Die Entfaltung des Menschen: Arbeit und Bestreben Heinrich Jacobys vor dem Hintergrund seiner Biografie 3000300147, 9783000300141


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Die Entfaltung des Menschen: Arbeit und Bestreben Heinrich Jacobys vor dem Hintergrund seiner Biografie
 3000300147, 9783000300141

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RUDOLF WEBER

DIE ENTFALTUNG DES MENSCHEN ARBEIT UND BESTREBEN HEINRICH JACOBYS VOR DEM HINTERGRUND

SCHRIFTENREIHE

SEINER BIOGRAFIE

DER

HEINRICH JACOBY

ELSA GINDLER

Hfiii'iiii BAND

4

DIE ENTFALTUNG DES MENSCHEN ÄRBEIT UND BESTREBEN HEINRICH JACOBYS VOR DEM HINTERGRUND SEINER BIOGRAFIE

RUDOLF WEBER

DIE ENTFALTUNG DES MENSCHEN ÄRBEIT UND BESTREBEN HEINRICH JACOBYS VOR DEM HINTERGRUND SEINER BIOGRAFIE

SCHRIFTENREIHE DER HEINRICH-JACOBY /ELSA-GINDLER-STIFTUNG BAND

4

1

HEINRICH JACOBY

ELSA GINDLER

BERLIN 2010

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de

abrufbar.

ISBN 978-3-00-030014-1

© Heinrich-Jacoby/Elsa-Gindler-Stiftung, Berlin 2010 Heinrich-Jacoby/Elsa-Gindler-Stiftung Teplitzer Straße 9 14193 Berlin Telefon: (030) 89 72 96 05 Fax: (030) 89 72 96 04 E-Mail: [email protected] www.jgstiftung.de

Alle Rechte vorbehalten.

Alle Abbildungen entstammen dem Archiv der Stiftung. Die Bildrechte wurden unbeschadet der Rechte Dritter genutzt. Trotz größter Sorgfalt konnten die Urheber nicht in allen Fällen ermittelt werden. Es wird gegebenenfalls um Mitteilung gebeten.

Redaktion und Produktion: Katrin Oberländer, Köln Gestaltung, Satz: Silvia Langhaff, Köln Druck: DFS Druck Brecher GmbH, Köln

INHALT

VORWORT

_____________________

7

AUSBILDUNG ZUM KAPELLMEISTER - 1908 BIS 1913

_______

9

LEHRERBILDUNGSANSTALT JAQUES-DALCROZE IN HELLERAU 1913 BIS 1919 ____________________

15

MUSIKLEHRER AN DER ÜDENWALDSCHULE

- 1919 BIS 1922 ____

„NEUE SCHULE HELLERAU" - 1922 BIS 1925 JAHRE IN BERLIN - 1926 BIS 1933

_________

_____________

EXKURS: MUSIK UND VOLKSBILDUNG

STAATENLOS - 1933 BIS 1945

___________

NACHWORT

69

75 81

--------------

PRIVATGELEHRTER IN DER SCHWEIZ - 1945 BIS 1964

--------------------

47 59

______________

EINE UNBEQUEME POSITION

29

______

93 III

QUELLEN UND LITERATUR

---------------

113

ÜBER DEN AUTOR

---------------

119

HEINRICH JACOBY - SYSTEMATISCHE GRUNDLEGUNG SEINER FORSCHUNG ABBILDUNGEN

-----------------

-------------------

121

129

VORWORT

„Zeichnen heißt weglassen!" So zitiert Heinrich Jacoby Max Lieberman in dem Musikkurs 1953/54.

1

Heinrich Jacoby lässt die Mitarbeitenden der

Arbeitsgemeinschaft wiederholt die Erfahrung machen, dass Gehalt und damit auch Sinn einer musikalischen, sprachlichen, bildnerischen oder Bewegungsäußerung nicht in der exakten Wiedergabe aller möglichen Einzelheiten zum Ausdruck komme. In einer „Skizze", in einer Andeutung könne das „Gemeinte" oft deutlicher erlebt werden, das Wesentliche eher zum Tragen kommen. Die folgenden „Skizzen" zum beruflichen Werdegang Heinrich Jacobys2 orientieren sich in chronologischer Folge an markanten Punkten seines Lebenslaufes. Vertiefende Ausführungen und Einzelheiten zu seiner Biografie sind weggelassen, um das Wesentliche im Lebenswerk des Privatgelehrten und Forschers hervortreten zu lassen. Der Akzent liegt auf Heinrich Jacobys wissenschaftsorientierter

Forschung, wie er auch in

seinen autobiografischen Texten, in seinen Veröffentlichungen und in den Dokumenten seiner Kurse latent enthalten ist. Dieser Aspekt wird jedoch in nachfolgenden Publikationen durch die Neigung, Heinrich Jacoby lediglich als Pädagogen zu verstehen, vielfach vernachlässigt und verkannt. Eine Lebensgeschichte Heinrich Jacobys zu schreiben, ist also nicht beabsichtigt. Biografische Daten sollen vielmehr Entstehungsprozesse herausheben und helfen, den Intentionen des Forschers Heinrich Jacoby nachzuspüren. Eine systematische Zusammenfassung seiner Forschungsidee hat er selbst in einer „Skizze" mit dem Titel „Einige Notizen über grundlegende Tatsachen, die wir uns ständig gegenwärtig halten sollten" gegeben, die ab Seite 121 wiedergegeben wird. Seine Forschungsergebnisse lassen sich

Heinrich Jacoby 1954/ 2 2003, 217. 2

Dieser Darstellung sind zwei Studien vorausgegangen: Rudolf Weber 2003; 2007.

zwar sprachlich fassen, doch gibt der „Erfahrungswissenschaftler"

Hein-

rich Jacoby zu Recht zu bedenken, dass letztlich nur die eigene Erfahrung, die von allen zu fordern sei, es ermögliche, sich den Gehalt seiner Einsichten und Erkenntnisse in ihrer Wirksamkeit und Bedeutung zu eröffnen und anzueignen.

-

In diesem Sinne sollen die Abbildungen im Anhang Gelegenheit geben, an Dokumenten und Fotografien eigene Erfahrungen beim Lesen und Interpretieren zu machen. Dokumente und Fotografien können mehr „aussagen", als im geschriebenen Wort zum Ausdruck kommt. Sie bereichern die Wahrnehmung und gehen so über die entsprechenden Textpassagen hinaus.

AUSBILDUNG ZUM KAPELLMEISTER - 1908 BIS 1913 1

Heinrich Jacoby3 setzte bei seinen Eltern durch, dass er nach einer dreijährigen Lehre und Tätigkeit als Commis der Firma „Metallnetter" in Straßburg4 Musik studieren durfte. Schon vor Beginn seines Musikstudiums am „Städtischen Conservatorium für Musik in Strassburg" hatte er dort ab 1907 oder 1908 eine musiktheoretische Klasse besucht 5 , um sich in Harmonielehre ausbilden zu lassen. Sein anschließendes Studium beinhaltete Komposition und Orchesterdirektion bei Hans Pfitzner 6 sowie Klavierunterricht bei Hans von Besele7. Außerdem hörte er nach eigenem Bekunden an der Universität Philosophie und Psychologie. In dieser Zeit, 1909, wurde Karl Ferdinand Braun, der Direktor des Physikalischen Instituts der Universität Straßburg, für seine maßgeblichen Forschungen zur drahtlosen Telegrafie (Kathodenstrahlröhre, Oszilloskop), die auf der von Heinrich Hertz 1888 experimentell nachgewiesenen magnetischen Strahlung beruht, mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Ebenfalls in dieser Zeit lehrte der Dozent für Theologie Albert Schweitzer an der Universität Straßburg und studierte dort gleichzeitig Medizin, um 1913 als Missionsarzt nach Gabun, Afrika, zu gehen. Die Universität Straßburg war also ein bemerkenswerter Studienort. Aufgrund der nach heutigem Ermessen geringen Zahl Studierender besteht durchaus die Wahrscheinlichkeit, dass Studenten der Universität Besonderheiten dieser Art wahrnahmen, zumal sowohl Ferdinand Braun - er galt als Meister des allgemein verständlichen Vortrags - als auch Albert 3 4

Geboren am 3.4.1889 in Frankfurt am Main, gestorben am 25.11.1964 in Zürich.

5

Vgl. z.B. ,,Eidesstattliche Erklärung" für Marthe Bernson, geb. Michel, für das Entschädi-

Siehe das Zeugnis der Firma Wolf Netter & Jacobi, Jßio 01. gungsamt in Hildesheim, 1958, JKorr 14 B 4, 5.

6

1869-1949, Komponist und Dirigent, Leiter des „Städtischen Conservatoriums in Strassburg".

7

1880-1963, Pianist und Klavierlehrer.

-

Schweitzer - er wirkte als Musiker und Musikwissenschaftler - sich einer über die Fachgrenzen hinausgehenden Öffentlichkeit präsentierten. Dass Heinrich Jacoby ein weitgespanntes Interesse zeigte, ließ Hans Pfitzner in dem Gutachten, das er für seinen Schüler schrieb 8, anklingen:

-

,,Herr Heinrich Jacoby hat als Schüler meiner Dirigenten- und Compositionsklasse sich als eine eigenartige, feine Begabung erwiesen. Leider bildete oft mangelnde Gesundheit ein Hemmnis seines Fleißes, so daß die Stetigkeit seines Studiums oft gestört wurde. Herr Jacoby, der als Dirigent und Componist in den Schulaufführungen des Conservatoriums erfolgreich hervorgetreten ist, und in den letzten zwei Jahren als Volontair am Stadttheater angestellt war, ist kein einseitiger Musiker, vielmehr gravitieren seine künstlerischen Interessen nach vielen Seiten. In welcher Weise sich seine Fähigkeiten und Anlagen noch zusammenschließen werden, ist noch nicht bestimmt zu sagen, doch bürgen sein Ernst und sein Streben für eine erfreuliche Entwicklung. Prof. Dr. Hans Pfitzner" Die „mangelnde Gesundheit", unter der Heinrich Jacoby sein Leben lang zu leiden hatte, und die daraus erwachsenen Störungen seines Studiums und Arbeitens haben nicht zu einer negativ eingefärbten Beurteilung durch Hans Pfitzner geführt. Vielmehr beobachtete dieser, dass sein Schüler sich nicht als „einseitiger Musiker" darstelle und sein zukünftiges Wirken noch nicht vorauszusehen sei. Die Schülerkonzerte vom 19. bis zum 22. Mai 1912, in denen sich die Absolventen des Konservatoriums vorstellten, weisen mehrere Dirigate Heinrich Jacobys und die Aufführung einer Kompositionen von ihm 9 aus. Neben anderem dirigierte er das Klavierkonzert E-Moll, 1. Satz, von

8

Gutachten vom 1.4.1913 für Heinrich Jacoby, datiert auf den 10.5.1913, Jßio 01.

9

Den zweiten Satz einer Serenade für kleines Orchester.

Frederic Chopin, das von Lilly Apel, seiner späteren Frau, gespielt wurde, sowie das Klavierkonzert Es-Dur, 1. Satz, von Wolfgang Amadeus Mozart, das Marthe Michel vortrug. Sie heiratete 1913 den Schriftsteller Bernhard Bernson 10, einen Jugendfreund Heinrich Jacobys. Mit diesen Personen ist ein Freundeskreis angesprochen, der für Heinrich Jacoby wichtig war. Marthe Michel, die er bereits seit seinem musiktheoretischen Kurs vor dem Studium kannte und die nach dem Abschluss ihrer pianistischen Ausbildung 1912 die Konzertreife erworben hatte, erweiterte ihr Studium in Hellerau an der damals weltbekannten Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze11. Dort knüpfte sie für Heinrich Jacoby wichtige Kontakte zu Emile Jaques-Dalcroze und Wolf Dohrn, dem Mitbegründer von Hellerau. Heinrich Jacobys Arbeit als „Volontair" am Stadttheater

12

bekam nach

eigenem Bekunden für ihn unter zwei Gesichtspunkten wesentliche Bedeutung und prägte seine weiter gehende berufliche Orientierung 13: Einerseits wurde er zu „jener wirklich überzeugenden und lebendigen Qualität der Äußerungen durch Musik oder Bewegung geführt", die ihm aufgrund seiner „Erlebnisse bei Hans Pfitzner als Grundlage allen Musizierens und Darstellens nötig und möglich erschien". Andererseits begegnete ihm während der Proben am Stadttheater jenes „übliche Geschimpfe" und die „Verzweiflungsausbrüche", mit denen gegen vermeintliche „Unfähigkeiten" der Sänger und Musiker „vergeblich gekämpft" wurde. Heinrich Jacoby schrieb hierzu etwa zwanzig Jahre später: „Gerade solche Schwierigkeiten begannen mich zu interessieren: Ich selbst hatte mich mit großen körperlichen Behinderungen infolge vielen 10 Schriftsteller, Pädagoge, Grafologe, übersetzte u. a. Edgar Allen Poes „Seltsame Geschichten", Straßburg 1916. 11 Vgl. z.B. ,,Eidesstattliche Erklärung" für Marthe Bernson, geb. Michel, für das Entschädigungsamt in Hildesheim, 1958, JKorr 14 B 4, 5. 12 Anders als im Vorwort der Erstausgabe von Heinrich Jacoby 1954/ 1 1986, 12, dargestellt, arbeitete Heinrich Jacoby dort nicht mit Wilhelm Furtwängler oder Otto Klemperer. 13

Heinrich Jacoby 1935/ 2 2003, 13.

-

Krankseins in der Jugend und mit damit zusammenhängenden Arbeitskonflikten während meines Studiums herumzuschlagen. In dem Maße, in dem mir die Überwindung bei mir selbst gelang, wurde ich skeptisch gegenüber der Meinung von der Unüberwindbarkeit solcher Schwierigkeiten bei anderen. So kam ich schon sehr früh zu der Überzeugung, daß

-

auch das, was man so leicht hin als ,unbegabt' zu bezeichnen gewohnt ist, gar nicht ,Fehlen einer Gabe' sein müsse, und daß ,etwas trotz vieler Mühe nicht können' nicht mit ,dafür unbegabt sein' gleichgesetzt werden dürfe." 14 In Hans Pfitzner allerdings begegnete er auch einem Vertreter der durch Arthur Schopenhauer geprägten Anschauung, dass das „Ingenium" des Komponisten und Musikers, wenn er denn herausrage aus der Masse gewöhnlicher Menschen - was Hans Pfitzner selbstverständlich für sich behauptete-, die Grundlage seiner Inspiration und Quelle seines kompositorischen Schaffens sei. Hans Pfitzner vertrat diese Position mit Entschiedenheit und Schärfe gegenüber Vertretern eines „fortschrittsorientierten Zeitgeistes der Moderne" 15. Er nahm für sich eine höhere Erkenntnisfunktion, zumindest eine ästhetische Intuition in Anspruch, die jeder Erfahrung überlegen sei, auch der wissenschaftlichen. Von Hans Pfitzner durfte Heinrich Jacoby also kaum Verständnis für seine Überlegungen erwarten. Jedoch könnte ihn die Position seines Lehrers besonders herausgefordert haben, ,,mit ausgesprochen schwierigen Schülern" zu arbeiten: „Und je schwieriger der Fall, desto größer und eigensinniger wurde mein Interesse, einen Weg zu positiver Lösung zu finden. Immer wieder und immer deutlicher wurde der scheinbare Mangel einer ,Gabe' als durch Erziehungsfehler in der frühen Kindheit und durch unzweckmäßige und

14

Heinrich Jacoby 1935/ 2 2003, 11-12.

15 Vgl. z.B. Hermann Danuser 1984, 78.

irreführende Art des Beibringens verursacht erkennbar, verständlich und damit beeinflußbar." 16 Dieses Bemühen war Heinrich Jacobys Freunden bekannt. Marthe Michel konnte ihn erfolgreich vermitteln: Im Frühjahr 1913, vor dem formalen Abschluss seiner Ausbildung am Konservatorium in Straßburg, wurde er an die drei Jahre zuvor gegründete Lehrerbildungsanstalt Jaques-Dalcroze nach Dresden-Hellerau berufen „als Lehrer für Harmonie- und Formenlehre und zur Mitarbeit bei der Einstudierung der Festspiele" 17.

16 Heinrich Jacoby 1935/ 2 2003, 12. 17 Heinrich Jacoby 1935/ 2 2003, 12.

-

LEHRERBILDUNGSANSTALTJAQUES-DALCROZE IN HELLERAU

- 1913BIS 1919

In Dresden-Hellerau gründeten 1907 Wolf Dohrn 18 und Karl Schmidt

19,

die beide im Gefolge des Sozialreformers Friedrich Naumann 20 standen, am Stadtrand von Dresden die Gartenstadt Hellerau. In ihr sollten die Arbeiter ihrer „Deutschen Werkstätten für Handwerkskunst"

wohnen,

deren Produkte bahnbrechend für den modernen Möbelbau waren 21 . Sie beauftragten Architekten, die der Werkbundbewegung nahe standen, mit dem Bau der Markt- und Wohngebäude, unter anderen Richard Riemerschmid

22 ,

Heinrich Tessenow 23 und Hermann Muthesius 24 . Es

entstanden auf einer Fläche von etwa 140 Hektar, ,,einer sandigen, von Kiefernwäldern

umstandenen

Heidelandeinöde"

25 ,

dem „Heller",

340 Wohneinheiten sowie ein Festspielhaus mit Festplatz als geistigem und kulturellem Mittelpunkt

der Gartenstadt. Mit diesem städtebauli-

chen Beispiel bürgerlicher Reformbewegung, das die romantische Siedlungsbau-Idee aufgreift und in der Schlichtheit seiner Ausführung sogar

18 19

1878-1914, Geschäftsführer des Deutschen Werkbundes (1908-1910). 1873-1948, Gründer der „Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst" (1899), nach der Fusion mit den „Münchner Werkstätten" (1907) .,Deutsche Werkstätten für Handwerkskunst G. m. b. H. Dresden und München" genannt, und Gründer des „Deutschen Werkbundes"

20

(1908). 1860-1919, evangelischer Theologe, liberaler Politiker, Mitbegründer des „Deutschen Werkbundes" und des „Vereins Deutscher Studenten".

21

Im „Deutschen Werkbund" sollten auch Prototypen für die Fabrikation von Produkten entwickelt werden, die durch ihr Design die besondere Qualität deutscher Wertarbeit sichtbar werden lassen sollten.

22

1868-1957, zusammen mit Schmidt und Dohrn Gründer der gemeinnützigen „GartenstadtGesellschaft Hellerau GmbH", maßgeblich an der Konzeption der Gartenstadt Hellerau beteiligt, Architekt des Fabrikbaues in der Gartenstadt.

23 24 25

1876-1950, Architekt des Festspielhauses in Hellerau. 1861-1927, Architekt von vielen Villen im englischen Landschaftsstil. Peter de Mendelssohn 1993, 7.

-

die Bauhaus-Idee vorwegzunehmen scheint, verband sich die kulturelle Initiative Wolf Dohrns, eine Bildungsanstalt für Musik und Kunst zu gründen. Wolf Dohrn gewann dafür Emile Jaques-Dalcroze 26 , einen Musikpädagogen, der am Genfer Konservatorium als Musiktheorie- und Harmonielehrer unterrichtete. Wolf Dohrn hatte ihn 190927 bei einer Vorführung in Berlin erlebt und war begeistert von dessen Methode der „rhythmischen Gymnastik", die Emile Jaques-Dalcroze zusammen mit Nina Gorter 28 entwickelt hatte und die er durch Kurse und Aufführungen auch in Deutschland bekannt machte. Die „Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze" wurde 1910 eröffnet unter besten Voraussetzungen, um international zu wirken und zahlreiche Schülerinnen und Schüler auszubilden. „Zum ersten Kurs 1910/1911 brachte Dalcroze noch 46 Schüler aus Genf mit, 1913/14 studierten schon 495. Zu Höhepunkten gestalteten sich die Schulfeste, in die Dalcroze den antiken Gedanken einbrachte, daß ein Teil des Volkes einmal im Jahr dem anderen ein künstlerisches Fest gab [... ]."29

„Tessenow errichtete noch vor dem Weimarer Bauhaus dieses Gebäude edler Einfachheit. Es erinnert trotz seiner kubischen Sachlichkeit an die Würde eines griechischen Tempels."30

26 27

1865-1950, Musikpädagoge und Komponist. Wolf Dohrn arbeitete bereits 1907 an Überlegungen, die Methode Jaques-Dalcroze zur Grundlage einer musikalischen Erziehung in einer Schule der künftigen Gartenstadt 4 1999, 29. 1869-1922, hatte 1902 Jaques-Dalcroze kennen gelernt. Sie betonte besonders den Aspekt „Rhythmus und Sprache" in ihrer pädagogischen Praxis, kam 1910 mit Jaques-Dalcroze nach

heranzuziehen, siehe Hans-Jürgen Sarfert

28

Hellerau und wirkte dort als stellvertretende Direktorin.

29 30

Hans-Jürgen Sarfert

4

1999, 34.

Heinz Quinger 1999, 209.

Die besonderen

Erfordernisse

des Theatersaales

berücksichtigte

Einrichtung durch Adolphe Appia 31: mit außergewöhnlicher kung, einer „Rhythmisierung"

die

Lichtwir-

des Raumes mittels variabler Elemente

und dem Aufheben der Trennung von Zuschauer- und Bühnenraum. Darius Milhaud 32, der mit Paul Claudel 33 als dessen Sekretär nach Hellerau gekommen war, schrieb: „Die äußerst stilisierte

Bühne bestand aus großen architektonischen

Kuben, die entweder in Stufen oder in Plateaus von verschiedener Höhe aufgebaut werden konnten, so daß eine Aufführung zugleich auf verschiedenen Ebenen möglich war. Einige der Szenen der Verkündigung spielen sich auf zwei Ebenen ab: der menschlichen und der göttlichen. Licht spielte eine sehr große Rolle in Hellerau und verlieh der Aufführung eine mystische Schönheit."3 4 Der von Milhaud angesprochenen Aufführung von Paul Claudels Theaterstück „Verkündigung" am 5. Oktober 1913, die als „Jahrhundertaufführung" viele bekannte Persönlichkeiten nach Hellerau zog, war im Juli 1913 das Schulfest vorangegangen, an dessen Einstudierung wahrscheinlich Heinrich Jacoby beteiligt war: „Die tänzerisch-rhythmische

Realisierung von Willibald Glucks ,Orpheus

und Euridice' wurde zum Höhepunkt der Aufführungen der Bildungsanstalt und zum Höhepunkt des rhythmischen Jugendstils überhaupt. Aber ,Orpheus' war auch schon das Ende von Hellerau." 35

31 1862-1928, Schweizer Architekt. 32 1892-1974, französischer Komponist. 33 1868-1955, französischer Dichter. 34 Hans-Jürgen Sarfert 4 1999,42ff. 35 Helmut Günther 1 1975,43;vgl. auch Fida Brunner-Danuser 1984,12ff.; 229f.

Wilfried Gruhn

1993,

-

Emile Jaques-Dalcroze hatte mit anderen Schweizern einen Aufruf unterzeichnet, der gegen den Kanonenbeschuss der Kathedrale von Reims zu Beginn des Ersten Weltkrieges (1914) protestierte. Damit hatte er die deutschen „Patrioten" in einem nationalistisch eingestimmten Land gegen sich aufgebracht und den „Hass" gegen seine „rhythmische

Gymnastik" für

viele Jahre erweckt. Selbst der als liberal geltende Friedrich Naumann, den Heinrich Jacoby um Fürsprache anlässlich der Kampagne gegen Emile Jaques-Dalcroze bat, reagierte uneinsichtig national und fühlte sich persönlich verletzt

36

durch den Protest von Jaques-Dalcroze gegen die

,,Kriegsbarbarei der Deutschen". Emile Jaques-Dalcroze musste das Deutsche Kaiserreich verlassen. Dennoch konnten sich zwei Schulen, die nach seiner Methode arbeiteten, behaupten, nämlich in Elberfeld (ab 1906) und in Düsseldorf (ab 1914). Außerdem gab es Zweigstellen in Berlin (ab 1911), Frankfurt am Main (ab 1912), St. Petersburg (ab 1912) und Moskau (ab 1912). Hier arbeiteten diplomierte Lehrkräfte, die sich nach der Prüfung (§ 14 der Schulordnung) als „Lehrer der rhythmischen Gymnastik nach Jaques-Dalcroze" ausweisen durften. Sie hatten in ihrer Prüfung eine Lehrstunde „Rhythmische Gymnastik" mit Kindern ohne musikalische Vorbildung und eine mit Fortgeschrittenen zu halten, wurden in So/fege (Hör- und Leseübungen) und eigener rhythmischer und plastischer Verkörperung von Musik geprüft. Heinrich Jacoby suchte seinen Lehrauftrag in die Erfordernisse des Unterrichts einzuordnen. In seiner wahrscheinlich ersten Veröffentlichung

in

den Berichten der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze ist zu lesen: „Die Methode Jaques-Dalcroze ist aus der Musik geboren; ihre Mitteilung geschieht durch die Musik; - sie will als ein Wesentliches die Elemente der Musikalität wecken und entwickeln. Natürlich ist nun die spezifisch musika-

36

Siehe Antwortschreiben von Friedrich Naumann, Oktober 1914, Jßio 03.

lische Seite noch von ungleich größerer Bedeutung für den, der nach Hellerau kommt, um später die Methode zu lehren, als für den, der nur deren Resultate - wie Befreiung von Hemmungen, Erziehung zur Konzentration an sich erfahren will. Es kann für jenen nicht genügen, nur mit dem musikalischen Handwerkszeug ausgestattet zu werden, ohne auch die Fähigkeit mit auf den Weg zu bekommen, bewußt damit umzugehen. Dies müssen wir uns vor Augen halten, wenn wir dem Lehrstoff der Methode, deren Wesen doch die praktische Erfahrung ist, einen - wenn auch nur scheinbar - theoretischen Gegenstand angliedern. Gehört es doch letzten Endes zu dem Mindestmaß an allgemeiner Bildung des Lehrers, mit den akustischen Elementen, den theoretischen Terminologien und deren Begründung so vertraut zu sein, daß er dem Schüler auf die Frage ,warum' zu antworten vermag, wie man auf der anderen Seite wieder nicht von ihm verlangen braucht, er solle imstande sein, etwa eine Sonate zu schreiben." 37 Später bemerkte Heinrich Jacoby zu seiner Tätigkeit an der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze: „Ich kannte die Methode Jaques-Dalcroze zwar noch nicht, aber alles, was ich darüber gehört hatte, und das Programm der Bildungsanstalt ließen es mir wünschenswert erscheinen, an dieser, damals als die fortschrittlichste Musikerziehungsstätte der Welt geltenden Lehrer-Bildungsanstalt mitarbeiten zu können. Die formulierte Aufgabe meines Lehrauftrages war, den traditionellen,

abstrakten musiktheoretischen

Unterricht zu einer

lebendigen ,praktischen' Arbeit umzugestalten. Zugleich mit meiner Lehrtätigkeit begann ich, die Arbeit Jaques Dalcroze und seiner Mitarbeiter zu studieren." 38

37

Heinrich Jacoby 1914, 35 f.

