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Schriften des Sigmund-Freud-Institus
Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl Reihe 1 Klinische Psychoanalyse: Depression Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber, Stephan Hau, Heinrich Deserno Band 2 Depression – zwischen Lebensgefühl und Krankheit
Stephan Hau, Hans-Joachim Busch, Heinrich Deserno (Hg.)
Depression – zwischen Lebensgefühl und Krankheit
Mit 17 Abbildungen
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Informationen Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar. ISBN 3-525-45163-6 Umschlagabbildung: Meister der Paris-Legende, Jungfrau mit dem Einhorn (Ausschnitt), Veneto 1440–1470. © 2005, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Schrift: Minion Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Marianne Leuzinger-Bohleber Depressionsforschung zwischen Verweigerung und Anpassung. Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Stephan Hau Kreativität und Depression. Ein ausgewähltes psychoanalytisch-klinisches Konzept der Depression . . . . . .
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Tomas Plänkers Manische Abwehrformen gegen Depression . . . . . . . . . . . . . .
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Robert Heim Das verlorene Objekt der Zeit. Überlegungen zur ZeitDiagnostik der Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ilka Quindeau Weiblichkeit und Depression – ein psychodynamischer Erklärungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Rolf Haubl Melancholie als Lebensform. Am Beispiel von Walter Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Heinrich Deserno Liebe und Depression. Am Beispiel von Dieter Wellershoffs Roman »Der Liebeswunsch« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
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Inhalt
Hans-Joachim Busch Spätmoderne Gesellschaft und Depression . . . . . . . . . . . . . . . 195 Dagmar von Hoff Das Leuchten des Abgrunds. Robert Musil und Vladimir Nabokov – Das Dunkle des Gemüts . . . . . . . . . . . . . 214 Angelika Ebrecht Auf der Suche nach dem verlorenen Objekt. Die Funktion der Stimmung im depressiven Lebensgefühl der Moderne . . . 228 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
Vorwort
Seit zwei Jahrzehnten nimmt die Häufigkeit der Diagnose »Depression« kontinuierlich zu. Dieser Trend wird sich weiter fortsetzen. Laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation soll die Depression, nach den Herzerkrankungen, die auf Unterbrechungen der Blutversorgung zurückgehen, im Jahr 2020 die zweithäufigste Erkrankung sein. Weltweit leiden zur Zeit ungefähr 300 Millionen Menschen an Depressionen. Epidemiologen gehen davon aus, dass es hierzulande ungefähr 8 Millionen Menschen sind. Mindestens 15 bis 30 Prozent aller Erwachsenen erleiden mindestens einmal in ihrem Leben eine mittelgradig bis schwere Depression. Diese alarmierenden Zahlen verdeutlichen die Dringlichkeit, sich mit diesen Problemen auseinander zu setzen. Immer wieder ist mittlerweile von der »Volkskrankheit« Depression die Rede. Zwar gibt es zahlreiche Behandlungsangebote und Therapieformen, aber die Behandlungserfolge sind oft nicht dauerhaft stabil. 50 Prozent der Patienten erleiden Rückfälle nach kürzeren psychotherapeutischen Behandlungen oder ihr Leiden geht in eine chronische Form über. Bei 20 bis 30 Prozent helfen Psychopharmaka nicht und ein Drittel der Patienten, die auf Antidepressiva reagieren, erleiden innerhalb eines Jahres einen Rückfall (bzw. 75 Prozent innerhalb von fünf Jahren). Immer mehr Fragen drängen sich auf, die zu beantworten sind. Welche gesellschaftlichen, institutionellen, individuellen und biologischen Faktoren tragen zu der drastischen Zunahme depressiver Erkrankungen in den westlichen Industrieländern bei? Das Sigmund-Freud-Institut widmet diesem Problem seit einigen Jahren einen eigenen Forschungsschwerpunkt. In diesem interdisziplinären Forschungsprojekt arbeiten Wis-
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Vorwort
senschaftler der verschiedensten Disziplinen zusammen. Neben der empirischen und klinischen Forschung zur Depression stellt die konzeptuelle Forschung einen weiteren wichtigen Bereich dieses Schwerpunkts dar. So werden in Band 1 der Buchreihe »Schriften des Sigmund-Freud-Instituts« über klinische Psychoanalyse unterschiedlichen Perspektiven, Erklärungsansätze sowie Behandlungsmöglichkeiten der Depression auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand gebracht. Schwerpunkt dieses zweiten Bandes ist es hingegen, psychoanalytische Ansätze und Auffassungen über Depression, wie sie sich heute darstellen, genauer zu erfassen und darzustellen. Dabei wird schnell deutlich, dass die psychoanalytische Forschung immer wieder in den Zwiespalt gerät, sich einerseits vorschnell einem einheitswissenschaftlichen Verständnis von Forschung zu unterwerfen und dabei psychoanalytische Standards und klinisches Wissen aufzugeben. Andererseits besteht aber auch die Gefahr, sich den aktuellen wissenschaftlichen Diskursen zu verweigern und sich letztlich in einen »psychoanalytischen Elfenbeinturm« zurückzuziehen. Dieses Problem wird in all seinen Facetten im Beitrag von Marianne Leuzinger-Bohleber behandelt. Hier wird auch das gesamte Forschungsfeld skizziert, auf dem die weiteren Beiträge des Buches anzusiedeln sind. Deutlich erkennbar ist, dass unter der Überschrift »Depression«, je nach Perspektive der psychotherapeutischen oder psychiatrischen Schule, sich Verschiedenes verstehen lässt. Im Wintersemester 2003/2004 und im Sommersemester 2004 wurde deshalb, im Rahmen einer Ringvorlesung, die das Sigmund-Freud-Institut an der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität in Zusammenarbeit mit dem Fachbereich Gesellschaftswissenschaften veranstaltete, diesen Fragen und unterschiedlichen psychoanalytischen Perspektiven nachgegangen. Die psychoanalytischen Auffassungen zur Depression wurden in ihren verschiedenen Facetten vorgestellt. Thematisiert wurden, neben den grundsätzlichen Forschungsproblemen, persönlichkeitsstrukturelle und psychopathologische Aspekte; aber auch Fragen der Diagnose und der Behandlung. Darüber hinaus gingen die Autoren Überlegungen nach, ob sich aus der zunehmenden Verbreitung von Depressionen auch Erkenntnisse über den Seelenzustand unserer heutigen Epoche ge-
Vorwort
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winnen lassen. Kann die Verbreitung der Depression etwas über die gewachsenen psychosozialen Belastungen der Menschen in den gegenwärtigen Gesellschaften aussagen, erst Recht im Zeitalter der Globalisierung? Momente der Depression stecken in alltäglichen Lebensentwürfen und Beziehungsmustern ebenso wie in den Gestaltungen von Literatur, Film, Musik und bildender Kunst. Ist die Verbreitung von Depression Anzeichen einer verschlechterten Stimmungslage des heutigen Menschen, somit einer sozialen Pathologie vergleichbar, oder ist sie lediglich Ausdruck normaler Stimmungsschwankungen, wie sie seit jeher im Seelenleben vorkommen? Neben den klinischen Aspekten der Depression als schwerwiegende, weil häufig rezidivierende Erkrankung, wird in den Beiträgen dieses Buches zur Erhellung der nichtpathologischen Seite des Phänomens Depression auch auf die kulturellen und sozialen Dimensionen ausführlich eingegangen. Wir hoffen, dass dieser Band dem Leser einen Einblick in die Vielfalt psychoanalytischer Forschungen zur Depression geben kann, wobei durch die Beiträge auch deutlich werden soll, dass Psychoanalytiker in unterschiedlichen Forschungsfeldern arbeiten und in einem lebendigen und anregenden theoretischen psychoanalytischen Diskurs stehen, von dem wir hoffen, dass dieser nicht nur unter Therapeuten, sondern auch von anderen am Thema Depression interessierten Menschen geführt wird. Stephan Hau Hans-Joachim Busch Heinrich Deserno
■ Marianne Leuzinger-Bohleber
Depressionsforschung zwischen Verweigerung und Anpassung Eine Einführung
■ 1. »Die Vergangenheit ist nicht vergangen …« – Ein Beispiel klinisch-psychoanalytischer Forschung Frau M., eine attraktive und elegant gekleidete Frau Anfang fünfzig, beginnt unser psychoanalytisches Interview, das ich im Rahmen der DPV-Katamnesestudie durchführe, mit der Bemerkung, sie habe sich nicht auf das Gespräch vorbereiten können – die Psychoanalyse liege schon relativ lange zurück. Doch ohne zu zögern, in einer glasklaren Sprache, steuert sie daraufhin zielsicher auf jene Informationen hin, die uns in dieser Studie interessieren: Sie schildert als wichtigstes Ergebnis der Behandlung eine innere Veränderung: Jahrzehntelang habe sie unter schweren Depressionen gelitten und fühlte sich vom Leben abgeschnitten. Nun könne sie besser auf ihre Gefühle achten, diese wahrnehmen und »bei mir bleiben«. Auch sei sie in ihrem Selbstwertgefühl weniger abhängig von anderen – sie könne innerlich eher zu sich als Person stehen. Sie hat zwei Therapien hinter sich. Anlass für das Aufsuchen therapeutischer Hilfe waren beide Male Trennungssituationen: Das erste Mal kam es zu einer Scheidung von ihrem damaligen Ehemann, das zweite Mal drohte die Trennung. Eine Psychologin riet ihr schon während der ersten Krise, eine Analyse zu beginnen, doch konnte sie dies nicht mit ihrem Beruf vereinbaren (sie gehört als Chemikerin in einem internationalen Forschungsteam an und muss viel reisen). Daher begann sie eine Gestalttherapie, die sie allerdings kurz darauf abbrach, weil der Therapeut wegzog. Als die zweite Beziehung auch auseinander zu brechen drohte, fiel sie wieder in ein tiefes Loch. Daraufhin entschloss sie sich – nach drei
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Vorgesprächen – für eine dreistündige Analyse. Ihre Analytikerin und sie hätten gut zueinander gepasst. Die Therapeutin sei ihr auch terminlich sehr entgegengekommen. – Nach dem Schlaganfall ihres Mannes habe sie nochmals ihre Analytikerin aufgesucht. Der Mann war ein halbes Jahre halbseitig gelähmt. Er kann nun wieder einigermaßen gehen und arbeitet halbtags, reagierte aber mit schweren Depressionen auf seine Erkrankung. In dieser Belastungssituation hätten ihr einige Gespräche bei der Analytikerin gut getan, doch dann auch ausgereicht. Frau M. erzählt in einer druckreifen Sprache, doch stockend, mit vielen Pausen. Daher finde ich zu Beginn des Interviews nur schwer einen emotionalen Zugang zu ihr. Im Lauf des Interviews entsteht mehr Nähe – das Gespräch fließt nun ungehindert.1 Kurz zur Lebensgeschichte von Frau M.: Sie wurde 1943 im Luftschutzkeller als viertes Kind einer sehr jungen Mutter geboren. Ihr Bruder ist fünf Jahre älter, das zweite Kind, ein Mädchen, starb im ersten Lebensjahr. 13 Monate vor ihr wurde noch eine Schwester geboren. Die Mutter war nach ihrer Geburt derart geschwächt, dass sie den Säugling nicht betreuen konnte, sondern sogleich zu ihrer 19 Jahre älteren Schwester bringen ließ. Um dieses Ereignis rankt sich ein Familienroman: Weil die französische Besatzung eine Ausgangssperre verhängte, konnte der Säugling der Mutter nicht mehr zurückgebracht werden. Daher blieb Frau M. bis zum fünften Lebensjahr bei ihrer Tante. Es war ein reiner Frauenhaushalt – alle Männer waren im Krieg. Zudem fehlten andere Kinder. »Ich wuchs als träumendes, zeichnendes Einzelkind auf.« Die Tante hatte kurz vorher eine zweijährige Tochter in einem Bombenangriff verloren. Möglicherweise war sie Ersatz für dieses tote Mädchen. Nachgefragt, betont sie, sie hätte eigentlich schöne Erinnerungen an diese ersten fünf Jahre. Sie erinnert sich nur eine einzige dramatische, negative Szene. Sie sollte mit drei Jahren zur Familie zurückgehen, um im Dorf der leiblichen Eltern den Kin1 Diese Beobachtung entspricht einem unerwarteten Befund der Katamnesestudie: Oft lebte in der Übertragungsszene des ersten Interviews die ursprüngliche Problematik (bei Frau M. das depressive Abgeschottetsein in einer fast autistisch anmutenden Abwehr) wieder auf und relativierte sich im Lauf der beiden Katamneseinterviews (vgl. Leuzinger-Bohleber et al. 2003). – Der Fallbericht ist aus Diskretionsgründen aktiv verschlüsselt.
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dergarten zu besuchen. In der ersten Nacht daheim wachte sie auf und fühlte sich derart fremd, dass sie entsetzlich schrie: Die Mutter packte sie schließlich mitten in der Nacht aufs Fahrrad und fuhr zur Tante in die Stadt. Sie standen vor deren Haus. Es gab keine Klingel – sie habe so lange gerufen, bis die Tante aufgewacht sei. Während Frau M. dies erzählt, beginnt sie bitterlich zu weinen. Sie kommentiert schließlich selbst, dass sie überrascht sei, dass sie derart von Tränen überflutet werde. Die Wunden dieser Frühzeit könnten wohl auch heute noch plötzlich aufbrechen. Später verbrachte sie immer die Ferien bei der Tante, bis diese – als sie 15 war – ihr erstes Enkelkind bekam. Das sei für sie aber nicht mehr so schlimm gewesen. Während der Analyse versuchte sie, mit ihren Eltern über die Gründe für ihr Weggeben zu sprechen – ohne Erfolg. Ihre Mutter hörte einmal, wie sie den Vater nach dieser Zeit fragte. Sie schaltete sich sofort ein und erzählte mit heftigem Affekt nochmals die gleiche, ihr schon bekannte Geschichte. »Ich habe gemerkt, das nützt nichts – sie hat den Frieden damit geschlossen. Wenn sie wüsste, was sie mir damit angetan hat, wäre es aus mit ihrem Frieden.« Die Mutter sei nun 81, der Vater vor 5 Jahren gestorben. Sie habe es aufgegeben, mit ihrer Mutter wirklich ins Gespräch zu kommen. Aber es sei oft ein schales Gefühl, wenn sie mit ihr rede. Seit der Analyse achte sie darauf und schiebe das nicht mehr weg, auch wenn es noch so schmerzlich sei. Sie habe sich im elterlichen Haus nie mehr richtig heimisch gefühlt. Sie sei völlig anders gewesen als ihre Geschwister (quirlig, schlank, im Gegensatz zu der molligen Schwester, eine Träumerin, die sich gern auf die Bäume zurückgezogen habe). Sie spricht – wieder mit Tränen in den Augen – über die Entfremdung von ihrem Herkunftsmilieu (sie reist um den Globus, lebt mit einem Iren zusammen, während Schwester und Bruder noch nahe am Geburtsort wohnen). Als ich frage, ob dieses »Wegbewegen« mit der frühen Trennungserfahrung in Zusammenhang stehen könnte, antwortet sie lächelnd. Sie wisse nicht genau, wie da alles zusammenwirke, und erzählt, wie als Beleg dafür, ihre Mutter sei dagegen gewesen, dass sie die höhere Schule in der Stadt besuche. »Aber mich zog es von zu Hause weg: Selbst weggehen ist besser als weggegeben zu werden.« Sie habe sich durchgesetzt und als einziges Mädchen vom Dorf das Gymnasium in der Stadt besucht. Wegen ihrer ma-
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thematischen Begabung wurde sie in eine Mathematikleistungskurs aufgenommen, wiederum als einziges Mädchen unter vielen Jungs. »Ich verachtete Mädchen heimlich als dumme Gänse und wollte schon in der Grundschule lieber ein Junge sein«, sagt sie dazu. (Ich bin während diese Sequenz des Interviews mit Phantasien über ihre Weiblichkeit absorbiert und spüre eine resignative Traurigkeit. Es taucht die Frage auf, warum Frau M. keine Kinder hat und ob dies wohl mit den Objektbeziehungserfahrungen ihrer ersten Lebenswochen in Zusammenhang stehen könnte, getraue mich aber – im Rahmen des Katamneseinterviews2 – nicht, danach direkt zu fragen.) Nach einer Pause erzählt Frau M. sichtbar emotional bewegt, dass die drei Töchter ihres Mannes sie in den ersten Wochen nach dem Schlaganfall sehr unterstützten. Sie hätten eine gute Beziehung zueinander und vor einigen Monaten eine »family reunion« in Dublin organisiert. (In mir taucht die Frage auf, ob sich Frau M. auf diesem Weg doch noch Kinder gegönnt hat, spreche das aber nicht an.) Am Schluss des ersten Gespräch frage ich Frau M. nach ihrer Einschätzung ihrer Analyse: Die Therapie sei für sie eine wichtige, gute Erfahrung gewesen, die ihr viel gebracht habe. Die Art, wie die Therapeutin mit ihr umging, habe ihr gut gefallen: nicht zu lange schweigend, nicht zu aktiv. Daher würde sie jederzeit eine analytische Behandlung weiterempfehlen. So konnte sie schließlich ihren Mann trotz seiner Vorbehalte gegen Therapie dazu bewegen, in der kürzlichen Lebenskrise analytische Hilfe zu suchen. Aus Zeitgründen kann ich hier weder auf die Supervision nach dem Erstinterview, die damit verbundene Gegenübertragungsanalyse als hypothesengenerierendes, psychoanalytisches Forschungsinstrument noch auf den Verlauf des zweiten Gesprächs eingehen, sondern möchte nur erwähnen, dass Frau M. darin selbst auf das Kinderthema eingeht. In eindrücklicher Weise erzählt sie, dass vor allem unbewusste Identifikationen mit ihrer Mutter ihre eigene 2 Im Rahmen der Katamnesestudie hatten wir keinen therapeutischen Auftrag der ehemaligen Patienten und versuchten daher in sensibler Weise zu respektieren, was und wie viel uns unsere Gesprächspartner erzählen wollten (vgl. dazu Leuzinger-Bohleber et al. 2003).
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Kinderlosigkeit determiniert hatten. So habe in der Analyse ein Satz der Mutter eine zentrale Rolle gespielt: »Kinder sind doch eine entsetzliche Last …« Die Identifikationen mit solchen eher negativen Bildern von Mutterschaft seien ihr allerdings erst im Lauf der Behandlung bewusst geworden. Bis zum 35. Lebensjahr wollte sie explizit keine Kinder, da »Kinder die Karriere behindern«. Als sie in diesem Lebensalter ein Myom entfernen musste und die Frage im Raum stand, ob sie sich einer Totaloperation unterziehe, reagierte sie, für sie völlig unerwartet, mit einer schweren Depression. Zur gleichen Zeit ging ihre erste Ehe in die Brüche. In der analytischen Behandlung stellte sich bei der Suche nach den Determinanten der damaligen Depression heraus, dass sie unbewusste Überzeugungen in sich trug, zum Beispiel dass es bei der Geburt um Leben und Tod gehe: »Entweder das Kind oder ich … Und wenn man das Glück hat, dass beide überleben, folgen andere Katastrophen – Depression, Erschöpfung und Trennung vom Kind.« In diese unbewussten Wahrheiten waren vermutlich Phantasien und Erinnerungsspuren an die traumatischen Früherfahrungen eingegangen. Daher gab es für Frau M. unbewusst nur eine Lösung: Schwangerschaft und Geburt mussten vermieden werden. Tragischerweise gehörten diese unbewussten Konflikte zu den zentralen Gründen für das Scheitern der ersten Ehe. Frau M. schildert eindringlich, wie ihre traumatischen Früherfahrungen nicht nur ihre chronifizierten Depressionen, sondern auch die Entwicklung ihrer Persönlichkeit mit determinierten. Ihre naturwissenschaftliche Hochbegabung, ihre Aggressionsproblematik, ihre Angst vor nahen Beziehungen und damit verbundenen Abhängigkeitsgefühlen, die eine lustvolle Entfaltung als Frau in Sexualität und Mutterschaft beschnitten hatten, sah sie auf diesem Hintergrund. Die komplexen unbewussten Zusammenhänge, die in diesem Rahmen nur angedeutet werden können, erschlossen sich für sie und ihre Analytikerin durch einen intensiven psychoanalytischen Prozess, einer einzigartigen Form der Erforschung idiosynkratischer, unbewusster Phantasien und Konflikte. Ist psychoanalytische Forschung daher ausschließlich in der psychoanalytischen Situation möglich? Basieren nicht alle psychoanalytischen Konzeptualisierungen von Depression (vgl. Abschnitt 3.a) und ihrer
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Behandlung auf der intensiven, minutiösen klinischen Erfahrung mit depressiven Patienten, auf der so genannten »Junktim-Forschung« der Psychoanalyse? Diese Fragen führen uns ins Zentrum aktueller wissenschaftstheoretischer und gesellschaftspolitischer Diskussionen, die ich hier nur kurz erwähnen kann (4.), die aber eine hohe aktuelle Relevanz haben (vgl. dazu u. a. Leuzinger-Bohleber u. Bürgin 2003). So wird in der aktuellen gesundheitspolitischen Öffentlichkeit immer wieder vertreten, Depressionen seien am besten mit Kognitiver Verhaltenstherapie oder Psychopharmaka zu behandeln, da nur diese Verfahren zu »wissenschaftlich nachgewiesenen Ergebnissen« führten (vgl. dazu u. a. Härter et al. 2003). In diesen Aussagen geht es oft weniger um wissenschaftliche Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Therapieschulen und dem sie charakterisierenden Forschungsverständnis als um gesellschaftliche Anerkennung und entsprechenden Zugänge zu Machtpositionen innerhalb von Universitäten und gesundheitspolitischen Institutionen. Die eben mit dem kurzen Fallbeispiel illustrierten grundsätzlichen Schwierigkeiten empirisch-psychoanalytischer Forschung werden in diesen Kontroversen zuweilen benutzt, um an der Effizienz und Effektivität psychoanalytischer Behandlungen zu zweifeln. Dabei wird verschwiegen, dass – trotz aller methodischen und wissenschaftstheoretischen Vorbehalte – viele Psychoanalytiker sich um den Nachweis der Wirksamkeit psychoanalytischer Verfahren auch bei depressiven Patienten bemüht und sich dabei den üblichen Kriterien der Vergleichenden Psychotherapieforschung unterzogen haben. So hat der Wissenschaftliche Beirat, der nach dem Psychotherapeutengesetz initiiert wurde, um die »Wissenschaftlichkeit« verschiedener Therapiemethoden zu prüfen, 2003 erneut festgestellt hat, dass genügend empirisch-kontrollierte Studien vorliegen, die belegen, dass psychoanalytische Kurzverfahren bei der Behandlung von Depressionen erfolgreich sind (vgl. dazu Brandl et al. 2004). Einige dieser Studien werden daher im folgenden nochmals kurz zusammengefasst (vgl. Abschnitt 3.b und z. T. Abschnitt 2). Doch wird dem Leser der unauflösbare, harte Gegensatz auffallen, der zwischen dieser Art der empirischen Forschung einerseits und der Tradition der klinisch-psychoanalytischen Forschung andererseits besteht, an die mit dem kurzen
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Fallbeispiel erinnert werden sollte (Abschnitt 1). Auf diesen Gegensatz, beziehungsweise das Spannungsfeld heutiger psychoanalytischer Forschung, soll daher anschließend eingegangen werden (Abschnitt 4). In einigen der zurzeit laufenden und methodisch anspruchsvollen Studien zu psychoanalytischen Langzeitbehandlungen depressiver Patienten, zum Beispiel der Tavistock Adult Depression Study, der Depressionsstudie an der Universitätsklinik Zürich und der von uns durchgeführten Frankfurter Depressionsstudie versuchen Psychoanalytiker, die Gegensätze und Widersprüche empirischpsychoanalytischer Forschung nicht zu verleugnen, sondern aktiv zu gestalten und zu reflektieren. Wir selbst schließen uns dabei an entsprechende Erfahrungen in der DPV-Katamnesestudie an, die auch die Nachhaltigkeit psychoanalytischer Langzeitbehandlungen bei chronifizierten Depressionen belegen – für mich ein Grund, warum ich sie hier vorstellen möchte (sie wurden noch nicht en detail publiziert) (Abschnitt 5). Anschließend bringe ich sie mit dem Anliegen der Frankfurter Depressionsstudie in Verbindung (Abschnitt 6). Doch zuerst kurz zu der erwähnten weltweiten Verbreitung depressiver Erkrankungen (2.)
■ 2. Anmerkungen zum weltweiten Ausmaß von 3 Depressionen3 Nach Schätzungen der WHO werden Depressionen 2020 die zweithäufigste Volkskrankheit sein. Major Depressive Disorder (MDD) bildet schon heute mit einer Prävalenzrate von 2 bis 5 % bis 5 bis 10 % der Bevölkerung eines der größten Gesundheitsheitsrisiken in den westlichen Industrieländern. Etwa 50 % der Pa3 Die folgende Literaturzusammenfassung entstammt teilweise einem Forschungsantrag, den PD Dr. Stephan Hau und ich u. a. zusammen mit Prof. Dr. Manfred Beutel, Mainz, Prof. Dr. Heinz Böker, Zürich, Prof. Dr. Martin Hautzinger, Tübingen, Prof. Dr. Phil Richardson, London verfasst haben. Zudem ergeben sich einige Überschneidungen zu meinem einführenden Beitrag in Band 1 dieser Reihe, die im Rahmen von Einleitungen der beiden Bände nicht vermieden werden können.
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tienten mit einer MDD chronifizieren. Mehr als 20 % reagieren nicht auf antidepressive Medikamente. Fast 60 % der Patienten in den Hausarztpraxen sind auch zwölf Monate nach Beginn der Erkrankung noch depressiv und 20 % dieser Patientengruppe bleiben über zwei Jahre depressiv, obschon sie eine medikamentöse Behandlung erhalten. Außerdem erleiden ein Drittel der Patienten einer medikamentösen Behandlung innerhalb eines Jahrs einen Rückfall, 75 % innerhalb von fünf Jahren. Verschiedene Begriffe wurden verwendet um die Gruppe von Patienten zu beschreiben, die über einen langen Zeitraum unter chronifizierten Depressionen leiden, eine Erkrankung, die einen zerstörerischen Einfluss auf die Lebensqualität, die Arbeitsfähigkeit und die somatische Befindlichkeit der Patienten sowie ihre Beziehungen zu ihren Partnern und besonders zu ihren Kindern ausübt. Diese Begriffe umfassen therapierestistente, chronische und refraktäre Depressionen. Rush et al. (2003) schlagen die neutrale Bezeichnung »Difficult-to-treat-depression« (DTD) vor. Es liegen unterschiedliche Definitionen für diese Patientengruppe vor. Fagiolini und Kupfer (2003) wie auch Thase et al. (2001) postulieren eine prospektive Definition: das Ausbleiben einer positiven Reaktion auf verschiedene Klassen von Antidepressiva über mindestens zwei Jahre. Die Chronifizierung wird oft mit einer Therapieresistenz gleichgesetzt, die zudem eine mangelnde Compliance oder Verweigerung, die Medikamente einzunehmen, einschließt. Akiskal (1991) diskutierte, dass Therapieresistenz auf verschiedene Gründe zurückzuführen sei: inadäquate Dosierung der Medikation, mehrfache Medikation ohne genaue Begründung, Non-Compliance der Patienten oder eine Ambivalenz der Hausärzte gegen Psychopharmaka. Seine Ausführungen weisen auf die Bedeutung der Motivation der Patienten hin sowie auf die Vermutung, dass Therapieresistenz eher bei Patienten mit Non-Compliance zu beobachten ist als bei solchen mit guter Compliance. Allerdings haben klinische Studien gezeigt, dass 30 bis 40 % der depressiven Patienten nicht auf eine erste antidepressive Behandlung reagieren, obschon die Compliance, die Dosierung und die Dauer der Medikation adäquat sind (Nierenberg u. Amsterdam 1990; Thase u. Rush 1995). 60 bis 70 % überwinden die Krankheit nicht vollständig (O’Reardon u. Amsterdam 1998). Etwa 20 % verbessern sich
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innerhalb zweier Jahre (Keller et al. 2000; Paykel 1994). 10 % bleiben trotz mehrfacher Interventionen depressiv (Nierenberg u. Amsterdam 1990; Souery et al. 1999). Daher stellt die Major Depression einer der wichtigsten Probleme der internationalen Gesundheitssysteme dar. Depression ist somit eine der häufigsten und gravierendsten psychiatrischen Erkrankungen von Erwachsenen (vgl. z. B. Böker et al. 2002; Crown et al. 2002; Hautzinger 1998; Laux 2003). Laut WHO leiden zur Zeit über 300 Millionen Menschen an Depressionen. In Deutschland sind dies 2,8 Millionen Männer und 5 Millionen Frauen, das heißt mehr als bei irgendeiner anderen psychischen Erkrankung. Depressionen stellen die häufigste Ursache für die so genannten »disability adjusted life years« (DALY), die durch Krankheit oder Tod entstehen (Murray u. Lopez 1997). Die internationale WHO-Studie fand eine durchschnittliche Prävalenzrate von 10,4 % (vgl. Maier et al. 1996). Frauen erkranken zweimal häufiger an Depressionen als Männer. Allerdings hat die Anzahl depressiver Erkrankungen stetig zugenommen, wobei gleichzeitig der Unterschied zwischen den Geschlechtern bezüglich einer Depression abgenommen hat.4 Depressionen sind die häufigsten Erkrankungen im Alter (Linden et al. 1998). Eines der gravierendsten Probleme ist die adäquate Wahrnehmung und Behandlung depressiver Patienten durch Hausärzte. Dazu lediglich ein Beispiel: Nur circa 35 % aller Patienten mit schweren Depressionen werden überhaupt behandelt. Nur etwa 12 % werden mit Antidepressiva behandelt (vgl. DEPRES-Study, Lepine et al. 1997; Tylee et al. 1999). Adäquate Behandlungen depressiver Patienten werden auch zu einer Kostensenkung beitragen, da Depressive zu den so genannten »Vielnutzern« aller medizinischen Einrichtungen gehören (vgl. z. B. Wittchen 2000; Crown et al. 2002). Seit mehr als 30 Jahren gilt als empirisch nachgewiesen, dass unbehandelte depressive Zustände bei Frauen weiter bestehen. Etwa zwei Drittel aller depressiver Patienten, die bei Psychiatern be4 Diese Aussage ist umstritten, da sie vorwiegend auf der Auswertung retrospektiver Studien beruht. Die vorliegenden Kohortenstudien scheinen die Zunahme von Major Depressions zu stützen, doch sind weitere sorgfältige Datenanalysen notwendig (vgl. dazu u. a. Demyttenaere et al., in Vorb.).
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handelt werden, sind Frauen (Brown u. Harris 1978). Das Risiko, einmal im Leben an einer Depression zu erkranken, liegt bei Frauen zwischen 10 % und 25 %, bei Männern zwischen 5 % und 12 %. Zwischen Depression und Drogenabusus (Alkohol, Medikamente, andere Drogen) sowie einem häufigen Aufsuchen von medizinischen Diensten besteht eine positive Korrelation. Depressive Mütter geben mit hoher Wahrscheinlichkeit ihre Depression an ihre Kinder weiter, besonders an ihre Töchter. Darüber hinaus haben Depressionen die Tendenz zur Wiedererkrankung: etwa die Hälfte der Personen, die erstmals an einer Depression erkranken, werden eine zweite Episode depressiver Erkrankung erleben (APA 1994). Von der Adoleszenz an erkranken Frauen häufiger an Depressionen an Männer. Es wird diskutiert, ob dieser geschlechtsspezifische Unterschied der Genderproblematik zuzuschreiben ist oder ob biologische oder genetische Faktoren entscheidend sind (Nolen-Hoeksema 1987; Demyttenaere et al., in Vorb.). Doch ist zum Beispiel bekannt, dass der Familienstatus die Wahrscheinlichkeit, an einer Depression zu erkranken, beeinflusst: Bei verheirateten Männern sinkt das Risiko, bei verheirateten Frauen steigt es. Arbeitslosigkeit stellt einen hohen Risikofaktor dar, besonders für alleinstehende Mütter. Allerdings können solche einzelne Faktoren die Unterschiede zwischen den Erkrankungsraten zwischen Männern und Frauen nicht genügend plausibel erklären. Belastende Kindheitserfahrungen, wie zum Beispiel frühe Verluste der primären Bezugspersonen, Depressionen und Angsterkrankungen in der Kindheit und der Adoleszenz, soziokulturelle Rollen, die mit negativen Erfahrungen einhergehen, psychologische Attribute, die mit der Vulnerabilität bestimmter Lebenserfahrungen verbunden werden, sowie Coping-Strategien, wie etwa »gelernte Hilflosigkeit«, sind Faktoren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit, eine depressive Erkrankung begünstigen. Genetische und biologische Faktoren sowie fehlende soziale Unterstützung scheinen nur einen geringen oder gar keinen Einfluss auf den Geschlechtsunterschied bezüglich der depressiven Erkrankung zu haben (Piccinelli u. Wilkinson 2000). Viele Studien haben auf die Komplexität und die Variabilität depressiver Erkrankungen hingewiesen, die eine multidimensionale Behandlungsform notwendig erscheinen lassen. In vielen Be-
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handlungen werden die Verknüpfungen zwischen Persönlichkeitsfaktoren und latenten Konflikten vernachlässigt (Böker et al. 2002). Solche Zusammenhängen stehen im Zentrum psychoanalytischer Behandlungen, auf die nun kurz eingegangen werden soll.
