begründete er das Programm einer „Religiösen Bildungsarbeit der katholischen Gemeinde Stuttgart“ unter anderem mit dem Ziel, Welt und Leben „aus katholischer Schau zu sehen und zu formen“.32 Unter dem Einfluss Hefeles, der sich zur selben Zeit in der katholischen Erwachsenenbildung in Ostpreußen engagierte, ging es hier nicht zuletzt darum, ein katholisches Eigenbewusstsein gegen weitergehende Verflechtungen mit dem Nationalsozialismus zu entwickeln. Gerade Kunst und Literatur schienen Breucha aufgrund ihrer Bindung an eine zweitausendjährige 29 Ausführlich zu ihm Werfer: Hermann Breucha, über seine Beziehung zu Hefele hier S. 38 f., zu Ehrler S. 151 ff. Zu seiner Ausbildung und seinen Tätigkeitsfeldern vgl. die Dokumente bei Erwin Gatz (Hg.): Wie Priester leben und arbeiten. Quellen zur Lebenskultur und Arbeitswelt des deutschen Seelsorgeklerus seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Regensburg 2011, S. 51, S. 84, S. 182, S. 263 f., S. 343, S. 371. Zu Breuchas Gründungs- und Führungsrolle im Stuttgarter Una Sancta-Kreis vgl. die Dokumente bei Joachim Köhler (Hg.): Katholiken in Stuttgart und ihre Geschichte. Ostfildern 1990, S. 86–90 und die biografische Notiz ebd., S. 186; ferner Swidler: The History of the Una Sancta Movement, S. 174 ff., sowie Burkard: Ökumenische Tradition?, S. 144. Über die Beziehung zu Ehrler ergiebig Kustermann: Hans Heinrich Ehrler und Hermann Breucha. – Zum Gedenken an Hefele vgl. Breucha: Erinnerung an Hans Heinrich Ehrler (1961): „In dieser Runde hörten wir auch immer wieder den Namen des Freundes nennen, dem er in jener Welt begegnet war und mit dem ihn bis zu dessen Tod eine ungeteilte Freundschaft verband: Herman Hefele. Keiner hat ihn (Hans Heinrich Ehrler) noch besser erkannt als Herman Hefele, und sein Urteil über ihn wiegt mehr als alle Elogen wohlgesinnter Freunde oder alle beckmesserische Kritik. Hefele war ein unbestechlicher Kritiker, denn er war selbst der Meister der Sprache, er wußte mehr als alle von dem Gesetz der Form. Ich habe einige Briefe von Hefele an Ehrler in Abschrift.“ 30 Breucha: Erinnerung an Hans Heinrich Ehrler (1952). 31 Vgl. Breucha: Erinnerung an Hans Heinrich Ehrler (1961). 32 Zit. n. Werfer: Hermann Breucha, S. 139.
1. „eine Brücke in die Zukunft schlagen“: Symptome der ‚Inneren Emigration‘ | 369
abendländische Kultur dazu geeignet, die christliche Persönlichkeit im Menschen zu erwecken und zu stärken.33 In diesem Sinne verkehrte er mit Ehrler, berichtete im Archiv für christliche Kunst von Erfahrungen in Italien34 und beteiligte sich besonders seit 1937 an den Beuroner Künstler-Einkehrtagen.35 1938 wurde er Pfarrer der Mariä Himmelfahrtskirche in Stuttgart-Degerloch. Zusammen mit dem Geistlichen der evangelischen St.-Markus-Gemeinde, Rudolf Daur, stand er 1940 am Beginn des starken Stuttgarter Flügels der Una Sancta-Bewegung zur Wiedervereinigung der Christenheit, mit der die ökumenische Idee – über den Ökumenischen Bund und dessen ursprünglich Una Sancta betitelte Zeitschrift hinaus (s. Kap. IV.5) – erstmals größere Gesellschaftskreise bewegte und in der die frühere Versuchung zur ‚braunen‘, ‚volksgemeinschaftlichen‘ Ökumene zumindest sehr nachgelassen hat.36 Nach dem Krieg machte sich Breucha als Rundfunkpfarrer einen Namen und begründete die konfessionsübergreifende Theologische Arbeitsgemeinschaft des Stuttgarter Klerus. Er begleitete seinen Freund Ehrler noch 1951 an dessen Sterbebett und hielt den Trauergottesdienst mit einer Grabrede,37 in der er sich zu einer spirituellen Arbeitsgemeinschaft im Zeichen Hefeles bekannte und zeitgeschichtlich-politische Reminiszenzen auf spätere Gelegenheiten, die Gedenkfeiern der Jahre 1952 (80. Geburtstag) und 1961 (zehnter Todestag), verschob (s. Kap. VII.2). Tatsächlich war ihm Ehrler durch das Dritte Reich hindurch der schwierige Freund, der er auch dem bereits 1936 verstorbenen Hefele gewesen wäre. Breucha hat dem Dichter des liebenden Synkretismus in den Arm zu fallen versucht, als dieser dem Dritten Reich die Hand reichte. Damit hat er zumindest einige symptomatische Schwankungen in Ehrlers Schreibhaltung, die ‚verdeckte Schreibweise‘, mit verursacht.
33 Vgl. z.B. Hermann Breucha: Hoffnung auf das Ewige. Ausgewählte Predigten. Hg. v. Franziska Werfer. Weißenhorn 1983, S. 57–60 („Gefährdetes Christenleben“). 34 Vgl. Hermann Breucha: Tintoretto. In: Archiv für christliche Kunst. Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins 40 (1925), S. 81–83. 35 Vgl. die Titelliste seiner Beuroner Vorträge bei Werfer: Hermann Breucha, S. 322. Zu Breuchas Engagement im Kunstverein der Diözese Rottenburg-Stuttgart vgl. Erich Endrich: Stadtpfarrer Dr. Hermann Breucha zum Gedächtnis. In: Heilige Kunst. Mitgliedsgabe des Kunstvereins der Diözese Rottenburg-Stuttgart 1978, S. 213 f. 36 Zur Una Sancta-Bewegung ausführlich Ernesti: Ökumene im Dritten Reich, S. 182 ff. 37 Vgl. den Abdruck bei Kustermann: Hans Heinrich Ehrler, S. 71–73.
370 | VI. ‚Inneres Reich‘ und ‚Innere Emigration‘? 2. „Man darf seine Tränen nicht verraten“: Konditionen der ‚verdeckten Schreibweise‘
In einem bemerkenswerten Brief vom Oktober 1943 bat Hans Heinrich Ehrler den Archivar des Schillernationalmuseums, Helmut Paulus, „meine größeren und kleineren Lebensäußerungen politisch-vaterländischer Art in deutschen Zeitungen“ zu sammeln. Dabei verstand er sich als Mahner, der laufende Fehlentwicklungen lange vorhergesagt habe, ohne (richtig) verstanden worden zu sein: „Der Gedanke“, seine politischen Äußerungen zu sichten und einzuordnen, mache ihm, schrieb er, „seit langem zu schaffen“, denn „meine Stimme war wohl eine Vox, eine einsame“.38 Dass der Dichterprophet ein solches kassandrisches Selbstverständnis entwickelte, hat mit seinen expliziten Hybriswarnungen in der Verfassungsfeierrede von 1932 zu tun, aber auch mit jüngeren Texten, in denen er auf weniger direkte Weise machtkritisch gewesen sein und das bevorstehende Gottesgericht beschworen haben wollte. Die gewalttätigen Alltagsverhältnisse des Dritten Reichs waren dem Waldenbucher ‚Einsiedler‘ jedenfalls nicht verborgen geblieben. Über die radikalen Unsicherheiten jüdischer Existenz orientierte ihn, im Juli 1937, sein zionistischer Briefpartner Jacob Picard. Der Suizid des jungen nonkonformistischen Schriftstellers Eugen Gottlob Winkler überschattete, ebenfalls im Juli 1937, die Feier seines 65. Geburtstag, auf der die eingeladenen Germanisten des Tübinger Alumnus gedachten.39 Pongs’ Verserzählung Der Geburtstag des Dichters, in erster Linie freilich eine Laudatio auf den Jubilar, präsentiert den schwäbischen Akademikerkreis um Ehrler in tiefer politischer Verunsicherung. Der führende Germanist, der nachmals, 1940, in die NSDAP eintrat und 1942 von der TH Stuttgart an die Universität Göttingen avancierte, reflektierte hier noch ausdrücklich auf den „Terror der Zeit“ und die „verschärften Methoden“, schloss mit der Mahnung und Frage: Aber das Winklersche Ende, das wollen wir niemals vergessen! Nirgends mehr sah er den Ausweg, und sehen wir selber noch einen?40
38 Ehrler an Paulus, 14. Oktober 1943. 39 Vgl. Pongs: Der Geburtstag des Dichters, S. 189. 40 Pongs: Der Geburtstag des Dichters, S. 189. Zu Winkler, der in Tübingen politisch denunziert, durch die Gestapo verhört und von der Universität religiert wurde, vgl. Durs Grünbein: Bis ans Ende der Linie. Über Eugen Gottlob Winkler (1912–1936). In: Eugen Gottlob Winkler: Die Erkundung der Linie. Erzählung, Aufsatz, Gedicht. Hg. v. dems. Leipzig 1993, S. 259–281, hier bes. S. 261–264.
2. „Man darf seine Tränen nicht verraten“: Konditionen der ‚verdeckten Schreibweise‘ | 371
Auch im katholischen Umfeld hat man Ehrler ausreichend deutlich auf Repressionen und selbst Verfolgung aufmerksam gemacht. Der Münchner CatholicaVerleger Erich Wewel hat ihm zwischen Ende 1937 und Mitte 1939 – in Anspielung auf Zensurakte, Beschlagnahmungen und Verhöre – mehrfach bedeutet, dass „wir [...] so viel Mühseligkeiten zu überwinden [haben]“.41 Abele eröffnete ihm 1940 das „unsägliche[] Martyrium“ seines „von den NS zu Tode gehetzt[en]“ Bruders und ermutigte ihn dazu, „unseren Freunden [zu] zeigen, wo wir stehen und zugleich eine Brücke in die Zukunft [zu] schlagen“.42 Mit dieser Zukunft waren ein föderalistisch-dezentral geprägtes ‚anderes Deutschland‘ gemeint und die Unhaltbarkeit der Gegenwartsverhältnisse umschrieben. Insbesondere der Krieg ließ sich für Abele zunehmend schwerer rechtfertigen. Seine christliche Opferfreude stieß jedenfalls dort auf Grenzen, wo das Leiden den Glauben nicht mehr förderte, sondern die eigene katholische Orientierungsarbeit auf dem Spiel stand: „Ich persönlich habe in diesem Krieg Furchtbares erlitten“, schrieb er im Juli 1942 an Ehrler und meinte nicht allein das Familiäre, sondern die Kriegsgefallenen des Freundes- und Schülerkreises, den er um den Wallfahrtsort Werl versammelt hatte: „Ein großer Teil der in ihnen verkörperten Lebensarbeit ist dahin.“ Konsolation sollte aber weiterhin vom Dichter kommen: „Umso treuer halten wir Uebriggebliebenen zu Ihnen – und zu dem Werk von Herman Hefele […]. Gott erhalte Sie uns noch lange und gebe Ihnen die Gnade weiteren Schaffens.“43 Sich zu Ehrlers Intimus Hefele zu bekennen, hieß für Abele Bekenntnis zur gesellschaftlichen Erneuerung aus dem Geist der Liturgie, hieß mithin Erinnerung an einen katholischen Akademiker, der bis zu seinem Tod 1936 die Christdemokratie über den Faschismus gestellt hatte. Sehr bedingte Ansätze regimekritischer Kommunikation standen Ehrler in seinem bildungskatholischen Hausblatt Das Wort in der Zeit vor Augen. Am zweideutigsten schrieb hier der kulturphilosophische Hauptbeiträger Alois Dempf, der „dem Führer die Ehre, die ihm gebührt“, geben wollte und eine „Übersteigerung des Führergedankens“ für möglich hielt.44 Die Redaktionsleiter Abele und Berning operierten zum Teil mit Fremdzitaten, um themenspezifische Distanzen zum NSStaat auszudrücken. So mit einem längeren, selbstständig abgedruckten Maritain-
41 Wewel an Ehrler, 26. Juni 1939. Vgl. bereits Erich Wewel an Hans Heinrich Ehrler, 15. Dezember 1937, NL Ehrler: „Und wir wollen nicht ablassen, Ihnen neue Freunde zu gewinnen. Wir denken noch oft an die Stunden, da Sie bei uns waren.“ 42 Abele an Ehrler, 16. Juni 1940; Abele an Ehrler, 24. Oktober 1940. 43 Theodor Abele an Hans Heinrich Ehrler, 1. Juli 1942, NL Ehrler. 44 Dempf: Autorität und Macht, S. 22 f. (Hervorhebung StKT).
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Zitat gegen Judenverfolgung,45 aber auch mit einem Leserbrief, in dem 1937 eine junge Frau aus dem Rheinland über die deprimierenden Lebensumstände berichtete, unter denen sie zu Ehrlers erbaulicher Dichtung Zuflucht nehme. Darin ist zunächst vom Glück in Familie und Heimat die Rede, bevor es weiter heißt: Nun führe ich als „Arbeitsmaid“ in der Magdeburger Förde ein anderes Leben. Neue Welten sind, seitdem ich hier im Arbeitsdienst mit vielen anderen Mädchen zusammen bin, auf mich eingestürzt. Ich bin aus allen lieben Gewohnheiten herausgerissen. Mit den Menschen, die mir teuer sind, bin ich nur durch arme Worte und im treuen Gedenken verbunden.46
Diese Äußerung, die sich von der Sprache des Dritten Reichs (‚Arbeitsmaid‘) distanziert, hat einen deutlich malkontenten Anteil. Die Redaktion hat den Namen der Verfasserin denn auch nur in Initialen wiedergegeben. Allerdings gilt die Kritik nicht dem Reichsarbeitsdienst als solchem: Er war zum gegebenen Zeitpunkt (für die weibliche Jugend) freiwillig, sodass sich hier eine junge Katholikin zunächst einmal im Einsatz für die Aufbauarbeit am Reich zeigt. Kritisch stieß die bevölkerungspolitische Nutzung des Reichsarbeitsdienstes für die Auflösung konfessioneller und regionaler Milieus auf.47 Die im Wort in der Zeit transportierten Vorbehalte blieben so im weitesten Rahmen des Systems: Führergedanke ja, aber nicht dessen Übersteigerung; Reichsarbeitsdienst ja, aber nicht in zentralisierender und nivellierender Absicht. Ähnlich stark konditioniert präsentiert sich das verdeckt zeitkritische Schreiben, das Ehrler vor allem in seiner Lyrik, besonders in den Gedichtsammlungen Unter dem Abendstern von 1937 und Neuer cherubinischer Wandersmann von 1941, zweifellos praktiziert hat. Es sollte auf die erfahrene Gewalt des NS-Alltags reagieren, der (Selbst-)Verständigung namentlich in bildungskatholischen Kreisen dienen und zugleich nicht die Staatsgewalt auf den Plan rufen. Wie die un45 Vgl. Breuer: Die Jahre 1933 und 1934 im Spiegel der katholischen Literatur- und Kulturzeitschriften, S. 410. Zum regimekritischen Einsatz von Fremdzitaten vgl. grundsätzlich Frei u. Schmitz: Journalismus im Dritten Reich, S. 121 ff., sowie Nora Düwell: Die Standesgerichtsbarkeit der Presse im Nationalsozialismus. Das Bezirksgericht der Presse München. Berlin 2008, S. 107 f. 46 Dank an Hans Heinrich Ehrler, S. 9. 47 Vgl. Susanne Watzke-Otte: „Ich war ein einsatzbereites Glied in der Gemeinschaft...“. Vorgehensweise und Wirkungsmechanismen nationalsozialistischer Erziehung am Beispiel des weiblichen Arbeitsdienstes. Frankfurt/M., Bern u.a. 1999, S. 35 ff. Zum Begriff der ‚Arbeitsmaid‘ vgl. Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus. 2. überarb. Aufl. 2007. Berlin, New York 2007, S. 50.
2. „Man darf seine Tränen nicht verraten“: Konditionen der ‚verdeckten Schreibweise‘ | 373
terschiedlichen Techniken dieser ‚verdeckten Schreibweise‘ auch aussahen,48 einte sie die Erzeugung von Kippfiguren, in denen z.B. ein Priester etwas ganz anderes erkennen können sollte als etwa ein Gestapooffizier. Sein Unbehagen artikulierte Ehrler vornehmlich in Bildlichkeiten des unterdrückten Klagens („Man darf seine Tränen nicht verraten“49) und stummen Schreiens („Hilferufe schwellen zu den Kehlen“50). Ausreichend vieldeutig waren Naturszenerien wie des finsteren Tals („Aus der Schlucht nach oben schau!“51) und der bedrohlichen Nacht („Draußen ist Nacht, die Nacht um das Haus, / Nahm, was am Tage gewesen, fort“52). Deutlicher wurde er mit Warnungen vor öffentlichem Wahnsinn („Was aber hat den Markt zum Narrenplatz gemacht?“53) und verderblicher Hybris: Auch Ikaros stürzte vom Sonnenpfeil. Da unten betet ein Mensch um euer und Deutschlands Heil.54
Der jugendlich-ikarische Mangel an Ehrfurcht vor Gott und den Geronten war schon das Leitmotiv in Ehrlers Verfassungsfeierrede von 1932. Es findet sich 48 Dazu grundsätzlich Ehrke-Rotermund u. Rotermund: Zwischenreiche und Gegenwelten, bes. S. 16–24 („Einführung in die Poetik, Rhetorik und Hermeneutik der ‚verdeckten Schreibweise‘“), sowie Erwin Rotermund: Probleme der ‚Verdeckten Schreibweise‘ in der literarischen ‚Inneren Emigration‘ 1933–1945: Fritz Reck-Malleczewen, Stefan Andres und Rudolf Pechel. In: „Gerettet und zugleich von Scham verschlungen“. Neue Annäherungen an die Literatur der ‚Inneren Emigration‘. Hg. v. Michael Braun u. Georg Guntermann. Frankfurt/M., Bern u.a. 2007, S. 17–38; anhand aufschlussreicher Fallbeispiele außerdem Klapper: Stefan Andres’s Publications in the Krakauer Zeitung, ders.: Disputed Non-conformist and „Zwischenreichautor“: A Re-assessment of Ernst Wiechert’s Life and Work in Nazi Germany. In: Oxford German Studies 39 (2010), S. 250–270, sowie Peter Sprengel: Heiliger (deutscher) Geist. NS-Kritik und schöpferische Restauration in Rudolf Borchardts Gedicht Ecclesia Pressa. In: Euphorion 110 (2016), S. 121–133. – Zu Spielräumen der literarischen Resistenz ferner Barbian: Arbeits- und Lebensbedingungen, S. 38 ff. u. S. 50 ff., sowie Ringshausen: Der christliche Protest; zur „Grauzone zwischen Widerwillen und Anpassung“, in der die ‚Innere Emigration‘ existiert habe, gründlich zuletzt Hermand: Kultur in finsteren Zeiten, S. 175 ff. (Zitat S. 177). 49 Hans Heinrich Ehrler: Neuer cherubinischer Wandersmann. Paderborn 1941, S. 16. 50 Ehrler: Unter dem Abendstern, S. 59. 51 Ehrler: Neuer cherubinischer Wandersmann, S. 9. 52 Ehrler: Unter dem Abendstern, S. 92. 53 Ehrler: Unter dem Abendstern, S. 58. 54 Ehrler: Neuer cherubinischer Wandersmann, S. 48. Vgl. den Anfang eines der bekanntesten Sonette von Reinhold Schneider, aus dem Jahre 1937: „Allein den Betern kann es noch gelingen, / Das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten.“ Reinhold Schneider: Lyrik. Hg. v. Edwin Maria Landau. Nachw. v. Christoph Perels. Frankfurt/M. 1981 (= Gesammelte Werke, Bd. 5), S. 54.
374 | VI. ‚Inneres Reich‘ und ‚Innere Emigration‘?
unter anderem auch bei Rudolf Alexander Schröder in dessen Rede Dichter und Volk von 1937.55 Die pessimistischsten Gedichte wurden – ein in Ehrlers Gedichtsammlungen bis dahin nie verwendetes Verfahren – paratextuell auf die 1920er Jahre zurückdatiert. Im Fall des Neuen cherubinischen Wandersmann tritt unter der Überschrift „Anmerkung“ ein verlegenes Nachwort hinzu, in dem der Autor den Klageton auf persönliche Krankheitsumstände zurückgeführt wissen will: „Die Mehrzahl dieser Gedichte entstand in schwerer Krankheit letzter Jahre. Dies sei dem Leser gesagt, der über ihren Ernst sich Gedanken macht.“56 Dieser fadenscheinigen Erklärung vertraute Ehrler selbst so wenig, dass er zum Abschluss des Bandes noch das Gedicht zu Hitlers 50. Geburtstag (Stille Worte nennt man Segen) hinterherschieben zu müssen glaubte – und dies in einem Buch des romtreuen Bonifacius Verlags. Die von Ehrler in seinem Nachwort, aber auch in den Gedichten des Bandes demonstrierte Melancholie lässt sich im Übrigen einer Grundhaltung zuordnen, die in der ‚Inneren Emigration‘, etwa bei Ehrlers Idol Loerke, verbreitet war und den Wunsch nach sozialer Verweigerung ausdrücken konnte.57 Anwandlungen einer „untragbaren Traurigkeit“ und „Untergangsschwermut“ galten auch bei nationalsozialistischen Vertrauten Ehrlers wie Pongs als defätistisch und nicht im Einklang mit der ‚neuen Zeit‘, ja als „Erbe“ ausdrücklich der „älteren Generation“.58 Ehrlers Schwanken zwischen Zeitkritik und Selbstzensur lässt sich bis in den handschriftlichen Nachlass hinein verfolgen. Eines der interessantesten Beispiele bietet ein Gedicht aus der Sammlung Unter dem Abendstern 1937: Orte gibt es noch, Orte, Finstre Kammern der Quälung, Wo vom Irrsinn geschlagen Sitzen Reste von Menschen. Mit gebrochenen Fingern Streichelt einer den andern, Bis die Peiniger kommen, 55 Vgl. Schröder: Dichter und Volk, S. 162. 56 Ehrler: Neuer cherubinischer Wandersmann, S. 67. 57 Umfassend hierzu Erwin Rotermund: Melancholische Literatur von Melancholikern? Zur Lyrik der „Inneren Emigration“ 1933–1945. In: Schriftsteller und Widerstand. Facetten und Probleme der „Inneren Emigration“. Hg. v. Frank-Lothar Kroll u. Rüdiger von Voss. Göttingen 2012, S. 221–241, zu Loerke hier S. 231 ff. 58 Pongs: Zur Lyrik der Zeit, S. 1165 u. S. 1567. Vgl. dazu Rotermund: Melancholische Literatur, S. 223 f.
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Um die Namen zu sagen Für die Mauerwand draußen.59
In einem nachgestellten Klammerverweis datiert Ehrler das Gedicht, dessen Dunkelheit und Drastik vollkommen aus Ehrlers Ton fällt, ostentativ auf 1926 zurück – eine Datierung, die schon deshalb überrascht, weil Ehrler seit Mitte der 20er Jahre zwei Sammlungen neuer Gedichte veröffentlicht hat (Gesicht und Antlitz sowie Die Lichter schwinden im Licht), ohne dass der Lagertext darin vorkäme. Im Nachlass steht ein Entwurf des Gedichts unter dem allerdings erst nachträglich hinzugefügten, dreifach unterstrichenen Titel K. Z.60 Als „Konzentrationslager“ und „K. L.“ wurden auch die sowjetischen Gefangenenlager der 1920er Jahre in der deutschen Rezeption angesprochen; insofern wäre bei der historischen Referenz des Gedichts etwa an die kommunistische Christenverfolgung zu denken, die in der deutschen Presse ein beträchtliches Echo besaß und deren Ehrler anderweitig (in Briefe aus meinem Kloster) angesichts der deutschbaltischen Kirchenlieddichterin und evangelischen Märtyrerin Marion von Klot gedacht hat.61 „KZ“ oder „K. Z.“ bezeichnete aber erst die nationalsozialistischen Lager.62 Vor allem vom Priesterlager Dachau, in dem im Zusammenhang mit dem angeblichen Röhm-Putsch unter anderen der Gerade Weg-Redakteur Fritz Michael Gerlich erschossen wurde, waren Folterungen und Häftlingserschießungen früh in der deutschen Öffentlichkeit bekannt geworden, auch durch Medienberichte von Theodor Heuss aus dem Jahre 1934. Nach dem Krieg zeugte Heuss wiederholt gegen die Behauptung des Gegenteils: „Wir haben von den Dingen gewußt“, erklärte er und nannte Dachau, Buchenwald und Oranienburg.63 Die Enzyklika Mit brennender Sorge bestätigte den Sachverhalt im März 1937, also im Publikationsjahr des Gedichts, indem sie 59 Ehrler: Unter dem Abendstern, S. 60. 60 Hans Heinrich Ehrler: K. Z., NL Ehrler. Der erste Titel lautet Orte!, ist aber mit Tilgungszeichen („d“ für „deleatur“) versehen. Die Entwurfblätter wurden ausgeschnitten und auf ein neues Blatt geklebt, das den Titel K. Z. trägt. 61 Vgl. Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 47. Zu Klot vgl. Siegfried Hermle: Evangelische Märtyrer im Baltikum (1905–1920). In: „Ihr Ende schaut an ...“. Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Harald Schultze u. Andreas Kurschat. Leipzig 2006, S. 127–144, hier S. 141, sowie die Biografie ebd., S. 508. 62 Vgl. Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, S. 353 ff. Zur Berichterstattung über die Sowjetlager Dust: Katholische Erwachsenenbildung, S. 119 f., S. 207 u. S. 213. 63 Zit. n. Merseburger: Theodor Heuss, S. 485. Dazu Robert Gellately: Backing Hitler. Consent and Coercion in Nazi Germany. Oxford 2001, S. 51–69 („Concentration Camps and Media Reports“) u. S. 183–203 („Enemies in the Ranks“). Zu Gerlich vgl. Pahl: Abt Adalbert Graf von Neipperg, S. 216 u.ö.
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jenen Priestern dankt, die bei der Ausübung ihres Amtes „Leid und Verfolgung […] bis in die Kerkerzelle und das Konzentrationslager hinein“64 dulden würden. Es handelte sich um ein von Regimeseite höchst unerwünschtes Thema, das Ehrler hier in einer Weise anfasste, die – mit oder ohne historische Rückdatierung – auf die gewalttätigen Gegenwartsverhältnisse hin transparent war. Je mehr es der nationalsozialistischen Literaturförderung um die geistige Kriegsvorbereitung ging, desto kritischer wurden für den Dichter Beobachtungen und Bewertungen, wie dass das „Kriegserlebnis“ in seinen Romanen „eigentümlich im Zwielicht“ bleibe und dass seine mehr denkenden als handelnden Protagonisten „nur wehleidig“ seien, so ein Urteil von 1935 in der orthodox lutherischen Monatsschrift Zeitwende. Wissenschaft, Kultur, Kirche.65 Dass Ehrler und seine christlichen, heimat- und mutterbezogenen Helden möglicherweise zu weich für die ‚Kruppstahl-Zeiten‘ seien, klang 1936 in einer Charakteristik aus dem Eutiner Dichterkreis an: Der Süddeutsche sei ein „still-besinnlicher Lyriker und Erzähler“ von „stark-betrachtsamer seelischer Einkehr“, zu kontrastieren mit dem „männlich-kräftigen Dichter“ Georg Schmückle, dem Verfasser von aktivistischen Kriegserlebnisromanen wie Haubitzen vor! (1923).66 Bestenfalls zweideutig äußerte sich der Wehrmachtspropagandist Kurt Hesse in seinem Hauptreferat Der Beitrag des deutschen Schrifttums zur soldatisch-kämpferischen Leistung unserer Zeit auf dem „3. Großdeutschen Dichtertreffen“ 1940 in Weimar, das unter dem mobilisierenden Motto Die Dichtung im Kampf des Reiches stand: In Carossas und Ehrlers Verarbeitung des Ersten Weltkriegs werde „auf der einen Seite […] der christlich-katholische Standpunkt sichtbar“; „auf der anderen Seite“ bewiesen die Kriegsbücher von Blunck und Grimm „germanisch-deutsches Volks- und Stammesgefühl“.67 Die Nennung in diesem prominenten Kontext verdankte der 64 Pius XI.: Mit brennender Sorge, S. 163. 65 Eugen Kalkschmidt: Roman-Auslese. In: Zeitwende. Wissenschaft, Kultur, Kirche 11 (1935), S. 177–182, hier S. 178. 66 Christian Jenssen: Deutsche Dichtung der Gegenwart. Leipzig, Berlin 1936, S. 111; vgl. ders.: Die Dichtung des fränkischen Stammesraums. In: Hochschule und Ausland 13 (1935), S. 5460, zu Ehrler hier S. 59 f. Zu Jenssen vgl. Lawrence D. Stokes: Der Eutiner Dichterkreis und der Nationalsozialismus 1936–1945. Eine Dokumentation. Neumünster 2001, bes. S. 344 f. 67 Kurt Hesse: Der Beitrag des deutschen Schrifttums zur soldatisch-kämpferischen Leistung unserer Zeit. In: Die Dichtung im Kampf des Reiches. Weimarer Reden 1940. Hamburg 1941, S. 15–34, hier S. 29. Zu Hesse ausführlich Daniel Uziel: The Propaganda Warriors. The Wehrmacht and the Consolidation of the German Home Front. Oxford, Bern u.a. 2008, S. 39 ff. – Zur literarischen Mobilmachung grundsätzlich Baird: Hitler’s War Poets, S. 1–31, sowie Eva Horn: Literatur und Krieg. In: Nationalsozialismus und Exil 1933–1945. Hg. v. Wilhelm Haefs. München 2009 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 9), S. 287–309. – Zur
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Dichter offensichtlich seinem Freund Herman Pongs, der ihn neben Carossa in einem Kapitel seines Buches Krieg als Volksschicksal im deutschen Schrifttum von 1934 behandelt hatte. Der preußisch-protestantische Militärschriftsteller Hesse übernahm allerdings nicht die eindeutig positive Bewertung durch Pongs. Die Betonung des Katholischen dieser christlichen Literatur zusammen mit der scharfen Absetzung vom Germanisch-Deutschen enthielt einen kulturkämpferischen Beigeschmack, unter dem die beiden Seiten mehr getrennt als im Gleichgewicht miteinander erschienen. Wenn die Literatur des Dritten Reichs, wie Ketelsen sagt, „nur zwei Themenkomplexe“ kannte, nämlich „die als (völkische) Gemeinschaft befriedete Gesellschaft“ und „die zum ‚Kampf ‘ stilisierte Bereitschaft zur aggressiven Problemlösung“,68 dann hat sich Ehrler am einen bedingungslos, am anderen nur bedingt beteiligt. Krieg bedeutete für Ehrler, wie er in Die Heimkehr des Blinden, im Baumeister Wilhelm und 1936 auch im Wort in der Zeit dargelegt hat, eine Krise des Glaubens, nämlich ein „Schuttfeld zerbröckelnder Beweise“, und erst in dem, was sich daraus machen und lernen ließ, ein potentieller „Sauerteig der Einigung“. Diese Einigung sollte wiederum auch die christlichen Konfessionen erfassen, angefangen bei den Feldgeistlichen, die zur Stärkung der Glaubensfront das interkonfessionelle Gespräch aufnehmen69 – so in Ehrlers Dichtung zum Ersten Weltkrieg, nicht jedoch in dessen historischer Realität, in der die kirchlichen, über die Seelsorge hinausgehenden Einflussmöglichkeiten auf die allgemeine Truppenbetreuung (Soldatenheime, Buchversorgung) konkurrenzverschärfend wirkten und der Antiprotestantismus katholischer Militärseelsorger aus Sorge vor einer relativen konfessionellen Positionsverschlechterung durch den Krieg nicht ab-, sondern zunahm.70 Im Ersten Weltkrieg schrieb Ehrler (wie im Haus- und Feldbuch) schon nicht nur für die Heimatfront, sondern ebenso für das Feld. Seine Absicht bestand hierbei weder in ablenkender Unterhaltung noch in anfeuernder Agitation, sondern im Trost und in der Gemütserhebung: denjenigen Leistungen, für die er als ersatzpriesterlicher Erbauungsschriftsteller ausgewiesen war und mit denen sich auch die reguläre Militärgeistlichkeit bei Stabsstellen und Politik empfahl, um ihre (im Zweiten gegenüber dem Ersten Weltkrieg stark abnehmende) Förderung zu sichern und eine Position Carossas unter den Kriegsumständen vgl. Volker Michels: Hans Carossa – zu weich für Zeiten, die „hart wie Kruppstahl“ waren? Überlegungen anläßlich der erstmaligen Edition seiner Briefe. In: Hans Carossa. Dreizehn Versuche zu seinem Werk. Hg. v. Hartmut Laufhütte. Tübingen 1991, S. 186–198. 68 Ketelsen: Nationalsozialismus und Drittes Reich, S. 307 f. 69 Ehrler: Sauerteig der Einigung, S. 769. 70 Quellenreich hierzu Haidl: Katholizismus im deutschen Heer, S. 264 u. S. 270 ff.
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erhoffte Revitalisierung der Religion im Krieg institutionell aufzunehmen.71 Diese Erbauung schloss eine Opfertheologie ein, in welcher der Krieg keinen militärischen Sinn haben musste, sondern Gelegenheit zum an sich wertvollen Fürtod war. Wie der Hochmeister Maximilian Franz in Ehrlers Schauspiel sagt, als er seine Ritter in den Krieg gegen Frankreich schickt: „Meine Söhne, gehet! Auch wenn der Weg vergebens ist. Von den Rittern des deutschen Ordens ist mehr als die Hälfte nicht im Bett gestorben.“72 Im Rahmen seines größeren Sinnstiftungsprojekts hat Ehrler 1925 einen bereits Anfang 1918 begonnenen Kriegsroman, Wolfgang, vorgelegt, der es an Inanspruchnahmen des deutschen Geistes für den Krieg nicht fehlen lässt. Der Jugendliche Wolfgang, den Vornamen Goethes und Mozarts tragend, kommt aus der süddeutschen Gelehrtenfamilie Schelling. In einer Nebenfigur, Ernst Moritz Roschmann, Wolfgangs einige Jahre älterem Freund, wird zudem auf den Greifswalder Germanisten Ernst Moritz Arndt abgehoben, damit aber auf ein historisches Kontinuum zwischen Befreiungskriegen und Erstem Weltkrieg. Auf dieser kulturpatriotischen Grundlage legt Ehrler eine Perspektive bürgerlicher Humanismus-Ideologie an den Krieg an, so im Feldbrief von Wolfgangs Vater: „was da draußen geschieht, ist schaurig. […] Wie ein Tier kam der Krieg über mich gekrochen. Am Ende sind wir doch nur Werkzeuge eines sinnlosen Mordes und ganz von Gott verlassen?“73 Eindeutig steht die katholisch-frankophile, auf eine kulturell basierte Elitenverständigung ausgerichtete Abendlandbewegung hinter dem Motiv, dass die Figur dieses Briefschreibers Französischlehrer am Gymnasium ist und eine frontenüberschreitende Korrespondenz mit einem französischen Germanisten unterhält, dies unter der Sinnperspektive: „Vielleicht ist der Krieg, daß nachher die Brücke sichtbar wird“, nämlich, wie es in der Semantik des ‚Inneren Reichs‘ heißt, „die unsichtbare Brücke der Seelen und Geister“, die „über den blutig zerrissenen Völkern nicht zerbrechen“ dürfe.74 71 Vgl. Bergen: Christianity and Germanness, S. 79 ff., für das Kaiserreich zusammenfassend Rohkrämer: Der Militarismus der „kleinen Leute“, S. 204 f.: „Die Militärseelsorge sollte primär mit der Förderung von Gehorsam und Pflichteifer der Soldaten zum Funktionieren des militärischen Apparates beitragen. […] Wie der Staat die Religion zu seiner Legitimation benutzte, so suchten die Kirchen die staatliche Anerkennung als Hilfe im Kampf gegen die Säkularisierung.“ 72 Ehrler: Der Spiegel des Hoch- und Deutschmeisters Maximilian Franz, S. 33. Zur ausschließlich opfertheologischen und martyrologischen Verwendung christlicher, von katholischer Marienverehrung getragener Motive im Kriegsroman Wehners vgl. Baird: Hitler’s War Poets, S. 73 f. 73 Ehrler: Wolfgang [Buchausgabe 1925], S. 76. 74 Ehrler: Wolfgang [Buchausgabe 1925], S. 10. Vgl. Conze: Das Europa der Deutschen, S. 32, über das Verständigungskonzept der ‚Abendländer‘: „Man begriff Verständigung primär als kulturelle Begegnung nationaler Eliten.“
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Die Kriegsschuld wird unmissverständlich dem Kaiserreich und dessen Anbetung des goldenen Kalbs zugewiesen: „Das Reich war in falschen Gewichten gefügt und trug verborgenen Riß. Es war nicht das ganze Reich, noch das Reich des Geistes. […] So wurde der Krieg, in dem jetzt die Welt grauenhaft gegen uns liegt.“75 Der Protagonist des Romans, der kunstsinnige Wolfgang, im letzten Kriegsjahr nur 16 Jahre alt, nimmt selbst nicht am Gemetzel teil, sondern kommt anhand der Feldbriefe zu dem – für Pongs dezidiert ungenügenden – Ergebnis, „seine Hände vom Blut rein halten“ zu wollen.76 Sein Ideal findet er im heiligen Christophorus, seine Aufgabe in der Fürsorge für die Mutter. Eben unter abendlandtheoretischen Prämissen hat der Kriegsskeptiker Abele den Roman 1941 als „das beste Kriegsbuch“ bezeichnet, das er kenne.77 Ehrler hat sich mit der Arbeit an seinem einzigen Kriegsroman nicht leicht getan. Im August 1919 schrieb er an Hermann Missenharter: „Mein ‚Wolfgang‘ liegt abgeschlossen in der Schublade, von meinem Gewissen eingescharrt. Es ist ein traurig-schöner Zwitter geworden. Anderthalbjährige Arbeit scheinbar umsonst.“78 Vor der Manuskripteinreichung bei Lienhards Türmer 1924 scheinen weitere Arbeitsstufen zu liegen. Den ‚Zwitter‘Zustand wird man aber bis in die Druckfassung hinein in einer Unentschiedenheit zwischen Kriegs- und Antikriegsroman sehen müssen. Das ‚Innere Reich‘ ist als geistige Macht nicht eigentlich kriegsfern, sondern zu einem kulturkriegerischen Beistand des Reichs in der Lage. Innerhalb des Wolfgangs als Generationenroman wird diese Option aber im Vater Schelling verbraucht. Für den Sohn Schelling, der ganz im Sinne des ‚Inneren Reichs‘ die goldene Generationenkette verlängert und schon deshalb nicht den Kugeln ausgesetzt werden darf, bleibt die Option gegen den Krieg. Auf der Ebene des Opfergedankens besteht darin zwar kein Widerspruch, denn wie sich der Vater für das Reich opfert, so opfert der Sohn sein künftiges Leben der nun verwitweten Mutter (wie in Ehrlers Novelle Elisabeths Opferung von 1924 die Titelheldin ihr Leben für einen Versehrten aufzehrt: „Der unverrückbare Glaube hatte sie dazu geführt, daß ein Mensch sich für den anderen stellvertretend hingeben und opfern könne“79). Vom Opfergedanken her ist der Krieg aber nicht die einzige und schon gar nicht generalisierbare Möglichkeit, der gemeinschaftsbildenden Liebe den letzten Ausdruck zu verleihen. Insgesamt wird man Wolfgang zu den „ambivalenten Kriegsromanen“ rechnen müssen, die „sowohl kriegsbejahende als auch kritische Elemente“ enthalten; in den Zügen der 75 Ehrler: Wolfgang [Buchausgabe 1925], S. 89. 76 Pongs: Krieg als Volksschicksal, S. 55. Vgl. ders.: Neue Kriegs- und Nachkriegsbücher, S. 222. 77 Abele an Ehrler, 1. Juli 1942. 78 Ehrler an Missenharter, 25. August 1919. 79 Ehrler: Elisabeths Opferung, S. 19.