38

Heinrich Jacoby 1935/ 2 2003, 13.

-

Mit dem „Zeugnis" vom 30. September 1914, das Harald Dohrn, der Bruder des tödlich verunglückten Wolf Dohrn, für die Bildungsanstalt unterschrieben hat, werden sowohl das Arbeitsverhältnis von Heinrich Jacoby um zwei Jahre verlängert und auf „Partiturlehre und Instrumentation" ausgedehnt als auch die Lehrbefähigung „zum Unterrichten in der Methode Jaques-Dalcroze", die Heinrich Jacoby durch eine entsprechende Schlussprüfung erworben hatte, ausgesprochen. Allerdings ist gleichzeitig festgehalten, dass wegen der „eingetretenen kriegerischen Ereignisse" die „Anstalt für die Dauer des Krieges" geschlossen wird. 39 Ungeachtet dieser Bestätigung und Erweiterung seiner Tätigkeit an der Bildungsanstalt kam Heinrich Jacoby bald in „große sachliche Gegensätze", die auf eigener Erfahrung und auf Beobachtungen „der Entwicklung des Gros der Schüler" basierten. Er gelangte zu der Einsicht, dass die Methode Jaques-Dalcroze, die Erfahrungsresultate zu vermitteln suchte, den Gewinn selbstständiger Erfahrungen verhinderte. Daraus ergab sich ein Vorbehalt gegenüber der Weitergabe von Methoden, die eigenständiges Erfahren überspringen wollen. 40 Etwa sieben Jahre später formulierte Heinrich Jacoby seine Kritik allgemeiner: „Auch ein systematischer Improvisationsunterricht, wie etwa der Methode Jaques-Dalcroze, kann schon deshalb nicht grundsätzlich bessern, weil er sich auf das Erlernen fertiger Kadenzen und auf die Erwerbung von Automatismen stützt; er will auch eigentlich nicht das ursprünglich Schöpferische entfalten, sondern eine Gewandtheit zum Improvisieren von Musik für die rhythmische Gymnastik erzielen. Der kleinste Übungsstoff wie der scheinbar nebensächlichste Begriff müßten am Klavier - einerlei ob Kind oder Erwachsener - selbst erfunden, selbst gefunden werden! Ist erst ein-

39

Vgl. Zeugnis der Bildungsanstalt Ja(c)ques-Dalcroze, JBio 02.

40

Vgl. die Darstellung in Norbert Klinkenberg 2002, 35 ff.

mal der Grundsatz erkannt, daß Weckung der Ausdrucksfähigkeit und daß Selbsttätigkeit das Wesen aller Erziehung zu sein hätten, - daß es keine ,lehrenden' und ,lernenden' gibt, - daß wir uns an Stelle der Mitteilung von Erfahrungsresultaten allein auf die Schaffung von Erfahrungsgelegenheiten zu beschränken haben -, so muß dieser Grundsatz auch bis hin in die letzten und scheinbar nebensächlichsten Absichten und Handlungen hinein zur Auswirkung kommen."41 Bei einigen „Schülern" von Emile Jaques-Dalcroze, etwa Mimi Scheiblauer42, Mary Wigman43, Rudolf Bode44, waren Distanzierungen vom „personifizierten Vorbild" erforderlich, um eigene Wege zum Ausdruck in der Bewegungoder im Tanzzu finden 45: Bei Mimi Scheiblauer das Erkunden heilpädagogischer Möglichkeiten, bei Mary Wigman die Entwicklung körperlicher Ausdrucksformen, bei Rudolf Bode das Konzept einer Leibeserziehung. Die kritische Distanz Heinrich Jacobysallerdings war grundsätzlich, bestimmt durch sein Interesse, Zusammenhängeund Ursachen von

41 42

2 1995, 1922/ 17ff. 1891-1968, Abschlussprüfung in Hellerau 1911, zunächst Klavier und Dalcroze-Rhythmik, ab 1924 Dozentin am Heilpädagogischen

Heinrich Jacoby

Marie Elisabeth Scheiblauer, Lehrerin für

Seminar Zürich, erweiterte die Idee der Rhythmik zu einem allgemeinpädagogischen und heilpädagogischen „Arbeitsprinzip". Grundlage für die Entfaltung kreativer Fähigkeiten ist nach Mimi Scheiblauer vor allem die Entwicklung der Erlebnisfähigkeit und der „Vollendungskraft" (Fantasie). In dem Film „Ursula - oder das unwerte Leben" von Reni Mertens und Walter Marti (1966) ist ihre Arbeit dokumentiert. Heinrich Jacoby und Mimi Scheiblauer sind sich in Zürich zwar begegnet (Bericht von Ruth Matter nach schriftlicher Auskunft von Walter Biedermann), jedoch ohne den von Mimi Scheiblauer angestrebten Einzelunterricht bei

43

Heinrich Jacoby durchzuführen. Karoline Sofie Marie Wiegmann,

1886-1970, nannte sich anglisiert

Mary Wigman, gründete

eine eigene Schule für Ausdruckstanz, wirkte als Tänzerin und Choreografin, unter dem Nationalsozialismus in der „Fachgruppe Körperbildung und Tanz".

44 1881-1970, prominenter

Schüler, aber auch heftiger Kritiker von Jaques-Dalcroze, der die

Sportbewegung der zwanziger Jahre mit seinen Schwungübungen revolutionierte, wurde zu einem ihrer einflussreichen Propagandisten unter dem Nationalsozialismus und Reichsleiter der „Fachgruppe Körperbildung und Tanz".

45

Helmut Günther

2

1975, 44.

-

Fähigkeiten zu erforschen und einer „Grundidee der Erziehung" nachzugehen. Die Methode Jaques-Dalcroze verfehlte nach seiner Beobachtung mit der Tendenz zum Automatisieren von Reaktionsfähigkeiten und dem widersinnigen Training von „Spontaneität"

die angekündigten Anliegen,

nämlich Rhythmik, Gehörbildung oder Improvisation zu fördern. Lediglich

-

,,eine Förderung der motorischen Routine und eventuell formaler und virtuoser Gewandtheit" 46 ließen sich bei den Leistungen der Schüler feststellen. Ungeachtet dieser Kritik anerkennt Heinrich Jacoby die „starke menschliche Wirkung der Persönlichkeit und das große Können von Emile Jaques-Dalcroze", mit dem er zumindest durch Grußkarten über den Krieg hinaus in Verbindung blieb 47. Mit dem Eintritt des Deutschen Reiches in den Krieg am 1. August 1914 wurde die Bildungsanstalt geschlossen. 1915 gründeten Anhänger der „Dalcroze-Bewegung" den „Verein für rhythmisch musikalische Erziehung Hellerau" unter der Leitung der Deutsch-Amerikanerin

Christine Baer-

Frisell48. Es wurde auch eine „Neue Schule für angewandten Rhythmus" eröffnet, der die Rechte der ehemaligen Bildungsanstalt übertragen wurden49, an der die Arbeit jedoch nur eingeschränkt aufgenommen werden konnte, da die Gebäude des Instituts in Hellerau für Lazarettzwecke benötigt wurden 50. Einen „echten Neubeginn gab es erst im Herbst 1919 als ,Neue Schule Hellerau für Rhythmus, Musik und Körperbildung'. Das ist untrennbar mit den Namen Christine Baer-Frisell [...] und Ernest Thomas Ferand (1887-

1972) verbunden. Frau Baer-Frisell übernahm die pädagogische Leitung unter schwierigen Bedingungen (aber ihre gefühlsbetonte

46 Heinrich Jacoby 1935/2 2003,13. 47 Jßio 02. 48 1887-1932. 49 Helmut Günther 2 1975,43. 50 Hans-Jürgen Sarfert 1999,74. 4

Motivations-

fähigkeit löste unvermittelt kreative Kräfte) und Ferand, der 1913/14 hier seine Ausbildung absolviert hatte, wirkte von 1920 bis 1922 als Direktor; später trat er hervor durch seine Abhandlung ,Die Improvisation in der Musik' (Zürich 1938) und als Professor an der ,New School for Social Research' in New York und in Basel."51 Heinrich Jacoby übernahm die Abteilung Musik der „Neuen Schule für angewandten Rhythmus", wurde allerdings 1916 zum Kriegsdienst eingezogen, aus dem er 1917 krank entlassen wurde 52 . Durch die Anstaltsleitung der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze ist unter dem 24. September 1919 der erste Abschnitt seines Wirkens in Hellerau beschrieben worden 53 : „Herr Kapellmeister Heinrich Jacoby gehörte dem Lehrkörper der Bildungsanstalt vom Frühjahr 1913 bis Herbst 1919 an. Anfangs nur für die Einstudierung der jährlichen Festspiele und die Erteilung des musiktheoretischen Unterrichts berufen, übernahm er später auch den Unterricht in Solfege und Improvisation und hatte seit Herbst 1916 die Oberleitung des gesamten musikalischen Unterrichts inne. Aus diesem Unterricht hat er besondere Musikerkurse abgeleitet, in denen Rhythmusgefühl, Gehör, Fantasie, Konzentrationsvermögen und Gedächtnis durch bewußte Schulung einheitlich erfaßt und ausgebildet wurden und die somit eine konservatorische Ergänzung unseres Lehrplans ermöglichten. Die von Herrn Jacoby an der Bildungsanstalt erreichten Resultate beweisen ebenso sehr stärkste musikalische Begabung wie seltene pädagogische Befähigung. Besonders hervorzuheben ist, daß die Resultate in über-

51 52

Hans-Jürgen Sarfert '1999, 74. Siehe „Führungszeugnis" für „Grenadier-Landsturm-Rekrut

Heinrich Alexander Jacoby", der

sich während der Dienstzeit vom 3. Oktober 1916 bis zum 16. Januar 1917 gut geführt habe, JBio 02.

53

Gutachten der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze, JBio 02.

-

raschender Gleichmäßigkeit gerade bei den minder begabten Schülern eintraten. Herr Jacoby hat dadurch seine Behauptung, daß die sogenannte musikalische Minder- oder Nichtbegabung in fast allen Fällen eine Folge von Hemmungen sei, die eine sinngemäße Schulung zu beheben vermag, vollauf erwiesen und damit der Musikpädagogik neue Wege gewie-

-

sen. Leider war es ihm nicht möglich, seine Tätigkeit in Hellerau fortzusetzen, da die klimatischen Verhältnisse der Dresdner Heide seinem Organismus nicht entsprachen und er schließlich durch ärztliche Verordnung zur Wahl eines südlicher gelegenen Wohnsitzes gezwungen wurde. Die Anstaltsleitung bedauert diesen Verlust ganz besonders und hofft sowohl für Herrn Jacoby persönlich, wie vor allem für die Sache, daß sich bald die geeignete Stelle finden möge, an der Herr Jacoby seine musikalischen und pädagogischen Fähigkeiten voll auszunutzen vermag. Nebenbei bemerkt sei noch, daß Herr Jacoby uns auch in den pädagogischen Fragen der häuslichen und schulmäßigen Jugenderziehung ausgezeichnet beraten hat und - seinen Anlagen entsprechend - auch hier über wertvollste praktische Qualitäten verfügt." Heinrich Jacoby siedelte mit einigen „Schülern" nach München über, um seine 1914 in Hellerau vor allem in den „Musikerkursen"

begonnenen

Beobachtungen und Erkundungen fortzusetzen. Aber er kündigte auch „Ergänzungskurse zum Instrumental- und Gesangunterricht" für die Zeit von Oktober bis Juni 1918/1919 an, deren Zweck er folgendermaßen erläuterte: „Der übliche Theorieunterricht wendet sich an das reine Wissen,

der

Instrumentalunterricht an das t e c h n i s c h e Können. Im übrigen begnügt man sich mit derjenigen Entwicklung von Ohr und Gedächtnis, die sich bei der intensiven Beschäftigung mit dem Kunstwerk während des Studiums von selbst einstellt. Die bewußte Schulung von Gehör und Gedächtnis, von

innerem Tonvorstellungsvermögen, von Gefühl für harmonische Logik und für Form, wie ich sie in den Ergänzungskursen anstrebe, wird überall dort erfolgreich einsetzen, wo nicht eine ganz besonders glückliche Begabung dies alles schon von vornherein zum Instrumentalunterricht mitbringt. Sie wird die Beseitigung vieler, auch nervöser Hemmungen zur Folge haben, die aus dem Gefühl musikalischer Unsicherheit entspringen. Diese Wirkungen sind ohne eine quantitative Mehrbelastung des allgemeinen Studienplans zu erreichen, da durch Art und Aufbau der Übungen fortschreitend das ganze musiktheoretische Wissen auf p r a kt i s c h e m Wege übermittelt wird und der Schüler neben der Entwicklung des inneren Ohres die formale und stilistische Gewandtheit erhält, sich musikalisch auszudrücken (Improvisation, Komposition). Die Kurse lösen auf diese Weise g I eich zeitig

die Aufgaben mit, die bisher dem Theorieunter-

richt zufielen. Es sind Gruppen eingerichtet sowohl für fortgeschrittene

Musiker wie

für Anfänger als Vorbereitung zum Instrumental- und Gesangunterricht. Musikpädagogen erhalten Gelegenheit, sich im Interesse ihrer Schüler Einblick in meine Arbeitsweise zu verschaffen. Heinrich Jacoby"54 Heinrich Jacoby schrieb über seine Vorhaben auch unter dem Gesichtspunkt „systematische[r]

Untersuchungen über die funktionellen

Grundlagen

der musikalischen Ausdrucksfähigkeit, über die materiellen Phänomene, durch die lebendiges Musizieren sich von unlebendigem unterscheidet, und schließlich auch über die Ursachen und über die Behebbarkeit von Störungen der allgemeinen Fähigkeit, sich zu äußern, überhaupt." 55

54

JBio 02.

55

Heinrich Jacoby 1935/ 2 2003, 13.

-

Er richtete sein Augenmerk auf Alltagstheorien, die unter dem Sammelbegriff „Begabung" damals jegliche Erziehung wesentlich beeinflussten und auch heute immer noch privilegieren. Sinnesschulung und Gehörbildung etwa, die davon ausgehen, dass bessere oder schlechtere Sinnesorgane und körperliche Fähigkeiten angeboren seien, hielten seiner Überprüfung nicht stand.

-

„Durch sinnvolle Befragung ließ sich immer wieder nachweisen, daß bei sogenannten Unbegabten auch die Sinnesorgane, die sie für das Gebiet, für das sie unbegabt erschienen, besonders benötigten, einwandfrei funktionierten - daß aber im Gesamtverhalten des ,unbegabten' Schülers etwas nicht stimmte."56 Heinrich Jacoby erinnerte an Komponisten mit fehlendem sogenannten ,,absoluten" Gehör, etwa Joseph Haydn, Richard Wagner, Robert Schumann, Komponisten, die nachweislich ein Musikinstrument zu Hilfe nahmen, um Kompositionsvorgänge anzubahnen und sowohl zu kontrollieren als auch deren Ergebnis zu notieren. Um zu besseren Ergebnissen zu kommen, waren also nicht Gehör, rhythmisches Empfinden, Gedächtnis zu üben oder zu schulen, sondern es galt gemeinsam herauszufinden, „wodurch die Bereitschaft des Schülers, von seinen latenten Fähigkeiten Gebrauch zu machen, gestört sei. Zur wichtigsten Aufgabe wurde es, diese Funktions-Bereitschaft auszulösen, die Bereitschaft von dem, was einem widerfährt - auch dann widerfährt, wenn man nichts zu merken glaubt -, bewußt Notiz zu nehmen. Wenn man das Wesen des hier nötigen erzieherischen und psychologischen Verhaltens überhaupt durch ein Wort charakterisieren will, so könnte man das, was zu geschehen hat, vielleicht als Bewußt-Seins-Erweiterung anstreben, nicht aber als Sinnesschulung!"57

56

Heinrich Jacoby 1935/ 2 2003, 13.

57

Heinrich Jacoby 1935/ 2 2003, 14.

Es gelang Heinrich Jacoby in nahezu allen Fällen, dass „Schüler", wenn sie durch geeignete Aufgaben, präzise Fragestellungen, Erfahrungsgelegenheiten zu einem positiveren Verhalten gefunden hatten, ihre „Störungen im Gesamtverhalten" auflösten und dadurch Funktionsbereitschaft, Wahrnehmungs- und Äußerungsbereitschaft gewannen, die ihnen zuvor nicht zur Verfügung standen. Heinrich Jacoby beobachtete dabei, wie neben der durch neurotisches Verhalten hervorgerufenen „Panik" vielfach in dem durch Erziehung bewirkten „Erzwingen-Wollen" oder Abrufen eines „Verhaltens auf Vorrat", ,,vor allem durch alles, was in der Kinderstube generell die Kontaktbereitschaft störte" die Ursachen zu suchen sind, welche eine Bereitschaft blockieren, ,,sich von der ,Einstellwirkung', die von einer Aufgabe ausgeht, zweckmäßig verändern zu lassen." 58 Die Gartenstadt in Hellerau war vor dem Ersten Weltkrieg, aber auch während des Krieges und später Anziehungspunkt für viele Prominente aus Kultur und Politik, die die Veranstaltungen und Produktionsstätten besuchten. Einige wurden auch für einen längeren Zeitraum dort wohnhaft oder ansässig. 59 Welche Gelegenheiten Heinrich Jacoby wahrnahm, um Kontakte zu knüpfen, lässt sich kaum feststellen. Einige für sein Wirken wichtige Personen lassen sich jedoch anhand von Briefen und in anderen Dokumenten ermitteln, so etwa die Bekanntschaft mit Alwine von Keller60, die ihn auf die Suche Paul Geheebs nach einem Musiklehrer für die Odenwaldschule aufmerksam machte.

58

Heinrich Jacoby 1935/ 2 2003, 15.

59

Vgl. Hans-Jürgen Sarfert '1999.

60

Alwine von Keller (o. J.) beschreibt, dass sie sich aufgrund der Absicht von Paul Geheeb und Wolf Dohrn, in Hellerau eine „moderne Schule" zu gründen, dort niederlassen wollte. Sie bezog im Juli 1910 ein von Muthesius entworfenes Haus mit fünf Zimmern. Doch der Ausländer (Preuße) Paul Geheeb erhielt keine Genehmigung für eine Schulgründung in Sachsen.

MUSIKLEHRER AN DER ÜDENWALDSCHULE

- 1919 BIS 1922

Das Bewerbungsschreiben von Heinrich Jacoby61 ist datiert mit „ 16. IX. 1919" und beginnt mit „Sehr geehrter Herr Dr.", also ohne namentliche Anrede und sehr formell an die Institution gerichtet. Es benennt zwei Personen, die über ihn Auskunft geben könnten: - die Frau des Pastors A. Köhler; sie wird in den Protokollen der Schulgemeinde zusammen mit ihrem Mann als „Elternpaar" benannt; - Alwine von Keller; sie war in den Jahren 1919 bis 1922 Lehrerin an der Odenwaldschule. Zuvor wirkte sie an verschiedenen Projekten in Hellerau mit, war mit Paul Geheeb noch vor der Gründung der Odenwaldschule bekannt und engagierte sich für die Belange einer Schulgründung Paul Geheebs wie auch für die „New Education Fellowship" (Internationaler Arbeitskreis für die Erneuerung der Erziehung), der 1921 auch Heinrich Jacoby beitrat. Heinrich Jacoby sprach in seinem Brief von „üblichen Formen des Musikunterrichts", die er verändern wollte, und meinte damit wohl das Fach ,,Gesang", in dem das Singen als Technik und der zugehörige Lehrstoff, die Lieder, nach Vorschrift des Staates oder der Kirchen im Klassenverband vermittelt wurden. Instrumentalunterricht Einzelunterricht. Aus der Informationsschrift

gab es nur als privaten der Odenwaldschule und

anhand von Zeugnissen lässt sich ermitteln, dass auch hier die Regelung galt: ,,Musikunterricht wird besonders berechnet." 62 Heinrich Jacoby fuhr in seiner Bewerbung fort: ,,Es gäbe in Oberharnbach manches, was mich veranlassen könnte, meinen bisherigen Münchener Wirkungskreis aufzugeben."

61

Jacoby 1919.

62

Odenwaldschule 1918, 9.

-

Als Gründe nannte er unter anderem: ,,- Arbeit mit jungen, unverdorbenen Menschen" ,,- frei [zu sein] von den Nachkriegsbelastungen und in günstiger klimatischer Umgebung [zu leben], um von Kriegsdienstschäden zu gesunden" Nach einem Bericht über seinen bisherigen Ausbildungs- und Berufsweg verwies er dann auf das Konzept einer geplanten Veröffentlichung, „Grundlagen einer schöpferischen Musikerziehung", die aber noch nicht zur Hand sei. Schließlich benannte er „die hauptsächlichste Bedingung", die seine Selbstachtung wie auch die Anerkennung durch andere ahnen lässt: ,,Die hauptsächlichste Bedingung, die ich bei einer Übernahme des Unterrichts stellen müßte, wäre - außer der Sicherung der Existenz für meine Frau und mich -, daß meine Tätigkeit mir noch genügend Zeit und Kraft für eigene Arbeit ließe." Es folgten Angebote: Seine Frau könnte Klavierunterricht geben. ,,Wir könnten zusammen musikalische Aufführungen, auch in großem Rahmen veranstalten", außerdem die Organisation von Kammermusik, vielleicht sogar die Gründung eines kleinen Orchesters betreiben. Ab 1. November 1919 wurden Lilly 63 und Heinrich Jacoby als Mitglieder des Lehrkörpers der Odenwaldschule geführt. In der Chronik der Odenwaldschule 64 lassen sich Nachrichten unterschiedlicher Art finden, so über die Auswirkungen der unfriedlichen Zeiten 1918/1919 oder über Besonderheiten des Schullebens, zum Beispiel Hinweise auf Musikabende, die von lehrenden und lernenden veranstaltet

63

1891-1975, geborene Apel, Pianistin, mit Heinrich Jacoby verheiratet von 1915 bis 1928.

64 Archiv der Odenwaldschule.

wurden. Die Chronik wurde zumeist von älteren Schülerinnen und Schülern geführt. Wir lesen darin: „Herr und Frau Jacobi sind zum Musikunterricht

aus München zu uns

gekommen. Wir hatten sie aber etwas früher erwartet und jeden Tag fragten Einige nach ihrem Kommen! So freuen wir uns; denn jetzt wird noch mehr musiziert, wie herrlich!" „Montag den 3. November [1919] [...] Wir hatten heute Abend ein großes Erlebnis: wir hörten Musik von Herrn u. Frau Jacobi und Herrn Cassirer. Sie spielten [Fr. Jacobi u. Herr Cassirer] eine Beethovensonate, Frau Jacobi eine Schubertsonate, und zuletzt Herr Jacobi Bach und Reger." „Sonntag d. 9. 11. [...] Abends musizierten Jacobis und Herr Cassirer. Es wurden Haydn und Bach gespielt. Wie dankbar und froh müssen wir sein, solche Musik so vorgetragen zu hören!" In den Protokollen der Schulgemeinde lässt sich nachlesen, wie Lilly und Heinrich Jacoby offiziell aufgenommen wurden und man ihnen Stimmrecht verlieh (19. November 1919). Heinrich Jacoby meldete sich von nun an zu Wort, nahm Stellung und stellte Anträge. Die musikalische Erziehung an der Odenwaldschule war den Ideen ihres Gründers entsprechend in den Schulbetrieb eingebettet, anders als es an einer normalen staatlichen Schule üblich gewesen wäre. Paul Geheeb, Gründer und von 1910 bis 1934 Leiter der Odenwaldschule, war 1892 Hermann Lietz in einem religionsphilosophischen

Seminar begegnet und

kam so an das von diesem gegründete Landerziehungsheim Haubinda in Thüringen. Dort traf er mit anderen Pädagogen der Reformbewegung zusammen: Gustav Wyneken, August Halm, Martin Luserke. Die nationalistisch ausgerichtete Gesinnung von Hermann Lietz und seine erzieherischen Forderungen nach Gehorsam und Unterordnung in einem Führersystem führten bald zu Differenzen. Zusammen mit Wyneken, Halm und Luserke trat Geheeb für eine „Freie Schulgemeinde" ein,

-

und sie gründeten 1906 die „Freie Schulgemeinde Wickersdorf".