■ 3. Psychoanalytische Behandlungen depressiver Patienten ■ a) Modelle und Behandlungstechniken Die psychoanalytischen Ansätze zur Behandlung depressiver Patienten sind gut entwickelt, speziell für schwere und komplexe Psychopathologien (vgl. Böker 2000). Zu psychoanalytischen Behandlungen existiert ein breites klinisches Wissen. Allerdings wird, wie erwähnt, der Philosophie psychoanalytischer Behandlungen entsprechend, jeder Patient in idiosynkratischer Weise behandelt, das heißt, jeder Analytiker modifiziert seine Behandlungstechnik, um sie dem spezifischen Patienten anzupassen. Gemeinsam mit ihm wird nach den unverwechselbaren, komplexen unbewussten Konflikten und Phantasien gesucht, die seine depressive Erkrankung determinieren. Vereinfacht ausgedrückt: Die Einsicht in diese unbewusste Psychodynamik und das Durcharbeiten bisher unbewusster Phantasien und Konflikte in der Übertragung haben sich als unverzichtbare Voraussetzungen herausgestellt, um eine dauerhafte therapeutische Veränderung zu erzielen. Die Qualität der Behandlungen wird durch Supervisionen durch Experten in diesem Gebiet gewährleistet, die internationale Standards berücksichtigen, wie sie in der psychoanalytischen Depressionsliteratur diskutiert und dargelegt werden. In vielen der älteren Arbeiten wurde Depression in Zusammenhang mit einem Verlust eines realen oder inneren Objekts gesehen. Um nur eine der aktuellen Diskurse dazu zu erwähnen: Bleichmar (1996, 2003) entwickelte ein integratives Modell zur Erklärung depressiver Erkrankungen. Er berücksichtigt darin eine Vielzahl psychoanalytischer Autoren, die Arbeiten zur Depression vorgelegt haben. So betonte zum Beispiel Melanie Klein vor allem die Bezie-
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hung zwischen Aggression, Schuld und Depression, die sie auf frühe archaische Phantasien zurückführte. Kohut dagegen fokussierte die Beziehung zwischen narzisstischen Defiziten und der Depression. Er führt diese Defizite auf ein Versagen der elterlichen Haltungen im frühen Säuglingsalter zurück und relativiert dadurch die Rolle der Aggression und früher innerer Konflikte. Ferenczi, Balint, Winnicott betonten die Rolle der frühen Objektbeziehungen. Bowlby sieht im frühen Verlust der Bindungspersonen die Hauptursache depressiver Erkrankungen. Blatt (1998; Blatt u. Ford 1994; Blatt u. Zuroff 1992) unterschied zwischen zwei Subtypen von Depressionen, dem introjektiven und dem anaklitischen Typus, wobei die Dominanz auf den beiden Dimensionen »Selbstdefinition« und »Bezogenheit« eine entscheidende Rolle spielte. Eine zweite Zielsetzung von Bleichmars integrativem Modell (Abb. 1) ist es, einen theoretischen Rahmen zu skizzieren, durch den der Prozess einer depressiven Erkrankung untersucht werden kann. Statt Depression als einen krankhaften Zustand zu betrachten, postuliert er, Depression als einen Prozess zu verstehen, der abhängig von internalen und externalen Bedingungen abläuft. Dabei ist wichtig zu berücksichtigen, dass unterschiedliche Personen unterschiedlich sensibel auf äußere Ereignisse reagieren.
Abbildung 1: Bleichmars Modell
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Ein weiteres integratives Modell depressiver Erkrankung und ihrer Behandlung legten Taylor (2003) und seine Forschungsgruppe an der Tavistock Clinic in London vor. Es bildet die Grundlage der Frankfurter Depressionsstudie, auf die weiter unten noch kurz eingegangen wird.
■ b) Therapievergleichsstudien von Kurztherapien
mit depressiven Patienten Die meisten Therapievergleichsstudien liegen zu Kurztherapien vor: Gerson et al. (1999) publizierten eine Metaanalyse zu allen Studien, die zwischen 1974 und 1988 zu pharmakologischen und psychotherapeutischen Behandlungen von Depressiven, die älter als 55 Jahre waren, durchgeführt wurden. Sowohl kognitiv-behaviorale als auch psychodynamische Therapien zeigten bessere Ergebnisse als Placebobehandlungen. Diese Ergebnisse stehen im Widerspruch zu den Ergebnissen der Studie von Grawe et al. (1994), die inzwischen von vielen Experten in diesem Gebiet kritisiert worden ist (vgl. u. a. Tschuschke et al. 1997; Fäh u. Fischer 1998; Svatberg u. Stiles 1992). Eine weitere Metaanalyse, die rigide methodische Kriterien berücksichtigte, kam ebenfalls zu dem Ergebnis, dass kognitiv-behaviorale und psychodynamische Kurztherapien zu ähnlichen Ergebnissen führen (Crits-Christoph 1992; Leichsenring 1996). In seiner neuesten Metaanalyse verglich Leichsenring (2001) die Ergebnisse psychodynamischer Kurztherapien (PSTP) und kognitiv-behavioraler Therapien (CBT) beziehungsweise von verhaltenstherapeutischen Therapien depressiver Patienten. Es konnte kein Unterschied in den Besserungsraten der beiden Therapieformen gefunden werden. Diese Ergebnisse korrespondieren zu den Metaanalysen von Goldfried et al. (1998), Nietzel et al. (1987), Robinson et al. (1990), Steinbrueck et al. (1983) und Zeiss u. Steinmetz-Breckenridge (1997). Sie sind auch vergleichbar mit den Befunden einer Metaanalyse, die die spezifischen Diagnosen von Patienten in psychodynamischen Therapien unberücksichtigt ließen (vgl. Crits-Christoph 1992). Bei der Interpretation dieser Ergebnisse muss bedacht werden,
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dass die Metaanalyse von Leichsenring psychodynamische Kurztherapien einschloss, in denen eine relativ gut strukturierte Behandlungstechnik angewandt wurde. Teilweise wurden sogar manualisierte Therapien durchgeführt (Horowitz u. Kaltreider 1979; Mann 1973; Rose u. DelMaestro 1990; Shapiro u. Firth 1985; »Interpersonelle Psychotherapie« nach Klerman et al. 1984). Zudem muss reflektiert werden, dass manche Therapieergebnisse (z. B. von kognitiv-behavioralen Therapien) kaum mit Behandlungen verglichen werden, die in den normalen psychotherapeutischen Praxen, das heißt unter »naturalistischen Bedingungen« durchgeführt wurden (vgl. Persons u. Silberschatz 1998; Seligman 1995, 1996). Daher sind Beobachtungen und Therapieergebnisse durch »naturalistische« Kurztherapien, zum Beispiel psychoanalytische Fokaltherapien, interessant und unverzichtbar. Sie illustrieren den Erfolg dieser Behandlungen unter natürlichen Praxisbedingungen und ohne Manualisierung (vgl. u. a. Leuzinger-Bohleber 1985; Klüwer 1995). Solche Studien können kontrollierte, prospektive Therapiestudien sinnvoll ergänzen. Verschiedene naturalistische Studien, wie zum Beispiel der »Consumer Report« von Seligman (1995), zeigten die größere Zufriedenheit von Patienten nach länger dauernden Behandlungen.
■ c) Ergebnisstudien psychoanalytischer
Langzeitbehandlungen Weil naturalistische, empirische Studien besonders im Bereich der Langzeitbehandlungen weitgehend fehlen, kommt der repräsentativen, retrospektiven Ergebnisstudie psychoanalytischer Langzeitbehandlungen eine große Bedeutung zu (Stuhr et al. 2001). Leuzinger-Bohleber et al. (2002) untersuchten eine repräsentative Stichprobe von 401 Patienten, die durchschnittlich 6,5 Jahre vorher ihre psychoanalytischen Behandlungen bei erfahrenen Analytikern der DPV (Deutsche Psychoanalytische Vereinigung) zwischen 1990 und 1993 beendet hatten. In dieser multiperspektivischen Studie kam ein breites Spektrum quantitativer und qualitativer Verfahren zur Anwendung. Einschlusskriterien waren: erfahrene Therapeuten (keine Ausbildungskandidaten oder Berufsanfänger), Behandlun-
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gen, die über ein Jahr gedauert hatten, keine Ausbildungsfälle. Verschiedene Fragebögen, ausführliche Interviews sowie objektive Daten zu Arbeitsfehltagen und Krankenhaustagen vor und nach der Behandlung wurden erhoben. Die affektiven Störungen bildeten die zweithäufigste Gruppe der gesamten Stichprobe (27,1 %). Die meisten dieser Patienten zeigten eine Komorbidität mit schweren Persönlichkeitsstörungen und/oder angstneurotischen Symptomen, Psychosomatosen und weiteren Störungsbildern. Die meisten depressiven Patienten hatten schon jahrelang unter Depressionen gelitten und mehrere nicht erfolgreiche Kurztherapien hinter sich. Erstaunlich oft berichteten sie von schweren, multiplen Traumatisierungen in ihrer Kindheit (62 % der interviewten Patienten). 80 % der Patienten zeigten (nach durchschnittlich 6,5 Jahren) stabile Verbesserungen sowohl ihrer depressiven Symptome als auch ihrer Lebenszufriedenheit, der Arbeits- und Beziehungsfähigkeit sowie ihrer allgemeinen psychosomatischen Befindlichkeit. Ähnliche positive Ergebnisse wurden in einer methodisch anspruchsvollen, prospektiven Therapiestudie in Stockholm erzielt (vgl. Sandell et al. 1999, 2001). In der Stichprobe waren mehr als 700 Patienten eingeschlossen, die entweder durch eine hochfrequente Psychoanalyse (mit vier oder fünf wöchentlichen Sitzungen) oder Langzeittherapien (1 Sitzung pro Woche) behandelt wurden. Die Forscher kombinierten in ihrem Design horizontale und longitudinale Messungen mit drei Messpunkten über drei Jahre hinweg. Unter anderem wurden folgende Instrumente verwandt: Well-being Questionnaire, Symptom Checklist-90 (SCL90), Social Adjustment Scale (SAS), Self of Coherence Scale (SOCS), Change after Psychotherapy Scale (CHAP) sowie ein Fragebogen zur Identitätsbildung. Zum dritten Messzeitpunkt waren noch 418 Patienten in der Stichprobe, die sich in unterschiedlichen Phasen der Behandlung befanden. Die Ergebnisse dieser Studien zeigen, dass Langzeittherapien bei multimorbiden Erkrankungen zu stabileren Therapieerfolgen führen als psychoanalytische Kurztherapien. Die Stockholmer Studie belegte zudem, dass die Ergebnisse umso stabiler sind, je größer die wöchentliche Frequenz der Sitzungen ist (bessere Anpassung an Lebenssituationen, Symptomreduktion etc). Die Patienten aus hochfrequenten Therapien verbesserten zudem ihre Therapieer-
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gebnisse deutlich mehr als jene aus niederfrequenten Behandlungen, wobei dieser Unterschied umso deutlicher wurde, je länger der Katamnesezeitraum andauerte. Obschon in der Stockholmer Studie keine homogene Patientengruppe untersucht wurde, waren darin auch chronifizierte depressive Patienten enthalten. Daher ist zu erwarten, dass gerade diese schwer psychisch Kranken, die zudem kaum auf Kurztherapien positiv reagieren, in Langzeitbehandlungen gute und dauerhafte Besserungen ihres depressiven Zustands erzielen. In einer prospektiven Studie von Brockman et al. (2001) wurden 31 Patienten in einem naturalistischen Design prospektiv verglichen. Eine Gruppe befand sich in Verhaltenstherapie (Durchschnitt: 63 Sitzungen), die andere Gruppe wurde mit psychoanalytischen Langzeittherapien behandelt (Durchschnitt: 183 Sitzungen). Einschlusskriterien waren depressive und Angststörungen (DSM-IIIKriterien). Symptome (SCL-90-R), interpersonelle Probleme und Therapieziele (GAS) wurden zu Beginn der Therapie, nach 1, 2 und 3 Jahren gemessen. Zu Beginn der Behandlung wurden wesentliche Unterschiede im Bildungsniveau, der Überweisung durch Hausärzte oder Eigeninitiative, Schweregrad der Störungen und der Häufigkeit des Psychopharmakakonsums festgestellt. Die Patienten zeigten in den Verhaltenstherapien schneller Symptomreduktionen, doch holten die Patienten in den psychodynamischen Therapien auf und zeigten länger anhaltende Besserungen. Ähnliche Ergebnisse mit chronische depressiven Patienten zeigte auch die Heidelberger Praxisstudie (vgl. Rudolf et al. 2001). Die Münchener Depressionsstudie, die unter anderem ein Vergleich zwischen Verhaltenstherapien und psychodynamischen Therapien bei Depressionen einschließt, ist noch nicht abgeschlossen (vgl. Huber et al. 2001).
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■ 4. Psychoanalytische Forschung zwischen Anpassung und Verweigerung Wie erwähnt, erweisen sich die eben erwähnten empirischen Studien vor allem im aktuellen gesundheitspolitischen Kontext als wichtig und unverzichtbar. Dennoch führen sie kaum zu differenzierten Einsichten über die (unbewussten) Hintergründe einer spezifischen chronifizierten depressiven Erkrankung und deren therapeutische Veränderungen wie anfangs exemplarisch geschilderten von Frau M. Daher führt psychoanalytische Forschung unweigerlich zu dem erwähnten Spannungsfeld, das nun kurz charakterisiert werden soll. Für Freud und viele heutige Psychoanalytiker ist die klinische Tätigkeit nicht von Forschung zu trennen: Erkenntnis führt zur Heilung des Patienten und bringt gleichzeitig die Forschung voran. Doch häufen sich in Zeiten des weltweiten »Freud bashings« (Lear 1995) Kritiker an diesem Junktim von Forschen und Heilen (Freud 1927a, S. 293). Sie stellen dieses Verständnis von Wissenschaft erneut radikal in Frage. Damit erzielte Erkenntnisse seien »unwissenschaftlich«, da nicht in kontrollierten Studien gewonnen, weder objektiv, valide noch reliabel. Diese Einwände basieren auf einer machtvollen Idealisierung der Naturwissenschaften, deren Sieg über die Human- und Sozialwissenschaften gefeiert wird. Wir haben in unserer Publikation »Forschen und Heilen in der Psychoanalyse« ausführlich dargelegt, welche epistemologischen und inhaltlichen Argumente diesen Angriffen auf die Psychoanalyse – aufgrund eines naturwissenschaftlich-positivistischen Forschungsparadigmas – entgegengehalten werden können (Leuzinger-Bohleber et al. 2002). Zwar ist nicht jeder Kliniker automatisch ein Forscher, aber dennoch stellt die klinisch-psychoanalytische Praxis nach unserem Erachten die unverzichtbare Feldforschung für die Psychoanalyse dar. Doch leider erreichen wissenschaftstheoretische Diskurse die aktuellen politischen Auseinandersetzungen kaum. Seit die Ressourcen im Gesundheitssystem in Deutschland enger geworden sind, wird immer und immer wieder die »Wissenschaftlichkeit«, »Effizienz« und »Effektivität« von psychoanalytischen Behandlungen in Zweifel gezogen, obschon viele der renommierten interna-
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tionalen Psychotherapiestudien von Psychoanalytikern durchgeführt wurden, zum Beispiel die Studien der Menninger Foundation, das Columbia Research Project, The Boston Psychoanalytic Institute Prediction Study, Studien des New York Institute (vgl. u. a. Wallerstein 1999; Leuzinger-Bohleber u. Stuhr 1997; LeuzingerBohleber u. Target 2002) sowie die vielen zurzeit noch laufenden Studien (vgl. u. a. Open Door Reviews des Research Committees der IPA von Fonagy 2001 etc.). Die Wirksamkeit von psychoanalytischen Verfahren wurde daher, wie in Abschnitt 3 zusammengefasst, vielfach belegt. Doch lässt sich ein bestimmter »Zeitgeist« kaum mit rationalen Argumenten entkräften. Sowohl bei der Planung der schon erwähnten DPV-Katamnesestudie als auch jetzt bei der prospektiven Depressionsstudie sehen wir uns mit einem unauflösbaren Dilemma konfrontiert: Einerseits scheint es uns problematisch, uns unkritisch einem einheitswissenschaftlichen Forschungsparadigma der Messbarkeit und der »wissenschaftlichen Kontrolle« unter dem Deckmantel der Qualitätssicherung zu unterziehen, da sich der Forschungsgegenstand der Psychoanalyse, unbewusste Phantasien und Konflikte, der direkten Beobachtung entziehen und sich nur dank einer spezifischen Forschungsmethode in der psychoanalytischen Situation der Wahrnehmung und Reflexion erschließen. Eine Unterwerfung unter ein der Psychoanalyse inadäquates Wissenschaftsverständnis mag an eine Identifikation mit dem Aggressor erinnern. Verzichtet die Psychoanalyse auf ihre Eigenständigkeit als wissenschaftliche Disziplin und klinisch-therapeutische Methode, wird sie ihren »Stachel Freud« einbüßen und, wie Freud (1927a) es befürchtete, langfristig zu einer von vielen medizinischen Teildisziplinen werden. Sie verliert dadurch gerade ihre Widerspenstigkeit und intellektuelle Kreativität, die sich für andere wissenschaftlichen Disziplinen, für Literatur und Kunst, so interessant und unverzichtbar macht. Andererseits kann sich die Psychoanalyse, will sie an ihrem Anspruch einer Heilmethode, die von öffentlichen Mitteln getragen wird, dem Nachweis ihrer Wirksamkeit – zum Beispiel bei der Behandlung chronisch depressiver Patienten wie Frau M. – nicht entziehen, auch nicht mit dem Hinweis auf die Besonderheit ihrer Wissenschaft. Zudem ist ein Rückzug in den psychoanalytischen Elfenbeinturm, ihre Beschränkung auf einen aus-
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schließlich psychoanalytischen Diskurs, für die Psychoanalyse als Wissenschaft selbst problematisch und könnte ihr kreatives, innovatives Potential langfristig zum Erlahmen bringen, da, wie etwa die Chaostheorie uns lehrt, jede chronische Abschottung eines Systems den Tod seiner Lebendigkeit, seiner Kreativität bedeutet. So erscheint psychoanalytische Forschung oft wie ein Seiltanz zwischen diesen beiden drohenden Gefahren – zwischen der Skylla der Überanpassung an ein der Psychoanalyse inadäquates Wissenschaftsverständnisses und des Identitätsverlusts einerseits und der Charybdis der Verweigerung des interdisziplinären, wissenschaftlichen Diskurses, des Rückzugs in die Sterilität und einer »splendid isolation« im psychoanalytischen Elfenbeinturm, andererseits (vgl. dazu auch Leuzinger-Bohleber u. Bürgin 2003). Daher versuchten wir in der erwähnten Katamnesestudie dieses Spannungsfeld nicht zu negieren, sondern aktiv zu gestalten und zu reflektieren, woran im Folgenden anhand einiger Ergebnisse zu Langzeiterhebungen von Behandlungen chronisch depressiver Patienten in der Katamnesestudie nochmals kurz erinnert werden soll.
■ 5. Extraklinische (empirische) Erforschung von Depressionen im Rahmen einer retrospektiven Studie Aufgrund methodischer und wissenschaftstheoretischer Überlegungen haben wir in unserer Studie den Fokus auf psychoanalytische Katamneseinterviews gelegt. Wir versuchten damit, typisch psychoanalytische Forschungsmethoden (z. B. die Beobachtung von Übertragung/Gegenübertragung in den Interviews und deren professionelle Reflexion in Supervisionen oder Expertengruppen von Psychoanalytikern) zur Erforschung bewusster und unbewusster Mitteilungen der Patienten zur ihren therapeutischen Erfahrungen und deren Auswirkungen zu nutzen. Wir haben Ergebnisse, die durch dieses methodische Vorgehen gewonnen wurden, extraklinischen Methoden gegenübergestellt, um dadurch Anforderungen der Vergleichenden Psychotherapieforschung zu genügen (vgl. oben).
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Mit diesen Instrumenten konnten wir »globale« Ergebnisse erzielen, das heißt Aussagen machen zum Beispiel zum Behandlungserfolg, dem Schweregrad der Störungen, der Veränderung der Symptomatik oder, gesundheitspolitisch besonders wichtig, der langfristige Einsparung von Kosten durch eine psychoanalytische Behandlung (vgl. Abschnitt 3.c). Dazu lediglich ein exemplarisches Beispiel:
Abbildung 2: Einschätzung der Therapieergebnisse durch Patienten durchschnittlich 6,5 Jahre nach Beendigung der Behandlung
Etwa 80 % der ehemaligen Patienten schätzen auf den Items in Abbildung 2 ein, dass es ihnen aufgrund der Behandlung besser gehe. Etwa 12 % sahen den Zustand unverändert und 4 % gaben an, dass es ihnen nun – 6,5 Jahre nach Abschluss der Behandlungen – schlechter gehe als vorher. Politisch wichtig ist, dass wir nachweisen konnten, dass sich psychoanalytische Langzeitbehandlungen auch für die Kostenträger lohnen, wie Abbildung 3 zeigt. Einwänden gegen retrospektive Studien, zum Beispiel die Erin-
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Abbildung 3: Arbeitsunfähigkeitstage. Patienten versus allgemeine Bevölkerung (Krankenkassendaten)
nerungen der ehemaligen Patienten seien nicht »objektiv«, versuchten wir durch eine multiperspektivische Annäherung an den Behandlungserfolg (z. B. durch die kritische Gegenüberstellung der eben erwähnten Einschätzungen von ehemaliger Patienten, ihrer Analytiker, unabhängiger psychoanalytischer und nichtpsychoanalytischer Experten und »objektiver« gesundheitsökonomischer Daten) zu begegnen. Ein weiteres Gütesiegel der Studie ist, dass die 401 untersuchten Patienten eine repräsentative Stichprobe aller Patienten darstellen, die zwischen 1990 und 1993 ihre psychoanalytischen Behandlungen bei DPV-Analytikern beendet hatten (vgl. dazu Rüger 2002). Die multiperspektivische und multimethodische Annäherung an Therapieergebnisse erlaubte uns, auch auf unerwartete Ergebnisse zu stoßen. Die affektiven Störungen (ICD-10: F3) bildeten die zweithäufigste Diagnosegruppe unserer Studie (vgl. Abb. 4). Wie die Abbildung 5 zeigt, handelte es sich bei diesen Patienten fast durchweg um Patienten mit einer hohen Komorbidität, wobei am häufigsten Depressionen und Persönlichkeitsstörungen auftraten. Zudem ist erwähnenswert, dass die meisten ehemaligen Patienten schon ei-
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Abbildung 4: Häufung chronisch depressiver Patienten in unserer repräsentativen Stichprobe (Erstdiagnosen nach ICD-10)
nen oder mehrere (kürzeren) Therapieversuch hinter sich hatten. Es handelte sich daher um die oben erwähnten chronifizierten depressiven Patienten, denen wir in der Katamnesestudie begegneten.
Abbildung 5: Komorbidität von Depressionen und weiteren Diagnosen
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Eine weitere unerwartete Beobachtung unserer Studie war die auffallende Häufung der Korrelation Depression und Trauma, wie Abbildung 6 zeigt.
Abbildung 6: Depression und Trauma
Überraschenderweise stellten wir fest, dass bei der Teilstichprobe von 129 ehemaligen Patienten, mit denen wir intensive Interviews durchgeführt hatten, 74 dieser Patienten (wie Frau M.) in den ersten Lebensjahren schweren Traumatisierungen ausgesetzt gewesen waren. Die häufigste traumatisierende Ursache war das Aufwachsen mit depressiven Müttern, deren Erkrankung oft mit den schrecklichen Ereignissen in der Außenwelt der Patienten in Zusammenhang stand. Diese Ergebnisse illustrieren, dass in der Genese von Depressiven oft ein komplexes Ineinanderwirken äußerer und innerer Faktoren zu beobachten ist: Die meisten dieser Mütter hatten traumatische Verluste wie den Tod ihres Ehepartners, eigener Kinder oder anderer naher Bezugspersonen erlebt oder waren anderen Traumatisierungen wie Vergewaltigungen, Verschüttetwerden nach Bombardements, Flucht und Vertreibung ausgesetzt gewesen. Unter solchen äußeren, extrem belastenden Bedingungen sind viele Frauen nicht in der Lage, für ihre Säuglinge die Funktion eines »genügend guten« Primärobjekts zu übernehmen. Dazu ein kurzes Beispiel:
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■ »Die Mutter wurde lebendig begraben …« Frau N. wurde von ihrem Hausarzt in eine Psychoanalyse geschickt, weil sie unter extremen psychosomatischen Symptomen – ohne nachweisbare organische Ursache – und chronischen Depressionen litt. »Der ganze Körper tat mir weh …«, sagte Frau N. im Katamnesegespräch. Zudem befand sie sich in einer massiven Ehekrise und hatte große Probleme mit ihrem (verwahrlosten) adoleszenten Sohn. Frau N. schildert, dass sie in der Psychoanalyse verstanden habe, wie ihre traumatischen Kriegserfahrungen sowohl die psychosomatischen Symptome als auch ihre schweren Beziehungskonflikte unbewusst determiniert hatten. Sie flüchtete als Dreijährige mit ihrer Mutter aus Ostpreußen und lebte einige Jahre in einem Flüchtlingslager. Eine entscheidende Erinnerung in der Behandlung war, dass sie – als Fünfjährige – sah, wie die an Typhus erkrankte Mutter auf einer Bahre weggetragen wurde – wahrscheinlich tot –, doch vermutete Frau N., dass ihre wiederkehrenden Alpträume die kindliche Wahrheit enthielten, die Mutter sei noch am Leben gewesen und lebendig begraben worden, weil sie (möglicherweise aufgrund ödipaler Todeswünsche) sie nicht gerettet habe. Zudem quälten sie Phantasien über die Liebesbeziehung der Mutter mit einem anderen Flüchtling. Da der Vater ebenfalls den Krieg in Russland nicht überlebte, wurde sie als Vollwaise in eine Pflegefamilie gegeben. Sie erinnert sich an die entsetzliche Einsamkeit und Ohnmacht: Sie wurde oft von ihrem Pflegevater körperlich misshandelt und von der Pflegemutter – unempathisch – als billige Arbeitskraft im Haushalt eingesetzt. Daher flüchtete sie als Vierzehnjährige aus der Pflegefamilie und arbeitete in einer Fabrik, bis sie ihren Mann kennen lernte und heiratete. In beeindruckender Weise schildert sie ihren jahrelangen Kampf, ihren beiden Kindern eine »gute Mutter« zu sein. Sie entdeckte in der Psychoanalyse, dass ihre schweren Krankheiten auch durch die unbewusste Überzeugung determiniert waren, sie werde – wie ihre Mutter – ihren Kindern »wegsterben«. Sie hatte durch viele Krankenhausaufenthalte und Kuren ihren eigenen Kindern viele frühe Trennungen zugemutet, außer ihrer fehlenden inneren Sicherheit bezüglich ihrer »mütterlichen Funktionen« wohl einer der Gründe für die emotionale Verwahrlosung ihres Sohnes. Zudem schien er unbewusst – als der Jüngste – in einer ähnlichen fa-
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miliären Konstellation zu sein wie sie selbst. Sie erzählt, dass sie in der Psychoanalyse auf die unbewusste Überzeugung stieß, ihrem Sohn dürfe es nicht besser gehen als ihr selbst, ja, dass sie ihn zuweilen an ihrer Stelle bestrafen musste, um unbewusste, tiefe Schuldgefühle zu lindern. In den Katamnesegesprächen schildert sie, dass das wichtigste Ergebnis ihrer Psychoanalyse für sie war, dass sie die Weitergabe ihrer traumatischen Erfahrungen an die Kinder »noch im letzten Moment etwas abmildern konnte – mein Sohn holte während seiner Jugendzeit vieles nach und hat sich stabilisiert …« Wir haben viele idiosynkratische Schicksale von ehemaligen Patienten, die durch die deutsche Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, den sie alle als Kleinkinder oder Jugendliche erlebt hatten, in merkwürdiger Weise verbunden sind, in einer eigenen Arbeit zusammengefasst, die in der Psyche erschienen ist (LeuzingerBohleber 2003). Das Verständnis des komplexen und für jeden Einzelfall wieder einzigartigen Zusammenwirkens von realen und intrapsychischen Faktoren, von unbewussten Phantasien und Konflikten konnten unsere Analysandinnen und Analysanden nur in den psychoanalytischen Behandlungen, dank der psychoanalytisch-klinischen Forschungsmethode und ihrer Überprüfung im analytischen Prozess, gewinnen. Daher schien es uns in der Katamnesestudie wichtig, die oben erwähnten quantitativen Daten mit detaillierten Einzelfallstudien zu verbinden.
■ 6. Schlussbemerkungen: Depressionsforschung zwischen Anpassung und Verweigerung: die prospektive Frankfurter Depressionsstudie als weiterer Versuch Diese Beobachtungen aus unserer retrospektiven Psychoanalysestudie verfolgen wir in der prospektiven Frankfurter Depressionsstudie weiter, worauf abschließend noch kurz hingewiesen werden soll. Wieder werden wir neben nichtpsychoanalytischen auch psychoanalytische Untersuchungsmethoden anwenden und damit versuchen, das erwähnte Spannungsfeld psychoanalytischer For-
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schung produktiv zu gestalten, das heißt einen Weg zu finden zwischen Dialogverweigerung und dem Rückzug in den psychoanalytischen Elfenbeinturm einerseits und einer Überanpassung an ein der Psychoanalyse inadäquates Forschungsverständnis andererseits. Frau M. und Frau N. gehörten zu der Gruppe der so genannten chronifizierenden Depressionen. Zwar hat die Katamnesestudie – wie bei diesen beiden Patientinnen – belegt, dass wir mit unserem Therapieverfahren circa 80 % dieser Menschen langfristig zu eine produktiveren Umgang mit ihrer depressiven Erkrankung verhelfen können. Doch scheint es uns wissenschaftlich und gesellschaftspolitisch notwendig, diese Ergebnisse in weiteren, prospektiven Studien zu überprüfen. Daher haben wir – in Zusammenarbeit mit der Tavistock Clinic in London (Phil Richardson und David Taylor) und der Psychiatrischen Universitätsklinik Bürghölzli (Heinz Böker und Hans Stassen) – eine prospektive Studie begonnen, die sich der Gruppe von Patienten mit chronifizierten Depressionen widmet. Eingeschlossen werden Patienten, die schon mindestens zwei Jahre unter einer Major Depression leiden und zwei oder mehr nicht erfolgreiche Behandlungen (davon eine mit Psychopharmaka) hinter sich haben. Ausgeschlossen werden bipolare Depressionen, Psychosen, Suchtkrankheiten, organisch kranke und debile Patienten. Ziel dieser so genannten Phase-II-Studie ist es einmal, die Langzeitwirkungen von Psychoanalysen und psychoanalytischen Langzeittherapien erneut zu belegen, das heißt empirisch nachzuweisen, dass sich die chronisch depressiven Zustände dieser Patienten kurz- und langfristig verbessern im Vergleich zu Patienten, die keine solche Behandlung bekommen, sondern sich entweder keiner Behandlung oder einer so genannten TAU (»Therapy as Usual«) unterziehen, das heißt eine übliche psychiatrische Behandlung bekommen.5 Außerdem hoffen wir, dass – wie in der Katamnesestudie – unsere Kollegen Lust haben, ihre Behandlungen gut zu dokumentie5 Ich kann in diesem Rahmen die komplexen wissenschaftstheoretischen Fragen zum Verhältnis klinischer und extraklinischer Forschung in der Psychoanalyse nicht diskutieren (vgl. dazu Leuzinger-Bohleber 2003 u. Leuzinger-Bohleber, in Vorb.).