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Humanitätssorge, der christlichen Reflexion und des sentimentalen Liebeswillens steht er namentlich Georg von der Vrings Soldat Suhren (1927) nahe.80 Ehrlers und Abeles relative Reserven heben sich im Übrigen von einem kirchlichen Hintergrund ab, in dem der deutsche Episkopat seit seiner ersten Erklärung vom 4. September 1939 zu keiner Stellungnahme gegen den Krieg gelangte und das Tötungsgeschehen zwischen Soldaten selbst im späten Dekalog-Hirtenbrief vom 19. August 1943 gerade nicht verurteilte. Die Lehren von Obrigkeitsgehorsam und Opferpflicht sowie die Deutung des Krieges als Sühne und Bewährung mit Aussicht auf segensreiche Ergebnisse gaben Gläubigen wenig Rückhalt, kriegskritische Ansichten zu entwickeln. Die Feldgeistlichkeit, so eingeschränkt sie von der nationalsozialistischen Kriegsführung gefördert wurde, hielt weiter am alten, erst 1945 aufgelösten ‚christlich-deutschen Nexus‘81 fest. Ehrlers geistlicher Begleiter Mauritius Schurr stand, wie andere Priestermönche, zeitweise als Sanitätssoldat im Kriegseinsatz.82 Umso bemerkenswerter scheinen, auf den ersten Blick, moralisch-kritische Stellungnahmen, wie sie Ehrler 1941 gegen den Luftkrieg formulierte, der Stuttgart im August 1940 erreicht hatte: Und was geschah? Ihr habt den Tod Jetzt auch schon in die Luft genommen. Wann wird das blutige Morgenrot Mit seinen Flammen um euch kommen?83 80 Zu einer Kategorie zwischen kriegskritischen und kriegsbejahenden Romanen vgl. Gollbach: Die Wiederkehr des Weltkrieges in der Literatur, S. 256 ff. (Zitat S. 256); zu Soldat Suhren ebd., S. 257 f., sowie Dirk Dasenbrock: Georg von der Vring 1889–1968. Vier Leben in Deutschland. Vechta 1997, S. 62 ff. 81 Vgl. Bergen: Christianity and Germanness, S. 92 ff. 82 Zur Selbstverständlichkeit der kirchlichen Kriegsunterstützung vgl. Antonia Leugers: „Opfer für eine große und heilige Sache“. Katholisches Kriegserleben im nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungskrieg. In: Volksreligiosität und Kriegserleben. Hg. v. Friedhelm Boll. Münster 1997 (= Jahrbuch für Historische Friedensforschung, Bd. 6), S. 157–174, dies.: Positionen der Bischöfe zum Nationalsozialismus und zur nationalsozialistischen Staatsautorität, Annette Mertens: Deutsche Katholiken im Zweiten Weltkrieg. In: Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten. Hg. v. Karl-Joseph Hummel u. Michael Kißener. Paderborn, München u.a. 2010, S. 197–215, sowie Wilhelm Damberg: Kriegsdeutung und Kriegserfahrung in Deutschland 1939–1945. In: Die Katholische Kirche im Dritten Reich. Eine Einführung. Hg. v. Christoph Kösters u. Mark Edward Ruff. Freiburg/Br., Basel u.a. 2011, S. 109–122. – Zur religiös aufgeladenen Propagierung des ‚selbstlosen Opfers‘ und der ‚heiligen Vorsehung‘ durch den Staats- und Parteiapparat vgl. Kallis: Der Niedergang der Deutungsmacht, S. 245 ff. 83 Ehrler: Neuer cherubinischer Wandersmann, S. 48. Zum ersten Luftangriff auf Stuttgart am 25. August 1940 (vier Tote) vgl. Heinz Bardua: Stuttgart im Luftkrieg 1939–1945. 2. Aufl. Stuttgart 1985, S. 25. Zur „Kriegserfahrung in der Heimat“ vgl. Kallis: Der Niedergang der Deu-
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Eben dies, was grundlegend gegen den Nationalsozialismus als religiöse und religionsfördernde Kraft sprach, nämlich sein Vertrauen auf Wissenschaft und Technik bis hin zur seit Ende 1940, nach der verlorenen Luftschlacht um England propagierten Raketentechnologie,84 rief den Widerwillen Ehrlers hervor. Das von Franziskus besungene Himmelszelt sollte der letzte Naturbereich sein, welcher der unheilvoll wachsenden Verfügungsgewalt des Menschen entzogen bleiben musste. In diese höchste Harmonie einzugreifen, bedeutete den höchsten Frevel und musste den Fall des Ikarus nach sich ziehen. Abgesehen von den zeitdiagnostisch-systematischen Vorbehalten besaß die Wendung dieser Verse wohl auch eine persönliche Adresse, nämlich gegen den Jagdflieger Heinrich Ehrler, den buchstäblichen ‚Shootingstar‘ aus Bad Mergentheim, einen aufstrebenden Karriereoffizier mit Erfahrungshintergrund in der ‚Legion Condor‘.85 In einem von Führer- und Gotteslob angefüllten Artikel für den NS-Kurier unter dem Titel Heimsuchung und Schicksal schaut uns an erlaubte sich Ehrler im Februar 1940 die Bemerkung: „ein schwerer Flieger fliegt gen Westen. Daidalos und Ikaros schauen mit mir ihm nach.“86 Damit war nochmals der nationalsozialistische ‚Ikarus‘ der Verfassungsfeierrede angesprochen. Im Übrigen aber – und hier zeigen sich Kippmechanismen der ‚verdeckten Schreibweise‘, die wie im Falle von Bergengruens Ewigem Kaiser höchst NS-konforme Lesarten eröffnen konnten – fügte Ehrler dem Luftkriegsgedicht eine Datierung auf 1922 hinzu: Dieses in Klammern nachgetragene Detail stellt eine Re-Kontextualisierung mit der britischen Kolonialpolitik im Irak her und mit den dortigen Einsätzen der Royal Air Force zur Aufstandsbekämpfung, an welche die nationalsozialistische Kriegspropaganda angelegentlich erinnerte.87 Bezeichnenderweise hat Langen Müller bereits 1934, nachdem Ehrler mit Die Frist und Baumeister Wilhelm stark christliche Romane geliefert hatte, eine äußerst einseitige Fassung des Wolfgang für die Reihe „Die deutsche Folge“ anfertigen las-
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tungsmacht, S. 223 ff. (Zitat S. 223). Zu Ehrlers Kommentaren über die Luftfahrt vgl. auch Hans Heinrich Ehrler: Als des toten Grafen Luftschiff um die Erde fuhr. In: Das Wort in der Zeit 5 (1937/38), S. 65. Vgl. exemplarisch hierzu Hockerts: War der Nationalsozialismus eine politische Religion?, S. 57 f., sowie Rißmann: Hitlers Gott, S. 191 ff. Vgl. Raymond F. Toliver u. Trevor J. Constable: Fighter Aces of the Luftwaffe. Atglen 1996, S. 311 f., sowie Walter Schuck: Abschuss! Von der Me 109 zur Me 262. Erinnerungen an die Luftkämpfe beim Jagdgeschwader 5 und 7. Aachen 2007, S. 180 ff. u. S. 207 ff. Hans Heinrich Ehrler: Heimsuchung und Schicksal schaut uns an. In: Stuttgarter NS-Kurier, 29. Februar 1940. Vgl. Martin Böhm: Die Royal Air Force und der Luftkrieg 1922–1945. Personelle, kognitive und konzeptionelle Kontinuitäten und Entwicklungen. Paderborn, München u.a. 2015, S. 158 ff. u. S. 264 ff.
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sen, und zwar gerade nicht von Ehrler, sondern vom Berliner Gelegenheitsschriftsteller Albert Lorenz.88 Die vierzig Bände der „Deutschen Folge“ brachten erzieherisch nutzbare Gegenwartsliteratur in gekürzten Schulausgaben, darunter Wehners reichskatholischen Kriegsroman Sieben vor Verdun als Band 7.89 Ehrlers Wolfgang wurde als Band 19, unter dem Titel Das Jahr eines Jünglings, auf ein Viertel des Originaltexts gekürzt und tendenziös auf den Gedanken des sinnvollen Opfers (für die Idee, nicht für den Erfolg) zugespitzt, um die Unterschiede zur nationalsozialistischen Literatur weiter einzuebnen. Dieser Vorgang demonstriert gleichermaßen die manipulativen Anteile von Ehrlers NS-Integration wie auch die breiten Ansätze zu ihrer Möglichkeit. Er wiederholte sich an den Lyrikbänden Ehrlers bei Langen Müller in der Form, dass der Verlag zu Werbezwecken und die Zeitschriften wie Die Literatur und Die Neue Literatur für Vorabdrucke jeweils eine Auswahl vornahmen, bei der die regimezugewandten Bestandteile konzentriert wurden.90
3. „Zu fördernde Schriften“: Anteil am Kriegsbuchhandel
So deutlich sich die Risse in Ehrlers Beziehung zum Nationalsozialismus abzeichnen, so wenig erfolgte die Trennung. Das institutionell und ideologisch grundlegend nichtlineare NS-System erlaubte keinem der überzeugten Nationalsozialisten aus Ehrlers Netzwerk, so etwas wie linientreu zu sein. Mit der Ausnahme von Pongs kamen sie früher oder später alle mit dem Apparat in Konflikt: Finckh als verbohrter Natur- und Heimatschützer,91 Schumann als fanatisch-puristischer Kritiker am Bonzen- und Mitläufertum in der NSDAP,92 Schmückle wegen angeblich defätistischer Äußerungen im Jahr 1943.93 Kompensatorische Loyalitätsbeweise waren so laufend gefragt. Ein entscheidendes Signal setzte Ehrler mit seinem Ein88 Hans Heinrich Ehrler: Das Jahr eines Jünglings. Aus dem Roman „Wolfgang“. Besorgt v. Albert Lorenz. München 1934 (= Die deutsche Folge, Bd. 19). 89 Beschrieben und empfohlen von Hellmuth Langenbucher: Volkhafte Dichtung in der Schule. In: Die deutsche Schule 38 (1934), S. 305–314, hier S. 306. Vgl. Reinhold Schwinger: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Das Jahr eines Jünglings. In: Zeitschrift für Deutschkunde 48 (1934), S. 243, sowie Walther Linden: Volkhafte Dichtung von Weltkrieg und Nachkriegszeit. In: ebd., S. 1–22, zu Ehrler hier S. 5. 90 Für Unter dem Abendstern z.B. Die Literatur 40 (1937), H. 1, S. 28 f., unter Verwendung des Gedichts Besuch und dessen Schlussversen: „O ich seh mit euch Freunden / Heller werden das Vaterland!“ 91 Vgl. Uekoetter: The Green and the Brown, S. 93. 92 Vgl. Rotermund: Gerhard Schumanns Sonettzyklus Die Reinheit des Reiches. 93 Vgl. Düsterberg: Hanns Johst, S. 285 f.
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tritt in die NSDAP im Herbst 1939. Der preisgekrönte Schriftsteller gehörte damit zu einer größeren Kohorte von Neumitgliedern, denen die Aufhebung der 1933 erlassenen Aufnahmesperre im Mai des Jahres die Möglichkeit eröffnete, nachholend Farbe zu bekennen oder Erwartungen an ihre Loyalität nachzukommen. In seinem späteren Entnazifizierungsprozess erklärte Ehrler wenig verblümt, dass er sich mit diesem Schritt hinter das in den Krieg eingetretene Reich habe stellen wollen.94 Für Bagatellisierungen der Parteimitgliedschaft besteht hier auch insofern kein Anlass, als Ehrlerfreunde wie Schumann ein klar elitäres Verständnis von ihr hatten: Die Mitglieder der NSDAP seien „Millionen deutscher Patrioten“ gewesen, „deren einziges Vergehen war, daß sie sich mehr für ihr Volk und Vaterland eingesetzt und aufgeopfert hatten als andere“.95 Einen gewissen Ehrenplatz im parteioffiziellen Kontext erhielt Ehrler zumindest mit Aufnahme seines 70. Geburtstages (im Juli 1942) unter die Gedenktage der nationalsozialistischen Feiergestaltung in der Parteizeitschrift Die Neue Gemeinschaft.96 Ehrlers Verhältnis zum nationalsozialistischen Prestigeverlag Langen Müller hatte mit den konfessionell-regionalantagonistischen Zügen des Romans Charlotte Schaden genommen, war indes nicht ganz so zerrüttet, wie es der Autor nachkriegszeitlich dargestellt hat. Der Verlag hat den Dichter bzw. dessen Publikum, d.h. vor allem gebildetere Katholiken in Süd- und Westdeutschland und in der ostdeutschen Diaspora, keineswegs ganz aufgegeben, sondern 1941 die dritte Auflage von einem seiner sakralsten Romane, Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm, herausgebracht und vier seiner früheren Erzählungen zu einer Sammlung zusammengestellt, die unter dem Titel Der Vierröhrenbrunnen in der „Kleinen Bücherei“ erschien, einer der wichtigsten Reihen des deutschen Kriegsbuchhandels. Bis 1943 erzielte der Band eine Auflage von 50.000 Exemplaren, zuletzt in einer Feldpostausgabe, für die er vom Propagandaministerium als „besonders wehrmachtsgeeignet“ eingestuft werden musste.97 Das Lektorat griff dafür auf Texte der 94 Vgl. Ministerium für politische Befreiung, Akte Ehrler, Vorgang 1. Zur NSDAP-Eintrittswelle von 1939 vgl. Ingo Haar: Zur Sozialstruktur und Mitgliederentwicklung der NSDAP. In: Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder. Hg. v. Wolfgang Benz. Frankfurt/M. 2009, S. 60–73. Zur Bedeutung der Parteimitgliedschaft vgl. Sven Felix Kellerhoff: Die Erfindung des Karteimitglieds. Rhetorik des Herauswindens: Wie heute die NSDAP-Mitgliedschaft kleingeredet wird. In: ebd., S. 167–180. 95 Schumann: Von Herkunft, Leben und Schaffen, S. 165. 96 Hauptkulturamt in der Reichspropagandaleitung der NSDAP (Hg.): Die Neue Gemeinschaft. Das Parteiarchiv für nationalsozialistische Feier- und Freizeitgestaltung 8 (1942), S. 209. 97 Vgl. Hans-Eugen Bühler u. Edelgard Bühler: Der Frontbuchhandel 1939–1945. Organisationen, Kompetenzen, Verlage, Bücher. Eine Dokumentation. Frankfurt/M. 2002, S. 11 u. S. 28 zur „Kleinen Bibliothek“, S. 117 ff. zu den Feldpostausgaben.
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Jahre 1926 bis 1931 zurück und stimmte die Auswahl deutlich auf ein landsmannschaftlich-konfessionelles Publikum ab. Demonstrativ steht Die Wanderung durch Oberschwaben am Beginn: mit Landschafts- und Gemeinschaftserlebnissen im katholisch dominierten Dreieck zwischen Bayern, Österreich und Württemberg. Diese Erzählung hatte Langen Müller bereits auch in seinen Verlagsalmanach auf das Jahr 1934 aufgenommen.98 An der Verpflichtung des Heimatwanderers auf das Reich blieb darin kein Zweifel, so in kriegspropagandistisch höchst konformen Erklärungen wie: Das Geschick des Regiments war mein Geschick, und die Katastrophe des deutschen Heeres meine Katastrophe. Am Tag des Waffenstillstands fühlte ich mich gezüchtigt. Meine verheilte Wundnarbe rötete sich und brannte wie ein frisch eingedrücktes Brandmahl. Ich verwünschte, dass der Granatsplitter nicht getötet hatte.99
Das zweite Stück der Sammlung, Die Liebe des Dr. phil. Berthold Horn, erzählt von einem vergeistigten Deutschlehrer, der gleichwohl mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse aus dem Großen Krieg zurückkehrt. Die Dohle variiert das Thema des geistigen deutschen Menschen, der doch stets seinem Volk verbunden bleibe. Die Schlusserzählung Der Vierröhrenbrunnen behandelt eine Liebe über Kreuz mit dem Ergebnis von Opfer und Verzicht. Insgesamt handelt es sich um eine Auswahl, die nach den amtlichen Kriterien für die Lenkung der Frontlektüre das ‚Gesunde‘ und ‚Aufbauende‘ bevorzugte, die „geistige und seelische Erhebung“ sowie eine „Einführung zu den ewigen und unvergänglichen Werten der deutschen Kunst und des deutschen Geistes“.100 Christliche Anteile waren darin zweckmäßig vorgesehen und wurden auch von der Zentrale der Frontbuchhandlungen ausdrücklich empfohlen.101 Im Berliner SS-Hauptamt war mit Major Emil Wezel seit 1942 ein Truppenbetreuer für die Bücherauswahl zuständig, der bereits mit Ehrlersympathien hervorgetreten war und sich (zumindest in einem selbstlegitimatorischen Zeugnis von 1947) attestierte, dass er „schöngeistige Literatur“ bevorzugt habe 98 Hans Heinrich Ehrler: Die Wanderung durch Oberschwaben. In: Ausritt. Almanach des Verlags Albert Langen – Georg Müller 1934/35. München 1934, S. 70–77. 99 Ehrler: Der Vierröhrenbrunnen, S. 7. 100 Joachim Menzel: Idee und Leistung der „Büchersammlung der NSDAP für die deutsche Wehrmacht“. In: Bücherkunde 8 (1941), S. 289–291, hier S. 291. 101 Zum Proporz christlicher Literatur vgl. Bühler u. Bühler: Der Frontbuchhandel, S. 26 ff. u. S. 130 ff., sowie Barbian: Literaturpolitik im NS-Staat, S. 186 ff. u. S. 363 ff., ferner ders.: Leser und Leserlenkung, S. 219 ff.
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und nach seinem eigenen Geschmack verfahren sei; dieser Geschmack war bei dem früheren Funktionär des Schwäbischen Heimatbundes und des Schwäbischen Dichterkreises (s. das folgende Kap.) eindeutig heimatideologisch geprägt.102 Das landsmannschaftliche Element korrespondierte mit einer Rekrutierungspraxis der Wehrmacht, bei der die regionale Homogenität der militärischen Einheiten angestrebt wurde, um deren Zusammenhalt und Kampfmoral zu steigern.103 Der Gutachtenanzeiger des Amtes für Schrifttumspflege listete den Vierröhrenbrunnen im November 1941 unter „Zu fördernde Schriften“.104 Will Vesper kam dieser Weisung im Frühjahr 1942 unmittelbar nach und schaltete in der Neuen Literatur eine verständnisvolle ‚Würdigung‘.105 Auch darüber hinaus war es Vesper, der für Ehrlers fortgesetzte Verankerung im NS-Literaturbetrieb sorgte. Zunächst 1940 mit der Anthologie Die Ernte der Gegenwart. Deutsche Lyrik von heute (vier Auflagen bis 1943), die unter das „Echte“, „Volkhafte“ und „Bleibende“ vier Ehrlertexte rechnete, darunter die bekannten naturmagischen Gedichte Der Erde und Der Lebensbaum, nichts hingegen von stärker christlicher Thematik.106 In der Neuen Literatur erhielt Ehrler 1941 den Eröffnungsbeitrag des Oktoberheftes, den er auf Vorschlag Vespers zum Thema Von mir und meinen Ahnen schrieb. „Herkunft und Heimat“ war eine feste Rubrik des Organs, in der Autoren unterschiedlicher regionaler Anbindungen gleichmäßig mit Selbstporträts zum Zug kamen, im selben Jahrgang z.B. auch Walter Vollmer für Westfalen und Ludwig Tügel für Norddeutschland.107 Der Vorzeigeschwabe löste die Aufgabe eher ausweichend, gab sich nahezu reserviert und desenga102 Vgl. Wezel: Schwäbische Dichtung der Gegenwart, sowie das Protokoll einer Vernehmung Wezels am 1. Juli 1947, Records of the United States Nuernberg War Crimes Trials Interrogations, Interrogation Nr. 1402, Institut für Zeitgeschichte, Archiv, Zeugenschrifttum, Wezel, Emil, Sign. ZS 1646. 103 Vgl. Christoph Rass: Das Sozialprofil von Kampfverbänden des deutschen Heeres 1939 bis 1945. In: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Politisierung, Vernichtung, Überleben. Hg. v. Jörg Echternkamp. München 2004 (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9/1), S. 641–741, hier S. 680 ff. 104 Amt für Schrifttumspflege (Hg.): Gutachtenanzeiger [Beilage zu: Bücherkunde. Organ des Amtes für Schrifttumspflege] 7 (1941), November, S. 1. Vgl. zu diesen Empfehlungslisten Bühler u. Bühler: Der Frontbuchhandel, S. 24 ff. 105 Eberhard Ter-Nedden: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Der Vierröhrenbrunnen. In: Die Neue Literatur 43 (1942), S. 187. 106 Will Vesper: Nachwort. In: Die Ernte der Gegenwart. Deutsche Lyrik von heute. Hg. v. dems., 4. Aufl. München 1943 (zuerst 1940), S. 386. Vgl. die Zusage zur Mitarbeit von Hans Heinrich Ehrler an Will Vesper, 15. Februar 1939, DLA Marbach, Sign. A:Vesper. 107 Walter Vollmer: Herkunft und Heimat. In: Die Neue Literatur 42 (1941), S. 263–265, Ludwig Tügel: Etwas über Herkunft und Heimat. In: ebd., S. 117–121. Vgl. für eine katholische, baye-
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giert, nämlich als Ehrengreis, der nur mehr aus dem Jenseits zu einer ihm fernen Gegenwart spreche: „leihweise noch einmal von dem Drüben in das Herüben zurückgestellt“.108 Er attestierte sich selbst, ein Mann der tiefsten Vergangenheit zu sein, und schloss den Beitrag mit dem Bild seines Todes. Gegenüber früheren autobiografischen Zeugnissen wie im Literarischen Echo von 1919109 kam Ehrler den ideologischen Erwartungen aber durchaus entgegen, indem er – unter Hinweis auf großelterliche Vorfahren – eine bäuerliche Herkunft betonte. Dass Ehrler aus einem „alte[n] Bauerngeschlecht“110 stammen müsse, sah sein Bild in der nationalsozialistischen Literaturkritik und -geschichtsschreibung schon länger vor, da es ja, wie Ehrlers Anthologist Gille schrieb, „nicht anders sein“ könne, „als daß in einer Zeit, in der um den Fortbestand der Nation gekämpft“ und den „unbewußten Kräfte[n] der Erde und des Blutes […] nachgespürt“ werde, „dem Bauerntum als dem Urquell der Volkskraft die größte Beachtung“ gelte.111 Für das nationalsozialistische Ehrlerbild war diese Komponente zudem deshalb wichtig, weil es sich um ein „Jagsttäler Bauerngeschlecht“112 handeln sollte, mit dem der Dichter entgegen seinem unmittelbaren katholisch-neuwürttembergischen Familienhintergrund überhaupt erst zum kernigen Schwaben erklärt werden konnte. Umso störender blieb die Tatsache seiner ‚urbanen‘, der bäuerlichen ‚Erbgesundheit‘ zuwiderlaufenden Kinderlosigkeit. In der Tat hinterließ er, bei allen Lobliedern auf die Ehe,113 keine eigene Nachkommenschaft. Seine fast fünfzigjährige Verbindung mit Ehefrau Melanie, die ihren Dichtergatten tief verehrte, freilich auch mit seinen Neigungen zu Alkohol- und Verschwendungssucht kämpfte und darin von ihrem Bruder Ernst unterstützt wurde, ist kinderlos geblieben. In den biografischen Abrissen, die Ehrler zur NS-Zeit erhalten hat, wurde dieser Punkt entweder überspielt oder in das zölibatäre Flair des Dichterprophetentums eingehüllt: „Der
risch-böhmische NS-Biografie auch Johannes Linke: Herkunft und Heimat. In: Die Neue Literatur 35 (1934), S. 257–260. 108 Ehrler: Von mir und meinen Ahnen, S. 239 f. 109 Ehrler: Autobiographische Skizze. 110 Langenbucher: Volkhafte Dichtung der Zeit (4. Aufl.), S. 607. Zum literarischen Sippen- und Ahnenkult vgl. immer noch Ernst Loewy: Literatur unterm Hakenkreuz. Das Dritte Reich und seine Dichtung. Eine Dokumentation. 3. Aufl. Frankfurt/M. 1977, S. 60 ff. 111 Gille: Einleitung, S. VIII u. S. X. 112 Ehrler: Von mir und meinen Ahnen, S. 239. Vgl. Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 20 f. 113 Vgl. unter anderem Hans Heinrich Ehrler: Lieder an ein Mädchen. München 1912, ders.: Einer Getreuen. Das Leben eines alten Paares. In: Das Wort in der Zeit 3 (1936), S. 1107–1109, sowie Ehrlers ‚Ehegedichte‘ bei Bauer (Hg.): Die Weggetreuen, S. 6, S. 100 u. S. 181.
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Reine und das Gesetz der Paarung“114 ist das entsprechende, schamhafte Kapitel in der Ehrlermonografie Henriette Herberts überschrieben. Im Übrigen standen das Bäuerliche und das Bürgerliche für Ehrler (wie für Finckh und Schmückle) gewiss nicht im Widerspruch zueinander. Das fromme klein- und landstädtische Bürgertum, das Deutschland eigentlich ausmachen sollte, bestimmte sich ja über die Nähe zum schöpfungsnahen, ‚gotteingeweihten‘ Bauerntum. In diesem Sinne konnte Ehrler 1938 im Stuttgarter NS-Kurier das Loblied des christlich-bürgerlichen Bildungsgeistes singen: „War der Bereich auch eng, es war Gestaltung, Formung darin, die Figuration des deutschen Bürgertums. Eine im Kleinen große Welt der Ordnung. […] Jener belebende magische Grundstoff war innig mit den christlichen Elementen des zu Ende gehenden Jahrhunderts vermischt.“115 Das Thema dieser bäuerlich-bürgerlichen Ahnenschaft spielte eine fortgesetzte Rolle im Verhältnis zwischen Ehrler und Vesper, der den geschätzten Dichter noch im Juli 1943 zu einem Beitrag für eine geplante, nicht mehr zum Druck gelangte Anthologie Heimat und Herkunft gewinnen konnte.116 Die Bestrebungen Vespers, der selbst auf die Herkunft aus einer niedersächsischen Bauernfamilie zurückblickte, stehen im Zusammenhang der Inszenierung jener sogenannten, im folgenden Kapitel zu betrachtenden ‚Gaukultur‘, deren propagandistische Bedeutung gerade für die Mobilisierung zum totalen Krieg wohl nicht zu unterschätzen ist.
4. „Das bleibt uns“: ‚Gaukultur‘ im Schwäbischen Dichterkreis
Als ‚Gaukultur‘ in der Zuständigkeit von ‚Gaukulturwarten‘ kursierte im Wesentlichen eine nationalsozialistische, auf die Regionalgliederung der NSDAP abgebildete Interpretation dessen, was zuvor bereits über die Grenzen der bürgerlichen Parteien hinweg als ‚Volkskultur‘ unter dem Schirm der Heimatpflege etabliert war. Dabei waren bedeutende Teile der deutschen Heimatbewegung antipluralistisch und gemeinschaftsideologisch gestimmt, versprachen sich von der NS-Herrschaft die Aufwertung ihrer Aktivitäten und erwiesen sich im Dritten Reich besonders kulturpolitisch als leicht anschlussfähig, während gerade bei Fragen des Landschaftsschutzes, der Kommunalgliederung und der Staatsorganisation auch Kon114 Vgl. das Kapitel „Der Reine und das Gesetz der Paarung“ bei Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 130–140. 115 Ehrler: Werk der Hand. 116 Vgl. Hans Heinrich Ehrler an Will Vesper, 24. Juli 1943, DLA Marbach, Sign. A:Vesper, Konvolut „Heimat und Herkunft“. Zum ausweichenden Verhalten Hans Carossas in derselben Angelegenheit vgl. Berglund: Der Kampf um den Leser im Dritten Reich, S. 101.
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flikte auftraten.117 Zum württembergischen Gaukulturleiter brachte es 1933 eben jener Jurist und Schriftsteller Georg Schmückle, der mit Hans Heinrich Ehrler um 1920 die Schwäbische Kunde aus dem großen Krieg geschrieben und die Zeitschrift Der Schwäbische Bund herausgegeben hatte. Er kam aus der Position des Landesvorsitzenden von Rosenbergs Kampfbund für deutsche Kultur in das Amt, neben dem er bis 1938 zugleich RSK-Landesdirektor und ab 1939 Direktor des Schillernationalmuseums und Vorsitzender des Schwäbischen Schillervereins war. Nach den Erinnerungen des jüdischen Schriftstellers und Germanisten Bernhard Blume besaß Schmückle, der im Stuttgarter Neuen Schloss residierte und sich gern als Schutzherr aller Dichter seines ‚Gaues‘ sah, erheblichen Einfluss und das offene Ohr der Landesminister, die wenig Besseres zu tun gehabt hätten, als sich eben mit der Gaukulturpolitik zu beschäftigen. Die „eigentlichen Ströme der Macht“ seien „durch andere Kanäle“ geflossen, so beobachtete Blume vor dem Hintergrund der Beseitigung bundesstaatlicher Strukturen, bei der alle Hoheitsrechte auf das Reich übergingen und die Landes- der Reichsregierung unterstellt wurde.118 Die politisch gewünschte Stilisierung heimatlicher Volkskultur begleitete radikale Zentralisierungsmaßnahmen und Raumordnungspläne, die Ehrler in seinem Artikel Unser Württemberger Land mit einigem Unbehagen ansprach. Der Text ist Anfang 1934 in der Werkszeitschrift Bosch-Zünder erschienen und versteht sich im Zusammenhang mit dem „Gesetz über den Neuaufbau des Reiches“ vom 30. Ja-
117 Vgl. aus der umfangreichen Forschungsdiskussion hierzu bes. Volker Dahm: Kulturpolitischer Zentralismus und landschaftlich-lokale Kulturpflege im Dritten Reich. In: Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich. Hg. v. Horst Möller, Andreas Wirsching u.a. München 1996, S. 123–138, Karl Ditt: Regionalismus in Demokratie und Diktatur. Die Politisierung der kulturellen Identitätsstiftung im Deutschen Reich 1919–1945. In: Auf der Suche nach regionaler Identität. Geschichtskultur im Rheinland zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Hg. v. Stephan Lennartz. Bergisch Gladbach 1997, S. 13–29, Thomas Schaarschmidt: Regionalität im Nationalsozialismus – Kategorien, Begriffe, Forschungsstand. In: Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Führerstaat“. Hg. v. Jürgen John, Horst Möller u. dems. München 2007, S. 13–21, sowie Martina Steber: Fragiles Gleichgewicht. Die Kulturarbeit der Gaue zwischen Regionalismus und Zentralismus. In: ebd., S. 141–158. – Zum Konflikt zwischen ethnokonservativen Schutz- und ethnoradikalen Gestaltungsvorstellungen sowie zur schwierigen Stellung des Landschaftsschutzes im NS-System bes. Oberkrome: Stamm und Landschaft, S. 73 ff., sowie Steber: Ethnische Gewissheiten, S. 322 ff. 118 Blume: Kapitel einer Autobiographie, S. 153. – Zur ‚Gleichschaltung‘ durch die Gesetze vom 31. März 1933, 7. April 1933 und 30. Januar 1934 vgl. Paul Sauer: Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus. In: Handbuch der baden-württembergischen Geschichte. Hg. v. Hansmartin Schwarzmaier u. Meinrad Schaab. Bd. 4. Stuttgart 2003, S. 231–319, hier S. 237 ff.
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nuar des Jahres. An die große, als bodenständig geltende Boschbelegschaft gewendet, bemerkte der Autor: Um das Deutsche Reich innen und außen zu einem einzigen Ganzen zu machen, müssen die alten Bundesländer ihre Landeshoheit hergeben. Ja, es geschieht vielleicht, daß sie auseinandergebrochen und anders eingeteilt als Gaue wieder zusammengesetzt werden. Da bedrängt etwas unser Wesen, ein Gefühl der Treue und der Dankbarkeit.119
Dass Heimat und Reich in einem Spannungsverhältnis stehen könnten und nicht natürlich ‚ein einziges Ganzes‘ bilden, war in der idealistischen, föderalistischkleinstaatlichen Reichssemantik kaum vorgesehen, ebenso wenig die Positionierung des universal gedachten Reichs gegen ein absolutes ‚Außen‘. Die Aussicht auf neu zusammengesetzte ‚Gaue‘ ermunterte Ehrler hier nicht zu gesteigerten Erwartungen an ein ‚Großschwaben‘, das in Erinnerung etwa an das mittelalterliche Herzogtum Schwaben das Land Württemberg (bzw. den Parteigau WürttembergHohenzollern) insbesondere mit dem bayerischen Landesteil Schwaben (bzw. dem Parteigau Schwaben) vereinigt hätte.120 Am Ende des Ersten Weltkriegs, unter den Bedingungen einer breiten regionalistischen Offensive im Deutschen Reich, hatte Ehrler als Volksredner wie auch als Mitherausgeber des Schwäbischen Bundes solchen Planspielen nahegestanden. Vor der technokratisch-machtpolitischen ‚Verreichlichung‘, die Hitler auf dem ‚Tag von Potsdam‘ mit der „Notwendigkeit eines gemeinsamen Willens“ begründete und als „wahre Gemeinschaft aus den deutschen Stämmen“ deklarierte,121 zeigte sich der 60-Jährige mit seinem reichsromantischen Regionalismus in der Defensive. Der katholische Dichter beschränkte sich darauf, eine harmonieverpflichtete Württembergtreue zu reproduzieren, die in den neuwürttembergischen Gebieten wie dem Oberamt Mergentheim lange genug feierlich eingeübt worden war – so nochmals anlässlich der Erhebung Mergentheims zum Kurbad 1926, zu der Ehrler ja die panegyrisch geprägten Bücher Der Spiegel des Hoch- und Deutschmeisters und Die Reise in die Heimat beigesteuert hat.122 119 Hans Heinrich Ehrler: Unser Württemberger Land. In: Der Bosch-Zünder 16 (1934), S. 123– 125, hier S. 123. Vgl. zur kulturell abzuwehrenden Gefahr einer „öden Zentralisierung“ auch Schumann: Heimat im Reich, S. 15. 120 Zur Neugliederungsdiskussion zwischen 1933 und 1935 vgl. Matz: Länderneugliederung, S. 67 ff. 121 Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen, Bd. 1/1, S. 227 (21. März 1933). 122 Zur württembergischen Identitätsbildung hinsichtlich der neuwürttembergischen Gebiete vgl. Gerhard Faix: Vaterländische Geschichte als öffentliches Ereignis im Königreich Württemberg.
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Die Möglichkeit eines Verlustes der wohleingewöhnten Heimat in Gestalt ‚unseres württemberger Lands‘ sollte 1934 zu neuem Ansporn für ‚Treue‘ und ‚Dankbarkeit‘ gereichen. In diesem sentimental-defensiven Modus schwenkte Ehrler aber auch schon auf die kulturelle Idealisierung des Regionalen ein, welche die faktische Zentralisierung kompensatorisch begleitete. ‚Württembergisches Erbe‘ sollte insbesondere in den Momenten des abendländisch aufgeschlossenen Hohenstaufertums, der ‚schwäbischen Geistigkeit‘ und des toleranten, auf Ausgleich bedachten ‚süddeutschen Gemüts‘ bestehen: „Das bleibt uns“, tröstete Ehrler seine Landsleute bzw. die Boschbelegschaft, „und reißt nicht auseinander, was immer sonst für das Ganze geteilt werden müßte“.123 Die Bereitschaft, für ‚das Ganze‘, sprich das Reich, föderale Opfer zu bringen, war darin wie melancholisch auch immer ausgesprochen. Dass Schwaben eine ganz unverwechselbare und zugleich besonders reichsförderliche Regionalkultur aufweise, gehört zu den Topoi des regionalistischen Diskurses im 19. und 20. Jahrhundert. Für die Literatur erklärte der österreichische Germanist Norbert Langer in seinem Buch Die deutsche Dichtung seit dem Weltkrieg von 1940, ein angebliches Diktum Ernst Moritz Arndts aufnehmend: „Ausgeprägter als in vielen anderen Gebieten Deutschlands bilden die Dichter des schwäbischen Landes eine Gemeinschaft, in der die Eigenheiten des Stammes […] und die Merkmale der Landschaft […] von ausschlaggebender Bedeutung werden“, vorbildlich „überwölbt“ von der reichsdeutschen „Gemeinsamkeit des Blutes und eines großen weiten Lebensraumes“.124 Langenbucher hielt die von ihm herausgegebene Zeitschrift Weltliteratur für den richtigen Ort, um in seinem Artikel Schwäbische Leistung im gesamtdeutschen Schrifttum aufzutrumpfen:
In: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 59 (2000), S. 119–139, hier S. 130 ff. – Zu den territorialen Planspielen um Schwaben vgl. Klöckler: Reichsreformdiskussion, sowie Steber: Ethnische Gewissheiten, S. 336 ff. – Zur ‚Heimatliteratur‘ als Verarbeitungsmittel faktischer Grenzverschiebungen und Neugliederungen bes. Schumann: Heimat denken, S. 21 f., zu den bereits im 19. Jahrhundert fortgeschrittenen Ansätzen regionalistischer Literaturpflege in Württemberg ebd., S. 215 ff. 123 Ehrler: Unser Württemberger Land, S. 123. Vgl. ders.: Von unseren Augen. 124 Langer: Die deutsche Dichtung seit dem Weltkrieg, S. 134. Zu Arndt in diesem Zusammenhang vgl. Utz Jeggle: „So isch no au wieder“. Zur Phylogenese des Schwaben. In: Schwabenbilder. Zur Konstruktion eines Regionalcharakters. Hg. v. Angelika Brieschke. Tübingen 1997, S. 95–102, hier S. 97. Zur nationalistischen Akzentuierung eines vom politischen Partikularismus gesäuberten Regionalismus Oberkrome: Stamm und Landschaft, S. 71, zu nationalsozialistischen Schwabenbildern Steber: Ethnische Gewissheiten, S. 443 ff.