Bald

jedoch trennte Paul Geheeb sich auch von Wyneken und den anderen und gründete 1910 in Hessen bei Heppenheim an der Bergstraße die Odenwaldschule. Der liberale „Großherzog von Hessen und bei Rhein" unterstützte die

-

Gründungen freier, privater Schulen und Künstlerkolonien. Die Folge war eine Akkumulation lebensreformerischer Projekte und Persönlichkeiten in seinem Herzogtum, die im Deutschen Kaiserreich bemerkenswert war 65 . Otto Erdmann, damals Lehrer an der Odenwaldschule, beschrieb auf einer Tagung in Heppenheim Pfingsten 1919 die Kursorganisation an der Odenwaldschule, wie sie in den ersten zehn Jahren des Bestehens entstanden war. Sein Referat wurde protokolliert und im März 1920 handschriftlich publiziert.

66

Im Kurssystem der Odenwaldschule hatte sich der Unterrich-

tende mit drei „Elementen" auseinander zu setzen: dem Stoff - dem Schüler - der Gemeinschaft. Otto Erdmann sagte dazu: ,,Die ,Ehrfurcht' gegenüber den inneren Gegebenheiten des Stoffes verlangt, daß wir nach ganzer Hingebung an ihm arbeiten. Dies ist aber nicht möglich, wenn wir uns nach den Launen eines äußerlichen, willkürlich hinund herspringenden Stundenplans bald diesem bald jenem Gegenstand in Zeiträumen von je 45 Minuten zuwenden müssen. Bei der Kursorg.[anisation] wird der ganze Stoff jedes Unterrichtsgebietes in ziemlich große, innerlich begründete, geschlossene Einheiten geteilt, die man Kurse nennt, und jeder Zögling beschäftigt sich während eines Arbeitsmonats nur mit 2 solchen Kursen, die also seine ganze Unterrichtszeit während des Monats ausfüllen - abgesehen von einer täglichen Wiederholungsstunde, die in den Fächern, welche stetige Übung verlangen, vor dem Vergessen des früher Gelernten schützt.

65

Ellen Schwitalski 2004, 23 ff.

66

Otto Erdmann 1920.

Ehrfurcht gegenüber den innersten Wachstumsbedingungen des Zöglings fordert von uns, daß wir des Satzes eingedenk bleiben: ,Bildung geschieht durch Selbsttätigkeit und zweckt auf Selbsttätigkeit ab' (Fichte 67). Die Organisation des Unterrichts darf deshalb nicht in diktatorischer Weise über die Zeit des Zöglings verfügen. Der Zögling soll eine Mitbestimmung darüber haben, mit welchen Dingen er sich jetzt und mit welchen dann beschäftigen will. Hiernach wählt er - etwa wie ein Student bei Semesterbeginn, jedoch stets nach sachlicher Besprechung mit den Lehrern - die 2 Kurse aus, denen er sich im nächsten Arbeitsmonat widmen will. [...] Ehrfurcht schließlich gegenüber den Lebensbedingungen einer Arbeitsgemeinschaft! Eine Klasse ist nur in seltenen Fällen eine Gemeinschaft, wenn sie durch die Persönlichkeit eines besonders lebendigen Lehrers dazu gemacht wurde. Im Allgemeinen ist sie ein Komplex von Individuen, die den Befehlen eines Vorgesetzten zu gehorchen haben. Nicht gegenseitige Hilfe herrscht in der Klasse, sondern Konkurrenz; ja gemeinschaftl. [iches] Arbeiten ist wohl gar verboten. Ganz anders kann der Geist in einer Kursgemeinschaft sein, die verbunden ist durch den gemeinsamen Willen, ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Dieser gemeinsame Wille setzt sich allen Störungen der Arbeit von selbst entgegen. [...] Der Kampf um die ,Note' fällt ganz weg. Es bedarf dieses unsachlichen Treibmittels nicht, daß jedes innerliche Verhältnis zur Arbeit ertötet. Hat ein Zögling den Inhalt eines Kurses nicht genügend verstanden, so wiederholt er ihn bei nächster Gelegenheit oder durch Einzelarbeit; er muß also nicht, wie beim Klassensystem, die Arbeit eines ganzen Jahres in allen Fächern wiederholen. [...] Was die Unterrichtsfächer

betrifft, so hatten wir es in der Odenwald-

schule zunächst ganz unkritisch bei der üblichen Fachgliederung gelassen. Damit aber muß es doch auch einmal aufhören. Diese ,Fächer' gibt 67

In seinen Reden an die deutsche Nation (1808) ruft Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) zu einer Nationalerziehung nach pestalozzischem Vorbild auf, die das menschliche Verhältnis zur Freiheit in der Vernunft- und Werterziehung verankern soll.

-

es nicht, es sind bloße Gespenster (Zustimmung von Dr. Buber). Es muß eine Zusammenordnung der Fächer um ein Zentralfach herum versucht werden." 68 Die Fächer Singen, Zeichnen, Turnen und auch Religion sind in die Kursorganisation nach Otto Erdmann nicht einbezogen. In der Intention Paul Geheebs lag es wohl, Persönlichkeiten aus dem künstlerisch produktiven Bereich, also Maler, Komponisten, Schriftsteller usw. zu gewinnen, einige Zeit in der Odenwaldschule zu wirken, ohne als Lehrer in die allgemeine Unterrichtstätigkeit und Erziehung der Schülerinnen und Schüler einbezogen zu sein. Alwine von Keller schrieb hierzu in ihrem Bericht: ,,Die Odenwaldschule solle eine Kulturstätte im Sinne Wilhelm von Humboldts sein, eine Schul- und Lebensgemeinschaft von Erwachsenen und Kindern, kein ,lnstitut'."

69

Die Odenwaldschule war und ist als Internat auch ein Erziehungsheim, in dem neben der Organisation des Lernens mit gleichem Gewicht erzieherische Gesichtspunkte eine Rolle spielen. In der Informationsschrift

aus

dem Jahre 1918, die wohl im Wesentlichen von Paul Geheeb formuliert worden war, ist zu lesen: ,,Wer sich aber bewußt ist, nicht nur allgemein der Bildung religiös-sittlicher Charaktere und harmonischer Persönlichkeiten zu dienen, sondern in der Erziehung zu sozial empfindenden und handelnden Staatsbürgern die vornehmste Aufgabe der Erziehungsschule erblickt, dessen Erziehungsheim wird nicht bloß einen notdürftigen Ersatz für ein reines und warmes Familienleben darstellen, sondern den Ort zur erfolgreichen Lösung einer

68

Otto Erdmann 1920.

69

Alwine von Keller o. J.

Aufgabe, für die der Organismus der Familie zu eng ist, und der gegenüber auch die öffentlichen und privaten Stadtschulen versagen, solange sie nicht in Arbeits- und Lebensgemeinschaften umgewandelt sind. [...] Der enge Zusammenhang zwischen alt und jung, der mehr und mehr freundschaftliche Verkehr, besonders innerhalb der als ,Familien' bezeichneten Gruppen von etwa 6-8 sich um einen Erzieher scharenden Kinder, erleichtert die gegenseitige Verständigung über Ziele, Aufgaben und Einrichtungen unserer Schule ungemein." 70 Koedukation wurde an der Odenwaldschule

selbstverständlich

und

bewährte sich. Aus den Unterlagen ist nicht ersichtlich, ob Lilly und Heinrich Jacoby als „Eltern" einer „Familie" fungierten wie Pastor Köhler und seine Frau. Während Erziehungsaufgaben von den neuen lehrenden wahrscheinlich nur indirekt geleistet wurden, lässt sich das neue musikunterrichtliche

Handeln Heinrich Jacobys, das keinem Vorbild folgte, in

der Chronik, den Protokollen und anhand anderer Berichte konkretisieren. Unter Donnerstag, dem 13. November 1919, ist in der Chronik zu lesen: „In diese Tage fällt die Musikprüfung von Herrn und Frau Jacoby. Jeder Kamerad wird auf seine musikalische Anlage hin geprüft, um Herrn Jacoby einen allgemeinen Überblick für seinen Unterricht zu geben. Wir erwarten alle diesen Unterricht mit großer Freude." 71 Heinrich Jacoby beschrieb das Verfahren in seiner Rede anlässlich der Kunsttagung des „Bundes entschiedener Schulreformer" (5. Mai 1921 in Berlin), die unter dem Titel „Grundlagen einer schöpferischen Musikerziehung" publiziert wurde:

70

Odenwaldschule 1918, 3 ff.

71

Archiv der Odenwaldschule.

„Ganz entscheidend aber half für die Vereinfachung der Arbeit jene immer konsequenter durchgeführte Wendung, die zur Selbsterfahrung, zur Erfahrung der durch die Musik in uns ausgelösten Spannungs-Vorgänge anleitet, bevor man sich bewußt für den Stoff, der diese Vorgänge auslöst, interessiert. [...] Als ich vor 1 ½ Jahren dort [an der Odenwaldschule] den Musikunterricht übernahm, war ich trotz der großzügigen Art, in der man mir für die Unterrichtsgestaltung völlige Freiheit ließ, doch zeitlich recht beschränkt, weil ich, gemäß der Überzeugung, daß es keine Unmusikalischen gäbe, sämtliche Schüler unterrichten wollte. Ich habe die Arbeit damals gleichzeitig mit allen Schülern zwischen 9 und 19 Jahren begonnen. Ich stellte Gruppen mit je etwa 20 Teilnehmern zusammen und hatte nicht mehr als zweimal ¾ Stunde in der Woche für die Arbeit mit jeder Gruppe zur Verfügung. Von den 100 Knaben und Mädchen waren viele verbildet, die meisten stimmlich nervös und gehemmt, so daß nur sehr wenige als im üblichen Sinne musikalisch bezeichnet werden konnten. Auch die in dieser Art regelmäßig unterrichteten Schüler, welche zunächst keine zwei Takte nachsingen oder auswendig behalten, auch nicht Noten lesen konnten, haben sich in 1 ½ Jahren so weit entwickelt, daß sie größere Melodien, dreiteilige Formen selbst erfinden und sie ebenso wie fremde Melodien wenn auch zunächst noch langsam - fehlerlos nach dem Gehör aufschreiben konnten, und zwar sowohl in den drei Schlüsseln als auch in verschiedenen Tonarten. Außerdem konnten sie die Melodien innerlich hören und sie nach beliebigen Tonarten transponieren."

72

In dieser Zeit lernte Heinrich Jacoby die „Grundanschauungen Siegmund Freuds von Bedeutung und störender Wirkung unbewusster Tendenzen für unser Tun und Denken" kennen, die ihm halfen, viele dieser „neurotisch bedingten Störungen der Erfahrbereitschaft und Äußerungsfähigkeit" zu 72

Heinrich Jacoby 1922/ 2 1995, 23 f.

verstehen. Auch die „Ursachen" und „tendenziösen Bedeutungen ,affektiver' Widerstände und affektiven Verhaltens, sowohl bei dem Versuch der Verständigung und Klärung, wie bei der Aufforderung zu praktischen Versuchen" konnte er nach seinen Studien der entsprechenden Veröffentlichungen Siegmund Freuds besser „lesen".7 3 Er geht in diesem Zusammenhang auch auf die erstaunlichen Leistungen ein, die bei Schülerinnen und Schülern festzustellen waren. Sie hatten nicht mehr Zeit zur Verfügung als „sonst dem Schulgesangunterricht zur Verfügung steht", doch gab es allenthalben eine „meist leidenschaftliche Anteilnahme der Kinder an dem selbstgeschaffenen, stets lebendigen Stoffe", die durch Selbsttätigkeit ausgelöst wurde. Sein Musikunterricht war für die damalige Zeit außerordentlich fortschrittlich. An nahezu allen normalen Schulen im Deutschen Reich wurde lediglich Gesangunterricht in großen Gruppen von 40 bis 80 Kindern erteilt, der als Frontalunterricht und nach der „Papageien-Methode", dem Vorund Nachsingen von Liedern, stattfand. Ein Musikinstrument zu spielen lernte man im Privat- und Einzelunterricht. Musikschulen und in ihnen das Ensemble-Musizieren wurden damals nur von wenigen sozial Engagierten erprobt. Es muss auch bedacht werden, dass erst 1927 mit den neuen Richtlinien in Preußen als erstem Land im Deutschen Reich „Gesangunterricht" durch das Fach „Musik" an den allgemeinbildenden Schulen abgelöst wurde. Gesangunterricht und privater Instrumentalunterricht

bestimmten bislang

auch den Bereich Musik an der Odenwaldschule, was sich aus den Vordrucken für die Zeugnisse ablesen lässt. Allerdings wurde das Schulleben durch eigenes Musizieren zu verschiedenen Anlässen begleitet, der Hausmusik des Bildungsbürgertums vergleichbar. Die erforderlichen Fähigkeiten für das Musizieren waren außerhalb des Schulunterrichts erworben worden.

73

Heinrich Jacoby 1935/ 2 2003, 19.

-

Heinrich Jacoby erteilte einen Musikunterricht, der den Schülerinnen und Schülern grundlegende Erfahrungen eröffnete und sie die Spannungsvorgänge, die in Musik wirksam werden können, erleben und erkennen ließ. Dabei stand das Erfinden von Musik zunächst im Vordergrund. Fritz Karsen besuchte in dieser Zeit die Odenwaldschule und schrieb darüber in einer Elternzeitschrift: „Der Musikunterricht des Herrn Jacobi geht von der Annahme aus, daß im Grunde jeder Mensch musikalisch sei. Er führt die Kinder an ganz einfachen Grundübungen (Finden der Tonika, der Tonart usw.) durch Erfahrung zu der Entdeckung, daß auch in ihnen die musikalischen Grundgesetzlichkeiten wirksam sind, und stärkt durch dieses Erlebnis ihre Zuversicht und ihre Kräfte. Anstatt bloß aufzunehmen, werden sie alle produktiv." 74 Heinrich Jacoby dokumentierte jeweilige Leistungsfortschritte

sowohl

für die eigene Forschung als auch für die bewußte Teilnahme der lernenden, indem er von den Schülerinnen und Schülern Klangerscheinungen aufschreiben bzw. ,,notieren" ließ. So konnte er Forschungsinteresse und Lehre an der Odenwaldschule in Übereinstimmung bringen. Unmittelbare Aufzeichnungen seiner empirischen Studien aus dieser Zeit liegen nicht vor. Mittelbare Nachweise finden sich in Zeugnisentwürfen bzw. -abschritten, in denen überwiegend die vorgesehenen Rubriken „Gesang" und „Instrumentalmusik"

handschriftlich durch „Musik" ersetzt worden

sind. Einige Beispiele sollen die Diktion dieser Situationsbeschreibungen verdeutlichen: ,,[...] noch ganz elementar; zeigt zuweilen reges Interesse; nervöse Befangenheit drückt häufig auf die Leistungen, die überhaupt recht ungleich sind."

74

Fritz Karsen 1921.

,,[...] normal begabt; empfindet natürlich; arbeitet eifrig, konzentriert und sehr exakt." ,,[...] ist ungemein empfänglich, ja hegt eine leidenschaftliche Liebe zur Musik, die für seine Erziehung vielleicht wichtig werden kann, wenn er auf diesem Gebiet konzentriert arbeiten lernt." ,,[...] gute Veranlagung; unbefangene und selbständige musikalische Äußerungen anfangs durch einseitige intellektuelle Verbildung gehemmt; nachgerade erfreuliche Fortschritte." ,,[...] trotz guter Veranlagung zeigt [...] einen ausgesprochenen Widerwillen gegen jede Musikübung." ,,[...] zufolge seiner Unbefangenheit vermag [...] sich leicht zu äußern; erscheint dadurch oft auffallend produktiv veranlagt, doch kommt dabei bis jetzt noch nichts Persönliches zum Vorschein; Teilnahme im Unterricht und Fortschritte recht gut." ,,[...] Musik: durch ihre übermäßig intellektuelle Ausbildung ist [...] stark behindert, unbefangen aufzunehmen und sich zu äußern. Bei normalen Anlagen und ungewöhnlich ernster Teilnahme am Unterricht zeigen sich recht erfreuliche Fortschritte."

75

Die Tragweite der Ideen und des Handelns von Heinrich Jacoby, ihre allgemeine Bedeutung für Bildung und Erziehung konnten die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen offenbar nicht erkennen, obgleich an der Schule reformpädagogische Konzepte und reformerisches Denken gängig waren und eine weitergehende Aufgeschlossenheit für neues Denken in Bildungsfragen vermutet werden sollte. Dass in der Kurssystematik nach Otto Erdmann die Bereiche Zeichnen, Singen, Turnen ausgespart blieben, war kennzeichnend für die traditionelle Einordnung der Fächer Kunst und Musik im Sinne herrschender Kunstwerk-Ideologie. Sie sollten ein formales Wissen über Kunstwerke vermit-

75

Archiv der Odenwaldschule.

teln, wobei in der Musik das reproduzierende Einüben von Musikstücken, im künstlerischen Gestalten Techniken für Gestaltungsversuche beigebracht wurden. Für den Sport dagegen galt die reformpädagogisch allumfassende Bedeutung körperlicher Ertüchtigung. Zwar war ein Empfinden für das Erfordernis künstlerischer Bildung offensichtlich vorhanden, alle sollten

-

Techniken des Singens und Zeichnens beherrschen und stoffliche Kenntnisse erwerben. Dennoch wurden musikalische und künstlerische Fähigkeiten, die diese Techniken überschritten, überwiegend als Begabungen verstanden und gewertet, die entweder außerhalb normaler Veranlagung jungen Menschen zur Verfügung standen, sie motivierten, oder bei Unbegabten nicht vorhanden waren und somit vernachlässigt werden konnten. Im Protokoll der 319. Schulgemeinde (3. März 1920) sind in einer „Aussprache über den Tagesplan" Überlegungen notiert, den Musikunterricht entweder während der allgemeinen Schulzeit, dann allerdings in der großen Pause, oder nachmittags stattfinden zu lassen. Heinrich Jacoby sagte dazu: ,,Es ist eine alte Erfahrung, daß man den Nachmittagsunterricht viel leichter behandelt als den Vormittagsunterricht.

Man entschuldigt sich mit

Geburtstagsfeiern etc. Zum Heppenheim-Gehen: die Konfirmanden müssen nach Heppenheim gehen. Deshalb wäre es sehr wünschenswert, daß der Musikunterricht doch in der großen Pause stattfindet. Es handelt sich ja nur um die Zeit bis Ostern, nach Ostern wird ein ganz anderer Plan gemacht." E. Cassirer bemerkte: ,,Ich wundere mich, daß Herr Jacoby sagt, daß er diejenigen Kameraden, die für seinen Unterricht kein Interesse haben und sich mit einer Geburtstagsfeier entschuldigen, nicht veranlaßt, trotzdem zum Unterricht zu kommen. Es geht doch nicht, daß Kameraden einmal zum Unterricht kommen, ein anderes Mal nicht, dann dürfen sie den ganzen Kurs nicht mitneh-

men. Das ist doch bei allen Kursen so, und warum sollte es bei der Musik anders sein?" Paul Geheeb antwortete: „Man wird keinen Kameraden überzeugen können, daß Musikunterricht gleich wichtig ist, wie Latein und Mathem.[atik], dadurch daß man ihn auf den Vormittag verlegt. Diese Überzeugung muß von innen heraus kommen." Mit dem Unterscheiden von wichtigen und weniger wichtigen Fächern, von Fächern, deren Motivation von „innen heraus kommen" solle, und solchen, die beigebracht werden, weil sie die wichtigen seien, lässt Paul Geheeb seine eigene schulische Prägung und sein Eingebundensein in die fachstrukturierte

pädagogische Ideenwelt des 19. und beginnenden 20.

Jahrhunderts deutlich werden - die allerdings heutzutage immer noch gilt! Möglicherweise bestimmte ihn auch eine opportunistische Anpassung an die Vorstellungen der damals geltenden Schulbürokratie. Eine Privatschule war und ist immer auf staatliche Legitimation angewiesen. Paul Geheebs erzieherische Intentionen gingen weit über diese traditionsbestimmten Ansichten hinaus: eine bemerkenswerte Diskrepanz! Otto Erdmann hatte bereits 1919 in seinem Bericht über das Kurssystem an der Odenwaldschule auf das Problem einer Neuordnung von Stoffen, die im Kurssystem zu behandeln seien, hingewiesen. Das fortschrittliche Kurssystem, das entwickelt worden war, konnte der künstlichen Welt von Unterrichtsfächern, die eher gesellschaftliche Interessen abbildeten und abbilden als sachlichen Zusammenhängen folgen, nicht entsprechen. Die angestrebte Selbstbestimmung von Schülerinnen und Schülern benötigte andere Zugänge und Fragen zum Erfassen der Welt und der sie bedingenden Gesetzmäßigkeiten, zur sozialen Existenz des Menschen im System „Welt". Die Überlegungen Heinrich Jacobys eröffnen Perspektiven einer solchen Neuorientierung des „Stoffes" und der schulischen Lernbereiche.

-

-

Er sieht in der Musik eine Möglichkeit des Menschen neben anderen, sich zu artikulieren, etwas zu gestalten, sich über das zu äußern, was innerlich bewegt. Die Erfahrungen, die durch das Erproben des Gestaltens und sich Äußerns gewonnen werden können, sind Voraussetzung dafür, musikalische Äußerungen anderer - auch kunstvolle Gestaltungen, also „Musikwerke" - angemessen nachvollziehen zu können, das heißt den Energien, die diese Werke tragen, nachzuspüren. Aber sie sollen darüber hinausreichen. Erfahrungen mit Musik sollten grundlegender Art sein: Die durch zweckmäßige Aufgaben in Anspruch genommene biologische Ausrüstung, die das auditive Wahrnehmen ermöglicht, eröffnet Erkenntnisse eigener Äußerungs- bzw. Sprachfähigkeiten. Diese Erfahrungen lassen sich auf andere Stoffbereiche als den der Musik übertragen, zunächst auf den der Sprache, doch auch auf jede andere Wahrnehmung, etwa die der Farbe, der Linie, der Bewegung, des Raumes. Das Stoffliche steht nicht im Vordergrund und damit auch nicht das Lernen im üblichen schulischen Sinne. Daraus folgt: ,,[...] Abkehr vom Aufnehmen, Ausschalten des vorzeitigen Verstehen- und Begreifenwollens [bedeutet], bis zu der sich daraus von selbst ergebenden praktischen Beweisführung, daß es tatsächlich für alle Gebiete eine allgemeine Ausdrucks- und Aufnahmefähigkeit gibt." 76 Die Ergebnisse seiner bisherigen Forschung, die er auch durch seine Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in der Odenwaldschule bestärkt sah, hat er 1924 auf dem „2. Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft" in Berlin vorgetragen: ,,Es liegt mir allein daran, Sie auf die tiefliegenden Ursachen aufmerksam zu machen, auf die all die Krankheitserscheinungen zurückzufüh76

Heinrich Jacoby 1925a/ 2 1995, 73.

ren sind, an denen das, was heute fälschlich ,Musik-Kultur' genannt wird, leidet und ohne deren Beseitigung alle nur an der Peripherie ansetzenden Reformversuche zum Scheitern verurteilt bleiben. Diese Ursachen sind nicht leicht zu erkennen. Sie bleiben dem in längst zur Selbstverständlichkeit gewordenen Vorurteilen

und Denkgewohnheiten befangenen

Beobachter verborgen. Außerdem fehlt es für das Weitergeben von Einsichten im Bereich der Musik - mehr als auf irgendeinem anderen Gebiet - an klaren, eindeutigen Begriffen." 77 Der Hinweis darauf, dass Klarheit über Begriffe nur zu finden ist, wenn „selbsttätige Erfahrung[en]" gemacht werden, gilt besonders für „Sinn und Begrenzung des Begriffs ,Musik"': ,,Welche Verwirrung entsteht allein schon dadurch, daß man gewöhnt ist, unter Musik sowohl Klänge (das Klang-Gehäuse) als auch Klangwirkungen zu verstehen!" 78 Und Heinrich Jacoby betonte als Fazit seiner grundlegenden Begriffsbestimmung das Unterscheiden zwischen dem „Akzidentiellen des Stoffes" und dem „Prinzipiellen der musikalischen Energie": „Es kann deshalb nicht oft genug auf den grundsätzlichen Unterschied zwischen Stoff (Klangmaterial und Klanggehäuse) und Musik (Energie, Energieleistung, Zielrichtung) hingewiesen werden." 79 Der Einzelklang, die Klangsorte sind ihm Baumaterial, die Klanganordnung und Klangfolge jeweils Gehäuse für den Stoff der Musik. Die Klangspannung, die Klangenergie, die Zielrichtung sowie die Arbeitsleistung gebrau77

Heinrich Jacoby 1925a/ 2 1995, 30 f.