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ren und klinisch psychoanalytisch zu erforschen. Sie könnten sich damit in den aktuellen Diskurs einbringen und in detaillierten klinischen Einzelfallstudien belegen, dass Depressionen aus psychoanalytischer Sicht komplexe Hintergründe haben, in der (traumatische) biographische Erfahrungen und aktuelle Erlebnisse in vielfältiger Weise ineinander wirken (vgl. dazu Band 1 der Reihe: »Klinische Psychoanalyse: Depression«). So vermuten wir in der Gruppe der Difficult-to-Treat-depression Menschen, die oft arbeitslos werden oder sind (Frau M. befürchtete in ihrer schweren Krise, nicht mehr arbeiten zu können), und sich – aufgrund ihrer schweren Depressionen – kaum wieder in den Arbeitsmarkt eingliedern lassen. Sie leiden meist auch unter einer Reihe psychosomatischer Beschwerden und gehören daher zu der Patientengruppe, die häufig alle Formen der medizinischen Betreuung aufsucht. Reagieren diese Menschen besonders sensibel auf gesellschaftliche Prozesse, denen wir alle unterworfen sind? Leiden sie – vielleicht aufgrund spezifischer biographischer Vulnerabilitäten und erlittener Traumatisierungen mehr als andere – an der »neuen Unübersichtlichkeit«, der Entwurzelung und Vereinzelung sowie am Zusammenberechen haltender und stabiler Beziehungsstrukturen in der jüngeren Moderne? 6 Diese Fragen führen in sozialpsychologische und soziologische Dimensionen, denen wir im Rahmen der Frankfurter Depressionsstudie nachgehen. In der Ringvorlesung, die diesem zweiten Band der Reihe »Klinische Psychoanalyse: Depression« zugrunde liegt, finden sich verschiedene Beiträge zum gesellschaftlichen Kontext, der im Zusammenhang mit depressiven Erkrankungen reflektiert werden muss. Die Frankfurter Depressionsstudie sehen die Beteiligten unter anderem als einen gemeinsamen Versuch, die interessante, aber äußerst spekulative These von Alain Ehrenberg (1998) im Rahmen einer empirischen und psychoanalytischen Studie detailliert zu untersuchen. Ehrenbergs Buch »Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart« hat schon kurz nach seinem Erscheinen in Frankreich große Aufmerk6 Ein Indikator dafür scheint uns zum Beispiel, dass in der Ukraine die Anzahl der schwer depressiv Erkrankten seit dem Zusammenbruch des Realsozialismus auf das Dreifache angewachsen ist, eine Beobachtung, die nicht nur veränderten diagnostischen Sichtweisen zuzuschreiben ist.
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samkeit erregt. Aufgrund von Analysen der Psychiatriegeschichte legt er eine Zivilisationsdiagnose vor, die in der von ihm festgestellten Zunahme der Depression den psychischen Preis erkennt, den heutige Menschen für ihre nach Authentizität, Originalität und Idiosynkrasie strebende Selbstverwirklichung zahlen: eine chronische Erschöpfung. Doch ist die chronische Erschöpfung wirklich mit dem Bild chronifizierter Depressionen gleichzusetzen, die wir in unserer Studie untersuchen? Es wird große Sorgfalt und einen langen Atem bei der Durchführung unserer empirischen Studie und der Analyse der erzielten Beobachtungen erfordern, um nicht nur die depressiven Erkrankungen von Individuen und deren Langzeitbehandlungen besser zu verstehen, sondern darüber hinaus den gesellschaftlichen Veränderungen nachzuspüren, die möglicherweise für die große Verbreitung schwerer depressiver Erkrankungen mitverantwortlich sind. Es geht uns dabei um die sorgsame Entschlüsselung kultureller Veränderungen, die uns auch in vielen heutigen Kunstwerken begegnen, so zum Beispiel in der Travestie von Dürers »Melancholia« (Abb. 7) im gleichnamigen Gemälde des kolumbianischen Malers Fernando Botero (Abb. 8) (vgl. Leuzinger-Bohleber u. Hoff 2004). Ich möchte dabei nicht so weit gehen, wie Elisabeth Roudinesco, die das 19. Jahrhundert als das Jahrhundert der Hysterie bezeichnet hat und das beginnende 21. als das der Depression. Dennoch sollten mögliche gesellschaftliche Ursachen der dramatischen Zunahme depressive Erkrankungen reflektiert werden (vgl. dazu Beiträge von Busch, Deserno, Hau und Haubl in diesem Band). Freud beschrieb zu Beginn der Dreißigerjahre in seiner Arbeit »Das Unbehagen in der Kultur« eine dominierende Stimmung der Menschen seiner Zeit und stellte sie in Zusammenhang mit der aufkommenden Katastrophe in Deutschland: »Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maß es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein beson-
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deres Interesse. Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, dass sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, dass die andere der beiden ›himmlischen Mächte‹…, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten. Aber wer kann den Erfolg und Ausgang voraussehen?« (1930a, S. 506; der letzte Satz kam 1931 hinzu, als die Bedrohung durch Hitler schon deutlich erkennbar war). Ist die Depression ein Ausdruck »unserer gegenwärtigen Unruhe, unseres Unglücks? Und warum wählt zum Beispiel der kolumbianische Maler Fernando Botero – anlehnend an die berühmte Vorlage von Dürer – für die Gestaltung der »Melancholia« die Darstellung eines transvestitischen, das heißt eines perversen Mannes, der sich im Spiegel zu betrachten versucht?
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Abbildung 7: Melancholia
Abbildung 8: Melancholia (Botero)
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■ Stephan Hau
Kreativität und Depression Ein ausgewähltes psychoanalytisch-klinisches Konzept der Depression
Depression erscheint heute fast als Modewort und ist für alle möglichen, sehr unterschiedlichen dysphorischen Gefühlszustände in Gebrauch. Dabei wird der Begriff Depression auch in der klinischen Diskussion innerhalb der Psychiatrie und der Psychoanalyse keineswegs einheitlich verwendet. Die Uneinigkeit entsteht nicht zuletzt dadurch, dass deskriptive, psychodynamische und psychogenetische Merkmale in den Diskussionen munter vermischt werden und bis heute, trotz der Versuche internationaler Klassifikationssysteme wie zum Beispiel der ICD-10 oder des DSM-IV, keine einheitlichen Kriterien zur Bestimmung von Depressionen existieren. Depression meint in seiner ursprünglichen Bedeutung »bedrückte Stimmung«. Das klingt zunächst recht harmlos, aber bei dem Versuch, einen depressiven Gefühlszustand genauer zu beschreiben, wird schnell deutlich, dass im Grunde gar nicht in Worte zu fassen ist, wie sich ein depressiver Affekt tatsächlich anfühlt. Das können nur Menschen verstehen, die schon einmal selbst dieses Gefühl – zumindest zeitweilig – erlebt haben. Das Leben erscheint dann nichts mehr Wert, eine Last zu sein, sich nicht mehr zu lohnen. Das Selbstwertgefühl ist stark vermindert, ein Merkmal, das alle analytischen Autoren, die sich mit der Depression auseinander gesetzt haben, betonen (vgl. Freud 1916-17g; Abraham 1912; Jacobsen 1971; Radó 1951, 1961; Fenichel 1975; Bibring 1953). In diesen Bemerkungen deutet sich bereits an, dass sich das, was Psychoanalytiker unter Depression verstehen, von einer normalen Trauerreaktion erheblich unterscheidet. Bei letzterer lässt sich ein allgemeiner, wiederkehrender vierphasiger Prozess be-
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schreiben. Nach einer Verlusterfahrung ist in der ersten Zeit des Trauerns ein vermindertes Interesse für die Außenwelt zu verzeichnen, einhergehend mit dem Verlust der Liebesfähigkeit und der Verminderung der Leistungsfähigkeit. Durch den Verlust eines Objekts ist das innere Gleichgewicht gestört und das Ich beginnt die Trauerarbeit mit narzisstischen Bewältigungsmechanismen. Dieser Rückzug dient dazu, den Zusammenhalt des Selbst einigermaßen aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig erleichtert die verminderte Realitätskontrolle die Verleugnung oder Verdrängung des Verlusts. Im Anschluss an diesen Rückzug erfolgt dann ein allmähliches Wieder-aus-sich-heraus-Gehen, das dann auch mit aggressiven Merkmalen verbunden ist: Proteste gegen den Verlust oder Klagen gehören ebenso dazu wie die Suche nach Schuldigen (auch Identifikation mit dem Aggressor). Schließlich nähert sich das Ich wieder der sozialen Umwelt an. Dabei wird es möglich, durch Erinnern die Vergangenheit als in der Gegenwart nicht mehr vorhanden zu realisieren. Aspekte, Eigenschaften, Anteile des verlorenen Objekts können in die eigene Persönlichkeit integriert werden. Schließlich kann es in einer letzten Phase, durch eine Art Substitution, zu neuer, oft gesteigerter Aktivität kommen, etwa in Bezug auf einen anderen Menschen, eine neues Betätigungsfeld oder in der Sorge für andere. Aus dem Bereich der Kunst kennen wir viele Beispiele, aus denen ersichtlich wird, wie ein Objektverlust letztlich einen Anreiz oder Auslöser für schöpferisches Schaffen darstellte. »›Das Leben J. S. Bachs, der als Kind beide Eltern verlor, ist von Tod, Todesahnung und deren Ungeschehenmachen – Auferstehung – durchdrungen‹ (Niederland 1967, S. 904). Alban Berg komponiert ein Violinkonzert, nachdem er vom Tode der ihm bekannten Tochter Gropius’ erfahren hatte, die achtzehnjährig starb (B. C. Meyer 1972, S. 368). Joseph Conrad schrieb seine Novelle ›Allmeyers Wahn‹ als Reaktion auf den Tod eines bewunderten Onkels (Meyer, a. a. O.). Goethes ›Wilhelm Meister‹ entstand nach der Nachricht, dass sein Vater im Sterben liege (Niederland 1967, S. 903) … C. F. Meyers erste literarische Arbeiten stammen aus der Zeit nach dem Tode seines Vaters (a. a. O., S. 904). Der Maler Rousseau wurde erst nach dem Tod seiner Frau zu dem großen Maler, den wir kennen (a. a. O., S. 904), ähnlich war es bei Rembrandt. Auch Heinrich Schliemanns Lebensweg zeigt entscheidende Wendepunkte nach dem Tod einer
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Stephan Hau
älteren Kusine, seines Mutterersatzes, und später nach dem Tode seines Vaters (a. a. O., S. 904)« (Auchter 1978, S. 68).
Bei der Depression beziehungsweise der Melancholie hingegen gibt es zwar Parallelen hinsichtlich der auffälligen Antriebshemmung oder der Interesselosigkeit, die sowohl bei Depressionen als auch bei starken Trauerreaktionen feststellbar sind. Die Gefühlslage bei Depressiven ist jedoch von einem Leeregefühl gekennzeichnet, gepaart mit Selbstvorwürfen und Insuffizienzgefühlen. Latente beziehungsweise manifeste Suizidalität können ebenfalls vorhanden sein. Mentzos (1984, 1995) spricht von einem depressiven Syndrom, das über Wochen, Monate, ja sogar Jahre hinweg andauern kann, wobei Schlafstörungen, Appetitlosigkeit und ängstlich-anklammerndes Verhalten oft beschriebene Merkmale sind. Depression kann somit als »pathologisch übersteigerte Form der Trauerreaktion« verstanden werden. Freud (1916-17g) hat dies in seinem Werk »Trauer und Melancholie« herausgearbeitet. Kurz zusammengefasst stellt sich der Vorgang so dar: Die Libido wird vom Objekt zurückgezogen und in eine regressive Identifikation mit dem Objekt gewissermaßen neu investiert. In der Folge übernimmt das Über-Ich den Ärger, der ursprünglich gegenüber dem enttäuschenden Objekt verspürt wurde, und verschiebt ihn auf den Teil des Ich, der nun mit dem internalisierten Objektanteilen ausgestattet ist. Die Gefühle von Wertlosigkeit und der Verlust von Selbstvertrauen werden als sekundäres Resultat der nun nach innen gerichteten Aggression verstanden, mit der das internalisierte Objekt attackiert wird. Die normale Trauerarbeit kann als sinnvolle Schutzmaßnahme begriffen werden, wobei durch Rückzug eine innere Erholung und Neuorganisation möglich wird. Bei der Depression jedoch äußern sich diese Ich-Einschränkungen viel massiver und werden schließlich zu einem Abwehrvorgang umgewandelt. Dieser bietet aber letztlich keinen Schutz, sondern führt in der Folge der Antriebsreduzierung und damit zusammenhängenden Insuffizienzgefühlen zur zusätzlichen Verminderung der Selbstachtung, was Mentzos als den »psychodynamischen Kern des depressiven Syndroms« ansieht. Dieser Vorgang führt zu einem Circulus vitiosus, der sich so beschreiben lässt: »Je mehr die Selbstachtung sinkt, um so mehr
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verstärken sich Antriebshemmung und Insuffizienzgefühle, und je mehr dies der Fall ist, desto größer ist das Absinken des Selbstwertgefühls« (Mentzos 1984, S. 184). Wie Freud betont Abraham (1912) die wichtige Rolle, die der Aggression bei der Depression zukommt. Abraham wies in einer Studie über den italienischen Maler Giovanni Segantini, in der er den Zusammenhang zwischen dem kreativen Potential des Malers und seinen depressiven Tendenzen darlegte, auf die Rolle der Aggression hin. Er verwies auf verdrängte sadistische und aggressive Tendenzen und deren Bedeutung im Rahmen der psychosexuellen Entwicklung. Abraham glaubte, dass für spätere depressive Erkrankungen frühkindliche traumatische Erfahrungen bedeutsame Faktoren darstellten, etwa zu frühe Enttäuschungserfahrungen im Beziehungserleben des Kindes mit den Eltern. Diese Kränkungen und Verluste mobilisierten ein großes Ausmaß an Aggression, was im Rahmen depressiver Erkrankungen zu weiteren Schwierigkeiten führe. Denn die oft mörderischen Phantasien könnten nun nicht etwa nach außen abgeführt und in Handlungen umgesetzt werden, sondern sie würden autoaggressiv verarbeitet: Selbstvorwürfe, Anschuldigungen, Selbstanklagen, Essensverweigerung, aber auch Suizidalität seien dabei wesentliche Merkmale. Die Trauerreaktion geht hier in eine Selbstdestruktivität über. Somit lässt sich ein zweiter Circulus vitiosus der Depression beschreiben: »Je größer die Selbstbestrafung, desto intensiver die daraufhin entstehende Wut und desto massiver die Aggressionsphantasien. Diese wiederum müssen abgewehrt werden, und dies geschieht vorwiegend durch eine erneute Wendung der Aggression nach innen« (Mentzos 1984, S. 185). Bereits Freud hatte vermutet, dass dem drohenden Objektverlust bei der Depression mit der Verinnerlichung des Objekts, also durch Introjektion, entgegengesteuert werden soll (ein Aufnehmen des Objekts in sich und damit ein Festhalten). Elemente davon sind bei der normalen Trauerreaktion auch zu beobachten, wenn sich ein Mensch mit bestimmten Anteilen des verlorenen Objekts identifiziert, diese zu Teilen der eigenen Persönlichkeit werden lässt und so den Objektverlust abzumildern versucht. Im Gegensatz dazu gilt Introjektion als ein unreifer Abwehrvorgang, durch den letztlich keine Lösung des Problems erreicht wird,
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sondern nur weitere Schwierigkeiten entstehen. Denn gegenüber dem introjizierten Objekt existieren ambivalente Tendenzen, also sowohl positive als auch negative Gefühle wie Liebe beziehungsweise Wut und Hass. Wenn nun aber am introjizierten Objekt festgehalten werden muss, um den Verlust wieder rückgängig zu machen, dann richten sich auch die negativen Gefühle von Wut und Hass gegen das eigene Selbst beziehungsweise gegen den introjizierten Anteil, womit der dritte Circulus vitiosus beschrieben ist. »Der Circulus Autoaggression – Aggression – Autoaggression entsteht also nicht nur durch die Wendung der Frustrationsaggression nach innen, sondern auch durch die Introjektion des ambivalenten Objekts, die die Funktion hat, den Verlust teilweise rückgängig zu machen« (Mentzos 1984, S. 186).
Für die klinisch auffälligen depressiven Zustände kann meist ein tatsächlich erfolgter oder ein symbolischer Objektverlust angenommen werden, es kann aber auch eine narzisstische Kränkung stattgefunden haben. Überhaupt weisen depressive Patienten ein leicht störbares narzisstisches Gleichgewicht auf. Die extrem empfindlichen Reaktionen auf Kränkungen und Versagungen lassen sich damit erklären, dass es diesen Patienten nicht gelungen ist, stabile, gut integrierte innere Objekte aufzubauen. Die Objekte standen entweder nicht zur Verfügung oder waren mit starken ambivalenten Gefühlen assoziiert. Somit kann von einer frühen Beziehungsstörung ausgegangen werden, die das emotionale Klima zwischen Kind und Eltern nachhaltig beeinträchtigt. Verluste oder Kränkungen im späteren Leben werden dann nicht mit normaler Trauerreaktion, sondern mit Depression/Melancholie beantwortet. Auch die Kompensationsstrategien sind sehr labil, etwa durch extrem gesteigerte Leistungen Anerkennung zu bekommen oder Verluste vermeiden zu wollen. Solche Menschen können zum Beispiel im Berufsalltag versuchen – etwa bei befürchtetem Arbeitsplatzverlust in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten – durch immer mehr Leistung und Anstrengung die erhoffte »Belohnung« zu erreichen oder die Enttäuschung beziehungsweise Versagung zu vermeiden. Basieren solche Verarbeitungsversuche auf einer narzisstischen Grundlage und kommt es dann – trotz aller Bemühungen –
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zum Beispiel doch zur Versetzung oder Kündigung, führt dies oft zum Ausbruch schwerer depressiver Erkrankungen. Es geht bei der Depression also um den Verlust von Anerkennung, Liebe oder Unterstützung durch ein (geliebtes) wichtiges Objekt. Dennoch fehlt noch ein wichtiger Aspekt zum Verständnis des psychodynamischen Geschehens: die Rolle und die Beschaffenheit des Über-Ich bei Depressiven. Dabei handelt es sich oft um ein strenges, unnachgiebiges Über-Ich, das wenig flexibel, also nicht gemäßigt erscheint und unzureichend entwickelt ist. Auch das Ich-Ideal erscheint oft überhöht, die Ansprüche, nach denen man sich zu richten hat, sind stark übersteigert. Die Angst vor dem Verlust des liebenden und schützenden Objekts führt dazu, sich in der Folge möglichst streng an den Anforderungen und Geboten des Objekts (z. B. der Eltern) zu orientieren. Das ist zur Aufrechterhaltung des Selbstwertgefühls notwendig. Gelingt dies nicht, wird, gefangen im Teufelskreis, die Aggression in Autoaggression umgewandelt, denn durch die Internalisierung befindet sich der verfolgende und versagende Anteil ja in derselben Person. Resultat dieser nachhaltigen und zum Teil lange bestehenden depressiven Zustände, also bei den klinischen Krankheitsbildern der Depression, ist ein andauerndes Erlöschen des Austausches mit der Außenwelt, das mit dem Verlust von Liebesfähigkeit und kreativem Schaffen einhergeht. An schweren Depressionen leidende Menschen kapseln sich ein, können nicht mehr aktiv gestalten und sind in ihrer Affektivität stark eingeschränkt. Nicht nur die innere Lebendigkeit geht verloren, auch die Fähigkeit, die innere Befindlichkeit bei sich und anderen wahrzunehmen. Dem Selbst kommt seine Eigenständigkeit abhanden; sie wird durch den inneren Kampf mit dem verlorenen Objekt erstickt. Damit wird auch deutlich, dass diese Menschen in solchen Zuständen in sich selbst stabil gefangen sind und eben nicht kreativ und produktiv sein können. Grundsätzlich lassen sich zwei Formen von Depressionen unterschieden, wie dies Bleichmar (1996) präzise beschrieben hat. Er unterscheidet einen Typ Depression, der auf einem narzisstischen Modus beruht, von einem, bei dem Schuldgefühle die zentrale Rolle spielen. Beide Typen lassen sich nun hinsichtlich des Individualisierungsgrades des Patienten, der Qualität der Objektkonstanz und der Ambivalenztoleranz vergleichen. Bleichmar hat,
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aufgrund jahrzehntelanger klinischer Erfahrung und Forschung, in einem komplexen Modell die Entstehungs- und Abfolgebedingungen für die verschiedenen Depressionsformen herausgearbeitet. Er differenziert zwischen dem depressiven Zustand selbst, dem klinischen Bild der Depression und ihrem Verlauf, also den Phasen, in denen eine Depression abklingt. Zentral ist dabei, dass es nicht auf den Verlust eines realen oder imaginierten Objekts selbst ankommt, sondern darauf, wie der Verlust verarbeitet wird, also auf die Reaktion des Subjekts. Dabei spielen für die Erfahrung und das Erleben des Verlustes sowohl bewusste als auch unbewusste Phantasien eine Rolle. Neben dem Objektverlust kommen der anhaltende Wunsch nach dem Objekt hinzu und eine Vorstellung davon, dass das Objekt unerreichbar bleibt. Das bedeutet, dass das Objekt psychisch als verlorenes repräsentiert sein muss. Aus der inneren Repräsentanz, dass der Wunsch unerfüllbar bleibt, entsteht dann auch das Gefühl von Schmerz. Dabei kann es sich nicht um irgendeinen Wunsch handeln oder um irgendein Objekt, sondern es gibt spezifische Merkmale, die Wunsch wie Objekt einzigartig machen, so dass diese nicht ersetzt werden können. Denkbar sind Wünsche nach Triebbefriedigung, nach Bindung wie zum Beispiel körperlichem Kontakt, Verschmelzungsphantasien oder narzisstische Wünsche (nach Kompetenz bzw. Anerkennung, aber auch nach Perfektion oder uneingeschränkter Bewunderung sowie nach omnipotenter Kontrolle). Es kann sich auch um Wünsche nach dem Wohlergehen des Objekts handeln, wobei hier vor allem Schuldgefühle eine Rolle spielen. Diese Zusammenstellung ist keineswegs vollständig, und es ist auch nicht ausgeschlossen, dass verschiedene Wünsche gleichzeitig eine Rolle spielen. Das Subjekt erlebt sich als unfähig und hilflos, diese Wünsche zu erfüllen. Diese erlebte Hilflosigkeit ist noch wichtiger für das Verständnis der Depression. Sie spielt eine entscheidende Rolle, denn sie führt dazu, zusammen mit den unerfüllbaren Wünschen gegenüber dem Objekt, dass die Versuche, die Wünsche zu erfüllen, nach und nach eingestellt werden, was dann zu Apathie und Hemmung führt, den zentralen Merkmalen des depressiven Zustands (vgl. Bibring 1953). Somit spielt nicht der Objektverlust die entscheidende Rolle, sondern die Wahrneh-
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mung und Repräsentanz der eigenen Unfähigkeit, die gewünschten Ziele zu erreichen. Mit diesen wenigen, kurz skizzierten Aspekten sollte deutlich werden, dass für an schweren Depressionen erkrankte Menschen ein Handeln und kreatives Schaffen nicht möglich ist. Die Leere und das Festhalten am verinnerlichten Objekt verunmöglichen geradezu produktive Auseinandersetzungen mit dem Leben, mit der äußeren Realität und mit den Objekten. Wie kommt es nun, dass immer wieder davon gesprochen wird, dass bei künstlerischem Schaffen Phasen von Unsicherheit, Verzweiflung und Depression durchlaufen werden, die gewissermaßen als Voraussetzungen für den kreativen Prozess und für neue Entwicklungen und künstlerische Produkte angesehen werden. Um tatsächlich depressiv Erkrankte kann es sich dabei jedenfalls nicht handeln. Doch wie kann es sein, dass so viele Menschen nach Objektverlusten und Trauerphasen mit produktivem Schaffen reagieren können und wo liegen dann die Unterschiede? Einige Beispiele von Künstlern sind bereits genannt worden, die auf Objektverluste mit kreativem Schaffen reagierten. Diese Beziehung ist jedoch keineswegs selbstverständlich. Eine Erklärungsmöglichkeit wäre, dass es zwei verschiedene Modi gibt, die zu kreativem Verhalten führen können. Der eine Modus basiert auf einer narzisstischen Grundlage, bei der es immer wieder darum geht, sich der eigenen Unversehrtheit zu versichern und dabei einer befürchten Katastrophe entgegenzuwirken. Hierzu bedarf es einer pausenlosen Anstrengung, um sich immer wieder zu bestätigen, den (verinnerlichten) Ansprüchen gerecht werden und über die äußere Welt und die (bedrohliche) Realität zu triumphieren zu können. Im anderen Modus basiert die kreative Auseinandersetzung auf der Anerkennung der eigenen Begrenztheit und der Möglichkeit des Scheiterns, wodurch erst die (innere) Freiheit entsteht, Neues in Angriff zu nehmen und Produktivität im Schaffen erreichen zu können. Hierbei geht es also um die Frage des kreativen Umgangs mit Verlust, mit Grenzen und mit dem Scheitern.
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■ Kreativität als Prozess Viele psychoanalytische Autoren haben zum Thema Kreativität theoretische Überlegungen formuliert (vgl. Auchter 1978; Eissler 1963; Niederland 1967; Mitscherlich 1972; Winnicott 1958, 1971). Dabei bleibt zweifelhaft, ob noch so subtile psychoanalytische Untersuchungen dem Wesen der Kreativität tatsächlich gerecht werden beziehungsweise dieses Rätsel entschlüsseln können. Deshalb wird es auch hier nur bei einer Annäherung bleiben. Es gibt unterschiedliche Sichtweisen dazu, was Kreativität ausmachen soll. Meist wird damit die Herstellung von etwas Neuem beschrieben, zum Beispiel in der Kunst oder in den Wissenschaften. Kreativität kann aber nicht statisch am Ergebnis orientiert, sondern vielmehr als Prozess verstanden werden, bei dem alte Strukturen aufgelöst werden und erst nach einer Phase der Verunsicherung Neues entsteht und sich entfaltet. Sterba spricht von Kreativität als einer »regressiven Selbstpassage« (Kligerman 1972), denn mit der Auflösung alter Strukturen geht auch eine vorübergehende Labilisierung und Auflösung innerer psychischer Strukturen einher. Kreativität wäre also ein Prozess der Regression und Progression zugleich. Nach der Auflösung und Labilisierung erfolgt dann jedoch unbedingt dazugehörig die Phase einer neuen Synthese. Als Prototyp eines kreativen Prozesses wäre zum Beispiel der Traum anzusehen. Auch hier geht es um das motivierte Aufbrechen vorhandener Strukturen im Rahmen regressiver Prozesse. Durch die unbewusste beziehungsweise vorbewusste Umgestaltungsarbeit werden die einzelnen Komponenten neu zusammengefügt und, was ebenso wichtig ist, mit einer inneren Bedeutung versehen. Ein kreativer Akt ist nämlich kein unwillkürlicher Vorgang, er ist vielmehr motivationsabhängig und das Ergebnis muss mit einer Bedeutung versehen sein. Hätte der geträumte Traum keine Bedeutung, wäre er nur beliebige Spielerei. Eine wichtige Traumfunktion, die sich neben anderen beschreiben lässt, ist die kreative Suche nach Problemlösungen. So gelten der belgische Chemieprofessor Friedrich von Kékule, der Erfinder Elias Howe oder der Professor für assyrische Geschichte Herman Hilprecht als bekannte Beispiele dafür, dass ihnen die Lösung ei-
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nes Problems aus dem Wachzustand, mit dem sie sich längere Zeit auseinander gesetzt hatten, schließlich mit Hilfe ihrer Träume gelang (vgl. Mitscherlich 1972; Van de Castle 1994 für weitere Beispiele). Aber auch andere »Zielsetzungen« des Traums sind denkbar, etwa die Aufgabe der Regulierung und Verarbeitung von Affekten, wie dies von Moser und von Zeppelin (1996) präzise beschrieben wurde. Mit diesen Beispielen soll auch angedeutet werden, wie komplex die Voraussetzungen und Bedingungen für kreatives Problemlösen erscheinen, etwa hinsichtlich des Vorhandenseins von Symbolisierungsfähigkeit bezüglich der Voraussetzungen, überhaupt träumen zu können (vgl. Lewin 1953) oder einen intermediären Raum zur Verfügung zu haben, in dem spielerisch neue Lösungen gefunden und ausprobiert werden können (vgl. Winnicott 1971; Fonagy u. Target 1996). Kubie (1958) ist der Überzeugung, dass das Vorbewusste der eigentliche Ort des kreativen Prozesses sei, denn dort herrsche genügend Flexibilität, um Vorstellungsinhalte neu zusammenzubauen. Das Bewusstsein mit sekundärprozesshaftem Denken sei hierfür zu rigide, das Unbewusste mit primärprozesshaftem Denken, den Affekten, Ängsten und so weiter aber ebenfalls ungeeignet. Die Bedeutung des Vorbewussten als Ort für kreative Umstrukturierungen deckt sich mit Befunden experimenteller Studien zu Traum und Gedächtnis, die im Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt am Main durchgeführt wurden und in denen spezifische Zerlegungsund Neuzusammensetzungsprozesse von Tagesresten in den Träumen beschrieben werden konnten (vgl. Hau 1999, 2002; Hau et al. 2002; Leuschner 1986, 1999; Leuschner u. Hau 1992; Leuschner et al. 1994, 1999, 2000). Was den künstlerischen Prozess betrifft, so lassen sich auch hier – analog zum Traum – die Vorgänge von Regression (Dissoziierung) und Progression (Reassoziierung) wiederfinden, Vorgänge, an denen unbewusste Prozesse maßgeblichen Anteil haben und die im Rahmen der experimentellen Beforschung von Träumen immer wieder bestätigt wurden. Der Idee, Kreativität als Prozessverlauf zu konzeptualisieren, unterliegt der Gedanke, dass nur dann von kreativem Schaffen und Gestalten gesprochen werden kann, wenn dabei etwas Neues,
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noch nicht Vorhandenes entsteht (Müller-Braunschweig 1984). Alte Muster werden dabei verlassen, alte Strukturen und Gewohnheiten gebrochen und aufgelöst. Dieser Prozess lässt sich in verschiedene Sequenzen zerlegen und einzeln beschreiben (vgl. Ruff 2001). Zunächst muss eine Motivation bestehen, etwas zu verändern. Diese kann zum Beispiel daraus resultieren, eine Situation nicht bewältigen zu können oder vor einer zunächst unlösbaren Aufgabe zu stehen. Gleichzeitig beginnt eine von Neugier und Wissenwollen getragene Auseinandersetzung mit der Situation (vgl. das Konzept zum »Schau- und Wisstrieb«, Freud 1905d), wobei an frühere Erfahrungen angeknüpft wird. Die Neu-Gier kann Angepasstheit verhindern, die Winnicott (1971) als das Gegenteil von Kreativität begreift. Müller-Braunschweig (1984) hat diese Sequenz »Vorbereitungsphase« genannt, in der Insuffizienz- und Defizienzgefühle vorherrschen. In der Folge kommt es zu Verunsicherung und der leidvollen Erfahrung, die Situation noch nicht bewältigen zu können. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung lassen sich die unterschiedlichsten Phänomene beobachten: Über-Ich-Strukturen »weichen auf«, unter Umständen werden Grundsätze und Überzeugungen aufgegeben. Dabei muss jedoch die Bereitschaft bestehen, sich auch labilisieren zu lassen. Die Wahrnehmungsfähigkeit verschärft sich und die Ich-Grenzen werden durchlässiger. Das Erleben ist tendenziell zeitlos und der Leidensdruck nimmt zu. Der Angstpegel, der für das jeweilige Individuum gerade noch erträglich ist, darf nicht zu hoch steigen. Einen Schutz davor bietet der Rückzug nach innen, das »in Klausur gehen«. Gleichzeitig ist Ambiguitätstoleranz gefordert, die Fähigkeit, Unsicherheit auszuhalten, was mit einem Rückzug von außen nach innen einhergehen kann. Schließlich kommt es zur Krise, zu zwischenzeitlichen Enttäuschungen, gerade wenn Lösungsversuche auf ausgefahrenen und bekannten Wegen scheitern. Der Druck kann sich erhöhen, wenn – von außen vorgegeben – nur eine befristete Zeit zur Verfügung steht. Die Regression steht dabei aber im Dienste des Ich. Die Qual des Mehr-Wissens und Mehr-Wollens und Noch-nicht-Könnens führt dann zu einer Verschärfung, wenn sich die Wünsche als unlösbar beziehungsweise unerfüllbar erweisen sollten. Das kann zu
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Niedergeschlagenheit und Verzweiflung führen. Umso befreiender werden Lösungsperspektiven erlebt. Dann stellt sich das Gefühl des Durchbruchs ein. Wird Neues möglich, kann das als ein fast orgiastisches Gefühl erlebt werden.1 Diese Perspektiven führen zu neuen Entwürfen, die mit wunschbeziehungsweise triebnahen Vorstellungsbildern durchsetzt sind. Die ersten Entwürfe erscheinen als noch nicht fest umrissen, sondern eher vage. Sie können mit einem »Übergangsraum« verglichen werden, wobei einzelne Elemente nebeneinander gestellt und geordnet werden (unter Beteiligung von Vorbewusstem und Unbewusstem). Die Suche nach Problemlösungen kann man als sich selbst organisierende Versuche auffassen, wobei die Entwürfe im Rahmen eines inneren Dialogs ergänzt und überprüft werden. Kommt es dann schließlich zur Ausführung, also zur Gestaltung eines ersten Entwurfs in der äußeren Wirklichkeit, wird das Geschaffene, das »Produkt«, zur Kommunikation mit anderen gegeben. Dabei kann eine Sehnsucht nach eigener Vervollkommnung und nach Anerkennung durch Andere große Bedeutung haben. In der Ausarbeitungsphase (Kris 1952) ist eine geordnete und gerichtete Aggressivität bei der Ausführung nötig. Der innere Entwurf wird in der äußeren Wirklichkeit realisiert, hierdurch wird ein innerer Dialog möglich. Das Hochgefühl bei Lob (Betonung von Ganzheit und Intaktheit) hält meistens aber nur kurz an, denn wenn die innere Vorstellung mit der Realisierung verglichen wird, treten oft wieder die »Mängel« in den Vordergrund. Entwickelt sich dieser Prozess auf der Grundlage eines narzisstischen Modus, kann daraus eine Art Sisyphosvorgang entstehen, in dem immer wieder versucht wird, die wunderbaren Momente von Intaktheit (und Überleben) zu erleben. 1 Heinrich Böll hat diesen Vorgang eindrucksvoll beschrieben, und zwar in Bezug auf seine Art, einen Roman zu schreiben: »Nun, ich fange an, den Roman niederzuschreiben, wenn er sozusagen überzulaufen droht, und dann schreibe ich zunächst einmal drauf los. Sehr lange Zeit, ohne zur Besinnung zu kommen. Das ist ein Zustand der hohen Gereiztheit, weil ich immer das Ganze vor mir haben muß und einfach die Quantität mich schreckt. Es ist sehr schön und erschöpfend. Wenn ich dann das Ganze des Romans in der ersten Fassung habe, fange ich an, richtig zu arbeiten« (Bienek 1962; zit. n. Müller-Braunschweig 1984).