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Schwäbische Leistung auf dem Gebiet der verschiedenen Künste, auf dem der Dichtkunst insbesondere, hat von jeher an wichtiger und entscheidender Stelle dazu beigetragen, das deutsche Volksgesicht in der Mannigfaltigkeit seiner Züge und in Treue zu seiner angestammten Art zu bilden. […] Werden und Wachsen der deutschen Dichtung […] ist nicht zu denken ohne den schwäbischen Beitrag mit seiner Kraft und Süße, mit seinem lauten Tatendrang und seiner stillen Versonnenheit.125
Den unumstößlichen Beweis dafür sollte die von Hölderlin begleitete und von Uhland gefolgte Erscheinung Friedrich Schillers liefern: „als granitener Block in der gesamtdeutschen Leistung, als Fanal der Freiheit, zu dem die Jugend sich heute wie einst bekennt“.126 Was aus dieser Landschaft gegeben worden sei, gehöre dem „Gesamtvolk“, werde „in allen deutschen Gauen gesungen“.127 Für den schwäbischen Beitrag zu einer nicht ausschließlich ‚rationalistischen‘ und darin vorbildlichen Wissenschaft verwies man auf die ingenia teutonica Theophrast von Hohenheim und Johannes Kepler, Ersterer in einer ausladenden Romantrilogie von Kolbenheyer gefeiert (Die Kindheit des Paracelsus, Das Gestirn des Paracelsus, Das dritte Reich des Paracelsus, 1917–1925),128 Letzterer in einem Roman von Finckh (Stern und Schicksal, 1931). Der Klassiker des laienethnologischen ‚Schwabensteckbriefs‘, das Buch Der deutsche Volks- und Stammescharakter im Lichte der Vergangenheit (1906), stammt übrigens von einem katholischen Priester, Georg Grupp, der seinen Landsleuten nicht nur Gemütstiefe bei gleichzeitiger Naivität, Spekulationstrieb und Träumerei bescheinigte, sondern auch den Hang zum reichstreuen Föderalismus: „Die Schwaben widerstreben am meisten der Zentralisierung. […] Es war das schwäbische Kaiserhaus, unter dem die deutsche Zersplitterung die größten Fortschritte machte.“129 Feindselige Gegenanzeigen wie die des jungen NS-Historikers Christoph Steding zur „südwestdeutsche[n] Bourgeoisie“ als „Träger der Ideen von 1789“ und zu einer liberalistisch-desen125 Langenbucher: Schwäbische Leistung im gesamtdeutschen Schrifttum, S. 240. 126 Langenbucher: Schwäbische Leistung im gesamtdeutschen Schrifttum, S. 240. 127 Langenbucher: Schwäbische Leistung im gesamtdeutschen Schrifttum, S. 240. 128 Vgl. unter Herausstreichung des schwäbischen und Tübinger Elements wiederum Langenbucher: Dichtung als Lebenshilfe, S. 18 ff. 129 Georg Grupp: Der deutsche Volks- und Stammescharakter im Lichte der Vergangenheit. Reiseund Kulturbilder. Stuttgart 1906, S. 116. Vgl. aus dem Jahre 1915 auch Keller: Schwaben und Schwabenstreiche, S. 14–18 („Die Glanzzeit des Schwabentums“) u. S. 53–108 („Der Schwabensteckbrief “), ferner von 1942 Hellpach: Deutsche Physiognomik, S. 75 ff. Zu Schwaben als „Land der schwerblütigen Grübler und Spintisierer, der Idealisten und Ideologen“ auch Robert Gradmann: Süddeutschland. Bd. 1: Allgemeiner Teil. Stuttgart 1931, S. 206.
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gagierten „Reichsfremdheit“ „in der südwestdeutschen, dem Elsaß nahestehenden Ecke“ mit den geistig eingesponnenen Hochburgen in Freiburg, Stuttgart/ Tübingen und Heidelberg stießen auf die vereinigte Front von Heuss und Pongs, die beide Stedings Dissertation rezensierten und seine negative Provinzialisierung des deutschen Südwestens scharf zurückwiesen.130 Die beschriebene, im Wortsinn anheimelnde Schwabenmythologie diente zum Hintergrund der großen Stuttgarter Kunstausstellung „Schwäbisches Kulturschaffen der Gegenwart“, die Reichskultursenator Gerhard Schumann 1936 im Auftrag der „Landesstelle des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda“ organisierte und unter anderem anhand des Botnanger Landschaftsmalers Hermann Umgelter sowie des Schwäbisch Gmünder Kirchenarchitekten Hans Herkommer den Beweis erbringen sollte, dass die ‚Goldene Zeit der hohen deutschen Kunst wiedergekehrt‘ sei.131 Zur besonderen Pflege einer heimat- und reichsverbundenen Literatur unterstützte die Landesstelle des Propagandaministeriums 1938, anlässlich des 50. Geburtstags von Reichsstatthalter Murr, die Gründung des Schwäbischen Dichterkreises. Dieser ging auf die zuerst 1933 einberufene, dort auch bereits von Ehrler besuchte Schwäbische Dichterwoche zurück und stellte ein Mittel dar, der mit germanistischen Autoritäten wie Adolf Bartels, Josef Nadler und zuletzt Heinz Otto Burger132 behaupteten Literatur des grenzübergreifenden ‚alemannischen Stammesraums‘ eine institutionelle, provisorisch auf das ‚kernschwäbische‘ Württemberg beschränkte Form zu geben.133 Gleichzeitig sollte so die Bildung privater Autorengruppen verhindert und möglichst viele Schriftsteller unter politischer Aufsicht zusammengebracht werden.134 Schmückle, der „oberste Parteibeamte des Kulturlebens in Württemberg“135, Ehrenmitglied des Heimat130 Steding: Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, S. 473 u. S. 490 f., dagegen Heuss: Politische oder polemische Wissenschaft, und Pongs: [Rez.] Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur. 131 Vgl. Gerhard Schumann (Hg.): Schwäbisches Kulturschaffen der Gegenwart [Katalog zur Ausstellung]. Stuttgart 1936, bes. S. 8–11. 132 Heinz Otto Burger: Schwabentum in der Geistesgeschichte. Versuch über die weltanschauliche Einheit einer Stammesliteratur. Stuttgart 1933. Burger wurde 1928 in Tübingen mit der Arbeit Schwäbische Romantik. Studie zur Charakteristik des Uhlandkreises promoviert. 133 Vgl. [Anon.]: Mitteilungen [Schwäbische Dichterwoche]. In: Die Neue Literatur 34 (1933), S. 425. Zur regionalistischen Literaturförderung am Beispiel des bayerisch-schwäbischen Schriftstellers Arthur Maximilian Miller vgl. Steber: Ethnische Gewissheiten, S. 419 ff. 134 Zu den Mitteln der personenbezogenen Kontrolle von Schriftstellern Barbian: Literaturpolitik im NS-Staat, S. 193 ff. 135 Blume: Kapitel einer Autobiographie, S. 153.
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schutzbundes (ab 1940), übernahm die Leitung des Schwäbischen Dichterkreises, wie er in Nachfolge Otto von Güntters auch das Schillernationalmuseum und dessen Trägerinstitution, den Schwäbischen Schillerverein, dirigierte. Schmückles Mitarbeiter im Nationalmuseum, Helmut Paulus, führte die Korrespondenz und die Protokolle. Das Jahrbuch, Brot und Wein, gab Emil Wezel heraus, der 1939 Geschäftsführer des Bundes für Heimatschutz und anschließend Heerespsychologe war. Der weitgezogene Teilnehmerkreis wurde in einem umfangreichen, überaus aufwendig gestalteten Sammelband von 1937, Schwäbische Erzähler, abgesteckt und in einer Anthologie Schwäbische Lyrik von 1940 abgerundet. In der ersten Sammlung ist Ehrler mit der idyllischen Erzählung Die Liebe des Dr. phil. Berthold Horn vertreten; in der zweiten rührt schon das Titelzitat von ihm: „Und wenn du in die Fremde gehst, so geh ich leis mit dir...“.136 Einigen praktischen Sinn verriet man mit dem literarischen, wiederum reich ausgestatteten Tourismusführer Reiseland Württemberg von 1939.137 Der Kreis umfasste neben aktiven Nationalsozialisten wie Schmückle, Ludwig Finckh und Gerhard Schumann unter anderem auch die hochbetagte Isolde Kurz und den katholischen Priester Peter Dörfler (beide Mitglieder der Preußischen Akademie der Künste), die nationalprotestantische Auguste Supper (RSKEhrensenatorin und in Nachfolge Ehrlers Schiller-Preisträgerin von 1942138), den evangelischen Pfarrer Albrecht Goes (Rezensent auch von Ehrlers Mit dem Herzen gedacht), die gefestigte Pietistin Anna Schieber und selbst den früheren, auf Bewährung entlassenen KZ-Häftling Olaf Saile, um sie einer stammesethnisch nivellierenden und reduzierenden „Verheimatung“139 unter dem alles überspannenden Himmel der Nation zu unterwerfen: „ein vielstimmiger Chor, voll und reich im Klang, sicher in der Führung der Stimmen, kraftvoll im Einsatz, zart und innig im Singen der Stammesseele, ausklingend in ein heiliges deutsches Bekenntnis“.140 Das Holzschnittverfahren der 30, vom Stuttgarter Künstler Viktor Himmel ausgeführten Dichterbildnisse in Schwäbische Erzähler unterstrich den Gedanken der urtümlich-bodenverwurzelten Einheitsfront. Das Verbindende zwischen den Be136 Olaf Saile (Hg.): Schwäbische Erzähler. Stuttgart 1937, Hermann Missenharter (Hg.): „Und wenn du in die Fremde gehst, so geh ich leis mit dir...“. Schwäbische Lyrik. Stuttgart 1940. 137 Adolf Mauer (Hg.): Reiseland Württemberg. München 1939. Der Herausgeber war Gaupropagandaleiter, Beiträger waren neben Ehrler unter anderem Finckh und Schmückle. 138 Zu ihrem gesteigerten NS-Bekenntnis vgl. Reinhard Hübsch: „Wo war noch etwas Erhebendes“. Auguste Supper und das Nationale – eine Darstellung anhand von Dokumenten. In: Allmende 11 (1991), H. 28/29, S. 189–205. 139 Borst: Dichtung und Literatur, S. 202. 140 Langenbucher: Schwäbische Leistung im gesamtdeutschen Schrifttum, S. 242.
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teiligten lag in einem allgemeinen Einverständnis mit der von Pfarrer Goes ausgegebenen bukolisch-sentimentalen Generallosung „Heimat ist gut“141, die an die scheinbar landschaftlich garantierte Regionalgemeinschaft jenseits konfessioneller, sozialer und politischer Unterschiede appellierte, wobei dieses Landschaftliche selbst im Zweifelsfall als gottgeschaffen galt. Die breite Anlage des ‚Dichterkreises‘ konnte letztlich an die politische Breite und die zumindest in der mittleren und älteren Generation gegebene Popularität der Heimatschutzbestrebungen anschließen.142 Obwohl Ehrlers Beziehung zu den radikalnationalistischen Republikgegnern Finckh und Schmückle von 1918/19 her nicht unbelastet war, wirkte er im Schwäbischen Dichterkreis mit ihnen zusammen und pflegte in diesem Rahmen auch freundschaftliche Beziehungen zu Gerhard Schumann, der als Vertreter der ‚Jungen Mannschaft‘ mehrere leitende Kulturfunktionen im NS-Staat wahrnahm und dessen Arbeiten, darunter Die Lieder vom Reich (1935) und Die Lieder vom Krieg (1941), zum „Makabersten [zählen], was das Nazi-Schrifttum hervorgebracht hat“.143 1935 in den Präsidialrat der RSK berufen, 1936 in den Reichskultursenat und 1938 an die Spitze der „Gruppe Schriftsteller“ in der RSK, erholte er sich von den von ihm beklagten Intrigen des Berliner Politiklebens vorzugsweise an der Front oder im heimatlichen Schwaben, wo er von 1942 bis 1944 als Chefdramaturg des Württembergischen Staatstheaters amtierte. „Meinem lieben Hans Heinrich“ hat er am 7. Juli 1942, d.h. zu Ehrlers 70. Geburtstag, ein Exemplar seiner Lieder vom Krieg gewidmet.144 Im Dienstbriefwechsel mit Heinrich Lilienfein von der Schillerstiftung vertrat er bereits 1937 die Auffassung, dass Ehrler „als einer der feinsinnigsten und formstärksten unter der älteren deutschen Dichtergeneration“ weitgehende Unterstützung verdiene.145 Wie Ehrler wollte Schumann keiner
141 Albrecht Goes: Heimat ist gut. Hamburg 1935; dazu Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 375 f. u. S. 475. Vgl. auch Goes: [Rez.] Mit dem Herzen gedacht: „Das ist ein deutscher, man wird sagen dürfen ein süddeutscher Buchtitel“. 142 Vgl. zur politischen Breite der Heimatschutzbewegung bis in die Arbeiterschaft und für die allseitige Anerkennung der Heimatkategorie Steber: Ethnische Gewissheiten, S. 286 f., sowie Rohkrämer: Konservative Raum- und Heimatvorstellungen, S. 58. 143 Loewy: Literatur unterm Hakenkreuz, S. 322. Zu Schumanns Funktionen unter anderem als Gaukulturhauptstellenleiter, als Mitglied im Präsidialrat der Reichsschrifttumskammer und als Reichskultursenator vgl. Bautz: Gerhard Schumann, S. 178 ff.; zusammenfassend zu Schumann Hillesheim u. Michael: Lexikon nationalsozialistischer Dichter, S. 403–412, sowie Sarkowicz u. Mentzer: Schriftsteller im Nationalsozialismus, S. 549–553. 144 Gerhard Schumann: Die Lieder vom Krieg. München 1941, Exemplar NL Ehrler. 145 Schumann an Lilienfein, 31. Mai 1937 (Deutsche Schillerstiftung, Personenakte Ehrler).
4. „Das bleibt uns“: ‚Gaukultur‘ im Schwäbischen Dichterkreis | 395
„Schollen-, Bluts- und Misthaufenpoesie“146 das Wort reden. Regionalität und Reichsgröße sollten einander bedingen, denn wie Schumann in seinem Vortrag Heimat im Reich (1938) postulierte: „Wer dem Reiche recht dient, dient seiner Heimat, und wer seiner Heimat von Herzen dient, dient dem Reich!“147 In der Selbstbeschreibung sah man sich gemeinsam auf der Ebene der (von Lienhard so getauften) „Höhenkunst“: „Wir wollen nicht die Kunst um der Masse willen nivellieren, ‚sie volkstümlich machen‘, sondern das Volk – ‚kunsttümlich machen‘.“148 In der von Schumann besorgten Anthologie Lyrik der Lebenden (1944), einer der letzten literarischen Kanonisierungsbemühungen des Dritten Reichs, ist Ehrler mit fünf Gedichten vertreten, darunter O Heimat, wir sind alle dein (unter dem Titel Heimat) sowie In der Fremde (unter dem Titel Abschied) zur unentrinnbaren Verpflichtung jedes Deutschen auf die Heimat, Mutter zur Begründung der liebenden Heimatbindung in der familiären Herkunft und Die Zelle des Denkers zur Reklamation einer deutschen Innerlichkeit, aus der Licht in die Nacht der Geschichte falle.149 Nach eigenen Angaben hat Schumann die 69 in dem Band vertretenen Autorinnen und Autoren zunächst dazu aufgefordert, ihm geeignete Gedichte aus ihrem Werk vorzuschlagen. Demnach wäre die erste Auswahl auf Ehrler selbst zurückgegangen; die finale Auswahl stützte sich jedenfalls vorwiegend auf die bei Langen Müller erschienenen Gedichtbände von 1932 und 1937 und mied die damals jüngste, kirchennah publizierte Sammlung Neuer cherubinischer Wandersmann (1941). Die Anspruchshöhe, die Schumann für Ehrler, Finckh, Münchhausen und all die anderen ansetzte, war nach wie vor schwindelerregend: „Das Tiefste und Edelste, das Größte und Innigste war hier gerade gut genug. Um diesem hohen Ziel nahezukommen, war eine strenge Auslese geboten. Nur das nach bestem Wissen und Gewissen für gültig befundene Dichtwerk durfte in die Sammlung aufgenommen werden.“ Ehrler fügte sich geschmeidig in die vom Herausgeber dargelegte Zielsetzung, „Kraft und Trost, Auferbauung und Gläubigkeit in die Herzen der kämpfenden Front und Heimat zu tragen wie nie zuvor“.150 Genauer versuchte Schumann in dieser Lyriksammlung eine homöopathische Mischung herzustellen, in der die sanfte Innigkeit von ‚Priestern‘ wie Ehrler, Carossa und Weinheber mit dem flammenden Kampfgeist von ‚Kriegern‘ wie Kolbenheyer, Schmückle und 146 Schumann: Bekenntnis, S. 5. Vgl. Schumann: Von Herkunft, Leben und Schaffen, S. 136. 147 Schumann: Heimat im Reich, S. 15. 148 Schumann: Bekenntnis, S. 5 f. Vgl. Lienhard: Heimatkunst, S. 81. Zu Schumanns Kulturelitarismus nachdrücklich Baird: To Die for Germany, S. 148 ff. 149 Vgl. Schumann (Hg.): Lyrik der Lebenden, S. 79 (Heimat), S. 193 (Abschied), S. 222 (Mutter), S. 297 (Die Zelle des Denkers) u. S. 349 (Zu zweien darf ich sagen: Du!). 150 Gerhard Schumann: Nachwort. In: Lyrik der Lebenden. Hg. v. dems. München 1944, S. 524.
396 | VI. ‚Inneres Reich‘ und ‚Innere Emigration‘?
natürlich Schumann selbst zusammenwirken sollte. Denn ein Volk, das „auch in seiner harten Gegenwart über so vielfältige Kräfte der Seele und des Geistes, zarte und innige, trotzige und starke, vertrauende und gläubige“ verfüge, sei „von keiner Macht dieser Erde zu bezwingen“, sei – mit Ausrufezeichen – „unsterblich“.151 Der Auftrag zu dieser Anthologie kam vom Deutschen Volksverlag München im Februar 1943, als gerade die 6. Armee kapituliert und Goebbels die Sportpalastrede vom totalen Krieg gehalten hatte.152 Die verordnete Gemeinschaft Ehrlers mit den genannten NS-Funktionären ist fotografisch so eindrücklich dokumentiert wie auf einer Abbildung in Schumanns Autobiografie: Dort sieht man, anlässlich eines Treffens der Gruppe 1935 im Rathaus von Esslingen (der Geburtsstadt von Schmückle ebenso wie Schumann), Ehrler und drei weitere Mitglieder des Schwäbischen Dichterkreises mittig eingefasst von Schumann und Schmückle als Flügelmännern.153 Ein propagandistischliterarisches Zusammenwirken, das nach Kriegsbeginn nicht zum Wenigsten der Stabilisierung der Heimatfront galt,154 verfolgte man im Jahrbuch des Dichterkreises, das nach Hölderlins christlich-paganer Elegie Brot und Wein benannt wurde. Zu dieser 1939 bis 1942 erschienenen Dichtergabe aus Südwestdeutschland, wie der Untertitel lautete, steuerte Ehrler vor allem naturmagische Lyrik bei,155 aber auch einen Prosatext mit der alten Forderung nach einer spirituell-regionalistischen Wiederbeheimatung des modernen Menschen156 und im Kriegsjahr 1942 das Gedicht Das Reich (anderweitig unter dem Titel Gebet des Deutschen) mit der Zeile „O mache, Herr, das Reich uns rein und groß“.157 Die Reinheit des Reichs hieß ein 1934 entstandener, 1935 in den Liedern vom Reich publizierter Sonettenzyklus von Schumann, auf den Ehrler damit Bezug nahm. Eben jener Zyklus hatte 151 Schumann: Nachwort [Lyrik der Lebenden], S. 525. Zu Schumanns Forderung nach ‚Künstlern in Waffen‘ vgl. jetzt Gerrit Lungershausen: Weltkrieg mit Worten. Kriegsprosa im Dritten Reich 1933 bis 1940. Stuttgart 2017, S. 48 f. 152 Vgl. zur Lyrik der Lebenden auch Bautz: Gerhard Schumann, S. 511 ff. 153 Schumann: Von Herkunft, Leben und Schaffen, nach S. 79 (Abb. 4). 154 Zur kriegspropagandistischen Rolle des ethnonationalistischen Heimatkonzepts und seinem Beitrag zur Mobilisierungskraft des NS-Staates vgl. Steber: Ethnische Gewissheiten, S. 479 ff. 155 Exemplarisch Hans Heinrich Ehrler: Zwischen Himmel und Erde. In: Brot und Wein. Dichtergabe aus Südwestdeutschland 2 (1940), S. 29, ders.: Bilderbuch. In: ebd. 3 (1941), S. 12, ders.: Abend. In: ebd. 156 Ehrler: Von der Berufung des Dichters. 157 Hans Heinrich Ehrler: Das Reich. In: Brot und Wein. Dichtergabe aus Südwestdeutschland 4 (1942), S. 23. Zum von Emil Wezel herausgegebenen Jahrbuch Brot und Wein, in dem die „Stammesdichtung […] dem gesamten Volkstum“ dienen sollte, vgl. Norbert Langer: [Rez.] Brot und Wein. Dichtergabe aus Südwestdeutschland 1 (1939). In: Deutsche Arbeit. Zeitschrift des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland 39 (1939), S. 238.
4. „Das bleibt uns“: ‚Gaukultur‘ im Schwäbischen Dichterkreis | 397
mit seinen diversifizierten Forderungen nach einer noch nicht erlangten ‚Reinheit‘ des Dritten Reichs – angesichts von Mitläufertum, Karrierismus, Vorteilsnahme, Parteikonflikten etc. – schon zeitgenössisch zu Diskussionen geführt. Schumann galt damit, z.B. bei Johst, der ihn in die RSK berief, als integrer Idealist des Nationalsozialismus.158 Den Segen des Geronten zu erhalten, der die jugendliche Hybris 1932 rhetorisch in die Schranken gewiesen hatte und als „Senior des schwäbischen Schrifttums“159 figurieren konnte, musste Schumann, dem Repräsentanten der ‚Jungen Mannschaft‘, hochwillkommen sein.
158 Vgl. Schumann: Von Herkunft, Leben und Schaffen, S. 154 ff. Dazu Rotermund: Gerhard Schumanns Sonettzyklus Die Reinheit des Reiches, sowie mit Hinweis auf die ungebrochene Hitlertreue der betreffenden Gedichte Hillesheim u. Michael: Lexikon nationalsozialistischer Dichter, S. 408 ff. 159 Theodor Heuss an Hermann Missenharter, 26. Juni 1947. In: ders.: Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945–1949. Hg. v. Ernst Wolfgang Becker. München 2007 (= Stuttgarter Ausgabe. Briefe, Bd. 4), Nr. 94.
VII. Kontinuität und Entkanonisierung
1. „für den deutschen Geist und das innere Reich“: Rechtfertigungen im Entnazifizierungsverfahren
Ein Jahr nach dem Ende des Dritten Reichs und fünf Jahre vor seinem Tod hatte sich Ehrler einem Entnazifizierungsverfahren zu stellen, in dessen Verlauf ihm die Mastertrope des von der Geschichte scheinbar unberührt zwischen deutscher Heimat und christlichem Abendland schwebenden ‚Inneren Reichs‘ als oberste Berufungsinstanz diente. Die Spruchkammer Böblingen des württemberg-badischen Ministeriums für politische Befreiung konfrontierte den Schriftsteller im April 1946 mit einem Fragebogen und führte im Oktober und November ein erstes Verfahren gegen ihn durch.1 Unter Nummer 1 des Bogens gab Ehrler auf die Frage nach Organisationszugehörigkeiten seine NSDAP-Mitgliedschaft ab 1939 an. Unter Nummer 8 – „Angaben über Ihre Haupttätigkeit, Einkommen und Vermögen seit 1932“ – wich er der Frage aus, indem er zwar die gewährten Ehrensolde anführte, sich ansonsten aber auf den Standpunkt der Jahre 1945/46 stellte und notierte: „früher manchmal Zeitungsbeitrag“ sowie „Bücherverkauf durch Verlag gesperrt“.2 Dass es sich bei den Zeitungen namentlich um den NS-Kurier und bei dem Verlag um die NS-Gralsburg Langen Müller handelte, brachte er nicht zur Sprache.
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Zur Entnazifizierung in Württemberg-Baden vgl. Arbogast: Herrschaftsinstanzen der württembergischen NSDAP, S. 201 ff., Paul Sauer: Das Land Württemberg-Baden 1945–1952. In: Handbuch der baden-württembergischen Geschichte. Hg. v. Hansmartin Schwarzmaier u. Meinrad Schaab. Bd. 4. Stuttgart 2003, S. 343–439, hier S. 377 ff., sowie Bertold Kamm u. Wolfgang Mayer: Der Befreiungsminister. Gottlob Kamm und die Entnazifizierung in Württemberg-Baden. Tübingen 2005, bes. S. 88 ff. – Zur besonderen Quellensorte vgl. Stephan Molitor: Spruchkammerverfahrensakten. Überlieferung zur Entnazifizierung als Quelle für die NS-Zeit. In: Unterlagen der Nachkriegszeit als Quellen zur Geschichte des Dritten Reichs. Vorträge eines quellenkundlichen Kolloquiums im Rahmen der Heimattage Baden-Württemberg am 13.10.2001 in Bad Rappenau. Hg. v. Nicole Bickhoff. Stuttgart 2004, S. 7–14. – Alltagsgeschichtlich erhellend Manfred Bosch: „Der Deutsche ist auch noch ein Mensch, sozusagen!“ Die Nachkriegszeit in der deutschen Südwestecke im Spiegel der Stimmungsberichte Friedrich Kuhns. In: allmende 7 (1987), H. 16/17, S. 180–207. Ministerium für politische Befreiung, Akte Ehrler, Vorgang 1.
400 | VII. Kontinuität und Entkanonisierung
Zum Spruchkammerverfahren gehörte eine Stellungnahme des zuständigen Bürgermeisters, hier des von der französischen Besatzungsmacht eingesetzten Waldenbucher Fabrikanten Alfred Ritter, Gründer und Leiter des bekannten Genussmittelunternehmens. Ritter war Geschädigter des NS-Regimes, weil sein Betrieb zu den Friedensbranchen zählte und nach Kriegsbeginn stillgelegt wurde.3 Als neuer Bürgermeister wies er ausdrücklich auf Ehrlers „Stellungnahme für den Nazismus“ hin und erklärte, dass der Dichter damit „selbstverständlich mehr Schaden anrichtete, als es ein kleiner Arbeiter tut“.4 Fortgesetzt mildernd schloss er: „Als Mensch ist er wertvoll“ – eine Sympathieerklärung, die sich durch fast alle Urteile über Ehrler seit der frühesten Überlieferung zieht. Ritters zurückhaltende Auskunft war auch schon das belastendste Zeugnis im gesamten Prozess. Mit der Familie Ritter teilte Ehrler die katholische Konfessionszugehörigkeit im mehrheitlich evangelischen Waldenbuch. Im Gasthaus des Brauereiinhabers und SPD-Gemeinderats Karl Müller, Mitglied des kommunalen Entnazifizierungskomitees, verkehrte der ‚Heimatdichter‘ jahrelang als Stammgast. Mit Geistlichen wie Eugen Bernhard Schurr von der Stadtpfarrei Böblingen und Hermann Breucha von der Stadtpfarrei Degerloch war der ‚christliche Humanist‘ eng befreundet. Die sozial-alltagspraktischen Verflechtungen in Landgemeinde, Landeshauptstadt und ‚Ländle‘ standen politisch-strafrechtlichen Linienziehungen grundsätzlich entgegen. Niemand mehr fragte nach oder führte an, was Ehrlers publizistische Tätigkeit der 1930er Jahre umfasst und worin die ‚Stellungnahme für den Nazismus‘ genau bestanden hat. Schon die zunächst zur Beurteilung aufgerufenen Vertreter der politischen Parteien an der Spruchkammer Böblingen votierten für die weitgehende Entlastung Ehrlers und attestierten ihm unnötigerweise, dass er zu einer künftigen Verwendung „als Politiker nicht in Frage“ komme.5 Allenthalben spricht aus diesem Verfahren das Verständnis der Mitlebenden für die ‚dunkle Zeit‘, in die sich kein rechtes Licht bringen zu lassen schien, sowie das Mitgefühl für den sichtlich Gebrechlichen, der die Ansprüche eines Ehrengreises stellte und sich um 1950 in einer fragilen Memoria-Positur fotografieren ließ (Abb. 15). „Man will einem alten Herrn nicht gern weh tun“,6 mischte sich als menschliche Anstandsregel in das formelle Verfahren. Reguläre Leumundszeugnisse oder ‚Persilscheine‘ scheinen in seinem Fall gar nicht notwendig gewesen 3 4 5 6
Vgl. Eugen Wendler: Ritter, Alfred Eugen. In: Baden-Württembergische Biographien. Bd. 6. Hg. v. Fred Ludwig Sepaintner. Stuttgart 2016, S. 411 f. Ministerium für politische Befreiung, Akte Ehrler, Vorgang 4. Ministerium für politische Befreiung, Akte Ehrler, Vorgang 5. Hellmuth Reitz: [Rez.] Hans Heinrich Ehrler: Frauen und Mädchen. In: Welt und Wort 4 (1949), S. 247 f.
1. „für den deutschen Geist und das innere Reich“: Rechtfertigungen | 401
zu sein. Auch um die naheliegende Verteidigung, die einschlägigen Texte für den Werl-Soester Kreis seien zum Schutz, zur „Selbstbewahrung“7 eines bedrohten katholischen Kulturlebens geschrieben, konkret etwa zur Rettung des Worts in der Zeit vor der erzwungenen Einstellung, bemühte sich zu diesem Zeitpunkt offiziell niemand, wie sich auch Ehrler zumindest bei seinen prozessualen Rechtfertigungen nicht aufs Konfessionelle bezog. Es herrschte ein informeller Nebendiskurs, der sich in den von der Besatzungsmacht beaufsichtigten Spruchkammerverfahren nur indirekt abbildet. Bezeichnend für die mehr mitfühlende und statuierende als recherchierende und argumentierende Behandlung des Falls ist die Intervention aus der Amtsstelle des Stuttgarter Oberbürgermeisters, die ebenfalls in die Akte von Ehrlers Entnazifizierung einging. Sie befürwortete die vordringliche Behandlung des Spruchkammerverfahrens, nämlich seinen raschen Abschluss, mit der Begründung, dass der „wirtschaftlich und seelisch schwer ringende Dichter“ ein großes „seelische[s] Martyrium“ ausstehe.8 Das Kulturreferat der Landeshauptstadt erklärte hierzu, indem es sich auf ungenannte Quellen stützte: „Nur ehrliche und idealistische Motive haben Ehrler 1939 zum Eintritt in die Partei bewogen.“ Er bedauere diesen Schritt heute zutiefst als „Fehltritt und Irrtum“. Die Behörde verwies für die weitere Behandlung auf eine Einschätzung des zwischen September 1945 und Dezember 1946 von Theodor Heuss geführten Kultusministeriums: „Das Ministerium beurteilt sein dichterisches Schaffen als nicht nazistisch und hat daher dem wirtschaftlich schwer bedrängten Dichter den staatlichen Ehrensold von jährlich 2.000 RM weiterverwilligt.“ Das Ministerium habe mithin „zum Ausdruck gebracht“, dass es eine Fortzahlung auch von Ehrlers Ehrensold der Stadt Stuttgart begrüßen würde. Dem sei der Oberbürgermeister, Arnulf Klett, mit Entschließung vom Juni 1946 gefolgt.9 „[I]ch werde schon sehen, dass ich mir selber treu bleibe, d.h. so viel, wie auch den Freunden treu sein“,10 versicherte Heuss seinem württembergischen Landsmann nach der Bundespräsidentenwahl im September 1949 und bezeichnete damit auch seine vorangegangenen Voten für einen Autor, dem er einen Beitrag zur Wertvermittlung in der bürgerlichen Ordnung zuschrieb. 7
Zu diesem Verteidigungsmuster vgl. Schatz: Der Weg des deutschen Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, S. 263 ff. 8 Ministerium für politische Befreiung, Akte Ehrler, Vorgang 7. 9 Ministerium für politische Befreiung, Akte Ehrler, Vorgang 8. 10 Theodor Heuss an Hans Heinrich Ehrler, 26. September 1949, NL Heuss. Zu Heuss’ differenzierten Einschaltungen bei den Spruchkammerverfahren vgl. Ernst Wolfgang Becker: Einführung: Theodor Heuss als Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945–1949. In: Theodor Heuss: Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945–1949. Hg. v. Ernst Wolfgang Becker. München 2007 (= Stuttgarter Ausgabe. Briefe, Bd. 4), S. 15–58, hier S. 45 f.
402 | VII. Kontinuität und Entkanonisierung
Abb. 15: Fragile Memoria-Positur. Ehrler um 1950, Privatfoto.
So nahmen staatliche und kommunale Entscheidungen das Urteil der Spruchkammer letztlich vorweg. Es erging im November 1946 und lautete auf Ehrlers Einstufung als Mitläufer und auf Verhängung eines Sühnegelds von 50 RM. In der Begründung hieß es dazu: „Die angestellten Ermittlungen haben ergeben, dass der Betroffene nur nominell am Nationalsozialismus teilgenommen hat.“11 Dabei wurde nicht problematisiert, was es im Fall eines zumindest teilöffentlich namhaften Schriftstellers bedeutet, eben seinen Namen herzugeben. War hier der Name doch der Kredit, dass Christentum und Hitlerverehrung Hand in Hand gehen könnten, Heimat und Abendland die guten Mächte des (Dritten) Reichs seien. Alfred Döblin, der das Kulturleben in der französischen Besatzungszone reorganisieren half, bemerkte 1946 zu dieser Art der Verantwortung: „Ein Schreiber, ein Schriftsteller, ein Dichter ist in unserer heutigen Gesellschaft in einer merkwürdigen Position. Er ist keine Behörde, er ist kein Amt, keine Zeitung, und doch ist er keine Privatperson.“12 11 Ministerium für politische Befreiung, Akte Ehrler, Vorgang 9. 12 Alfred Döblin: [Zu November 1918]. In: ders.: Schriften zu Leben und Werk. Hg. v. Erich Kleinschmidt. Olten, Freiburg/Br. 1986, S. 272–275, hier S. 272. Zum Problem der Verantwortungszuschreibung im Fall der ‚Kulturschaffenden‘ und entsprechenden Unschuldsreklamationen
1. „für den deutschen Geist und das innere Reich“: Rechtfertigungen | 403
Die sogenannte Weihnachtsamnestie vom Dezember 1946 führte zu einer neuerlichen Prüfung der Causa mit Aussicht auf vollständigen Straferlass. Im Februar 1947 füllte Ehrler dafür einen weiteren Fragebogen aus, in dem er mit Nachdruck beanspruchte, sein Werk „für den deutschen Geist und das innere Reich geschaffen“13 zu haben. Dabei blieb er sich insofern treu, als sein Verständnis des ‚Inneren Reichs‘ aus der Erfahrung des tönernen Kaiserreichs rührte, von den Reichsbeseelungswünschen Lienhards inspiriert und so immer schon auf eine Sondersphäre geistiger Integrität gegenüber politischer Unwürdigkeit angelegt war. Das ‚innere Reich des deutschen Geistes‘ besaß demnach eine ideale Bedeutung, die von staatlichen Konstruktionen ohnehin niemals einzuholen sein, sondern in den Wertsphären von Heimat und Abendland leben sollte. So stand es gewissermaßen in romantischer Infinalität geschützt. Daher sprach Ehrler auch in seinen ausgiebigen Adulationen des Dritten Reichs seltener von ‚erfüllten Träumen‘ (wie am Beginn von Das einige Reich der Deutschen) und häufiger von den ‚stillen Becken der Zukunft‘ (wie am Ende von Die Stimme). Der Ehrler thematisch wie stilistisch nahestehende ‚Reichsseher‘ und ‚Rhön-Dichter‘ Josef Magnus Wehner ließ durch die Verfasser seiner Leumundszeugnisse ähnlich argumentieren, dass „das künftige Reich“, welches ihm vor Augen gestanden habe, niemals das „Dritte Reich“ gewesen sei: „Zwischen den Zeilen stand für jeden, der zu lesen verstand, die große Verteidigung des geistigen Reiches, das das Regime verbrecherisch zu zerstören begann“.14 Offensichtlich vereinfachte Ehrler seine Reichsmetaphysik für die Zwecke des Fragebogens unzulässig, wenn er das ‚Innere Reich‘ nicht als von Panegyrik und Erbauung angefülltes Zwischenreich zwischen Geist und Macht vergegenwärtigte, sondern als reine Gegenwelt. Mit vielen Ausrufezeichen wollte er den für die Entnazifizierung Verantwortlichen zu bedenken geben, dass sie im württembergischen Dichterland von Wieland, Schiller und Hölderlin walteten. Damit zog er sich auf die hohe Küste seiner professionellen Identität zurück – als Berufsbezeichnung gab er stets „Dichter“ an15 – und bemühte mit Hölderlin zugleich den Kronzeugen eines „‚inneren Reichs‘, das sich von keiner Realität mehr tangieren
der Betroffenen vgl. zusammenfassend Mühlenfeld: Was heißt und zu welchem Ende studiert man NS-Propaganda?, S. 541 ff. u. S. 555 ff. 13 Ministerium für politische Befreiung, Akte Ehrler, Vorgang 12 (Hervorhebungen im Original). 14 Zit. n. Hohmann: Leben und Werk des Kriegs- und Heimatdichters Josef Magnus Wehner, S. 101. 15 Ministerium für politische Befreiung, Akte Ehrler, Vorgang 1.
404 | VII. Kontinuität und Entkanonisierung
ließ“.16 Als Autor beklagte er sich bitter, dass seine Bücher „vom Markt fort“ seien. Im Feld „Bemerkungen“ stellte er fest, dass er ihm während des Nationalsozialismus angetragene Ämter abgelehnt habe, und reklamierte knapp: „Nie geredet.“17 In der Tat hatte Ehrler keine der vielen Funktionärspositionen im betriebsamen (‚Gau-‘)Kulturleben der Zeit übernommen. Dies kam ohnehin mehr den Vertretern der mittleren Generation und der ‚Jungen Mannschaft‘ wie dem ämterüberhäuften Gerhard Schumann zu.18 ‚Nie geredet‘ täuscht dagegen über einige Beiträge zu Veranstaltungen hinweg, von denen gleich die erste, die zentrale Feier zu Schillers 175. Geburtstag, kulturpolitisch höchst einschlägig ist. Sie diente Joseph Goebbels im November 1934 zur rituellen Initiation des NS-Staates als vermeintlich getreuem Haushalter der ‚deutschen Klassik‘. Ehrler stand unter dem Punkt „Huldigung“ an elfter Stelle des Programms, das unter anderem auch von Gustaf Gründgens mitgestaltet und vom Sender Stuttgart reichsweit übertragen wurde. Aus Blankversen bestehend wie „Wir stehen unterm Stern im Licht verbunden“19, galt der Panegyrikus der Einheit des ‚deutschen Volkes‘ im Zeichen Schillers und kontextuell zugleich des Nationalsozialismus. Außerdem hatte Ehrler, groß neben den NS-Kadern Schmückle und Schumann angekündigt, unter anderem noch im Rahmen der Festwochen „Schwäbisches Kulturschaffen der Gegenwart“ von 1936 gesprochen, genauer auf einer „Kundgebung des schwäbischen Schrifttums“ unter dem Leitgedanken „Das ganze Deutschland ist mein Heimatland“ und der Prämisse, dass sich „wahre schwäbische Art […] nicht an der Enge des Stammes genug sein läßt, sondern bewußt in die Weite des deutschen Volkstums“ strebe.20
16 Claudia Albert u. Marcus Gärtner: Die Rezeption der klassischen deutschen Literatur im „Dritten Reich“ und im Exil. In: Nationalsozialismus und Exil 1933–1945. Hg. v. Wilhelm Haefs. München 2009 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 9), S. 194–207, hier S. 205. 17 Ministerium für politische Befreiung, Akte Ehrler, Vorgang 12. 18 Zur Ämterverteilung unter Generationenaspekten vgl. Vondung: Der literarische Nationalsozialismus, S. 60 f. 19 Hans Heinrich Ehrler: Schiller. Weihespruch zum 10. November 1934. In: ders.: Unter dem Abendstern, S. 82 f. Einen Teilabdruck u. d. T. Epilog zum Epilog zu Schillers Glocke aus der Handschrift bringt Oellers (Hg.): Schiller – Zeitgenosse aller Epochen, Teil 2, S. 498 u. S. 612. Vgl. auch Hans Heinrich Ehrler: Epilog zum Epilog zu Schillers Glocke. In: Schwäbischer Schillerverein (Hg.): Achtunddreißigster Rechenschaftsbericht. Stuttgart 1934, S. 71. – Zu Ehrlers Anteil an der Marbacher Schillerfeier vom 10. und der Stuttgarter vom 12. November vgl. Zeller (Hg.): Klassiker in finsteren Zeiten, Bd. 1, S. 180, sowie Martin: Images of Schiller in National Socialist Germany, S. 279 f. 20 Schumann (Hg.): Schwäbisches Kulturschaffen der Gegenwart, S. 6 u. S. 30. Vgl. Leipner (Hg.): Chronik der Stadt Stuttgart 1933–1945, S. 271.