78

Heinrich Jacoby 1925a/ 2 1995, 31.

79

Heinrich Jacoby 1925a/ 2 1995, 31.

-

chen den Stoff, um zu erscheinen und wirksam zu werden, also sind sie das Wesentliche der Musik, das durch Erfahrungsgelegenheiten Schülerinnen und Schülern, aber auch Erwachsenen nahezubringen ist: „Wir haben es in der Hand, das Bewußt-werden-Lassen durch Schaffung

-

bestimmter Erfahrungsgelegenheiten so zu lenken, daß es nicht störend und zerstörend wirkt. Wo das bereits geschehen ist, kann aber jeder wieder reagieren und funktionieren, sobald er von der Stoffeinstellung befreit ist, unter der die überall latenten Fähigkeiten vergraben liegen." 80 Auf der 392. Schulgemeinde am 6. September 1922 dankt laut Protokoll Herr Geheeb Herrn und Frau Jacoby für ihre Tätigkeit in der Schule. Heinrich Jacoby war „wieder zur Mitwirkung beim Aufbau neuer Schulversuche nach Dresden-Hellerau berufen" 81 worden. Dieser Trennung war eine Aussprache im Frühjahr 1922 vorausgegangen, in der offensichtlich der Konflikt zwischen den Forschungs- und Publikationsinteressen Heinrich Jacobys einerseits und den Interessen Paul Geheebs als Leiter der Odenwaldschule andererseits diskutiert wurde. In der Korrespondenz findet sich ein Schreiben von Paul Geheeb, in welchem diese divergierenden Interessen in Paul Geheebs Verständnis beschrieben sind: ,,[...] Ihren schönen Aufsatz in der ,Tat'82 , der, wie mir scheint, ein so vollkommenes Bild Ihrer pädagogischen Erkenntnis und Ihrer eigentlichen Lebensaufgabe gibt, habe ich kürzlich noch einmal gelesen. Dabei ist mir unter anderem zweierlei recht klar geworden. Einmal, wie schlimm es ist, daß Ihnen in der Odenwaldschule keine erheblich vollkommenere Gelegenheit gegeben worden ist, Ihr großes, reines Wollen völlig in die Tat umzusetzen. Und ferner, daß die Interessen, die sie bei der Lösung Ihrer 80

Heinrich Jacoby 1925a/ 2 1995, 53 ff.

81

Heinrich Jacoby 1935/ 2 2003, 19.

82

Heinrich Jacoby 1925a/'1995,

10 ff.

Lebensaufgabe verfolgen müssen, sich nicht völlig decken können mit dem, was ich als die Aufgabe der musikalischen Erziehung in der Odenwaldschule ansehen muß. In der Abstraktheit einer rein theoretischen, grundsätzlichen Auffassung glaube ich völlig einig mit Ihnen zu gehen, nicht aber mehr, wenn ich die konkreten Tatsachen unserer Gemeinschaft und die Bedürfnisse unseres Schullebens genügend in Rechnung ziehe.

[...1 Was Sie und Ihre Gattin für unsere Gemeinschaft bedeuten, darüber brauche ich kaum mehr ein Wort zu sagen; ich habe es Ihnen oft stark und deutlich zum Ausdruck gebracht. Es liegt also gar kein Anlaß vor, eine Änderung der Verhältnisse möglichst zu beschleunigen, vielmehr empfinde ich Ihre Sache in hohem Grade auch als die unsrige, ganz abgesehen von dem aufrichtigen und herzlichen Interesse, daß wir alle für Sie und Ihre Frau hegen. Also liegt uns wirklich unsagbar viel daran, daß, wenn Sie sich entschließen, Ihr Zelt hier abzubrechen, Sie doch einige Sicherheit haben müssen, es anderswo unter glücklicheren Verhältnissen und mit der Berechtigung auf einen noch erheblich befriedigteren Wirkungskreis wieder aufzurichten."B3

83

Brief vom 24. Juli 1922, JKorr 39 B 2, Jßio 01.

-

„NEUE SCHULE HELLERAU" - 1922 BIS 1925

Als Heinrich Jacoby 1922 nach Dresden-Hellerau zurückkehrte, wurde die „Eurythmie"-Abteilung,

wie sie nun genannt wurde, ,,von der Ameri-

kanerin Christine Baer[-Frisell], einer Schülerin Emile Jaques-Dalcrozes, geleitet"

84 •

Die „Neue (Deutsche) Schule Hellerau", die zweite Abtei-

lung der Bildungsanstalt, leitete Carl Theil 85 , der sie zu einer koedukativen Arbeitsschule formen wollte, in der die Schulgemeinde sich selbst Regeln gab. Eine dritte Abteilung begann etwa 1921 unter der Leitung von Alexander Sutherland Neill 86 als „internationale"

freie Schule. Ab 1922

übernahm Hermann Harless 87 die Aufgabe Carl Theils, von dem Peter de Mendelssohn

88

ein zwiespältiges Charakterbild zeichnete:

,,Er [Carl Theil] war wohl ein Tyrann, ein Mann, der uns Kinder mit seiner starken und unbedingten Persönlichkeit völlig in seinen Bann schlug und schrittweis einen wirklichen Konflikt zwischen seiner persönlichen moralischen und ethischen Autorität und der unserer Elternhäuser schuf. [...] Das ist eine Erscheinung, die allen Landerziehungsheimen eigentümlich ist. Die Schüler Wynekens in Wickersdorf, Geheebs in der Odenwaldschule, Luserkes in der Schule am Meer, Kurt Hahns in Schloß Salem durchlebten unter diesen so verschiedenartigen ,Führerpersönlichkeiten' den gleichen Konflikt." 89 84

Margit Zellinger 1996, o. S.

85

1831-1923, unterrichtete zuvor an der Odenwaldschule.

86

1883-1973, Pädagoge und langjähriger Leiter der von ihm gegründeten „Demokratischen Schule Summerhill" in Leiston (Suffolk).

87

1887-1961, unterrichtete an der Odenwaldschule von 1915 bis 1920, äußerte sich zwiespältig über die Erziehungsansichten Alexander Sutherland Neills gegenüber Paul Geheeb, gründete das Landerziehungsheim Marquartstein in Oberbayern.

88

1908-1982, Schriftsteller und Journalist, Sohn von Georg von Mendelssohn, in dessen Haus in Hellerau Heinrich und Lilly Jacoby zunächst wohnten. Er erlebte in seiner Jugend die Entwicklungen in Hellerau, vgl. Peter de Mendelssohn 1993.

89

Peter de Mendelssohn 1993, 19-20.

-

Hermann Harless hatte nur ein Jahr die Leitung inne, sein Nachfolger wurde Alois Schardt 90 , über den Peter de Mendelssohn urteilte: „Ein dritter Leiter erschien, ein gänzlich ungeeigneter Mann, Dr. Alois Schardt, Kunsthistoriker und Museumsdirektor. Er war mit der Schauspielerin Mary Dietrich verheiratet, die einst im Festspielhaus Claudels ,Verkündigung' gespielt hatte, und sah dem betrauerten Wolf Dohrn merkwürdig ähnlich." 91 Um den Verwaltungsrahmen der Bildungsanstalt insgesamt zu stabilisieren, wurde die „Neue Deutsche Schule GmbH" gegründet, deren Leitung Otto Neustädter

92

übernahm. Heinrich Jacoby war zur Beratung hinzuge-

zogen worden, außerdem wurde ihm die Leitung der musikalischen Erziehung an der höheren Versuchsschule übertragen. Ein Textentwurf Heinrich Jacobys vom Juni 1923, in dem die Intention der Einrichtung Alexander Sutherland Neills dargestellt ist, lässt seine Beratungstätigkeit erahnen: ,,Neben der Neuen Schule und der Schule für Rhythmus, Musik und Körperbildung besteht eine kleine - ihrem Wesen entsprechend auch innerlich isolierte Versuchs-Abteilung (Leitung A. S. Neill) -, in der völlig unabhängig von jeder Art von Lehrplänen und Lernzielen, ohne Stundeneinteilung oder sonstige Beengung einige Kinder beiderlei Geschlechts zusammenleben. Hinter diesem Experiment steht die Theorie der Psychologie des Unbewußten, die das Unbewußtsein für weit wichtiger als das Bewußtsein hält und die davon ausgeht, daß mit Ausschalten aller Widerstände und alles Hemmenden die wesentlichen Möglichkeiten der Erziehungsarbeit erschöpft sind. 90

1889-1955, Kunsthistoriker.

91

Peter de Mendelssohn 1993, 20.

92

1870-1941, Augenarzt.

In dieser Abteilung können Kinder aufgenommen werde, deren Eltern Resultate im Sinne des üblichen Schulwissens oder einer Berufsvorbildung zunächst nicht erwarten. Die Unterrichtssprache ist englisch und deutsch."9 3 Unter der damaligen Korrespondenz

Heinrich Jacobys 94 finden sich

Briefe, von Karl Baer unterschrieben,

die Konflikte mit dem Vorstand

der „Aktien-Gesellschaft

Neue Schule Hellerau" deutlich werden las-

sen, zum Beispiel wegen der Vergütung eines Vortrags von Professor Fritz Kuhlmann aus München zum Thema „Schrift und Schreiben". Eine besondere Schwierigkeit ergab sich aus der Anstellung von Alois Schardt, gegen die einige Mitglieder des Lehrkörpers Einspruch erhoben hatten. Diese Auseinandersetzung führte zu Kündigungen. So kündigte auch Heinrich Jacoby und verließ die Schule zum 1. April 1924. Er und Lilly Jacoby wohnten seit 1922 im Hause des befreundeten Georg von Mendelssohn, der 1910 als Kunsthandwerker

Grand-Prix-Sieger

auf der Weltausstellung in Brüssel geworden war und etwa 1921/1922 eine expressionistische Schrifttype entwickelte 95. Heinrich Jacoby hatte Wohnrecht in diesem Hause, das ihm jedoch nach seiner Kündigung 1924 durch die „Aktien-Gesellschaft

Neue Schule Hellerau" streitig

gemacht wurde. Die Instabilität der Regierungen in der Weimarer Republik in den 192OerJahren und die durch kämpferische Auseinandersetzungen politischer Gruppen verursachten Unruhen, die allenthalben in Deutschland herrschten96, beeinflussten auch den Alltag in Dresden und veranlassten Eltern, ihre Kinder aus der Internatsschule Hellerau abzumelden. Außerdem wurden Finanzierungen wegen der sich beschleunigenden Geldentwertung 93 94 95 96

JKorr JKorr

10B 213. 10. 1999,77 ff. '1996,252-259.

Hans-Jürgen Sarfert Ploetz

4

-

schwierig, im August 1922 begann der schnelle Verfall der Reichswährung. Alexander Sutherland Neills Vermögen zum Beispiel fiel der Inflation zum Opfer, und er sah sich genötigt, seine schulischen Bemühungen abzubrechen. Staatliche Unterstützungen wurden eingestellt. 1925 kam der Schulbetrieb nahezu zum Erliegen. Die Eurythmie-Abteilung

-

siedel-

te mit Christine Baer-Frisell, Valeria Kratina und Ernst Ferand-Freund, wie er sich später nannte, nach Laxenburg bei Wien über. Alexander Sutherland Neill folgte ihnen für kurze Zeit 97, kehrte allerdings bald nach England zurück. Auch Heinrich Jacoby verlagerte seine Arbeit, die nach seiner Kündigung verstärkt in Kursen stattfand, zunehmend nach Berlin. Mit seiner Rückkehr nach Hellerau 1922 konnte Heinrich Jacoby zahlreiche Kontakte wieder aufnehmen und neue knüpfen. Wichtig für seine Arbeit wurden Bekanntschaften mit Mitarbeitern der „Kunst-, Design- und Architekturschule", die 1919 als „Bauhaus" von Walter Gropius gegründet wurde und zunächst in Weimar, ab 1925 in Dessau angesiedelt war. Ideen des „Deutschen Werkbundes", die in Hellerau verwirklicht worden waren, hatte Walter Gropius, der auch dem Werkbund angehörte, bei der Konzeption der Ausbildung am Bauhaus übernommen. Er wollte ähnlich wie im Werkbund Kunst und Handwerk miteinander verbinden und außerdem alle Praxis theoretisch handhabbar machen. Die „Professoren" wirkten folglich als „Formmeister" in ihren Werkstätten; der handwerkliche Umgang mit Objekten sollte den Studierenden Auseinandersetzungen und Erfahrungen mit Werkstoffen und Werkideen eröffnen. Die lehrenden waren als lehrende Künstler und Architekten gleichzeitig herausgefordert, ihre Ideen des Gestaltens für die lernenden einsichtig und anwendbar werden zu lassen. Das geschah oftmals dadurch, dass sie ihre Überlegungen schriftlich darlegten, allgemein zur Diskussion stellten und Methoden entwickelten.

97

Vgl. Rhythmik in der Erziehung 1966, 34; Hans-Jürgen Sarfert '1999, 167.

Mit Laszl6 Moholy-Nagy und dessen Frau Lucia Moholy, die 1923 nach Weimar kamen, verband Heinrich Jacoby ein lebenslanger freundschaftlicher Kontakt. Publikationen von Heinrich Jacoby98 wurden lehrenden des Bauhauses bekannt, wie auch er das Entstehen ihrer damals provokanten Theorien zu ihren „Neubestimmungen der Grundlagen von Kunst, Architektur und Fotografie" miterleben durfte. Wiederholt wies Heinrich Jacoby in späteren Zusammenhängen, etwa in dem Musikkurs der Jahre 1953 bis 195499, auf die Entwicklung kunstspezifischer Gestaltungselemente hin, die mit der Entwicklung abstrakter Malerei deutlich und als kulturhistorisch notwendig diskutiert wurden. In der Musik hatte man geltende Funktionsbestimmungen, nämlich ihre Dienstbarkeit bei der Vertonung liturgischer Texte oder ihre Rekrutierung bei der musikalischen Gestaltung festlicher Aufmärsche für Herrschende, bereits hinter sich gelassen. Mit der Verselbstständigung des musikalischen Ausdrucks in einer „reinen" Instrumentalmusik, die nun für sich und ohne textlichen oder szenischen Bezug gültig war, war die Musik bereits etwa seit zweihundert Jahren zur autonomen Kunstform des Abendlandes entwickelt worden. Paul Klee, der seit 1921 am Bauhaus die Werkstatt ,,Buchbinderei" leitete, schreibt dazu: ,,(...] was für die musik schon bis zum ablauf des achtzehnten jahrhunderts getan ist, bleibt auf dem bildnerischen gebiet wenigstens beginn." 100 Und im Verständnis einer neuen Formensprache der Malerei unterschied Wassily Kandinsky, der zusammen mit Oskar Schlemmer als Formmeister die Werkstatt für „Wandmalerei" leitete, in seinem Buch „Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente" mit Hinweis auf Heinrich Jacoby: 98

Siehe Sophie Ludwig 1984/ 2 1995.

99

Heinrich Jacoby 1954/ 2 2003.

100 Paul Klee 1928, 17.

-

„Und in der Tat materialisieren nicht die äußeren Formen den Inhalt eines malerischen Werkes, sondern die in diesen Formen lebenden Kräfte

=

Spannungen." 101 In einem Brief an Heinrich Jacoby vom 10. März 1926 bedankte Was-

-

sily Kandinski sich für den Aufsatz „Jenseits von ,Musikalisch' ,Unmusikalisch"'

102 ,

und

wobei er bekräftigte, dass seine „malerische These in

Bezug auf das ,Element' sich mit seiner (Heinrich Jacobys] musikalischen Theorie vollkommen deckt."

103

In vielen Bereichen des Handwerks und der Kunst, aber auch in der die Handwerke vereinigenden Architektur konnte Heinrich Jacoby Gesetzmäßigkeiten erkennen, die er für die Musik bereits festgestellt hatte, nämlich die „klare Unterscheidung zwischen dem Akzidentiellen der Stoffgehalte und dem Prinzipiellen der jeweils nur durch Klangbeziehungen wirksam werdenden energetischen Gesetze." 104 Diese Unterscheidung soll die Wirkungen betreffen, ,,die der allgemeinen Äußerungs- und ,Aufnahme'Fähigkeit" zugrunde liegen, allerdings sind die Zusammenhänge zwischen Stoffgehalt und energetischem Gesetz gleichwohl zu beachten und zu bedenken: „Genau wie in der Architektur der Raum erst gestaltet wird, als Resultat empfindbar wird, wenn mit einem Stoff etwas gebaut worden ist, - wie Baumaterial da sein muß, durch das gestützt und getragen wird, aus dem Umfassungsmauern und Wände, Gewölbe und Decken im Dienste des zu schaffenden Raumes entstehen, - genauso und im gleichen Sinne sind in der Musik der Einzelklang, die Klangsorte Baumaterial, die Klanganordnung, die Klangfolge nur Gehäuse, beides nur Stoff. Und wie der Raum, die 101 Wassily Kandinsky 1926, 27. 102 Heinrich Jacoby 1925a/ 2 1995, 29-73. 103 JBio 02. 104 Heinrich Jacoby 1925a/ 2 1995, 53 f.

Raumbildung, die Gewölbespannung das Wesentliche der Architektur ist, das, wozu Material nur benutzt wird, - so ist auch in der Musik die Klangspannung, die Klangenergie, die Zielrichtung, die Arbeitsleistung, die den Stoff nur braucht, um zu erscheinen und wirksam werden zu können, das Wesentliche." 105 Und in einer Anmerkung vergleicht Heinrich Jacoby architektonischen und musikalischen „Raum": „Das heißt von der Seite des Eindrucks gesehen: Erleben läßt sich der architektonische Raum nur ganz, wenn man in ihm steht und damit selbst ein Teil des Raumes wird; - erleben läßt sich der musikalische ,Raum' nur ganz, wenn man seine Gestaltung miterlebt, wenn man (gleichgültig, ob produzierend oder ,aufnehmend') in völliger Gelassenheit den gesetzmäßigen Energieverlauf ungehindert in sich auslösen läßt, sich ihm hingibt, sich ,rühren', ,berühren', sich ,bewegen' läßt." 106 Zum Schluss dieser Darlegungen, die er im Oktober 1924 auf dem „2. Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft" in Berlin vortrug, führt Heinrich Jacoby erneut aus: „Das, was ich am Beispiel der Musik zu klären versucht habe, ist etwas so Grundsätzliches, daß wir statt Klang ebenso Farbe, Linie, Körper, Raum oder Wort setzen könnten. Die wenigen Grundeinsichten und Grundforderungen, die bei der Musik zu bestimmten Schlüsseln und Erfahrungen geführt haben, müssen, wenn sie klar erkannt und konsequent durchgeführt werden, auch auf allen anderen Gebieten zu denselben Resultaten führen." 107 105 Heinrich Jacoby 1925a/ 2 1995, 53 f. 106 Heinrich Jacoby 1925a/ 2 1995, 54. 107 Heinrich Jacoby 1925a/ 2 1995, 72.

Die Kontakte zu lehrenden des Bauhauses haben sicherlich dazu beigetragen, ihm das Allgemeingültige seiner Überlegungen anhand der Erfahrungen von Studierenden und ihren „Formmeistern" vor Augen zu führen und zu bestätigen. Laszl6 Moholy-Nagy suchte ihn zu gewinnen, seine Erkenntnisse in der Buchreihe des Bauhauses zu veröffentlichen, doch standen

-

einerseits seine seit 1922 neben der Tätigkeit an der Neuen Schule Hellerau von ihm durchgeführten Kurse, durch die er zunehmend den Lebensunterhalt für seine Frau und sich sicherte, und die damit verbundene zeitliche Belastung, andererseits die erfolgte Publikation seines umfassenden Vortrages von 1924 „Jenseits von ,Musikalisch' und ,Unmusikalisch'" dagegen. In ihm hatte er seine Gedanken zu den ihn bewegenden Fragen bereits niedergelegt. Die wichtige, wesentliche, ,,einzige wirkliche Förderung für die praktische Weiterentwicklung"

108

seiner Arbeit aber dankte Heinrich Jacoby Eisa

Gindler. Sie lernten sich 1923 kennen 1° 9 . Er schrieb sich erinnernd: ,,Hier war der Versuch einer Erziehung von der Seite des Körpers her, bei dem die bewußte Auseinandersetzung mit den in jedem Menschen latenten ordnenden Tendenzen des Organismus zur Grundlage aller Arbeit gemacht wurde. Anstatt den Körper nach ästhetischen, formalen, optisch bestimmten Vorbildern und ,idealen', mit durch Kommandos oder durch Rhythmen ,geordneten' Bewegungsübungen ,verbessern' zu wollen, stand hier im Mittelpunkt aller pädagogischen Bemühungen das Sicherarbeiten einer wachen Beziehung zu den ordnenden und regenierenden Prozessen des eigenen Körpers aufgrund bewußten Zustandsempfindens. [...] Erst dadurch ist eine präzise, bewußte Beziehung zu den während des Äußerungs- und Verständnisvorganges im Organismus 108 Heinrich Jacoby 1945/ 6 2004, 18. 109 Siehe Brief Heinrich Jacobys an Paul Geheeb vom 16. 10. 1923, JKorr 39 B 2; siehe eidesstattliche Erklärung von Eisa Gindler (1956) zum Wiedergutmachungsantrag von Heinrich Jacoby, Jßio 03.

entstehenden, geworden."

gesetzmäßig

bedingten

Zustandsänderungen

möglich

110

Ab 1926 fanden regelmäßig gemeinsame Sommerkurse von Eisa Gindler und Heinrich Jacoby statt, die erst durch die Diktatur der Nationalsozialisten in Deutschland unterbrochen und schließlich verhindert wurden. ,,Wir haben jährlich Ferienkurse von 1926 bis Sommer 1939 gegeben [...] Nach dem Kriege hat E. G. nur noch bis 1957 an meinen Kursenteilgenommen und später ihre eigenen Kurse mit alten Schülern, die z. T. nie bei mir dabei gewesen waren, alleine geführt."

111

Eisa Gindler und Heinrich Jacoby konnten 1926 jeweils auf umfassende Erfahrungen in der Organisation und Leitung von Kursen zurückgreifen.

112

1922, bei seiner Rückkehr nach Hellerau, hatte Heinrich Jacoby bereits entsprechende Kenntnisse aus München (1918 bis 1919) und aus seiner Tätigkeit an der Bildungsanstalt einbringen können, die ihm in der Beschreibung seiner Tätigkeiten bescheinigt worden waren 113. Außerdem hatte er Einblicke in Lebenssituationen von Kindern und Jugendlichen, die er an der Odenwaldschule unterrichtete, und ihr Arbeitsverhalten gewinnen können. Nun kündigte er seine Kurse unabhängig von Institutionen an: ,,Heinrich Jacoby - Kurse zur Entwicklung der musikalischen Ausdrucksund Aufnahmefähigkeit. Dresden und Hellerau". Zunächst erläutert er die Ziele:

110 Heinrich Jacoby 1945/ 6 2004, 18. 111 Heinrich Jacoby in einem Brief an Franz Hilker anlässlich dessen Aufsatzes zum Gedenken an Eisa Gindler 1961, JKorr B 3. 112 Vgl. Sophie Ludwig/Marianne

Haag 2002.

113 Gutachten der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze, JBio 02.

„Anregung zu unbewußten, spontanen Lebensäußerungen, Schaffung von Gelegenheiten für das häufige Erleben der in jedem Menschen unbewußt vorhandenen gefühlmäßigen Orientierungspunkte

für Form, Rhythmus,

Melodie und Harmonie [...]. Jeder muß die elementaren musikalischen Gesetzlichkeiten und Zusammenhänge er I eben".

-

Dann folgen die Vorhaben: ,,Esfinden zunächst Einführungskurse statt, mit der Aufgabe, durch Auslösung der in jedem Menschen latenten Funktionsmöglichkeiten, durch Entspannungs-, Konzentrations- und Gedächnisübungen die Voraussetzungen zu spontanen Äußerungen zu schaffen, ein intensives Klangvorstellungsvermögen zu entwickeln und die natürliche Ausdrucks- und Aufnahmefähigkeit wieder herzustellen beziehungsweise zu steigern. Gleichzeitig wird die lebendige Auseinandersetzung mit den musikalischen Klang-, Raumund Zeitverhältnissen, mit den Ausdrucksmitteln,

Formen und Stilarten

erreicht. An der Arbeit kann jeder teilnehmen, gleichgültig, ob er musikalisch vorgebildet ist oder nicht oder zu den sogenannten Unmusikalischen gehört. Der Einführungskurs dauert etwa sechs Monate und beginnt Mitte Oktober. Der Unterricht findet zweimal wöchentlich in größeren Gruppen statt. Es sind Kurse für Erwachsene und Kinder vorgesehen. Weiter Fortgeschrittene, Musiker und Lehrer werden besondere Arbeitsgemeinschaften bilden." 114 1925 wurden „Heinrich-Jacoby-Kurse" für Dresden und Berlin angekündigt. Hier wurden Einführungskurs und Fortgeschrittenen-Kurse (A und B) angeboten, die in Dresden stattfanden, sowie ein „Seminar zur Lehrerausbildung" und ein „Kurs für Sänger und Instrumentalmusiker", die in Berlin

114 Kursankündigungen Heinrich Jacobys 1922, JKorr 10 B 56-58.

durchgeführt werden sollten. Außerdem ist ein Ferienkurs in der Schweiz ausgewiesen, der ebenso „voraussetzungslos" stattfinden sollte wie der Einführungskurs.115 Heinrich Jacoby differenzierte also das Kursangebot, und er fand eine Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ohne sein Forschungsinteresse vernachlässigen zu müssen. Der von Paul Geheeb beschriebene Interessenkonflikt wurde aufgelöst und eröffnete den Weg, nicht nur die Forschung zu intensivieren, sondern sie auch methodisch zu sichern: Die Arbeitsgemeinschaften, die er durchführte, wurden durch ein zunehmend dichter werdendes Informations- und Dokumentationsnetz begleitet. Die Teilnehmenden, die bisher schon Fragen zu beantworten hatten, wurden aufgrund der wachsenden gemeinsamen Erfahrungen zu Mitarbeitenden. Das Erforschen ihrer eigenen Möglichkeiten, das Beobachten und Experimentieren (Probieren) verdeutlicht eine Nähe zu Erfahrungswissenschaften wie Physik und Chemie, zu denen im 19.Jahrhundert sogar einige Ausrichtungen der Psychologie gerechnet werden können.