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Aus der Perspektive einer solchen Konzeption ist Kreativität als ein hoch dynamischer Prozess anzusehen, der nur schwer mit der Starre und dem Eingekapseltsein depressiver Patienten in Einklang gebracht werden kann. Somit steht diese Konzeption auch im Widerspruch zu Annahmen, Depression und Trauer seien Voraussetzung für Kreativität (vgl. Loch 1989; Müller-Braunschweig 1984). Dieser Zusammenhang mag allein für die Trauerreaktionen gelten, aus dem klinischen Bild der Depression entwickelt sich jedoch kein kreatives Handeln. Was sind dann aber aus psychoanalytischer Sicht die Quellen von Kreativität? Winnicott (1971) sah Kreativität beziehungsweise das Spielen als eine eigene Entwicklungslinie, die unabhängig von Triebsublimation zu sehen ist. Freud (1910c) hingegen verstand Kreativität als sekundäres Produkt sublimierter Triebwünsche. Für Freud war Kunst gleichbedeutend mit einer Illusion oder einer »milden Narkose«, der Religion ähnlich. Mit dieser Einschätzung übersieht Freud nicht nur den eben entwickelten Prozessgedanken der Kreativität, sondern auch, dass Kunst harte Arbeit beziehungsweise Gesellschaftskritik enthalten kann. Wirth (2001) beschreibt hingegen ein Spannungsfeld zwischen kreativem Schöpfen des eigenen Lebens einerseits oder der Situation des Menschen, sich als ein Spielball der Triebkräfte zu fühlen, andererseits. Kreativität und mögliches Scheitern lassen sich somit als Modi menschlicher Existenz auffassen (vgl. Schafer 1972). Vor diesem Hintergrund leuchtet der etwas andere Akzent ein, den Rank (1932) setzt. Er vergleicht den gescheiterten Kreativitätsprozess mit der Neurose. Zentral sei, dass das Bewusstsein über den eigenen Tod und der Versuch, diese Todesangst zu bewältigen, als Triebfedern für kreative Leistung anzusehen seien. Rank meint, dass menschliche Kreativität dazu beitrage, das Wissen um den Tod in das Leben zu integrieren. In den folgenden Bildbeispielen des Schweizer Malers Ferdinand Hodler hat dieses Todesbewusstsein eine große Bedeutung. Dabei besteht die Tragik darin, dass Menschen beides in sich tragen: die Möglichkeit zu Kreativität und Selbstverwirklichung und gleichzeitig die Möglichkeit zu scheitern, also zur Destruktivität. In den Trauerprozessen beziehungsweise in den Beispielen des kreativen Umgangs mit diesem Lebensgefühl werden diese beiden Möglichkeiten besonders deutlich sichtbar.
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Leben ist erst dann kreativ möglich, wenn auch das Scheitern mit akzeptiert wird. Kreativität kann somit als nichtpathologische Möglichkeit angesehen werden, mit dem Scheitern umzugehen, so wie auch die Trauer eine Möglichkeit dafür bietet, dass Kreativität entsteht. Wenn Trauer verweigert wird, kann sich das Scheitern fixieren, das dann wiederholt werden muss (ähnlich den Vorgängen nach einer Traumatisierung). Kreativität benötigt Trauer, eine Einsicht in die Begrenztheit, in das Scheitern als Bedingung für das Leben, die aber immer wieder erarbeitet werden muss. Das wiederum impliziert jedoch Handeln. Ein bestehender Wunsch wird versucht, in eine Handlung umzusetzen mit einem anschließenden Ergebnis. Diese Aktionen geschehen aber nicht im luftleeren Raum, sondern in einem gesellschaftlichen Kontext. So gesehen entfaltet das Selbst sich nicht mittels singulärer Aktionen, sondern in Interaktionen mit anderen. Intrapsychisches Erleben und interpersonelles Erleben lassen sich in konstitutivem Zusammenhang denken. Das gilt auch für kreatives Handeln. Kreativität wäre somit als ein Gestaltungsprozess der interpersonellen Beziehungen denkbar. Gelingt die interpersonelle Interaktion jedoch nicht, bedeutet dies Scheitern. Aus den unterschiedlichen Kombinationsmöglichkeiten verschiedener Motivationssysteme und der zahllosen Möglichkeiten der Gestaltung eines interpersonellen Dialogs ergeben sich Freiheitsmöglichkeiten. Diese schlagen sich zum Beispiel in Trennung und Bindung nieder, sind in Vertrautem und im Fremden zu finden. Diese Auffassung steht nicht im Widerspruch zu dem bereits skizzierten dynamischen Prozessmodell der Kreativität, verknüpft dieses jedoch mit einer interpersonellen Perspektive.
■ Künstlerische Kreativität und Todesverarbeitung bei Ferdinand Hodler Nun sei auf ein Beispiel kreativen Schaffens aus der Malerei eingegangen. Der Schweizer Maler Ferdinand Hodler belegt eindrucksvoll, wie trotz multipler Verlust- und Todeserfahrungen ein kreatives Schaffen (hier: in der Malerei) möglich ist.
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Wie bereits angedeutet, können zwei unterschiedliche innere Ausgangsbedingungen für kreatives Schaffen angenommen werden. Eine ist die Anerkennung der eigenen Begrenztheit beziehungsweise die Anerkennung der Möglichkeit des Scheiterns. Aus dieser Situation sind zutiefst menschliche kreative Leistungen möglich, mit denen – trotz der bestehenden Verlust- und Todesnähe – das Risiko eingegangen wird, unter Berücksichtigung des Fremden, des Anderen, zwischenmenschlich offen zu sein und Neues, oft auch Gemeinsames, Produktives zu entwickeln und zu erschaffen. Wie immer auch die Ausgestaltung im Einzelnen aussehen mag, es muss eine Vorstellung eines Objekts geben, das gut und verfügbar ist, also liebenswert und nicht zerstörerisch erscheint. Demgegenüber steht eine Ausgangsbedingung, in der kreatives Handeln auf der Vermeidung eines narzisstischen Zusammenbruchs, einer gefürchteten Katastrophe basiert. Motor für Kreativität wäre hier die Suche nach dem Gefühl von Intaktheit, Unversehrtheit, der Erfüllung eigener Idealvorstellungen, auf die mehr Verlass zu sein scheint als auf andere, als auf die Objekte. Das führt meines Erachtens zwar auch zu kreativen Leistungen, doch diese wirken eher leer, unzugänglich, strahlen nicht die Wärme aus wie im Fall der zuerst geschilderten Bedingung. Die Beispiele einiger Bilder von Ferdinand Hodler stammen aus einem Lebenswerk, das vor dem Hintergrund von Objektverlust, Tod und Sterben entstand und das sich zu den Überlegungen zu Kreativität, Trauer und Verlusterfahrung in Bezug setzen lässt. Doch zunächst einige Informationen aus Hodlers Biographie: Ferdinand Hodler wurde am 14. März 1853 als ältester Sohn von insgesamt sechs Kindern geboren. Die gesamte Kindheit und Jugend waren von großer Armut der Familie, Krankheiten und Tod überschattet. Der Vater Johann Hodler war Schreiner und Tischler aus Bern und wird als wortkarger, finsterer Mensch geschildert, während seine Mutter als stets mutig, fröhlich aufgelegt galt und immer ein Lied auf den Lippen zu haben schien. Die Mutter galt als lebensbejahend, der Vater als schwermütig. Die Eltern heirateten 1852, weil die Mutter ein Kind erwartete. Ein Jahr nach Ferdinand Hodlers Geburt kam im Mai 1854 der Bruder Johann Adolf zur Welt, erneut ein Jahr später, am 12. August 1855 die Schwester Marie-Else.
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1857 erkrankte der Vater an Tuberkulose, die ihn zwang, Bern ein Jahr später krank und verschuldet zu verlassen. Drei Wochen nach dem Wegzug des Vaters, Ferdinand war mittlerweile fünf Jahre alt, wurde am 24. Mai der zweite Bruder geboren, Friedrich Gustav. Die Familie zog mehrmals innerhalb des Stadtviertels um und übersiedelte schließlich 1859 nach La Chaux-de-Fonds, wo der Vater in einem milderen Klima wohnte. In diesem Jahr (am 24. August) kam der dritte Bruder zur Welt, August. Im November wurden alle Arbeitsmaterialien des Vaters verpfändet, im Dezember starb der viermonatige August an Tuberkulose. Im Jahr darauf machte Johann Hodler Konkurs, wurde aber vom Gericht für nicht verantwortlich erklärt. Im Oktober kam das sechste Kind zur Welt: Theophile-August. Am Weihnachtstag 1860 starb der Vater an Schwindsucht, vier Monate später Hodlers Bruder Friedrich Gustav in seinem dritten Lebensjahr (Tuberkulose). Hodler wird später mit dem Satz zitiert: »In der Familie war ein allgemeines Sterben. Mir war schließlich, als wäre immer ein Toter im Haus und als müsste es so sein.« Nach dem Tod des Vaters übersiedelte die Familie zurück nach Bern. Die Mutter lernte dort den »Flachmaler« Gottlieb Schüpbach kennen, verwitwet mit fünf Kindern. Schüpbach übernahm eine Malwerkstatt in Bern, blieb aber geschäftlich erfolglos und verfiel später der Trunksucht. Neben den nun neun Kindern kamen in den nächsten Jahren drei weitere zur Welt, von denen allerdings innerhalb eines Jahres ein Kind starb. Nachdem der Stiefvater 1871 in die USA auswanderte, starb im gleichen Jahr Ferdinands Bruder Johann Adolf sechzehnjährig an Tuberkulose. Zwischen seinem 6. und 31. Lebensjahr starben seine fünf Brüder, seine Schwester und ein Halbbruder an Tuberkulose. Die finanziellen Probleme zwangen die Familie zu vier weiteren Wohnungswechseln in den nächsten vier Jahren (bis 1865), um schließlich nach Steffisburg am Thunersee zu ziehen. Ferdinand Hodler galt als guter Schüler. Er arbeitete nach der Schule bei seinem Stiefvater und bemalte Schilder, Spieldosen und Truhen. Ferdinand Hodler übernahm die Werkstatt des Stiefvaters, als er zwölf Jahre alt wurde, und versuchte, zusammen mit seiner
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Mutter, die als Feldarbeiterin arbeitete, die Familie zu ernähren. Wenige Monate später jedoch brach die Mutter auf dem Armenland der Allmend bei Thun tot zusammen, ein weiteres Opfer der Schwindsucht. Es wird berichtet, dass Ferdinand Hodler die Mutter, zusammen mit seinen noch lebenden Geschwistern, auf einem Karren nach Hause holte. Während die Geschwister nach dem Tod der Mutter bei einem Onkel unterkamen, ging Ferdinand Hodler bei einem Freund Schüpbachs, dem Vedutenmaler Ferdinand Sommer (1812–1910), in die Lehre. Dort begann Hodler mit dem Malen von Landschaftsansichten und fertigte auch Souvenirbilder für Touristen an. Hodler meinte später selbst, dass diese Lehre für ihn den »Eintritt in die Kunst« bedeutete. Mit 18 flüchtete er aus dem Atelier und ging nach Genf. Dort malte er Firmenschilder, lernte Französisch und verbrachte die meiste Zeit in Museen, um Bilder zu kopieren. Er fand in einem französischen Fabrikanten von Spieldosen einen Unterstützer und Förderer. Hodler wurde beim Kopieren von Gemälden in Museen der Stadt vom Leiter der Genfer Zeichenschule (Berthélemy Menn) entdeckt und in die Klasse für Figurenzeichnen an der Ecole des Beaux-Arts aufgenommen. Hodler erwies sich schnell als begabter Schüler. Innerhalb von sechs Jahren wurde aus dem »hergelaufenen Vedutenmaler« ein individueller Künstler. Hodler gewann Kenntnisse in Porträtmalerei, Modellieren, plastischer Interpretation und besuchte Anatomiekurse. 1874 starb der Stiefvater in Boston. Hodler malte erste Genrebilder, Porträts, Stillleben und Landschaften. Er galt früh als meisterhafter Kolorist. Er setzte sich intensiv mit dem französischen Realismus, vor allem mit Corbet, auseinander. In seinen Bildern tauchten Themen aus der Arbeiterschaft auf (Schreiner, Bauern, Handwerker). Unter anderem stand ihm sein kurz darauf verstorbener Bruder Modell. Hodler war von Holbeins Werken und den Christusdarstellungen stark beeindruckt. In der Folge finden sich unter seinen ersten Werken auch zwei mit den Titeln: »Der tote Landarbeiter« und »Die tote Bäuerin«, beide von 1876. In diesem Jahr beteiligte er sich zum ersten Mal an einer Ausstellung und gewann erste Preise. Es gelang ihm, immer wieder längere Freundschaften zu schlie-
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ßen und Förderer zu finden. Dadurch wurde seine Malerei und Reisen nach Spanien und in die Schweizer Berge möglich. So entstanden 1878–1879 während einer Spanienreise Bilder vom Stierkampf, den Hodler als »wahre Schlachterei« bezeichnete. Im gleichen Jahr beteiligte sich Hodler mit zwei Bildern an einer Ausstellung der Stadt Genf. Eines der Bilder mit dem Titel »Der Blick in die Ewigkeit« ist verschollen. Auf dem Bild war, laut einer Lausanner Zeitung, ein »stehender Mann« zu sehen, der »sinnend den Leichnam seines Kindes betrachtet« (Gazette de Lausanne, 9. 10. 1948). In einer weiteren Besprechung des Bildes in einer Genfer Zeitung heißt es: »Wir verfügen nicht über die Kraft, Herrn Hodler so lang und so weit zu folgen« (Journal de Genève, 18. 9. 1879). Zeitlich fiel die Entstehung dieses Bildes mit dem nahenden Tod des Bruders zusammen. Die Todesthematik erschien also bereits früh in den Werken Hodlers. Neben den zahlreichen Landschaftsmalereien, in denen sie jedoch auch enthalten war, tauchten immer wieder Bilder auf, die sich mehr oder weniger direkt oder indirekt mit dem Tod befassten. Hierzu gehören die zahlreichen Gemälde und Fresken, die sich auf die Schweizer Militärgeschichte beziehen, wie auch Bilder von Abschied, Tod und Trauer, auf die noch zurückzukommen sein wird. Gerade in den Militärbildern wandte Hodler zuerst die Wiederholung als Rhythmisierung der Bildfläche an. Diese Wiederholung der Form wurde später von ihm zum Stilprinzip des »Parallelismus« ausgearbeitet. »Hodler malt wie ein Mensch, der sich Objekte, die seine Phantasie mehr belasten als erfreuen, von der Seele schaffen möchte« (Widmann 1887). Dies ist auf Bildern mit kraftstrotzenden Menschen wie zum Beispiel dem »Schwingerumzug« (1882) zu erkennen, auf dem kräftige Fahnenschwinger zu sehen sind. Besonders eindrucksvoll aber wurde dieses Motiv in den »Holzfällern« (1910) festgehalten, auf denen Leben und Tod so eng nebeneinander dargestellt sind. 1884, im Jahr als seine Schwester starb und der Vater 25 Jahre tot war, entstanden Bilder, in denen sich Hodler wiederum mit dem Tod auseinander setzte. Im Bild »Nachdenklicher Schreiner« nahm er die Thematik des verschollenen Bildes, in dem ein »ste-
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hender Mann den Leichnam seines Kindes schwermütig anblickt«, wieder auf (auch wenn das Kind direkt nicht mehr zu sehen ist, sondern nur noch durch den Sarg angedeutet wird). Gleichzeitig entwickelte Hodler ein zweites, charakteristisches Element in seinen Landschaftsbildern: eine bühnenbildartige Aufteilung in einen meist dekorativen Vordergrund und einen Hintergrund – fast immer Berge –, der kulissenartig aufgestellt wirkt. Damit wird tendenziell die Perspektive aufgehoben und eine Flächenoder Monumentalwirkung erzeugt. Inhaltlich bleiben diese Landschaften leer, es tauchen keine Objekte beziehungsweise Menschen auf. Durch das Element der Wiederholung in Hodlers Bildern entsteht einerseits eine Rhythmisierung, die einer Vereinfachung gleichkommt, indem alles, was der Verwirklichung des Leitgedankens nicht dienlich wäre, weggelassen wurde, andererseits hat dies eine Reduktion von Erregung zur Folge. Hierin könnte ein Intellektualisierungsversuch als Bewältigungsstrategie gesehen werden. Hodler versuchte später das Prinzip des Parallelismus mit dem Trachten nach Monumentalität zu verbinden. Zehn Jahre nach seinem Weggang aus dem Atelier von Sommer mietete sich Hodler ein eigenes, karges Atelier. Augustine Dupin, eine Näherin, stand ihm Modell und wurde schließlich seine Geliebte. 1887 kam der Sohn Hektor auf die Welt; das Paar heiratete jedoch nicht. Hodler heiratete stattdessen 1889 Bertha Stucki. Die Ehe hielt aber nur zwei Jahre, und Hodler kehrte zu Augustine Dupin zurück. 1891–92, nach der Scheidung, malte Hodler an Bildern mit den Titeln »Die enttäuschten Seelen« oder »Die Lebensmüden«. Letztgenanntes Bild hat einen Vorläufer (»Der Lebensmüde« von 1887), zu dem Hodler in einem Brief schreibt: »… einen Greis, auf dessen Haupt es ordentlich geschneit hat … ich schmettere Dir den appetitlichen Titel ans Maul: Lebensmüde. Der Kerl wird Euch ergötzen. Er wird Eure Gedärme aufwühlen, wenn Ihr überhaupt welche habt. Er wird Eure Muskulatur erschüttern, Euch das Rückgrad zerbrechen, Euch die festesten Gelenke aus dem Leim bringen; er wird Euch zum Zittern zwingen; er wird Euch zum Furzen, zum Spukken und zum Kotzen anregen« (zit. n. Brüschweiler 1983, S. 82).
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Abbildung 1: Der Lebensmüde, 1887, Öl auf Leinwand; H 128 cm, B 99 cm, Kunstmuseum Winterthur (Hodler, S. 208)
Hodlers malerisches Schaffen war anfangs nicht von Erfolg und Anerkennung gekrönt. Erst in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, begann sich das Blatt zu wenden, als er auf einer Ausstellung in Paris erste Anerkennung erlangte. 1908 begegnete Hodler schließlich Valentine Godé-Darel. Er war mittlerweile 55 Jahre alt und in zweiter Ehe mit Berthe Jacques verheiratet. Beide Ehen blieben übrigens kinderlos. Valentine, die als eine selbstbewusste, charmante, sinnliche und gebildete Frau geschildert wird, eine
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Porzellanmalerin, war 35 Jahre alt und wurde die größte Liebe im Leben Hodlers. Hodler malte sie in zahlreichen Bildern als Frau von Angesicht zu Angesicht, also nicht als Muse oder Akt, sondern als eine Frau, die dem Blick des Malers begegnet. Es entstanden so eindrucksvolle Porträts. Oft kam es in der Beziehung zu Streit und Auseinandersetzungen, auch zu zeitweiligen Trennungen, doch immer wieder fanden beide zusammen, erkannten ihre einzigartige Liebe. Aber bereits vier Jahre nach ihrem Kennenlernen erkrankte Valentine an Krebs. Nach einem weiteren Jahr, sie war 40 Jahre alt und schwanger, war die Krankheit bereits in fortgeschrittenem Stadium. Die Tochter Pauline wurde im Oktober 1913 geboren, aber die Mutter konnte sich nicht mehr um das Kind kümmern. Neben Hodler kümmerte sich vor allem dessen Frau Berthe um das Kind. Das Kind der Geliebten des eigenen Mannes großzuziehen verweist auf eine ungewöhnliche Beziehungskonstellation. Hodler selbst war von der Erkrankung Valentines so sehr gefangen und erschüttert, dass sein Blick fast nur noch auf das Krankenbett gefesselt schien. Wieder waren Tod, Krankheit und Sterben, das vorherrschende Thema seines Lebens, um ihn herum. In derselben Zeit starben nicht nur seine ehemalige Lebensgefährtin Augustine, die Mutter von Valentine, sondern auch der Sohn erkrankte an Tuberkulose. Die Bilder, die Hodler am Krankenbett und am späteren Sterbebett von Valentine malte, zählen wohl zu den eindrücklichsten Schilderungen des Sterbens in der Kunstgeschichte. Es sind zwar von anderen Künstlern Bilder in der Auseinandersetzung mit Tod und Krankheit bekannt, aber sie haben nicht jene Vehemenz und Konsequenz, die die Arbeiten Hodlers auszeichnen. Gemeint sind Darstellungen von Géricault aus der Salpêtrière oder Bilder von Edvard Munch. Von Käthe Kollwitz existieren Arbeiten über Krankheit, Armut, Elend und Gefangenenlager. Aber niemand hat einen geliebten Menschen so genau beobachtet, aber auch so unerbittlich bis zum Tod gemalt, wie Hodler dies tat (vgl. die eindrucksvolle Schilderung des Zyklus durch Kraft 1984). Der gesamte Zyklus wurde erst in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts rekonstruiert. Er besteht aus 50 Ölbildern, über 300 Zeichnungen und Skizzen und einer Skulptur. Alle Darstel-
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Abbildung 2: Bildnis Valentine Godé-Darel, 1912, Öl auf Leinwand; H 43 cm, B 33 cm, Kunsthaus Zürich (Hodler, S. 371)
lungen zeigen Valentine Godé-Darel, wobei sie auf den meisten Bildern als Kranke dargestellt ist. Als Valentine im Februar 1914 operiert werden muss, werden in den Darstellungen erste Anzeichen von Wehmut erkennbar. Vor der Operation musste Hodler sie unbedingt modellieren. Hodler, der Maler, stellte eine Büste her, weil er das Gefühl hatte, Valentine sei in den Bildern nicht genug erfasst.
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Abbildung 3: Valentine Godé-Darel im Krankenbett, Februar 1914, Öl auf Leinwand; H 63 cm, B 86 cm, Kunstmuseum Solothurn (Hodler, S. 378)
Drei Monate später wurde eine weitere Operation vorgenommen. Ab diesem Zeitpunkt wird in den Bildern der rapide Verfall und das Fortschreiten der Krankheit sichtbar. Hodler selbst sagte, sie sinke aus der »Vertikalen des Lebens« in die »Horizontale des Todes«. Am Ende des Jahres war ihm klar, dass Valentine sterben werde. Auf den Bildern ist sie zurückgesunken zu sehen, mit geschlossenen Augen und eingefallenem Gesicht. Kraft (1984, S. 312) bemerkt, dass auf manchen Bildern das Betttuch horizontal verläuft; dadurch entstünden Linien, die »wie Barrieren zwischen Maler/ Betrachter und Valentine anmuten.« Am 26. Januar 1915 starb Valentine Godé-Darel. Aber auch die tote Valentine malte Hodler weiter. Sie wurde zwei Tage nach ihrem Tod beigesetzt. In dieser Zeit malte Hodler wie besessen drei monumentale Gemälde und weitere vier Studien von der Toten.
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Abbildung 4: Die kranke Valentine Godé-Darel, November 1914, Öl auf Leinwand; H 43 cm, B 33 cm, Rudolf Staechelin’sche Familienstiftung (Hodler, S. 380)
■ Einige abschließende Überlegungen In Momenten der Trauer ist es keineswegs selbstverständlich, dass Menschen angesichts eines drohenden oder endgültigen Objektverlustes, wie zum Beispiel bei dem Verlust einer nahe stehenden
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Abbildung 5: Die sterbende Valentine Godé-Darel, 1915, Öl auf Leinwand; H 54 cm, B 44 cm, Privatbesitz, Zürich (Hodler, S. 384)
Person, produktiv und kreativ arbeiten können. Eher das Gegenteil scheint nahe liegend: Gefühle von Lähmung, Trauer, Niedergeschlagenheit, Schwäche, Ratlosigkeit, Hilflosigkeit, die meist mit Unproduktivität einhergehen, herrschen vor. Immer wieder wurde versucht, psychoanalytische Überlegungen hierzu mit Beispielen aus dem Bereich der Kunst zu belegen. Nicht zuletzt Kraft (1984) hat in seinem Aufsatz über Hodlers Bilderzyklus über die Krankheit und das Sterben seiner Freundin und Lebensgefährtin Valentine Godé-Darel versucht, lebensgeschicht-
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Abbildung 6: Die sterbende Valentine Godé-Darel, 24.01.1915, Öl auf Leinwand; H 60,5 cm, B 90,5 cm, Öffentliche Kunstsammlung Basel (Hodler, S. 391)
Abbildung 7: Die tote Valentine Godé-Darel, 26.01.1915, Bleistift, Öl auf Papier; H 39,5 cm, B 64 cm, Öffentliche Kunstsammlung Basel (Hodler, S. 395)
liche Daten mit dem Bilderzyklus in Verbindung zu bringen und diesen damit zu interpretieren. Dennoch ist zu fragen, ob sich eine solche Interpretation überhaupt durchführen lässt oder ob man sich dabei nicht auf
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ein unsicheres Terrain begibt. Es mag bei einer solchen Lebensgeschichte verwundern, dass es Hodler überhaupt gelungen ist, ein kreativer Maler zu werden. Bei den Überlegungen, welche Faktoren dabei eine Rolle gespielt haben mögen, kommt man aber über das Aufstellen von Hypothesen nicht hinaus. Eine Kombinatorik aus der Betrachtung einzelner Kunstwerke, lebensgeschichtlicher Daten und klinischen Wissens zur Erlangung von Schlussfolgerungen auf die Persönlichkeit des betreffenden Künstlers, um daraus eventuelle unbewusste Konflikte zu folgern, ist wenig sinnvoll. Hier soll weder dieser Weg beschritten, noch die Debatte um psychoanalytische Kunstrezeption nachgezeichnet werden (Wirkung des Kunstwerks auf den Betrachter als Informationsquelle, Übertragungs- bzw. Gegenübertragungskonzept etc.). Allenfalls könnte der umgekehrte Weg ein Stück verfolgt werden: Welche Informationen lassen sich aus Bildern und Biographie, welche zugänglichen Informationen lassen sich als unterstützendes Material für die Überlegungen zu den der Kreativität zugrunde liegenden Prozessen heranziehen? Welche Belege lassen sich für einen narzisstischen Modus beim Umgang mit Objektverlust finden und welche Hinweise gibt es auf den Modus der Trauer und der Anerkennung der Möglichkeit des eigenen Scheiterns? Man würde von unsicheren äußeren Objekten sprechen können, von der Verlässlichkeit des eigenen Ich-Ideals als innerem Partner, von Hodlers krankhafter Eifersucht, seinen klammernden Beziehungen, von somit selbstverschuldeten und von realen Objektverlusten, von der Rückgängigmachung des Verlustes durch das Bild, vom Versuch der Vollkommenheit und Unsterblichkeit durch das Malen, vom Umgang mit Aggression und Trauer beim Malen und Zeichnen der Sterbenden, vom Denkmal, das er ihr damit setzte. Und weiter: dass sich doch hinter der manifesten Oberfläche der Bilder Hodlers etwas von dessen Not, von der Einsamkeit und Leere, den traumatischen Qualitäten der Objektverluste und letztlich seiner Beziehungslosigkeit beziehungsweise Beziehungsangst erkennen ließe. Eines dürfte zumindest deutlich geworden sein: Bei Hodler kann es sich keineswegs um ein klinischmanifestes Bild der Depression handeln. Auch zeigt sich im Vergleich zu dem oben zitierten Kommentar
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zu dem Bild »Der Lebensmüde« eine Veränderung im späteren Alter, die besonders deutlich in einem seiner späten Selbstporträts ihren Niederschlag findet.
Abbildung 8: Selbstbildnis lächelnd VII, 1916, Öl auf Leinwand; H 62,5 cm, B 60 cm, Kunstmuseum Winterthur (Hodler, S. 428)
Statt diese Überlegungen weiter auszuführen, möchte ich jedoch zum Abschluss Hodler selber zu Wort kommen lassen. Er notierte zu dem zuletzt angefertigten Monumentalgemälde der toten Valentine: »Der Tod, die Permanenz der Unbeweglichkeit, die absolute Unbeweglichkeit der Sprache, die Permanenz der Abwesenheit einer Lebenserscheinung sind darum so eindrucksvoll, weil der Beschauer der Toten gewahr wird, dass er selbst und dass alle anderen auch immer dahin müssen. Alle
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müssen dahin. Wir müssen nicht außer acht lassen, dass unsere Einheit größer ist als unsere Unterschiede. Was den Tod anbelangt, ist die Einheit gänzlich« (zit. nach Loosli 1921–24).
Hodler selbst überlebte Valentine um drei Jahre. Am 19. Mai 1918 starb er 65-jährig in Genf.