1. „für den deutschen Geist und das innere Reich“: Rechtfertigungen | 405
Zuletzt schrieb der Beklagte quer unter den Fragebogen, sich selbst viktimisierend und die Anklage umkehrend: „Gebt mir und meiner reinen Dichtung die Ehre wieder!“21 Dabei scheint Ehrlers jahrzehntealtes Lavabo (sc. inter innocentes manus meas) nochmals auf: „Ich will meine Hände waschen unter den Unschuldigen.“22 Oder wie er 1941 im Neuen cherubinischen Wandersmann formuliert hatte: Rein bleib das Wort Aus reinen Herzens Ort! Faulen sollen die Zungen, Die der Trug gedungen!23
Die Haltung des missverstandenen Propheten, der sich auf den rund 40 Jahre alten Ruf seines ‚kristallreinen Poetentums‘ und seiner ‚adligen Seele‘ berief, entspricht nur zu sehr Ehrlers mangelnder Schuldeinsicht, wie er sie in einem Brief vom Oktober 1949 verriet: „Nur ein paar Hämlinge haben darüber gemeckert, daß ich einsamer, der untergründigen Geschehnisse unkundiger Klausner eine Zeitlang guten Glaubens gewesen bin, A. H. würde uns und der Welt den Frieden bringen.“24 Der Anspruch auf Unwissenheit des ‚Denkers in seiner Zelle‘, des von der ‚Melencolia‘ überschatteten ‚Hieronymus im Gehäuse‘, widerspricht konzeptionell Ehrlers Selbstkonzept als Seher und empirisch seiner Informiertheit über die NS-Gewalt durch Abele, Picard und andere, deckt sich freilich mit der alten Rhetorik der Reichsinnerlichkeit und der jüngeren der ‚Inneren Emigration‘. Ehrler pflegte jenen Habitus, den Ernst Wiechert 1933 mit der „Einsamkeit der Wissenden und der Seher“ umschrieb,25 von früh an in Gedichten wie Der Einsiedler, in Romanen wie Briefe aus meinem Kloster und in Erzählungen wie Bruder Hermans Klause. Auch die heute schwer nachvollziehbare Bewunderung für Wilhelm Raabe, die Ehrler mit Wiechert teilte,26 begründete sich bereits in Ehrlers Raabe-Nekrolog für die Frankfurter Zeitung mit dem Weg nach innen und Abschließungsmodellen wie der Roten Schanze in Stopfkuchen. Der Selbstbeschreibungswortschatz der ‚Inneren 21 22 23 24
Ministerium für politische Befreiung, Akte Ehrler, Vorgang 12. Ehrler: Briefe aus meinem Kloster, S. 112. Ehrler: Neuer cherubinischer Wandersmann, S. 17. Zit. n. Schulz: Hans Heinrich Ehrler, S. 61. Vgl. die fast wortgleiche Formulierung von NSFunktionär Robert Ley: Wir alle helfen dem Führer. Deutschland braucht jeden Deutschen. 3. Aufl. München 1939, S. 107: „Wir glauben, daß er auch den Endkampf besteht und der Welt den Frieden bringen wird. Das glauben wir.“ 25 Wiechert: Der Dichter und die Jugend, S. 364. 26 Vgl. Grimm: Im Dickicht der inneren Emigration, S. 419.
406 | VII. Kontinuität und Entkanonisierung
Emigration‘ – in Bildern der ‚Klause‘ und ‚Insel‘, der ‚Nische‘ und der ‚Rückseite des Teppichs‘ – wuchs für Ehrler wie selbstverständlich aus dem des ‚Inneren Reichs‘ hervor. Ebenso die damit verbundene Wertung, dass das innere Exil zugleich patriotischer und geistiger gewesen sei als das ‚nur‘ äußere Exil derjenigen Autoren, die auch Ehrler nur für „dürftige Literaten“27 hielt. Die ‚Unwissenheit‘, die der Innenreichsbewohner meinte, sollte eine edle, die sancta simplicitas, sein. Die neue Selbstverortung in einem bloßen Abseits musste allerdings unterschlagen, dass das ältere, seherische Einsamkeitsmodell eine regenerative Unterstützungsleistung für die kriegerische Außenwelt so konstitutiv vorsah wie in Ehrlers Gedicht Eremit und Ritter (s. Kap. IV.2). Als Ehrlers Unterstützer Hermann Platz, engagiertes Mitglied der Zentrumspartei, bereits 1925 von den „Emigranten des Inneren“ sprach, meinte er die ‚Geistigen‘, welche die „Mitarbeit am Ganzen“ vermissen ließen – ‚das Ganze‘ verstanden als der Kreis zwischen Heimat und Abendland.28 An dieser Mitarbeit aber hat Ehrler es von seiner linksliberalen bis zu seiner zentrumsnahen Phase und darüber hinaus nie fehlen lassen. Ehrlers Angabe, die eingestandene Selbsttäuschung sei transitorisch (‚eine Zeitlang‘) gewesen, stützt sich auf die milieukatholischen Rückzugstendenzen ab 1939, ohne die damit verbundenen Ambivalenzen zu reflektieren. Der keineswegs pazifistisch gemeinte Friedensbegriff mit Hitler in der Rolle des imperator pacificus bewegte sich nach wie vor im Rahmen der Reichsidee, meinte somit nicht die Abwesenheit von Krieg, sondern eine ‚Erlösung von dem Bösen‘ und eine harmonia mundi, die dem „Einiger des Reichs“29 verdankt werden könne: „Denn nur das ‚Reich‘“, hatte Ehrler 1928 in Das Gesetz der Liebe formuliert, „bringt auch auf Erden Frieden“.30 Wie schon Moeller van den Bruck am Ende von Das dritte Reich offen ausgesprochen hat: „Der Gedanke des ewigen Friedens ist freilich der Gedanke 27 Ehrler: Charlotte, S. 9. – Zum Verdrehungspotential des Begriffs der ‚Inneren Emigration‘ vgl. Neil H. Donahue: Introduction: „Coming to Terms“ with the German Past. In: Flight of Fantasy. New Perspectives on Inner Emigration in German Literature, 1933–1945. Hg. v. dems. u. Doris Kirchner. New York 2003, S. 1–9, Hans Dieter Zimmermann: „Innere Emigration“. Ein historischer Begriff und seine Problematik. In: Schriftsteller und Widerstand. Facetten und Probleme der „Inneren Emigration“. Hg. v. Frank-Lothar Kroll u. Rüdiger von Voss. Göttingen 2012, S. 45–61, sowie Streim: Deutschsprachige Literatur 1933–1945, S. 158 ff. 28 Hermann Platz: Verfassungsrede. Rede am 11. August 1925 zum Tag der Weimarer Verfassung vor Reichspräsident, Reichsregierung, Reichstag und Reichsrat. In: Hermann Platz 1880–1945. Eine Gedenkschrift. Hg. v. Vincent Berning. Düsseldorf 1980, S. 142–150, hier S. 149. Vgl. dazu Becker: Der Bonner Romanist Hermann Platz, S. 252 f. 29 Ehrler: Das einige Reich der Deutschen, S. 380. 30 Ehrler: Das Gesetz der Liebe, S. 291. Vgl. ebd., S. 183: „Im erlangten ‚Reich‘ ist die Sünde überwunden.“
1. „für den deutschen Geist und das innere Reich“: Rechtfertigungen | 407
des dritten Reiches. Aber seine Verwirklichung will erkämpft, und das Reich will behauptet sein.“31 Ehrlers Zuversicht, dass ihm niemand außer ‚ein paar Hämlingen‘ seinen Hitlerglauben nachtragen werde, konnte sich vorderhand auf das Ergebnis der Spruchkammerermittlungen stützen: Das Verfahren wurde mit Beschluss vom März 1947 eingestellt, weil kein ausreichender Verdacht bestehe, dass der Betroffene Hauptschuldiger, Belasteter oder auch nur Minderbelasteter sei. So setzte sich genau die Auffassung durch, die Norbert Jacques in seiner 1950, also noch zu Ehrlers Lebzeiten erschienenen Autobiografie Mit Lust gelebt deklariert hat: Am naiv-treuherzigen Neuromantiker Ehrler sei die Wirklichkeit, auch die politische, vorübergegangen, ohne dass er sie auch nur habe rauschen hören.32 Ludwig Finckh festigte diesen Tenor in seinem Nachruf auf Ehrler 1951: was er schrieb, fiel heraus aus aller Zeit, daß man aufhorchen mußte. […] ein frommer Sinnierer, ein Bruder Christian Wagners, ein Mensch von Gottes Gnaden und nicht von dieser Welt. Als er in hohem Alter starb, stand er schon in der Ewigkeit, die er so sehr ersehnte. Sein Dichtermund schloß sich, seine Liebe, seine Lieder bleiben im Geiste.33
Vor dieser vermeintlichen Himmelfahrt aus der ‚deutschen Innerlichkeit‘ ins nationale Gedächtnis hatte Ehrler sich und die alten Freunde, als die eigentlichen Repräsentanten ‚deutschen Landes‘, aller Sünden feierlichst freigesprochen. Zum Jahresbeginn 1950 verschickte er folgende lyrische ‚Amnestie-Erklärung‘, eine seiner letzten Produktionen, durch das bewährte Netzwerk: Freunde, toten Jahres End Werde für uns Testament! Aus der Schicksalszeit der Not 31 Moeller van den Bruck: Das dritte Reich, S. 257. Vgl. auch die Rede von „pax et justitia, Friede und Gerechtigkeit im Reiche der Ordnung“ in der Abendlandbewegung: [Anon.]: Aufruf! In: Abendland 1 (1925/26), S. 3; dazu Hürten: Der Topos vom christlichen Abendland, S. 136 f. – Zum nichtpazifistischen Friedensbegriff im Reichsdenken vgl. Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, S. 296 f., sowie Hermand: Der alte Traum vom neuen Reich, S. 315 ff. 32 Jacques: Roman meines Lebens, S. 43. 33 Ludwig Finckh: Nachruf auf Hans Heinrich Ehrler, NL Finckh, Sign. N 13 – NL Finckh, Ludwig I, Nr. 1493, Kleine Prosa, 49) (Druckort nicht nachgewiesen). – Zum Vergleich mit Christian Wagner, der freilich in die Zeit vor 1918 führt und Ehrler auf diese Weise vom Nationalsozialismus distanzieren sollte, vgl. auch Ehrler: Einem alten Dichter.
408 | VII. Kontinuität und Entkanonisierung Reinigen im Morgenrot Alle wir uns Herz und Hand, Makelfrei sei deutsches Land!!34
Ehrlers am Ende vollständige juristische Entlastung kann nicht überraschen, sondern entsprach weitgehend der großzügigen Entnazifizierungspraxis, von der z.B. auch Schumann mit seinen Herabstufungen vom Hauptverdächtigen zum Minderbelasteten und zum Freigesprochenen profitierte.35 Auffällig ist gewiss der frühe Impuls, der aus dem Kultusministerium kam und sich durch das ganze Verfahren hindurch fortpflanzte. Kulturamt und Oberbürgermeisteramt der Stadt Stuttgart nahmen ihn auf; im Fragebogen vom Februar berief sich Ehrler selbst darauf, dass das Ministerium eine Entnazifizierung „ehrenhalber“ beantragt habe.36 Die Regierung von Württemberg-Baden wie auch die Vorläufergründungen der FDP und dann die FDP selbst mit Heuss als Vorsitzendem hielten das „Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ hinsichtlich des Neuaufbaus und der Umerziehung für kontraproduktiv. Heuss persönlich beurteilte die damit verbundenen Spruchkammerverfahren – unter anderem in einem Brief an Wilhelm Stapel vom Oktober 1947 – als „viel zu pedantisch“ und als eine der „ärgsten politischen und psychologischen Belastungen“.37 Letzteres Motiv klingt in der Stellungnahme aus dem Stuttgarter Rathaus wider, nach der man dem schwer gequälten Dichter seinen inneren Frieden wiedergeben wollte. Des hohen, Rücksicht fordernden Alters von Ehrler gedachte Heuss ausdrücklich auch in einem Brief an Hermann Missenharter vom Juni 1947.38 Der Entnazifizierungspraxis lag weithin ein Verständnis von Literatur als politisch schuldunfähig und irrelevant zugrunde. Dagegen operierten gerade Ehrler und Heuss auf der Basis eines Politikkonzepts, das Bildung und namentlich Literatur einen hohen Stellenwert für das öffentliche Wohl und Wehe einräumte. Heuss hatte klar genug gewarnt: „Wie viele 34 Enthalten unter anderem in: Hans Heinrich Ehrler an Hermann Missenharter, 6. Januar 1950, Stadtarchiv Stuttgart, Autographensammlung. 35 Vgl. Schoeps: Der Fall Gerhard Schumann, sowie Jan Bartels: Gerhard Schumann – der „nationale Sozialist“. In: Dichter für das „Dritte Reich“. Biografische Studien zum Verhältnis von Literatur und Ideologie. Hg. v. Rolf Düsterberg. Bielefeld 2009, S. 259–294. 36 Ministerium für politische Befreiung, Akte Ehrler, Vorgang 12. 37 Theodor Heuss an Wilhelm Stapel, 27. Oktober 1947. In: ders.: Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945–1949. Hg. v. Ernst Wolfgang Becker. München 2007 (= Stuttgarter Ausgabe. Briefe, Bd. 4), Nr. 107. Vgl. dazu bes. Radkau: Theodor Heuss, S. 267 ff. 38 Vgl. Theodor Heuss an Hermann Missenharter, 26. Juni 1947. In: ders.: Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945–1949. Hg. v. Ernst Wolfgang Becker. München 2007 (= Stuttgarter Ausgabe. Briefe, Bd. 4), Nr. 94.
2. „Vertretung der Heimat“ und „Gründe zur Zurückhaltung“ | 409
törichte Worte werden täglich geschrieben oder gesprochen, die Übles zur Folge haben, auch wenn die Schreiber sich von ‚Gott zum Geist erkoren‘ fühlen.“39 Und Ehrler selbst verriet ein Wirkungsbewusstsein, indem er im ersten Fragebogen – literarische und amtlich-politische Tätigkeit trennen wollend – angab: „Ich glaubte (ohne Activität) Deutschland zu helfen.“40 Dass Heuss als Kultusminister und Bundespräsident trotzdem bereit war, verschiedentlich ein Wort für Ehrler einzulegen, zeigt sich nicht allein in der Stellungnahme seiner Behörde zum Spruchkammerverfahren, sondern auch in der gezielten Zurechnung des Dichters zum liberalen Umkreis von Robert Bosch in der Biografie Robert Bosch. Leben und Leistung (1946)41 sowie in mehreren kleinen Dotationen, die das Bundespräsidialamt an Ehrler und noch bis 1958, d.h. bis zum Ende von Heuss’ Amtszeit, an die „Gesellschaft der Freunde von Hans Heinrich Ehrler“ angewiesen hat.42 Nicht umsonst hat Ehrler 1947 ein Widmungsexemplar von Charlotte „unter den Christbaum des alten Freundes Theodor“43 gelegt und Heuss in einem Brief vom März 1949 als seinen „Nothelfer“44 bezeichnet.
2. „Vertretung der Heimat“ und „Gründe zur Zurückhaltung“: letzte Rückmeldungen aus dem Netzwerk
Kontinuität und Diskontinuität nach 1945 entschieden sich bei Ehrler nicht an der formellen politisch-juristischen Freisprechung und nicht einmal am Verhältnis zum Nationalsozialismus. Im fortgeführten Briefwechsel Ehrlers mit Abele und Berning führte man die eingetretene Isolierung des Dichters auf seine „[c]hristlichhumane Bildung“ zurück, die „weithin abgelehnt“ werde.45 Abele geriet dabei in die alten, abendlandtheoretischen Fahrwasser, den schon an der Weimarer Republik beklagten „herrschende[n] Subjektivismus“, „Rationalismus“ und „Materialismus“ zu verurteilen, ohne mit den Gegenseiten des Autoritarismus, des Irrationalismus und des bürgerlich-ständischen Anspruchsdenkens abzurechnen.46 Berning, in39 Heuss: Die Politisierung des Literaten, S. 82. 40 Ministerium für politische Befreiung, Akte Ehrler, Vorgang 1, Nr. 14. 41 Vgl. Theodor Heuss: Robert Bosch. Leben und Leistung. Tübingen 1946, S. 461. 42 Vgl. Bundesarchiv, Bundespräsidialamt, Amtszeiten Theodor Heuss (1949–1959), Heinrich Lübke (1959–1969) und Gustav Heinemann (1969–1974); Wissenschaftliche und kulturelle Institute, Verbände und Vereine, Sign. B 122/335. 43 Freundliche Mitteilung von Ludwig Theodor Heuss (Zollikon). 44 Hans Heinrich Ehrler an Theodor Heuss, undat. (März 1949), NL Heuss. 45 Theodor Abele an Hans Heinrich Ehrler, 2. April 1948, NL Ehrler. 46 Theodor Abele: Hans Heinrich Ehrler. In: Hochland 44 (1951/52), S. 91 f.
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zwischen Mitherausgeber und Erster Chefredakteur der Frankfurter Neuen Presse, dem „bürgerliche[n] Gegenblatt“ zur Frankfurter Rundschau, bot Ehrler ein neues, christdemokratisch verpflichtetes Forum und beachtliche Honorare.47 Der vormalige Redakteur des Worts in der Zeit versuchte außerdem den Aachener Bischof Johannes Joseph van der Velden, der als Leiter des Päpstlichen Werkes der Glaubensverbreitung und des Volksvereins für das katholische Deutschland dem WerlSoester Kreis nahegestanden hatte, für die finanzielle Absicherung des Dichters zu gewinnen.48 Die Frankfurter Neue Presse arbeitete unter amerikanischer Lizenz vor allem mit dem Ziel, einer zuvor vielfach dem Nationalsozialismus verbundenen oder nahestehenden Leserschaft die neue Demokratie nahezubringen. Wie Ehrler ab 1933 für seine Freunde beim Wort in der Zeit und beim Gral, beim Stuttgarter Neuen Tagblatt und beim Bosch-Zünder Scharnierfunktionen im Systemwechsel übernommen hatte, so mochte dieses Verfahren auch diesmal angehen. Gegenstand der neuerlichen Zusammenarbeit zwischen Berning und Ehrler waren zum einen Vorabdrucke aus dem Roman Charlotte, der das deutsche ‚Unglück‘ als Parabel der Verführung eines unschuldigen süddeutschen Mädchens durch einen sittenlosen preußischen Militär zu rekapitulieren sucht, sowie aus einem fragmentarischen, auf 90 Typoskriptseiten überlieferten Buch Goethes Heimkehr, das Goethes Leben unter Betonung seiner ‚heimatlichen‘ Bindungen an Frankfurt nacherzählen sollte. Zum anderen diskutierte man das Manuskript des Buchs der Verantwortung, für das der Verlag der Frankfurter Neuen Presse die Abschrift und Vervielfältigung übernehmen wollte. Dabei handelt es sich um eine groß angelegte, im Nachlass überlieferte Rechtfertigungsschrift, an deren Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft Berning keinen Zweifel hegte, den Autor vielmehr ermutigte: in der Verurteilung des menschenunwürdigen Nationalsozialismus werden […] alle mit Euch übereinstimmen. Die von Euch mitgeteilten Briefe an Adolf Hitler und Goebbels, die in notvoller Zeit wirklich abgeschickt wurden, werden als eine mutige Tat eines prophetischen Dichters betrachtet werden.49
47 1946 insgesamt 844 Reichsmark, später Einzelüberweisungen von 250 und 300 Reichsmark, nach der Währungsreform 60 DM monatlich. – Zu Berning und zur Frankfurter Neuen Presse vgl. Gutberlet: Die „Frankfurter Neue Presse“, S. 33 u. S. 50 ff., Peter Köpf: Schreiben nach jeder Richtung. Goebbels-Propagandisten in der westdeutschen Nachkriegspresse. Berlin 1995, S. 61 f. (Zitat S. 61), sowie Peter Schmitt: Chefredakteure 1946–47. Die bedeutendsten Köpfe der FNP. In: Frankfurter Neue Presse, 15. April 2016. 48 Vgl. August Heinrich Berning an Hans Heinrich Ehrler, 9. Januar 1946, NL Ehrler. 49 August Heinrich Berning an Hans Heinrich Ehrler, 20. August 1948, NL Ehrler.
2. „Vertretung der Heimat“ und „Gründe zur Zurückhaltung“ | 411
In der Tat beanspruchte Ehrler hier und anderweitig, die NS-Staatsführung brieflich zum ‚Gesetz der Liebe‘ ermahnt und vor der ‚tragischen Hybris‘ gewarnt zu haben. Dasselbe Motiv – Mahnbriefe angesichts des nicht nur kulturell unwürdigen, sondern auch blasphemischen „Terror[s] gegen die Juden und ihre Gotteshäuser“ – findet sich in der Autobiografie von Schumann.50 Die Arbeit an dem Buch hat Ehrler wohl im Mai 1945 noch unter dem ersten Schock des realgeschichtlichen Bruches, auch der eigenen Bloßstellung als im Hinblick auf das Dritte Reich falscher Prophet aufgenommen. Dabei sah er sich gegenüber seinem von vornherein NS-kritischen Theologenfreund Breucha als einen ecce homo: einen „mit plagendem Siechtum und Denksorgen Geschlagenen“, den nicht mehr der geistliche Beistand, der sich nur noch selbst, mit einem hier noch sogenannten Buch Besinnung erbauen könne: Auch die vom Gnadengeist befohlenen edlen Predigten können mich nicht recht zutunlich machen. Denn der Wurm sitzt bei mir noch wo anders. Es ist mehr zerbrochen in meinem Vertrauen und Glauben. Schwerste Gespensternächte und glühende Augen von verfluchten Fragen. Ich altes, schwaches Knochen- und Hautwerk bin ganz unten hingestellt. Ich friere schmerzhaft. […] Ich schreibe, muß schreiben langsam und schmerzdurchsetzt ein ernstes „Buch Besinnung“, ein notwendiges, strenges.51
Im Mai 1946, „nach einem schweren Jahr“, meldete er Breucha den Abschluss des nun Das Buch der Verantwortung betitelten Manuskripts, das er zu diesem Zeitpunkt noch mit einer Generalbeichte in Verbindung brachte.52 Danach scheint die Arbeit jedoch parallel zum Spruchkammerverfahren weitergegangen zu sein, währenddessen die ‚verfluchten Fragen‘ immer einfachere Antworten erhielten und die Verantwortungs- zu einer Verteidigungsschrift wurde. Wie wenig selbstkritisch das in weiten Teilen des Typoskripts abgeschlossene Buch der Verantwortung – entgegen seinem anspruchsvollen Titel – letztlich verfährt, lässt sich schon daran 50 Schumann: Von Herkunft, Leben und Schaffen, S. 153. 51 Ehrler an Breucha, 30. September 1945 (Kustermann: Hans Heinrich Ehrler und Hermann Breucha, Nr. 4). Vgl. diesen Anspruch wiederum auch bei Schumann: Von Herkunft, Leben und Schaffen, S. 125: Der Bericht sei „Ergebnis harter, rücksichtsloser Selbstprüfung [...] und durchaus kein Versuch einer billigen vordergründigen Selbstrechtfertigung“. 52 Hans Heinrich Ehrler an Hermann Breucha, 14. Mai 1946. In: Abraham Peter Kustermann: Hans Heinrich Ehrler und Hermann Breucha. Schwäbischer Kulturkatholizismus auf Abwegen. In fünf Dokumenten aus dem Nachlass Hermann Breucha. In: Region – Religion – Identität. Tübinger Wege. Hg. v. Rainer Bendel u. Josef Nolte. Berlin 2017, S. 87–115, Nr. 5.
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ablesen, dass der Autor es 1950 mit seinem alten Freund, dem überzeugten NSGermanisten Hermann Pongs, besprechen zu können glaubte: Es würden darin die „seelischen Kämpfe um die Zeit ausgetragen“, beschreibt Ehrler den Inhalt und geht dabei mit seiner eigenen zeitgeschichtlichen Person letztlich genauso großzügig um wie mit Pongs, dem er zur Widerbestallung an der Universität Göttingen nach ergangenem Berufsverbot gratulieren zu dürfen glaubte.53 Wie die Karriere von Pongs tatsächlich beendet war, so wurde Berning im Juli 1947 von der amerikanischen „Information Control Division“ als Chefredakteur der Frankfurter Neuen Presse abgesetzt, weil er Liberalismus für Anarchie gehalten haben soll. Zu den alten katholischen Freunden kommt ein neuer, jüngerer hinzu, der jedoch wie Abele und Berning von der Abendlandbewegung und dem Renouveau catholique geprägt war: der Romanist Erwin Karl Münz, Mitarbeiter an Döblins christlich und frankophil ausgerichtetem Goldenem Tor und zeitweilig Vorsitzender der „Gesellschaft der Freunde Hans Heinrich Ehrlers“. Münz brachte grundsätzlich einiges Verständnis für die Anpassungszwänge im NS-Staat mit, nachdem er als Aktivist der katholischen Studentenschaft von Will Vesper persönlich in der Neuen Literatur angegriffen worden und darauf, zu seinem Selbstschutz, in die NSDAP eingetreten war.54 Er repräsentiert aber nicht nur die Nachsicht der Mitbetroffenen und Befangenen, sondern auch die schon von Abele im Wort in der Zeit vertretene und aus katholisch-universalistischer Perspektive nahezu unvermeidliche Position, das Christentum sei angesichts der „Nichtigkeit aller irdischen Systeme“ verfassungspolitisch indifferent, die Kirche nicht mit Verantwortung für die Welt, sondern mit der Sorge um die unsterblichen Seelen beauftragt.55 Die „Vergeltung der Sünden“ sei dem göttlichen Gericht anheimzustellen, was eine ablehnende Haltung gegenüber der strafrechtlichen Betrachtung implizierte. Die historischen Verfehlungen gehen sündentheologisch großzügig und ohne Einzel53 Hans Heinrich Ehrler an Hermann Pongs, 21. Juni 1950, DLA Marbach, Sign. A:Pongs. Mehrere Briefe von Pongs an Ehrler aus den Jahren 1950/51 sind ebenfalls im DLA Marbach, Sign. A:Pongs, erhalten. 54 Zur Biografie von Münz vgl. Dietrich Schlüter: Christliche Literatur und ihre Kanonisierung seit 1945. Diss. Dortmund 2001, S. 323–325; zu den nationalsozialistischen Angriffen gegen ihn Will Vesper: Unsere Meinung. In: Die Neue Literatur 36 (1935), S. 563; zur Mitarbeit bei Döblin Alexandra Birkert: Das Goldene Tor. Alfred Döblins Nachkriegszeitschrift. Rahmenbedingungen, Zielsetzung, Entwicklung. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 33 (1989), S. 201–317, hier S. 285 ff. 55 Erwin Karl Münz: Charles Péguy. In: Das Goldene Tor 5 (1950), S. 30–34, hier S. 34. Vgl. die verfassungspolitische Neutralitätserklärung von Abele und Neipperg: Zur Einführung, S. 1. Zum Hintergrund einführend Christian Waldhoff: Katholizismus und Verfassungsstaat. In: Jahres- und Tagungsbericht der Görresgesellschaft 2010. Köln 2011, S. 43–67.
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prüfung in der ewigen Natur des „übermütige[n] Menschengeist[es]“ auf, in die (zumal unter kirchlicher Anleitung) revidierbare Entfernung von Gott, in „Tragik“ und „Dämonie“56 – hier steht Münz für verbreitete Positionen in der katholischen Geschichtsdeutung der postfaschistischen Jahre, wie sie in Ehrlers Umfeld auch von Joseph Bernhart in dessen Buch Chaos und Dämonie. Von den göttlichen Schatten der Schöpfung (1950) gleichermaßen beschrieben und problematisiert wurden.57 Münz hatte in Auseinandersetzung mit dem katholischen Bekennertum von André Gide und Charles Péguy eine Literaturtheologie formuliert, in der er Dichtung recht unumwunden als Apostolat im Rahmen der Laienbewegung entwirft: Christliche Literatur, erklärt er, zeichne sich dadurch aus, Erfahrungen von „Durchbrüchen“ göttlicher Gnade und „Erweckungen“ des Herzens zu bezeugen. Sie sollte helfen, „das von falschen Ideologien überdeckte Christentum“ wieder freizulegen und einen „magischen Lichtkreis“ im Dunkel der geschichtlichen Zeit zu schaffen.58 So war Münz auch nicht abgeneigt, einen Schriftsteller wie Ehrler zu 56 Münz: Charles Péguy, S. 32; vgl. ders.: Dämonie und Tragik des französischen Symbolismus. In: Das Goldene Tor 3 (1948), S. 732–741, hier S. 733. 57 Vgl. Joseph Bernhart: Chaos und Dämonie. Von den göttlichen Schatten der Schöpfung. München 1950, S. 9: „Indessen sind wir alle Zeugen geworden, daß die Rede vom Dämonischen – kein Wunder – von allen Lippen kam.“ Die Theologie dürfe sich allerdings „nicht […] hinausreden auf ein anonymes Drama der allgemeinsamen Menschennatur“, so sehr die „Tiefe des Mysteriums Sünde“ dazu verlocke. – Zu den Motiven von ‚Tragik‘ und ‚Dämonie‘ vgl. grundsätzlich Rainer Bendel: Einleitung. In: Kirche der Sünder – sündige Kirche? Beispiele für den Umgang mit Schuld nach 1945. Hg. v. dems. Münster, Hamburg u.a. 2002, S. 9–18, und im speziellen Fall ders: Joseph Bernhart. Die Krisis menschlichen Handelns und der Geschichte. In: Eigensinn und Bindung. Katholische deutsche Intellektuelle im 20. Jahrhundert. 39 Porträts. Hg. v. Hans-Rüdiger Schwab. Kevelaer 2009, S. 155–174, hier S. 167 f., sowie Daniel Hoffmann: Joseph Bernhart (1881–1969). Vom Mysterium der Geschichte. In: Freie Anerkennung übergeschichtlicher Bindungen. Katholische Geschichtswahrnehmung im deutschsprachigen Raum des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Thomas Pittrof u. Walter Schmitz. Freiburg/Br. 2010, S. 181–193, hier S. 188 ff. – Zur kirchlichen Haltung gegenüber den Spruchkammerverfahren bes. Mark Edward Ruff: Katholische Kirche und Entnazifizierung. In: Die Katholische Kirche im Dritten Reich. Eine Einführung. Hg. v. Christoph Kösters u. dems. Freiburg/Br., Basel u.a. 2011, S. 142–153. – Zur wesentlichen Stimme von Stefan Andres in diesem Zusammenhang Klapper: The Search for Synthesis, S. 150 f., sowie Gregor Streim: Geschichtsverzicht und zeitlose Anthropologie in Romanen von Stefan Andres und Wolfgang Koeppen. In: Banalität mit Stil. Zur Widersprüchlichkeit der Literaturproduktion im Nationalsozialismus. Hg. v. Walter Delabar, Horst Denkler u.a. Berlin 1999, S. 103–116, hier S. 106 mit der Einschätzung, die Romane und Novellen von Andres hätten vor 1945 als „Trostmittel“ gedient und danach das „Bedürfnis nach einem abstrakt-philosophischen Umgang mit der Schuldproblematik [bedient]“. 58 Münz: Charles Péguy, S. 32–34. Vgl. Erwin Karl Münz: André Gide und Henri Ghéons Bekehrung. In: Das Goldene Tor 3 (1948), S. 50–57. Zur Literaturtheologie von Münz Schlüter: Christliche Literatur und ihre Kanonisierung, S. 322 ff.
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fördern, z.B. mit einer auf religiöse Texte konzentrierten Auswahlausgabe von Ehrlers Gedichten unter dem doppeldeutigen, das Christliche wie das Anthologische der Sammlung bezeichnenden Titel Das Unvergängliche (1955).59 Während sich Abele, Berning und Münz strikt vom nun als ‚unchristlich‘ beurteilten Nationalsozialismus distanzierten und ihre älteren Hoffnungen auf eine ihm zu verdankende Glaubensrenaissance beschwiegen, beharrten andere Ehrlervertraute wie Bühner, Finckh, Pongs und Schumann unbeirrt darauf, im Dritten Reich die „Vertretung der Heimat“ übernommen und zum „unvergänglichen Schatz der deutschen Literatur“ beigetragen zu haben – in diesem Wortlaut Schumann in einem Brief an Ehrler vom Juli 1949.60 Dabei rechnete Schumann den ‚Schatzhalter‘ Ehrler unwidersprochen in die eigenen, NS-treuen Reihen und wollte die Trennung zwischen nationalsozialistischen und christlichen Kreisen nicht gelten lassen. Als unbestritten führender SA-Mann rechnete er sich zugleich dem „christlich-konservativen Lager“ zu, erklärte seine NS-Texte zu „religiöse[n] Dichtungen“ und berief sich auf deren Anklang in kirchlichen Kreisen.61 Ähnlich wie Ehrlers katholische Freunde hielt der Protestant Schumann die dominante Gegenwartskultur nicht nur für pornografisch, sondern auch für blasphemisch.62 Im Krieg zuletzt SS-Obersturmführer war er nach seiner Entlassung „aus den Konzentrationslagern der Alliierten“, die er auch als „Ausrottungslager“ bezeichnete,63 nicht lange aus dem publizistischen Verkehr gezogen, bis er Anfang der 1950er Jahre mit für die Gleichgesinnten kodierten Titeln wie Die große Prüfung (1953) und Der Segen bleibt (1968) auf den Buchmarkt zurückkehrte, 1962 die Marke des dem Schwäbischen Dichterkreis verbundenen Hohenstaufen-Verlags wiederaufleben ließ und dessen neue Ausrichtung unter das Motto „Von der konservativen Revolution zur konservativen Evolution“64 stellte. „Undank rings“65, monierte er für 59 Hans Heinrich Ehrler: Das Unvergängliche. Gedichte. Hg. v. Erwin Karl Münz. Friedberg bei Augsburg 1955. 60 Gerhard Schumann an Hans Heinrich Ehrler, 9. Juli 1949, NL Ehrler. 61 Vgl. Schumanns Rechtfertigungen bei Schöne: Über politische Lyrik im 20. Jahrhundert, Anhang, ferner Schumann: Von Herkunft, Leben und Schaffen, S. 129. 62 Vgl. Schumann: Von Herkunft, Leben und Schaffen, S. 191. 63 Schumann: Von Herkunft, Leben und Schaffen, S. 125 u. S. 166. 64 Zit. n. Hinrich Jantzen: Namen und Werke. Biographien und Beiträge zur Soziologie der Jugendbewegung. Bd. 3. Frankfurt/M. 1975, S. 298; vgl. Schumann: Von Herkunft, Leben und Schaffen, S. 86. Zum Denkmuster vgl. Daniel Morat: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920–1960. Göttingen 2007, S. 439 ff. 65 Zit. n. [Anon.]: Gerhard Schumann. Undank rings. In: Der Spiegel 12 (1959), H. 37, S. 72 f. Zur Selbstrechtfertigung Schumanns in seiner Autobiografie Von Herkunft, Leben und Schaffen
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seine und anderer literarische Entkanonisierung in der Nachkriegszeit. Resonanz fand er besonders noch im Bund für Heimatschutz in Württemberg und Hohenzollern bzw., nach dessen Reorganisation 1949, im Schwäbischen Heimatbund,66 was ihn in den Bereich der ‚Heimatliteratur‘ rückte und nicht seinem vollen Selbstverständnis entsprach. Bühner äußerte sich weiter unter anderem in katholisch fundierten Organen wie dem Deutschen Volksblatt und sang dabei ungebrochen das Loblied Ehrlers, ja behauptete dessen Unzufriedenheit mit der Nachkriegszeit als „Leiden an der Zeit“.67 Im Nachwort einer Neuauflage von Ehrlers Reise in die Heimat zog er sich 1958 ganz auf den christlichen Standpunkt zurück, wollte „Heimat“ allegorisch verstanden wissen (als „Chiffre des übernatürlichen Geistes“) und nahm Ehrler mit der Charakterisierung als eines „der stillsten und auch frommsten“ Dichter des 20. Jahrhunderts indirekt von Verwicklungen in die jüngste Geschichte aus. Wie dünn der christliche Schleier über Bühners Literaturverständnis ist, zeigt in mehrfacher Weise die Belobigung Ehrlers als „ein[es] große[n] Dichter[s], weil er noch mit dem Herzen denken konnte“.68 Hier wird nicht nur dem Irrationalismus das Wort geredet und der jüngeren Literatur die Größe abgesprochen, sondern auch der vom Nationalsozialismus gefeierte und mit dem Schillerpreis ausgezeichnete Band Mit dem Herzen gedacht anzitiert. Ludwig Finckh, der 1945 kurzzeitig in Haft saß und 1947 als Minderbelasteter eingestuft wurde, nach der sicheren Einschätzung Hesses ein „alte[r] vernagelte[r] Nazi“69 blieb, demonstrierte in einem Nachruf auf Ehrler 1951 gewissensreine Verbundenheit und Einigkeit.70 Hellmuth Langenbucher schloss sich mit einem Nekrolog in der 1949 gegründeten Mitgliederzeitschrift des Schwäbischen Heimatbundes, Schwäbische Heimat, an, um die Nachkriegskonjunktur des Hochwertworts ‚Heimat‘ für jenen älteren Ethnonationalismus zu nutzen, der ein möglichst starkes Deutschland von einem möglichst vgl. Andrea Reiter: Der schwierige Blick zurück. Lebensberichte aus dem Umkreis des „Dichtersteins Offenhausen“ als Beispiel für nicht bewältigte Vergangenheit. In: Österreich in Geschichte und Literatur 32 (1988), H. 3/4, S. 147–161, hier S. 154 ff. Zu Entschuldigungsweigerung und Selbstreinwaschung in diesem Zusammenhang vgl. regionalgeschichtlich Arbogast: Herrschaftsinstanzen der württembergischen NSDAP, S. 221 ff., kulturgeschichtlich Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 307 ff. u. S. 385 ff. 66 Vgl. Wilfried Setzler: Vom Bund für Heimatschutz zum Schwäbischen Heimatbund. In: Schwäbische Heimat 60 (2009), S. 156–163, hier S. 162 f. 67 Bühner: Eines stillen Dichters Einsiedelei; ders.: Er war ein Gast in meinem Zimmer. 68 Karl Hans Bühner: Nachwort. In: Hans Heinrich Ehrler: Die Reise in die Heimat. Tübingen 1958, S. 201–203. 69 Zit. n. Düsterberg: Einleitung, S. 11. 70 Finckh: Nachruf auf Hans Heinrich Ehrler.