115Kursankündigungen

Heinrich Jacobys

1925,JKorr 10B 59.

JAHRE IN BERLIN -

1926BIS 1933

Bereits für 1919, während seines Aufenthaltes in München, lässt sich ein Konzert in Bern nachweisen, bei dem Heinrich Jacoby am Klavier improvisierte 116.

,,Die Überzeugung von der Wichtigkeit des Improvisatorischen als Grundlage jedes schöpferischen

Verhaltens veranlaßte mich, in diesen Jah-

ren neben meiner immer mehr auf außermusikalische Ziele gerichteten Vortragstätigkeit visationskonzerten

und praktischer

Erziehungsarbeit

die konzertmäßige

musikalische

in eigenen ImproImprovisation

zu

propagieren." 117 Über ein Improvisationskonzert

aus dem Jahre 1924 in Berlin berichtete

Sophie Ludwig, die ihn erstmals bei dieser Gelegenheit kennenlernte:

„ 1924 besuchte ich mit Eisa Gindler, bei der ich meine Ausbildung zur Gymnastiklehrerin

beendet hatte, eine Veranstaltung von Heinrich Jaco-

by im Meistersaal, dem Konzertsaal, der zur Berliner Philharmonie gehörte. Ich erinnere mich nicht mehr an den Titel der Veranstaltung, weiß aber zum Beispiel noch, daß Jacoby improvisiert hat. In diesem Zusammenhang hat er darauf hingewiesen, damals schon, wie entscheidend das menschliche Verhalten für die Qualität der Eindrücke ist, die der Mensch gewinnt. Daß der Ablauf, sich erst ansprechen zu lassen, dann das Bewußtwerden und die intellektuellen

Prozesse ablaufen zu lassen,

entscheidend sind."118 116Konzertankündigung für den 6. Oktober 1919im 02. 117Heinrich Jacoby 1935/2 2003,17. 118Rudolf Weber 1983,3.

Fueter'schen Haus in Bern (Schweiz), Jßio

-

Heinrich Jacoby unterschied den „Klangstoff"

von der „Energie", durch

welche dieser Klangstoff „verlebendigt" wird. Das betraf auch die Intention seiner Improvisationskonzerte,

und er erläuterte:

In einem „ganz und gar veränderten Stoff, in einem bis zur Unkenntlichkeit

-

entstellten Gehäuse [kann] die grundlegend gleiche energetische Situation geschaffen werden! Ich meine das, was bei den bekannten ,Variationen über ein bekanntes Thema' vor sich geht. Trotz gekünstelter Veränderungen und Verzerrungen des Klanggehäuses, trotz gleichzeitiger vollkommener Verwischung jener ,Elemente' Rhythmus, Harmonie und Melodie, kann doch stets das Wesentliche des ursprünglichen Themas erkennbar bleiben, ohne daß auch nur ,eine Note' aus dem ursprünglichen Thema dabei zu erklingen braucht! Noch überzeugender - den naheliegenden Einwand der Gedächtnisnachwirkung des vorher gespielten oder schon genannten Themas ausschaltend - ist es, wenn man die Variation als ,Rätsel' benutzt: Wenn man mit der Variation über ein dem Hörer bekanntes Thema (etwa über ein Volkslied) anfängt, das Thema vorher weder spielt noch nennt und allein aus den Variationen erkennen läßt, welches Thema gemeint ist. Auch in diesem Falle kann jeder - auch wenn das Gehäuse, der Stoff bis zum letzten Element verändert worden war - das zugrunde liegende Thema ,erraten'. Mit nichts anderem läßt sich so überzeugend verdeutlichen, daß die ,Grundlagen' unserer Musik - Rhythmus, Melodie, Harmonie - sekundäre Stoffeigentümlichkeiten sind. Je mehr der Zuhörer dabei auf den Stoff achtet, desto mehr wird er durch Stoffveränderungen, durch Abweichungen vom Gewohnten irregeführt. Je weniger er überhaupt zuhört, das heißt, je vollkommener er nur den Energieverlauf auf sich wirken läßt, desto schneller drängt sich das in seinen wesentlichen Spannungsbeziehungen - auch bei völliger Stoffveränderung - gleich gebliebene Urbild auf, - desto leichter und sicherer kann ,erraten' (empfunden und erkannt) werden, was gemeint ist." 119

119 Heinrich Jacoby 1925a/ 2 1995, 63.

1926 verlagerte Heinrich Jacoby seinen Wirkungskreis nach Berlin, also von Sachsen nach Preußen, wo er zuvor schon durch vielfältige Tätigkeiten wie Vorträge, Kurse, Konzerte in Fachkreisen bekannt geworden war. In seinen Kursen versammelten sich jeweils 30 bis 40 Personen, für die er zunächst, vor seinem Umzug nach Berlin, den Raum einer Musikschule mietete. Sophie Ludwig hat diese Bemühungen unterstützt: „Damals gab es eine Zuzugssperre für Berlin. Jacoby durfte also nicht übersiedeln. Ich wollte mich gern selbständig machen und fand zufällig eine große, geräumige Altberliner Wohnung am Schöneberger Ufer. Die war gut in zwei Wohnungen aufteilbar. Ich bot Jacoby an, eine Hälfte dieser Wohnung als mein ,Untermieter' zu übernehmen. Das war die einzige Möglichkeit für eine Übersiedlung nach Berlin. Ab 1926 hatte dann Heinrich Jacoby seine Kurse in diesen Räumen, große Kurse, Einführungskurse mit dreißig, vierzig Menschen und mehr. Lehrer, Kindergärtnerinnen, Jugendleiterinnen, Gymnastiklehrerinnen, Ingenieure, Musiker, Schauspieler, Ärzte, Psychologen, Psychoanalytiker kamen in diesen Kursen zusammen - oft Menschen, die auf ihren Gebieten Besonderes leisteten. Die gehörten auch zu den persönlichen Freunden von Jacoby. Die Kurse gliederten sich allmählich nach Themen. Es gab auch einen Kurs, der morgens bei Eisa Gindler arbeitete und dann mit Eisa Gindler zu Heinrich Jacoby ging. Es war ja der Beginn der intensiven Zusammenarbeit dieser beiden ungewöhnlichen Menschen. [...] Eisa Gindler, ein ungewöhnlicher Mensch, leitete seit 1917 ein eigenes ,Seminar für Harmonische Körperausbildung', ein Ausbildungsseminar für Gymnastiklehrerinnen in Berlin. Sie gab außerdem Laienkurse. Durch Intuition geleitet, war sie zeitlebens auf der Spur gesetzmäßiger Funktionsabläufe bei Bewegungs- und Atmungsprozessen und Regenerationsmöglichkeiten des Menschen. Sie führte die Menschen zu bewußtem Empfinden und Erkennen ihrer Zustände und zu Möglichkeiten von Zustandsänderungen in Richtung gesetzmäßiger Ordnung.

-

Sie hat unter anderem das Problematische bei Entspannungsübungen die körperliche und geistig-seelische Erschlaffung darin - aufgedeckt und erstmalig die für die gesamte Körpererziehung so wichtige Unterscheidung von Erschlaffung und Lösungsprozessen, die im menschlichen Organismus die ihm von Natur angemessene gesunde Spannung und Leben-

-

digkeit sichern, erarbeitet. Selbsterfahrung - ein heute viel mißbrauchtes Schlagwort - auch im Alltagsleben, war dabei Grundlage ihrer Arbeit, in der menschliche Wärme und unmittelbare leitete."

Naturverbundenheit

sie

120

Zur Zusammenarbeit von Heinrich Jacoby und Eisa Gindler (1926) äußerte sich auch Margaret Locher im Interview: „Ich besuchte gleichzeitig einen Kurs bei Eisa Gindler. Es war die Zeit, in der Eisa Gindler und Heinrich Jacoby zwar noch nicht gemeinsam arbeiteten, aber sich gegenseitig in ihren Kursen besuchten. Das habe ich damals miterlebt. Und diese Möglichkeit verhalf mir zu Einsichten: wenn ich bei Eisa Gindler hinter irgend etwas nicht kam, geschah es nicht selten, daß ich bei Jacoby plötzlich begriff, und umgekehrt. Das war für mich sehr erlebnisreich. Die Arbeit beider war unterschiedlich, jedoch ich spürte, daß es um die gleichen Dinge ging. Bei Eisa Gindler war manches gefühlsbetonter in der Arbeit, wogegen Jacoby seine Erkenntnisse schon damals sehr klar formulierte."

121

Sophie Ludwig schilderte weiterhin, wie die in den Einführungskursen angeregten Erfahrungen mit Verhaltensproblemen, mit Chancen der Funktions- und Entfaltungsmöglichkeiten in die fortführenden Kurse getragen

120 Rudolf Weber 1983, 3-4. 121 Rudolf Weber 1983, 25.

wurden und hier zur Auseinandersetzung mit Themen wie „Empfinden Denken - Sprechen" oder zur zweckmäßigen Fragestellung bei der Erarbeitung der Schreibschrift, den Gestaltungsprozessen mit Farbe und Form führten. Die Zusammenarbeit mit Eisa Gindler bestärkte Heinrich Jacoby darin, Musik lediglich als ein Beispiel für allgemeine menschliche Wahrnehmungs- und Ausdruckskompetenzen zu sehen: ,,überall galt das Gleiche: für die Muttersprache und die Fremdsprachen, für das Zeichnen oder die Mathematik, wie für Musik und die Bewegung. Deutlich und unabweisbar trat die Schuld der derzeitigen Kleinkindererziehung, der ,Lern'-Methoden der Schulpädagogik und der Art der angestrebten Lehrziele an der Erzeugung von ,Unbegabtheit' zutage!" 122 Mit seinen Untersuchungen der Übereinstimmung von menschlichen Äußerungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten bzw. mit der Beobachtung der durch Erziehung vielfach verursachten Störung bei der Entfaltung dieser Möglichkeiten richtete sich Heinrich Jacobys Fragestellung zunehmend auf anthropologische, genauer: auf die anthropologisch-biologische Dimensionen des Zusammenhanges, auf die „systematische Erforschung der allen Ausdrucksgebieten gemeinsamen biologischen Grundlagen der menschlichen Wahrnehmungs- und Äußerungsfähigkeit. Beim Studium der Beziehung zwischen Verhaltensweisen und Urteilen ergab sich die Aufdeckung der Existenz allgemein gültiger, objektiv und exakt kontrollierbarer gesetzmäßiger Abläufe in jedem Äußerungsvorgang. Energetische Phänomene, dynamische Prozesse, denen wir unbewußt gehorchen, unabhängig von individuellen Meinungen und ästhetischen Wünschen, und die wir ebenso unbewußt stören, wenn in unserem

122 Heinrich Jacoby 1935/ 2 2003, 17.

Gesamtzustand die Beziehung zum Wesentlichen dessen, was wir äußern wollen, gestört ist; - gestört sowohl durch außersachliche Absichten ,zu wirken', durch ästhetische Vorbilder oder Wünsche, wie durch alles sonst, was zu ,Verhalten auf Vorrat' führt und hindert, sich der ,Einstellwirkung' und der dynamischen Tendenz zur Ruhe zu überlassen." 123

-

Formulierungen wie „energetische

Phänomene, dynamische Prozesse,

denen wir unbewusst gehorchen" haben immer wieder dazu verleitet, eine besondere Nähe Heinrich Jacobys zu Überlegungen und Konzepten der Gestalttheoretiker

(Berliner Schule) herzustellen bzw. zu Vertretern

der Ganzheitspsychologie (Leipziger Schule). Es wurde sogar der Vorwurf erhoben, Heinrich Jacoby habe sich in seinen Überlegungen der Einsichten dieser Schule bedient, ohne diese Quelle hinreichend ausgewiesen zu haben. Die bedeutsame Arbeit von Christian von Ehrenfels „Über Gestaltqualitäten"124 war Heinrich Jacoby wahrscheinlich

bereits aufgrund seiner

Studien an der Universität Straßburg bekannt, was wohl auch für die „Tonpsychologie" von Carl Stumpf 125gelten kann. Christian von Ehrenfels wies unter anderem anhand der Möglichkeit, Melodien zu transponieren, eine Gestalteigenschaft nach, die er „Übersummativität"

nannte. Ihr zufolge ist

das Ganze mehr als die Summe seiner Einzelteile. Diesem Axiom folgte auch Carl Stumpf, wenn er feststellte, dass Wahrnehmungen in solchen Ganzheiten erfolgen, womit die „damals übliche Trennung von Perzeption (Aufnahme von Sinnesreizen) und Apperzeption (Beurteilung und Bewertung, Wahrnehmung im engeren Sinne)" 126abgelehnt wurde. Die Annahme der Existenz „energetischer sich bereits bei Aristoteles, der sie als 123Heinrich Jacoby 1935/2 2003,17-18. 124Christian von Ehrenfels 1890. 125Carl Stumpf 1883,1890. 126Helmut Rösing, Herbert Bruhn 1993,24.

Phänomene" allerdings findet

energeia- im Verständnis von Tat-

kraft, Handeln, der Fähigkeit zum Durchhalten, der Wirksamkeit und Wirklichkeit - von

dynamis,der Möglichkeit oder Potenz, wirksam zu werden,

unterscheidet. In beiden Phänomenen sah er Grundbegriffe seiner Philosophie, die sich nicht weiter ableiten lassen. 127 Seine Studien der Philosophie haben Heinrich Jacoby sicher auch mit der Begriffsgeschichte dieser für Wahrnehmen und Erkennen grundlegenden, sich jedoch stetig wandelnden Fragestellungen konfrontiert. Wenn er zum Beispiel auf den Naturwissenschaftler und Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald hinweist, dessen Farbenlehre 128 1918 wesentliche neue Einsichten in diesen Problemkreis eröffnete, lässt er ein anderes Verständnis des Energie-Begriffs zu Worte kommen. Wilhelm Ostwald hatte mit dem Begriff „Energetik" den Mittelpunkt des von ihm vertretenen energetischen Monismus im Zusammenhang seiner Naturphilosophie benannt und ,,Geistesleben als Transformation der Energie" 129 gedeutet. Der Gebrauch einer Terminologie, die im wissenschaftlichen Diskurs der Zeit auf unterschiedlichem wissenschaftlichen Hintergrund basierend verbreitet war und die also auch in den Schriften der Gestalttheoretiker zu finden ist, sollte nicht dazu verleiten, Heinrich Jacobys vielseitige Offenheit für Forschungen seiner Zeit zu verkennen und ihn einseitig einer Denkrichtung damaliger Zeit zuzuordnen. Die psychologische Forschung hatte ihre Wurzeln überwiegend in der Philosophie, empirische Grundlegungen erfolgten in ihr erst nach und nach. Heinrich Jacoby jedoch orientierte sich naturwissenschaftlich, wie seine Ausführungen zu den Gesetzmäßigkeiten der Physik, Chemie, Biologie zeigen. Die Gestalttheoretiker suchten in ihren Konzepten eine „Gleichberechtigung von Geist und Materie" nachzuweisen „als Kampfansage gegen den ldealismus" 130.

127 Vgl. die Stichwörter „Dynamik", ..dynamis", ..Energetik", .,Energie" in: Arnim Regenbogen, Uwe Meyer 1998, 162, 163, 182; sowie Klaus Jacobi 1975, 930-947. 128 Zum Beispiel Heinrich Jacoby 1945/ 6 2004, 26. 129 Wilhelm Ostwald 1918 ff. 130 Helga de la Motte-Haber 1985, 413.

-

Das galt auf die Musik bezogen auch für Ernst Kurth, der ein allgemein gültiges Verstehen von Musik ableiten wollte und es durch seine Theorie der Musik zu begründen suchte. Ausgangspunkt seiner Überlegungen waren ihm die in der Ganzheit Musik wirksamen Kräfte, wozu er die IsomorphieDoktrin der Gestalttheoretiker aufgriff. Helga de la Motte-Haber schrieb

-

hierzu: „Die Einfachheit seines musiktheoretischen

Systems macht einen Teil

seiner imposanten Wirkung aus. Die Grundlage eines musikalischen Eindrucks ist das Erleben einer Bewegung, einer vorwärtsdrängenden kinetischen Energie, der spannungsvoll entgegengesetzt eine potentielle ruhende Kraft ist. In seiner Habilitationsschrift ,Die Voraussetzungen der theoretischen Harmonik und der tonalen Darstellungssysteme' (1913) präsentierte er - noch weitgehend frei von den ideologischen Begründungen - diese Energieverhältnisse durch die Aktivitäten, die von den Fundamentschritten des Basses ausgehen [...]." 131 Dieses dem Vitalismus zugeneigte Verständnis geht von der Entelechie, von im Organismus vorhandenen Kräften aus, die zur Selbstverwirklichung und Selbstvollendung drängen. Auch Heinrich Jacoby erkennt im Menschen eine Autonomie des Lebens, doch begründete er Klangerscheinungen, also auch die Funktion von Tönen innerhalb von Klangsystemen verschiedener Kulturen, physikalisch 132 . Darüber hinaus sah er den Menschen eingebunden in die naturgegebenen Gesetzmäßigkeiten, denen alle „Teile" der Erde unterliegen. 133 Diese grundlegenden und für ihn allgemein gültigen Erfahrungen und Feststellungen hat Heinrich Jacoby nach und nach in seinen Vorträgen 131 Helga de la Motte-Haber 1985, 419. 132 Heinrich Jacoby 1953/ 1 2003, 95 ff. 133 Siehe Heinrich Jacoby o. J.; Erstveröffentlichung auf Seite 121-127.

entwickelt und auch publiziert.

134

Stellte er zunächst Beobachtungen im

Bereich der Musik - und darin eingebunden Musik und Bewegung, Musik und Sprache - vor, so gerieten sowohl durch vielfältige Anregungen, etwa durch Künstler und Architekten, vor allem aber durch die Zusammenarbeit mit Eisa Gindler allgemeine Fragestellungen in den Blick. Die Kurse für Fortgeschrittene änderten ihren Charakter, sie wurden zu Arbeitsgemeinschaften,

in denen das gemeinsame Probieren und der

Austausch über Erfahrungen in das Zentrum des Interesses rückten. Die Intention charakterisierte Sophie Ludwig so: „Es waren ja nach Alter, Herkunft, Beruf und persönlicher Geschichte sehr verschiedene Menschen in den Kursen beieinander. Wenn sich nun bei diesen Menschen aufgrund bestimmter Aufgabenstellungen gleiche Ergebnisse einstellen, zum Beispiel Zustandsänderungen, deutliche Verbesserungen der Qualität ihrer Äußerungen, so wird erkennbar, daß es sich um Allgemeingültiges, Gesetzmäßiges dabei handeln muß." 135 Sophie Ludwig wies auch darauf hin, dass Heinrich Jacoby während dieser Kurse viel gesprochen habe und dadurch versuchte, die ,,persönlichen Probleme der Mitarbeitenden und ihre Versuche auf Grundsätzliches zurück zu führen und in größere Zusammenhänge zu bringen. Er ließ immer wieder deutlich werden, daß es sich bei stofflich recht unterschiedlichen Erscheinungen oder Situationen funktionell um Gleiches handele. Gesetzmäßigkeiten von verschiedenen Gebieten her erkennen zu lassen, war ihm wichtig, Analogien finden zu lassen. [...] Den Mitarbeitenden gab er großen Freiraum - zum Probieren. In der Sache, um die es jeweils ging, gab es kein ,Ungefähr', keinen Kompromiß." 136 134 Die Vorträge sind weitgehend veröffentlicht in: Sophie Ludwig 1984/ 2 1995. 135 Rudolf Weber 1983, 7. 136 Rudolf Weber 1983, 7.

-

Seine in Vorträgen dargestellten Beobachtungen, Erfahrungen und Überlegungen wurden von einer interessierten Öffentlichkeit nachgefragt. Sein Vortrag „Aufgaben der Musik in der allgemeinen Erziehung", den er am 5. Mai 1921 neben Fritz Jöde und Hilmar Höckner auf der Kunsttagung des ,,Bundes entschiedener Schulreformer" hielt, wurde in mehreren Publika-

-

tionsorganen unter verschiedenen Titeln abgedruckt.

137

Von den nachfolgend publizierten Vorträgen - ,,Jenseits von ,Musikalisch' und ,Unmusikalisch"' (1924), ,,Die Befreiung der schöpferischen Kräfte dargestellt am Beispiele der Musik" (1925)138, ,,Muss es Unmusikalische geben?" (1927) - ließ Heinrich Jacoby sich Sonderdrucke anfertigen, die er direkt an Interessierte abgab 139, zum Beispiel an den Komponisten Paul Hindemith in Frankfurt am Main oder an Herman Nohl 140, Professor für Pädagogik an der Universität Göttingen. Heinrich Jacobys Diskussionsbeiträge wurden also in den vielfältigen Bildungsbestrebungen der Nachkriegszeit wahrgenommen und weckten Interesse.

137 Heinrich Jacoby: Aufgaben der Musik in der allgemeinen Erziehung. In: Die neue Erziehung, 3. Jg., Heft 5, 1921, 155-158; in: Muse des Saitenspiels. Fach-und Werbe-Monatsschrift für Zither-, Streichmelodia und Lautenspiel, 3. Jg., Heft 7, Juli 1921; Grundlagen einer allgemeinen Musikerziehung. In: Die Lebensschule, Heft 10, 1922, 44-45; Grundlagen einer schöpferischen Musikerziehung. In: die Tat. Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur, Märzheft 1922; in: Das Buch der Erziehung, hg. v. Max Epstein, Karlsruhe 1922, 68-89. 138 Vortrag, dem sich eine Reihe praktischer Demonstrationen anschlossen, gehalten auf der ,,III. Internationalen Pädagogischen Konferenz" in Heidelberg 1925. 139 Heinrich Jacoby hat über die Abgabe der Sonderdrucke Buch geführt, Archiv der HeinrichJacoby/Elsa-Gindler-Stiftung. 140 JKorr 6 B 1.

EXKURS: MUSIK UND VOLKSBILDUNG

Nach den demoralisierenden

und von vielen als fatal empfundenen

Erfahrungen im und nach dem Ersten Weltkrieg galt „Bildung" allgemein als wesentliche Komponente eines sich erneuernden Staatswesens und nötig für die Entwicklung nationalen Selbstbewusstseins. schaftliche

Die gesell-

Erneuerung sollte durch das Potenzial der Jugend gewon-

nen werden. Wissenschaft, Pädagogik und die Künste richteten ihre Aufmerksamkeit auf Kinder und Jugendliche. 141 Auf der Jugend ruhten Hoffnungen, die sowohl vor als auch nach dem verlorenen Krieg bestanden und im gewandelten Staatswesen der Weimarer Republik scheinbare Übereinstimmung bei der beabsichtigten Erneuerung der „Volksgemeinschaft'' suggerierten - solange die trennenden Details unbeachtet blieben. Für die musikalische Bildung wurde zunächst das Bestreben des Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung wirksam. In seinen „Musisch-musikantische[n]

Lebenserinnerungen"

142

beschreibt

Leo Kestenberg, wie er den Platz, auf den er durch die Berufung ins Ministerium gestellt worden war, verantwortlich ausfüllen wollte und deshalb im Rückgriff auf Bestrebungen vor und während des Ersten Weltkrieges seine programmatische Schrift „Musikerziehung und Musikpflege" entwarf. Darin konzipierte er die Organisation eines Musiklebens, die das gesamte Volk betraf, bei der das lneinanderwirken derjenigen bedacht wurde, denen „Musik als eine allgemeine Sprache des Gefühls" gilt, also ein Miteinander der Dilettanten und Musikliebhaber mit den professionellen Musikern, die „aus innerer Notwendigkeit und Begabung Musik" zu ihrem Berufe machen. Leo Kestenberg schrieb dazu:

141 Ulrich Günther 1987, 160-175. 142 Leo Kestenberg 1961, 42 ff.

-

Das „meiste von dem, was ich dort verlangt, geplant und projektiert habe, ist bis 1932, also bis zu meiner zwangsweisen Versetzung in den einstweiligen Ruhestand durch die Regierung Papen, Hitlers Schrittmacher, verwirklicht worden. Hitler wollte zwar alles, was mit meinem Namen in Verbindung stand, auslöschen und ausradieren, aber alle von mir vorge-

-

schlagenen und durchgeführten Erlasse blieben auch unter dem nationalsozialistischen Regime weiter in Kraft dank ihrer sachlichen Fundierung und der Einsicht damals maßgeblicher Musikerzieher." 143 Nachdrückliche Förderung sollte sich auf die „Menge, die die Musik um des inneren Gewinns willen liebt und ausübt", richten, denn: „Ohne den breiten und tiefen Grundbau einer Musikübung und -Pflege des Volkes kann die höhere Tonkunst ebenso wenig gedeihen wie die künstlerische Kultur." 144 Besonders an dieser Intention lässt sich erkennen, mit welchen Schwierigkeiten das Bestreben Leo Kestenbergs konfrontiert und mit welcher Vieldeutigkeit der Begriff „Volksbildung" verbunden war. Für Vertreter des Staates stand ein Zusammenhalt der „Volksgemeinschaft" im Vordergrund des Interesses, betroffene Fachleute argumentierten gegen eine sich verbreitende Inkompetenz. Der staatliche Eingriff in den privaten Musikunterricht mit der Auflage, einen „Unterrichtserlaubnisschein"

145

als „Pri-

vatmusiklehrer" zu erwerben, vor allem aber die Modalitäten zur Vergabe solcher Zertifikate wurden unter dem Gesichtspunkt der „Qualitätssicherung" kritisiert. Die Übergangsregelung, bewährte Künstler und Pädagogen anzuerkennen, durch die auch Heinrich Jacoby ein Zertifikat bekam, konnte noch toleriert werden. Aber Genehmigungen „ohne Nachweis" an 143 Leo Kestenberg 1961, 42-43. 144 Leo Kestenberg 1921, 56. 145 Wilhelm Schaun 1925/1977, 50-52.