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■ Tomas Plänkers
Manische Abwehrformen gegen Depression
Die Auseinandersetzung mit den klinischen Begriffen der Manie, der Depression sowie der psychischen Abwehr reiht sich ein in die Untersuchung psychoanalytischer Konzepte, die für den klinisch arbeitenden Psychoanalytiker ein entscheidendes Werkzeug darstellen. Psychoanalytische Konzeptforschung untersucht die historische Entwicklung psychoanalytischer Konzepte, deren Verwendung von verschiedenen Psychoanalytikern sowie die Beziehung zu den klinischen Daten, die in das jeweilige Konzept eingehen. Allgemein interessiert der Zusammenhang zwischen klinischer Erfahrung und Konzeptbildung, deduktiv wie induktiv. Die ideengeschichtliche Entwicklung lässt gut nachvollziehen, wie ausgehend von einem ausgefeilten phänomenologischen Ansatz eine psychodynamische Perspektive entstand, die den manischen Zustand als Resultat eines inneren Beziehungsgeschehens verstand: bei Freud zunächst noch innerhalb seines Instanzenmodells von Ich, Es und Über-Ich, dann später im Rahmen der so genannten Objektbeziehungspsychologie in Richtung eines Verständnisses der manischen Abwehr im Kontext primitiver Abwehrmechanismen, die stets die Trennung von Subjekt und Objekt in Frage stellen. Beispielhaft für diese historische Abfolge, die natürlich wesentlich mehr psychoanalytische Autoren umfasst, führe ich hier im Sinn von Wegmarken die drei Namen von Kraepelin, Freud und Melanie Klein an. Von Kraepelin stammt der Begriff des »manisch-depressiven Irreseins«, auch als Zyklothymie bezeichnet, Freud sprach von der Manie als einem Tyrannenmord und Melanie Klein lokalisierte die Manie innerhalb primitiver Abwehrmechanismen. Neben der Klärung dieser theoretischen Begrifflichkeiten werde
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ich versuchen, diese Begriffe anhand einer von mir behandelten Patientin anschaulich zu machen. Die Psychiatrie unterscheidet zwischen endogenen und exogenen Psychosen, das heißt zwischen erblich bedingten und erworbenen Geisteserkrankungen, wobei bei den endogenen Psychosen die Unterteilung in Schizophrenie und Zyklothymie vorgenommen wird. Das manisch-depressive Irresein wird hier als eine erblich bedingte affektive Störung aufgefasst. Der Begriff der Manie, der aus dem Griechischen kommt und dort für eine Reihe von erregten und wahnhaften Zuständen verwendet wurde, taucht allerdings in diesem nosologischen Schema nicht als eine singuläre Krankheitseinheit auf, sondern wurde bereits im 19. Jahrhundert in ihrem engen Zusammenhang mit depressiven Zuständen oder – wie auch gesagt wird – mit melancholischen Zuständen beobachtet. Kraepelin beschrieb diese Erkrankung als abnorme Verstimmung, in der entweder nur einer der beiden Zustände vorherrscht – dann sprach man von einem unipolaren Verlauf – oder ein phasischer Wechsel zwischen beiden, das heißt ein bipolarer Verlauf. Während der depressiven Phase sind dann die bekannten Merkmale schwerer Depressivität feststellbar wie versteinerte Affektivität, ständige Besorgnis, eine starke Herabsetzung des Selbstwertgefühls, sich wertlos fühlen oder voller Schuldgefühle sein, sozialer Rückzug, Antriebsstörung, Interesselosigkeit, sexuelles Desinteresse, Schlafstörungen und nicht zuletzt ein sehr hohes Selbstmordrisiko. Während der manischen Phase herrscht dagegen eine unangemessen gehobene Stimmung vor, eine allgemeine Hyperaktivität. In ihrem Denken, Reden und Handeln sind die Patienten ausgesprochen sprunghaft und gedrängt. Sie sind leicht ablenkbar, überschätzen sich selbst und zeigen Zeichen einer allgemeinen Enthemmung. Auch die manischen Patienten leiden unter Schlafstörungen, aber im Unterschied zu den Depressiven, die klagen, nicht schlafen zu können, behauptet der Maniker, keinen oder nur wenig Schlaf zu brauchen. Beispielhaft möchte ich hier einen manisch-depressiven Patienten erwähnen, der nach seiner Entlassung aus der Klinik einige Wochen später umfangreiche Kredite aufnahm, sich damit sehr leistungsfähige Stereoanlagen kaufte, diese dann auf dem Dach eines zentral gelegenen Hauses montierte, um
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mit Beethovens »Ode an die Freude« in einem rauschhaften Konzert die Menschheit zu erlösen. Einige Tage später brachte er sich um. Das im 19. Jahrhundert von Kraepelin entwickelte Konzept des manisch-depressiven Irreseins entwickelte leider außer einer sorgfältigen Beschreibung dieser Symptomgruppen kein weitergehendes Verständnis ihrer Entstehung und Behandlung, wies aber auf diese enge Verknüpfung von Melancholie und Manie hin, weshalb ich es hier im psychoanalytischen Kontext erwähne. Denn auch Freud bezog sich auf diesen Zusammenhang und übernahm auch den psychiatrischen Begriff der Melancholie. Das Verständnis der Depression, wie Freud es in seiner Arbeit »Trauer und Melancholie« (1916-17g) entwickelte, wurde auch entscheidend für sein Konzept der Manie. Ich möchte den freudschen Gedankengang hier kurz zusammenfassen. Demnach besteht die Ausgangssituation in einem unerträglichen Verlust oder in einer nicht zu überwindenden Enttäuschung durch ein Liebesobjekt. Das Ich löst die Situation durch eine (narzisstische) Identifizierung, was Freud (1916-17g, S. 435) in die häufig zitierte Formel kleidete: »Der Schatten des Objekts fiel so auf das Ich …« Damit beschrieb er eine Situation, in der die Vorwürfe, die vorher dem enttäuschenden Objekt galten, sich durch das Über-Ich an das mit dem Objekt identifizierte Ich richten – und daraus erklärte Freud die ganze Symptomatologie der Melancholie, wie ich sie oben beschrieben habe: »Die Vorwürfe und Aggressionen gegen das Objekt kommen als melancholische Selbstvorwürfe zum Vorschein« (Freud 1921c, S. 149). An anderer Stelle sagt Freud, dass »das überstarke Über-Ich … gegen das Ich mit schonungsloser Heftigkeit wütet, als ob es sich des ganzen im Individuum verfügbaren Sadismus bemächtigt hätte. Nach unserer Auffassung des Sadismus würden wir sagen, die destruktive Komponente habe sich im Über-Ich abgelagert und gegen das Ich gewendet. Was nun im Über-Ich herrscht, ist wie eine Reinkultur des Todestriebes, und wirklich gelingt es diesem oft genug, das Ich in den Tod zu treiben, wenn das Ich sich nicht vorher durch den Umschlag in Manie seines Tyrannen erwehrt« (1923b, S. 283). Freud erweiterte diese psychopathologische Überlegung auch ins Normalpsychologische, als er davon sprach:
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»Es wäre gut denkbar, dass auch die Scheidung des Ichideals nicht dauernd vertragen wird und sich zeitweilig zurückbilden muss. Bei allen Verzichten und Einschränkungen, die dem Ich auferlegt werden, ist der periodische Durchbruch der Verbote Regel, wie ja die Institution der Feste zeigt, die ursprünglich nichts anderes sind als vom Gesetz gebotene Exzesse und dieser Befreiung auch ihren heiteren Charakter verdanken« (Freud 1921c, S. 147).
In der Manie wäre dann die Spannung zwischen Ich und Ich-Ideal aufgehoben, das Ich macht sich zum Herrn des Ich-Ideals, dessen Kritik und damit jede Selbstkritik ausgeschaltet sind, womit jegliche Hemmungen und Rücksichten entfallen. Dies ist zugleich eine kurze und bündige metapsychologische Beschreibung der psychodynamischen Vorgänge eines jeden Festes. Die Unterscheidung von Über-Ich und Ich-Ideal möchte ich an dieser Stelle übergehen, um im Folgenden der Grundstruktur der freudschen Überlegungen zu Melancholie und Manie nachzugehen. Im einen wie im anderen Fall haben wir jeweils eine hypertrophierte innerpsychische Instanz, die sich aggressiv gegen ihre Partnerinstanz wendet, diese okkupiert und sich an ihre Stelle setzt. Im Fall des übermächtigen Über-Ich verfällt das Ich der Depression, im Fall des aggressiven Ich resultiert der Zustand des manischen Triumphes.
Damit war im Unterschied zum phänomenologischen psychiatrischen Ansatz erstmals eine mit klinischen Beobachtungen verbundene These über psychische Vorgänge bei der Manie formuliert. Und die zweite bedeutende Leistung dieses Ansatzes scheint mir zu sein, dass diese psychodynamische These das menschliche Seelen-
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leben nicht aufteilt in einen gesunden und einen pathologischen Bereich, sondern Prinzipien für deren Funktionieren formuliert, die allgemeinpsychologische Relevanz haben. Freud konnte auf diese Weise verstehen, dass die uns bekannten Formen von Freude, Jubel, Triumph oder andere Formen gehobener Stimmung nicht pathologische Beispiele für das Wirksamwerden eines manischen Mechanismus sind. In all diesen Fällen sah Freud die vom ÜberIch ausgehenden Verdrängungen aufgehoben, übrigens auch im Alkoholrausch. Freud (1916-17g, S. 441) sprach hier von »der toxisch erzielten Aufhebung von Verdrängungsaufwänden«. Worauf ich bei diesem Schema aufmerksam machen möchte, ist die bekannte Tatsache, dass historisch die Entdeckung pathologischer Mechanismen bei Psychotikern dazu geführt hat, diese in weniger gravierender Form auch im neurotischen beziehungsweise normalpsychologischen Bereich festzustellen (Money-Kyrle 1965, S. 27). Für die Depression ist dies mittlerweile selbstverständlich geworden: Wir unterscheiden eine psychotische von einer neurotischen Form der Depression. Allerdings gilt diese Selbstverständlichkeit nicht so sehr für die Manie. Dieser Begriff wird auch heute noch gern für den psychotischen Bereich reserviert, während man im neurotischen Bereich eher von Omnipotenz, Hochgefühl, Hypomanie oder von einem maniformen Zustand spricht. Lewin (1950) sprach von neurotisch-hypomanischen Patienten. Der entscheidende Unterschied zwischen der psychotischen und neurotischen Form der Manie besteht darin, dass in der Psychose die Beziehung zu den Objekten weitestgehend aufgehoben wird, während sie in der neurotischen Form bestehen bleibt, aber ihre Bedeutung verleugnet wird. Bereits im Rahmen der kraepelinschen Nosologie des manischdepressiven Irreseins blieb ungeklärt, was diesen Umschlag von der Melancholie in die Manie bewirkt. Wie kommt es, dass das Ich, das in der Melancholie doch völlig im Bann des enttäuschenden Objekts steht und vom Über-Ich malträtiert wird, sich in einem Gewaltakt dieser Besetzung durch das Objekt und der Misshandlung seitens des Über-Ich entzieht und nun seinerseits das Über-Ich attackiert? Freud äußert sich darüber ziemlich dunkel und belässt letztlich diesen Zusammenhang ebenso rätselhaft wie der psychiatrische Ansatz. Er schreibt in »Trauer und Melancho-
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lie«: »In der Manie muß das Ich den Verlust des Objekts (oder die Trauer über den Verlust oder vielleicht das Objekt selbst) überwunden haben … der Manische demonstriert uns auch unverkennbar seine Befreiung von dem Objekt, an dem er gelitten hatte, indem er wie ein Heißhungriger auf neue Objektbesetzungen ausgeht« (1916-17g, S. 442). Offen bleibt hier, wie denn diese »Überwindung« des Verlustes oder die »Befreiung von dem Objekt« geschehen soll und was das Motiv dafür sein könnte. In der ihm eigenen selbstkritischen Art, in der Freud seine Forschungsdesiderate stets benannte, stellt er fest: »Die Begründung dieser spontanen Stimmungsschwankungen ist also unbekannt; in den Mechanismus der Ablösung einer Melancholie durch eine Manie fehlt uns die Einsicht« (Freud 1921c, S. 148). Etwas anderes war Freud dagegen sehr klar: dass nämlich Menschen in einem manischen Zustand nicht psychoanalytisch behandelt werden könnten. Freud vermisste hier den – wie er es nannte – »psychischen Normalzustand« (Freud 1898a, S. 513), den er im Analysanden benötigte, um mit ihm das in der Analyse auftauchende Material zu überarbeiten. Ich erwähne dies kurz, da ich darauf noch einmal Bezug nehmen werde. Nach diesen metapsychologischen Überlegungen möchte ich den weiteren Gedankengang anhand eines Behandlungsfalls verfolgen, dessen Betrachtung bei den hier aufgeworfenen Fragen weiterführen soll. Frau M.1 gab anfangs als Grund dafür, psychotherapeutische Hilfe zu suchen, ein körperliches Symptom an. Sie litt unter häufigen Verstopfungen, für die mehrfache ärztliche Untersuchungen keine organische Ursache finden konnten. Sie selber meinte, dass dies besonders intensiv auftrete zu Zeiten, wo sie beruflich sehr in Anspruch genommen sei. Sie übergab mir damals diese Beschwerden mit der unausgesprochenen Aufforderungen: »Nun sehen Sie mal zu, was Sie damit machen können.« Für mich wurde auch nicht ein wirkliches Leiden dahinter spürbar. Dem entsprach, dass sie zunächst die Vorstellung von einigen wenigen Sitzungen hatte.
1 Aus Gründen des Personenschutzes wurden alle Daten, welche Rückschlüsse auf die Identität der Patientin erlauben könnten, geändert.
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Ein paar Wochen wollte sie zu mir kommen, bis dahin sollte ich die unbewussten Ursachen geklärt und sie von diesem Symptom befreit haben. Eher nebenbei erfuhr ich Dinge, die mir gravierender vorkamen, die aber für sie nicht problematisch zu sein schienen: Sie lebte weitgehend isoliert, hatte kaum Freunde, war ganz ihrer Arbeit im oberen Management einer Bank hingegeben und besuchte regelmäßig sexuelle Partys, wobei sie sadistisch-masochistische Sexualpraktiken bevorzugte. Das stellte sie mir scheinbar ich-synton dar als eine von doch vielen Varianten sexueller Befriedigung, auch ihren zukünftigen Mann wünschte sie sich aus diesem Kreis. Den so genannten normalen Geschlechtsverkehr fand sie langweilig. Sie berichtete dies alles in einer freundlich-kultivierten Art mit einer elaborierten, gepflegten Sprache, in die sie gelegentlich Anglizismen einstreute. Sie gab mir Informationen, weil ich mich dafür zu interessieren schien, nicht weil sie unter Einsamkeit oder der Empfindung litt, ein irgendwie belastendes Sexualleben zu führen. Frau M. hat noch eine 3 Jahre ältere Schwester und meinte dazu, von der Mutter erfahren zu haben, dass nach dieser Schwester eigentlich kein weiteres Kind in die Familie kommen sollte. Die Mutter habe ihr gesagt, dass sie sie dann doch geliebt und großgezogen habe. Sie hat allerdings ein ganz anderes Bild von ihrer Mutter: »Mit der habe ich mich nie gut verstanden«, sagte sie, »ich erinnere nur Strafen und Ablehnung.« Nie habe es mit der Mutter zärtliche Kontakte gegeben. Oft beschrieb sie mir Schläge, Kränkungen und Erniedrigungen, die sie von der Mutter erfuhr. Diese habe sie oft gedemütigt, vor anderen bloßgestellt. Sie habe sie stets abgewiesen, wenn sie ihre Nähe suchte. Dagegen sollte sie für die Mutter schmusend zur Verfügung stehen, wenn diese es wollte, was sie wiederum trotzig ablehnte. Als Jugendliche wünschte sich Frau M., ein Maschinenmensch zu sein: ohne Gefühle, ohne Mängel, perfekt funktionierend. Darüber hinaus erinnerte sie, oft die Phantasie gehabt zu haben, in einer Höhle mit einem kleinen Ausgang zu sein, den sie gut kontrollieren kann oder auf einer Insel zu leben. Sie deckte sich damals abends auch so zu, dass sie völlig unter der Decke verschwand. Zu Hause habe es keinerlei intellektuelle Anregung gegeben, keine Bücher, es wurde nicht gelesen. Sie hatte einen großen Wis-
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sensdurst, arbeitete allerdings nie viel für die Schule, erzielte aber trotzdem gute Noten. Sie war insgesamt 8 Jahre verheiratet, hatte aus der Ehe eine Tochter, die nach der Scheidung bei ihrem Mann blieb und die sie seitdem regelmäßig an Wochenenden sah. Die Ehe sei eine »Katastrophe« gewesen, sie meinte übereilt geheiratet zu haben, nachdem sie den Mann nur kurz gekannt habe. Allmählich hatte sich Frau M. tatsächlich auf eine Analyse einlassen können, die sie, außer an den Wochenenden, täglich begleitete. Dies war umso bemerkenswerter, als sie beruflich sehr in Anspruch genommen war, meistens rund um die Uhr arbeitete und auch oft noch Auslandsreisen erledigen musste. Sie bemühte sich umso mehr um die Einhaltung unserer Stunden, je deutlicher ihr wurde, dass sie unter einer grundlegenden Störung ihrer Beziehungsfähigkeiten litt, die sie zwang, das Leben eines Maschinenmenschen zu führen, der erfolgreich Programme absolviert, aber keine eigenen Empfindungen und Phantasien hat, mit denen er sich verschieden von anderen, an ihnen interessiert und mit ihnen in Beziehung erleben konnte. Ihr sexuelles Agieren konnte mit der Zeit verstanden werden als Reaktion auf unerträgliche Einsamkeitsgefühle. Diese Entwicklung führte langsam zur Demontage des inneren Maschinenmenschen und machte sie sozusagen menschlicher, vergrößerte aber ihr Leiden, ihre psychischen Schmerzen. Ihre körperlichen Symptome, die sich gebessert hatten, waren längst kein Thema mehr, umso mehr aber ihre massiven Selbstzweifel, ob sie ein für andere, insbesondere für Männer, liebenswerter und Interesse weckender Mensch sein könnte. Das stand in starkem Gegensatz zu ihren glänzenden beruflichen Erfolgen, ihren Kontakten mit Prominenten aus der Wirtschaft und zu ihrem Reichtum. Zum Beispiel brach sie in einer Stunde weinend zusammen, als ich ihr ihre Einsamkeit deutete und ihr dazu ein Gedicht einfiel, dass sie in ihrer Kindheit stets gern hörte. Diese hier nur grob skizzierte Entwicklung in der Analyse ging einher mit einer Veränderung ihrer Beziehung zu mir: besser gesagt, sie begann so etwas wie eine Beziehung zu mir überhaupt erst einmal zu entwickeln, nachdem sie mich lange Zeit lediglich als Fachmann sehen wollte, dem sie die Beseitigung ihrer Symptome anvertraute. Sehr langsam ließ sie sich darauf ein, Empfindungen
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mit mir zu verbinden: Sie kommentierte den Behandlungsraum, das Liegen auf der Couch, wie merkwürdig es sei, mit mir zu sprechen, ohne mich zu sehen, ja gelegentlich ließ sie Sympathie für mich durchblicken. Zunehmend spürte sie, diese Stunden und damit zugleich mich zu brauchen, das heißt das regelmäßige Zusammensein mit mir, die kontinuierliche Situation einer interessierten, freundlichen Aufmerksamkeit für ihre inneren Prozesse. Auch in dieser Entwicklung zeigte sich ihr allmählicher Abschied von dem Selbstbild eines empfindungslosen Maschinenmenschen. Allmählich deshalb, weil sie andererseits sehr schnell diese Maschine wieder aktivieren konnte, wenn es ihr nötig erschien. In einer Freitagsstunde hatte sie ganz kurz die – wie sie es nannte – Wärme meines Behandlungsraums – erwähnt, um sich dann ausgiebig mit einrichtungstechnischen Fragen zu beschäftigen. Ich hatte ihr diese Bewegung gezeigt, und in der Folge verstand sie, dass das, was sie einerseits so sehr suchte, andererseits auch das am meisten Gefürchtete für sie war, weil die Anerkennung der »Wärme« bei mir sie spüren ließ, dass sie dazu mich brauchte, also nicht unabhängig von mir war. Kurz gefasst kann man sagen, dass sie sich in dieser Stunde in einer ängstigenden, aber doch unmittelbaren Beziehung mit mir befunden und eine Erfahrung der Abhängigkeit gemacht hatte. Daraufhin kam sie am Montag 15 Minuten später. Als sie ihren Mantel an der Garderobe aufhängen wollte, fiel dieser ihr hin. »Ach, meine Bewegungen sind heute morgen noch nicht so koordiniert«, meinte sie. Patientin: Ja, ich habe wenig geschlafen, das war vielleicht ein Wochenende! (Sie berichtete mir von verschiedenen Handwerkern, mit denen sie am Wochenende zu tun hatte, und die Umbauarbeiten an ihrem Haus vornahmen). Diese Handwerker! Erstmal musste ich mit dem mehrmals wegen des Termins telefonieren, er hat mich immer wieder versetzt, einmal, weil er nicht das richtige Werkzeug dabei hatte! Mein Gott! Zwei Stunden Arbeitszeit, 400 Euro! Jedenfalls hat das geklappt, und ich habe dann die Britta geholt. Erinnern Sie sich noch: meine alte Studienfreundin. Wir haben dann sehr schön zu Abend gegessen. Am Sonntag war ich dann noch 10 Stunden im Büro. Dann rief noch meine Sekretärin an und sagte für heute ab, wegen Krankheit. Nachher muss ich aber dringend noch organisieren, dass ein Schreiben von mir noch heute raus geht.
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Die Britta und ich, wir waren ja früher in der Uni im gleichen Semester. Sie ist ein merkwürdiger Mensch – sie sieht eigentlich viel älter aus, als sie ist. Damals war sie schön, aber jetzt hat sie so viele Falten im Gesicht, wie eine 70-Jährige. Die ist heute Lehrerin, und sie sagt, dass ihre Arbeit ihr Spaß macht. Sie scheint zufrieden zu sein. Sie macht auch noch Tonarbeiten, gibt darin Unterricht, stellt auch manchmal selber was aus. Sie hat schon schwere Schicksalsschläge erlebt. Irgendwie möchte sie mich bekehren. Wir haben ein sehr offenes Gespräch geführt. Ich sagte ihr auch, dass ich eine Psychoanalyse mache. Die hat sich mit Autogenem Training beschäftigt. Kennen Sie das? Da kann man sehr zur Ruhe kommen. Das ist wirklich erstaunlich. Ihre Überzeugung ist: Es gibt keine Zufälle im Leben, alles hängt an einem roten Faden. Mir erscheint das etwas esoterisch. Sie hat mir auch ein kleines Buch geschenkt, so mit lauter klugen Lebenssprüchen. Sie hat mir dann erzählt, wie es bei ihr zu Hause aussieht: so mit ganz vielen Kissen und Kerzen. Ganz schön. Aber bei mir mit meiner modernen Designer-Einrichtung findet sie es natürlich steril. Sie wollte mich wirklich bekehren. Aber sie wirkt glücklich! Es war wirklich ein interessantes Gespräch. Obwohl sie für mein Gefühl mich fast bedrängte mit ihrer Lebensphilosophie. Wir saßen abends zusammen und erzählten und kamen auf mein Problem mit der Einsamkeit. Sie wollte mir so Tipps geben, um mich auf ihre philosophische Basis zu bringen. Das gefiel mir nicht. Am nächsten Morgen hat sie sich dafür fast entschuldigt. Ich habe sie auch zu meinem Geburtstag eingeladen, wo wir uns doch jetzt nach so langer Zeit wieder gesehen haben. Das war die, die mir geschrieben hat. Ich: Sie erklären mir das, als ob Sie davon ausgehen, dass ich das vergessen habe. Patientin: Ich habe sie zum Zug gebracht. Sie ist ja wirklich arm, so eine Lehrerin. Die musste mit einem ganz bestimmten Zug fahren wegen ihrer Bahncard. Ich kann mir kaum vorstellen, dass man wegen ein paar Euro so rechnen muss. Sie brachte mir auch noch einen Kalender mit. – – Es war wirklich gut, dass ich mir Zeit genommen habe dafür. Der Handwerker am Wochenende war natürlich auch wichtig gewesen wegen der Lichtschalter und den Besuch konnte ich auch nicht rausschieben. Gestern beim Arbeiten im Büro hatte ich dann aber wieder Konzentrationsschwierigkeiten. Zeitweise dachte ich wieder an Sex, das schob sich so in den Vordergrund. Aber dann konnte ich mich wieder beruhigen. Als ich mit Britta über meine Schwächen redete, fühlte ich mich wie
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bei Ihnen: als die Schwächere. Wir waren dann noch in einem Lokal, von dem ich annahm, dass es ihrem Geschmack entspricht. Sie hat es genossen. Es war auch nicht so teuer. Ich habe nur 150 Euro bezahlt. Aber das ist vielleicht doch etwas teuer. Da fühlte ich mich in jedem Fall sicher. So ein französisches Lokal. Abends saßen wir dann bei mir zu Hause, da fühlte ich mich in der Enge wie am Freitag hier, so richtig beengt. Ich dachte, da will ich eigentlich hin, dass es nicht so eng und unangenehm ist. Wir waren dann noch in meinem Büro und ich habe ihr die Skyline gezeigt von Frankfurt. Das fand sie furchtbar. Sie erzählte mir dann von ihrem Garten und den Obstbäumen (lachend). Ich erzählte ihr auch, dass ich Insekten im Haus hasse und sie töte. Darüber war sie wirklich entsetzt, und ich fragte sie, ob ich sie denn am Bein packen und rauswerfen soll? Nein! rief sie dann, das tut denen doch weh (lacht heftig)! Sie meinte, man soll ein Glas nehmen, Papier drunterschieben und sie dann raustragen. – Na ja, trotzdem mag ich sie. Sie sehen, ich hatte wieder ein ereignisreiches Wochenende. Bevor Sie es sagen, sage ich es lieber selber: Die M. schildert ihr Wochenende so, dass sie sagt, ich brauche Sie gar nicht! Stimmt’s? Ich: (Nach einer Pause) Das stimmt nicht so, weil ich mir etwas anderes gedacht habe. Ich denke, dass sie 15 Minuten später kamen und dann mit Hochdruck das alles erzählen, weil Sie schon möchten, dass ich es mitbekomme. Denn Sie haben über Sachen geredet, die Ihnen wirklich wichtig sind. Aber indem Sie die Stunde verkürzen und das alles so schnell erzählen, stellen Sie gleichzeitig sicher, dass wir auf das alles nicht wirklich eingehen können. P.: Ja, auf dem Weg hierher dachte ich, ob ich nicht gleich ins Büro fahren soll. – Ja, mit dem Zwiespalt, das stimmt schon. Sie sind ja derjenige, wo meine Zwiespälte am besten aufgehoben sind. – Wenn ich es heute schaffe, den Schriftsatz einzureichen, gehe ich früher nach Hause und gehe dann morgen gar nicht ins Büro. Dann mache ich einen Tag frei. Ich muss zum Arzt, und dann kommen noch die Handwerker, und am Nachmittag gehe ich dann zu Ihnen. – Ja. – – –
Dieser Bericht aus einer Behandlungsstunde gibt einen lebhaften Eindruck davon, wie Frau M. nach einer Freitagsstunde, in der sie sich abhängig von mir fühlte und damit – wie sie in der Montagsstunde dann kommentiert – auch schwach, sich jetzt zur dominierenden Figur der Szene aufschwingt und mich kontrolliert. In ihrem beschwingt vorgetragenen Redestrom sind die am Freitag
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noch erlebten Gefühle von Kleinheit, Schwäche und Bedürftigkeit nicht mehr vorhanden. Wenn ich das beziehe auf Freuds Überlegungen zur Manie, so lässt sich hier gut zeigen, wie Frau M. sich von der Bedeutung des Objekts für sie befreit und damit eben von allen Gefühlen, die sie an dieses Objekt binden und ihr im weitesten Sinn psychische Schmerzen bereiten. Das gilt nicht nur für die äußeren, sondern auch für die inneren Objekte. Die Unterscheidung von äußerer und innerer Objektwelt folgt den freudschen Überlegungen zum Objekt, insbesondere seiner Theorie der Identifizierung, wie Freud sie in seiner Arbeit »Trauer und Melancholie« (Freud 1916-17g) formulierte. Später war es besonders Melanie Klein, der Analysen mit Kindern zeigten, dass diese innerlich sehr lebendige Objektbeziehungen unterhalten, die sie im Spiel nach außen auf andere Objekte projizieren. Freuds Begriff des Über-Ich wurde durch sie in das Konzept der inneren Objekte verwandelt. Objekte und die Beziehungen zu ihnen erschienen in der Folge als der »Stoff«, aus dem sich seelische Struktur aufbaut. Der Begriff der Innenwelt erhielt mit Klein den Charakter einer Beziehungswelt, so dass ihre Entdeckungen auch unter dem Aspekt gesehen werden können, wie Meltzer dies einmal formulierte: »… dass wir nicht in einer Welt leben, sondern in zweien – dass wir auch in einer inneren Welt leben, die ein ebenso wirklicher Ort des Lebens ist wie die Außenwelt. Dies verlieh dem Phantasiebegriff eine ganz neue Bedeutung, dass nämlich unbewusste Phantasien Transaktionen sind, die in der inneren Welt tatsächlich stattfinden … Die Folgerung war, dass man dieser Innenwelt die volle Bedeutung eines Ortes zuschreiben muss, eines Lebensraums, vielleicht des Ortes, … wo die Bedeutung von Leben erzeugt wird, die dann der Außenwelt dargeboten wird« (1984/1988, S. 40).