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‚gesunden Stammesleben‘ ableitete. Hatte Langenbucher in Volkhafte Dichtung der Zeit vor allem den Reichshorizont von Ehrlers sendungsbewusstem Regionalismus gesehen, perspektivierte er nun kleinräumig und introvertiert: „Sein Schaffen ist ein geistiges Erwandern der Heimat und ein glühendes Ringen um die innersten Seelenkräfte des Menschen gewesen.“ Zu Ehrlers gerade von Langenbucher betriebener Förderung im Dritten Reich heißt es: „Er ist sich stets gleich geblieben, und wenn seine gut deutsche, nationale Gesinnung später gelegentlich in verengerndem Parteisinne umgedeutet worden ist, so ist er selbst daran nicht beteiligt und nicht schuldig gewesen.“ Die kriegstheologische Dienstbarkeit von Schriften aus der Zeit des Ersten Weltkriegs wird gleichwohl kaum unterschlagen: „Er stellt gern bestimmte […] ethische Höchstwerte in den Mittelpunkt seiner Werke, wie den Opfergedanken, der den Liederzyklus ‚Klage der Braut‘ und die Novellensammlung ‚Elisabeths Opferung‘ beherrscht.“71 Für Ehrlers Nachleben gab sich Langenbucher antimaterialistisch und elitaristisch zuversichtlich: sein Wort wird weiterklingen, und wenn es auch keine Botschaft für die Masse ist, so ist es doch eine Hinführung zu den tiefsten und edelsten Werten eines höheren Menschentums und wird auch in dieser Zeit des allgemeinen Tanzes um das Goldene Kalb der Genußsucht die besonnene Minderheit erreichen, auf die es im Raum des kulturellen Lebens immer wieder ankommt.72
Einige wenige sprachen Ehrlers Verstrickung öffentlich an. Ein ausnehmend scharfer Angriff erfolgte 1947 durch den Tübinger Landgerichtsrat und Journalisten Paul Wilhelm Wenger in der Satirezeitschrift Das Wespennest unter der Überschrift St. Franziskus als Entnazifizierungsgehilfe: Die literarischen Auswirkungen der deutschen Niederlage sind erschreckend. Der Marschtritt heroisch klingender Verse kriecht allenthalben in das verinnerlicht tastende Geschlürfe zärtelnder Gefühlchen hinein und das blaue Biedermannsblümchen einer innig-sinnigen Tugendromantik schließt an ach so vielen poetischen Nebenwegen in beklemmender Fülle ins Kraut. Auch Hans Heinrich Ehrler, ehedem sonorer Barde eines im ‚Phrasenfriedhof ‘ der braunen Reichslyrik placierten Führerdankgebetes, läßt es sich nicht nehmen, in der Sintflut unserer derzeitigen Binnenlyrik wacker mitzuschwimmen.
71 Langenbucher: In memoriam Hans Heinrich Ehrler, S. 157 f. 72 Langenbucher: In memoriam Hans Heinrich Ehrler, S. 156.
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Er schmiege sich „neuerdings“ – hier verkennt der 1912 geborene Wenger freilich die lebensreformerischen Wurzeln des literarischen Franziskanismus – „dicht an St. Franziskus an“ und beglücke die Leser des Katholischen Sonntagsblattes mit naturfrommen Gedichten. Wenger zitiert darauf Ehrlers am 5. Oktober 1947 im Sonntagsblatt erschienenes Gedicht St. Franziskus und parodiert es anschließend hinsichtlich seines Unschuldsgestus. Das Blumenwunder, das zur Franziskuslegende gehört, wird zum Wunder einer Entnazifizierung, in welcher der „braune Dichter“ „durch des Stempels Kraft“ gereinigt und erneuert werde: „fern / Von allem, was du gestern hattest gern!“73 Das Gedicht Zum 20. April 1939 war hier also noch keineswegs ganz vergessen; die Kontinuität des politisch-religiösen Führerkultes wurde ebenso klar erkannt und benannt wie die eskapistisch-schuldverweigernden Funktionen religiöser Naturlyrik. – Dieselbe Satirezeitschrift hat den verschiedenen Beteiligungsgruppen der NS-Literatur eine systematische, 14-teilige Folge von Themenheften gewidmet, darunter Der Ruf der Herolde (unter anderem zu Vesper und Linke), Der Schrei der Verzückten (unter anderem zu Heinrich Zillich), Die Weihegabe der Lyriker (unter anderem zur Bühner-Anthologie) und Das Scherflein der Frauen (vor allem zu Miegel). Ehrler wurde neben Blunck, Anton Dörfler und anderen im Heft Der Kotau der Stillen im Lande wiederum von Wenger behandelt.74 „Um der Wahrheit willen“ benannte Stadtpfarrer Hermann Breucha im Juli 1952 bei einer ökumenischen, durch die „Theologische Arbeitsgemeinschaft Stuttgart“ veranstalteten „Gedenkstunde für den Dichter Hans Heinrich Ehrler aus Anlaß seines 80. Geburtstags“ die schwere „Belastung“, welche „die Freundschaft durch den naiven politischen Glauben des Lyrikers erfahren“ habe.75 Breucha bedauert wie Abele und Berning eine materialistisch und subjektivistisch geneigte Gegenwartskultur, „in der die Dichter und Propheten immer spärlicher zu werden scheinen“. Er würdigt auch Ehrlers aus dem lebens- und liturgiebewegten Aufbruch der Jahrhundertwende geborene Sorge um das „Mißverhältnis zwischen der Weite katholischer Weltschau und der Enge so vieler in der Kirche“, also den Widerspruch zwischen Vision des Reichs und religionsgeschütztem Spießertum.76 73 Wenger: St. Franziskus als Entnazifizierungsgehilfe. Dazu knapp Bernhard Jendricke: Die Nachkriegszeit im Spiegel der Satire. Die satirischen Zeitschriften Simpl und Wespennest in den Jahren 1946–1950. Frankfurt/M., Bern u.a. 1982, S. 128. 74 Vgl. Jendricke: Die Nachkriegszeit im Spiegel der Satire, S. 350. 75 Vgl. K.: Gedenkstunde für Hans Heinrich Ehrler. In: Stuttgarter Zeitung, 12. Juli 1952. 76 Breucha: Erinnerung an Hans Heinrich Ehrler (1952). Vgl. auch Breucha: Erinnerung an Hans Heinrich Ehrler (1961), über Ehrlers Kirchenferne von der Studienzeit bis zum Ende der 1920er Jahre: „Daß ihn sein Weg dann für Jahre aus seiner religiösen Heimat weggeführt, lag nicht al-
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Zuletzt verhehlt er aber nicht, dass man „heftig gegeneinander“ gestanden habe, weil der Dichter „seine Vorstellung vom Reich, vom heiligen deutschen Reich, und es war eine hohe Vorstellung, die er hatte, in die Farce des dritten Reiches“ hineinprojiziert habe.77 Ehrler habe nicht erkannt, so Breucha ganz auf der Linie von Mit brennender Sorge, dass der Nationalsozialismus „alle großen und heiligen Worte unserer Sprache verfälschte und mit einem Pseudoinhalt füllte“.78 Breuchas Bild von der Projektion des Richtigen in das Falsche lässt die Kritik freilich nicht bis an den Reichsgedanken selbst herankommen, von dem man vorläufig annehmen konnte, er sei durch den Nationalsozialismus nur gefälscht worden.79 Diese typische Denkfigur christlicher NS-Kritik findet sich in fast wortgleicher Ausprägung bei einem der meistgelesenen deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit: Reinhold Schneider, der von der Naziherrschaft als einer „Parodie des Reiches“80 sprach, an der kein einziger Gedanke, nur das Ausmaß der Rohheit neu gewesen sei. Bei der Rede zur Neubestattung von Ehrlers Leichnam in Bad Mergentheim sprach Breucha 1955 anspielend nur von dem, „was sich vielleicht bei der wirklichen Begegnung störend und hemmend zwischen Menschen legt, jene Fracht des Menschlichen und Allzumenschlichen, die jeder von uns durchs Leben trägt“. Ebenso achtete er bei dieser Gelegenheit darauf, Ehrler, „eine[n] der letzten Künder des Wortes“, vom Verdacht des Pantheismus freizuhalten, indem er die platonischen Voraussetzungen und die allenfalls mystischen Perspektiven betonte: „Er wußte, daß die Dinge Abbilder sind eines anderen, unsichtbaren Urbildes, aber daß sie in ihrem leuchtenden Schein von jenem Innesein Kunde geben. Und darum liebte er die Dinge der Welt mit einer ehrfürchtigen Liebe und ließ sich durch sie selbst in diese Innenkammer der Welt führen.“81
lein an ihm. Es lag auch an der Enge unserer Kirche durch die Jahrhunderte, die manch Großen zu einem Auszug veranlaßte. […] Carl Muth war es, der durch sein Jahrhundertwerk mit der Gründung des ‚Hochland‘ als erster unter großen Widerständen der offiziellen Kirche das Tor aufbrach. Nicht alle, die vorher ausgezogen waren, haben wieder in das Haus der Mutter zurückgefunden. Als wir Hans Heinrich Ehrler kennen lernten, war er schon längst in die Heimat zurückgekehrt.“ 77 Breucha: Erinnerung an Hans Heinrich Ehrler (1952). 78 Breucha: Erinnerung an Hans Heinrich Ehrler (1961). 79 Vgl. Gaupp: Deutsche Fälschung der abendländischen Reichsidee, S. 79 ff. 80 Reinhold Schneider: Die Zeit in uns. Zwei autobiographische Werke: Verhüllter Tag. Winter in Wien. Hg. v. Edwin Maria Landau. Nachw. v. Josef Rast. Frankfurt/M. 1978 (= Gesammelte Werke, Bd. 10), S. 97. Dazu Kurzke: Der ausgeträumte Traum vom Reich, S. 218. 81 Breucha: Hans Heinrich Ehrlers letzte Reise in die Heimat.
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Zu den weiteren Gedächtnisträgern gehörte von Berufs wegen der Herausgeber der 1946 lizenzierten Stuttgarter Nachrichten, Otto Färber, katholischer Kirchenhistoriker und NS-Verfolgter, der begründen musste, warum er sämtliche Einsendungen des Journalisten und Dichters umgehend retournierte. 1950 umschrieb er „frühere Gründe zur Zurückhaltung“, die „nicht mehr die Tragweite“ besäßen „wie ehedem“,82 hielt die „moralische[] Rehabilitierung“ Ehrlers „in der Öffentlichkeit“ für „denkbar[] und wünschenswert[]“, aber nicht für vollzogen.83 Als im Deutschordensschloss von Bad Mergentheim 1952 eine Gedenkausstellung zu Ehrler eröffnet wurde und man in diesem Rahmen auch auf die Urkunde des Schillerpreises von 1938 Wert legte, fragte der Berichterstatter der Stuttgarter Nachrichten, der für seine NS-Aufarbeitung einschlägige Journalist Emil Belzner, trocken an: „Mußte das sein?“, und beurteilt Ehrler als einen ebenso frommen wie politischen Dichter, der es gerade deshalb „sich und anderen nicht immer leicht“ gemacht habe.84 Die Spannungen in Ehrlers Biografie, Werk und Anhängerschaft spiegelt exemplarisch nochmals das erste Vorstands- und Mitgliederverzeichnis der 1952 gegründeten „Gesellschaft der Freunde Hans Heinrich Ehrlers“: Hier stehen katholische und evangelische Amtsträger (Generalvikar August Hagen vom Domkapitel des Bistums Rottenburg, Pfarrer Hermann Breucha und Pfarrer Gottlob Lang von der „Theologischen Arbeitsgemeinschaft Stuttgart“) neben kunst- und heimatsinnigen Politikern (Bundespräsident Heuss, Kultusminister a. D. Theodor Bäuerle, Oberbürgermeister Norbert Schier von Bad Mergentheim), dem Präsidenten des Schillervereins (Erwin Ackerknecht, zugleich einer der ersten, seinerzeit, 1912, völkisch eingestellten Rezensenten Ehrlers), älteren und jüngeren Schriftstellerfreunden (Norbert Jacques, Gerhard Schumann), nationalsozialistisch geprägten Germanisten (Karl Hans Bühner, Hermann Pongs) und auffällig wenigen Zeitungsleuten
82 Otto Färber an Hans Heinrich Ehrler, 11. März 1950, NL Ehrler. 83 Otto Färber an Melanie Ehrler, 26. April 1950, NL Ehrler. – Zu Färber und den Stuttgarter Nachrichten vgl. Michael Kitzing: Färber, Otto. In: Baden-Württembergische Biographien. Hg. v. Fred Ludwig Sepaintner. Bd. 5. Stuttgart 2013, S. 98–101, sowie Stefan Kursawe: Stimmen der „Stunde Eins“. Politische Kommentare im Stuttgart der unmittelbaren Nachkriegszeit. In: Rundfunk und Geschichte 23 (1997), S. 208–223. 84 Emil Belzner: Nicht nur ein Heimatdichter. In: Stuttgarter Nachrichten, 9. Juli 1952. Zu Belzners Antifaschismus vgl. Roland Krischke: Emil Belzner (1901–1979) Schriftsteller und Journalist. Heidelberg 2002, S. 61 ff. – Zu den Hintergründen der Ausstellung von 1952, die auf einem Nachlassarrangement des Kultusministeriums und der Kommune mit der Witwe beruhte, vgl. [Anon.]: Gedenkfeiern 1952 für Hans Heinrich Ehrler. In: Tauber-Zeitung, 7. Juli 1952, sowie Kultusministerium, Personalakten, Heinrich und Melanie Ehrler, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Sign. EA 3/150 Bü 3160.
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(wie Ernst Müller, Herausgeber des Schwäbischen Tagblatts).85 1955 richteten der Freundeskreis und die Stadt mit Mobiliar, Bildern und Büchern aus dem Nachlass ein „Ehrler-Dichterzimmer“ im Deutschordensschloss ein.86 Die Reaktionen darauf waren schon weniger politisch-zeithistorisch als touristisch-nostalgisch gestimmt und allein noch auf Baden-Württemberg beschränkt.87 „Und gestern, da hörte uns Deutschland“, hatten fast alle Langen-Müller-Autoren zu erinnern, da sie von den Feuilletons nun beschwiegen und über langsame Aussortierungsprozesse bei Literaturgeschichten, Anthologien, Schulbüchern und Nachschlagewerken von bekannten zu unbekannten Schriftstellern wurden.88 Wie Ehrlers Weg dazu verlief, ist abschließend zu rekonstruieren.
3. „Dichtung als Lebenshilfe“: die Entliterarisierung des Erbaulichen
Die kulturellen Restaurationstendenzen der unmittelbaren Nachkriegszeit mit der Heimat als „Vogel Phönix“89 und dem Abendland als „Ewige[m] und Ideelle[m]“, 85 Vgl. Hans Heinrich Ehrler: Gedichte. Hg. v. Milli Stotz. Tübingen 1951, Anhang, S. 45–47. 86 Vgl. Gesellschaft der Freunde von Hans Heinrich Ehrler, i. A. Georg R. Ratsch (Kulturreferent der Stadt Bad Mergentheim): [Mitgliederbrief], 18. Oktober 1955, Stadtarchiv Stuttgart, Zeitungsausschnittsammlung Ehrler. 87 Vgl. exemplarisch [Anon.]: Ehrler-Dichterzimmer. In: Baden-Württemberg. Südwestdeutsche Monatsschrift für Kultur, Wirtschaft und Reisen 3 (1956), H. 12, S. 37. Zum Ehrlerzimmer näherhin Christoph Bittel: Vom Bezirksheimatmuseum zum Deutschordensmuseum. 70 Jahre Museumsverein in Bad Mergentheim. In: Württembergisch Franken. Jahrbuch des Historischen Vereins für Württembergisch Franken 85 (2001), S. 401–443, hier S. 422 f. u. S. 428. 88 Dazu instruktiv Stefan Busch: „Und gestern, da hörte uns Deutschland“. NS-Autoren in der Bundesrepublik. Kontinuität und Diskontinuität bei Friedrich Griese, Werner Beumelburg, Eberhard Wolfgang Möller und Kurt Ziesel. Würzburg 1998, bes. S. 27–30 („Das Schweigen der Feuilletons“) sowie Vordermayer: Bildungsbürgertum und völkische Ideologie, S. 353–408 („Restöffenlichkeit und gesellschaftliche Ausgrenzung: Grimm, Kolbenheyer und Stapel nach 1945“). – Zu den je nach Buchmarktsegment unterschiedlichen Reaktionsgeschwindigkeiten vgl. Hans Sarkowicz: Vom „Kahlschlag“ keine Spur. Anmerkungen zum Umgang mit der Heimatliteratur des „Dritten Reiches“ in der Bundesrepublik Deutschland. In: Heimat. Neue Erkundungen eines alten Themas. Hg. v. Horst Bienek. München, Wien 1985, S. 62–72. – Zu den literaturgeschichtlichen Kontinuitäten zwischen 1930 und 1950 aufgrund von Ordnungsdenken, Aufklärungskritik, Bevorzugung landschaftlicher Themen, Wiederaufleben von vormodernen Stilen und Gebrauchsorientierung vgl. Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein, S. 385–400 („Zur Periodisierung der deutschen Literatur seit 1930“). 89 Felix Schuster: 40 Jahre Bund für Heimatschutz in Württemberg und Hohenzollern. Ein Rückblick auf Grund eigener Erinnerungen. In: Schwäbisches Heimatbuch 1949. Im Auftrag des Schwäbischen Heimatbundes hg. v. dems. Stuttgart 1949, S. 13–55, hier S. 13; dazu Setzler: Vom
3. „Dichtung als Lebenshilfe“: die Entliterarisierung des Erbaulichen | 421
das im nahräumlich „Konkreten“ wurzeln sollte,90 kamen der letzten Wirkung Ehrlers objektiv entgegen. „Dichtung als Lebenshilfe“, gebrauchsorientiert zwischen weltanschaulicher Dienstleistung und religiöser Seelsorge, war neu gefragt, die Parole dazu von niemand anderem ausgegeben als vom nationalsozialistischen Schrifttumsförderer und Kanonmacher Hellmuth Langenbucher, der noch 1944 (das Vorwort ist auf Herbst 1943 datiert) ein Buch zum dringlichen Thema veröffentlicht hat. Auf der „Schicksalswaage“ könne das „Dichterwort“ den Ausschlag zum Guten geben, zumal wenn es aus der „Einheit von Werk und Persönlichkeit“, aus der errungenen „Berufung“ heraus gereicht werde. Die „Dichtkunst“ sei mithin „eine Lebensmacht […], ohne die wir in den Stürmen des Daseins nicht zu bestehen vermögen“, weil sie „Seele und Gefühl des Menschen unmittelbar“ anspreche und einen „unmittelbaren Einfluß […] auf die Widerstandskraft“ übe, „Kraft und Trost“ spende.91 Solches will er freilich nicht aus der Geschichte des Erbauungs- und Trostschrifttums erfahren haben, sondern aus der „FeldpostZwiesprache […] mit meinen Kameraden draußen an den Fronten des Krieges“.92 Unter diesen Prämissen besorgte Langenbucher nun Klassikerausgaben in der Cotta’schen Buchhandlung, aber auch die zweibändige Anthologie Ins Herz hinein. Ein Hand- und Lesebuch für Feier und Besinnung in Schule und Haus (1955/56), in der Ehrler weiterhin gut vertreten war: mit einem Prosatext (über das Schenken als einzigem aus dem Paradies gebliebenem Brauch) sowie fünf Gedichten, Die Birke, Sommerabend, Sonne, Mahnung und natürlich dem seit 1911 vielfach verbreiteten O Heimat, wir sind alle dein.93 Diese Texte sollten mit zu den „Stimmen bedeutender Menschen aus Vergangenheit und Gegenwart“ gehören und die „gerade heute so wichtige Pflege des Heimatgedankens“ zusammen mit der Wiedererrichtung
Bund für Heimatschutz zum Schwäbischen Heimatbund, S. 156. – Zur Heimatrenaissance der zweiten Nachkriegszeit und zum Wiederaufbau Deutschlands von den Regionen her vgl. Applegate: A Nation of Provincials, S. 228 ff., Oberkrome: Stamm und Landschaft, S. 89 ff., sowie Confino: Kriegserinnerungen und Heimatkonzepte in der westdeutschen Nachkriegszeit. 90 Platz: Die Welt der Ahnen, S. 55. Über die Wiederkehr des Abendlandkonzepts als Versuch, Europa durch die Rückkehr zu einer ständisch-subsidiären und autoritär-elitären Wertordnung zu regenerieren vgl. bes. Conze: Das Europa der Deutschen, S. 111 ff. 91 Langenbucher: Dichtung als Lebenshilfe, S. 13, S. 102 u. S. 109. 92 Langenbucher: Dichtung als Lebenshilfe, S. 5. 93 Langenbucher (Hg.): Ins Herz hinein, Bd. 1: Tage und Wochen, S. 223, S. 324, S. 337 u. S. 422, Bd. 2: Monate und Jahreszeiten, S. 349 u. S. 405. Vgl. zu dieser Anthologie Klausnitzer: Germanistik und Literatur im „Dritten Reich“, S. 209. Zum Überhang der kaiserzeitlichen Neuromantik und Heimatliteratur in Schul- und Lesebüchern bis in die 1960er Jahre vgl. Busch: NS-Autoren in der Bundesrepublik, S. 19 f.
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der „Brücken von Volk zu Volk“ erlauben.94 Bei Angabe der Textgrundlagen vermied Langenbucher achtsam die Reihe von Ehrlers Langen-Müller-Büchern und wählte stattdessen den allein stehenden Band aus der ‚Inneren Emigration‘ beim Bonifacius Verlag von 1941, Neuer cherubinischer Wandersmann, sowie die Nachkriegssammlung Unsre Uhr hat einen Zauberschlag von 1950.95 Wie auch die meisten Mitglieder des Schwäbischen Dichterkreises fand Langenbucher mit der Heimatbewegung, die ihre „auf das Volksganze eingestellte Arbeit“ von jeher als „völlig unpolitisch[]“ verstanden hat und vom Dritten Reich schlichtweg „unbehelligt“ gewesen sein wollte,96 eine Brücke in die Nachkriegszeit: Zu Kriegsbeginn übernahm er die Redaktion der Zeitschrift Schwaben. Monatshefte für Volkstum und Kultur97 und gab 1944 einen Band Klassische Dorfgeschichten beim Hohenstaufen-Verlag heraus. Das bildungsbürgerlich-stammesstolze Bekenntnis zum ‚schwäbischen Geist‘ konnte vor Kriegsende getroffen und danach genauso wiederholt werden: einmal im ethnonationalistischen Kontext mit Unterstützung der deutschen Kriegsziele, einmal im integralföderalistischen Kontext für ein ‚Europa der Regionen‘.98 Im Vorwort von Ins Herz hinein erklärte Langenbucher wie selbstverständlich: „Es braucht aber nicht eigens betont zu werden, daß wir uns mit dieser Sammlung zu den christlichen Grundlagen der abendländischen Kultur bekennen.“99 Codiert war damit der antibolschewistische und bei Langenbucher auch antisemitische Anspruch darauf, dass „die Jugend – seelisch und geistig – in ‚gesunder Gegend‘ wohne[n]“ solle.100 Auch von Theodor Heuss gab es zwar „eloquente[] Verbeugungen vor den ‚ewigen Werten‘ der Heimat“101, allerdings hütete er sich, die ihm angetragene Schirmherrschaft des Bundes für Heimatschutz zu übernehmen, die Reichsstatthalter Wilhelm Murr bis zu seinem Suizid im Mai 1945 innehatte.102
94 Hellmuth Langenbucher: Vorwort. In: Ins Herz hinein. Ein Hand- und Lesebuch für Feier und Besinnung in Schule und Haus. Hg. v. dems. Bd. 1: Tage und Wochen. Bad Reichenhall 1955, S. 11–16, hier S. 14. 95 Vgl. Langenbucher (Hg.): Ins Herz hinein, Bd. 2, S. 674. 96 Schuster: 40 Jahre Bund für Heimatschutz, S. 52 u. S. 53 f. 97 Vgl. Dietzel u. Hügel: Deutsche literarische Zeitschriften, S. 825 f. 98 Zu Letzerem vgl. Undine Ruge: Regionen als organische Gemeinschaften. Der integralföderalistische Diskurs in Deutschland nach 1945. In: Das Erbe der Provinz. Heimatkultur und Geschichtspolitik in Deutschland nach 1945. Hg. v. Habbo Knoch. Göttingen 2001, S. 73–96. 99 Langenbucher: Vorwort, S. 13. 100 Langenbucher: Vorwort, S. 11. 101 Oberkrome: Stamm und Landschaft, S. 90. 102 Vgl. Setzler: Vom Bund für Heimatschutz zum Schwäbischen Heimatbund, S. 156.
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Ehrlers Nachkriegsverleger Hermann Leins, der mit seinem Tübinger Wunderlich Verlag erster Lizenzträger der französischen Besatzungszone war, sich der exklusiven Hausautorschaft von Heuss erfreute und in einer Umfrage unter Buchhändlern 1949 als einer der fünf bedeutendsten westdeutschen Verleger eingeschätzt wurde,103 bewarb die Bücher des Dichters mit ihrer „zartschimmernde[n] Leuchtkraft, deren wir heutigen Menschen so sehr bedürfen“, mit ihrem Kreisen um „die Seligkeit des im Tiefsten nie vergehenden Glücks, das Gott in Mensch und Natur legt“.104 „Zwischen Blumen und Gestirnen“, so der Ehrlerbefürworter und schwäbische Heimatpfleger Otto Heuschele, bewege sich die „verantwortungsbewußte[], geistige[] und geistliche[] Führung“, die „Trost und Kraft“ zu spenden habe,105 die „Glück und Gnade“106 vermittle. Natur und Religion, in der Literatur zur reinen Anschauung gebracht, sollten diesem breiten Konsens zufolge die alten Tröster über die Wirrsale der Geschichte sein. Entsprechend sollten Naturlyrik und geistliche Dichtung, Ehrlers Spezialgebiete, maßgebliche Orientierungsfunktionen übernehmen. Dabei blieb der Naturbegriff stets offen dafür, in Richtung des ethnokonservativ Ländlichen und Heimatlichen, der ‚Sitte‘ und der ‚Gemeinschaft‘ ausgelegt zu werden,107 während der Gottesbegriff eine höhere, über den Spruchkammern und Feuilletonredaktionen stehende Instanz der Gerechtigkeit und Rechtfertigung anzubieten hatte, dabei nicht einmal christlich gefasst sein musste, sondern in der vitalistischen Rede vom „Walten der Schöpfermächte“ den Vorteil besaß, an eben jene „Natur“ angeschlossen zu werden, die uns dort, „wo sie
103 Vgl. Helmut Peitsch: „Deutschlands Gedächtnis an seine dunkelste Zeit“. Zur Funktion der Autobiographik in den Westzonen Deutschlands und den Westsektoren von Berlin 1945 bis 1949. Berlin 1990, S. 37, sowie Hans Widmann: Tübingen als Verlagsstadt. Tübingen 1971, S. 186 ff. 104 Werbetext zu Unsre Uhr hat einen Zauberschlag in der Wunderlich-Ausgabe von Hesses Gerbersau 1949. 105 Otto Heuschele: Zwischen Blumen und Gestirnen. Erlebnis und Bekenntnis. Stuttgart 1948, S. 81 f. Vgl. Heuschele: Heimat – heute, sowie ders.: Vorrede. In: Geisteserbe aus Schwaben 1700–1900. Hg. v. dems. Stuttgart 1943 (2. Aufl. 1951), S. 7–13, hier S. 7 u. S. 13: „Es ist unsere schwäbische Heimat, zu der wir uns bekennen, es ist der schwäbische Geist im besonderen, dem wir huldigen […]. […] Wenden wir uns […] unseren großen Toten zu; wenn immer wir sie befragen, werden sie uns antworten und unser Leben wird nicht arm sein und auch in den dunkelsten Stunden, die uns überkommen mögen, werden wir des inneren Lichtes nicht entbehren, das unseren Weg zu erhellen und unser Ziel in der Zukunft uns zu zeigen vermag.“ 106 Otto Heuschele: Nachwort. In: Wir stehen in Gottes Hand. Gebete deutscher Dichter. Hg. v. dems. 3. Aufl. Stuttgart 1963 (zuerst 1955), S. 92–98, hier S. 98. 107 Zur „neue[n] Heimatkunst-Bewegung“ und zur Schwierigkeit, in der Literatur dieses Zeitraums „zwischen braunen und grünen Vorstellungen zu unterscheiden“, vgl. Sarkowicz: Vom „Kahlschlag“ keine Spur, S. 71.
424 | VII. Kontinuität und Entkanonisierung
unsere Mütter und Väter mit Glück und Leid gesegnet“ hätte, „am nächsten“ sei.108 Deshalb auch konnte eine bekannte Schaltstelle nationalsozialistischer Nachkriegsnetzwerke, der Thomas-Verlag in Kempen,109 neben Werken von Wilhelm Schäfer (wie Der Gottesfreund, 1948) und Friedrich Griese (wie Die Dörfer der Jugend, 1947) einen Band mit gesammelten Erzählungen von Ehrler herausbringen: Frauen und Mädchen, zwölf Texte der 1910er bis 1930er Jahre, die in Motiven der Natur und der Reise, der Liebe und der göttlichen Führung schwelgen, hoffnungsvoll mit Die Genesung ausklingend. Kanonisierungsinstanzen wie der Brockhaus (1953–1968) und die Neue Deutsche Biographie (1959), dazu Gebrauchsliteratur wie diverse Schul- und Volkshochschulbücher, am Rande auch das Arbeitsbuch zur Glaubensunterweisung (1974) der Deutschen Bischofskonferenz, nahmen Ehrler weiterhin einhellig positiv auf, teils noch unter Berufung auf die Urteile von Josef Nadler und Hermann Pongs, jedenfalls aber durch Fritz Martinis Deutsche Literaturgeschichte (1949) gedeckt, deren Ehrlerabschnitt die Priesterrolle des „Romantiker[s] zwischen Traum und Wirklichkeit“ bestätigte und dessen „Verantwortung“ allein „vor dem Göttlichen“ gelten lassen wollte.110 Untypisch, für die informelle politische Einschätzung Ehrlers gleichwohl symptomatisch, ist die kommentarlose Aussonderung aus Lennartz’ beliebtem Handbuch Die Dichter unserer Zeit in der ersten Nachkriegsauflage 1952: Hier verschwanden gegenüber der nationalsozialistischen Erstkonzeption dieses Kröner-Lexikons neben Ehrler unter anderem Alverdes, Finckh, Kolbenheyer, Schmückle und Wehner, die offensichtlich – und egal, wie das Spruchkammerurteil ausgefallen war – als zu belastet eingeschätzt wurden.111 Offiziell hingegen galt Ehrler unter Betonung seiner „religiöse[n] und naturmystische[n] Gedichte“ als Autor von „christlich-katholischer Grundhaltung“112 bzw. von „christlich platonische[m] Humanismus“113, „dem Schönen und dem Sinnvollen, […] dem ‚sanften Gesetz‘ des Göttlichen“ und einer „überwölbende[n] objektive[n] Ord108 J. W. u. A. Hauer (Hg.): Begleitworte. In: Der Deutsche Born. Hausbuch für Besinnung und Feier. Hg. v. dens. 5 Bde. München 1952–1959, Bd. 2, S. 5 f. 109 Vgl. Busch: NS-Autoren in der Bundesrepublik, S. 39. 110 Martini: Deutsche Literaturgeschichte, S. 562 f. 111 Vgl. Franz Lennartz: Die Dichter unserer Zeit. Einzeldarstellungen zur deutschen Dichtung der Gegenwart. 5. Aufl. Stuttgart 1952. In der 6. Aufl., die 1954 unter dem offeneren Titel Dichter und Schriftsteller unserer Zeit erschienen ist, kehrten unter anderem Alverdes und Kolbenheyer zurück, nicht aber Ehrler, Schumann und Wehner. 112 [Anon.]: Ehrler, Hans Heinrich. In: Brockhaus Enzyklopädie. 17. Aufl. Bd. 5. Wiesbaden 1968, S. 267. Vgl. in dieser Überzeugung auch [Anon.]: Hans Heinrich Ehrler †. In: Katholisches Sonntagsblatt 99 (1951), H. 25, S. 396, sowie Keck: Vom Sinn der Dinge beschwert. 113 Kutzbach: Autorenlexikon der Gegenwart, S. 82.
3. „Dichtung als Lebenshilfe“: die Entliterarisierung des Erbaulichen | 425
nung“ verpflichtet.114 Seine „volksliedhafte Lyrik“, seine Romane und Novellen zeugten von „tiefer Religiosität und Heimatverbundenheit“.115 Unter den Prosawerken erinnerte man sich an Die Reise ins Pfarrhaus und Briefe aus meinem Kloster um ihrer „religiöse[n] Beschaulichkeit“ willen.116 Die Reise in die Heimat fand auf einer größeren, die 1950er Jahre durchziehenden Welle von ‚Heimatliteratur‘ ebenfalls neue Aufmerksamkeit.117 Ehrlers Lyrik, hieß es, „verbindet Weltfrömmigkeit und katholische Gläubigkeit“, womit das ungelöste Immanenz-/Transzendenz-Problem des Autors zumindest angedeutet wurde.118 „Hier ist natürliches, beglückendes Verbundensein mit einer ‚guten Welt‘, deren Harmonie bis in den Schlaf wirkt“, „das paradiesische Einssein aller geschaffenen Kreatur“, „zauberische[] Fülle der Welt“,119 so fand man von folgendem, seit Anfang der 1930er Jahre verbreitetem Gedicht, in dem sich Ehrlers Pantheismus kitschnah verdichtet: Ich riech wie Wald und Farn und Moos, Werd nachts an dem Geruch noch wach, Wenn sie mich lang schon ließen los. Der Kuckuck ruft dem Freunde nach Und sinnt, was dieser draußen will? 114 Johanna Schomerus-Wagner: Deutsche katholische Dichter der Gegenwart. Nürnberg 1950, S. 61–63. Für Ehrlers Zuordnung zur katholischen Literaturbewegung neben Peter Dörfler, Gertrud von le Fort und Ernst Thrasolt vgl. auch Karl Petry: Handbuch zur deutschen Literaturgeschichte. Köln 1949, S. 935. 115 [Anon.]: Ehrler, Hans Heinrich. In: Meyers großes Personenlexikon. Mannheim, Zürich 1968, S. 370. 116 Ernst Alker: Geschichte der deutschen Literatur von Goethes Tod bis zur Gegenwart. 2 Bde. Stuttgart 1949 f., Bd. 2, S. 361. Vgl. Alkers Rezension zu Die Frist im Gral 1931. 117 Vgl. die Tübinger Neuausgabe von 1958 und den Handbucheintrag von 1952: Eckert: Die Reise in die Heimat. 118 Der große Herder. 5. Aufl., Bd. 3. Freiburg/Br. 1955, Sp. 204. 119 Konrad M. Krug: Das Bleibende schaffen die Dichter. Eine Einführung in die Grundgedanken moderner Lyrik. Hamburg 1955, S. 35 f. Der Verfasser Konrad Maria Krug war nach 1945 zunächst Leiter der Volkshochschule Witten, seit 1948 Direktor des Gymnasiums im nordrheinwestfälischen Neheim-Hüsten. Zuvor engagierte er sich in der katholischen Jugendbewegung mit zahlreichen Freilichtspielen für einen christlich-deutschen Heroenkult (namentlich gegen die alliierte Rheinland-Besetzung) und für die Erneuerung eines antimaterialistisch und antiurban vorgestellten Franziskanismus wie in Franziskus. Ein Spiel zu Ehren des Heiligen von Assisi in vier Bildern (undat., um 1920). Vgl. Walter Gödden u. Iris Nölle-Hornkamp: Krug, Konrad Maria. In: Westfälisches Autorenlexikon. Hg. u. bearb. v. dens. Bd. 3. Paderborn, München u.a. 1997, S. 395–398. – Für die nachkriegszeitliche Empfehlung von Ehrlertexten in Volkshochschulen vgl. auch Erny: Der Alltag im Schulbuch, S. 59 f. Erny leitete zu dieser Zeit die Volkshochschule Mannheim.
426 | VII. Kontinuität und Entkanonisierung In meinem finstren Schlafgemach Da kriecht ein goldner Käfer still, Der etwas weiß, was Rätsel war, Auf meiner Decke auf mich zu. Sein Blick kennt mich seit tausend Jahr. Mensch sagt zum Menschen nicht so: Du.120
Zwischen dem ‚magischen Realismus‘ Carossas und Bergengruens, aber auch jüngerer Kräfte wie Hilde Domin und Christine Lavant121 schien diese geschichtsüberbrückende Einswerdung von Mensch und Natur ihren Platz in der moderierten Moderne zu haben. Der konfessions- und heimatbewusste Bayerische Schulbuch Verlag nahm mehrere Gedichte Ehrlers in die Lyrikanthologie Damit uns Erde zur Heimat wird (1959) auf, darunter Societas (unter dem Titel Das Vaterunser) zur Demonstration eines christlichen Antirassismus sowie das schlagerhafte O Heimat, wir sind alle dein.122 Societas, in dem das lyrische Ich neben und mit einem christgläubigen Schwarzen ins Gebet eintritt, fand auch Eingang in das offizielle katholische Arbeitsbuch zur Glaubensunterweisung: Hier stand Ehrler in einem weiten weltkirchlichen Kontext zwischen Ernesto Cardenal, Giovanni Papini und Charles Péguy; literarisch illustriert wurde damit die Aufforderung zur ethnischen Toleranz bei gleichzeitiger Warnung vor religiöser Gleichgültigkeit.123 Weniger den Religiosus als den Regionalisten Ehrler repräsentierte das baden-württembergische Lesebuch Kein schöner Land von 1958, das vor dem Hintergrund des 1952 gebildeten Südweststaates verstärkt die Aufgabe regionaler Identitätsbildung zu erfüllen hatte. O Heimat, wir sind alle dein steht hier in großen Lettern als Bandmotto auf der Frontseite.124 Auf den Heimatkomplex konzentrierte sich nun auch der Bonner Privatgelehrte Karl August Kutzbach, ein bekannter Jungkonservativer aus dem Kreis um Paul Ernst und Will Vesper, der höchst positive Ehrlerurteile bereits für Vespers Neue 120 Ehrler: Die Lichter schwinden im Licht, S. 22. Aufgenommen und interpretiert in Krug: Das Bleibende schaffen die Dichter, S. 33–36. 121 Zwischen Texten von Domin und Lavant steht Hans Heinrich Ehrler: Wonnen. In: Hochland 48 (1955/56), S. 454. 122 Färber (Hg.): Damit uns Erde zur Heimat wird, S. 17 (Das Vaterunser), S. 336 (O Heimat, wir sind alle dein) u.ö. 123 Deutsche Bischofskonferenz (Hg.): Glauben – Leben – Handeln. Arbeitsbuch zur Glaubensunterweisung. Freiburg/Br. 1974, S. 237. 124 Kultusministerium des Landes Baden-Württemberg (Hg.): Kein schöner Land, S. 3. Es folgt auf S. 4 f. Ernst Moritz Arndts nationalpatriotisches Gedicht Vaterland („O Mensch, du hast ein Vaterland“).