„Leute über 35 Jahre", nur weil diese bereits unterrichtet hatten, wurden als „Stabilisierung des Pfuschertums" verworfen. Der Hinweis im Erlass für das Land Preußen: ,,Die Anforderungen der Prüfung sollen nicht zu hoch gestellt werden" verstärkte diese Ablehnung noch. Die Reaktion der Privatmusiklehrer lautete: ,,Wo man also hinschaut, weder Fisch noch Fleisch, wo doch nur ein Entweder-Oder helfen könnte." 146 Eine „Vereinbarung zwischen dem ,Reichsverband Deutscher Tonkünstler und Musiklehrer' E. V. und den Leitern der Volksmusikschulen"

147

(1927)

sollte schließlich die Interessen der Privatlehrer an Musikschulen und Konservatorien gegenüber den „Emporkömmlingen" der Volksmusikschulen wahren. Der Einfluss von Vertretern der Jugendmusikbewegung auf Gründung und Zielsetzung der Volksmusikschulen war jedoch unverkennbar und nicht aufzuhalten. Mit ihren gemeinschaftsbildenden Intentionen, die sie auch im Erziehungssystem allgemeinbildender Schulen zu verankern suchten, bereiteten sie einer Ideologisierung des Verständnisses von ,,Volksgemeinschaft" den Boden. Doch Diskussionen um die Situation des Musiklebens und zu lösende Probleme wurden auch auf anderen Ebenen geführt. Beispiele finden sich etwa in der Zeitschrift „Musik und Gesellschaft", die von April 1930 bis Februar 1931 erschien und von Fritz Jöde unter der Schriftleitung von Hans Boettcher gegründet wurde. Das erste Heft der Zeitschrift war dem Thema „Musik und Gesellschaft" gewidmet und versammelte Meinungen zur gesellschaftlichen Notwendigkeit der Musik. Der Musikwissenschaftler Heinrich Besseler schrieb über „Gebrauchsmusik": „Die Alltäglichkeit, aus der die hohe Kunst herausführen will, ist für die Gebrauchsmusik sinngemäßen

das Lebenselement.

Ursprung

146 Wilhelm Schaun 1925/1977, 50-52. 147 Vereinbarung 1927/1977, 55-56.

(...] die Frage nach dem

unseres Musizierens. Sie ist aus der Prob-

-

lematik der Gegenwart geboren, aus unserm Zweifel an der Allgemeingültigkeit der unmittelbaren Tradition, unserer Ratlosigkeit, was nun werden soll, und Unsicherheit, was wir überhaupt erwarten. Sie lenkt unsern Blick auf den Zustand der Musik vor jener Entzweiung von Kunst und Dasein

-

und somit auf ein ursprüngliches Leben, dessen gesammelte Kraft die Musik inmitten des Alltags zu tragen vermag."148 Der Komponist Paul Hindemith stellte Forderungen an den musizierenden Laien: „Der musizierende Laie, der sich ernsthaft mit musikalischen Dingen befaßt, ist ein ebenso wichtiges Glied unseres Musiklebens wie der ernsthaft arbeitende Musiker. [...] Durch ständiges gemeinschaftliches Arbeiten wird es dem Komponisten sicher möglich sein, die Literatur zu schreiben, die der musizierende Laie braucht, wie er dem Laien helfen wird, seinen Geschmack zu bilden, seine musikalische Erziehung zu fördern und ein noch wichtigerer Faktor im Musikleben zu sein, als er heute schon ist."149 Der Tapezierer Kurt Wilhelm Naumann, der 1930 als Hausmeister arbeitete, konnte der fürsorglichen Sicht von Komponisten oder ausübenden Musikern nicht folgen: ,,Für den Arbeiter fehlt bei der Berührung mit der Musik die Glorifizierung. [...] Die Sorge um das tägliche Brot erwürgt jede Kunstbegeisterung. [...] Die Fragestellung ,Musik und Gesellschaft' muß darum notwendiger Weise den Problemkomplex des Soziologischen sehr weit spannen,·um das gesellschaftliche Sein in seiner Kompliziertheit erfassen zu können. Dazu

148Heinrich Besseler 1930/1978, 4-5. 149Paul Hindemith 1930/1978, 8-10.

ist es aber notwendig, aus den reinen Sphären der Kunst hinunter zu steigen in die graue Welt des wirtschaftlichen Alltags." 150 Der Konzertpianist Fritz Thöne sah den Anlass für das Jammern seiner Kolleginnen und Kollegen in ihrem Unvermögen, auf Zeitumstände angemessen zu reagieren: ,,Nirgends sonst bei den Künstlern ist eine solche Weltfremdheit und Isolierung zu spüren wie bei den Musikern. Das kann man mit dem Unstofflichen der Musik etwas entschuldigen, aber die heutige Zeit duldet keinen Rückstand, sondern erfordert gründliche Besinnung." 151 Einer der einflussreichsten Musikpädagogen dieser Zeit war Fritz Jöde, der Herausgeber von „Musik und Gesellschaft".

Er vertrat Ziele der

Jugendmusikbewegung, auch die Idee der Volksmusikschulen, und ließ auf großen Veranstaltungen, die als „offenes Singen" 152 bezeichnet wurden, deutlich werden, welche gemeinschaftbildende

Kraft dem gemein-

samen Singen von Volksliedern innewohnen kann: So sangen 4000 Personen in der Jungfernheide zu Berlin, zumeist junge Menschen, begeistert miteinander! In solchem „gemeinsamen Tun der Jugend" sah er die Hoffnung begründet, wieder zu den Wurzeln des Volkes zu gelangen. In der Volksschule und nicht nur im Gesangunterricht sollte damit begonnen werden: „So können alle diejenigen, die dem werdenden Strom nachspüren, schon ganz deutlich erfahren, daß Musik etwas anderes als ein letztes entbehrliches illustratives Beiwerk werden möchte, nämlich der klingende und 150 Kurt Wilhelm Naumann 1930/1978, 10-12. 151 Fritz Thöne 1930/1978, 14. 152 Hermann Reichenbach 1930/1978, 166-167; siehe auch: Archiv der Jugendmusikbewegung (1980), 478-498.

-

somit reinste Ausdruck eines Lebens selbst und damit selbst Lebensnotwendigkeit. Dieser Sinn offenbart sich wie in der schaffenden Musik, so in der Volksund Jugendmusikpflege und also auch in der Musik der Schule [...] So sehen wir denn hier die Aufgabe der Musik nicht mehr innerhalb ihrer

-

eigenen Unterrichtsgrenzen verankert."

153

153 Fritz Jöde 1928, 8-9.

(...], sondern im Ganzen des Schullebens

EINE UNBEQUEME POSITION

Solche Meinungen zur gesellschaftlichen Bedeutung von Musik, vor allem aber die Diskussionen über Erziehungs- und Bildungsfragen waren Heinrich Jacoby vertraut, zumal er ein Sammler von Informationen aus Zeitungen und Zeitschriften war und auch an Tagungen der Pädagogen und Musikpädagogen teilnahm. Es ist deshalb zu vermuten, dass seine Vorträge immer auch als grundsätzliche Stellungnahmen gegenüber der Meinungsvielfalt zum Thema gesellschaftlicher Erneuerung, Volksbildung und gegenüber der Bedeutung von Erziehung zu verstehen und entsprechend zu lesen sind. Es war Heinrich Jacoby bewusst, wie leichtfertig in der Öffentlichkeit ähnlich klingende Formulierungen vereinheitlicht und der Meinung anderer subsumiert wurden. 1921 weist er zum Beispiel Georg Schünemann, den stellvertretenden Direktor der Akademischen Hochschule für Musik in Berlin und Koordinator der Schulmusikwochen, im Zusammenhang mit seinem eingereichten Manuskript „Aufgaben der Musik in der allgemeinen Erziehung" auf diese Problematik hin. Heinrich Jacoby wollte seine Überlegungen auf der Schulmusikwoche 1921 in Berlin vorstellen, konnte jedoch wegen einer Erkrankung nicht anreisen. Georg Schünemann schrieb ihm zwar: „Ich glaube nicht zu viel zu sagen, wenn ich Ihnen mitteile, daß alle von Ihnen aufgestellten Grundlinien auch von den Vertretern einer neuen Schulmusik betont worden sind. Es scheint so, als ob die von Ihnen gegebenen Anregungen sich überall Bahn brechen. Viele Ihrer Leitsätze (und die grundlegenden sämtlich) sind auf der Schulmusikwoche ausgesprochen worden. Um so mehr freute ich mich, in Ihrem Manuskript die Bestätigung dafür zu finden, daß auch Sie sich dieser neuen Richtung voll anschließen." 154

154 Jßio 02.

-

Heinrich Jacoby antwortete jedoch: ,,[...] und bedaure sehr, mich nicht an den kommenden Diskussionen beteiligen zu können - umso mehr, als in letzter Zeit manche ähnlich klingende Forderungen ausgesprochen wurden, die mir jedoch das Problem nicht

-

wirklich an der Wurzel zu fassen scheinen [...]" 155 Die nebulöse Sprache Fritz Jödes - er ist hier beispielhaft als einer der Hauptvertreter der Jugendmusikbewegung zitiert - suggeriert ein unklares Hoffen auf Kräfte der Jugend und inspiriert mit dieser Hoffnung einen der fatalen Irrtümer, die den Weg in den Schrecken der Diktatur ebneten. Heinrich Jacoby forderte dagegen eine Erziehung der Erzieher, genauer: ihre Selbsterziehung. Solange sie nicht aus ihrer Routine des Lebens erwachten, würde sich nichts ändern an der inneren und äußeren Misere der Menschen. Seine Vorstellung von „ganzheitlichem Begreifen der Situation" gründete auf der Einsicht, dass sich die Menschen als Teile der Masse der Erde begreifen müssen, dass sie erkennen müssen, wie weitgehend ihre Lebensvoraussetzungen in den Gesetzmäßigkeiten, die diese Erde bedingen, verankert sind, dass sie letztlich ihre menschliche Gestalt als Ergebnis des Wirkens dieser Gesetzmäßigkeiten erfahren und verstehen müssen. 156 Beziehungen zur Umwelt und zu sich selbst erfolgen durch die Organisation der Wahrnehmung, die leider verkürzt und irreführend als „Sinnesorgane" bezeichnet wird. Es handelt sich vielmehr um das „im biologischen und im physiologischen Sinne eindeutige Faktum", nämlich die Organisation des Menschen „für den Empfang von Reizen aller Art und für deren vergleichende und messende Be- und Verarbeitung"

157.

betont, dass diese Organisation „Antennen-Charakter" 155 Jßio02. 156 Siehe Heinrich Jacoby o. J.; Erstveröffentlichung 157 Heinrich Jacoby o. J.; siehe Seite 123.

auf Seite 121-127.

Heinrich Jacoby

habe, da die Rei-

ze empfangen würden. Optimales Funktionieren der Wahrnehmung, die den Gehalt und nicht nur die stoffliche Hülle des Gehaltes wahrzunehmen trachtet, setzt also Empfangsbereitschaft voraus: ,,Der Gehalt dessen, was uns von der Umwelt mitgeteilt werden kann, wie der Gehalt dessen, was wir von uns selbst wahrzunehmen vermögen, hängt unmittelbar von der Qualität unseres Verhaltens im Sinne von ,Machen' und ,Geschehenlassen' [handschriftliche Ergänzung durch Heinrich Jacoby: ,von Abwehr oder Offensein, von Angst oder Vertrauen auf'] ab."158

„Empfangbereites Verhalten" lässt das Funktionelle jeder Wahrnehmung erkennen und erleben. ,,Empfangbereites und reagierbereites Verhalten" ist „Voraussetzung für" einen „günstigen Verlauf jedes Geschehens, jeder Bewegung", ,,jeder Leistung". Von den Aufgaben gehen „Einstellwirkungen" aus, mit denen der Betroffene in Kontakt kommen kann, die ihn im günstigen Fall „zweckmäßig verwandeln" können. Heinrich Jacoby verlangt also vom Erwachsenen einen hohen Grad rational begründeter, aber praktischer Selbstkontrolle, damit er als Erziehender verantwortungsvoll handeln könne. Nur eigene Erfahrungen mit Beziehungen zur Umwelt wie zu sich selbst können die erforderliche Aufmerksamkeit bewirken, um andere Menschen in ihrem Bemühen um eigene Entfaltung aufmerksam zu begleiten. Und er resümierte: „Wenn das Ziel aller Erziehung die Gewährleistung der Entfaltung des Menschen ist, so muß der Inhalt aller Erziehungspraxis in erster Linie sein: - Schutz und Erhalt des spontanen, noch zweckmäßigen kindlichen Verhaltens; 158 Heinrich Jacoby o.J.; siehe Seite 123.

-

- Sicherung eines zweckmäßigen Gebrauchs des eigenen Organismus bei allen Betätigungen; - Sicherung zweckmäßiger Frage- und Aufgabenstellung; - Ausprobierenlassen

und Erarbeitenlassen anstatt Nachahmenlassen

und Belehrenwollen." 159

-

Diese grundlegenden Überlegungen, die in den Kursen und Arbeitsgemeinschaften von Eisa Gindler und Heinrich Jacoby erprobt und in vielen hundert Beispielen auch schriftliche Bestätigung fanden, standen trotz einiger gleichlautender Begriffe im Gegensatz zu den Aufrufen und Forderungen vieler Pädagogen und Politiker. Sie fordern ein Problembewusstsein, das grundlegend ein verantwortungsvolles Leben der Menschen auf Erden zu erfassen sucht. Dem gegenüber sollte nach der Mehrzahl der Vorträge, Denkschriften und Erlasse, die in der Weimarer Republik erschienen, durch die Erziehung der Jugend das Volk restauriert werden. Massenveranstaltungen wie die „Singstunden" nach den Vorstellungen Fritz Jödes wollten Gemeinschaftsgefühle wecken und Zugehörigkeit zur „Volksgemeinschaft" suggerieren, ohne das Verständnis der Leitbilder kritisch zu bedenken. Heinrich Jacoby sieht in vielen der damals diskutierten reformpädagogischen Bemühungen den Widerspruch bestätigt, der schon im Begriff „Reform" enthalten ist: Eine vorhandene und zumeist idealisierte Form soll im Vollzug der „Re-form" wiederhergestellt und nachvollzogen werden. Das geschah beispielsweise in der Jugendmusikbewegung mit der Hinwendung zum idealisierten „echten" Volkslied, das wollte die Wandervogelbewegung durch eine Wiederbelebung vorindustriellen sozialen Lebens bewirken. Wie mag das den „Reformern" geklungen haben, als Heinrich Jacoby diese Problematik zum Beispiel auf der Kunsttagung des „Bundes entschiedener Schulreformer" am 5. Mai 1921 in Berlin ansprach?

159 Heinrich Jacoby o.J.; siehe Seite 125.

„Alle Reformbestrebungen sind darauf gerichtet, die Beherrschung des Formalen, des Technischen zu erleichtern und zu steigern, d. h. die Symptome des Übels zu bessern, ohne die tieferen Ursachen aufzusuchen und das Übel an der Wurzel zu fassen. Es werden andere Lieder gesungen als früher, es wird Tanz, Bewegung, rhythmische Gymnastik zur ,Versinnlichung' musikalischer Vorgänge zu Hilfe genommen. Aber Reformen ändern nichts daran, daß der Schüler vom ersten Tag an ausschließlich mit Versuchen zur Nachahmung fertiger musikalischer Gebilde und, wenn es hoch kommt, mit deren Beobachtung und Analyse beschäftigt wird, - daß man kein besseres Bildungsmittel kennt als das Musizieren in fremden Tönen, daß die Unterbindung jeder Gelegenheit zu selbständigen musikalischen Äußerungen mit dem Beginn einer bewußten Schulung zum selbstverständlichen Gesetz wird." 160 Und er fordert: ,,Ist erst einmal der Grundsatz erkannt, daß Weckung der Ausdrucksfähigkeit und daß Selbsttätigkeit das Wesen aller Erziehung zu sein hätten, - daß es keine ,lehrenden' und ,lernenden' gibt, - daß wir uns an Stelle der Mitteilungen von Erfahrungsresultaten allein auf die Schaffung von Erfahrungsgelegenheiten zu beschränken haben -, so muß dieser Grundsatz auch bis hin in die letzten und scheinbar nebensächlichsten Absichten und Handlungen hinein zur Auswirkung kommen.''161 Heinrich Jacoby war sich seiner entschiedenen Position durchaus bewusst: „Meine Arbeit und deren Ziele sind für alle unbequem. Die Mittelmäßigen reagieren affektiv dagegen, weil sie Verpflichtungen hinter der Möglich-

160 Heinrich Jacoby 1922/ 2 1995, 17 ff. 161 Heinrich Jacoby 1922/ 2 1995, 17 ff.

keit der Nachentfaltung befürchten. Die ,Begabten' sind dagegen, weil sie ihre Ausnahmestellung bedroht fühlen. Die ,Unbegabten' sehen zum Teil erfreut einen Weg, sind zum Teil in Opposition, weil ihre Trägheit und Gesichertheit gestört wird."162

162Rudolf Weber 1983,6.

.

'

STAATENLOS -

1933BIS 1945

,,Auszug aus dem Sitzungsprotokoll des Marktgemeinderates Hindelang, 5. Mai 1933. Betreff: Gymnastik - Kurse.

1. In heutiger öffentlicher Gemeinderatssitzung, zu welcher von den vorschriftsmäßig eingeladenen 12 Mitgliedern sämtliche erschienen sind und alle an der Beratung und Abstimmung teilgenommen haben, wurde Vortrag darüber erstattet, daß Frau Gindler aus Berlin auch im heurigen Jahre wieder in der Turnhalle Hindelang ihre Gymnastikkurse durchführen will, bei welcher ein Herr Jacobi, der seither schon an diesen Kursen mitwirkte, beteiligt ist. Der Gemeinderat hat hiervon Kenntnis genommen, und insbesondere auch davon, daß Herr Jacobi jüdischer Abstammung ist. Der Gemeinderat kann es mit der heutigen nationalen Umstellung nicht vereinbaren, daß Herr Jacobi sich direkt oder indirekt an dem Unternehmen beteiligt, damit ist nicht gesagt, daß Herrn Jacobi in unserer Gemeinde das Gastrecht in irgend einer Weise verwehrt würde. Selbstverständlich

besteht gegen die Abhaltung der Kurse durch Frau

Gindler selbst oder Beauftragte bezw. Leiter arischer Abstammung keine Erinnerung. [...] zur gefl.[issentlichen] Kenntnisnahme. Hochachtungsvoll Marktgemeinderat 1. Bürgermeister [Siegel: Markt-Hindelang-Bayern]"

163

Seit 1926 veranstalteten Eisa Gindler und Heinrich Jacoby gemeinsame Ferienkurse in Sassnitz und Hindelang und auch in der Schweiz und Italien. Als Heinrich Jacoby im Frühjahr 1933 seine Ferien in Ascona ver163 Jßio 02.

-

brachte, rieten ihm zahlreiche Freunde angesichts der Ausschreitungen gegen Juden und Regimegegner durch die Nationalsozialisten, nicht nach Deutschland zurückzukehren. Margaret Locher berichtete: „Im Mai 1933 kam er nach Zürich. Wir waren dort zu viert, die wir ihn aus

-

den Kursen kannten. Wir halfen ihm nach besten Vermögen beim Fußfassen und dann vor allem bei der Organisation des ersten Ferienkurses in der Schweiz. Denn die alljährlichen ,Gindler-Jacoby-Ferienkurse' konnten ja nicht mehr in Deutschland stattfinden. Um einen Rahmen zu haben, galt die Arbeitsgemeinschaft der Gymnastiklehrerinnen als Veranstalterin. In Ermatingen am Bodensee kamen etwa

20-25 Personen zusammen, vor allem aus Deutschland, und unter ihnen waren viele, die nicht wußten: werden wir nachher zurückgehen oder nicht. Nach dem Sommerkurs war Heinrich Jacoby ein halbes Jahr in Genf. Dort hat er Willy Tappolet persönlich kennengelernt."

164

Es schloss sich ab Oktober 1934 eine „Vortrags- und Studienreise im Orient" an, die auf eine Initiative des Theaters „Habimah" in Tel Aviv (Palästina) zurückging, das Heinrich Jacoby vier Monate lang zur Arbeit mit dem „Schauspielerkollektiv" des Habimah einlud 165. Es ging um die Klärung „grundlegender Probleme sprachlicher und theatraler Gestaltung" 166, die Heinrich Jacoby bereits in einigen beruflichen zusammenhängen, beginnend in Straßburg, darauf in Hellerau, beschäftigt hatten. Auch war er in seinen Arbeitsgemeinschaften mit Schauspielerinnen und Schauspielern in intensiven Kontakt gekommen, etwa mit Lotte Lieven und Alexander Granach.

164 Rudolf Weber 1983, 26. 165 Alexander Granach hatte in den Zwanziger Jahren die Bekanntschaft Heinrich Jacobys mit Mitgliedern des Schauspielerkollektivs

vermittelt und so den Kontakt für die Reise nach

Palästina indirekt bewirkt, siehe Alexander Granach 2008, 69; Albert Klein, Raya Krug 1994, 48-49. 166 Heinrich Jacoby 1935/ 2 2003, 23.

Ebenfalls 1934 kamen durch die Bemühungen von Kursteilnehmerinnen zwei Arbeitsgemeinschaften

in Trogen zustande. Aber eine gesi-

cherte Existenz, um in der Schweiz zu bleiben und zu arbeiten, blieb Heinrich Jacoby bis zum Ende des Krieges verwehrt. Die Freundinnen und Freunde in der Schweiz nutzten die Regelung des „Saisonaufenthalts", der seinen Lebens- und Arbeitsrhythmus

besonderer Art für die

kommenden Jahre festlegte. Ruth Matter und Margaret Locher erinnerten sich: „Ruth Matter: Wir bekamen für ihn vom Oktober bis Ende Juni, jeweils aber nach vielen Kämpfen, eine solche Bewilligung [den Saisonaufenthalt]. Dann mußte Jacoby drei Monate ausreisen, um wieder neu einzureisen. Dadurch bekam er kein Recht auf Niederlassung. Locher: Die Arbeitsbewilligung war streng beschränkt auf Kurse im Rahmen unserer Vereinigung. Weder Vorträge, Publikationen außerhalb dieser Vereinigung, nichts war ihm gestattet."