Bei Frau M. lässt sich feststellen, dass sie in einer allgemeinen beschleunigten Verfassung ist: Sie kommt zu spät und ist in Eile, hat keine Ruhe, ihren Mantel sorgfältig aufzuhängen, sie redet wie ein Wasserfall und bekämpft damit jede Form der Nachdenklichkeit. Sie geht auch auf meine erste Intervention überhaupt nicht ein, auch meine zweite Deutung, die etwas ausführlicher war, nimmt sie nicht wirklich auf. Sie bestätigt zwar, den Gedanken gehabt zu haben, gleich weiter ins Büro zu fahren, das heißt mich links liegen zu lassen, schafft aber nicht die Wendung in einen wirklich nach-
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denklichen Zustand über das, was im Moment zwischen uns passiert. Überhaupt möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Sprache der Patientin lenken. Sie redet nicht nur schnell, sondern sprunghaft und oberflächlich. Frau M. benutzt gern jede Menge Anglizismen und Sprüche, sie praktiziert das, was Meltzer (1992) einmal die »Sprache des unaufmerksamen Nicht-Denkens« genannt hat. Man kann sich gut vorstellen, dass sie das Ganze, teilweise lachend und feixend, auch einer Kollegin beim Essen erzählen könnte. Dem, was sie erzählt, lässt sie keine Aufmerksamkeit zukommen, bis auf die eine Stelle, wo sie innehält und ihr Verhalten in der Stunde selbst deutet: »Die M. schildert ihr Wochenende so, dass sie sagt, ich brauche Sie gar nicht!« Das war einerseits eine zutreffende Deutung, die sie aber selbst in ihrem Gehalt unwirksam machen wollte dadurch, dass sie mir diese in gehobener Stimmung unterstellte und damit noch einmal das tat, was die Deutung behauptet: nämlich, dass sie mich auch zum Deuten wirklich nicht braucht. Sie kann das alles selbst machen. Ich hätte diese Deutung eigentlich nur noch abnicken brauchen. Das ist ein Beispiel für eine omnipotente introjektive Identifizierung (Rosenfeld 1964), durch die sich die Patientin die Eigenschaften des Analytikers einverleibt. Die Einnahme einer erhöhten, mich dominierenden Position, ist begleitet von einer gehobenen Stimmung. Frau M. ist die viel beschäftigte Managerin, die auf dem Weg zum Büro kurz bei mir vorbeischaut, um mich auf den neuesten Stand zu bringen. Das wirft die Frage auf, wo denn die bedrückte Stimmung von Freitag geblieben ist? Und wo ist derjenige Teil ihres Selbst, der sich am Freitag eher schwach, unsicher und bedürftig gefühlt hat? Denn Frau M. ist so sichtlich frei von allem, was wir mit psychischem Schmerz in Verbindung bringen könnten und was sie offenbar in der Freitagsstunde erfahren hat. Der Verlauf der Montagsstunde zeigt, dass sie erfolgreich diesen unerträglichen Selbstanteil verlagert, das heißt metapsychologisch formuliert, dass sie diesen Selbstanteil projektiv bei anderen unterbringt und diese dann damit identifiziert. Das geschieht in erster Linie mit mir, indem sie mich in eine abhängige Position bringt: Ich bin derjenige, der auf sie warten muss und der in der Stunde nichts zu sagen hat. Aber auch ihre alte Kommilitonin
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Britta ist ein eher bedauernswertes Geschöpf: Die körperlichen Erscheinungen des Alters, das Erleben von Mangel und Bedürftigkeit, Ängste und Unsicherheiten – all das scheint ganz auf der Seite von Britta zu sein, während sich Frau M. ihr überlegen fühlt und von der hohen Warte ihres Hochhausbüros auf die Niederungen des Lebens herunterblickt und ihr zu verstehen gibt, in welchen Höhen sie sich bewegt. Selbst ihre so irritiert-nachdenklich vorgetragene Feststellung »aber sie wirkt glücklich!« ist nicht wirklich nachdenklich, da sie von der Position einer großen Frau her gesprochen ist, die feststellt, dass ein kleines Mädchen glücklich ist. Sie selber tangiert das nicht weiter. Frau M. hat also alle im weitesten Sinn depressiven Schmerzen projektiv auf ihren Analytiker und andere Objekte verlagert, mit dem Erfolg, dass sie scheinbar frei davon und in einer gehobenen Stimmung verbleiben kann. Hier haben wir es also mit einer omnipotenten projektiven Identifizierung zu tun (Klein 1946), die nachhaltig das Bild der Patientin von sich selbst und von mir veränderte. Unter der psychischen Abwehr verstehen wir einen dynamischen Vorgang, der das bewusste Ich vor Einflüssen schützt, die seine Stabilität und Funktionsfähigkeit gefährden könnten. Derartige Einflüsse sind körperliche oder psychische Impulse, die Konflikte hervorrufen und Gefühle, die zu psychischen Schmerzen führen. Abwehrmechanismen haben damit eine regulierende Funktion nach innen wie nach außen, sie stabilisieren den Einzelnen und passen ihn in seinen Beziehungen an. Die Psychoanalyse führt die jeweilige Form der Abwehrmechanismen auf Entwicklungsphasen zurück beziehungsweise betrachtet sie als in der frühen Kindheit erworbene Entwicklungen. Abwehrmechanismen sind nicht ab ovo vorhanden, sondern werden aus den Erfahrungen frühkindlicher Beziehungen erworben. Aufgrund dieser entwicklungspsychologischen Gebundenheit unterscheiden Psychoanalytiker Abwehrformen hinsichtlich ihres Reifeniveaus. Die von einzelnen Autoren vorgenommenen Hierarchisierungen sind im Detail unterschiedlich, polarisieren aber in der Regel zwischen reifen und unreifen beziehungsweise primitiven Abwehrmechanismen. Von der klassischen Triebpsychologie Sigmund Freuds werden die manischen Abwehrformen als so genannte frühe Abwehrformen betrachtet, die aus der oralen Phase
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stammen beziehungsweise aus einer Zeit noch nicht voll entwikkelter Ich-Funktionen. Hier spielen die Prozesse der Introjektion, der Projektion, der Spaltung, der projektiven Identifizierung, der Idealisierung, der Entwertung sowie der Identifizierung eine bedeutsame Rolle. Im Rahmen einer psychoanalytischen Objektbeziehungspsychologie werden sie auch als primitive Abwehrmechanismen bezeichnet, da sie die Subjekt-Objekt-Trennung stets unterlaufen, indem zum Beispiel Teile des Subjekts abgespalten, projiziert und in ein Objekt verlagert werden, das dann damit identifiziert wird und deshalb in einer nicht wirklich psychisch separierten Form für das Subjekt existiert. Dementsprechend hat Karl Abraham (1924, S. 159) die Manie als »Orgie von kannibalischem Charakter« aufgefasst. Wir können die Formen der Abwehr unterscheiden von den abgewehrten Inhalten und den damit verbundenen Ängsten beziehungsweise psychischen Schmerzen. Die bei der manischen Abwehr zugrunde liegende Angst hat stets etwas zu tun mit der Angst vor Abhängigkeit von einem ambivalent geliebten Objekt. Grob kategorisierend kann man hier drei Gruppen unterscheiden: zum einen eine Art Verfolgungsangst. Diese Angst war oben angesprochen, als ich die freudschen Vorstellungen zur Manie erläuterte und vom »Tyrannenmord« sprach. Das tyrannische Über-Ich ist ein innerer Verfolger, der dem Ich mit Vernichtung und Zerstörung droht und es ständig in der Angst um das Überleben festhält. Eine zweite Angstgruppe besteht in depressiven Ängsten, bei denen eine Sorge, das Objekt beschädigt zu haben, und die Angst, das Objekt zu verlieren, im Vordergrund stehen. Ich denke, dass beide Arten dieser Angst bei Frau M. eine bedeutsame Rolle spielen. Für sie musste ich zum Handwerker, den sie kurz besucht, degradiert werden, da ich sie in der Freitagsstunde mit der Deutung ihrer manischen Abwehr, die sie in dieser Situation auch tatsächlich aufgriff, in eine unerträgliche Situation gebracht hatte. Zugleich zeigt die Montagsstunde aber auch, dass sie untergründig das Gefühl hatte, mit der Einnahme ihrer manischen Position ihre Objekte zu beschädigen. Sie zeigte also mehr depressive Ängste und war um Wiedergutmachung bemüht, wenn sie sich um Britta kümmerte, sie zu ihrem Geburtstag oder zum Essen einlud.
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Wir könnten auch von psychischen Schmerzen sprechen, wie Freud die gefühlsmäßigen Auswirkungen genannt hat, die vom Über-Ich beziehungsweise Ich-Ideal ausgehen. Die Abwehr bezieht sich dann auf die Rache eines beschädigten Objekts, auf Verlustund Schuldgefühle in abhängigen Beziehungen, auf die Verzweiflung, das Objekt unwiderruflich geschädigt zu haben, auf die Erfahrung einer Innenwelt, auf die Erfahrung von Abhängigkeit und Getrenntheit, auf die ödipalen Erfahrungen der Ausgeschlossenheit und überhaupt auf Endlichkeit und Tod. Diese Betrachtung der manischen Abwehr differenziert einen Aspekt weiter aus, der bereits bei Freud angelegt war, nämlich den der Objektbeziehung. Indem die manische Abwehr als ein Geschehen zwischen Subjekt und Objekt aufgefasst wird, verliert der vorhin skizzierte Umschlag von der Melancholie in die Manie etwas von seiner Rätselhaftigkeit. Denn man kann diesen Umschlag, der auch bei Frau M. in der Abfolge von Freitags- und Montagsstunde feststellbar ist, jetzt verstehen als eine durch psychische Schmerzen aktivierte Spaltung in der Persönlichkeit, die mit Hilfe von projektiver und introjektiver Identifizierung schlagartig das bewusste Selbstbild eines Menschen verändern kann. Die manischen Abwehrmechanismen werden deshalb in der heutigen Psychoanalyse primär unter dem Aspekt der Abwehr innerhalb einer Objektbeziehung analysiert. Zunächst geht es um den Aspekt der Verleugnung, der als ein zentraler Abwehrmechanismus der Manie aufgefasst wird. Die Verleugnung bezieht sich ganz allgemein auf die Wahrnehmung der Bedeutung psychischer Realität – Freud sprach von Skotomisierung –, wodurch der Text, den Frau M. in der Montagsstunde entwarf, primär an der äußeren Realität orientiert war. Hier wirkte sie dann äußerst kompetent in der Art und Weise, wie sie an dem Wochenende jonglierte zwischen Handwerkern, Freundin, Büro und ihrer Analysestunde. Frau M. war ein ausgesprochenes »Arbeitstier«, das äußerst erfolgreich ihre reguläre Arbeit erledigte, Vorträge und Seminare leitete, wissenschaftlich publizierte und an internationalen Meetings teilnahm. Auf diese Weise verleugnete sie ihre eigene Abhängigkeit und Bedürftigkeit und in der Übertragung vor allem den Hass auf eine Mutter, von der sie sich als Kind in ihren Bedürfnissen nicht wahrgenommen und empathisch verstanden fühlte. Ebenso
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brauchte sie sich auch nicht den mit dem infantilen Hass verbundenen Schuldgefühlen zu stellen. Helene Deutsch hat bereits 1933 als Formel der Verleugnung formuliert: »Die Welt liebt mich und ich besitze alles« (Deutsch 1933, S. 363). Frau M. verleugnete insbesondere die Tatsache, dass ihre Eltern eine Beziehung miteinander hatten, die Kinder hervorbrachte und die sie ausschloss. Vater und Mutter schilderte sie stets so abwertend, dass man sich in der Tat nicht vorstellen konnte, dass die beiden geheiratet und eine Familie mit zwei Kindern gegründet hatten. Auch ihre Schwester spielte in der Analyse kaum eine Rolle und wenn, sprach sie über sie verächtlich. Die vehemente Abwehr des Ödipuskomplexes sowie die illusionäre In-Besitznahme der mütterlichen Position ist ein Charakteristikum manischer Zustände. Frau M. eignete sich nicht nur die mütterliche Potenz beziehungsweise den väterlichen Penis an, sondern schien darüber hinaus in der Konkurrenz alle Frauen auszustechen. Das wiederholte sich auch in der Stunde: So reagierte sie auf meine erste Deutung nicht, da sie sich meine analytische Kompetenz und mein Wissen längst angeeignet hatte, so dass es nur natürlich war, dass ich nichts mehr von dem wusste, was sie mir vor einiger Zeit erzählt hatte. Ihre in der Behandlungsstunde praktizierte Verleugnung der psychischen Realität zielte zugleich auf die Verleugnung der Bedeutung des »guten Objekts«, das heißt ein äußeres oder inneres Objekt, demgegenüber sie Wertschätzung, Sorge und Abhängigkeit zum Ausdruck bringen könnte. Ihr Erzählstil hatte dagegen narzisstischen Charakter und trug in sich stets die Behauptung, dass sie niemanden brauche und autonom sei. Jede Wahrnehmung und Empfindung von Abhängigkeit war damit zugleich verleugnet; das bezog sich besonders auf die Unterbrechung der Analyse durch das Wochenende, die zwischen der Freitags- und der Montagsstunde lag. Dass sie vielleicht gerade, nachdem sie sich mir am Freitag verbunden gefühlt hatte, am Wochenende einen Verlust verspürte, war durch den Wechsel in den manischen Zustand komplett verleugnet. Das, was für Frau M. ein gutes Objekt hätte sein können, ihre Freundin oder ihr Analytiker, wurde von ihr nachhaltig entwertet. So ließ zum Beispiel ihr Bericht über die Freundin, bei aller Sympa-
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thie und allem Interesse, die sie darin auch zum Ausdruck brachte, immer wieder ironisierende, entwertende Bemerkungen zum Zuge kommen, die es ihr ermöglichten, die Abhängigkeit zu verleugnen und ihr gegenüber eine omnipotente Position einzunehmen. An Frau M. scheint mir deutlich zu werden, wie wenig die verschiedenen Teile ihrer Persönlichkeit integriert waren, wie groß das Ausmaß der Gespaltenheit war, das sie am Freitag so ganz anders sein ließ als am Montag. Dieser Umschlag vom Depressiven zum Manischen zeigt zugleich, wie unerträglich die depressiven Gefühle für sie waren, so dass sich für sie kein anderer Weg als die Flucht in eine omnipotente, manische Position ergab. Im Gegensatz zu der in der Montagsstunde so glänzend behaupteten Unabhängigkeit verrieten ihre manischen Abwehrbewegungen etwas von einer unerbittlichen, unbewussten Gefangenschaft. Es ist die Gefangenschaft eines Prinzen Prospero, der – wie E. A. Poe (1842) in seiner Erzählung »Die Maske des roten Todes« beschreibt – zwar in Saus und Braus lebt, aber hinter den dicken Abwehrmauern eines Schlosses, hinter denen die Vernichtung droht. Die eben beschriebenen Abwehrmechanismen haben unmittelbare Auswirkungen in den Beziehungen, indem sie eine wirksame Kontrolle über das Objekt ausüben. Frau M. hatte mich in ihrem Zustand zu einem mehr oder weniger passiven Zuhörer gemacht, sie dagegen war aktiv und scheinbar Herr der Situation. Sie machte mich nicht nur passiv, sondern verlagerte ihre als negativ empfundenen Selbstanteile in mich, so dass sie selber ein positives Selbstbild und eine gehobene Stimmung gewann. Sie konnte nun ungestört den vielen interessanten Dingen in der äußeren Realität nachgehen, Nachdenken und Hinwendung zur inneren Realität blieben mir überlassen. Aber auch dafür brauchte sie mich eigentlich nicht, denn – wie bereits gesagt – sie konnte auch spielerisch Deutungen generieren. Die Kontrolle über mich wurde am wirksamsten durch die schnelle, stimmungsmäßig gehobene Art zu sprechen hergestellt, was in einer analytischen Stunde das Pendant zu der ansonsten stets zu beobachtenden Hyperaktivität dieser Patienten ist – ein Abwehrmechanismus, auf dessen dynamische Funktion Melanie Klein bereits 1935 dezidiert hinwies. Die manipulative Kontrolle des Objekts stellt die Mauern des manischen Schlosses am wirksamsten her.
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Die drei wesentlichen Resultate der Objektkontrolle sind demzufolge: die Sicherung der scheinbaren Unabhängigkeit und Überlegenheit, die projektive Entlastung von als negativ empfundenen Selbstanteilen verbunden mit der Identifizierung des Objekts mit den als negativ empfundenen Selbstanteilen (projektive Identifizierung) sowie die introjektive Vereinahmung des Objekts (introjektive Identifizierung). Das Verharren in einer omnipotenten, narzisstisch übersteigerten Position ist daher einer der charakteristischen Bestandteile manischer Abwehr. Ihr zeitweise aufgeblasener Bauch sowie ihre Verstopfungen symbolisierten ein hypertrophiertes Ich, das gierig alle Objekte inkorporierte und unter Kontrolle brachte. Frau M. hatte sich auch beruflich mit großer Energie in diese Position gebracht: Während sie den Taktstock schwang, schienen alle anderen von ihr abhängig zu sein. Die Analyse konfrontierte sie nun mit einer Beziehung, die sie nicht überblickte und letztlich nicht unter Kontrolle hatte. Dennoch stellte sie effektiv in der Montagsstunde Omnipotenz her. Dabei kommt es gar nicht so selten vor, dass diese Patienten spüren, was sie ihren Objekten antun, wie sehr sie sie kontrollieren und beschädigen. Dann aktivieren sie Bestrebungen der Wiedergutmachung, aber eben auch in einer manischen Weise. So zeigte sich Frau M. bisweilen mir gegenüber scheinbar dankbar, brachte ihre Wertschätzung der Analyse und meiner Person zum Ausdruck, betonte, wie sehr ich ihr helfe beziehungsweise wie viel sie schon von den Stunden bei mir profitiert habe. In dieser manischen Form der Wiedergutmachung ist es für den Patienten wichtig »… das Objekt so wiederherzustellen, dass Schuldgefühl und Verlust nie erfahren werden«. Dabei muss das Objekt »als minderwertig, abhängig und – im Tiefsten (unbewusst) – als verachtenswert empfunden werden«. Die manische Wiedergutmachung »will das Objekt auf manische und allmächtige Weise wieder instand … setzen. Dann kann es partiell als ein umsorgtes Objekt behandelt werden« (Segal 1964, S. 127). Selbst in dieser Form der Wiedergutmachung ist also die Bedeutung des Objekts aufs neue bagatellisiert. Was hier auf der interpersonellen Ebene des Übertragungsgeschehens zu beobachten ist, spiegelt den Umgang mit den inneren
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Objekten der Patientin wider. Sie kann durch ihren beständigen Angriff auf das Objekt dieses auch nicht als gutes inneres Objekt bewahren, das heißt als ein Objekt, dessen sichere innere Verankerung entscheidend für die Ich-Stabilität ist und das zur Ursache eines positiven Selbstwertgefühls und von Hoffnung wird. Ein derartiges Objekt wäre dann Gegenstand von Sorge und wirklicher Wiedergutmachung. Die Beziehungen der inneren Objekte haben dann eher den Charakter des Familienlebens im Gegensatz zu einer narzisstischen Organisation. Eine sehr anschauliche und zugleich ergreifende Beschreibung des guten Objekts findet sich bei Primo Levi in seiner Beschreibung des Lagerinsassen Lorenzo, auf den er in seiner Zeit in Auschwitz traf: »Ich glaube, dass ich es Lorenzo zu verdanken habe, wenn ich noch heute unter den Lebenden bin. Nicht so sehr wegen seines materiellen Beistands, sondern weil er mich mit seiner Gegenwart, mit seiner stillen und einfachen Art, gut zu sein, dauernd daran erinnerte, dass noch eine gerechte Welt außerhalb der unsern da ist: etwas und jemand, die noch rein und intakt sind, nicht korrumpiert und nicht verroht, fern von Hass und Angst, etwas sehr schwer zu definierendes, eine entfernte Möglichkeit des Guten, für die es sich immerhin verlohnt, sein Leben zu bewahren« (1958/1992, S. 147).
Levi verweist hier auf die lebensrettende Funktion, die diese Erfahrung des Guten inmitten einer Welt äußerster Destruktion für ihn hatte. Er weist damit zugleich darauf hin, dass die guten Objekte in der Außenwelt auch unsere inneren guten Objekte ansprechen, genauso wie dies im Übrigen die so genannten bösen Objekte tun. So wie die Beziehung zu guten Objekten im Extremfall lebensrettend sein kann, so ist sie unterstützend und lebensfördernd in unserer täglichen Auseinandersetzung mit Konflikten und belastenden Ereignissen. Das Problem mit den guten inneren Objekten ist aber – und das mag zunächst paradox klingen –, dass man sie auch ertragen können muss. Ähnlich wie in den Beziehungen zu äußeren Objekten, die wir schätzen und die uns etwas bedeuten, muten auch die inneren Beziehungen zu guten Objekten psychische Schmerzen im weitesten Sinne zu: Gute Objekte können verloren gehen, beschädigt werden, sie können aber auch kritisch sein. Trauer, Scham,
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Ängste, Sorgen und Ambivalenz sind die Gefühle, die in reifen inneren wie äußeren Objektbeziehungen zu ertragen sind. Freud (1916-17g, S. 441) hat bereits in seinem Werk über Trauer und Melancholie gemeint, dass Melancholie und Manie »mit dem selben Komplex ringen«; heute können wir formulieren, dass Depression und Manie zwei Formen der Abwehr gegenüber einem reifen Beziehungstyp sind, den Melanie Klein (1935, 1940) als depressive Position beschrieben hat. Das Adjektiv »depressiv« meint hier gerade keine depressive Verfassung, sondern beschreibt im deskriptiven Sinn einen psychischen Zustand, wie er in Anerkennung ambivalenter Gefühle für die Objekte der Innen- und Außenwelt einhergeht: Diese sind dann weder idealisiert noch entwertet, sie haben sowohl gute wie schlechte Eigenschaften. Es sind Objekte, denen gegenüber tatsächlich psychische Separation existiert und zu denen gerade deshalb Beziehungen gestaltet werden können. Der Depressive, der sich mit dem verlorenen oder versagenden Objekt identifiziert, und der Maniker, der dessen Bedeutung verleugnet und omnipotente Objektkontrolle anstrebt, wehren beide mit Hilfe entwicklungspsychologisch früher Mechanismen die Zumutungen der depressiven Position ab.
■ Literatur Abraham, K. (1924): Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido und die prägenitalen Organisationsstufen der Libido. In: Cremerius, J. (Hg.) (1969): Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung und andere Schriften, Bd. 1. Frankfurt a. M., S. 113-183. Deutsch, H. (1933): Psychologie der manisch-depressiven Zustände, insbesondere der chronischen Hypomanie. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 19: 358-371. Freud, S. (1898a): Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen. G. W. Bd. I. Frankfurt a. M., S. 491-516. Freud, S. (1916-17g): Trauer und Melancholie. G. W. Bd. X. Frankfurt a. M., S. 428-446. Freud, S. (1921c): Massenpsychologie und Ich-Analyse. G. W. Bd. XIII. Frankfurt a. M., S. 73-161. Freud, S. (1923b): Das Ich und das Es. G. W. Bd. XIII. Frankfurt a. M., S. 235289.
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Klein, M. (1935): Beitrag zur Psychogenese der manisch-depressiven Zustände. G. S. Bd. 1 (2). Stuttgart, 1996, S. 28-75. Klein, M. (1940): Die Trauer und ihre Beziehung zu manisch-depressiven Zuständen. G. S. Bd. 1 (2). Stuttgart, 1996, S. 158-199. Klein, M. (1946): Bemerkungen über einige schizoide Mechanismen. G. S. Bd. 3. Stuttgart, S. 1-41. Levi, P. (1958): Ist das ein Mensch? München, 1992. Lewin, B. D. (1950): Das Hochgefühl. Psychoanalyse der gehobenen, hypomanischen und manischen Stimmung. Frankfurt a. M., 1982. Meltzer, D. (1984): Traumleben. Eine Überprüfung der psychoanalytischen Theorie und Technik. München, 1988. Meltzer, D. (1992): The Claustrum. An Investigation of Claustrophobic Phenomena. Perthshire. Money-Kyrle, R. E. (1965): Megalomania. In: Meltzer, D. (Hg.) (1978): The Collected Papers of Roger Money Kyrle. Perthshire, S. 376-388. Poe, E. A. (1842): Die Maske des roten Todes. Stollhamm-Butjadingen, 2001. Rosenfeld, H. (1964): Zur Psychopathologie des Narzißmus – Ein klinischer Beitrag. In: Rosenfeld, H.: Zur Psychoanalyse psychotischer Zustände. Frankfurt a. M., S. 196-208. Segal, H. (1964): Melanie Klein. Eine Einführung in ihr Werk. Frankfurt a. M.
■ Robert Heim
Das verlorene Objekt der Zeit Überlegungen zur Zeit-Diagnostik der Depression
Als ich unlängst in der melancholischsten aller Städte weilte, suchte ich in Begleitung eines literarischen Reiseführers die Accademia in Venedig auf. Melancholisch ist diese Stadt ja vor allem auch in der Fiktion von Künstlern und Literaten, der man schwerlich entkommen kann, wenn man die Lagunenstadt besucht. So näherte ich mich einem Bild von Vittore Carpaccio, dem »Wunder der Kreuzreliquie an der Rialto-Brücke« mit einem Fragment aus Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Prousts Werk dient immer wieder der Veranschaulichung von Phänomenen des Gedächtnisses und der Erinnerung, um die heute ein verzweigter Diskurs zwischen Gehirnforschung, Psychoanalyse und Sozial- oder Kulturwissenschaften kreist. Literarischen Ruhm erlangte das Gebäck der Madeleine, deren Geschmack in Verbindung mit einer Tasse Tee Proust Jahre später ein dichtes Gemisch von Stimmungen, Gefühlen und Erinnerungen vergegenwärtigen ließ, das bereits in Vergangenheit und Geschichte seines Lebens versunken schien. Auf dem Bild Carpaccios schweift Prousts Blick über das Treiben der Stadt, darunter eine Prozession über die alte Rialto-Brükke. Schon wollte er sich abwenden, da blieb der Blick am wertvoll gearbeiteten Mantel des Mitglieds einer Bruderschaft hängen. Dieser Mantel löste in ihm eine Kette von Assoziationen aus, die ihn auf das schmerzliche Geschehen eines Verlustes, der Trennung von einer Geliebten, zurückführten. Er erkannte in diesem Umhang den Mantel wieder, den diese Geliebte am Abend einer gemeinsamen Fahrt nach Versailles trug, bevor sie ihm wenig später ihren Entschluss bekundete, ihn zu verlassen. Diese »unwillkürliche Erinnerung«, die mémoire involontaire, das methodische Verfahrens-
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prinzip in Prousts Werk, machte ihm nicht nur schlagartig bewusst, dass das Modell dieser Mäntel, die damals die noble Pariser Damenwelt zierten, von einem in Venedig lebenden spanischen Künstler und Modeschöpfer in seine Stoffkreationen aufgenommen wurde und unten links auf dem Stadtbild des alten Meisters aus dem venezianischen Quattrocento zu sehen ist. Diese Erinnerung weckte in ihm vor allem eine tiefe Empfindung, in der er »für ein paar Sekunden von einem verworrenen, bald wieder von mir weichenden Gefühl des Verlangens und der Schwermut heimgesucht (wurde)«. Prousts melancholischer Affekt blieb also von kurzer Dauer, und ich komme hier auch nur deshalb auf ihn zu sprechen, weil meine Ankündigung über das verlorene Objekt der Zeit ihm gleichsam eine Reverenz schuldete. Das war mir übrigens bei der Festsetzung dieses Themas keineswegs bewusst, und so hat sich Prousts Romantitel auf den Schleichwegen des unbewussten Gedächtnisses bemerkbar gemacht. Wir könnten zumindest erwägen, dass der Romancier in der Dichte dieser kurzen assoziativen Reminiszenz einen depressiven Mechanismus beschreibt, wie er in der Psychoanalyse in den ersten einschlägigen Arbeiten von Abraham und Freud konzipiert wurde: ein schwerer Objektverlust, die Introjektion dieses Objekts – bei Proust in der passageren Identifikation mit dem Bruder als Träger des Mantels und damit als Repräsentanz des verlorenen Objekts – und einer tief ambivalenten Verarbeitung dieses Verlusts zwischen zerstörerischem Hass und betrauerter Liebe. Aber was sich bei Proust an dieser Stelle innerhalb weniger Sekunden abspielt, kann sich in der Depression episodisch wiederholen und schlimmerenfalls chronisch verfestigen. In der Literatur der Psychoanalyse, aber auch in den Medien ist schon oft von der Depression als »Zeitkrankheit« die Rede gewesen. Wenn ich also von der Zeit-Diagnostik spreche, dann wird es mir darum gehen, die allseits beklagte Zunahme depressiver Störungen als Zeichen und Symptom einer gesellschaftlichen und kulturellen Gegenwart zu interpretieren, die in diesem Leiden eines ihrer Spiegelbilder erblickt. Was den Doppelsinn der Rede von der Zeit-Diagnostik zunächst erst begründet, sind Untersuchungen und Überlegungen zum Zeiterleben, zur Erfahrung der Zeit in Depression und Melancholie. Das wiederum kann nur unter klini-
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schen Gesichtspunkten geleistet werden, und das heißt: eine sorgfältige Gewichtung von Phänomenen, die sich auf die ganze Zeitstruktur der psychoanalytischen Situation – auf die einzelne Sitzung wie auf die Dauer der Analyse, auf die Intervalle zwischen den Sitzungen oder auf Behandlungspausen – beziehen und sich in Übertragung und Gegenübertragung manifestieren. Und weil die psychoanalytische Methode einen exquisiten Freiheitsspielraum des Sprechens ermöglicht, ja Sprechen und Sprache selbst schon ein Paradigma von Diachronie und Synchronie, von linearem Zeitfluss und strukturaler Gleichzeitigkeit bilden, sind Intonation, Vokalisierung, letztlich das gesamte Spektrum an evokativen Stimmungen zwischen Sprechen und Schweigen vorzügliche Indizien für eine Differentialdiagnostik der Depression (vgl. Kristeva 1987). Nun klingen in meiner Ankündigung drei Begriffe an, die in der Psychoanalyse allein schon den Stoff für Monographien abgeben: der Verlust, das Objekt und die Zeit. Würden wir Freuds klassischen, knapp 20 Seiten umfassenden Text über Trauer und Melancholie von 1916–17 einer semantischen Gliederung unterziehen, so wäre die Rede vom Objektverlust in ihren verschiedenen Variationen zweifellos die am häufigsten auftretende Sprachfigur. Freud dachte in erster Linie noch an den »Verlust einer geliebten Person«, nicht ohne zu ergänzen: »oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.« (Freud 1916–17g, S. 428). Die »geliebte Person« ist also zu anderen Objekten metaphorisierbar, und wenn deren Verlust aus einfühlsamen Gründen zur Ursache einer depressiven Entwicklung werden kann, so ist damit noch wenig über die unbewusste Kausalität dieses Verlustes gesagt. Ich betone vielmehr dieses Und-so-weiter und werde hier die Zeit hinzufügen, deren Status als Objekt im präzisen psychoanalytischen Sinne des Begriffs gewiss näher begründet werden muss. Fünf Jahre später ging Karl Abraham das Thema des Objektverlustes noch radikaler an, wenn er einer archaischen Form der Trauer auf die Spur kommt, die er mit analsadistischen Partialtrieben der kindlichen Libido in Verbindung bringt. Dass er dabei die Melancholie und ihre milderen depressiven Verlaufsformen mit der Zwangsneurose verschwistert, wird in der Diagnostik der Depres-
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sion heute etwas vernachlässigt; depressive Reaktionen und Zustände werden weit mehr mit narzisstischen Persönlichkeitsstörungen in Verbindung gebracht. Abraham erachtet den Objektverlust weniger als kontingentes Schicksal, das über das hilflose, passive oder gar traumatisierte Subjekt hereinbricht, sondern vielmehr – die tiefe Ambivalenz jeder Objektliebe radikalisierend – als Konsequenz eines sadistischen Vernichtungswunsches. 1935 wird Melanie Klein auf den Spuren Abrahams diese Konsequenz in ihrem Konzept der depressiven Position auf einer erweiterten Stufenleiter wieder aufnehmen. Interessant bleibt hier eine Bemerkung, die uns den Objektverlust in seinem polyglotten Gehalt zeigt: »Die Beseitigung oder der Verlust eines Objekts kann also vom Unbewußten sowohl als sadistischer Vorgang der Vernichtung wie als analer Vorgang der Ausstoßung betrachtet werden. Es mag hier der bemerkenswerten Tatsache gedacht werden, dass die verschiedenen Sprachen das ›Verlieren‹ in zwei verschiedenen Arten auffassen, die vollkommen unseren psychoanalytischen Erfahrungen entsprechen. Das deutsche ›verlieren‹ und das englische ›lose‹ entsprechen der analen Auffassung des Loslassens … Das griechische åpoll¥ai und das spätlateinische perdere bedeuten hingegen ›verderben, vernichten‹« (Abraham 1924/1982, S. 41).