3. „Dichtung als Lebenshilfe“: die Entliterarisierung des Erbaulichen | 427
Literatur und die Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums gefällt hatte. In seinem Autorenlexikon der Gegenwart unternahm er 1950 – wie Hermann Pongs in seinem Kleinen Lexikon der Weltliteratur 1954 – einen kanonpolitischen Versuch, die Geltung der im Dritten Reich geehrten Autoren zu retten. Im Artikel zu Ehrler bemühte er sich wortreich besonders um das richtige Verständnis des Heimatbegriffs, der nur das Vornehmste und Geistigste bedeute: „Samenhülse aller Erlebnisse, Grundspiegel alles Schauwerks, Ahnung und Deutung aller Gesichte, Vorbild aller Gestalten, Ursumme alles Wissens, Zelltrieb allen Tuns“.125 Fast dieselbe Charakteristik aber galt in Kutzbachs älteren Einschätzungen der hohen Reichsvision des Dichters.126 Im Sinne des ideologischen Bedingungsgefüges von ‚Heimat‘, ‚Reich‘ und ‚Abendland‘ konnte der nachkriegszeitliche ‚Heimat‘Code in metonymischer Beziehung zu weit großräumigeren Ansprüchen stehen, ‚Heimat‘ letztlich als ein Deckwort für die christlich-europäische Ordnung deutscher Prägung dienen. Die Münchner Literaturzeitschrift Welt und Wort, von Gründungsherausgeber Edmund Banaschewski im Sinne eines christsozialen Konservatismus aufgestellt und von Karl Ude unter breiter Berücksichtigung der ‚Inneren Emigration‘ fortgeführt,127 hielt zumindest Ehrlers Lyrik in Ehren, brachte einen Vorabdruck aus Unsre Uhr hat einen Zauberschlag und zum selben Band eine Rezension, deren Lobesworte ins Maximale greifen, Dichtung einmal mehr als Antidot gegen zeitgeschichtliche Zumutungen in Anschlag bringen und den Heimatbegriff weiter spiritualisieren: […] seit Dehmel und Dauthendey sind solche Liebeslieder nicht mehr gedruckt worden in deutschen Versbüchern. Ehrler hat sich den Sinn für die reine Goldspur der Poesie erhalten. Kaum berührt von Zeit, Verfall und Widersinn unseres Geschehens, obgleich innerlich mitleidend, dichtet er die Lieder und Sprüche seines inneren Einklangs mit der überweltlichen Heimat der Liebe. […] Seine Gedichte sind Hauch und Traum, Gottesgesang und fromme Weltfreude. Seine 125 Kutzbach: Autorenlexikon der Gegenwart, S. 82. Zur Person vgl. Alexander Reck: Briefwechsel Paul Ernst – Will Vesper 1919–1933. Einführung, Edition, Kommentar. Würzburg 2003, S. 10, S. 17, S. 53 u.ö.; zum von Kutzbach geteilten Reichsverständnis vgl. Holger Dainat: Die Herrscher, das Reich, die Dichter. Vorstellungen sozialer Ordnung eines konservativen Revolutionärs: Das Kaiserbuch von Paul Ernst. In: Paul Ernst. Außenseiter und Zeitgenosse. Hg. v. Horst Thomé. Würzburg 2002, S. 101–132. 126 Vgl. Kutzbach: [Rez.] Unter dem Abendstern, sowie ders.: Gutachten für die Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums, Hans Heinrich Ehrler. 127 Vgl. Peitsch: Zur Funktion der Autobiographik in den Westzonen, S. 81 ff.
428 | VII. Kontinuität und Entkanonisierung übersinnlich bezogene Sinnlichkeit macht ihn zum letzten Liebesdichter, den wir haben.128
Derartige Hyperbeln waren bereits ein Symptom der literaturkritischen Ratlosigkeit und endlich des Geltungsverfalls, der an anderer Stelle in Welt und Wort offiziell wurde: Hans Heinrich Ehrler, urteilte der Rezensent seines vorletzten Erzählungenbandes, Frauen und Mädchen, habe „uns Gutes und Schönes beschert“, sei aber von der Geschichte überholt worden: „Wir heutigen, durch Schicksale wesentlicher geworden, fühlen uns von diesen schönen, breit geschilderten Gefühlchen einer vergangenen Generation nicht mehr besonders angesprochen.“129 Auf „humanistisches Deutschtum“ und „Deutschtümelei“, auf „Bürgergenüßlichkeit mit viel antikisierender Idyllik“ lautete das Ehrlerurteil im Goldenen Tor.130 Abele eröffnete dem Dichter über dessen geschwundene Akzeptanz Ende 1948: Mit Berning sprach ich oft über Sie. Wir möchten gerne Ihren Roman Charlotte dem Verständnis nahe bringen. Es ist aber schwer, wie Ihnen selbst klar ist. Ich selbst gehöre zu Ihrer Generation und stamme aus Ihrer Welt. Deshalb verstehe ich Ihr Werk. Leider finde ich wenig Offenheit dafür.131
Hinter der Entkanonisierung Ehrlers, die sich nach 50 Jahren enzyklopädischer Einschlägigkeit in der Ausmusterung aus dem Brockhaus manifestiert (die letzte Aufnahme erfolgte 1968 in der 17. Auflage), regierte nicht nur der vom Rezensenten von Welt und Wort ebenso wie von Abele zu Recht angesprochene Generationenwechsel im Publikum und in den Netzwerken,132 sondern grundsätzlicher noch die epochale Entliterarisierung des Erbauungsgenres. Denn der Existentialismus der Nachkriegszeit schloss nicht das Religiöse, aber das Erbauliche aus. In der existentialistisch geprägten Theologie wurde die Kritik an der Erbauungsliteratur 128 Schwarz: [Rez.] Unsre Uhr hat einen Zauberschlag, S. 436 f. Vgl. im selben Heft Hans Heinrich Ehrler: Wie süß sie im Gemach der Liebe liegen. In: Welt und Wort 5 (1950), S. 428. 129 Reitz: [Rez.] Frauen und Mädchen, S. 248. 130 Baur: [Rez.] Charlotte. Vgl. dagegen den Einspruch von Schomerus-Wagner: Deutsche katholische Dichter, S. 62: „Die Grundanlage dazu ist vorhanden, doch sind die Linien nicht ins eng Beschauliche, genügsam Friedliche gezogen, sondern sie umfassen auch das Dunkle, Gefährdende und die Idylle wird auf einer höheren Ebene zur immer wieder erkämpften Einsicht in das Seiende, von dem Gott sah, daß ‚es gut war‘.“ 131 Theodor Abele an Hans Heinrich Ehrler, 22. Dezember 1948, NL Ehrler. 132 Vgl. zu diesem Faktor auch Hans Sarkowicz: Die literarischen Apologeten des Dritten Reiches. Zur Rezeption der vom Nationalsozialismus geförderten Autoren nach 1945. In: Leid der Worte. Panorama des literarischen Nationalsozialismus. Hg. v. Jörg Thunecke. Bonn 1987, S. 435–459.
3. „Dichtung als Lebenshilfe“: die Entliterarisierung des Erbaulichen | 429
allgemein. Der Münchner Moraltheologe Richard Egenter in seiner Studie Kitsch und Christenleben (1950) warnte vor dem Erbaulichen als einer Versuchung zur Heilsentfremdung durch zu leicht gemachte Heilsversprechen. Das Consolamentum, definiert als ästhetisch allein möglicher Vorschein der Erlösung, dürfe nicht mit dem Vollzug der Erlösung verwechselt werden.133 Auch das überkonfessionell angelegte Handbuch Christliche Dichter der Gegenwart (1955) fand Kunst weniger heilig als Kitsch durchaus unheilig. Der Begriff der Erbauung wurde hier als despektierlich vermieden bzw. für seichte Literatur reserviert, die der „totale[n] Entidealisierung der Werte“, wie sie dem „totalen Staat und Krieg“ nachfolge, nicht ausreichend Rechnung trage.134 Das Erbauungsgenre galt nun hinsichtlich seiner ästhetischen Möglichkeiten als uniform, hinsichtlich seiner Anwendungsbezogenheit als kasuistisch und hinsichtlich seines Weltbildes als unberechtigt idealistisch. Es produziere – ein empfindlicher Vorwurf gegenüber einer sicherlich nicht unbedeutenden Gruppe in der Anhängerschaft des Autors von Büchern wie Die Liebe leidet keinen Tod und Charlotte – eine Literatur „für alte Damen“135. Das jüngere, die Nachkriegstendenzen zusammenfassende Lexikon der christlichen Weltliteratur (1978) zog aus diesen Diskussionen die Konsequenz, die „Masse von erbaulichen Druckwerken“ überhaupt nicht mehr unter dem Begriff von „christlicher Literatur“ zu erfassen.136 Den erbauungskritischen Konsens teilte selbst ein Ehrler so gewogener katholischer Literaturkritiker wie Münz: Eben weil Münz eine quasi laienapostolische Orientierungsfunktion von christlicher Literatur erwartete, forderte er auch, dass sie sich auf die Wirklichkeit in deren ganzem Spektrum einlassen müsse, auch auf die „Absurdität“ und den „Schmutz des Lebens“.137 In seinem Beitrag über Albrecht Goes zum Handbuch Christliche Dichter der Gegenwart übte Münz im selben Jahr, in dem er die Ehrlerausgabe Das Unvergängliche besorgte, eine durchaus scharfe und grundsätzliche Kritik an der Erbauungsliteratur als ei133 Vgl. Richard Egenter: Kitsch und Christenleben. Ettal 1950. Dazu Joachim Jacob: Die Versuchung des Kitschs. Zur religiösen Dimension in der Kitschdiskussion. In: Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen. Hg. v. Wolfgang Braungart. Tübingen 2002, S. 83–100, hier S. 87 ff. 134 Carol Petersen: Ernst Wiechert. In: Christliche Dichter der Gegenwart. Beiträge zur europäischen Literatur. Hg. v. Hermann Friedmann u. Otto Mann. Heidelberg 1955, S. 321–332, hier S. 330. 135 Petersen: Ernst Wiechert, S. 330. Sachlicher Mohr, Procopé u. Wulf: Erbauungsliteratur, S. 82: „Die Erbauungsliteratur ist zum Teil an die Generation der ganz Alten gebunden.“ 136 Gisbert Kranz: Christliche Literatur. Begriff, Rezeption, Relevanz. In: ders.: Lexikon der christlichen Weltliteratur. Freiburg/Br. 1978, Sp. 2–46, hier Sp. 11. Vgl. Schmidt: Handlanger der Vergänglichkeit, S. 188 ff. 137 Erwin Karl Münz: Dichtung als Apostolat. In: Deutsche Tagespost, 5. November 1951.
430 | VII. Kontinuität und Entkanonisierung
ner spezifischen Ausprägung christlicher Dichtung und – in einem gezielten Seitenhieb – an Ehrler als ihrem Vertreter. Er spielte zugleich auf die franziskanische All-Liebe an, in der er die Gefahr sah, „alles Menschliche in liebender Großzügigkeit zu betrachten und das Abgründige zu übersehen“.138 Es ist bezeichnend, dass ein von dieser Kritik so Mitbetroffener wie Goes, neben Ehrler Teilnehmer des „Schwäbischen Dichterkreises“ (s. Kap. V.2), die „Pflege der deutschen Sprache als sein besonderes Anliegen“139 bei Erbauungs- und Andachtsbüchern gegen den Verdacht des erbaulichen Sprachverschleißes und der frommen Banalphrasen betonte. Autonomieästhetik war in der Literatur des späten katholischen Milieus weiterhin nicht gefragt, vielmehr eine neue Art eingreifender Literatur, die sich mehr kritisch als idealistisch verstand (wie bei Stefan Andres, Heinrich Böll und Alfred Döblin). Dieser Impuls kam nicht nur von den Schreibtischen der Literaturkritiker und Theologen. Auch zuvor begeisterte Ehrlerleser stellten das Ungenügen des Autors angesichts der veränderten Herausforderungen fest: Der junge Münsteraner Katholik Erich Kosthorst, Jahrgang 1921, später Professor für Geschichte und politische Bildung an der Pädagogischen Hochschule Westfalen-Lippe, schrieb 1948 aus der russischen Kriegsgefangenschaft über die Zeitsituation und unter Bezug auf Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm: „Da hilft es nicht mehr, wie der von mir sehr verehrte Dichter Hans Heinrich Ehrler nach dem Ersten Weltkrieg einmal feststellte, ‚Bindestoff der Ordnung in die zerstückten Zustände zu gießen‘, da muß grundlegend neu gebaut werden.“140 Nach Ehrlers Tod fand sich kein Verlag mehr bereit, die Betreuung seines Werks für eine verschwindende Restöffentlichkeit zu übernehmen. Selbst bei Bonifacius in Paderborn erhielt die Witwe, „Frau Hans Heinrich Ehrler“, die 1957 mehrere von Ehrlers früheren Verlegern anschrieb, einen negativen Bescheid, in dem sich die Frage der politischen Tragfähigkeit nicht einmal mehr stellte.141 Hier enden Abwertungs- bzw. Umfunktionierungsprozesse, welche die Erbauungsliteratur seit dem 19. Jahrhundert immer weiter aus der Literatursparte in das 138 Erwin Karl Münz: Albrecht Goes. In: Christliche Dichter der Gegenwart. Beiträge zur europäischen Literatur. Hg. v. Hermann Friedmann u. Otto Mann. Heidelberg 1955, S. 415–425, hier S. 419. 139 Mohr, Procopé u. Wulf: Erbauungsliteratur, S. 71. 140 Zit. n. Wolfram Lietz u. Manfred Overesch: Hitlers Kinder? Reifeprüfung 1939. Bad Heilbrunn 1997, S. 204; vgl. Ehrler: Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm, S. 208. 141 Vgl. Melanie Ehrler an Bonifacius-Verlag, 2. März 1957, Universitätsbibliothek Eichstätt-Ingolstadt, Nachlass Bonifatius-Verlag, Sign. VA 2, Autorenkorrespondenz; Bonifacius-Verlag an Melanie Ehrler, 16. März 1957, ebd.
3. „Dichtung als Lebenshilfe“: die Entliterarisierung des Erbaulichen | 431
Buchmarktsegment freireligiöser, esoterischer und christlicher Lebenshilfe verdrängt oder umgesiedelt haben.142 Sie treffen sich mit der Strategie einiger früherer NS-Kulturfunktionäre in der jungen Bundesrepublik, die nationalsozialistisch kanonisierte Literatur in ‚volksnahen‘, vermeintlich unauffälligen, aber im Alltag verankerten Gebrauchsformen zu konservieren. Eben in diesem Schnittfeld hinterließ Ehrler seine letzten Spuren. Langenbuchers Alterswerk, das ‚Hand- und Hausbuch‘ Ins Herz hinein, hatte schon keinen kanonliterarischen Anspruch mehr, sondern wollte – in kalendarischer Gliederung – den Praktiken von Feier und Besinnung dienen. Das markanteste Publikationsprojekt zur Tradierung NS-affiner Literatur organisierte denn auch kein Germanist mehr, sondern ein Religionswissenschaftler: der Tübinger Emeritus und Vorstand der „Arbeitsgemeinschaft für freie Religionsforschung und Philosophie“ J. W. Hauer, zuvor hochrangiger Mitarbeiter der „Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe“ der SS, Gründer der germanomythologischen „Deutschen Glaubensbewegung“ und akademischer Berater der kirchenfeindlichen Kultur- und Bildungspolitik von Christian Mergenthaler, mit dem er bereits seit 1931 in persönlicher Beziehung stand.143 Wie einige konfessionell und ökumenisch gerichtete Kräfte hatte sich Hauer von der „deutschen Revolution“ des Jahres 1933 einen „religiösen Durchbruch“, allerdings unter Überwindung des Christentums zu einer Volkskirche hin, erhofft.144 Seine fünfbändige, 1952 bis 1959 erschienene Anthologie Der Deutsche Born war als „Erbauungsbuch für die deutschgläubige und freireligiöse Bewegung“145 angelegt. Die Diagnose
142 Zur Abwertung und ironischen Verwendung der Begriffe Erbauung und Erbauungsliteratur seit dem 19. Jahrhundert vgl. Schedl u. Moser: Erbauungsliteratur, S. 485, sowie Lächele: Kitsch und Erbauung, S. 125 ff. Zur Ablehnung der Label ‚Trostliteratur‘ und ‚Erbauungsliteratur‘ durch christliche Autorinnen und Autoren in der Weimarer Republik und nach 1945 vgl. Ringshausen: Der christliche Protest, S. 294 f. Vgl. Mohr, Procopé u. Wulf: Erbauungsliteratur, S. 70 f. („Repristinationsversuche und Nachklänge bis in die Gegenwart“) u. S. 80–83 („Die Erbauungsliteratur in der Gegenwart“) mit Hinweis vor allem auf die Kalenderliteratur, Glaubensbriefe und Beiträge in den kirchlichen Wochenblättern. 143 Vgl. Ulrich Nanko: Jakob Wilhelm Hauer (1881–1962). In: Wir konnten uns nicht entziehen. 30 Porträts zu Kirche und Nationalsozialismus in Württemberg. Hg. v. Rainer Lächele u. Jörg Thierfelder. Stuttgart 1998, S. 61–76, sowie Horst Junginger: Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft. Das Fach Religionswissenschaft an der Universität Tübingen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Dritten Reiches. Stuttgart 1999, S. 124 ff., ferner Kater: Das „Ahnenerbe“ der SS, S. 363 u. S. 412. 144 Zit. n. Junginger: Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, S. 128. 145 Ulrich Nanko: Religiöse Gruppenbildungen vormaliger „Deutschgläubiger“ nach 1945. In: Antisemitismus, Paganismus, völkische Religion / Anti-semitism, Paganism, Voelkish Religion. Hg. v. Hubert Cancik u. Uwe Puschner. München 2004, S. 121–134, hier S. 127. Apologetisch zu
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der postfaschistischen Gegenwart, einer „dürftigen Zeit“146, ist darin mehr oder weniger dieselbe wie bei Langenbucher: Die „lebensgesetzliche Daseinsordnung“ stünde in schwerer Gefahr; der „innere[] Mensch“ stehe vor der Zerfaserung.147 Der Therapieansatz kommt mehr als bei Langenbucher aus dem Theorem des explizit angesprochenen „‚Inneren Reichs‘“: Aus dem Born unseres Volkes ist in mehr als tausend Jahren ein unerschöpflicher Reichtum von innerer Lebenskraft, von Weisheit und Schönheit emporgestiegen, den unsere Dichter und Denker in Formen gefaßt haben, die, unserem eigenen Wesen gemäß, uns unmittelbar und zeugungskräftig ansprechen.148
Daraus strömten die zur Selbsterhaltung des deutschen Menschen benötigten Richtkräfte. Deshalb wolle Der Deutsche Born eine „Schatzkammer echten Weistums“149 bieten, eine „Auswahl aus einem unerschöpflichen Reichtum dessen, was von deutschen Menschen, die Volk, Heimat und Natur ehrten und liebten, tief erfahren und gültig gestaltet worden ist“150. Darunter befinden sich vier Texte Ehrlers, von denen zwei die Eröffnungsgedichte ganzer Kapitel bilden: O Heimat, wir sind alle dein für „Dorf und Heimat“ sowie Heimat, Schoß der Heimatlosen für „Abschied von der Heimat, Heimweh, Heimatlosigkeit“.151 Das Gedicht Die grauen Wolken fiedern sich schon leise steht im Kapitel „Wolken“ zwischen Texten von Friedrich Rückert und Otto Lautenschlager, das Gedicht An Spezel, den Hund, süßlich beginnend, um überraschend mit der Euthanasie des angesprochenen Tieres zu enden, im Kapitel „Tier und Mensch“ zwischen Texten von Wilhelm von Scholz und Heinrich Anacker.152 Hauer ging es bei seiner Auswahl nicht allein um die Konsolation angesichts von Flucht und Vertreibung, sondern offensiver auch um Drohungen angesichts des deutschen Auswanderungsdrangs nach Übersee in den Jahren besonders zwischen 1945 und 1953, so in den folgenden Versen Ehrlers: dieser Anthologie „arteigene[n] Weistum[s] aus zwei Jahrtausenden“ Margarete Dierks: Jakob Wilhelm Hauer 1881–1962. Leben, Werk, Wirkung. Heidelberg 1986, S. 493. 146 J. W. u. A. Hauer (Hg.): Der Deutsche Born, Bd. 3 u. 4, Vorwort, S. 5 f., hier S. 6. Hauer und seine Frau benutzten die Vornamenskürzel „J. W.“ (Jakob Wilhelm) und „A.“ (Annie), weniger zur Anonymisierung als zur Vermeidung ihrer christlichen Taufnamen. 147 J. W. u. A. Hauer (Hg.): Der Deutsche Born, Bd. 1, Zum Geleit, S. 5 f., hier S. 5. 148 J. W. u. A. Hauer (Hg.): Der Deutsche Born, Bd. 1, Zum Geleit, S. 5. 149 J. W. u. A. Hauer (Hg.): Der Deutsche Born, Bd. 3 u. 4, Vorwort, S. 6. 150 J. W. u. A. Hauer (Hg.): Der Deutsche Born, Bd. 2, Begleitworte, S. 6. 151 J. W. u. A. Hauer (Hg.): Der Deutsche Born, Bd. 1, S. 131 u. Bd. 2, S. 49. 152 J. W. u. A. Hauer (Hg.): Der Deutsche Born, Bd. 2, S. 116 u. S. 132 f.
3. „Dichtung als Lebenshilfe“: die Entliterarisierung des Erbaulichen | 433
Heimat, Schoß der Heimatlosen, Wiege dem verlornen Sohn, Ach, es duften deine Rosen Ihm, der lang schon lief davon. Einen Bruder um den anderen Treibt der Blutgang in die Welt, Holt der Zweite ein beim Wandern Jenen der ins Dunkel fällt.153
Vom germanischgläubigen Neuheiden J. W. Hauer, der noch auf der Schwelle zwischen Etabliertheit und Sektierertum operierte, ist es zuletzt nicht weit zu einer „marginalen alternativreligiösen Bewegung im Übergangsfeld von Esoterik, Gegenkultur und völkischer Ideologie“, die man als in Teilen „ökospirituell“ bezeichnet hat.154 In deren Umkreis ist ein zuerst 1957 erschienenes und bis in jüngste Zeit wiederholt aufgelegtes Buch des Rosenkreuzers Willy Schrödter, Pflanzen-Geheimnisse, insofern bezeichnend, als darin gerade ein NS-Klassiker unter Ehrlers Texten, Der Lebensbaum, herangezogen wird. „Identität durch Umweltbindung“155 soll sich demnach unter anderem durch Pflanzung eines Baumes für jedes Neugeborene herstellen lassen, eben des ‚Lebensbaums‘ als ‚Kraftort‘, der für eine positive ökoregionalistische ‚Verwurzelung‘ des betreffenden Individuums und zugleich für dessen jahrhundertelanges Andenken sorgen könne.156 Charakteristisch für den Wandel von einer völkischen zu einer ökospirituellen Religiosität werden Schollenbindung und Ahnenkult hier in einem neomystischen Weltbild der geheimen, ökologisch ausgelegten Korrespondenzen aufgelöst. Derartige Übergänge zwischen ‚Grün‘ und ‚Braun‘ begleiteten Ehrlers Werdegang freilich bereits vom Franziskus- und Sonnenkult der Lebensreformbewegung um 1900 bis hin zum 153 Zit. n. J. W. u. A. Hauer (Hg.): Der Deutsche Born, Bd. 2, S. 49. Zum Interesse und zur Kritik von Auswanderung als alternativer Lebensgestaltung in der Renaissancephase der Heimatkultur vgl. Alexander Freund: Aufbrüche nach dem Zusammenbruch. Die deutsche NordamerikaAuswanderung nach dem Zweiten Weltkrieg. Göttingen 2004, S. 138 ff. 154 René Gründer: Religiöse Beheimatungsversuche. Germanischgläubiges Neuheidentum als Ausdruck spiritueller Glokalisierung. In: Zwischen Emotion und Kalkül. „Heimat“ als Argument im Prozess der Moderne. Hg. v. Manfred Seifert. Leipzig 2010, S. 219–230, hier S. 220 u. S. 222. 155 Gründer: Religiöse Beheimatungsversuche, S. 219. 156 Willy Schrödter: Pflanzen-Geheimnisse. 2., erw. Aufl. St. Goar 2006 (zuerst Hannover 1957), S. 64; vgl. ähnliche Ehrlerberufungen bei dems: Präsenzwirkung. Vom Wesen der Heilung durch Kontakt. Ulm 1959, S. 186, sowie Karl Otto Schmidt: Schönheit des Alters. Die zweite Leistungswelle. Altersreife und Geistesblüte durch dynamische Selbsterneuerung und Lebensverlängerung. Pfullingen 1963, S. 147.
434 | VII. Kontinuität und Entkanonisierung
Natur- und Heimatschutz der 1920 und 30er Jahre im Umfeld des Ethnonationalisten Ludwig Finckh. Das betreffende Gedicht hat Hans Heinrich autobiografisch auf den „Lebensbaum“ bezogen, den sein Vater, Johann Michael, für ihn auf dem Grab der früh verstorbenen Mutter gepflanzt haben soll.157 Mit dieser Urszene am Grab der Mutter steht der Beheimatungsversuch von Beginn an im Zeichen eines Verlustes, der nach Ausweis des in diesen Komplex gehörenden Gedichts Tote Mutter nicht mehr rückgängig zu machen ist: „Umsonst doch greift er nach der Hand der stillen.“158 Dass Ehrlers eigene sterbliche Überreste im Oktober 1955 vom langjährigen Schaffensort Waldenbuch bei Stuttgart nach Bad Mergentheim, der bereits zu Schülerzeiten verlassenen Geburtsstadt, umgebettet wurden, war eine Blüte des Restaurationsklimas und diente einem doppelten Interesse: dem kulturtouristischen der Kurgemeinde und dem gedenkpolitischen der Witwe, die in Bad Mergentheim ihre Altersresidenz aufschlug. Der Stuttgarter Pfarrer Breucha hat der Umbettungsaktion mit wohlgemessenen Worten Sinn zu verleihen gesucht, indem er seine Ansprache zum Anlass mit Hans Heinrich Ehrlers letzte Reise in die Heimat betitelte und so auf Ehrlers zuerst 1926 erschienenes, 1939 und 1958 wieder- bzw. neuaufgelegtes Buch über die ‚Heilige Heimat‘, Die Reise in die Heimat, anspielte.
157 Vgl. Hans Heinrich Ehrler: Nur fünfzig Jahre zurückgedacht. In: Der Bosch-Zünder 15 (1933), S. 199 f. 158 Ehrler: Gesicht und Antlitz, S. 13.
VIII. „Und nun die neue Nationalhymne!“: musikgeschichtlicher Abgesang
Ein Konzentrat aus Ehrlers Motiven und Denkfiguren, Netzwerk- und Wirkungsbezügen lässt sich abschließend aus dem musikgeschichtlichen Kontext ziehen, in dem es für den buchstäblichen Anklang seiner Gedichte als Gebrauchskunst am wenigsten auf ihre autonome literarische Lebensfähigkeit ankam, vielmehr auf ihr Zirkulationspotential im Medienverbund für Zwecke namentlich des bürgerlichen Vereinswesens. Vom Beginn der 1930er bis zur Mitte der 1960er Jahre wurden Ehrlertexte vielfach vertont. Allein das in Schulbüchern, Anthologien und Heimatzeitungen weit verbreitete O Heimat, wir sind alle dein fand mindestens neun heimatbewegte Komponisten. Wie bereits Spicker in seiner Dissertation Deutsche Wanderer-, Vagabunden- und Vagantenlyrik in den Jahren 1910–1933 hervorgehoben hat, stand das von Ehrler mitbestrittene Lyrikcorpus zumindest partiell im Funktionszusammenhang mit der lebensreformerisch, technik- und zivilisationskritisch inspirierten Freizeitwanderbewegung, die sich ihre Institutionen beispielsweise im Württembergischen Schwarzwaldverein und im Sauerländischen Gebirgsverein gegeben hatte.1 Unmittelbar für den Gebrauch in solchen Wandervereinen stellte der aus Thüringen stammende, in Planegg bei München niedergelassene Musiklehrer Herbert Thienemann seine populären Liederbücher für Gitarre und Singstimme zusammen. Dabei stützte sich der Komponist fast ausschließlich auf Gegenwartslyrik, überwiegend von schweizerischen, österreichischen und süddeutschen Autorinnen und Autoren. Auswahlkriterium war im Übrigen die Liedform und der Gemeinschafts-, Natur- bzw. Landschaftsbezug der Texte, was allein schon für einen hohen Anteil völkisch geprägter Literatur wie von Hermann Burte, Hanns Johst und Will Vesper sorgte.2 Ehrlers badisch-württembergische Weggefährten Ludwig Finckh und Georg Schmückle waren im Verhältnis zu ihrem literarischen Rang ebenfalls überrepräsentiert, darunter mit charakteristischen Liedern wie Brauner Erde warmer Hauch (Finckh) und Möcht’ aller Sonnen Strahlen trinken (Schmückle). Ehrlertexte hat Thienemann zumindest sechsmal verwendet: in den Sammlungen Rosen am Weg und Sonne im Herbst, beide von 1931, Goldduft und 1 2
Vgl. Spicker: Deutsche Wanderer-, Vagabunden- und Vagantenlyrik, S. 10 f., S. 24 ff. u. S. 38 ff. Zur ‚Gemeinschaftsmusikkultur‘ in der Jugendwanderbewegung vgl. Dorothea Kolland: Die Jugendmusikbewegung. „Gemeinschaftsmusik“, Theorie und Praxis. Stuttgart 1979, S. 29 ff. u. S. 142 ff.
436 | VIII. „Und nun die neue Nationalhymne!“: musikgeschichtlicher Abgesang
blaue Berge von 1935 und So viel Wege laufen durch die Welt von 1940. Drei der verwendeten Gedichte bieten allgemeine Naturlyrik, drei sprechen unmittelbar den Heimatkomplex an: O Heimat, wir sind alle dein unter Betonung der deutschen Universalität der Heimat, Und wenn du in die Fremde gehst im Modus einer gefährlichen Entfernung von der Heimat durch Reise oder Auswanderung sowie Zwiefache Heimat mit Erinnerung an den spirituellen, auf das Aufgehobensein in Gott deutenden Sinn der Heimat.3 Gerade der Begriff einer „doppelte[n] Heimat“4 unterscheidet Ehrlers katholische Version des Ethnonationalismus eigentlich vom völkischen Ethnonationalismus seiner Netzwerkpartner Finckh und Schmückle. Wie in den vielen nationalsozialistisch bestimmten Anthologien, in denen Ehrler zum Zuge kam, wird diese Differenz allerdings durch die Tendenz der Textauswahl und -zusammenstellung auch in Thienemanns Liederbüchern eingeebnet. Ordnungsprinzip der Sammlungen Goldduft und blaue Berge, Rosen am Weg und So viel Wege laufen durch die Welt ist jeweils der Jahreskreis vom Frühling zum Winter, nahezu ohne Berücksichtigung des christlichen Festkalenders. Konfessionelle Komponenten hätten der gewünschten Gemeinschaftsbildung abträglich sein können; die Auflösung der religiösen Atmosphäre in eine allgemeine Naturmagie war dafür zweckdienlicher. Eher schon ein Experimentierfeld für die Vermittlung völkischer und katholischer Elemente stellte der in jüngerer Zeit intensiv untersuchte Sauerländische Künstlerkreis dar, eine rechtsgerichtete Fraktion des Sauerländischen Heimatbundes, in der Ehrlers literarische Fabrikate interessierte Abnehmer fanden. Drahtzieher der Gruppe war Georg Nellius, Gymnasiallehrer in Neheim und ab 1933 in Herne, Komponist und ‚Gauchormeister‘, der seine Arbeitsprämissen und Wirkungsziele programmatisch in dem Aufsatz Kunst als Grundkraft der Heimatbewegung (1930) zusammengefasst hat.5 Wie Ehrler wollte sich Nellius nicht mit Vgl. Thienemann: Rosen am Weg, Nr. 31 (O Heimat, wir sind alle dein), ders.: Sonne im Herbst. Lieder zur Gitarre. Berlin 1931, Nr. 32 (Und wenn du in die Fremde gehst) u. Nr. 64 (Zwiefache Heimat), ders.: Goldduft und blaue Berge. Lieder für eine Singstimme mit Gitarrenbegleitung. Berlin 1935, Nr. 29 (Ich locke dich), ders.: So viel Wege laufen durch die Welt. Lieder und Gesänge für eine Singstimme mit Gitarren-Begleitung. Berlin 1940, Nr. 13 (Aus dem blauen Himmelsraum) u. Nr. 24 (Im Abend schweigen Stund und Mund). 4 Herbert: Hans Heinrich Ehrler, S. 55. 5 Vgl. Peter Bürger: Der völkische Flügel der sauerländischen Heimatbewegung. Über Josefa Berens-Totenohl, Georg Nellius, Lorenz Pieper und Maria Kahle. Eslohe 2013, S. 33 ff., ders.: „Die Liebe zum Führer jubelnd brennt“. Maria Kahle (1891–1975) als völkische Pionierin und Botschafterin des Hasses. In: Maria Kahle (1891–1975). Propagandistin im Dienst der Nationalsozialisten. Hg. v. dems. Eslohe 2014, S. 12–36, sowie ders. u. Neuhaus: Georg Nellius (1891– 1952). – Zu Nellius vgl. Fred K. Prieberg: Musik im NS-Staat. Frankfurt/M. 1982, S. 112 u. 3
VIII. „Und nun die neue Nationalhymne!“: musikgeschichtlicher Abgesang | 437
einer spezifischen ‚Heimatkunst‘, etwa als einem bildungsreduzierten Teilsektor des Kulturlebens, zufriedengeben. Es ging um Heimat als Grundwert und Grundrealität, die von jeder einzelnen deutschen Landschaft aus reichsweit unter Beweis zu stellen seien. Die Heimaten waren zu vernetzen und in den Großstädten zur Geltung zu bringen. Der Anspruch zielte darauf, dass das gelungene Kunstwerk überhaupt „Produkt der Heimat“ sei, Kunst „ganz eminent h e i m a t b i l d e n d “, der Künstler mithin „Repräsentant, Exponent der Heimat“.6 Unter dem von Ehrler geteilten Prinzip der ‚doppelten Heimat‘ sollte dies gerade nicht im Widerspruch zur „ g ö t t l i c h e n M i s s i o n d e s K ü n s t l e r s “ 7 stehen. Wie Ehrler bereits 1916 in seinem Kriegsartikel Der Bund, breitenwirksam damals sowohl über die Frankfurter Zeitung wie auch über die Organe des württembergischen und des badischen Heimatbundes vertrieben, verstand Nellius die Reziprozität regionaler „Stammeskultur“ und nationaler „Vaterlandskultur“ als deutsches Spezifikum und deutsche Stärke. Im Angesicht aller möglichen Gefahren für den „deutsche[n] Volkskörper“, sei es Krieg, Nachkriegskrisen oder modernistische Kultur, sollten in der deutschen Heimat die „Gesundungs-Fermente“ liegen.8 Wie Ehrler in seinen Berlinfeuilletons für die Vossische Zeitung und die Süddeutsche Zeitung 1928 sah Nellius das wesentlich Deutsche in der Provinz und kultivierte eine kokette Rolle als ‚Provinzmann‘, die ihn nicht daran hinderte, seine Karriere auch auf Berliner Plattformen zu verfolgen.9 Gemeinsam war dem süddeutschen Dichter und dem westfälischen Tonkünstler schließlich die Klage über eine künstlerische Diktatur aus Berlin, die ‚das Gewachsene‘ zerstöre. Hielt sich der neofranziskanische Liebesmystiker Ehrler dabei von jedem aggressiven Sprachgebrauch fern, genoss Nellius rustikale Polemiken gegen das „‚tonangebende‘ Kunstgelichter von heute“ und die „‚deutsch‘-künstlerischen (– ‚Deutsch‘ in vier Anführungszeichen) Schweinereien der Großstadt“.10 Als wesentlichen Grund für Nellius’ Auszeichnung mit staatlichen Musikpreisen und öffentlichen Ämtern hat die musikgeschichtliche Forschung festgehalten, S. 268, ders.: Handbuch deutsche Musiker 1933–1945. 2. Aufl. Kiel 2009 (CD-ROM), S. 4824– 4827, sowie Esther Wallies: Georg Nellius (1891–1952). National-konservative Strömungen in der Musik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts am Beispiel eines Komponisten. Münster, New York 1991, zu den literarischen Bezügen hier S. 101 ff. 6 Georg Nellius: Kunst als Grundkraft der Heimatbewegung. In: Heimwacht. Heimatblätter für das kurkölnische Sauerland 3 (1930), H. 6/7, S. 169–174, hier S. 169 f. 7 Nellius: Kunst als Grundkraft der Heimatbewegung, S. 170. 8 Nellius: Kunst als Grundkraft der Heimatbewegung, S. 172. 9 Vgl. Bürger u. Neuhaus: Georg Nellius, S. 14, S. 16 u. S. 24. 10 Nellius: Kunst als Grundkraft der Heimatbewegung, S. 173.
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dass seine „Textauswahl ‚richtig‘ ausgerichtet“11 war. Ehrlertexte stellte er ins Zentrum seines op. 50 für dreistimmige Männerchöre a capella, Deutsch Volk [sic], vom Frühjahr 1932, das bereits der Absicht unterstand, dem „3. Reiche und seinem bewunderten Schmied Adolf Hitler“12 zu dienen. Der zehnteilige Zyklus beginnt mit einem Text des völkischen Kultautors Walter Flex (Deutsche Schicksalsstunde) und bringt als zentrale Stücke 4 bis 7 Ehrlers Das Vaterland, O Heimat, wir sind alle dein, Scholle und Bauerngebet. Zum Abschluss folgen drei Lieder der die westfälische Heimatszene repräsentierenden Dichterin Maria Kahle, sodass ‚Heimat‘ und ‚Stamm‘ als dezidiert gesamtdeutsche (‚vaterländische‘) Prinzipien mit Vertretern aus Thüringen (Flex), Württemberg (Ehrler) und Westfalen (Kahle) erscheinen. Nellius setzte dabei voraus, dass jedes Kunstwerk „die unverkennbare Physiognomie der Heimat des Künstlers“ trage: Die Texte („Kunstwerke“) von Flex, Ehrler und Kahle sollten mit einer „relativen Sicherheit und Gewißheit“ auf die stammesethnische Herkunft der künstlerischen „Persönlichkeit“ rückschließen lassen, freilich stets in Ausweis der ‚rassischen‘ Einheit.13 An Ehrlers Selbstverpflichtung auf das ‚Abendland‘ als germanisch-romanische, reichsüberwölbte Völkergemeinschaft sowie auf die „Erlauchten unter den Weisen und Heiligen“14 von Platon über Franziskus zu Goethe hatte der völkische Nationalist Nellius weniger Interesse. Allerdings war er ab 1929 Organist seiner katholischen Kirchengemeinde in Neheim und verbeugte sich mit „Italia docet“ gerne vor dem „Land der ‚Roma aeterna‘“15. Wie Nellius rheinisch-westfälischen und katholischen Hintergrund hatte der in Duisburg und Essen tätige Komponist Quirin Rische, der zahlreiche ‚Volksweisen‘ aus verschiedenen deutschen Landschaften wie Hessen, Egerland, Rheinland, aber auch aus praktisch allen ost- und westeuropäischen Ländern arrangierte. Von Ehrler vertonte er, um 1950 gedruckt, In unserm Garten geht ein Quell für Männerchor.16 Für die sogenannte Volkschorbewegung, mit der die Abgrenzung zwischen bürgerlichen Gesangsvereinen und Arbeiterchören überwunden werden sollte, setzte sich Julius Gatter ein, ab 1928 Schulmusiklehrer und Vereinsdirigent im sächsischen Plauen.17 Gatter vertonte besonders auch Arbeiterdichtung, allerdings unterstreicht es nochmals die soziale und konfessionelle Konsensuali11 Wallies: Georg Nellius, S. 155. 12 Zit. n. Bürger u. Neuhaus: Georg Nellius (1891–1952), S. 15, vgl. ebd., S. 58 ff. 13 Nellius: Kunst als Grundkraft der Heimatbewegung, S. 169. 14 Ehrler: Der Kuß, S. 334 f. 15 Nellius: Kunst als Grundkraft der Heimatbewegung, S. 170. 16 Quirin Rische (Komp.): In unserm Garten geht ein Quell. Karlsruhe o. J. 17 Vgl. Prieberg: Handbuch deutsche Musiker, S. 1927–1929, sowie Walter Merkel: Vogtländische Musiker nach 1900. Plauen 1960, S. 29 ff.