167

Heinrich Jacoby hatte sich in der Schweiz vor dem tödlichen Zugriff des nationalsozialistischen

Regimes in Sicherheit bringen können, was, wie

er seit 1942 durch eine Postkarte seiner Schwester wusste, ihr und dem Schwager nicht vergönnt war - beide kamen in Litzmannstadt ums Leben. Aber die Schikanen der Eidgenössischen Fremdenpolizei waren für ihn nur zu ertragen unter dem anhaltend aktiven Schutz und durch das Engagement der guten Bekannten, Freundinnen und Freunde aus der gemeinsamen Arbeit in der Schweiz. In der neutralen Schweiz herrschte ein beängstigend feindseliges Klima gegenüber politisch Verfolgten aus dem von manchem bewunderten kampfstarken Nachbarland und seinen ideologischen Anschauungen. Heinrich Jacoby erinnerte 1964 diese Situation:

167 Rudolf Weber 1983, 26.

-

-

„Als ich im Juni 1933 Berlin verließ, um nach Zürich zu reisen, hatte ich noch nicht die Absicht, ,auszuwandern'! Damals habe ich Berlin so rasch wie möglich verlassen, um einer - wie zunächst noch schien - bloß akuten Bedrohung von Freiheit, Leib und Leben bei gleicher Abwesenheit jeglichen Rechtsschutzes zu entgehen. Dies geschah auf dringende Empfehlung eines wohlmeinenden älteren Gestapo-Kommissars, der bei mir auf Grund von Denunziationen eine - erfolglose - Haussuchung durchgeführt hatte. Meine Wohnung am Schöneberger Ufer 37 habe ich bis zu dem Augenblick beibehalten, in dem ich im September 1936 - zum ersten Male, und zwar in Zürich - eine beschränkte Arbeitserlaubnis für zwei Jahre durch die Zürcher Fremdenpolizei in Aussicht gestellt erhielt und daraufhin eine kleine Wohnung nehmen und meine Möbel von Berlin kommen lassen konnte, wo ich bis dahin auch noch polizeilich gemeldet war und an das Steueramt Tiergarten minime Steuern gezahlt hatte, da ich ja in Deutschland keinerlei Einkommen hatte. An meine Aufenthaltserlaubnis war die Bedingung geknüpft, in jedem Jahr mindestens für drei Monate ins Ausland zu reisen, um das Entstehen irgend eines Aufenthalts-Rechts zu verhindern. Die Zeit von Juni 1933 bis Oktober 1935 war mit Suche nach Möglichkeiten, irgendwo arbeiten zu dürfen, um existieren zu können, ausgefüllt. Deswegen die häufigen Reisen nach Frankreich, Belgien, Italien und schliesslich auch Palästina." 16 8 Im Briefwechsel mit Lilly Pincus 169, einer Psychologin und Sozialtherapeutin, die bis zu ihrer Emigration nach England 1939 in Kursen Eisa Gindlers mitgearbeitet hatte und somit auch mit Heinrich Jacoby bekannt und befreundet war, erwogen beide, wie sich ein Treffen mit Eisa Gindler in England oder auch ihre Ausreise nach England organisieren ließe. Heinrich

168 Heinrich Jacoby: Brief an Rechtsanwalt Dr. Richard Goldberg vom 19. Mai 1964, Jßio. 169 JKorr 7.

Jacoby übermittelte auf diesem Wege indirekte Nachrichten an „Egee", das meinte Eisa Gindler, doch seine eigenen Bewegungsmöglichkeiten waren durch die begrenzte Aufenthaltsgenehmigung eingeschränkt. Er musste damit rechnen, bei abgelaufener Aufenthaltserlaubnis nach Deutschland abgeschoben zu werden. Mit dieser bedrohlichen Beschränkung waren auch alle Überlegungen, in die USA zu emigrieren, belastet. Trotz wohlmeinender Bemühungen etwa von Alexander Granach, der sich in den USA eine Existenz aufzubauen suchte und angesichts der Bedrohungen etliche Vorschläge für eine Emigration Heinrich Jacobys entwarf

170 ,

einer Einladung von Lazl6 Maho-

ly Nagy oder Lilly Pincus' freundschaftlicher

Kontakte zu Paul Tillich, der

an der Columbia University New York arbeitete - fehlte immer die eindeutige und finanziell gesicherte Bürgschaft. Außerdem war mit einer Emigration in die USA die Auflage verbunden, sich die Landessprache anzueignen. Die Arbeit Heinrich Jacobys gründete jedoch wesentlich im sehr genauen Sprachverständnis, das über die Umgangssprache weit hinausging. Der „Jude" Heinrich „Israel" Jacoby, dessen deutscher Reisepass am 16. 6. 1939 im Deutschen Generalkonsulat Zürich so „gekennzeichnet" worden war, wurde durch seine Ausbürgerung 1941 „staatenlos"

171,

und es dauer-

te bis 1955, dass er sich wieder einer Nation zugehörig fühlen durfte. Der Freundeskreis in der Schweiz, formal die zu Heinrich Jacobys Unterstützung gegründete „Schweizerische Vereinigung zur Förderung der Begabungsforschung", wurde ihm in den folgenden Jahren wesentliches soziales Umfeld. Die „Förderung von Forschungsarbeiten und Untersuchungen, die mit den biologischen, psychologischen und soziologischen

170 Siehe Alexander Granach 2008. 171 Aus dem Erlass des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler über die Verwertung des eingezogenen Vermögens von Reichsfeinden resultierte Ende November 1941 die 11. Verordnung des Reichsbürgergesetzes, der zufolge jüdische Deportierte mit dem Grenzübertritt automatisch ihre Staatsbürgerschaft verloren und ihr Eigentum dem Staat verfiel.

-

Grundlagen von Ausdrucksfähigkeit und Begabung, sowie deren Entwicklungsmöglichkeiten zusammenhängen; ferner die Entwicklung und Förderung von praktischen Arbeitsmethoden für die pädagogische Auswertung der Forschungsergebnisse"

172

waren erklärtes Ziel und wurden zuneh-

mend Zweck der Vereinigung.

-

Der Vereinigung gehörten bald sechzig Mitglieder an, sie fand Unterstützung bei öffentlich angesehenen Personen, etwa dem Regierungsrat Briner, der ein Gutachten durch Professor H. Hanselmann, Dozent für Heilpädagogik in Zürich, erstellen ließ, um den Wert der Arbeit Heinrich Jacobys herauszustellen, gleichzeitig aber Bedenken entgegenzutreten, dass seine Tätigkeit einer anderen Institution Konkurrenz machen würde. Ebenso war Heinrich Jacoby wichtig, seine Arbeit als „Abhaltung von pädagogischen und psychologischen Kursen" zu bezeichnen, um nicht als Konkurrent anderer Berufe zu erscheinen und gleichermaßen sein über musikpädagogische Bemühungen hinausgehendes Bestreben zum Ausdruck zu bringen. Ruth Matter konnte mit Hilfe der Unterstützung durch ihren Vater, Paul Matter-Bally, die ökonomische Existenz garantieren und sichern. 173 Persönlich half sie Heinrich Jacoby bei den Kursvorbereitungen, der Unterbringung von Kursteilnehmern usw., übernahm das Sekretariat der Vereinigung und begleitete die Arbeit. Gestärkt durch die Unterstützung

der Mitarbeiterinnen

und Mitarbei-

ter, des Freundeskreises in der Schweiz und trotz aller Einschränkungen, Behinderungen und Belastungen folgte Heinrich Jacoby weiterhin der Spur seines Forschungsinteresses. Das „Laboratorium" mit Schallplattengerät, Apparaten für Klangaufnahmen - Sprechen, Musizieren - und Projektionsapparaten für „Hell-Dunkel-Versuche"

bekam gewichtigere Bedeutung.

Seine Kontakte zu Wissenschaftlern wurden weitergeführt und teilweise von ihm dokumentiert, um die Ergebnisse in späteren Darstellungen, aber

172 Jeanine Buol Hug 2001, 18 ff. 173 Maya Rauch 2001, 11.

auch in aktuellen Tätigkeiten innerhalb der Arbeitsgemeinschaften einfließen zu lassen. Als Heinrich Jacoby 1934 zum Beispiel Franz Max Oswald, Privatdozent für angewandte Akustik an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, zu einem Gespräch traf, suchte er dem physikalischen Nachweis einer „geglückten" oder auch „nicht geglückten" Lautäußerung, einer musikalischen ebenso wie einer sprachlichen, durch Belege näher zu kommen: ,,[...] denn dieses X muß naturwissenschaftlich

nachweisbar, studierbar

und belegbar sein, weil diese Wirkung auch von einem Phonogramm als ,geglückt' stets neu zu erzielen ist - also als Element in den Elementen der Aufzeichnung mit enthalten sein muß." 174 Heinrich Jacoby fragte, welche physikalisch messbare „Erscheinungsform" eines akustischen Phänomens entscheidend ist, um als „geglückt" zu wirken. Aufgrund seiner Erfahrungen hat das - etwa in der Musik - nichts mit den Stoff-Charakteristiken wie Rhythmus, Melodie, Harmonie zu tun, sehr wohl aber mit „Einstellwirkungen" zu der jeweils beabsichtigten Äußerung: Mit der „Tendenz zur Ruhe" sollte die Beziehung zum Sinn jeweiliger Äußerungen hergestellt sein und einen „geglückten" Start ermöglichen. „Es müßten Aufnahmen gemacht werden des gleichen ,Musik'- oder ,Sprach'-Stoffs mit geglücktem und nicht geglücktem ,Start' [...] Vermutlich werden wir die ersten Auskünfte von dem ,Duktus' der Phonogramme bezw. Oszyllogramme bekommen. Das X ist das Entscheidende in seiner Anwesenheit - bezw. der Verlauf, der seinen Gesetzen sich unterwirft - ist die Grundlage des ,Geglückten'." 175 174 JKorr 6 B 3-5. Nach Auskunft der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich vom 17.04.2007 kann es sich um den Privatdozenten für angewandte Akustik Franz Max Osswald (1879-1944) handeln, der von 1928 bis 1944 an der ETH Zürich tätig war. 175 JKorr 6 B 3-5.

In einem Briefwechsel mit Geza Revesz, einem ungarisch-niederländischen

Psychologen, werden ebenfalls

sein Forschungsinteresse,

gleichzeitig aber auch seine problematische Existenz als Wissenschaftler deutlich. Geza Revesz, der Herausgeber der 1936 gegründeten Fachzeitschrift

„Acta Psychologica", war auf Heinrich Jacobys Wirken

aufmerksam gemacht worden und lud ihn in einem Brief vom 27. Mai 1936 ein, in den „Acta Psychologica" über seine Arbeit zu berichten. Erst am 15. Juni 1937 antwortete

Heinrich Jacoby, stellte allerdings

seine grundsätzliche Bereitwilligkeit

in Aussicht, einen Beitrag zu ver-

fassen: „Da sich die wichtigsten Erfahrungen meiner Arbeit nur an Leistungen und Verhaltensweisen dokumentarisch belegen und überprüfen lassen, habe ich während der letzten zehn Jahre überhaupt auf Veröffentlichungen verzichtet, solange ich nicht die Möglichkeit bekam, unsere Feststellungen und Schlüsse durch Filmstreifen, Phonogramme etc. eindeutig und drastisch zu belegen. Wider Erwarten haben mich die letzten Jahre - trotz unfreiwilliger Wanderschaft und äußerer Schwierigkeiten - dem näher gebracht, da Apparaturen für Film- und Phonogrammaufnahmen inzwischen erschwingbar geworden sind. Erst auf Grund der Vergrößerung meiner Archive scheint es mir möglich, eine Veröffentlichung ernsthaft in Betracht zu ziehen. [...] Nun habe ich in den letzten Jahren einige hundert Phonogramme und Zeichnungen von dokumentarischem

Wert zusammengebracht,

mit

denen sich die wesentlichsten Resultate meiner Untersuchungen über ,die Bedeutung von Zustand und Verhaltensweisen für das Gelingen produktiver Leistungen' recht drastisch belegen lassen. Ich bin längst mit meinen Schülern einer Meinung, daß es an der Zeit wäre, Ergebnisse zu veröffentlichen.

Es ist das für mich eine Frage von ,Muse', und da

ich, um im kommenden Winter für neun Monate in Zürich arbeiten zu ,dürfen', zum 1. Juli die Schweiz wieder für 3 Monate verlassen muß,

scheint es mit dieser erhofften und erwünschten Muse noch gute Weile zu haben." 176 Ein Jahr später meldete sich Heinrich Jacoby erneut bei Geza Revesz, der sich zur „Konferenz für Musikerziehung und Heilpädagogik" in Zürich angekündigt hatte. In seinem Schreiben charakterisierte er nochmals seine Arbeit: ,,In den letzten Jahren galt meine Arbeit vor allem dem praktischen Nachweis dafür, welche Entfaltungsmöglichkeiten - analog zu den Verhältnissen in der Musik - auch auf den Gebieten des sprachlich-gedanklichen, des bildnerischen und des Bewegungs-Ausdrucks gegeben sind: einerseits durch bewußte Wiederherstellung und Disziplinierung der FunktionsBereitschaft und andererseits durch Umgestaltung von Inhalt und Aufbau der traditionellen Arten von Aufgabenstellungen im Sinne des Ansprechens der in der biologischen Ausrüstung gegebenen funktionellen Voraussetzungen für das betr.[effende] Ausdrucksgebiet."

177

Diese beiden Kontakte mit Franz Max Oswald und Geza Revesz verdeutlichen sowohl die Forschungsintention Heinrich Jacobys als auch den Stand seiner Überlegungen sowie die Schwierigkeiten einer Darstellung von Ergebnissen. Die Verhaltensproblematik bzw. der zweckmäßige Gebrauch des menschlichen Organismus, von ihm oft als biologische Ausrüstung benannt, rückten dabei in den Mittelpunkt der Bemühungen in den Arbeitsgemeinschaften, bisherige Beobachtungen durch weitere Erfahrungen zu bestätigen. Für Außenstehende sehr „drastisch" und einsichtig ließen sich die „Hell-Dunkel-Versuche" präsentieren. In ihnen wurden die Zusammenhänge zwischen physiologischen bzw. physikalischen Voraus-

176 Briefwechsel mit Geza Revesz, JKorr 6 B 10-12. 177 Briefwechsel mit Geza Revesz, JKorr 6 B 10-12.

-

setzungen visueller Wahrnehmung und dem zweckmäßigen Gebrauch biologischer Ausrüstung einsichtig. Entsprechende kausale Argumentationen des Erfahrungswissenschaftlers sind in der Skizze „Einige Notizen über grundlegende Tatsachen ..." dargelegt." 178 Geza Revesz' Anfrage, in den „Acta Psychologica" zu publizieren, bot Heinrich Jacoby zunächst eine der letzten Möglichkeiten zur Veröffentlichung und zu öffentlicher Diskussion. In der Schweiz durfte er nicht publizieren, und im Ausland gab es in dieser Zeit kaum Gelegenheiten. Mit Ausbruch des Krieges am 1. September 1939 waren ihm sämtliche Möglichkeiten genommen, sich einem größeren Kreis von Interessierten mitzuteilen. Zwar ließen sich die Dokumente seiner Forschung, Phonogramme, Zeichnungen und jenes „sehr drastische Material über Änderung des Leistungsniveaus sogen.[annter] ,Unbegabter', auch schon bejahrter Erwachsener" 179 erweitern, doch es begegneten Heinrich Jacoby nun nur noch selten Diskussionspartner außerhalb des Kreises der in den Arbeitsgemeinschaften Mitarbeitenden. Gleichwohl wurden diese zunehmend in die Forschungsvorgänge einbezogen. Sie sind mit ihren Erfahrungen als besonders Kompetente und Interessierte anzusehen. Bis 1939 konnte Heinrich Jacoby die Ferienkurse gemeinsam mit Eisa Gindler in der Schweiz fortsetzen, nach dem Beginn des Krieges am 1. September 1939 waren auch diese Möglichkeiten unterbunden. Der schriftliche Kontakt durch die Briefe von Sophie Ludwig - an Margaret Locher adressiert - wurde von Behörden kontrolliert, er brach vor dem Ende des Krieges völlig ab 180 . Andere Sorgen und der Austausch von zahlreichen Anfragen zur Bewältigung aktueller Not ließen einer allgemeinen Diskussion der Arbeit immer weniger Raum. Der Briefwechsel mit Lilly Pincus 181, in welchem sie zum Beispiel um finanzielle Unterstüt178 Siehe Heinrich Jacoby o. J.; Erstveröffentlichung 179 Briefwechsel mit Geza Revesz, JKorr 6 B 10-12. 180 Rudolf Weber 1983, 7. 181 JKorr 7.

auf Seite 121-127.

zung für Verwandte bittet, die zur Ausreise aus Ländern des Balkans Geld zum Beschaffen der Visa benötigten, oder auch Möglichkeiten der eigenen Flucht aus der unruhevollen Existenz in der Schweiz, die er abfragte und erörterte, spiegeln die sich verschärfende Bedrängnis und Ungewissheit. Die von Heinrich Jacoby jährlich geforderte Ausreise aus der Schweiz, um anschließend eine neue, auf neun Monate begrenzte Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, wurde im Kriegsverlauf unmöglich. Im Januar 1941 wurde er als Emigrant akzeptiert und bekam eine „Toleranzbewilligung" der Schweizer Bundesbehörde 182.

182 Jeanine Buol Hug 2001, 20.

PRIVATGELEHRTER IN DER SCHWEIZ -

1945BIS 1964

„Mit Kriegsende wurde das Problem seines Verbleibens in der Schweiz akut. Nach der damaligen fremdenpolizeilichen Regelung hätte Jacoby die Schweiz verlassen müssen, sobald die Grenzen aufgegangen waren, denn offiziell hätte er nun nicht mehr staatenlos zu sein brauchen. Es hing von ihm ab, ob er wieder Deutscher werden wollte. Auch hier setzte sich die Vereinigung dafür ein, daß die 10 Jahre dauernde Ungewissheit über die Möglichkeit seines Verbleibens in der Schweiz ein Ende habe, sodaß er seine Arbeit wieder auf weite Sicht planen und aufbauen könnte. [...] Die Vereinigung versuchte alles, um Jacoby aus dem Emigrantenstatus auszulösen. Dank guter Beziehungen zu einflussreichen Persönlichkeiten - bis hin zum Bundesrat - bekam man schließlich aus Bern den Bescheid, daß der ,Fall Jacoby' jetzt so liege, daß eine langfristige Aufenthaltsbewilligung oder gar die Niederlassung in Frage käme. Im Jahre 1955 erhielt Heinrich Jacoby das Schweizer Bürgerrecht."

183

Am ersten Februar 1945 begann ein „Einführungskurs", der am 28. Mai mit der 24. Kursveranstaltung endete. Dieser Kurs ist beispielhaft konzipiert und dokumentiert worden, um Ausgangspunkt einer umfassenden Veröffentlichung Heinrich Jacobys zu werden. Die Aufzeichnung mit dem Tonbandgerät wurde von ihm selbst auf etwa 1000 Seiten transkribiert und ediert. 1980 hat Sophie Ludwig diese Kursprotokolle um etwa die Hälfte des Umfangs gekürzt und sie in dieser Fassung als erste von nachfolgenden Kursdokumentationen veröffentlicht

18 4 .

Seit Beginn der Kursarbeit gab es die den Kursen jeweils vorausgehende und dann begleitende Praxis, durch schriftliche oder mündliche Anmel-

183 Jeanine Buol Hug 2001, 23-24. 184 Heinrich Jacoby 1945/ 6 2004.

-

dungen (Gesprächsnotizen), Fragebögen, Zeichnungen, Phonogramme mit Sprach- und auch Musikaufzeichnungen die individuellen Merkmale, auch die Belastungen und Nöte von Teilnehmenden festzuhalten. Diese Daten sollten einerseits individuelle Probleme erkennen und beachten lassen, andererseits als grundlegende Daten der Forschung dienen. Das galt auch für die unterschiedlichen Aufzeichnungen, die während des Probierens und Erarbeitens im Kursverlauf entstanden, wie auch für die abschließenden Resümees der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Heinrich Jacoby wies laut Protokoll der Arbeitsgemeinschaften eingangs darauf hin, dass die Schwierigkeiten, die im Einführungskurs erörtert und erprobt werden sollten, nicht erst mit dem Kurs begännen, sondern von den Einzelnen aus ihrem Lebensalltag mitgebracht würden. Die Fragebögen sollten provozieren, solche Schwierigkeiten zu erkennen, zu benennen: „Kaum jemand kann die Fragebögen ausgefüllt, den Lebenslauf mit all den Angaben geschrieben haben, ohne ziemlich heftige Diskussion mit mir in Abwesenheit zu führen. Auch die schriftliche Darstellung und noch mehr die Aufnahme des Phonogramms, bei der die Beunruhigung für viele von Ihnen groß gewesen ist, haben die meisten von Ihnen gezwungen, sich einigermaßen zu mobilisieren. Und ich weiß, daß für Menschen, die seit ihrer Schulzeit nie mehr etwas gezeichnet haben, oder gar für Menschen, die sich für zeichnerisch ,unbegabt' halten, die Zumutung, zwei Zeichnungen abzuliefern, so groß sein kann, daß sie fast lieber auf die Teilnahme am Kursus verzichten." 18 5 Er ermunterte die Teilnehmenden, Fragen zu stellen, wenn etwas unklar war, und Einwände zu erheben, wenn sie anderer Meinung waren. Allerdings wollte er sie beim Wort nehmen: 185 Heinrich Jacoby 1945/ 6 2004, 21.

,,Sie werden dann bald selbst merken, daß es sich dabei nicht um Pedanterie oder Wortklauberei handelt. Es ist nicht zufällig, welche Worte ein Mensch benutzt, und die Wortwahl ist auch dann nichts Zufälliges, wenn man sich noch so sehr zum Reden hat überwinden müssen. Wenn dann durch Gegenfragen deutlicher geworden ist, was der Betreffende meinte, und darüber ein dem gewählten Wort entgegengesetzter Gehalt zutage getreten ist, hört man nicht selten die Bemerkung: ,Gerade das habe ich sagen wollen!' Vielleicht hat man das, was als Ertrag der nachfolgenden Auseinandersetzung herauskam, geahnt, als man sich äußerte; aber wenn dem Sprecher das wirklich klar gewesen wäre, wären ihm andere Worte ,zugewachsen'." 186 Heinrich Jacoby wies auch darauf hin, dass das, wofür er die Teilnehmenden zu interessieren suchte, sich erst nach und nach verdeutlichen und am Ende der „Einführungsarbeit"

überschaubar werden könnte, denn

es werde keine logische Linie beim Klärungsprozess geben. Vielfältiges Erarbeiten an vielerlei Stoffen werde erst den Zugang zu grundsätzlichen zusammenhängen eröffnen können: „Das ist ein Vorgehen, das Sie zunächst beunruhigen kann, weil Sie im Allgemeinen gewohnt sind, etwas zu lernen. Nun hoffe ich aber zuversichtlich, daß Sie bei mir nichts lernen werden! Das klingt paradox, aber ich meine mit ,Lernen' das bloße Hinnehmen der Resultate von Erfahrungen anderer: das bloße Hinnehmen, Zur-Kenntnis-Nehmen und dann Aufbewahren. Erarbeiten aber wäre, sich die Voraussetzungen, die zu Erkenntnissen und Einsichten führen, zu erarbeiten und sich dann die Erkenntnisse und Einsichten auf Grund jener Voraussetzungen zu erarbeiten."

187

186 Heinrich Jacoby 1945/ 6 2004, 23. 187 Heinrich Jacoby 1945/ 6 2004, 24.

Mit dieser Einführung werden die Teilnehmenden aus der Position von Konsumierenden, also von Abhängigen, die auf Vorgaben angewiesen sind, befreit und zugleich ermuntert, selbstständig zu probieren. Über die dabei gemachten Erfahrungen war zu berichten. Eingebunden in die Arbeitsgemeinschaft gestalteten sie den Verlauf der Kurse mit, wobei Heinrich Jaco-

-

by allerdings immer versuchte, ,,persönliche Probleme der Mitarbeitenden und ihre Versuche auf Grundsätzliches zurückzuführen und in größere Zusammenhänge zu bringen. Er ließ immer wieder deutlich werden, daß es sich bei stofflich recht unterschiedlichen Erscheinungen oder Situationen funktionell um Gleiches handele. Gesetzmäßigkeiten von verschiedenen Gebieten her erkennen zu lassen, war ihm wichtig, Analogien finden zu lassen." 188 Am 26. März 1945, dem 15. Kurstreffen, berichtete Frau V. von ihrem Versuch, eine Fadenspule mit einem Fuß dem anderen Fuß zu geben; sie beobachtete dabei ihre veränderte Sitzhaltung. Dann äußerte sie ihre Sorgen um die schwachen Füße ihrer kleinen Tochter. Heinrich Jacoby lenkte den Blick auf die sehr häufig gestörte eigenständige Organisation kleiner Kinder, wenn sie sich aufrichten, gehen und laufen wollen. Die Eingriffe der Erwachsenen seien zwar gut gemeint, aber nicht zweckmäßig: „Viele Eltern behaupten, sie würden ihrem Kinde beim Sitzen oder Stehen nie helfen, wenn es noch nicht von selbst sitzen oder stehen will, und sie setzen z.B. - ohne den Widerspruch zu bemerken - das Kind auf ihren Arm oder aufs Töpfchen, obwohl das Kind noch nicht sitzen kann, und wenn es spazieren gefahren wird, wird es mit einem Kissen hinter dem Rücken aufgesetzt, lange bevor es von selbst seine Unterlage fürs Sitzen ausnutzen kann. [...)