Das Objekt kann also auf unterschiedliche Art und Weise verloren gehen und als gelöstes, losgelassenes oder vernichtetes Objekt die Trauer als Affekt von Melancholie und Depression auslösen. Die Hypothese vom Objektverlust gehört, wenn auch nicht mehr in dieser mehrschichtigen Semantik, zum klassischen Repertoire der Psychoanalyse und setzt eine gereifte ambivalenzfähige Objektbeziehung voraus, die auf einer fortgeschrittenen Differenzierung zwischen dem Selbst und seinen Objekten ruht. Diese Grundannahme musste spätestens dann überarbeitet werden, als die Narzissmus-Forschung objektlose Pathologien entdeckte und in der Folge psychoanalytische Depressionstheorien die Unterscheidung zwischen objektbezogenen und narzisstischen Depressionen einführten (Glazer 1979; Benvenuto 2001). Was mich hier ungeachtet dieser Differenzierung interessiert, ist die Frage, was denn geschieht, wenn in diesem klassischen Modell des Objektverlustes die Zeit selbst zu einem verlorenen Objekt wird. Allein schon die Statuierung der Zeit zu einem Objekt sui
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generis, mithin zu einem Objekt im Sinne des psychoanalytischen Objektbegriffs, bringt mich unversehens in Erklärungsnotstände. Doch spricht nichts dagegen, sie in die von Freud eben offen gelassene Reihe von Abstraktionen und Metaphern einzufügen, die an die Stelle der verlorenen »geliebten Person« treten können. Denn weswegen sollten wir nicht auch die Zeit lieben und hassen, die uns letztlich – im Gegensatz zu unseren geliebten Nächsten – immer näher steht, ja uns auf Schritt und Tritt verfolgt, stets bei uns ist und überhaupt Bedingung der Möglichkeit ist, damit wir eine Welt von Objekten wahrnehmen und in ihr zu leben vermögen. In Freuds Melancholie-Aufsatz findet sich das oft zitierte Bild vom »Schatten des Objekts« (Freud 1916–17g, S. 435), der auf das Ich fällt, nachdem es sich mit dem aufgegebenen, verlorenen Objekt identifiziert hat. Diese Identifizierung führt zur Ich-Verarmung des Depressiven, schlimmstenfalls – wie in der Psychose oder im Suizid – zu einem Ich-Verlust. Ich gebe diesem Bild eine zusätzliche Nuancierung und meine damit den Schatten der Zeit, der auf jedes Objekt, wie es die Psychoanalyse versteht, fällt. Denn nur wenn es diesen Schatten gibt, kann sich für das psychische Leben ein Objekt überhaupt konstituieren. Das heißt zugleich: Nur wenn es diesen Schatten der Zeit oder – um mit einem Wort zu sprechen, das zum Umfeld der freudschen Arbeit zu Trauer und Melancholie gehört – den Schatten der Vergänglichkeit auf dem Objekt gibt, kann im präzisen Sinne von einem Verlust, einem verloren gegangenen Objekt, also von einem Objektverlust die Rede sein. Ein verlorenes Objekt gilt demnach nur als verloren, wenn es gleichsam von der Zeit beschattet ist. Wir finden uns sogleich im dicht gewobenen Romanstoff Prousts wieder. Aber was heißt da wiederfinden? Die Suche nach einem verlorenen Objekt, nach der verlorenen Zeit, will natürlich etwas wieder finden. Genau darin liegt die Spanne der Zeit, die sich über ein Objekt legt, von dem Freud schon früh festhielt, dass es »das variabelste am Triebe« (1915c, S. 215) sei und jede Objektfindung »eigentlich eine Wiederfindung« (1905, S. 123) am Leitfaden einer unbewussten Phantasie ist. Etwas wiederfinden heißt dann weiter, sich am Bild eines Originals, am Phantasma einer ersten, ursprünglichen Befriedigung zu orientieren, die nach Wiederholung drängt und doch immer nur auf eine zwar reiche, aber
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letztlich stets ungenügende Variabilität an Objekten trifft. Diese radikale Kluft zwischen Trieb und Objekt gehörte noch zu den Essentials der freudschen Trieblehre, die in den verbreiteten Objektbeziehungstheorien der zeitgenössischen Psychoanalyse zuweilen reichlich verblasst scheinen. Denn jedes Objekt des Trieblebens wird »über eine Suche nach dem verlorenen Objekt erfasst« (Lacan 1994/2003, S. 14). Dieses Objekt »ist ein wiedergefundenes Objekt, das wiedergefundene Objekt der ersten Entwöhnung, das Objekt, das zunächst der Anknüpfungspunkt der ersten Befriedigung des Kindes war … Eine Sehnsucht bindet das Subjekt an das verlorene Objekt; die ganze Anstrengung der Suche zieht sich durch sie hindurch. Sie bezeichnet das Wiederfinden des Zeichens einer unmöglichen Wiederholung, denn genau genommen ist es nicht dasselbe Objekt« (Lacan, S. 14).
In dieser Kluft liegt auf dem wiedergefundenen Objekt einer realen Triebbefriedigung der Patinaeffekt einer Zeit, der es vom Objekt des Wunsches und Begehrens unterscheidet. Weil sich also jedes Objekt des Triebes immer nur in der Passage auf der Suche nach einem verlorenen Objekt präsentiert, kann es nur ein wiedergefundenes sein, das kraft dieser zeitlichen Differenz stets unbefriedigend bleibt. Aber genau das hält uns als begehrende und sprechende Wesen am Leben. Wenn diese zeitliche Differenz als Objekt zwischen den Objekten, gleichsam als deren transzendentale Bedingung der Möglichkeit, entfällt, nimmt dieser unausweichliche Verlust pathologische Formen an. Die Flucht in die Zeitlosigkeit wird heute in verschiedenen psychischen Krankheitsbildern beschrieben, und ich möchte erwägen, ob nicht die Depression in besonderem Maß an diesem Schwund der Zeit leidet. Die vielfältigen Symptome dieses Schwundes bestehen ja im Wesentlichen in einer eklatanten Hemmung und Verlangsamung, in einer Antriebsarmut, deren melancholische Konsequenz für Freud aus dem Wandel von Objektverlust zu Ich-Verlust hervorging. Nun sind in der heutigen Psychoanalyse die Objektbegriffe zahlreich, schillernd und kaum noch ineinander übersetzbar geworden. Ich will nur einige nennen: Die Räume des psychischen Lebens sind im Lichte unterschiedlicher psychoanalytischer Schulen
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und namhafter Theorieansätze bewohnt von inneren, guten und bösen Objekten im Sinne Melanie Kleins, in seine Zwischenräume haben sich – wie bei Donald Winnicott – Übergangsobjekte eingenistet, bei Jacques Lacan zieht der Trieb seine Kreise um ein Objekt klein a, als Partialobjekt Grund und uneinholbare Ursache des menschlichen Begehrens. Für Jean Laplanche schließlich sind wir schon als Säuglinge verführte Übersetzer fremdartiger Botschaften seitens unserer ersten Bezugspersonen; der Trieb ist hier immer Trieb zur Übersetzung rätselhafter Signifikanten, deren Reste als Urverdrängtes zu seinen Quellobjekten werden. Doch gibt es bei aller Heterogenität dieser Objektkonzepte eine Konstante: Sie bleiben Freuds und Abrahams Idee treu, dass ein Objekt im Sinne der Psychoanalyse immer ein verlorenes, vernichtetes, »gelöstes«, im Unbewussten vom Körper ablösbares Objekt ist, das einer zeitlichen Dialektik von Verlust und Wiederfinden unterliegt. Wo Objekt ist, ist Verlust, Verlust ist Verzeitlichung, und wo ein Verlust zu beklagen ist, entsteht Trauer. Das Schicksal der Trauer aber, vor allem der Trauer um den unausweichlichen Verlust der mütterlichen Brust, der Trennung vom mütterlichen Körper, entscheidet maßgeblich über die ätiologische Disposition zu Melancholie und Depression, natürlich auch über die unbewusste Wahl anderer seelischer Erkrankungen. Wo also Objekt, Verlust und Trauer schon die frühesten psychischen Ursprünge des Menschen konstellieren, da schiebt sich immer auch der saturnische Schatten der Zeit dazwischen. Es ist demnach nahe liegend, die klinischen Bilder von Melancholie und Depression auf ihre Struktur des Zeiterlebens, auf ihre Form der Temporalisierung zu untersuchen. In seiner Abhandlung über »Die Zeit und der Andere« hält Jean Laplanche »drei Eigenheiten des Menschen« fest: »Er verzeitlicht sich; er hat ein Unbewusstes; er unterhält eine ursprüngliche Beziehung zum Rätsel des Anderen« (Laplanche 1992/1996, S. 121). Und wenn die drei Eigentümlichkeiten miteinander verbunden werden sollen, »(gibt es dafür) kein günstigeres Terrain als das des Verlustes: den mit dem Verlust konfrontierten Menschen. Das geht so weit, dass die Dimension des Verlustes wahrscheinlich koextensiv ist mit der Verzeitlichung selbst (S. 121).« An anderer Stelle, wo es Laplanche um eine Neubearbeitung der Philosophie der Zeit geht, nimmt er als
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Ausgangspunkt »eine besondere Erfahrung der menschlichen Zeit …, diejenige, die sich im psychoanalytischen Erleben der Kur darbietet« (S. 75). »Eine der Kur analoge Situation«, so Laplanche wenig später, »werden wir in der schmerzhaften Phase der Trauer suchen« (S. 79). Trauer und, Trauer oder Melancholie: Wir hören, dass Freuds Aufsatz zugleich ein Modell, eine Metapher für den psychoanalytischen Prozess freisetzt, der eine Kette von Verlusten bildet und so entweder als gelingende Trauer endet oder in einer melancholischen, unmöglich gewordenen Trauer erstarrt. Jede anspruchsvolle Theoriebildung nach Freud enthält also eine Reflexion über das Unbewusste und die Zeit, damit auch über die unterschiedlichen Varianten des Zeiterlebens in der psychoanalytischen Behandlung. Freuds eigene Zeitkonzepte – der genetische Gesichtspunkt der Metapsychologie, die Nachträglichkeit, die vermeintliche Zeitlosigkeit des Unbewussten, die historische Wahrheit – konnten dabei überprüft und anhand der wachsenden Erfahrung rekonstruiert werden (vgl. Green 2003). Dabei musste das Verständnis einer linearen Zeit, in deren Formen sowohl psychisches Wachstum wie der psychoanalytische Prozess verlaufen sollen, verabschiedet werden. Man ist sich einig über einen weit komplexeren Begriff der Zeit, in dem eine Koexistenz der Zeiten, die nachträgliche Umarbeitung des Gewesenen im Lichte gegenwärtiger Erlebnisse oder die Antizipation der Zukunft das Zeiterleben strukturieren (vgl. Loewald 1962). Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind nicht linear geordnet; sie bilden vielmehr eine synchrone Struktur, in der ihre Zeiträume ineinander verschachtelt sind. Auf Jacques Lacan etwa geht der Vorschlag einer intersubjektiven Zeit zurück, die unser Handeln bestimmt. Diese hat eine Tragweite, die nicht nur für das Telescoping der Lebenszeiten zwischen den Generationen, sondern gerade für die Untersuchung der Zeit in der Depression von Bedeutung bleibt. Er hat aus dem Abschied von der Linearität die Konsequenz gezogen und die eigentliche Zeitdimension des Menschen, soweit ihn eben ein Unbewusstes auszeichnet, in der seltenen grammatikalischen Form der zweiten Zukunft, des futurum exactum oder des futur antérieur ausgemacht. Es – ein Ereignis oder Erlebnis unserer Geschichte, aber auch das Es der zweiten Topik – oder Ich werden gewesen sein. Un-
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sere individuelle Lebensgeschichte mit ihren verlorenen Objekten ist nicht allein durch ein Perfekt des Immer-schon-gewesen-Seins determiniert, sondern entwirft sich im Projekt der unabschließbaren Vollendung einer – wir hören die in der Natur der Sache liegende Paradoxie – antizipierten Nachträglichkeit. Diese Paradoxie hat nicht nur mit der Zeitlichkeit unbewusster Triebwünsche zu tun, sondern mit der erwähnten Diskordanz von deren Objekten: Eingespannt in die Dialektik von Verlust und Wiederfinden oder, wenn man es mit Melanie Klein sehen möchte, von Zerstörung und Wiedergutmachung, bleibt jedes Objekt dem Wunsch unangemessen. Schließlich ist es für die Theorien der Zeitlichkeit in der Psychoanalyse erforderlich, sie nach verschiedenen Patientengruppen zu differenzieren. Nachweislich entsprechen klinischen Strukturen wie den klassischen Neurosen, den narzisstischen und BorderlinePersönlichkeitsstörungen, den Perversionen und Psychosen spezifische Formen des Zeiterlebens. Das muss notabene auch für affektive Störungen wie Melancholie, Manie und Depression gelten. Stavros Mentzos (1982) hat von Modi der neurotischen Konfliktverarbeitung gesprochen; analog dazu könnte von Modi der pathologischen oder nichtpathologischen Verzeitlichung des Individuums die Rede sein, die an subtilen Zeichen im Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen ablesbar sind. Die klinische Erfahrung mit schwer traumatisierten Patienten spricht vom »Empfinden einer eingefrorenen oder zerstörten Zeit« (Bohleber 2003, S. 786); Green sieht die oft unvermeidlichen Engpässe und Blockaden in der Behandlungssituation, wie sie durch die negative therapeutische Reaktion bewirkt werden, als Symptome eines Stillstandes der Trauer: »In solchen Fällen erscheint die Vergangenheit versperrt und der Patient versteinert in seiner Trauer. Dabei hat der Analytiker manchmal das Gefühl, der Patient habe die unbewusste Absicht, den Lauf der Zeit zu unterbrechen und auf Dauer in einer totgeborenen Situation zu verharren« (Green 2003, S. 803). Nun gibt es eher am Rande der freudschen Tradition pionierhafte Untersuchungen genau zum Zeiterleben in den – wie man heute sagt – bipolaren Affektzuständen von Melancholie und Manie. Aus der Ära einer philosophisch gebildeten Psychiatrie stammen einschlägige Arbeiten von Autoren wie Eugen Minkowski
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oder Ludwig Binswanger. Binswangers phänomenologische Studien über Melancholie und Manie (1960) bleiben ergiebig, insbesondere lohnt es sich, seine Ausarbeitung des melancholischen Zeitbegriffs zu erinnern. Gerade diesen können wir als Folie nehmen, auf der sich auch das depressive Zeiterleben einzeichnen ließe. Philosophische Referenz für Binswangers Studien waren Husserls Vorlesungen »Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins«. Dabei ging es Husserl darum, wie sich eine in Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart ausdifferenzierte zeitliche Objektivität im subjektiven Zeitbewusstsein konstituiert. Bewusstsein aber – und wir fügen hinzu: auch die unbewusste psychische Tätigkeit – ist immer intentional verfasst, ist Bewusstsein oder eben strukturelle und dynamische Unbewusstheit von etwas, mithin auf ein Objekt bezogen. Im subjektiven Zeitbewusstsein gliedern sich die drei Zeitdimensionen in die entsprechenden intentionalen Akte von – wie Husserl sie benannte – zukunftsoffener Protentio, vergangenheitsbezogener Retentio und gegenwärtiger Präsentatio. Veranschaulichen lässt sich diese Verflechtung der Zeit am besten an jedem Sprechakt. Das zeigt uns zugleich, wie sehr das menschliche Sprechen im symbolischen Raum ein Akt der Verzeitlichung und Zeitigung ist. Und zudem: wie aufschlussreich es gerade diagnostisch bleibt, dem Sprechen, der Vokalisierung und der Intonation des Depressiven genau zuzuhören: »Während ich spreche, also in der Präsentatio, habe ich schon Protentionen, sonst könnte ich den Satz ja nicht beenden; desgleichen habe ich in dem ›während‹ der Präsentatio auch die Retentio, sonst wüsste ich nicht, worüber ich rede« (Binswanger 1960, S. 25f.). Binswangers Fragestellung als Kliniker der Melancholie war die nach den »defizienten Modi der drei Dimensionen und ihres Zusammenspiels« (S. 25f.); es ging ihm um den »Zugang zum Verständnis der Störungen im intentionalen Aufbau der zeitlichen Objektivität« (S. 25f.). Er bleibt dabei der linguistischen Inspiration treu, wenn er darauf hinweist, dass der melancholische Selbstvorwurf, die als Anklagen vorgebrachten Klagen sich meist in konditionaler Form ausdrücken: »Hätte ich doch dieses oder jenes nicht getan, hätte ich mich doch anders verhalten, dann hätte ich mein geliebtes Objekt nicht verloren, dann wäre ich noch glück-
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lich und lebenslustig und bräuchte mir auch keine quälenden Vorwürfe zu machen« (S. 26f.). Diese konditionale Form des typischen melancholischen Selbstvorwurfs oder einfach der depressiven, oft ja doch zutiefst aggressiv getönten Klage kann aber lediglich von leeren Möglichkeiten handeln. Eine Möglichkeit an sich ist zwar immer zukunftsgerichtet, im Sinne Husserls protentiv, denn das Vergangene hat keine Möglichkeiten mehr. Im Fall der melancholisch-depressiven Klage indes »zieht sich, was freie Möglichkeit ist, zurück in die Vergangenheit« (Binswanger 1960, S. 26f.). Die Protentio gerät in einen Leerlauf, und was von ihr bleibt, ist die »zeitliche Objektivität der ›zukünftigen‹ Leere oder der Leere ›als Zukunft‹« (S. 26f.). Dieser phänomenologische, aber für die Psychoanalyse ungemein wichtige Zugang zum Zeiterleben in Melancholie und Depression rückt eine fundamentale »Störung der Protentio« ins Zentrum; das heißt, dass »der ganze ›Prozeß‹, der ganze Fluß- oder Kontinuitätscharakter nicht nur der Zeitigung, sondern auch des ›Denkens‹ überhaupt gestört ist« (Binswanger 1960, S. 26f.). Wenn Fluss und Kontinuität von Denken, Fühlen, Erleben und Handeln ins Stocken geraten, sind wir aber nahe am Kern der Depression. In Bezug auf deren Symptsomatik spricht man gemeinhin von Antriebsarmut und schwerer Hemmung des ganzen psychophysischen Habitus einer Person, in dem vornehmlich der Körper das Terrain abgibt, auf dem sich viele der typisch depressiven Zeichen ablesen lassen (vgl. Lang 2000). Eine Verlangsamung aber ist unüberhörbares und unübersehbares Indiz einer Temporeduktion des inneren Zeiterlebens, die weniger innehält und Distanz zu Hektik und Stress sucht, was ja durchaus für ein reflektiertes Zeitbewusstsein spräche, sondern Symptom der beschriebenen Grundstörung depressiver Protentio ist. Im gestörten Fluss der dreidimensionalen Zeit gewinnt die Vergangenheit eine Übermacht, die in der depressiven Ich-Verarmung die gelebte Gegenwart und antizipierte Zukunft mit der Schwermut von Angst und emotionaler Leere besetzt. Je mehr sich demnach in einer chronifizierten Depression »die Hemmung verstärkt, das Tempo der inneren Zeit verlangsamt, um so deutlicher wird die determinierende Gewalt der Vergangenheit erlebt. Je fester dem Depressiven die Zukunft verschlossen ist, desto stärker
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fühlt er sich durch das Vergangene überwältigt und gebunden« (Straus, zit. nach Binswanger 1960, S. 40). »Zukünftige Leere oder Leere als Zukunft« – Binswangers Vexierspiel mit Leere und Zukunft am Phänomen des depressiven Zeiterlebens erinnert unüberhörbar an einen wichtigen, von Green (1983) in die neuere Psychoanalyse eingeführten Begriff einer Klinik der Leere. Diese Metapher entzündete sich an einer nunmehr Jahrzehnte währenden Erfahrung von Zuständen innerer Leere, wie sie vor allem bei narzisstischen Persönlichkeitsstörungen und, von diesen diagnostisch ja nur schwer zu trennen, depressiven Krankheitsbildern festzustellen sind. Nur dass Binswanger dieser emotionalen und affektiven Leere bereits vorweg die Qualität eines gestörten Zeiterlebens verliehen hat, die dann Green als versperrte, aber gleichwohl determinierende Vergangenheit, als versteinerte Trauer oder Verharren in einem zukunftsleeren Stillstand der Zeit beschreiben sollte. Gemeinsames Thema bleibt die Vorstellung eines Objektverlustes, der die Trauer der Depression unbewusst verursacht. Binswanger geht so weit, Depression synonym mit Verlust oder Verlieren zu bestimmen, nicht ohne für diese einen spezifischen Verluststil der Zeit zu präzisieren, der schon jeden Pessimismus auszeichnet: »die Betrachtung nämlich ›der Zukunft‹ unter dem Gesichtspunkt des Verlustes oder des Verlierens, und zwar des Verlierens des Genießenkönnens« (Binswanger 1960, S. 43). Wenig später spricht er – wir sehen uns an das Bild vom zur Hälfte gefüllten Glas Wasser erinnert – von einem melancholischen Verluststil, deren »Verstimmung Ausdruck der Erfahrung im Sinne des Verlierens ist, im Gegensatz zur Erfahrung im Sinne des Gewinnens oder Genießens« (Binswanger 1960, S. 47). Mit anderen Worten und in Bezug auf den Verluststil der Zeit: Die Zeit als Objekt ist hier immer schon verloren, nicht eines, das noch gewonnen oder eben, im Lichte des klassischen psychoanalytischen Objektbegriffs gesehen, wiedergefunden, nach einem Akt der Zerstörung wiederhergestellt und vielleicht auch kreativ neu geschaffen werden kann. Ein Fragment aus einer Behandlung soll meine Thematik in einem Zwischenschritt veranschaulichen. Es geht um einen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Mann, der sich selbst in den Erstgesprächen als schon sein Leben lang depressiv schildert
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und den Eindruck hinterlässt, vor einer psychischen Katastrophe zu stehen. Dahin schien ihn die Beziehung mit einer etwas jüngeren Frau zu treiben, die er beruflich kennen lernte, nachdem sein väterlich-wohlwollender Vorgesetzter altershalber ausschied. Seine aktuelle depressive Verzweiflung führt er darauf zurück, dass er überzeugt ist, er habe gleich zu Beginn, als er die Frau kennen lernte, gewusst: Wenn er mit ihr etwas anfängt, wird sie ihm zum Verhängnis. Also musste er mit ihr etwas anfangen. Das Verhängnis nun bestand nicht etwa darin, dass er an eine Femme fatale geraten wäre, die ihn psychisch zu ruinieren droht, auch wenn er mit ihr tiefe Verlust- und Trennungsängste aussteht, in ständiger, lähmender Angst lebt, sie würde sich von ihm zurückziehen und ihn verlassen. Das Verhängnis war anderer Art, mitnichten in einem negativen oder destruktiven Sinne gemeint. Die Partnerin spürte vielmehr ein in seiner Familie gehütetes Geheimnis auf, um das der Patient unbewusst seit seiner Kindheit zu wissen schien, ohne je Gelegenheit suchen oder finden zu wollen, seinen Wisstrieb darauf zu richten. Im Verlauf des letzten Jahres, das zugleich erstes Analysejahr war, sprach die Partnerin die einige Jahre ältere Schwester des Patienten an und äußerte ihren vagen Verdacht auf Unklarheiten bei dessen Eltern. Es stellte sich eine traurige Wahrheit heraus: Der vermeintliche Vater war der soziale Vater, der kurz nach seiner Geburt aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehrte. Der Patient kennt also seinen leiblichen Vater nicht, und er blieb so nicht der »richtige Sohn« der Familie, als der erst 5 Jahre später ein jüngerer Bruder zur Welt kam. Scheinbar beiläufig, der Patient stand schon zur Verabschiedung am Ende einer Sitzung nach einigen Behandlungsmonaten, macht er eine Bemerkung über ein Säuglingsheim; dies etwa zum selben Zeitpunkt, als sich das Geheimnis seines Vaters lüftete. Als ich in der nächsten Sitzung nachfragte, zeigte sich, dass der Patient kurz nach seiner Geburt von Mutter und sozialem Vater für einige Monate in ein Säuglingsheim gegeben wurde, danach lebte er 4 Jahre bei der Oma weit entfernt vom Elternhaus, erst mit gut 4 Jahren wurde er schließlich zurückgeholt. Die Familie zog später in ein anderes Bundesland und lebte hier, wie der Patient sagt, in einem »düsteren Haus in einer morbiden Gegend«. In diesem
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Haus starben die Eltern 1997 kurz hintereinander. Im Zusammenhang mit deren Tod prägte der Patient ein Wort, dessen Bedeutungshorizont nicht von ungefähr tief in die Geschichte der Melancholie zurückreicht und das wir vielleicht am besten auf dem berühmten Bild von Albrecht Dürer, »Melencolia I« aus dem Jahr 1514, künstlerisch dargestellt finden: die Sanduhr, in der das Rieseln des Sandes genau in der Hälfte zum Stillstand gekommen ist. Der Patient also spricht wiederholt vom Stillstand der Zeit in diesem Haus. Dazu gehört, dass die Gegenstände auf dem Schreibtisch des sozialen Vaters, aber auch andere Räume, in genau dem Zustand belassen wurden, als die Eltern starben. In meinem analytischen Verständnis neigte ich dazu, in diesem Stillstand der Zeit eine zentrale unbewusste Phantasie, zugleich ein für den Patienten schöpferisches Symbol, einen strukturierenden Signifikanten seines unbewussten Lebens zu erachten. Als Jugendlicher und junger Mann liebte er durchaus die Geschwindigkeit, ihren Rausch und ihre Symbole: Beruflich drängte es ihn in die Luftfahrt, in noch beflügelteren Phantasien in die Raketenabwehr, und als er den Abschluss seiner Ausbildung feiern konnte, fuhr er vor dem besagten Haus stolz mit einem geliehenen Sportwagen vor. Tatsächlich aber ist das Leben des Patienten seit langer Zeit zum Stillstand gekommen, es scheint sich in leeren Bahnen zu bewegen, und in seiner eigenen Wohnung wiederholt sich das Szenario des düsteren Elternhauses. Seit 30 Jahren wurde auch hier kaum etwas verändert, und der Patient schildert immer wieder eindrücklich den Blick auf seine Straße, auf der er das Altern von Menschen gleichsam aus dem Küchenfenster mitverfolgt, die wie er in seiner Umgebung sesshaft geblieben sind. In der unbewussten Symbolik dieses Stillstands der Zeit finden wir also, so meine bisherige Richtung im Deutungsprozess, den depressiven Modus der Verzeitlichung dieses Patienten. Eine Beobachtung aus dem Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen im Verlauf der Sitzungen kann diese Hypothese bekräftigen. Es vergeht kaum eine Sitzung, an der sich am Ende nicht szenisch etwas wiederholt, das uns genau die Struktur dieser Verzeitlichung veranschaulicht. Ich gebe das Zeichen für das Sitzungsende, das der Patient indes konsequent und beharrlich ignoriert. Sei es noch im Liegen, sei es bereits im Stehen: Immer wird etwas
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nachgereicht, das – wie der Hinweis auf das Säuglingsheim zeigte – von größter Dichte sein kann, mich aber zuweilen einen Ton energischer dazu zwingt, unsere gemeinsame Zeit zu beenden, mit anderen Worten: sie zu einem Stillstand zu bringen. Neulich quittierte mir der Patient dies in einer Mischung von Wut, Trotz, aber schon fast heiterer Ironie: Ich wolle ihn hinauswerfen! Genau das muss ich wohl, aber genau dies führt uns auch in die unbewusste Problematik seines Verlustes mit ihrer Wiederholung und Reinszenierung in der analytischen Situation. Der traumatische Hintergrund dabei scheint nahe liegend: Kaum ist er auf der Welt, wird er hinausgeworfen und ausgestoßen. Und kaum lernt er eine neue Partnerin kennen, kaum bindet er sich an sie, quälen ihn archaische Ängste, von ihr hinausgeworfen zu werden. Ängste also, von ihr, von der er ja doch eine erotische und sinnliche Belebung – sozusagen einen neuen Verzeitlichungsschub seines Lebens – hätte erwarten können, erneut zu einem Stillstand seiner Zeit, aber auch einer intersubjektiv geteilten Zeit gezwungen zu werden. Nun besteht der Beruf des Analytikers mitunter darin, gerade in der gleichschwebenden Aufmerksamkeit immer etwas genauer hinzuhören. Im Stillstand der Zeit können wir unüberhörbar einen Stillstand vernehmen, einen Stand des Stillens, einen StillStand des Stillens, in dem ein Säugling jäh, abrupt und traumatisch von seinem primären Objekt getrennt wird. Es ist denn auch immer eine intersubjektive Zeit, die zu einem Stillstand kommt. Zumal vor dem Hintergrund einer auch hierzulande seit einiger Zeit schwelenden psychoanalytischen Intersubjektivitäts-Debatte – die übrigens in der französischen Psychoanalyse längst unter dem Begriff des Anderen standardisiert ist – müssen wir uns immer fragen, mit wessen Depression wir es zu tun haben, wenn wir eine solche diagnostizieren. Von Lacan bis Laplanche gilt in diesem Standard seit Jahrzehnten die theoretische, gerade auch für mein Thema entliehene Devise: »Der Andere hat Vorrang hinsichtlich der Konstruktion der menschlichen Subjektivität, das heißt der sexuellen und zeitlichen Subjektivität« (Laplanche 1992/1996, S. 135). Von Green gibt es hierzu das einprägsame, analog zu Freuds Ödipus-Komplex formulierte Bild von einem »Komplex der toten Mutter« (1983, S. 212ff.). Darin ist es eine real durchaus anwesende, in ihrem psy-
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chischen Erleben aber depressiv abwesende oder narzisstisch zu selbstbezogene Mutter, die ihr Kind mit ihrer Depression affiziert. Ist also die Depression zunächst nicht die Depression des/eines Anderen, erst recht dann, wenn dieser dagegen eine erfolgreiche und, wie Erfahrung und Forschung zeigen, oft manische Abwehr aufgeboten hat? Wessen Stillstand der Zeit ist es demzufolge, der als Signifikant und symbolische Münze gleichsam zwischen mindestens zwei unbewussten Systemen zirkuliert? Und wessen Stillstand der Zeit ist es, in dem ein stiftender Objektverlust scheiterte und eine fundamentale Trauer versteinerte? Wenn in der Depression oder der Melancholie ein Scheitern der Trauer um ein verlorenes Objekt wirksam sein soll, dann muss weiter gefragt werden, weswegen dem Kind dieser Verlust, der sein lebendiges Begehren nähren könnte, nicht ermöglicht wurde. Der früheste »Verluststil« (Binswanger) – Stil und Stillen liegen in der unbewussten Semantik nahe beieinander – wird zwischen Kind und Mutter sozialisiert. Aber die Fähigkeit, ein Objekt zu verlieren und um es zu trauern, wird mitnichten allein dem Kind abverlangt. Abstillen, Entwöhnung und Trennung, also der Verlust der mütterlichen Brust und ihrer Anwesenheit, hängen davon ab, inwieweit zunächst die Mutter als primäre Repräsentanz des Anderen zu einem gleichwertigen Verlust, zu äquivalenter Trauer befähigt ist. Nicht nur soll das Kind die Brust lassen, sie hergeben und verlieren; dasselbe muss in erster Linie die Mutter tun können (vgl. Hassoun 1995). Der Verluststil des Kindes ist immer eine Antwort auf den Verluststil der Mutter. Genauso wie die Depression des späteren Erwachsenen oft ein verzweifeltes Echo auf eine ehemals depressiv verstummte »tote Mutter« bleibt. Green verleiht, darin einig mit Melanie Klein oder Lacan, dem verlorenen, zerstörten und vernichteten Objekt den »Charakter eines einmaligen Stiftungsakts« der menschlichen Psyche, der »augenblicklich wirksam und ein für allemal entscheidend ist« (Green 1983, S. 211). Der Determinismus dieses Akts und Verlustes hat eine Tragweite für das ganze psychische Leben, im Besonderen aber für die von Green so genannte »weiße Trauer« der Depression, gewiss auch für die elementare Fähigkeit, überhaupt depressiv sein zu können, ohne diese Fähigkeit genussvoll steigern und an ihr paradoxerweise erkranken zu müssen.