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sierungsfunktion der Heimatidee, dass er ebenso vogtländische Heimatlyrik und 1933, unter dem Titel Heimatweg, Ehrlers O Heimat, wir sind alle dein in Noten setzte (op. 73, für Männerchor). Die Stuttgarter Komponistin Hilda Kocher-Klein legte ihren 1943 auf den Münchner Musiktagen uraufgeführten Klavierliedzyklen op. 75 und op. 90 insgesamt zehn Texte zugrunde, sämtlich aus Ehrlers 1912 bei Albert Langen erschienener, danach nicht wieder aufgelegter Sammlung von Liebesgedichten Lieder an ein Mädchen.18 Diese Wahl scheint gegenüber den Vorlagen von Thienemann und Nellius aus der Reihe zu fallen, hatte ihren Platz aber in der völkisch-nationalsozialistischen Förderung einer ‚gesunden‘ und ‚natürlichen‘ süddeutschen Hausmusik, die insbesondere in der NS-Frauenschaft und schließlich in Lazaretten Verwendung fand.19 Auf die Beliebtheit von Ehrlers naturromantischkeuschen Liedern an ein Mädchen zumindest im süddeutschen Bildungsbürgertum deutet außerdem hin, dass sich die Karlsruher Konzertviolinistin und Komponistin Margarete Schweikert bereits 1922 darauf für ihren Liederzyklus op. 15 (für Tenorstimme und Klavier) gestützt hat.20 Wie Gatter und im Unterschied zu Nellius und Rische kam Kocher-Klein aus evangelischen Verhältnissen. Sie zeigte jedoch früh katholische Sympathien und konvertierte nach 1945. Sah sich Ehrler in der Tradition von Angelus Silesius (etwa mit der Sammlung Neuer cherubinischer Wandersmann von 1941), so vertonte Kocher-Klein neben Gedichten Ehrlers auch solche des schlesischen Mystikers. Ihre Absicht war dabei, einer Selbstauskunft in der Neuen Deutschen Frauenzeitschrift von 1939 zufolge, das „Gift der Schundliteratur“ zu verdrängen, Kraft und Freude zu spenden sowie „Tausende zur Gemeinschaft“ zusammenzuschließen21 – eben die antimodernen, erbaulichen und sozialromantischen Motive, die Ehrler bewegten. 18 Hilda Kocher-Klein: Sieben Lieder für Altstimme, Bratsche und Klavier nach Hans Heinrich Ehrler. Op. 75.; dies.: Drei Lieder für mittlere Stimme und Klavier nach Hans Heinrich Ehrler. Op. 90. Vgl. den Bericht von Anton Würz: Münchner Musiktage 1943. In: Musik im Kriege. Organ des Amtes Musik 1 (1943/44), S. 151 f., hier S. 152. 19 Vgl. die verdienstvolle Untersuchung von Claudia Friedel: Komponierende Frauen im Dritten Reich. Versuch einer Rekonstruktion von Lebensrealität und herrschendem Frauenbild. Münster, Hamburg u.a. 1995, S. 309–328 u. Materialanhang S. 32–49. 20 Vgl. Margarete Schweikert: Lieder an ein Mädchen op. 15. Für eine Tenorstimme und Klavier. Nach Gedichten von Hans Heinrich Ehrler im Zyklus. Hg. v. Jeannette La-Deur. Wilhelmshaven 2014; dazu Michael Gerhard Kaufmann: Lieder an ein Mädchen – Margarete Schweikert (1887– 1957) in Karlsruhe. In: Klangwelten, Lebenswelten. Komponistinnen in Südwestdeutschland [Katalog zur Ausstellung]. Hg. v. Martina Rebmann u. Reiner Nägele. Stuttgart 2004, S. 178– 189. 21 Hilda Kocher-Klein: „Singet und spielet allezeit, weil die Musik das Herz erfreut!“ In: Neue Deutsche Frauenzeitschrift 14 (1939), H. 12, S. 158 f., wiederabgedruckt bei Friedel: Komponierende Frauen im Dritten Reich, Quellenanhang S. 45 f.
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Im Kontext der württembergischen Heimatbewegung arbeitete der Geislinger Kantor Gustav Schneider, der O Heimat, wir sind alle dein zur Aufführung auf dem Schwäbischen Liederfest des Deutschen Sängerbundes in Stuttgart 1938 vertonte,22 ebenso der an Volksliedmelodien orientierte Komponist Otto Löffler, Schulmusiklehrer in Stuttgart-Plochingen, Leiter mehrerer Chöre und führendes Mitglied im Schwäbischen Sängerbund, dessen umfangreiche Produktion vorwiegend regionalistische Titel umfasst wie Heil Württemberg!, Schwabentreue und – die Heimat aus der Ferne betrachtend – Soldatengrab in Rußland. Neben südwestdeutscher Regionalliteratur verwendete Löffler unter anderem auch Texte von Löns und Vesper. Mit Ehrler war er persönlich bekannt und widmete ihm zum 70. Geburtstag (1942) eine Vertonung von dessen Gedicht In der Fremde („Und wenn du in die Fremde gehst“, auch unter dem Titel Abschied). 1945 wurde Löfflers Komposition von O Heimat, wir sind alle dein für Männerchor (op. 216) und gemischten Chor (op. 216a) gedruckt, mit der sich die zeitgenössischen Erfahrungen von Kriegsgefangenschaft, Flucht und Vertreibung konsolatorisch adressieren ließen.23 Bezeichnend für den Rückzug von zuvor NS-verpflichteten Künstlern auf die Diskursebene der Heimat ist die 1951 bei Schott publizierte Vertonung von Ehrlers O Heimat, wir sind alle dein (für vierstimmigen Männerchor) durch den Freiburger, auf Kirchen- und Festmusik spezialisierten Komponisten Eberhard Ludwig Wittmer, der wenige Monate nach der ‚Machtergreifung‘ in die NSDAP eingetreten war und zahlreiche Aufträge für die nationalsozialistische Feiergestaltung wie bei den badischen ‚Gaukulturwochen‘ und den Nürnberger Reichsparteitagen wahrgenommen hat. An einer ‚nationalpolitischen Musikerziehung‘ ausgerichtet, stützte sich Wittmer überwiegend auf die Naturlyrik zeitgenössischer katholischer Autoren (darunter Bergengruen, Ehrler und Wehner), berücksichtigte aber auch völkische Protestanten wie die Südwestdeutschen Burte und Finckh (Letzteren wiederum mit Brauner Erde warmer Hauch) und den Niederdeutschen Claudius.24 1958 gab Julius Gessinger seine Vertonung von O Heimat, wir sind alle dein in Druck.25 Gessinger, Privatmusiklehrer in Stuttgart und Schwäbisch Hall, hatte der NSDAP ab 1940 angehört und setzte zahlreiche ‚vaterländische Gesänge‘ mit der 22 Vgl. Prieberg: Handbuch deutsche Musiker, S. 6252. 23 Vgl. Löffler (Komp.): O Heimat, wir sind alle dein; dazu Prieberg: Handbuch deutsche Musiker, S. 4306–4308. Ebenfalls für Männerchor undat. Bibus (Komp.): Heimat. 24 Vgl. Wittmer: Heimat, wir sind alle dein. Zu Person und Werk vgl. Stefan Zöllner: Orgelmusik im nationalsozialistischen Deutschland. Frankfurt/M., Bern u.a. 1999, S. 251 ff., Prieberg: Musik im NS-Staat, S. 137 f., sowie ders.: Handbuch deutsche Musiker, S. 7869–7872. 25 Vgl. Gessinger (Komp.): O Heimat, wir sind alle dein!
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Verherrlichung Schwabens auf, aber auch anderer Manifestationen der ‚deutschen Heimat‘ wie Ost- und Westpreußen. Auf Ehrlertexte gründete er außerdem seinen 1942 im Kurhaus in Freudenstadt uraufgeführten, erst 1965 veröffentlichten Kleinen Liederkreis für Bariton und Klavier, der fünf Vertonungen umfasst und die Bemerkung enthält: „Beim Vortrag ist durch Wiederholung des ersten Liedes ‚Heimat‘ der Kreis zu schließen.“26 Gessinger verehrte Ehrler als einen „Begnadeten“ und stand – wie im Vorwort des Kleinen Liederkreises beschrieben – seit 1932 mit ihm in Kontakt.27 Vom Thema der verlorenen Heimat in Verbindung mit christlicher Glaubens inbrunst kam der russlanddeutsche Komponist Georg von Albrecht zu Ehrler. Angesichts der sowjetischen Religionspolitik hatte Albrecht 1923 das Konservatorium in Sankt Petersburg verlassen, im Folgejahr die Leitung des orthodoxen Kirchenchores in Stuttgart übernommen und ab 1936 an der Staatlichen Hochschule für Musik gelehrt, dies unter anderem mit Interesse an der Vermittlung zwischen Volkslied und Kirchenmusik auf der Grundlage russischer Melodik. Den Hinweis auf Ehrler erhielt er von seinem Kollegen für Kirchenmusikgeschichte, Alfons Krießmann. Daraus entwickelte sich eine Freundschaft zu dem Dichter, die der Komponist auch in seinen Memoiren dokumentiert hat. Ehrlers Gratifikationen durch den NS-Staat hielt Albrecht, der selbst als nonkonform galt und nach dem Krieg stellvertretender Direktor seiner Hochschule wurde, für taktische Befriedigungsmaßnahmen gegenüber dem katholischen Bevölkerungsanteil. Am sensus spiritualis von ‚Heimat‘ als göttlichem Ursprung des Menschen und der ‚stillen Stadt‘ als himmlischem Jerusalem in Ehrlers Gedichten hegte er keinen Zweifel.28 1937 vertonte Albrecht insgesamt zwölf Gedichte Ehrlers in zwei Liedzyklen, darunter gerade die heimat- und ahnenseligsten wie in op. 46 (Fünf Gedichte von Hans Heinrich Ehrler) Nr. 2: Der Erde und Nr. 5: Es wächst ein Baum um jedes Haus, in op. 47 (Sieben Gedichte von Hans Heinrich Ehrler) Nr. 1: O Heimat, wir sind alle dein, Nr. 4: Scholle und Nr. 7: Blut und Ewigkeit.29 Im Unterschied zu den Ehrlervertonungen von Nellius und Wittmer handelt es sich dabei nicht um Chorwerke 26 Julius Gessinger: Kleiner Liederkreis für Bariton und Klavier op. 44. Worte von Hans Heinrich Ehrler. Schwäbisch Hall 1965, S. 2; dazu Prieberg: Handbuch deutsche Musiker, S. 2064–2066. 27 Gessinger (Komp.): Kleiner Liederkreis, S. 1. 28 Vgl. Albrecht: Erinnerungen eines Musikers, S. 161, sowie Alexander Schwab: Georg von Al brecht (1891–1976). Studien zum Leben und Schaffen des Komponisten. Frankfurt/M., Bern u.a. 1991, S. 33, S. 61 ff. u. S. 153 f. 29 Vgl. Albrecht (Komp.): Lieder, S. 79–91.
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mit Zug zur Fest- und Monumentalmusik, sondern zunächst um Kammermusik für Solostimme und Klavier. Einige der Lieder verwendete Albrecht in seiner Oper Das Vaterunser von 1938, die vor dem Hintergrund der bolschewistischen Christenverfolgung im russischen Bürgerkrieg spielt. Dass er Pathos vermeidende Vorlagen gewählt hätte, lässt sich in diesem Falle nicht behaupten. „Klarheit, Übersichtlichkeit, Durchschaubarkeit und Kürze“ sowie die Bindung an „religiösweltanschauliche Fragen“30 waren allerdings sicherlich Eigenschaften, die Ehrlers Texte für den Komponisten höchst brauchbar machten. Außer mit Ehrler war Albrecht auch gut mit Georg von der Vring befreundet, der die Werte von deutscher Heimat und christlichem Europa bei großer NS-Nähe mit niederdeutsch-evangelischem Akzent vertrat und ab 1930 in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung lebte.31 Ihm widmete er im Anschluss an die beiden Ehrlerzyklen die Georg von der VringLieder (op. 49). Hermann Reutter schließlich, NSDAP-Mitglied ab 1933, Mitglied der Preußischen Akademie der Künste und Direktor der Staatlichen Hochschule für Musik in Frankfurt am Main, vertonte 1946, nach der Rückkehr in seine Geburtsstadt Stuttgart und an die dortige Staatliche Hochschule für Musik, zwei Liederzyklen aufgrund von Ehrlers Sammlung Gesicht und Antlitz. Der siebenteilige Ehrler-Zyklus I (op. 64) umfasst hauptsächlich Votivtexte auf abendländische Geistesgrößen wie Platon, Petrarka und Franziskus, der zwölfteilige Ehrler-Zyklus II (op. 65) naturmagische und geistliche Gedichte wie Wintersonnwend, Nachtlied, Beter am Meer und Des Mönches Abschied.32 Das Lied Johann Kepler. Harmonia mundi hielt Reutter noch 1975 für eine Schallplatteneinspielung wert, bei der er Dietrich Fischer-Dieskau am Flügel begleitete.33 Der erfolgreiche Komponist verband seine wiederholte „Deutung des dichterischen Volksgutes“ mit einer anspruchsvollen, 30 Johannes Schwermer: Vokalwerke. In: Festschrift Georg von Albrecht. Zum 70. Geburtstag dargebracht von Kollegen und Freunden. Hg. v. Johannes Schwermer. Stuttgart 1962, S. 35–44, hier S. 37. 31 Vgl. Dasenbrock: Georg von der Vring, S. 70 ff. u. S. 79 ff. 32 Hermann Reutter: Sieben Gesänge nach Gedichten von Hans Heinrich Ehrler (aus Gesicht und Antlitz). Für tiefe Männerstimme und Klavier. Op. 64. Ehrler-Zyklus I. Mainz, London u.a. 1948, ders.: Zwölf Lieder nach Gedichten von Hans Heinrich Ehrler (aus Gesicht und Antlitz). Für hohe Stimme und Klavier. Op. 65. Ehrler-Zyklus II. Mainz, London u.a. 1948. – Zu Reutters Textauswahl vgl. Heinrich Lindlar: Randnoten zu Reutters Liedschaffen. In: Hermann Reutter. Werk und Wirken. Festschrift der Freunde. Hg. v. dems. Mainz, London u.a. 1965, S. 18–25, vgl. den Werkkatalog ebd., S. 113. 33 Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton) u. Hermann Reutter (Klavier): Aufbruch des 20. Jahrhunderts im Lied. EMI Electrola 1975, wieder auf: Dietrich Fischer-Dieskau: Stilwandlungen des Klavierliedes 1850–1950. EMI Records 2000, EMI Classics 2005.
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gemäßigt modernen Tonsprache, die ihm in der nationalsozialistischen Musikkritik den Vorwurf mangelnder „Verbundenheit“ mit Natur und Volk eingebracht hatte.34 Mit Gesicht und Antlitz wählte er eine Vorlage der 1920er Jahre, in der Ehrler die regionale als christlich-europäische Idee vertieft und in klassisch-romantische Liedformen gefasst hat. Die Verbindung zu Reutter veranlasste Ehrler ein halbes Jahr vor seinem Tod – er verstarb am 14. Juni 1951 in seinem Haus in Waldenbuch, umsorgt von seiner Frau Melanie und seinem Freund Stadtpfarrer Hermann Breucha – zu einer allerletzten politisch-panegyrischen Dichtung: nichts Geringerem als dem Vorschlag zu einer neuen deutschen Nationalhymne. Theodor Heuss hatte seine Pläne zu einem solchen Projekt seit Ende 1949 unter weitgehender Geheimhaltung verfolgt. Für einen politisch und literarisch tragbaren Text stützte sich der Bundespräsident, der sein Amtsprofil in Richtung eines ‚Bundeskultusministers‘ auslegte, auf den christlichen Klassizisten Rudolf Alexander Schröder, der sich „der ungeheuren Schuld in unserem Rücken und der unentrinnbaren Fülle dringlichster Aufgaben vor uns“35 bewusst zeigte und von dem man erwarten konnte, dass „[s]ein Anruf und seine Deutung […] zur mahnenden Gewissensstärkung“36 gereichten. Für die Vertonung engagierte er auf Vorschlag von Carl Orff den versierten Liedkomponisten Reutter (ohne Heuss’ Segen hat später auch Wittmer den Text vertont). In seiner Rundfunkansprache zum Jahresausklang 1950 verlas der Bundespräsident die von ihm stark überarbeitete Hymne Land des Glaubens, deutsches Land37 und stieß damit auf die bekannte Kritik an der evangelischen Formelhaftigkeit, ideellen Abstraktheit und patriotischen Lauigkeit von ‚Theos Nachtmusik‘. In dieser Situation verfasste Ehrler die ebenfalls dreistrophige Hymne Gesang des Deutschen, die er Reutter am 2. Januar 1951 zur Beachtung schickte. Der Gesang des Deutschen zitiert Hölderlins Ode desselben Titels („O heilig Herz der Völker, o Vaterland!“), auf die sich Ehrler seit seiner Propagandatätigkeit im Ersten Weltkrieg vielfach bezogen hat und die von Reutter 1938 (als op. 49) vertont 34 Zit. n. Prieberg: Handbuch deutsche Musiker, S. 5721. Vgl. auch Prieberg: Musik im NS-Staat, S. 268 ff. 35 Schröder: Vom Beruf des Dichters, S. 31. 36 So Heuss: Vor der Bücherwand, S. 282. Zu Grundlagen und Details der Zusammenarbeit Klaus Goebel: „Neugierig, was ich zum Schluß gedichtet haben werde“. Der Gedankenaustausch von Theodor Heuss mit Rudolf Alexander Schröder und der Streit um die deutsche Nationalhymne 1950–1952. In: Zum Ideologieproblem in der Geschichte. Hg. v. Erik Gieseking, Irene Gückel u.a. Lauf/Pegnitz 2006, S. 119–137. Zum ‚Hymnen-Streit‘ auch Merseburger: Theodor Heuss, S. 508 ff., sowie Radkau: Theodor Heuss, S. 345 ff. 37 Unter dem neutralisierten Titel Hymne in Rudolf Alexander Schröder: Die Gedichte. Frankfurt/M. 1952 (= Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd. 1), S. 501.
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worden war.38 Die Eingangsstrophe besingt – damit kehrte Ehrler zu seinen Anfängen im Simplicissimus und in der Frankfurter Zeitung zurück – Ludwig Uhland, der als Erster die Farben „Schwarz-Rot-Gold“ gehisst und „[d]er Freiheit Luft“ gefordert habe, in der die „Enkel“ jetzt atmeten. Die Demokratie der Bundesrepublik wird somit, typisch für den ‚Brückenbauer‘ und Synkretisten Ehrler, über alle historischen Diskontinuitäten hinweg auf die 48er-Bewegung zurückgeführt, die Heuss in seiner Rede nach der Wahl zum Bundespräsidenten nurmehr ironisch als die „Legenden des Jahres 48“39 berührte. Die zweite Strophe gibt eine rühmende Beschreibung von Ernst Rietschels Doppeldenkmal für Goethe und Schiller vor dem Weimarer Nationaltheater. Die dritte Strophe steckt die deutsche Geografie nach West und Ost durch Marbach (Schiller) und Königsberg (Kant) ab. Ehrler ersetzte also die alte Flüsseformel („Von der Maas bis an die Memel“) durch Orientierungspunkte im ‚Reich des deutschen Geistes‘, dem ‚Inneren Reich‘. Der alte geosymbolische Widerpart Weimars, Potsdam, wird dabei ebenso beiläufig übergangen wie die moderne Großstadtkultur Berlins oder Frankfurts. Den Schluss bildet eine religiöse Formel, die die fromme, kirchenliedartige Gesamtanlage von Schröders Land des Glaubens, deutsches Land zugleich aufnimmt und reduziert: „Doch sagt: Soll nicht dem höchsten Herrn der Welten / Auch dieser Hochgesang des Deutschen gelten?“40 Mit der finalen metaphysischen Umapostrophierung der Hymne wird das nationale Element supranational überwölbt. Ehrler selbst nannte seinen Text im Begleitbrief an Reutter „einen straffer, höher greifenden Gesang des Deutschen“ und ausdrücklich einen „Lobpreis“.41 Damit berührte er den Punkt jener modesten Behaglichkeit, die auch Gottfried Benn an Schröders und Heuss’ Version moniert hat, ohne dabei das Verständnis Deutschlands als Reich mit den machtpolitischen Implikationen der Reichsideologie hinter sich gelassen zu haben: Und nun die neue Nationalhymne! Der Text ganz ansprechend, vielleicht etwas marklos, der nächste Schritt wäre dann ein Kaninchenfell als Reichsflagge.42
38 Hölderlin: Gedichte, S. 224. 39 Theodor Heuss: Rede nach der Wahl zum Bundespräsidenten. In: ders.: Politiker und Publizist. Aufsätze und Reden. Hg. v. Martin Voigt. Tübingen 1984, S. 369–380, hier S. 376. 40 Hans Heinrich Ehrler: Gesang des Deutschen, DLA Marbach, Sign. A:Pongs. 41 Hans Heinrich Ehrler an Hermann Reutter, 2. Januar 1951, DLA Marbach, Sign. A:Ehrler. 42 Gottfried Benn: Kleiner Kulturspiegel. In: ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. In Verbindung mit Ilse Benn hg. v. Gerhard Schuster. Bd. 2. Stuttgart 1986, S. 151.
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Gegen den „Schimmer der Größe“ und „Glanz der Macht“ hatte Heuss schon bei den Beratungen über die württemberg-badische Verfassung und dann im Parlamentarischen Rat, in dem er den Begriff „Bundesrepublik“ lancierte und durchsetzte, erklärt: „Der historische und symbolische Begriff ‚Reich‘ ist mit der Geschichtslage, in der wir stehen und in die wir treten, nicht vereinbar.“43 Daher konnte auch ein ‚Lobpreis‘, ‚straff ‘ und im genus grande, wie Ehrler ihn glaubte anbieten zu dürfen, für den politischen Verantwortungsträger Heuss unter den deutschen Nachkriegsbedingungen nicht mehr auf dem Programm stehen. Ein „Pathos der Nüchternheit“44 forderte er in derselben Angelegenheit von Konrad Adenauer. Ehrlers Hymne zelebriert in einer Tradition, die aus dem späten Kaiserreich stammt und vom Autor durch das Dritte Reich hindurch intensiv gepflegt wurde, das ‚Innere Reich‘ des deutschen Geistes. Sie beruht auf einem Personenkult – den von Ehrler noch 1950 gegenüber Heuss angeführten „hohen Vorbildern unseres erhabenen deutschen Schriftgutes“45, mit Uhland, Schiller, Goethe und Kant in zu Gott aufsteigender Linie –, in dem Heuss den nationalsozialistischen „Heroenkitsch“46 wiedererkannte und mit dem es nun ein Ende haben sollte.
43 Heuss an Middelhauve, 9. November 1948 (Stuttgarter Ausgabe). Zum Prozess der Ablösung von der Reichsidee in der ideenpolitischen und theologischen Entwicklung nach 1945 vgl. Hürten: Der Topos vom christlichen Abendland, S. 145 ff. 44 Theodor Heuss an Konrad Adenauer, 19. Juni 1951. In: ders.: Der Bundespräsident. Briefe 1949–1954. Hg. v. Ernst Wolfgang Becker, Martin Vogt u. Wolfram Werner. Berlin, Boston 2012 (= Stuttgarter Ausgabe. Briefe, Bd. 5), Nr. 77. 45 Hans Heinrich Ehrler an Theodor Heuss, 28. April 1950, NL Heuss. 46 Heuss an Roser, 2. März 1950 (Stuttgarter Ausgabe).
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530 | Literaturverzeichnis Winckler, Lutz: Kulturelle Erneuerung und gesellschaftlicher Auftrag. Zur Bestandspolitik der öffentlichen Bibliotheken und Betriebsbüchereien in der SBZ und DDR 1945–1951. Tübingen 1987. Wippermann, Wolfgang: Der Ordensstaat als Ideologie. Das Bild des Deutschen Ordens in der deutschen Geschichtsschreibung und Publizistik. Berlin 1979. Wittenbrink, Theresia: Schriftsteller vor dem Mikrophon. Autorenauftritte im Rundfunk der Weimarer Republik 1924–1932. Eine Dokumentation. Berlin 2006. Wittmann, Reinhard: Literarische/belletristische Verlage. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Börsenverein des Deutschen Buchhandels / Historische Kommission. Bd. 3: Drittes Reich. Tl. 1. Berlin, Boston 2012, S. 295– 380. Wolnik, Gordon: Mittelalter und NS-Propaganda. Mittelalterbilder in den Print-, Ton- und Bildmedien des Dritten Reiches. Münster 2004. Zeller, Bernhard (Hg.): Klassiker in finsteren Zeiten 1933–1945. 2 Bde. Marbach 1983. Zelzer, Maria: Stuttgart unterm Hakenkreuz. Stuttgart 1984. Zimmer, Ilonka: Uhland im Kanon. Studien zur Praxis literarischer Kanonisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt/M., Bern u.a. 2009. Zimmermann, Hans Dieter: „Innere Emigration“. Ein historischer Begriff und seine Pro blematik. In: Schriftsteller und Widerstand. Facetten und Probleme der „Inneren Emigration“. Hg. v. Frank-Lothar Kroll u. Rüdiger von Voss. Göttingen 2012, S. 45–61. Ziolkowski, Theodor: Spiegel der gestörten Psyche. Hermann Hesse und der Erste Weltkrieg. In: Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne. Hg. v. Uwe Schneider u. Andreas Schumann. Würzburg 2000, S. 209–228. Zöllner, Stefan: Orgelmusik im nationalsozialistischen Deutschland. Frankfurt/M., Bern u.a. 1999.
Abbildungsverzeichnis | 531
Abbildungsverzeichnis S. 61 (Abb. 1): Waldenbuch, „Blick auf die Stadt“, Holzschnitt von Joachim Lutz. Quelle: Waldenbuch auf den Fildern. 12 Original-Holzschnitte von Joachim Lutz. Dazu eine Einführung von Martin Lang. Mannheim 1926, Bl. 1. S. 68 (Abb. 2): Umschlagillustration mit Kreuz und Adler. Quelle: Hans Heinrich Ehrler: Die Reise in die Heimat. Tübingen 1958. S. 94 (Abb. 3): Hans Heinrich Ehrler um 1910, Foto. Quelle: Stadtarchiv Bad Mergentheim, Nachlass Hans Heinrich Ehrler. S. 94 (Abb. 4): Hans Heinrich Ehrler um 1950, Foto. Quelle: Deutschordensmuseum Bad Mergentheim. S. 95 (Abb. 5): Hans Heinrich Ehrler um 1930, Foto. Quelle: Anselm Salzer: Illustrierte Geschichte der deutschen Literatur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. 2., neu bearb. Auflage. Regensburg 1926–1932, Bd. 4 (1931), nach S. 1952. S. 95 (Abb. 6): Hans Heinrich Ehrler, Pressezeichnung von Emil Stumpp 1925, mit Signatur Ehrlers. Quelle: Emil Stumpp: Köpfe in Schwaben. Porträt-Skizzen. Hg. v. Stuttgarter Neuen Tagblatt. Stuttgart 1926, S. 14. S. 95 (Abb. 7): Hans Heinrich Ehrler, Totenmaske, 1951. Quelle: DLA Marbach. S. 95 (Abb. 8): Bildtafel „Das Gau- oder Stammesgesicht“. Quelle: Gerhard Venzmer: Dein Kopf – dein Charakter! Was Schädelform und Antlitzbildung über die Wesensart des Menschen verraten. Stuttgart 1934, S. 47. S. 176 (Abb. 9): Einbandillustration „Brückenbauer“ von Karl Sigrist. Quelle: Ludwig Finckh: Brückenbauer. Stuttgart, Berlin 1919. S. 217 (Abb. 10): Gedichtillustration „Uhland“ von Wilhelm Schulz. Quelle: Simplicissimus 17 (1912), S. 540. S. 228 (Abb. 11): Moritz von Schwind: Ein Einsiedler führt Rosse zur Tränke, um 1850, Öl auf Eichenholz. Quelle: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Sammlung Schack. S. 260 (Abb. 12): Aufruf zur Verfassungsfeier in Stuttgart 1932, Plakat. Quelle: Bibliothek für Zeitgeschichte in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, Sign. 3.6/109. S. 281 (Abb. 13): Hans Heinrich Ehrler um 1940, Foto. Quelle: Das kleine Buch der Dichterbilder. München 1941, S. 11. S. 331 (Abb. 14): Hans Heinrich Ehrler mit Hermann Pongs um 1935, Foto. Quelle: Stadtarchiv Bad Mergentheim, Nachlass Hans Heinrich Ehrler. S. 402 (Abb. 15): Hans Heinrich Ehrler um 1950, Foto. Quelle: Stadtarchiv Bad Mergentheim, Nachlass Hans Heinrich Ehrler.
532 | Danksagung
Danksagung Für Auskünfte, Quelleneinsichten und Publikationsgenehmigungen danke ich dem Bundesarchiv Koblenz (Nachlass Theodor Heuss), der Bundespräsident Theodor Heuss Stiftung Stuttgart und Ludwig Theodor Heuss, dem Deutschen Literaturarchiv Marbach (Nachlässe Ehrler, Günzler, Hefele, Kluckhohn, Pongs und Reutter, Zeitungsausschnittsammlung Ehrler), dem Deutschordensmuseum, dem Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar (Nachlässe Lienhard und Deutsche Schillerstiftung), dem Hans-Carossa-Gymnasium Landshut, dem Landesverein Badische Heimat, dem Leo Baeck Institute New York (Nachlass Picard), dem PaulErnst-Archiv der Universitätsbibliothek Regensburg (Nachlass Kutzbach), dem Hauptstaatsarchiv Stuttgart (Personalakte Ehrler, Familienpapiere Günzler, Nachlass Kriegsministerium, Flugschriftensammlung), dem Staatsarchiv Ludwigsburg (Spruchkammerverfahrensakte Ehrler, Personalangelegenheiten des NS-Kuriers), den Stadtarchiven Bad Mergentheim (Nachlass Ehrler) und Reutlingen (Nachlass Finckh) sowie den Stadtarchiven Ingolstadt und Landshut (Schuljahresberichte), dem Stadtarchiv Stuttgart (Gemeinderatsprotokolle, Autografensammlung Ehrler, Zeitungsausschnittsammlung Ehrler), der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek Kiel (Nachlass Hans Friedrich Blunck/Reichsschrifttumskammer), dem Schwäbischen Heimatbund, der Universitätsbibliothek Eichstätt-Ingolstadt (Nachlass Bonifacius Verlag), der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart (Nachlässe Kocher-Klein und Missenharter, Plakatsammlung) sowie den Universitätsarchiven der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und der Ludwig-Maximilians-Universität München (Matrikeln Ehrler). Für bereichernde Gespräche zum Gegenstand dieses Buchs geht mein herzlicher Dank an Peter Sprengel. Dankenswerte Unterstützung bei der Quellenbeschaffung habe ich durch Ernst Wolfgang Becker, Christine Schmidt, Markus Wennerhold und ganz besonders durch Alexandra Birkert erfahren. Viel verdanke ich der sachkundigen Durchsicht des Manuskripts durch Abraham Peter Kustermann, Tim Lörke und Thomas Pittrof. Der Einstein Stiftung Berlin danke ich für die großzügige Förderung im Rahmen eines Einstein Visiting Fellowship (Förderphase 2015– 2019) an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien der Freien Universität Berlin. Berlin und Tokyo, im Frühjahr 2018
Stefan Keppler-Tasaki
Personen | 533
Register Personen ‘Abdu’l-Bahá 24, 70f. Abele, Theodor 28, 299, 300–306, 312–316, 327–329, 362–364, 371, 379f., 405, 409, 412, 414, 417, 428 Ackerknecht, Erwin 64, 419 Adam, Karl 18, 118, 131, 165, 272, 323, 325, 329, 357 Adenauer, Konrad 445 Alberts, Hermann 99 Albrecht, Georg von 46, 93, 96, 337, 441f. Alker, Ernst 107, 425 Alverdes, Paul 133–138, 140, 168, 280, 288, 424 Ambros(ius) (Pater) siehe Styra, Ambros Anacker, Heinrich 296, 432 Andler-Jutz, Maria 181, 276 Andres, Stefan 56, 193, 196, 344, 373, 413, 430 Angelus Silesius (d. i. Johannes Scheffler) 106, 280, 296, 365, 439 Antweiler, Anton 26 Arndt, Ernst Moritz 378, 390, 426 Auerbach, Berthold 186 Augustinus von Hippo 25, 177 Aussem, Josef 125, 300, 303, 316 Baader, Emil 45 Bach, Johann Sebastian 19, 149, 236 Ball, Hugo 169, 181 Banaschewski, Edmund 427 Barion, Hans 160–162, 167f., 309 Bartels, Adolf 63f., 77, 206f., 282, 296, 355, 392 Bäuerle, Theodor 232, 339, 361, 419 Bauer, Peter 60, 62, 119, 336, 386 Baumgärtner, Georg August 231 Baur, Joseph 13, 98, 428 Beer, Johannes 42, 286 Beethoven, Ludwig van 69, 75 Belzner, Emil 419
Benda, Arthur 116 Bender, Ewald 193 Benedikt von Nursia 84, 89, 345 Benjamin, Walter 15, 16 Benn, Gottfried 204, 269, 444f. Benzmann, Hans 19, 65, 88, 228 Benz, Richard 138 Bergengruen, Werner 275, 311, 312, 338, 381, 426, 440 Bernanos, Georges 313f. Bernhart, Joseph 20, 60, 97, 157, 158, 180, 413 Berning, August Heinrich 43, 66, 74, 300–303, 312, 313f., 316, 318, 362, 364f., 371, 409f., 412, 414, 417, 428 Bibus, Ludwig 46, 440 Biese, Alfred 65 Billinger, Richard 19, 111 Binder, Hermann 93, 158 Binding, Rudolf G. 115 Bismarck, Otto von 183, 242, 308 Blaich, Hans Erich siehe Dr. Owlglass Blass, Ernst 193 Blei, Franz 62 Blume, Bernhard 176, 388, 393 Blunck, Hans Friedrich 274, 286, 376, 417 Bockemühl, Erich 212, 214, 270 Bodman, Emanuel von 172, 185, 191 Böhme, Herbert 34f., 294 Böhme, Jakob 365 Böll, Heinrich 430 Bolz, Eugen 258, 262, 367 Borchardt, Rudolf 373 Borinski, Karl 65 Borst, Hugo 339 Borst, Joseph 88 Bosch, Robert 74, 339f., 342, 409 Bott, Hans 81 Bouhler, Philipp 357
534 | Register Brand, Guido Karl 63, 65 Braun, Harald 132, 269 Brecht, Bertolt 29, 204 Brendel, Bruno 354f. Brentano, Clemens 295, 330 Breucha, Hermann 13, 19, 33, 41, 44, 59, 66, 81, 96, 99, 366, 368f., 400, 411, 417–419, 434, 443 Britting, Georg 275 Bronnen, Arnolt 29 Bronni, Lisa 93 Bruder, Erhard Jurrian 78, 89, 90, 169 Brües, Otto 78 Brüning, Heinrich 300f. Bruno, Giordano 118 Bry, Carl Christian 14f., 19, 89, 148, 150–154, 157, 197, 208, 226, 283 Buchheim, Karl 266 Bühner, Karl Hans 93, 337, 357, 414, 415, 417, 419 Bulle, Oskar 74, 77, 97 Burger, Heinz Otto 392 Burte, Hermann 151, 435, 440 Calé, Walter 118 Cardaun, Josef 129 Cardenal, Ernesto 426 Carossa, Hans 19, 30, 71, 288, 293, 312, 315, 317, 318, 347, 356, 359, 376, 387, 396, 426 Chesterton, Gilbert Keith 120, 152f. Claudel, Paul 86f., 312, 314 Claudius, Hermann 280, 312, 440 Claudius, Matthias 270 Cohen, Hermann 250 Cohn, Helene Hanna 253, 254 Cossmann, Paul Nikolaus 244f., 250f. Dante Alighieri 33, 84, 155–158, 165, 177, 345 Däubler, Theodor 115 Daur, Rudolf 369 Dauthendey, Max 235, 427 Debatin, Otto 340f. Dehmel, Richard 427 Deml, Friedrich 111
Dempf, Alois 22, 43, 50, 128f., 156, 166, 300, 303–306, 311f., 316, 371 Derleth, Ludwig 64 Detmold, Ernst 334 Devrient, Ludwig 211 Deyerling, Ludwig 329 Diederichs, Eugen 24, 25, 155 Döblin, Alfred 97, 276, 277f., 288, 402, 412, 430 Doderer, Heimito von 116 Domin, Hilde 426 Dörfler, Anton 417 Dörfler, Peter 206, 336, 393, 425 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 99, 184 Droste-Hülshoff, Annette von 364 Dr. Owlglass (d. i. Hans Erich Blaich) 75 Dürer, Albrecht 80, 133, 211, 236, 280, 343 Eberhardt, Paul 100, 117 Eckhart von Hochheim siehe Meister Eckhart Egenter, Richard 429 Eggers, Kurt 296 Ehlen, Nikolaus 130 Ehringhaus, Inge 17 Ehrler, Heinrich (Jagdflieger) 270, 381 Ehrler, Johann Michael 66, 71, 73, 344, 434 Ehrler, Karl 66 Ehrler, Margaretha (geb. Heuerling) 36, 65, 434 Ehrler, Melanie (geb. Frommherz) 73, 193, 200, 386, 419, 430, 434, 443 Eichendorff, Joseph von 65, 83, 133, 230, 273 Elsas, Fritz 93, 198f., 267f. Elster, Hanns Martin 192, 282 Emmerich, Katharina 49 Erasmus von Rotterdam 157 Ernst, Paul 115, 427 Erny, Richard 45, 425 Erzberger, Matthias 243 Eschmann, Ernst Wilhelm 151 Eschweiler, Karl 160–162, 167f., 309 Färber, Otto 419 Faulhaber, Michael von 252, 324–326
Personen | 535
Faust, Johann 90 Fechter, Paul 288 Fichte, Johann Gottlieb 308, 310 Finckh, Ludwig 20, 36, 43, 44, 46, 51, 65, 80, 143, 169–176, 180, 181, 191f., 198, 236, 239, 341, 382, 387, 391, 393–395, 407, 414, 415, 424, 434, 435f., 440 Fischer-Dieskau, Dietrich 443 Fischer, Walter 362 Flex, Walter 438 Foerster, Friedrich Wilhelm 50 Fontane, Theodor 242 Forst de Battaglia, Otto 296f. Fra Angelico 127 Frank, Bruno 239 Frank, Christian 130 Franke-Heibronn, Hans 123, 284 Frank, Ludwig 248 Franz von Assisi 18, 27, 29, 65, 84, 111–131, 147f., 149, 177, 198, 216, 266f., 271, 345, 381, 438 Frenzel, Elisabeth 42 Frommherz, Ernst 73, 386 Frommherz, Melanie siehe Ehrler, Melanie Fuchs, Friedrich 19 Fussenegger, Gertrud 130 Gampp, Josua Leander 295 Ganghofer, Ludwig 244 Gatter, Julius 46, 438 Gayda, Franz Alfons 211 George, Stefan 16, 86, 93, 97, 115f., 138f., 140, 147, 158, 195, 214, 290, 294, 309, 336 Gerhardt, Paul 270 Gerlich, Fritz Michael 302, 375 Gerster, Matthäus 347 Gessinger, Julius 46, 440 Ghéon, Henri 413 Gide, André 413 Gille, Hans 293f., 295, 386 Goebbels, Joseph 54, 57, 310, 355, 363, 366, 396, 404, 410 Goes, Albrecht 43, 52, 214, 247, 393f., 429f.