188 Rudolf Weber 1983, 7.

Mit der Zeit werden Sie merken, wie wenige elementare, grundsätzliche Fragen es sind, mit denen man sich bewußt auseinander gesetzt haben muß, um zweckmäßigen Gebrauch und wirkliche Entfaltung bei unseren Kindern sicherstellen zu können." 1B9 Es folgten Erfahrungen und Ansichten anderer Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum Gebrauch der Füße und Hände. Dabei zeigte sich, dass das alltägliche Funktionieren ihres Verhaltens „beim Schauen, lauschen Tasten, Sicherinnern, beim Sichbewegen und beim Gebrauch der Hände und Füße"190 zunehmend kritischer wahrgenommen wurde als zuvor. Die Beteiligten wurden hineingezogen in die Arbeitsprozesse ihrer Arbeitsgemeinschaft. Am 7. Mai 1945, also einen Tag vor den Siegesfeiern der Allierten und beim 20. Kurstreffen, knüpfte Heinrich Jacoby im Zusammenhang mit Verhaltensqualitäten an gesellschaftliche Missstände an, die zum Unglück durch den Nationalsozialismus hatten führen können: „Es ist erstaunlich, wie wenig Anhänger der idealistischen Philosophie bemerken, was für eine mechanistisch-materialistische

Philosophie sie

mit ihren Vorstellungen von angeborener Begabung und angeborenem Charakter praktizieren. [...] Die[se] übliche Betrachtungsweise hat ihre Geschichte und ist besonders bequem, weil sie von Verantwortung zu entbinden scheint, wo unsere Verantwortung anfangen müßte. [...] Die meisten Menschen sehen auf Grund ihrer statischen Betrachtungsweise all die furchtbaren Geschehnisse, die wir gegenwärtig erleben, als in der Natur des Menschen nicht nur möglich, sondern notwendig begründet an. Aber stellen Sie nur die Beziehung zu unserer generellen Art der

189 Heinrich Jacoby 1945/ 62004, 215. 190 Heinrich Jacoby 1945/ 6 2004, 220.

-

Fragestellung her! Offenbar müssen bestimmte, in ihrer gesetzmäßigen Bedingtheit erfaßbare Zusammenhänge wirksam werden, damit der Mensch so bestialisch funktioniert, wie er auf Grund seiner biologischen Ausrüstung durchaus zu funktionieren in der Lage ist. Welches sind die Konstellationen, in denen derartige Reaktionen ausgelöst werden? Wel-

-

ches sind die Mächte, die ein Interesse daran haben könnten, solche Konstellationen herbeizuführen? Wenn man klarer zu sehen beginnt - und wir sind in der Lage, uns Einsichten zu schaffen -, wächst unsere Verantwortung. Mit der Verantwortung wächst auch das Verständnis für das, was jeder Einzelne tun könnte und müßte, wenn er seinen Teil dazu beitragen wollte, daß so etwas allmählich weniger leicht arrangiert und provoziert werden kann." 191 Derartige Anknüpfungen an politische Ereignisse hat es bei den Kursen selten gegeben, obgleich die soziale Bedeutsamkeit dessen, was erörtert und probiert wurde, immer mitschwang. Der Versuch, eine Vorstellung „von den Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen und des Menschen überhaupt zu vermitteln", war immer mit der Intention verknüpft, mit „der Erkenntnis und Realisierung eigener Möglichkeiten" - in der Nachentfaltung - zu einem Menschen zu werden, ,,der an der Entwicklung der Menschheit und damit einer positiven friedlichen Gestaltung ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse interessiert ist [...]" 192. Die Arbeitsgemeinschaften, die Heinrich Jacoby durchführte, unterschieden sich von Veranstaltungen, die sich im therapeutischen Sinne mit der Gesundung oder „Selbstverwirklichung"

von Individuen begnügten. In

ihnen war seine Forschung begründet. Die Mitarbeitenden hatten also Teil an der Forschung, die ihnen selbst galt, die aber auch beitrug, zu Erkenntnissen, zu Theorien zu kommen, die sich verallgemeinern ließen. Das wur-

191 Heinrich Jacoby 1945/ 6 2004, 288-290. 192 Rudolf Weber 1983, 8.

de besonders in Arbeitsgemeinschaften deutlich, die von „Fortgeschrittenen" besucht wurden, die bereits an anderen Kursen teilgenommen hatten. Die Isolation Heinrich Jacobys im Schweizer „Exil", seine Bindung an die „Schweizerische Vereinigung zur Förderung der Begabungsforschung" und den Freundeskreis, ,,die Fortgeschrittenen", der sich herausgebildet hatte, verstärkte dieses Bestreben. 1986 gab Sophie Ludwig die Dokumentation des Kurses „Musik: Gespräche - Versuche 1954" heraus, in dem Personen zusammengekommen waren, die bereits in die Fragestellungen der „Einführungskurse" einbezogen waren. Einige von ihnen hatten schon seit mehreren Jahren an unterschiedlichen

Kursen mitgewirkt

und diesen „Musik"-Kurs

als in

besonderer Hinsicht an Musik Interessierte von Heinrich Jacoby erbeten. Er eröffnete den ersten Kursabend mit der Problematisierung des Themas: „Beschäftigen wir uns mit Musik, ist das nur diskutabel, wenn Musik als Beispiel für unsere allgemeinen Erfahrungen und Verabredungen gilt. Wir gehen nur umgekehrt den Weg - im Einführungskurs haben wir alle möglichen anderen zusammenhänge bearbeitet, an denen gewisse grundsätzliche Verabredungen deutlich geworden sind: zweckmäßiges Verhalten zweckmäßige Fragestellung - zweckmäßiger Gebrauch. Drei Sachen, die zwar nacheinander genannt werden, aber keine ohne die andere etwas bedeutet. [...] Genau die gleichen Forderungen müssen wir nun, wenn wir uns in der Musik orientieren wollen, dort auch stellen. [...] Erinnern Sie sich an die Frage: Hören oder Zu-hören? lauschen und Zuhören? [...] Auch hierbei besteht die Notwendigkeit, antennig zu funktionieren und nicht die Ohren zu spitzen und sich anzustrengen. Wenn ich mich anstrenge, etwas zu hören, oder glotze, und der andere ist gelassen, so haben wir bei dem gleichen Ereignis zwei verschiedene Sorten von Erfahrungen. Wenn Sie zu-hören, dann hören Sie, ob der Ton

-

falsch ist oder ob der Ton richtig ist, ob er höher oder tiefer ist. Wenn Sie reagieren und lauschen, dann spüren Sie, ob ein Prozeß abläuft, ob etwas geschieht oder nicht."193 Vergleicht man den Beginn des Einführungskurses (1945) mit dem des Musikkurses (1953-1954), verdeutlicht sich das andere Niveau der Ver-

III

ständigung, womit nicht die Intensität des anschließenden Erarbeitens gemeint ist. Der erfahrungswissenschaftliche ist gezielt dokumentiert

Ertrag des Musikkurses

und erinnert an die Hell-Dunkel-Dokumente,

jene Versuche, die von Heinrich Jacoby im Einführungskurs gezeigt wurden, um Veränderungen beim „Schau-Verhalten"

zu demonstrieren 194.

Die Möglichkeit, die mit dem Tonbandgerät gemachten Aufnahmen zu wiederholen, hilft nicht nur der jeweils musizierenden Person, eine distanzierte Haltung zum eigenen Spiel einzunehmen, sie stellt Ergebnisse der Musizierversuche auch der Gruppe zu weitergehenden „Lausch"Erfahrungen zur Verfügung. Am 28. Kursabend zum Beispiel wies Heinrich Jacoby auf eine Situation geglückten Musizierens hin, wie sie auch im Gespräch mit dem Privatdozenten für angewandte Akustik, Franz Max Oswald, zur Sprache kam: „Sie haben eben alle miterlebt, wie N. F. für kurze Zeit so bei sich sein konnte, daß wir alle von der Musik angerührt wurden. Und Sie erleben dabei auch, wie anspruchsvoll wir alle von Versuch zu Versuch werden. [...] Für den Versuch, den Sinn und die wirksame Tendenz zur Ruhe, die latent im Gehäuse einer geglückten Komposition verborgen sind, sich tastend zu erarbeiten, braucht es keine besondere ,Begabung'. Es braucht nur Interesse an etwas ganz anderem als dem, auf das wir im Instrumental- Unterricht gewöhnlich dressiert werden. [...]

193Heinrich 194Heinrich

Jacoby Jacoby

1954/22003,37-39. 1945/6 2004,230ff.

Noten bleiben nichtssagend, höchstens Griffe regelnd, solange ich nicht versucht habe zu spüren, was sie und wie sie das anmelden, das zum Leben kommen möchte!"195 In der Dokumentation des Musikkurses gibt es Beispiele unermüdlichen Erarbeitens: Am vierten Kursabend, 20. November 1953, beschäftigten sich die Kursteilnehmer mit Franz Schuberts „Wiegenlied" ,,Schlafe, schlafe, holder süßer Knabe" (op. 98,2, DV 498). Ein Jahr später, am 25. November 1954, im anschließenden Kurssemester, kam diejenige, die zuvor das Wiegenlied zu musizieren versuchte, auf „ihre" Musik zurück, und Teilnehmende an der Arbeitsgemeinschaft äußerten, dass sie im Wesentlichen ein verändertes Musizieren empfunden hätten, wenn auch immer noch das Diktat der Noten die Gelassenheit störe. Es kann bei dieser Art der Bestandsaufnahme bzw. des Protokollierens nicht deutlich werden, wie viele Personen der Gruppe ihr eigenes Nachempfinden bestätigten und welche Suggestion die Aussage von Heinrich Jacoby dabei hatte. Letztlich konnte und kann auch individuelles Wahrnehmen nur zu individuellen Erfahrungen führen. Denn es gibt nicht „die Musik" an sich, sondern ausschließlich individuelle Musikerfahrungen, die anschließend in kommunikativen Prozessen sprachlich gefasst und ausgetauscht werden können. Dabei erweist es sich immer wieder als besonderes Problem, durch Musik ausgelöste Gefühlswerte angemessen sprachlich zu deuten. Doch allgemeine Feststellungen, ob der geglückte Start der Musik oder die Energie des Musikstromes empfindbar waren, können sehr wohl möglich sein. Neben den unterschiedlichen Kursen und den damit entstehenden Arbeitsgemeinschaften, denen weitere Erfahrungen der Teilnehmenden folgten, hat Heinrich Jacoby immer wieder interessierte Personen eingeladen, über eine abstrakt geführte Diskussion dieser Themen hinausgehend praktisch 195Heinrich

Jacoby

1954/2 2003,340f.

-

mit ihm zu arbeiten. Er hoffte, dass die dabei zu erwerbenden gemeinsamen Erfahrungen zu einer eingehenden Verständigung über die Disposition des Menschen - nämlich seine biologische Ausrüstung, seine Abhängigkeit von den Gesetzmäßigkeiten der Masse Erde, sein Eingebundensein in soziale Gefüge - und seine Verhaltensmöglichkeiten führen könnten,

-

wobei das Zusammenwirken aller Faktoren an jedem praktischen Versuch deutlich werden sollte. Im Briefwechsel mit Elisabeth Rotten 196 beispielsweise, der seit 1921 bestand, haben beide ihre Gedanken über reformpädagogische Probleme ausgetauscht. 197 Eine Zeit, um gemeinsam Erfahrungen zu sammeln und so Gedachtes zu konkretisieren, konnte trotz wiederholter Einladungen durch Heinrich Jacoby nicht gefunden werden. Dagegen ergriff Moshe Feldenkrais die Gelegenheit, sich mit Heinrich Jacoby in Zürich zu treffen, um gemeinsam zu arbeiten. Norbert Klinkenberg hat diese Begegnung ausführlich dargestellt

198

und dabei den „Aus-

wirkungen" besonderes Gewicht gegeben. Das „zweckmäßige Verhalten" nach Eisa Gindler und Heinrich Jacoby hat Moshe Feldenkrais nach Einschätzung Norbert Klinkenbergs in seiner „tieferen Bedeutung möglicherweise nicht erfasst"

199.

Und er folgert, dass die „spätere Entwick-

lung einer markengeschützten

Methode", der „Feldenkrais-Methode",

ihren Ursprung darin haben könnte, dass sich die Vorstellung von „Lernen" in der Anschauung beider unterscheidet. Während Heinrich Jacoby „Möglichkeiten der Nachentfaltung" in unterschiedlichsten Prozessen von Erarbeitung und Probieren der betreffenden Person sieht und lediglich den Stand im Prozeß der Nachentfaltung überprüfbar und vergleichbar machen will, setzt Moshe Feldenkrais darauf, als Lehrer einen Lern-

196 1882-1964, Reformpädagogin, Friedensaktivistin, Vorstandmitglied der New Education Fellowship. 197 JKorr 8. 198 Norbert Klinkenberg 2002. 199 Norbert Klinkenberg 2002, 35 ff.

prozess zu lenken und zu beschleunigen, indem entsprechende „Erfahrungen" unter den gleichen Bedingungen „beigebracht" werden, ,,unter denen das menschliche Gehirn ursprünglich gelernt hat." 200 Norbert Klinkenberg zitierte in diesem Zusammenhang eine Äußerung Heinrich Jacobys aus dem Jahre 1944: ,,Es steht eine sehr bewußte Absicht dahinter, wenn ich mich weigere, das, was ich mitzuteilen habe, nur einfach vor meinen ,Hörern' abzuladen und im übrigen gleichgültig zu bleiben, wie das ,aufgenommen' wird, ob es liegen bleibt, wie es gerade hingefallen ist, ob es beiseite gefegt wird, ob es irgendwohin ,versorgt' wird und ,eingeordnet' wird und ,wie' es eingeordnet wird. Ich weiß, daß man Mißverstehen auf keine Weise verhindern kann, solange man nicht das Verstandenhaben am konkreten Produkt eindeutiger Versuchsanordnungen nachprüfen kann; aber es ist schon etwas, wenn man das tatsächliche Ausmaß der Wahrscheinlichkeit von Mißverstehen nüchtern einbezieht." 201 Eine „Jacoby-Pädagogik" sollte also ebenso wenig wie eine „GindlerMethode" begründet werden. Begriffe wie „Schüler", ,,Kurs" usw. können dazu verleiten, ein pädagogisches Bestreben im traditionellen Sinne bestehender Bildungseinrichtungen anzunehmen und der Arbeit Heinrich Jacobys zuzuordnen. Doch ideengeschichtliche Verpflichtungen etwa gegenüber reformpädagogischen Konzepten galten ihm als Voreingenommenheit. Bildungstheorien der damaligen Zeit sind zumeist durch philosophische oder religiöse Lebensentwürfe begründet. Sie werden aber der weitgreifenden Bedeutung seiner Interessen und Bemühungen, Ideologien zu decouvrieren und zu überwinden, nicht gerecht.

200 Moshe Feldenkrais 1981, 10. 201 JKA 24, 2, 5, 6 f.



Dagegen bestätigte Heinrich Jacoby wiederholt sein Interesse an wissenschaftlicher Forschung, die sich auf den Menschen und sein Verhalten, seine Verhaltensmöglichkeiten in der Welt richtete: ,,Unsere Aufgabe ist es, uns bewußt ein zutreffenderes Bild vom Menschen und seinen Möglichkeiten zu erarbeiten - vom Menschen, wie er seiner Ausrüstung nach ist, und von den Entfaltungsmöglichkeiten,

die

sich daraus ergeben, und nicht vom Menschen, von dem wir aus irgendwelchen weltanschaulichen,

affektiven, ökonomischen oder sonstigen

Gründen wünschen, daß er so oder so zu sein habe." 202 In seinen Untersuchungen, die auf Erfahrungen aus Arbeitsgemeinschaften oder gemeinsamer Arbeit mit einzelnen Partnern beruhen, suchte er die Resultate zu sichern, sie eindeutig und überprüfbar darzustellen und zu dokumentieren und ihre lntersubjektivität

zu wahren. Zwar wur-

den nicht Methoden gegenwärtig geltender empirischer Forschung verwendet, aber das Erarbeiten von Verhaltensmöglichkeiten und Verhaltensprozessen wurde bewusst als Experiment durchgeführt, dessen Verlauf oder vorläufiger Ausgang stets distanziert erörtert und in seiner Wirksamkeit für die beteiligten Personen beurteilt wurde. Das Erarbeiten orientierte sich an Grundsätzen der zumeist naturwissenschaftlich

orientier-

ten Erfahrungswissenschaften. Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich das Bestreben Heinrich Jacobys als erfahrungswissenschaftliches beschreiben, ohne dass wissenschaftstheoretische

Forschen

Erklärungen seiner-

seits bekannt sind, die eine solche Überlegung versichern. Dennoch äußerte Heinrich Jacoby sich gelegentlich in Briefen über seine Forschungsinteressen und Forschungspraxis. Im Briefwechsel mit dem nach England emigrierten Arzt Konrad Hirsch 203 , der den Kontakt 202 Heinrich Jacoby 1945/ 6 2004, 64. 203 Konrad Hirsch hatte in Berlin als Teilnehmer an Arbeitsgemeinschaften Gindler und Heinrich Jacoby kennen gelernt; JKorr 19.

die Arbeit von Eisa

zwischen Heinrich Jacoby und Moshe Feldenkrais herstellte, schrieb Heinrich Jacoby am 15. Juli 1947: ,,Von der Arbeit wäre so viel zu erzählen, das Sie wahrscheinlich interessieren wird, daß ich ein Buch schreiben müßte. Ich habe etwa 5000 Seiten Protokolle aus den Kursen, die nach Phonogrammen (Stahldraht) geschrieben sind, da liegen, und wunderbares dokumentarisches Material, an dem die Entfaltung und Verwandlung von Menschen deutlich werden (Photos, Zeichnungen, Phonogramme etc.). Da ist so viel Erfreuliches passiert, daß es sich einmal lohnte, an eine Reise nach Zürich zu denken, denn wenn ich auch nach England käme, könnte ich all das doch nicht mitbringen." 204 Adolphe Ferriere 205 , dem Mitbegründer der „New Education Fellowship", mit dem Heinrich Jacoby seit 1925 in brieflichem Kontakt stand, antwortete er auf eine Nachfrage am 17.Januar 1947: ,,[...] Sie fragen, ob ich Schüler habe: In Zürich ist ein Kreis von Menschen, die sich seit Jahren mit meiner Problemstellung beschäftigen und die gleichzeitig als ,Schüler' und als Mitarbeiter im Laboratorium funktionieren, in dem während unserer Arbeitsgemeinschaften

das doku-

mentarische Material über vor sich gegangene Entwicklungen, Veränderungen, Entfaltungen entsteht, vor allem in Form von Phonogrammen und Versuchen der Auseinandersetzung mit visuellen Problemen des Gestaltens, von deren Ertrag ich Ihnen in Paris einige Photos gezeigt habe." 206

204 JKorr 19 B 52. 205 1879-1960, Reformpädagoge; Notizen anlässlich eines Gesprächs Heinrich Jacobys mit Adolphe Ferriere an der Universität Sorbonne (Paris) 1946 belegen einen regen Erfahrungsaustausch; JKorr 13. 206 JKorr 13 B 77.

In den Briefen der Mitarbeitenden finden sich Anhaltspunkte zur Wirkung der Erfahrungen, die während der Arbeit in den Kursen oder in Folge dieser Anregungen und Einsichten gewonnen wurden. Ein besonderes Beispiel geben die Briefe, die der Schauspieler Alexander Granach an seine Lebenspartnerin und Kollegin Lotte Lieven von 1934 bis 1942 bzw. 1945

-

schrieb 207. 1934 mußte der jüdische und sozial engagierte Schauspieler ähnlich wie Heinrich Jacoby ins Exil gehen. Er arbeitete zunächst in Polen, Galizien und der UdSSR, dann einige Monate in der Schweiz, wo ihm - wie Heinrich Jacoby - Aufenthaltsbegrenzungen

auferlegt wurden.

Alexander Granach ging dann in die USA. Aus dieser Zeit sind 279 Briefe an Lotte Lieven erhalten, die 158 Hinweise auf Heinrich Jacoby enthalten. Einen Schwerpunkt dieser Hinweise bildet das Nachdenken über die prägenden Erfahrungen, die er bei Heinrich Jacoby machen durfte. Lotte Lieven hatte ihn mit Heinrich Jacoby und Eisa Gindler bekannt gemacht und offensichtlich zunächst zu einem Ferienkurs in Hindelang mitgenommen208. Ein Beweggrund, Kontakt zu Heinrich Jacoby aufzunehmen und an Kursen teilzunehmen, könnte für Alexander Granach in Schwierigkeiten gelegen haben, die ihm aus seiner explosiven, expressionistischen Theatralik erwuchsen 209. In einem Brief an Heinrich Jacoby aus dem Jahre 1941 bestätigt Alexander Granach die tief greifende Wirkung, die die Erfahrungen in Hindelang für ihn verursachte: „Lotte wrote me that you are now working with your pupils in St. Moritz and that reminded me of my first summer course with you in Hindelang. That summer marked the turning point in my work as an actor.

1 remem-

ber the very first hours as a pupil when all I saw about me were the stran207Alexander Granach 2008. 208Alexander Granach 2008,356. 209Albert Klein, Raya Krug 1994,47.

ge, almost hostile faces of the other pupils. My only thought then was to escape.

1

remember that you played one of my Mephisto recordings for

me, and urged me to work on it.

1 don't

think that I shall ever forget how,

after working with you for only a few hours,

1

could no langer listen to

the old record (of which I had been so proud), because, suddenly,

1

rea-

lised how wrong it was in the light of my new research with your helpful guidance. Still more do I remember how those strange hostile face changed to friendly vivacity an the end of the course. Yes, Hindelang was a turning point in my life."210

In Briefen an Lotte Lieven erzählt Alexander Granach, in welchen Situationen seiner Tätigkeit als Schauspieler welchen

Situationen

des täglichen

und Regisseur, aber auch in

Lebens ihm die Erfahrungen

Heinrich Jacoby und wohl auch bei Eisa Gindler geholfen

bei

haben 211.

Allerdings handelt es sich bei diesen Briefen weder um Resümees von Erfahrungen, die an bestimmte

Kurse gebunden waren, noch um Brie-

fe, die sich unter dem Gesichtspunkt

einer Reflexion eigener Beschwer-

nisse an Heinrich Jacoby wenden. Die erzählerische

Grundhaltung

in

den Briefen verfolgt andere Intentionen, zumal sie an die sehr vertraute Lebenspartnerin empirischen

gerichtet

sind. Die Briefe lassen sich also nicht dem

Material der Forschung Heinrich Jacobys zurechnen, wenn-

gleich sie zur Interpretation

dieses Materials in vieler Hinsicht bedeut-

sam sind. Heinrich Meng, der Heinrich Jacoby seit 1921 kannte, beschrieb 1939 in einem „Gutachten über die wissenschaftliche Zürich" dessen Forscher-Qualitäten,

Arbeit von Heinrich Jacoby,

wobei allerdings die eigene medizi-

nische und dabei speziell die psychohygienische ters seine Aussage dominiert:

210JBio 03. 211 Siehe Alexander

Granach

2008.

Perspektive des Gutach-

-

,,Heinrich Jacoby ist ein origineller Forscher, der mit guten wissenschaftlichen Grundlagen an Aufgaben arbeitet, deren Lösung von wissenschaftlicher und praktischer Bedeutung sein wird. Er hat ausgezeichnete Voraussetzungen, Ganzheitsprobleme und Spezialprobleme der Verhaltenspsychologie, der Denkpsychologie, der Begabungsforschung, der Physiologie

-

der Sinnesorgane zu erforschen und die Funde produktiv auszuwerten für die individuelle und kollektive Menschenerziehung, für Pädagogik und Heilpädagogik." 212 In der Korrespondenz mit Willy Tappolet bat Heinrich Jacoby um eine französische Übersetzung von „Privatgelehrter", der Berufsbezeichnung, die er für sich seit Anfang der 1930er-Jahre benutzte. Willy Tappolet antwortete: ,,Das Wort ist nicht übersetzbar u. nur mit einer Umschreibung möglich; etwa: celui qui's occupe des recherches scientifiques de l'education - (ou l'homme qui fait des ...). Ev. wäre auch der lateinische Ausdruck ,mentor' zu gebrauchen; was aber eher dem ,Erzieher' entspricht. Danach könnte man sagen: ,Mentor des sciences de l'education' (ou: dela science), [...] Professeur' würde ich nicht verwenden, da es s. immer um eine offizielle ,Profession' handelt, obwohl man auch sagt: ,professeur prive' - d'un roi, z.B.[ ...]!" Einige Tage später fügte er hinzu: ,,Falls Sie Ihre Berufsbezeichnung für eine offizielle Instanz brauchen, würde ich nun doch vorschlagen: professeur libre de la science de l'education. Es trifft zwar die Sache nicht genau, ist aber für jedermann verständlich."

212 JKorr 10. 213 JBio 02.

213

Willy Tappolet sah in Heinrich Jacoby also zunächst den Erzieher oder Pädagogen. Doch Heinrich Jacoby vermied offensichtlich diese enge Berufsbezeichnung. Er hat in seinen „Notizen über grundlegende Tatsachen ..." 214 eine systematische Konzeption zur Frage des zweckmäßigen Verhaltens entworfen, die zwar auch auf die Erziehung der Kinder und Jugend abzielt, ihr jedoch die Erziehung der Erzieher, also der Erwachsenen, als lebenslang geltende Forderung voranstellt. 1953 wurde Willy Tappolet von Friedrich Blume gebeten, einen Beitrag über Heinrich Jacoby für das Enyklopädische Lexikon „Musik in Geschichte und Gegenwart" zu verfassen 215 . Der zunächst erbetene Abgabetermin August 1953 war nicht einzuhalten, da Willy Tappolet seinen Beitrag „Heinrich Jacoby" sehr genau mit diesem abstimmen wollte. In dem dadurch veranlassten Briefwechsel wurden zahlreiche biografische Sachverhalte präzisiert. Die Berufsbezeichnung war für Willy Tappolet weiterhin unklar, wie es bereits die Übersetzungsversuche aus dem Jahre 1947 zeigten. Schließlich legte man gemeinsam fest: ,,Privatgelehrter", wie sich Heinrich Jacoby seit den 1930er-Jahren beruflich vorstellte, und „Leiter der Arbeitsgemeinschaften

der Schweizerischen Vereinigung zur Förderung

der Begabungsforschung", woraus eine wissenschaftlich fundierte Verbindung von Theorie und Praxis ersichtlich werden kann.

214 Heinrich Jacoby o. J; Erstveröffentlichung auf Seite 121-127. 215 Willy Tappolet 1949 ff.

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