Goes, Eberhard 244 Goes, Gustav 353 Goethe, Johann Wolfgang von 13, 25, 33, 65, 72, 84, 114, 118, 157, 160, 164, 184, 188, 195, 230, 236, 242, 248, 258, 273, 289, 295, 331, 345, 378, 410, 438, 444f. Görgen, Hermann 50 Görres, Joseph 9 Gothein, Eberhard 150 Gött, Emil 122, 144 Gotthelf, Jeremias 364 Gradmann, Robert 391 Griese, Friedrich 424 Grimm, Hans 376 Gründgens, Gustaf 404 Grünewald, Matthias 16, 147, 182, 271 Grupp, Georg 391 Guardini, Romano 25f., 155f. Gu Hongming 24f. Gundling, Theo 45, 356 Gundolf, Friedrich 232 Günther, Herbert 277 Güntter, Otto von 17, 239f., 393 Günzler, Wilhelm 29, 213, 330, 342f., 366 Gurian, Waldemar 54f., 110, 126f. Gutbrod, Karl 177 Haase, Hugo 234 Haecker, Theodor 51 Hagen, August 419 Handel-Mazzetti, Enrica von 204, 336 Harbeck, Hans 65 Hardenberg, Friedrich von siehe Novalis Hasenkamp, Gottfried 336 Hashagen, Justus 118 Hatzfeld, Adolf von 120, 336 Hatzfeld, Johannes 132 Hauer, A. 46, 424, 432f. Hauer, J. W. 46, 424, 431–433 Hauptmann, Gerhart 115, 242 Haußmann, Conrad 24, 198f., 201, 216, 223, 267 Hebel, Johann Peter 189
536 | Register Hefele, Emil von 154 Hefele, Herman 18, 26, 43, 46, 79, 103, 107, 109, 110, 118, 122, 126, 143, 150, 154–168, 175, 210, 213, 220, 265, 300, 305, 312, 345, 368, 371 Heidegger, Martin 31, 33, 85 Heilborn, Ernst 273 Heiler, Friedrich 21, 26, 114, 116, 118f., 182, 266f., 270f. Heimburger, Karl 197 Heinen, Anton 9 Heinrich II. (Ks.) 354 Heise, Wilhelm 273 Hellpach, Willy 94, 391 Herbermann, Nanda 334 Herbert, Henriette 33f., 387, 436 Herder, Johann Gottfried 331 Herkommer, Hans 392 Hermann von Lehnin 49 Herrmann-Neisse, Max 86 Hertzberg, Mikael 76 Herwegen, Ildefons 333 Herwig, Franz 97, 289 Herz, Henriette 248 Herzog, Albert 197 Hesse, Hermann 65, 92, 115, 123, 169, 170, 172, 181, 183f., 191f., 195, 199, 201, 204, 207, 239, 241, 250, 253, 352, 415 Hesse, Kurt 376 Heuerling, Christoph 203 Heuerling, Margaretha siehe Ehrler, Margaretha Heuschele, Otto 19, 45, 88, 169, 423 Heuss, Theodor 12, 23, 44, 46f., 58, 76, 81, 122, 144, 181, 197–212, 216, 218f., 220, 222, 231, 235, 244, 246–248, 253, 263, 267f., 276, 304, 318, 339, 342, 345, 375, 392, 397, 401, 408f., 419, 422, 423, 443–445 Heyer, Elisabeth 111, 313 Heyse, Paul 244 Hildenbrand, Adolf 90 Himmel, Viktor 394 Himmler, Heinrich 53, 299, 310
Hindenburg, Paul von 222, 224, 236f. Hirzel, Karl 72 Hitler, Adolf 10, 15f., 28, 34, 37, 40, 53, 54, 58, 80, 124, 126, 129, 150, 154, 161, 172, 195, 212, 224, 257, 259, 262f., 285, 287, 302, 305, 310, 319, 321–323, 325f., 332, 345, 349–354, 356–359, 361, 374, 389, 397, 402, 406, 410, 430, 438 Hoffmann, E. T. A. 211 Hofmannsthal, Hugo von 116 Hofmiller, Josef 245 Hölderlin, Friedrich 65, 80, 89, 133, 146, 160, 164, 172, 189, 195, 205, 224, 280, 308f., 324, 330f., 332, 336, 347, 363, 391, 396, 403, 444 Holm, Korfiz 74, 275 Hübscher, Arthur 275 Hummel, Hermann 197 Huysmans, Joris-Karl 16 Ibsen, Hendrik 204 Innitzer, Theodor 321 Jacques, Norbert 43, 60, 96f., 104, 191, 196, 197, 201, 231, 237, 407, 419 Jammes, Francis 116 Jansen, Werner 292, 346 Jaspers, Karl 33 Jenssen, Christian 376 Joachim von Fiore 128, 333 Johannes von Knittlingen siehe Faust, Johann Joho, Karl 232 Johst, Hanns 77, 185, 382, 397, 435 Joyce, James 99 Julius Caesar 345 Jünger, Ernst 68, 245 Jung, Johann Heinrich 271 Jutz, Maria siehe Andler-Jutz, Maria Kafka, Franz 204 Kahle, Maria 436, 438 Kalkschmidt, Eugen 376 Kaller, Maximilian 156, 160f., 162, 325f. Kamp, A. 289 Kant, Immanuel 13, 444f. Karl Eugen von Württemberg (Hz.) 164 Karsch, Walther 288
Personen | 537
Kasack, Hermann 63, 109, 148 Keck, Alois 39, 40, 73, 108, 424 Keller, Albrecht 180, 391 Keller, Gottfried 189 Kellermann, Hermann 227 Kepler, Johannes 89, 106, 391, 442 Kerr, Alfred 39 Kienzle, August 88 Kirschweng, Johannes 99, 290f. Klabund 151 Klaiber, Theodor 114 Klauß, Hermann 45, 234 Klee, Alfred 254 Klett, Arnulf 401 Klopstock, Friedrich Gottlieb 331 Klot, Marion von 375 Klotz, Leopold 76, 120, 268f., 279 Kluckhohn, Paul 29, 35f., 363 Knoch, Franz 178 Kocher-Klein, Hilda 439 Kolbenheyer, Erwin Guido 38, 64, 184, 275, 278–280, 391, 396, 424 Kolmar, Gertrud 192 Konfuzius 25 Kosch, Wilhelm 289f. Kosthorst, Erich 430 Köstlin, Nathanael 89, 208 Kralik, Richard von 50, 333 Krauß, Ernst 238 Krauss, Rudolf 29, 60, 90, 109, 170, 213, 214, 238, 270, 330 Krauss, Werner 330 Krießmann, Alfons 441 Krug, Konrad Maria 425, 426 Kühnemann, Eugen 211 Ku Hung-Ming siehe Gu Hongming Kutzbach, Karl August 281, 284, 424, 426f. Ladenburger, Josef (Pater Maurus) 72, 366 Langbehn, Julius 205 Langen, Albert 74, 120, 199 Langenbucher, Hellmuth 20, 43, 46, 63, 137–139, 141, 150, 172, 174f., 186, 282–287,
291, 295f., 300, 365, 382, 386, 390f., 394, 415f., 421f., 431 Langer, Norbert 103, 286f., 390, 397 Lang, Gottlob 419 Lang, Martin 59, 79 Lanig, Karl 354 Lautenschlager, Otto 432 Lavant, Christine 426 Lechner, Karl Maria 308 le Fort, Gertrud von 280, 293, 336, 425 Lehmann, Wilhelm 243 Leins, Hermann 423 Lemke, Victor Jacob 20f., 32f., 82, 311 Lennartz, Franz 274, 286, 424 Leo XIII. 214 Lersch, Heinrich 111, 341 Ley, Robert 405 Lienhard, Friedrich 49, 75, 77, 100, 133, 134, 139, 143, 145–147, 152, 187, 190, 207, 227, 249, 265, 274, 276, 309, 379, 395, 403 Liesching, Theodor 198 Lilienfein, Heinrich 76f., 279, 356, 366, 394f. Lindemann, Hugo 198 Linden, Walther 211, 382 Linke, Johannes 19, 286, 293, 299, 312, 386, 417 Lion, Ferdinand 191 Loerke, Oskar 63, 109, 120, 138f., 143, 148–150, 212, 347, 352, 374 Löffler, Otto 46, 440 Lohr, Otto 234 Löns, Hermann 151, 175, 286, 440 Lorenz, Albert 382 Lortz, Joseph 132, 160, 168, 323 Ludendorff, Erich 15, 53, 154, 236 Ludwig XIV. 310 Luther, Martin 112, 177, 242, 249, 265, 267, 270f., 286, 292, 310 Lützeler, Heinrich 289, 290f., 304, 314, 321 Lutz, Joachim 61 Maaß, Joachim 288 Machiavelli, Niccolo 155, 164f., 167f.
538 | Register Mallinckrodt, Hans Georg von 302, 316, 317 Mamroth, Fedor 74 Mann, Heinrich 204, 209 Mann, Thomas 21, 209, 269, 288, 354 Manser, Gallus Maria 159 Marchtaler, Otto von 178, 226f. Marcuse, Herbert 110 Maritain, Jacques 371 Martin, Alfred von 18, 114, 249, 266, 270, 272 Martini, Fritz 35, 63, 176, 355, 424 Maschke, Erich 67f. Matthies, Kurt 346 Mauer, Adolf 393 Mauritius (Pater) siehe Schurr, Eugen Bernhard Maurras, Charles 18 Maurus (Pater) siehe Ladenburger, Josef Maximilian (II.) Franz von Österreich (Erzhz.) 66f., 69f., 378 Mechow, Karl Benno von 134, 245 Meiser, Hans 359 Meißinger, Karl August 151 Meister Eckhart 127, 149, 365 Menzel, Herybert 351 Menzel, Joachim 384 Mergenthaler, Christian 78, 80, 315, 327, 431 Metzner, Kurt 356, 366 Meyer, Alfred Richard 278f. Meyer, Conrad Ferdinand 242, 295 Meyer, Richard M. 206 Michelangelo Buonarroti 16, 18, 216 Michel, Ernst 159 Michels, Josef 78 Middelhauve, Friedrich 206, 445 Miegel, Agnes 212, 293, 295, 358, 417 Miller, Arthur Maximilian 392 Miller, Otto 161 Minster, Friedrich Wilhelm 353 Missenharter, Hermann 59, 60, 90, 93, 170, 180–185, 205, 379, 393, 397, 408 Moeller van den Bruck, Arthur 88, 154, 406 Moenius, Georg 50 Mohler, Armin 14, 136, 151, 152, 154, 300
Molo, Walter von 355 Molt, Emil 92 Mörike, Eduard 65, 133, 140, 157, 164, 172, 199, 205, 230, 270, 280, 290 Moser, Otto von 178 Mozart, Wolfgang Amadeus 75, 378 Muckermann, Friedrich 50, 130f., 237, 307, 308, 333–338, 345, 349 Müller, Alwin 269 Müller, Ernst 420 Müller, Karl 97, 400 Münchhausen, Börries von 19, 143, 292, 395 Münz, Erwin Karl 108, 412–414, 429f. Murr, Wilhelm 78, 342, 392, 422 Muschler, Reinhold Conrad 336 Muser, Oskar 197 Mussolini, Benito 127, 166f. Muth, Carl (Karl) 97, 101, 117f., 120, 164, 289, 316, 338, 418 Nadler, Josef 63f., 183, 278, 282, 317, 392, 424 Napoleon Bonaparte 66, 157, 163, 165, 220f., 310, 345 Naumann, Friedrich 202, 206, 231, 318 Neipperg, Adalbert von 302, 304, 306, 317f., 375, 412 Nellius, Georg 46, 436–438, 442 Novalis (d. i. Friedrich von Hardenberg) 133 Oehlke, Waldemar 296 Oncken, Hermann 235 Opitz, Martin 106 Orff, Carl 443 Pacelli, Eugenio 324 Papini, Giovanni 426 Paracelsus (d. i. Theophrast von Hohenheim) 391 Patroclus von Troyes 304 Paulsen, Rudolf 62, 100 Paulus, Helmut 29, 43, 370, 393 Péguy, Charles 413, 426 Petersen, Julius 128 Petrarca, Francesco 84 Petry, Karl 425 Pezold, Gustav 122, 279, 361
Personen | 539
Picard, Jacob 20, 44, 46f., 81, 131, 143, 185–196, 201, 242–256, 370, 405 Pieper, August 304, 340 Pieper, Lorenz 130, 436 Pius X. 155, 289 Pius XI. 55, 120, 195, 264, 266, 322, 324f., 364, 367, 376 Pius XII. 159 Platon 25, 84, 86, 134, 207, 216, 438, 442 Platz, Hermann 9f., 18, 47, 129, 156, 265, 272, 300–303, 309, 310, 312, 313f., 321, 406, 421 Pohl, Elisabeth 119 Pongs, Hermann 17, 23, 29–33, 42, 44, 50, 138, 139, 141, 150, 296, 330f., 342, 355, 370, 374, 377, 379, 382, 392, 412, 414, 419, 424, 427 Ponten, Josef 313 Pustet, Gertrud 317 Raabe, Wilhelm 144, 190, 292, 405 Rademacher, Arnold 267 Rade, Martin 268f. Ratsch, Georg R. 420 Rauscher, Ulrich 73f. Reitz, Hellmuth 400, 428 Rembrandt van Rijn 205 Reutter, Hermann 216, 442–444 Riemenschneider, Tilman 271 Ries, Johannes 71, 112 Rietschel, Ernst 444 Rilke, Rainer Maria 114, 128, 290, 294, 336, 356 Rimmele, Fridolin 91 Rische, Quirin 438 Ritter, Alfred 400 Rockenbach, Martin 78 Röger, Hermann 88 Röhm, Ernst 315, 332, 375 Rolland, Romain 127 Romberg, Walter 175 Röntgen, Wilhelm Conrad 73 Rosenberg, Alfred 53, 54, 57, 127f., 195, 292, 299, 310, 320, 326, 357, 388 Roser, Max 345, 445
Rössner, Hans 138 Rousseau, Jean Jacques 170 Rückert, Friedrich 432 Runge, Philipp Otto 365 Sabatier, Paul 114, 266 Saile, Olaf 393 Salzer, Anselm 63, 64f., 95, 107f., 119 Schäfer, Wilhelm 188, 211, 278f., 424 Scharnowski, August 161 Scheffler, Johannes siehe Angelus Silesius Schelling, Caroline 89 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 89, 208, 378 Schickele, René 288, 362 Schieber, Anna 221, 393 Schier, Norbert 419 Schiller, Friedrich 29, 37, 57, 80, 132f., 164, 172, 205, 216, 224, 234, 239, 242, 258, 308, 315, 328, 331, 391, 403f., 444f. Schlegel, Dorothea 248 Schlegel, Friedrich 133 Schmid, Christoph von 101 Schmidtbonn, Wilhelm 336 Schmidt, Karl Otto 433 Schmitt, Carl 18, 21, 55, 156, 159–161, 257, 301 Schmitz, Richard 100 Schmückle, Georg 77, 80, 143, 169, 176–185, 205, 227, 328, 376, 382, 387, 388, 393f., 396, 404, 424, 435 Schnabel, Johann Gottfried 258, 329, 342 Schneider, Fritz 213, 345 Schneider, Gustav 46, 440 Schneider, Reinhold 23, 52, 85, 88, 311, 373, 418 Scholl, Hans 367 Scholz, Wilhelm von 432 Schomerus-Wagner, Johanna 425, 428 Schröder, Rudolf Alexander 11, 14, 101, 245, 355, 374, 443f. Schrödter, Willy 433 Schubart, Christian Friedrich Daniel 224 Schüler, Eugen 363, 365
540 | Register Schüler, Gustav 294 Schulte, Karl Joseph 321, 358 Schulz, Wilhelm 216f. Schumann, Gerhard 19, 34, 35, 46, 50, 77, 80, 133, 139f., 143, 177, 280, 284, 296, 297f., 332, 347, 348, 351, 356, 363, 382f., 389, 392–397, 404, 408, 411, 414, 419, 424 Schurr, Eugen Bernhard (Pater Mauritius) 366f., 380, 400 Schussen, Wilhelm 206 Schuster, Felix 420, 422 Schwarz, Albert 70 Schwarz, Georg 92, 428 Schweikert, Margarete 439 Schwind, Moritz von 19, 227f. Schwinger, Reinhold 382 Seidel, Ina 36, 341 Sieck, Rudolf 216 Sigrist, Karl 176 Silbereisen, Robert 178 Sonnemann-Simon, Heinrich 74 Speeth, Margarethe von 270 Spengler, Oswald 21f., 306 Spitteler, Carl 229, 249 Sproll, Joannes Baptista 126, 327 Stadler, Ernst 116 Stang, Walter 293 Stapel, Wilhelm 50, 154, 199, 261, 272, 275–279, 291, 325, 408 Steding, Christoph 23, 26, 88, 138, 140, 141, 392 Stehr, Hermann 36, 336 Steiger, Edgar 288 Stein, Edith 367 Stockhammern, Franz von 71 Stolz, Alban 101 Storm, Theodor 230, 295 Straub, Karl Willy 196 Strauß, Emil 122, 278f. Strauß-König, Richard 46 Strauß und Torney, Lulu von 204, 208 Strecker, Karl 60, 62, 103
Strölin, Karl 78 Struve, Carl 29 Stumpp, Emil 95, 354 Sturm, Hans 43, 46, 83 Sturzo, Luigi 166f. Stützle, Karl 72 Styra, Ambros (Pater Ambros[ius]) 119, 126 Südekum, Albert 248 Supper, Auguste 393 Süskind, Wilhelm Emanuel 273 Sutter, Otto Ernst 40, 73f., 94, 97, 197f. Taube, Otto von 115 Ter-Nedden, Eberhard 385 Theophrast von Hohenheim siehe Paracelsus Thienemann, Herbert 46, 435f., 439 Thoma, Hans 195 Thoma, Ludwig 71, 201, 244, 362 Thrasolt, Ernst 51, 130, 425 Tolstoi, Lew Nikolajewitsch 127 Troeltsch, Ernst 155f., 158f. Tucholsky, Kurt 39 Tügel, Ludwig 77, 385 Ude, Karl 119, 427 Uhland, Ludwig 113, 138, 159, 171, 180, 198, 205, 213, 215–220, 223–225, 234, 258, 330f., 391, 444f. Umgelter, Hermann 392 Unruh, Friedrich Franz von 139f. Unruh, Fritz von 140 Varnhagen, Rahel 248 Velden, Johannes Joseph van der 410 Venedey, Martin 197 Venzmer, Gerhard 94f. Verhaeren, Emil 16, 147f., 208, 237 Vesper, Will 80, 280, 284, 291, 346, 349, 385, 387, 412, 417, 427, 435, 440 Voegelin, Eric 14, 50, 54, 55, 128, 257, 335, 349 Volkelt, Johannes 73, 101f., 213 Vollmer, Walter 385 Vring, Georg von der 380, 442 Wagner, Christian 144f., 229, 249, 407
Orte | 541
Walden, Herwarth 225 Walzer, Raphael 367 Wedekind, Frank 204 Wehner, Josef Magnus 79, 111, 132, 135–138, 140, 150, 168, 237, 245, 259, 288, 361, 378, 382, 403, 424, 440 Weinheber, Josef 312, 315, 317, 396 Weinreich, Otto 29 Weismantel, Leo 16, 111 Wenger, Paul Wilhelm 119, 416f. Wenger, Ruth 92 Werner, Ferdinand 243 Wewel, Erich 34, 93, 302, 328, 371 Wezel, Emil 82, 83, 384f., 393, 397 Wiechert, Ernst 13, 36, 134, 245, 313, 355, 373, 405 Wiegler, Paul 20 Wieland, Christoph Martin 205
Wilhelm II. (Ks.) 214 Wilhelm II. von Württemberg (Kg.) 178, 222 Wilsmann, Aloys Christof 313 Windthorst, Ludwig 252 Winkler, Eugen Gottlob 370 Witkop, Philipp 76 Wittmer, Eberhard Ludwig 46, 440f., 443 Wolff, Theodor 274 Wolfskehl, Karl 232 Wolzogen, Ernst von 73 Wurster, Gotthold 171, 172 Würz, Anton 439 Zillich, Heinrich 417 Zuckermann, Hugo 251 Zuckmayer, Carl 31 Zweig, Stefan 127, 148
Orte Aachen 410 Aalen 72 Ammersee 151 Augsburg 203 Bad Mergentheim 65–67, 69–71, 73, 78, 140, 145, 182, 203, 264, 270, 299, 308, 344, 356, 418, 419, 434 Bad Wiessee 274 Berlin 29, 35, 38, 63, 71, 83, 146, 148, 160, 162, 169, 179, 187, 194, 195, 199, 201, 205, 210, 243, 259, 273, 274, 276–280, 296, 302, 314, 315, 323, 348, 350, 368, 382, 384, 394, 437, 444 Beuron (Kloster) 72, 366f., 369 Böblingen 366, 399, 400 Bonn 9, 212, 291, 301, 426 Botnang 392 Braniewo siehe Braunsberg Braunsberg 156, 160–162, 168, 323, 326 Cannstatt 73
Davos 151 Degerloch 369, 400 Dortmund 315 Duisburg 438 Ellwangen 72, 145, 174 Erisried 208 Essen 438 Esslingen 396 Frankfurt am Main 73, 223, 231, 410, 442, 444 Freiburg 46, 73, 76, 139, 155, 169, 226, 392, 440 Friedrichshafen 73, 170, 219 Gaienhofen 170, 191 Geislingen 46, 440 Göttingen 370, 412 Gurs 195 Heidelberg 74, 150, 176, 186, 283, 302, 392 Heilbronn 73, 91, 244 Herne 436 Hofen (Aalen) 72
542 | Register Hohenheim 73, 391 Husum 277 Ingolstadt 71, 145 Karlsruhe 39, 73, 96, 170, 197, 232, 439 Kassel 148 Knittlingen 89 Kobe 195 Köln 73, 78, 126, 186, 300, 310, 315, 321f., 358 Königsberg 280, 325, 444 Konstanz 73, 96, 169f., 186, 191, 193, 197, 199, 277 Landshut 19, 71 Leipzig 57, 220 Liebenau siehe Waldenbuch Mannheim 425 Marbach 29, 146, 239, 330, 343, 404, 444 Maria Laach (Kloster) 303, 333, 367 Maulbronn (Kloster) 37, 38, 88–92, 94, 96, 146, 267, 307f., 311 Mergentheim siehe Bad Mergentheim Moskau 334 München 20, 34, 46, 72, 74, 79, 130, 135, 150, 155, 157, 174, 231, 253, 292, 294, 344, 368, 396, 427, 429, 435 Münster 313, 333, 430 Neheim 46, 425, 436, 438 Neuburg (Kloster) 302, 304 New York 186, 196, 234 Paderborn 76, 299, 363, 430 Paris 310 Pasing 150 Périgueux 290 Planegg 435 Plauen 46, 438 Plochingen 46, 440 Potsdam 389, 444 Rom 176, 302, 323 Rothenfels (Burg) 125 Rottenburg 40, 267, 327f., 369, 419 Sankt Petersburg 441 San Remo 176 Schöntal (Kloster) 298
Schwäbisch Gmünd 392 Schwäbisch Hall 46, 441 Silvaplana 176 Speyer 46 Starnberg 33, 34 Stockholm 268 Straßburg 290, 362 Stuttgart 29f., 40, 46, 59, 69, 70, 73, 75, 78f., 81, 83, 92, 93, 109, 126, 137, 152, 155, 157, 171, 172, 177–180, 184, 185, 194, 198, 200, 213, 219, 221–223, 226, 238, 241, 256, 258, 260, 265, 269, 273, 278, 279, 283, 330, 339, 341f., 350f., 355, 366, 368f., 370, 380, 387, 388, 392, 394, 401, 404, 408, 410, 417, 419, 434, 439–442 Torre d’Astura 311 Tübingen 18, 29, 35, 59, 76, 93, 118, 146, 154, 167, 180, 216, 279, 297, 323, 325, 343, 362, 363, 368, 370, 391, 392, 416, 423, 431 Urach (Stift) 298 Waldenbuch 59, 61, 97, 140, 210, 212, 366, 368, 370, 400, 434, 443 Wartburg 146 Weimar 21, 57, 75, 76, 146, 331, 355f., 366, 376, 444 Werl 155, 157, 300, 302, 304, 313, 317, 371, 401, 410 Wien 299, 317, 321f., 362 Wimpfen 65, 203 Witten 425 Wittenberg 146 Worms 336 Würzburg 20, 65, 72, 101, 344
Werke | 543
Werke 1813 163, 220, 221 Abend 396 Abschied siehe In der Fremde Abschied vom Tod jenseits 98, 293, 295 Abschied von Herman Hefele [Gedicht] 110, 126, 157, 312 Abschied von Herman Hefele [Offener Brief] 157, 168 Aeternum 291, 312 Als des toten Grafen Luftschiff um die Erde fuhr 381 An den toten Vater 344 An die deutschen Feldherren 236f., 251 An die Deutschen in den Vereinigten Staaten 123, 230, 234 An die Heimat 207 An einen deutschen Freund in Rom 122f. An einen Juden 131, 242, 244, 246–252, 255f. An eine Witwe 229 An Flämisch-Belgien 229, 237 An Spezel, den Hund 432 An Spitteler 229, 249 Antwort 207 Atmet vielleicht die Schrift 312 „Auch das Große muß sterben“ 134, 136 Aus der Residenz 73, 204 Autobiographische Skizze 73, 386 Bauerngebet 438 Berliner Tagebuch siehe Meine Fahrt nach Berlin Besitz 202 Beter am Meer 106, 288, 442 Bilderbuch 396 Blut und Ewigkeit 442 Briefe aus meinem Kloster 11, 12, 19, 34, 44, 65, 85, 86, 89–92, 96, 97, 99, 104, 106, 120, 128, 132, 145–147, 153, 183, 206, 208, 214, 242, 251, 270, 277, 280, 285, 289, 290, 300, 307, 309, 311, 368, 375, 405, 425 Briefe eines Sterbenden siehe Die Frist
Briefe vom Land 11, 32, 35, 39, 45, 60, 64, 66, 71, 75, 109, 113, 170, 172, 175, 204, 208f., 227, 280, 313 Bruder Hermans Klause 157, 405 Buch Besinnung siehe Das Buch der Verantwortung Canon 85 Cantate im Lenz 269 Charisma 291 Charlotte 13, 98, 138, 362f., 383, 406, 409f., 428f. Christmorgen 295f. Communio 207 Dämmerung 19 Das Band des Geistes 258 Das Buch der Verantwortung 28, 256, 410f. Das Buch Platon 86 Das einige Reich der Deutschen 40, 79, 195, 216, 307, 317–330, 403, 406 Das „Eiserne“. An die Ungeschmückten 229, 246 Das Erlebnis mit Eduard Mörike 158 Das Fest der Deutschen 221 Das Gesetz der Liebe 13, 16, 18, 20, 24, 25, 43, 55, 62, 73, 76, 90, 96, 100, 106, 107, 117, 120, 123, 131, 134, 135, 149, 159, 190f., 195, 259, 267, 268–270, 289, 307, 320, 406 Das goldene Haus 216, 230 Das große Rasenstück 343 Das Jahr eines Jünglings siehe Wolfgang. Das Jahr eines Jünglings Das Kreuz. Geschrieben am Karfreitag 1915 202, 231 Das neue schwäbische Liederbuch [als Hg.] 181 Das Reich siehe Gebet des Deutschen Das romantische Fräulein 75, 203 Das schwäbische Liederbuch [als Hg.] 181, 224f. Das Unsägliche 111
544 | Register Das Unvergängliche 108, 414, 429 Das Vaterland 438 Das Vaterunser siehe Societas Dem alten Mörike 157 Den deutschen Tauchboten 237 Den Eichendorff unterm Kopfkissen 83 Den heimkehrenden Schwaben 179, 198 Der Atem von dem Blütenbaum 293, 294f. Der Blume Schutzgeist 63 Der Brunnen der Nacht 134 Der Bund 51, 91, 238f., 277, 437 Der Einsiedler 19, 88, 228, 405 Der Elfinger 90, 96 Der Engel 312 Der Erde 105, 385, 441 Der Frauen Wesen 83 Der Geist und unsre Not 123, 172 Der heilige Franziskus 23, 86, 120, 365 Der heilige Sebastian 75, 203f. Der Herbst und die Gärtnerin 312 Der Herr Kollaborator 71 Der Hof des Patrizierhauses 60, 75, 103, 244, 288 Der Künder 87, 98 Der Kuß 84, 438 Der Lebensbaum 346, 385, 433 Der Morgen 365 Der Paradiesvogel 230 Der Schwäbische Bund [als Hg.] 48, 166, 173, 180–185, 205, 276, 388, 389 Der Sender 29 Der Spiegel des Hoch- und Deutschmeisters Maximilian Franz 66–70, 109, 182, 378, 390 Der Trauermarsch 219 Der Vierröhrenbrunnen 76, 110, 383–385 Der Wachszieher 66 Der Wanderer 29, 121 Der Zugvogel 63 Des Mönches Abschied 442 Deutsches Geld 123, 233 Deutsche Wallfahrt 233f. Deutschland 292, 348
Die Birke 421 Die deutsche Ernte. Eine poetische Epistel an die Fronten 229 Die Dohle 312, 384 Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm 10, 13, 18, 42, 76, 78, 96, 99f., 117, 123, 125f., 141, 269, 273, 284, 289, 290f., 296, 313, 336, 361, 362, 377, 381, 383, 430 Die Engertsmühle 175 Die „Entmilitarisierung“ 185, 227 Die Fis-Dur-Sonate op. 78 75 Die Frist 11, 60, 76, 78, 96, 107, 109, 116, 160, 211, 279f., 291, 381, 425 Die Geburt 229 Die Genesung 312, 424 Die geschwundene Heimat 229 Die grauen Wolken fiedern sich schon leise 432 Die Handwerker der Heimatstadt siehe Die Reise in die Heimat Die Heimkehr 229 Die Heimkehr des Blinden 240, 365, 377 Die italienische Reise 311, 365 Die Kneipe 75, 83 Die Lichter schwinden im Licht 44, 76, 87, 96, 98, 99, 107, 111, 121, 124, 130, 134, 150, 256f., 271, 291, 294, 296, 346, 348, 375, 426 Die Liebe des Dr. phil. Berthold Horn 78, 312, 384, 393 Die Liebe leidet keinen Tod 18, 98, 103, 237, 429 Die Losgelassenen 123 Die Muttergottes von Stuppach 16, 182 Die Reise in die Heimat 16, 18, 24, 42, 45, 60, 66–69, 70, 76, 82, 99, 189, 212, 213, 271, 279, 296, 299, 311, 314, 368, 390, 415, 425, 434 Die Reise ins Pfarrhaus 10, 18, 20, 42, 60, 65, 71, 75, 101, 103, 104, 112–114, 119, 121, 131, 153, 189f., 200, 204, 209, 210, 227, 267, 297, 313, 368, 425 Die Stimme [Erzählung] 312, 313
Werke | 545
Die Stimme [Essay] 34, 79, 138, 287, 325, 344, 345–355, 359, 403 Die ungetreuen Haushalter. An die deutschen Professoren der deutschen Sprache in England 143, 227, 229 Die Wanderung durch Oberschwaben 384 Die Wolke 63 Die Zelle des Denkers 258, 395 Die Zuflucht 84, 88, 90 Die zum Tod verurteilte Poesie siehe Meine Fahrt nach Berlin Doch dich zu rühmen 312 Doch hinter dir und mir 336 Du hast mir deine Hand gegeben 336 Durch das Jahr hin 296 Eduard Mörike in Mergentheim. Zu seinem 50. Todestag 158 Ein Brief aus dem Graben 138 Eine kleine Weihnachtsrede 20, 296, 341f. Eine Maiepistel für den „März“ 202, 207 Einem alten Dichter 145, 249, 407 Einem Flieger 270 Eine Rede zum Boschtag 1936 341 Einer Getreuen. Das Leben eines alten Paares 312, 386 Ein Märzbrief an den „März“ 202, 227 Ein Mensch war da 20 Ein Pfingstbrief an den „März“ 98, 149, 202 Ein Traum, den ich im Wachen trage 336 Ein Wunder 233, 319 Elisabeths Opferung 13, 31, 62, 69, 240, 280, 297, 311, 339, 379, 416 Emil Gött der Dichter und Bauer 122, 145 Emil Verhaeren 16, 147f., 208 Emmaus 108 Epilog zum Epilog zu Schillers Glocke siehe Schiller. Weihespruch zum 10. November 1934 Eremit und Ritter. Zu Schwinds Bild 19, 227f., 406 Erinnerung 312 Es wächst ein Baum 83, 441 Faust bei den Mönchen 90
Feldgang 19 Flectamus genua! 288 Franziskus 216, 442 Frauen und Mädchen 400, 424, 428 Freunde, toten Jahres End 407 Frühlingslieder 36, 75, 83, 98, 105, 106, 149, 189 Gebet 88 Gebet des Deutschen 34, 294, 396 Gebet in der Silvesternacht 1919 251, 309 Gedanken im Mai 347 Gedichte [1919] 45, 60, 100, 105, 335, 337 Gedichte [1951] 420 Gesang des Deutschen 444 Gesicht 19 Gesicht im Herbst 343 Gesicht und Antlitz 19, 36, 62f., 76, 79, 85, 86, 87, 88, 90, 106, 107, 111, 114, 116, 117, 121, 122, 123, 134, 150, 206, 207, 214, 258, 270, 288f., 311, 316, 345, 354, 375, 434, 442 Goethes Heimkehr 410 Gottes echte Kinder 336 Hagestolz 83 Heilige Heimat siehe Die Reise in die Heimat Heimat siehe O Heimat, wir sind alle dein Heimat, Schoß der Heimatlosen 432 Heimliches 62 Heimsuchung und Schicksal schaut uns an 381 Herbst. Letzte Aufzeichnungen eines tot gefundenen Mannes 110, 202 Herman Hefele zum 50. Geburtstag 157 Hieronymus im Gehäuse 211, 405 Hölderlin und das Kruzifix zu Maulbronn 90 Ich riech wie Wald und Farn und Moos 293, 295, 346, 425f. Ich wandle aus den Dingen 312 Im Angesicht der großen Dinge 343 Im Erwachen 88 In der Apsis 291, 312 In der Fremde 395, 436, 440 In der Stadt 124 In einen Kalender 85
546 | Register In früher Stunde 85 In meiner Stube 313 In unserem Dorf 233, 234 In unserm Garten geht ein Quell 438 Italien 229 IΧΘΥΣ/Der Fisch 291 Johann Kepler. Harmonia mundi 90, 106, 442 Josef Zembrods Töchter 75, 203, 220 Käthchen 348 Klage der Braut 416 Kleine Offenbarung 312, 313 Kloster Maulbronn 90 K. Z. 375 Lavabo 85, 404 Liebe 233, 309 Lieder an ein Mädchen 73, 75, 157, 386, 439 Lotte 83 Ludwig Uhland 138, 219, 225 Luthers Werk und das Schicksal der Christenheit 249, 270f. Mädchenmutter 83 Mahnung 421 Maulbronn 90 Media Vita… 203 Meine Fahrt nach Berlin 30, 31, 38, 78, 96, 148, 149, 191, 211f., 257, 262, 276f., 280, 314, 348, 368 Mein Vater 66, 175 Melencolia 211, 405 Michelangelo 216 Mit dem Herzen gedacht 18, 43, 57, 76, 80, 106, 132f., 158, 192, 214, 282, 349, 355, 393, 394, 415 Moos 149 Mozart 75 Mutter 395 Nachtlied 442 Nachts mit Schiller 132 Neuer cherubinischer Wandersmann 36, 106, 365, 372–374, 380, 395, 422, 439 Nullu homo ene dignu te mentovare 121, 291 Nur fünfzig Jahre zurückgedacht 434
Ob wohl die armen Frauen in den Städten 293, 295 O Glaube 312 O Heimat, wir sind alle dein 44f., 72, 107, 234, 236, 335, 337, 395, 421, 426, 432, 435f., 438f., 400, 442 [ohne Titel, Dichterglaube] 132, 269, 272 [ohne Titel, Unser Bekenntnis zur neuen Zeit] 221, 223 Orpheus und Eurydike 29 Petrarka 442 Platon 216, 442 Poverello siehe Der heilige Franziskus Rede bei der Verfassungsfeier 175, 222, 235, 256–264, 265, 271, 290, 319, 352, 359, 370, 373 Reden an das schwäbische Volk 171, 198, 222, 251, 343 Reise nach Berlin siehe Meine Fahrt nach Berlin Rosemarie 269 Ruhig steht das Firmament 293, 295 Sacerdos 291 Sauerteig der Einigung 103, 377 Schiller. Weihespruch zum 10. November 1934 216, 404 Scholle 438, 442 Schwäbische Kunde aus dem großen Krieg 177f., 232, 388 Sebastian Bach 19 Sein Besuch 84 Sei still, mein Kind 293, 295 Simplicissimus-Kalender für 1911 100 Societas 130, 426 Sommerabend 421 Sonne 421 Stadt der Agape 312 St. Franziskus 120, 417 Stimmen, als der Heilige kam 312 Stuttgart 341 Susanne und Irene 338f. Tagesanbruch 85, 86, 338 Tat twam asi (Dies bist Du) 117
Werke | 547
Theodor! 210, 212 Titanic 201 Torre d’Astura 206, 311 Tote Mutter 36, 434 Uhland 215–220 Una Sancta 271, 291 Und warum ist die Blume schön? 295 Und wenn du in die Fremde gehst siehe In der Fremde Unsere Frau Muttersprache 30, 216, 317, 329–332 Unser Württemberger Land 388–390 Unsre Uhr hat einen Zauberschlag 36, 92, 99, 105, 422, 423, 427f. Unter dem Abendstern 32, 35, 76, 88, 99, 105, 107, 258, 281, 284, 296, 372, 373, 374f., 382, 404, 427 Vom Geist und von der Wirklichkeit 340 Von der Berufung des Dichters 300, 396 Von mir und meinen Ahnen 104, 385f. Von unseren Augen 175, 390 Vor dem Münster 291 Vor den Entscheidungen. Ein Wort an unser Heer 207, 234 Vorwort der Dichter, die vom Krieg erzählen 240 Vorwort [zu Mörike: Gedichte] 158 Wanderer und Pilger 37, 365 War den Vätern gutes Geld 199 Warte nur 83, 216 Wein [1915] 191 Wein [1932] 96 Wenn alle Brünnlein fließen... [als Hg.] 134 Werk der Hand 343, 344, 349, 387 Wiederbegegnung 312 Wilhelm Raabe 144, 190 Wintersonnwend 122, 442 Winter-Sonnwend 122 Wirkung 88 Wispel 60 Wolfgang. Das Jahr eines Jünglings 30, 35, 137, 146, 190, 378–382
Wonnen 121, 426 Zeichnet die dritte Kriegsanleihe 229, 348 „Zeichnet die Kriegsanleihe!“ Eine Betrachtung 229, 348 Zeugen 235 Zum 20. April 1939 345, 357–359, 417 Zum Geleit [Schwäbisches Heimatbuch] 91, 92, 223, 257, 432 Zu zweien darf ich sagen: Du! siehe Gebet des Deutschen Zwei 83 Zwischen Himmel und Erde 396