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In der intersubjektiven Zeit eines initialen Verlustes und einer das Subjekt gründenden Trauer zwischen Kind und Mutter ist die Brust ein geteiltes Partialobjekt, das beide im Namen des Vaters, eines Vaters, eines Dritten gegenseitig freigeben müssen. Nur so kann dieses verlorene Objekt den psychischen Raum einer »kommensalen Container-contained-Beziehung« (Bion) ermöglichen, in der der Vater des Kindes in jedem konkreten Akt des Stillens und der mütterlichen Sorge repräsentiert bleibt. Scheitert dieser symbolische, vorweg schon ödipal strukturierte Gabentausch am Anfang der Subjektbildung – das Kind schenkt und belässt der Mutter die Brust, die Mutter teilt in ihrem Containing den Schmerz und die Trauer des Kindes und schenkt ihm damit ein gutes inneres Objekt –, kann sich dieses als verlorenes Objekt gar nicht erst stabilisieren. Es gibt schlimmstenfalls nichts, worum – wie Lacans Freud-Lektüre zeigte und seine Schöpfung des Objekts klein a meinte – ein lebendiges Begehren in seiner zutiefst paradoxen Triebhaftigkeit immerhin unablässig kreisen könnte. Ebenso wenig aber kann – wie in Melanie Kleins Lesart – im psychischen Leben eine depressive Position hinreichend strukturiert werden, in der die Trauer um dieses verlorene und zerstörte Objekt eine gelingende Durcharbeitung findet. Gerade diese Position ermöglicht einen Verluststil, der von den Depressionen des Lebens nicht frei ist, ihrem qualvollen und selbstdestruktiven Sog aber nicht erliegt. Der Depressive leidet, so ließe sich folgern, nicht so sehr an den Objektverlusten, die das Leben einfach fordert, sondern gerade am Mangel dieses initialen Verlustes, der ihm verweigert, verunmöglicht oder erschwert wurde. Und deswegen bleibt auch die Zeit als Objekt für ihn immer ein Verlust, nicht eigentlich ein Gewinn. Dieser ökonomisch anmutende Vergleich bringt mich abschließend zu einigen Gedanken zum angekündigten Doppelsinn der Zeit-Diagnostik. Können wir also angesichts einer Zunahme depressiver Störungen in den letzten Jahrzehnten von einem zeitdiagnostischen Indiz sprechen, das uns über eine Sozialpathologie moderner Gesellschaften Aufschluss gibt? Kann gar von einer »depressiven Gesellschaft« (Roudinesco 1999) die Rede sein? Ich hege meine Zweifel an der Ergiebigkeit solcher Beschreibungen. Vor dem Hintergrund meiner bisherigen Ausführungen liegt mir vielmehr an einer Art Minimaldefinition, die der globali-
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sierten neuen Herrschaft der Ökonomie gerecht wird. Dazu aber gehört die Wiederaneignung eines Befunds, der rund 140 Jahre zurückreicht: Alle Ökonomie sei, so Karl Marx, letztlich Ökonomie der Zeit. Das heißt, Gesellschaften lassen sich immer auch nach ihrem objektiven Zeithaushalt und somit sozialpsychologisch nach der Assimilation der Individuen an diese Ökonomie charakterisieren. So etwa kann für die Zeitökonomie der Moderne seit dem vorletzten Jahrhundertwechsel, mithin seit der Geburt der Psychoanalyse, eine tiefe Spaltung festgestellt werden (vgl. Kaempfer 1997). Es kommt zu einem Bruch im bislang synchronisierten Zeitgetriebe zwischen Geschichts- und technologisch beschleunigter Verkehrszeit. Diese »zerbrochene Zeit setzt eine Abkoppelung der Gegenwart von der Vergangenheit in Gang, die von einer manischen Dynamisierung des Fortschritts und einer nostalgischen Rückwärtsgewandtheit begleitet wird« (Heidbrink 1997, S. 13). Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts bezeugen drei Dokumente auf unterschiedlichen Feldern diese Spaltung in der gesellschaftlichen Zeitökonomie: das 1909 erschienene »Futuristische Manifest« des Italieners und späteren Faschisten Marinetti – die manische Feier einer entfesselten Geschwindigkeit, in der die Schnelligkeit ästhetisiert, ein Rennautomobil mit der Nike von Samothrake verglichen wird und bei alledem jede Vergangenheit vernichtet, eben verloren werden soll. Marinetti ruft darin zu einer Zerstörung Venedigs und seiner Museen durch Überschwemmung auf, um dem melancholischen Sog dieser »ehrwürdigen Stadt« zu entkommen. Dann Prousts Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« – der schwermütige Versuch der Vergegenwärtigung einer Zeit, die es nur in den Bildern der Erinnerung gibt; schließlich Freuds Schrift über »Trauer und Melancholie«, der die beiden Grundbegriffe für diese Zeitspaltung nachlieferte. Diese Spaltung förderte vor hundert Jahren eine bipolare Befindlichkeit, die über den Ersten Weltkrieg hinweg bis in Freuds Arbeit von 1917 hinein wirken sollte. Aber weit mehr noch: »Ebendiese Stimmungslage, das Schwanken zwischen wüster Euphorie und abgründiger Verzweiflung und Todessehnsucht, wird das Jahrhundert durchherrschen, das bevorsteht. Sie erinnert nicht zufällig an das klinische Syndrom des manisch-depressiven Irreseins, an die manische Entfesselung und den depressiven Stillstand der Zeit« (Kaempfer 1997, S. 142).
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Wir sehen: Die Rede vom Stillstand der Zeit taucht nicht nur im verbalisierten Stimmungsbild einer individuellen Depression auf, sondern findet sich gleichfalls in einer schon Regale füllenden Literatur über den »melancholischen Geist der Moderne« (vgl. Heidbrink 1994, 1997; Heim 1999). Wenn sich einer geradezu in geschichtsphilosophischer Verzweiflung mit dieser modernen Spaltung zwischen Entfesselung und Stillstand der Zeit beschäftigt hat, dann war das natürlich Walter Benjamin. Seine Kritik an einem als Kontinuum verstandenen Fortschritt der Weltgeschichte, durch die – wie er mit Bezug auf die Metapher von Marx pointierte – Revolutionen als »Lokomotiven« noch beschleunigt, mündet in sein paradoxes Denkbild einer »Dialektik im Stillstand«. Nicht nur könnten darin Revolutionen vielmehr verzweifelte Griffe nach einer Notbremse sein, um die Katastrophen eines ungebremsten Fortschritts zu vermeiden; die letzten Thesen seiner Arbeit »Über den Begriff der Geschichte« sind von den Motiven des Stillstands (der historischen Zeit) und der Stillstellung (des Denkens und Geschehens) beherrscht. Nur im »Chock« des Einhalts, im Zeit-Schnitt eines linearen und unaufhaltsamen Fortschritts findet der »historische Materialist das Zeichen … einer revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit«; er kann auf »den Begriff einer Gegenwart, die nicht Übergang ist, sondern in der die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, … nicht verzichten« – so Benjamin in der XVI. und XVII. seiner geschichtsphilosophischen Thesen (1980, S. 702f.). Benjamins moralischer Impetus galt den Unterdrückten der Geschichte und ihrer verschütteten Tradition, sein Interesse zielte auf die Verlierer und Verluste jeden geschichtlichen Fortschritts. Verlieren und Verlust sind begriffliche Signifkanten und melancholische Topoi zugleich in Benjamins Denken. In einem Brief vom 28. März 1937 an Max Horkheimer bemerkt er, wie wichtig es ihm stets war, die »merkwürdige Sprachfigur« zu verstehen: »einen Krieg, einen Prozess verlieren«. Und er reflektiert weiter auf Sinn und Gegensinn des ibsenschen Wortes: »Glück wird aus Verlust geboren, / Ewig ist nur, was verloren.« Wir wollen es hier offen lassen, ob dieses Wort nicht auch eine Wahrheit des psychoanalytischen Blicks auf den Menschen enthält, wenn wir an die
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Notwendigkeit eines initialen Verlustes denken, den jedes Kleinkind erfahren muss, um in diesem Verlust eine schöpferische Ressource seines Lebens zu finden – oder an seinem Scheitern das Risiko einer seelischen Erkrankung wie der Depression einzugehen. Und schließlich geht es uns hier, in Abwandlung von Benjamins Sprachfigur, darum zu verstehen, was es heißt: ein Objekt zu verlieren, zumal wenn dieses die Zeit als solche ist und im besonderen diejenige des Depressiven. Doch wie lässt sich, so ja doch ein vitales Erkenntnisinteresse einer aktualisierten psychoanalytischen Sozialpsychologie, die Depression in einem soziokulturellen und historischen Feld situieren, für das Benjamins geschichtsphilosophische Thesen ihre Gültigkeit keineswegs eingebüßt haben? Der Engel der Geschichte, von Benjamin an Klees Bild »Angelus Novus« dargestellt, ist mitnichten älter geworden, genauso wie der Sturm, der ihn in die Zukunft treibt, an Windstärke gewonnen hat. Die Geschwindigkeit der Welt hat globalisierte Ausmaße angenommen, und der genuin melancholische Intellektuelle und Theoretiker rätselt, wem heute die Funktion der Notbremse zuwächst. Ein guter Kenner Benjamins muss der französische Architekt und Theoretiker Paul Virilio gewesen sein, als er sich vor gut drei Jahrzehnten mit der Entfesselung von Zeit und Geschwindigkeit in den historischen und Gegenwartsgesellschaften zu beschäftigen begann. Daraus resultierte seine Disziplin der Dromologie, einer Art Lehre vom Wesen der Geschwindigkeit, ihren Entstehungsbedingungen, Wandlungen und Auswirkungen. Am Ursprung der Moderne stand nicht nur eine industrielle, sondern eine dromokratische Revolution. Für Virilio geht damit eine metabolische, vom menschlichen Körper noch selbst erzeugte und gesteuerte Geschwindigkeit in das Universum einer zum Selbstläufer und Zauberlehrling freigesetzten Rasanz über. Eine Geschwindigkeit des Lebendigen wird von einer Geschwindigkeit des Toten abgelöst, ein historisches Zeitalter der Bremswirkung von einem Zeitalter unbegrenzter Beschleunigung. In einer von französischen Denkern gewohnten Zuspitzung läuft diese Dromokratie auf die Katastrophe einer »Liquidierung der Welt« hinaus. Diese dromokratische Geschwindigkeit mit ihren unerschöpflichen technologischen Ressourcen steht gleichzeitig in der Tradition des europäi-
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schen Nihilismus und führt unabwendbar zu einer »Niederlage der Welt als Boden, Entfernung und Materie« (zit. nach Breuer 1992, S. 132). Wenn wir an das Tempo, die Hektik und den Stress des modernen Alltags denken, wird dieser Beschleunigungsrausch leicht nachfühlbar. In diesem Rausch heißt »lebendig sein … Geschwindigkeit sein« (Virilio, zit. nach Breuer 1992, S. 132). Die dromokratischen Imperative befallen sämtliche Lebenswelten, und selbst eine Nische notwendiger Langsamkeit wie der zeitintensive psychoanalytische Prozess kann sich ihnen kaum noch entziehen. Gesundheitstechnokraten wünschen sich denn ja auch eine Behandlung von Depressionen möglichst im Eiltempo. Wie wir gehört haben, machen sie dabei aber die Rechnung ohne den Wirt, das heißt eine seelische Erkrankung, in der sich wesentlich das Tempo der inneren Zeit verlangsamt. Ohne aus der Depression als zeittypischer Krankheit – was eine ideologische Instrumentalisierung des Leidens wäre – eine »große Weigerung« (Herbert Marcuse) zu machen, bleibt dieser Gegensatz von objektiver und subjektiver, innerer Zeit sozialpsychologisch erklärungsbedürftig. Denn wenn sich diese Weigerung heute im depressiven Leiden von Millionen Menschen weltweit manifestierte, wären diese es, die – so Benjamin in einer Anmerkung zu seinen geschichtsphilosophischen Thesen – den »Griff des (im Zuge der Weltgeschichte) reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse« verzweifelt suchen. In den einschlägigen Modellen zur Soziogenese der Depression wird eine Hilflosigkeit und Ohnmacht des Ich angesichts einer tektonischen Verschiebung im normativen gesellschaftlichen Gefüge der letzten Jahrzehnte festgestellt. Individualisierung, ein neuer Hedonismus, die Devise »Erlebe dein Leben!« in den unersättlichen Spiralen einer erlebnishungrigen Gesellschaft führten zu einer Umschichtung der Über-Ich-Forderungen nach Gewissen und Pflicht zu Ich-Idealen von grenzenlosem Genuss und konsumistischer Selbstverwirklichung. Eine ehemals repressive Moral der Pflicht transformiert sich zu entsublimierten Idealen des Genusses. Ohnmächtig, diesen Idealen zu genügen, wird eine schuldund schamhafte Störung des Selbstgefühls zum zentralen Faktor depressiver Erkrankungen. Dazu gesellt sich nicht selten eine gierige Sucht, die diesen Idealen immer nur wie Achill der Schildkrö-
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te hinterherrennen kann und schlimmstenfalls diese Störung des Selbst in dessen Zerstörung münden lässt. Kleinianische und lacanianische Psychoanalyse teilen das Konzept eines entwicklungsmäßig frühen Kerns des präödipalen Über-Ich und Ich-Ideals. Aus diesem Kern scheinen sich die heutigen Vorbilder des Genusses zu speisen. Wie Lacan gezeigt hat, kann von einem sadistischen Imperativ gesprochen werden, der von diesem archaischen Über-Ich ausgeht: Genieße! Das Genießen aber, wie es Lacan gegen den Gemeinsinn des Wortes als jouissance im Dienste des Todestriebes definierte, beginnt da, wo das ökonomische Regulativ des Lustprinzips endet. In seiner Dynamik unersättlich und unstillbar, wird ihm – wie gezeigt – kein Objekt je genügen können. Im Januskopf der Triebstruktur zwischen Eros und Destruktivität, auf der Gegenseite des Genießens, ist das Begehren das Profil des Triebes, das sich letztlich einigermaßen gelassen in diese Unerfüllbarkeit schickt. Kommt zu diesem Imperativ die Zeit hinzu, kann diese selbst zu einem persekutorischen Objekt werden, das uns als Geschwindigkeit gleichsam im Nacken sitzt und uns zu diesem Genießen zwingt. Wir finden uns demnach einem sadistischen Diktat der Zeit unterworfen, das da – ich pointiere – lautet: Genieße! Denn deine Zeit ist begrenzt, also fülle sie mit einem Maximum an Erlebnissen, Gütern und Objekten, die dir ein Maximum an Lust und Genuss verschaffen. Vielleicht, dies eine mit Bedacht formulierte abschließende Hypothese, erliegt der Depressive heute, zusammen mit – oder als deren Kehrseite – suchtartigen Verlaufsformen narzisstischer Persönlichkeitsstörungen, diesem Diktat am meisten. Er leidet daran, dass er zu viel genießen muss und zu wenig begehren kann. Der Sadismus dieses maximalen Genießens erlaubt uns, das Zeiterleben des Depressiven weit mehr durch die paranoid-schizoide als durch die depressive Position bestimmt zu sehen. Wenn nämlich die Zeit selbst zu einem verfolgenden Objekt wird, schraubt sich der von Melanie Klein beschriebene Circulus vitiosus zwischen sadistischen Triebregungen und »bösem Objekt« eine Spirale hoch, an deren Spitze das archaische Recht und Gesetz des Talion herrscht: »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Das Zeitdiktat zwingt das Ich, Zeit als Objekt in einem Lust suchenden manischen Hyperaktivismus gerade zu vernichten, sie »totzuschla-
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gen« und damit zu verlieren. Das Zeitobjekt wiederum rächt sich, indem es seinen Zahn gleichsam im stummen Geschäft des Todestriebes an der psychischen Existenz nagen lässt und das Ich schlimmstenfalls in die suizidale Vernichtung seiner selbst treibt. Im Lichte dieser Dialektik des Genießens besteht das depressive Leiden letztlich darin, dass das eigene Ich zu dessen bevorzugtem Objekt wird. Nur deshalb konnte Freud von der »genußreiche(n) Selbstquälerei der Melancholie« (1916–17g, S. 438) sprechen, an deren Kriterium sich auch der Schweregrad einer Depression bemessen lässt. Wie Abraham sieht Freud in der Zwangsneurose eine klinische Verwandtschaft mit der Depression und Melancholie, nämlich in der »Befriedigung von sadistischen und Haßtendenzen, die einem Objekt gelten und auf diesem Wege eine Wendung gegen die eigene Person erfahren haben« (S. 438). Wenn wir ein letztes Mal anstelle dieses Objekts die Zeit setzen, erhellt uns in der Tat die Struktur der Zwangsneurose die depressive Zeitlichkeit, sofern diese an die paranoid-schizoide Position gebunden bleibt, auf eine paradoxe Weise. Auch wenn sie in vergleichbarer Passion einer genussreichen Selbstquälerei erliegen kann, wählt die Zwangsneurose im Gegensatz zur Ohnmacht des Depressiven unter dem Imperativ des Genießens einen anderen Weg der Verzeitlichung. Sie schlägt auf besondere Weise die Zeit tot, »verliert und vernichtet ihr Objekt«, indem sie wartet, zögert, zweifelt und aufschiebt. Der Zwangsneurotiker meint Zeit zu gewinnen, während er sie tatsächlich verliert. Er muss sein Leben mit seinen Möglichkeiten des Genusses und der Lust unermüdlich rechtfertigen, während seine Lebenszeit hinter seinem Rücken verstreicht. Der Depressive zerbricht affektiv an der sadistischen Härte eines im frühen Über-Ich inkorporierten Genussdiktats, dieweil sein zwangsneurotischer Zwilling dessen Imperativ mit größtem Abwehraufwand widerstehen muss. Es sei denn eben, er wählte die Pathologie der genussreichen Selbstquälerei und damit dieselbe unbewusste Option wie die Melancholie. Zu Lacans Verdiensten einer Radikalisierung der Psychoanalyse nach Freud gehört nachweislich deren intersubjektivistische Transformation am Leitfaden der hegelschen Dialektik von Herr und Knecht, wie sie sich in der »Phänomenologie des Geistes« findet. Das Begehren, seine Essenz der freudschen Trieblehre, ist im ago-
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nistischen Sinne dieser Dialektik stets ein Begehren nach Anerkennung, nötigenfalls ein Kampf auf Leben und Tod, mindestens aber ein fairer Diskurs um das Prestige des eigenen Werts. Dass das Begehren das Begehren des Anderen sei, wurde zur Kernformel dieser für die freudsche Tradition zweifelsohne pionierhaften intersubjektiven Wende. Darin ist der Herr der Andere des Knechtes, dieser der Andere des Herrn, und klinische Strukturen können als Variationen dieser Reziprozität verstanden werden. Ebenfalls ist jede schwerwiegende narzisstische Störung eine Abwehr dieser für die Triebstruktur und ihre Objekte konstitutiven Intersubjektivität des Begehrens. Der Narzissmus sucht nicht das Begehren des Anderen, sondern findet sein eigenes in ihm. Klinische Strukturen und Pathologien lassen sich daran bemessen, welchen Ort sie in diesem Kampf um Anerkennung besetzen. Der Depressive neigt dazu, sich aus ihm zurückzuziehen und in der »genussreichen Selbstquälerei« zu verharren, die jedes Objekt zugunsten des Ich preisgegeben, oder eben: fallengelassen, verloren hat. Der Genuss bleibt schließlich egozentrisch und unteilbar. Die Zwangsneurose, dieses Negativ der Depression, hat den Kampf nicht aufgegeben, das Feld aber auf unbestimmte Zeit dem Herrn überlassen. In seinen Reflexionen zur Funktion der Zeit in der psychoanalytischen Technik übernimmt Lacan das hegelsche Modell; darin ist es der Knecht, der »Zwangsarbeit« (Lacan 1966, S. 160) leistet, dieweil der Herr deren Früchte genießt. Die Privilegien von Genuss und Genießen liegen auf der Seite des Anderen, und als solche sind sie natürlich Objekte des Neides oder dann eines unbewussten Erwartungskalküls, das von der Wette auf den Tod des Herrn lebt. Genau dies aber ist die Falle und Selbsttäuschung des Zwanghaften. Da dieser »weiß, dass er sterblich ist, weiß er auch, dass der Herr sterben kann. Infolgedessen kann er sich darauf einlassen, für den Herrn zu arbeiten und in der Zwischenzeit auf Genuß zu verzichten … Es ist in dem antizipierten Augenblick des Todes des Herrn, von dem an (das Subjekt) selbst leben wird; doch während es diesen Augenblick erwartet, identifiziert es sich mit dem Herrn als einem Toten und ist aufgrund dessen selbst bereits tot« (Lacan 1966, S. 160).
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Die Position des Herrn können im Verständnis der Psychoanalyse ausgewählte »Objekte« einnehmen, dies wiederum in verschiedenen Variationen in unterschiedlichen klinischen Strukturen. Die Dialektik von Herr und Knecht entfaltet sich nicht nur intersubjektiv, sondern findet ihr Wirkungsfeld gleichfalls in der Welt innerer Objekte, also intrasubjektiv, zwischen dem Selbst und seinen Objekten der psychischen Realität. Der Herr agiert hier vorzugsweise als sadistisches inneres Objekt von der paranoid-schizoiden Position aus und fungiert so als tyrannisches präödipales Überich. Nahe liegend für ein solches Objekt in der Funktion des Herrn in unserem Zusammenhang ist natürlich die »tote Mutter« (Green) und ihre Zeit im Triebschicksal des Depressiven. Zu Recht reicht denn auch Green seinem entdeckten Komplex der toten Mutter die Zeitlichkeit des Anderen in ihrer Differenz zu der des Subjekts nach: »Wir können heute keine Theorie des Zeiterlebens aufstellen, ohne die Zeit des Anderen (des Objekts, der Elternfigur) zu berücksichtigen … Darüber hinaus ist die Zeit der Mutter grundsätzlich verschieden von der des Kindes« (Green 2003, S. 803). In analytischen Kuren mit depressiven und zwangsneurotischen Patienten taucht oft früher oder später in der Übertragung das Objekt einer toten Mutter auf, und die technische Handhabung der Zeit des Settings und der Behandlungsdauer wird zu einem vorrangigen Problem. Für die Depression wird es genauso wie für die Zwangsneurose letztlich darum gehen, ihrem Herrn eine verloren gegangene, projektiv übereignete oder enteignete Lebendigkeit abzuringen, deren Quelle nicht mehr dessen antizipierter Tod ist und deren Verzeitlichung ein neues Maß an Autonomie und Eigenzeit gewinnt. Bei alledem besteht die Kunst des Analytikers darin, in der Übertragung und Gegenübertragung die Stellung des Herrn einzunehmen und gleichzeitig den unbequemen Platz des Knechtes – seines eigenen Unbewussten, seines Patienten – nicht zu meiden. Denn Freud hat in seinem Bild vom Ich, das nicht Herr im eigenen Hause ist, den Knecht noch unterschlagen. Von der komplettierten Wahrheit dieses Bildes bleibt der Analytiker nicht verschont, und so wird er sich immer wieder fragen, ob er Chronos wirklich ein Berufsleben lang nur in metrischer Präzision huldigen muss. Dem Takt des Unbewussten kann eine Normaluhr jedenfalls nie gerecht werden.
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■ Ilka Quindeau
Weiblichkeit und Depression – ein psychodynamischer Erklärungsversuch
■ Depression und Melancholie – Krankheit oder Lebensgefühl? Depressionen gelten gegenwärtig als die am meisten verbreitete psychische Erkrankung in modernen Gesellschaften; insbesondere Frauen sind davon betroffen. Es ist zu vermuten, dass sich hinter dieser Diagnose sehr unterschiedliche Krankheitsbilder und klinische Phänomene verbergen. Angesichts der Vielgestaltigkeit depressiver Zustände erscheint es mir wenig sinnvoll, sie allein als Symptome einer Krankheit zu sehen. So möchte ich die Perspektive erweitern und für eine Unterscheidung verschiedener depressiver Phänomene plädieren, deren Spektrum von Lebensgefühl und Stimmungslagen bis hin zur Krankheit reicht. Die Frage, ob oder inwieweit einer psychischen Ausdrucksform Krankheitswert zukommt, wird im Wesentlichen durch sich wandelnde kulturelle und historische Faktoren bestimmt. Diese fließende Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit zeigt sich auch im psychoanalytischen Krankheitsverständnis, das psychische Erkrankungen nicht als Störungen auffasst, die beseitigt werden müssen, sondern als sinnhafte psychische Ausdrucksformen. Sie stellen scheiternde, leidvolle Versuche dar, psychische Konflikte und traumatische Erfahrungen zu verarbeiten und zu bewältigen. Symptome sind somit Bedeutungsträger, sie verweisen auf zugrunde liegende konflikthafte Prozesse. Gemeinsam ist den verschiedenen Bestimmungsversuchen der Depression ein Zustand, der sich als Reaktion auf einen Verlust, als eine Art von Trauer, kennzeichnen lässt. Nun ist dieser Verlust im Unterschied zur gewöhnlichen Trauer in der Depression selbst
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verloren gegangen, das heißt, den Betroffenen ist es in der Regel nicht einmal bewusst, dass sie trauern beziehungsweise dass sie überhaupt einen Verlust erlitten haben. Ich möchte daher eine terminologische Unterscheidung vorschlagen und von der bewussten Trauer zwei Formen unbewusster Trauerprozesse, das heißt zwei Modi der psychischen Verarbeitung von Verlusten, abgrenzen: Depression und Melancholie. Während der Begriff der Melancholie als psychiatrische Kategorie eine besonders ausgeprägte, schwere Form der Depression beschreibt, findet er in den Kulturwissenschaften eher Verwendung zur Bezeichnung einer Stimmungslage oder eines Lebensgefühls. Demgegenüber erscheint es mir sinnvoll, auch die Melancholie – wie die Depression – weder auf das eine noch das andere zu beschränken und sie ebenfalls im Spektrum zwischen Lebensgefühl und Krankheit anzusiedeln. Die Psychodynamik von Depression und Melancholie entfaltet sich in einem Beziehungsgeschehen. Von zentraler Bedeutung sind dabei Befriedigungsmöglichkeiten, die ihren Ort in der Beziehung zum Anderen haben. Der Verlust, der auf depressive oder melancholische Weise verarbeitet wird, lässt sich von daher inhaltlich näher charakterisieren als verlorene Befriedigungsmöglichkeiten sowie als Verlust des Anderen, von dem diese Befriedigung ausgeht. Diese Verlusterfahrung entsteht nun nicht notwendig durch den tatsächlichen Verlust einer Person, wesentlich ist vielmehr, dass eine Befriedigungsmodalität wegfällt, die bisher bedeutsam war, beziehungsweise dass der Andere für diese Art von Befriedigung nicht mehr zur Verfügung steht. Als paradigmatische Szene in der frühen Entwicklung eines Kindes lässt sich in diesem Zusammenhang die Situation des Abgestilltwerdens anführen, mit der die Befriedigung der oralen Wünsche durch die Brust der Mutter endet. Selbst wenn man diese Situation nicht nur als traumatische konzipiert, in der etwa dem Kind die Brust abrupt entzogen wird, sondern als einvernehmliches Zusammenspiel von Mutter und Kind, handelt es sich bei dieser Szene um eine unvermeidbare, universelle Verlusterfahrung. Diese ergibt sich zwangsläufig aus der somatischen und psychischen Entwicklung des Kindes. Da wir gewohnt sind, menschliche Entwicklung im Wesentlichen als ein Fortschreiten, als Ausdifferenzieren von Strukturen und Funktionen zu betrachten und mit einer positiven Konnotati-
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on zu versehen, mag es vielleicht befremdlich erscheinen, Entwicklung unter dem Aspekt von Verlusten zu fokussieren. Doch gerade für das Verständnis depressiver oder melancholischer Phänomene erscheint es mir hilfreich, auch die Kehrseite dieser Entwicklung zu beleuchten: Mit jedem Entwicklungsschritt in Richtung Individuation und Autonomie ist ein Verlust von Abhängigkeit verbunden. Die Beziehungsstrukturen verändern sich, es fallen Befriedigungsmöglichkeiten weg, die bis dahin wichtig waren. Das gilt für das Abgestilltwerden des Säuglings ebenso wie für das Laufen- und Sprechenlernen oder die Ablösung in der Adoleszenz. Auch wenn die oralen Wünsche nach Passivität und Abhängigkeit im Lauf der Entwicklung im Wesentlichen dem Unbewussten verfallen, bleiben sie weiter wirksam und erfordern psychische Verarbeitung. Die beiden Modi der Depression und der Melancholie stellen in dieser Sichtweise universelle Grundformen psychischer Verarbeitung von Verlusten dar, die bei weiteren, kontingenten Verlusterfahrungen im Verlauf des Lebens immer wieder aktualisiert werden und sich bei entsprechend ungünstigen Bedingungen auch zu Krankheiten entwickeln können. Die Abhängigkeit vom Anderen, die der Verlusterfahrung zugrunde liegt, resultiert nun nicht nur aus dem unbewussten oralen Wunsch nach Passivität und Abhängigkeit. Sie stellt zugleich eine existentielle Grundstruktur dar, die sich aus dem Primat des Anderen ergibt, von dem die Befriedigung ausgeht. Dieses Angewiesensein auf den Anderen wird mithilfe des depressiven beziehungsweise des melancholischen Modus auf je spezifische Weise unterschiedlich verarbeitet: Die Depression verleugnet beziehungsweise verwirft diese Abhängigkeit, die Melancholie sucht sie in Form der Sehnsucht zu bewahren. Diese Differenzierung kann anhand klinischer Beobachtungen noch einmal verdeutlicht werden: So beschreiben depressive Patientinnen und Patienten häufig einen ausgeprägten, charakteristischen Zustand von Leere; atmosphärisch wird dies oft auch in der therapeutischen Beziehung spürbar. Paradox ließe sich formulieren, dass mit der Depression eine Leere dargestellt wird oder pointierter: Im depressiven Modus wird Leere unbewusst inszeniert. Dementsprechend wird auch kein Gefühl spürbar. Die Depression kennzeichnet vielmehr einen Verlust, der sich auch auf das Gefühl
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selbst ausweitet. Betroffen ist dabei nicht nur das Gefühl von Verlust, sondern weitergehend häufig jegliches Gefühl; es wird nicht nur kein Verlust empfunden, es wird vielmehr gar nichts empfunden. Das heißt, im depressiven Modus geht es nicht – wie bei der Melancholie – um ein Gefühl von Verlust, sondern um den Verlust des Gefühls. Der Verlust, der zu betrauern wäre, wird verleugnet: Es gibt nichts, was verloren wäre; etwas ehemals Wertvolles wird nachträglich als niemals existent dargestellt. Genau dies zeigt sich in der unbewussten Inszenierung der Leere. Depression wäre in dieser Weise zu verstehen als eine radikale Form der Abwehr von Verlust und darüber hinaus auch von Abhängigkeit. Denn die Verleugnung bezieht sich nicht nur auf den Verlust selbst, sondern weitergehend bereits auf die Beziehung zum Anderen beziehungsweise auf die in ihr zunächst enthaltenen und dann verlorenen Befriedigungsmöglichkeiten. Diesen wird im depressiven Modus jegliche Bedeutung entzogen. Damit entfällt auch die Angewiesenheit auf Befriedigung durch den Anderen, welche die Abhängigkeit begründet. Indem der Verlust der befriedigenden Beziehung auf so grundlegende Weise abgewehrt wird, lässt sich in der Depression auch ein Versuch der Bewältigung von Abhängigkeit erkennen. Die Verleugnung des Verlustes ist zugleich eine Verleugnung von Abhängigkeit und Angewiesensein oder – in einer abstrakteren Formulierung – eine Verleugnung von Alterität. Wie die Depression stellt auch die Melancholie einen unbewussten Modus der Trauer, der Verarbeitung von Verlusten dar. Während die Depression diese Verluste in der beschriebenen Weise verleugnet und sich der Verlust auch auf das Gefühl selbst bezieht, bleibt die Empfindung von Verlust in der Melancholie bestehen. Wenngleich dieser Verlust von den Betroffenen auch nicht inhaltlich näher spezifiziert werden kann, sondern sich meist nur als dumpfes, undifferenziertes und zugleich umfassendes Gefühl äußert, bleibt er in Form der Sehnsucht der Wahrnehmung noch zugänglich. Diese Sehnsucht bringt zugleich die Abhängigkeit und Angewiesenheit auf den Anderen zum Ausdruck, die in der Depression verleugnet wird. Sie wird jedoch auch in der Melancholie nicht anerkannt, sondern verschwimmt in dem undifferenzierten, diffusen Gefühl. Somit wird die Alterität des Anderen ebenso wenig gewahrt wie in der Depression. Wollte man aus dieser Perspek-
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tive die Depression und die Melancholie nosologisch kategorisieren, so wäre nicht wie in der psychiatrischen Diagnostik die Melancholie die schwerere Erkrankungsform, sondern die Depression mit ihren vergleichsweise archaischeren, rigideren Abwehrformationen. Doch wesentlicher als die Frage nach dem Krankheitswert erscheint mir die Konzeption des depressiven und des melancholischen Modus als universelle Formen der Verarbeitung von Verlusterfahrungen. Ich habe diese beiden Modi zu Anfang von der Trauer abgegrenzt und beziehe Depression und Melancholie im Wesentlichen auf Verluste, die nicht betrauert werden können. Damit folge ich implizit der üblichen, jedoch normativen Vorstellung von Trauer, die davon ausgeht, dass Verlusterfahrungen gleichsam vollständig und restlos verarbeitet beziehungsweise psychisch »integriert« werden können. Es wäre zu fragen, ob dies wirklich eine sinnvolle Konzeptualisierung darstellt oder ob sie nicht vielmehr unserem Wunschdenken entspringt. Nichtsdestoweniger erscheint es mir sinnvoll, den Begriff der Trauer in diesem Sinne vorerst beizubehalten, jedoch mit dem Anliegen, dem depressiven beziehungsweise melancholischen Modus die pejorative Konnotation einer unangemessenen, tendenziell pathologischen Reaktion auf einen Verlust zu nehmen und sie der Trauer zur Seite zu stellen. Die begriffliche Unterscheidung von depressiven und melancholischen Modi, die gewöhnlich im Begriff der Depression zusammenfallen, ermöglicht darüber hinaus, verschiedene Formen der Verarbeitung von Verlusten zu beschreiben, in denen sich ein unterschiedlicher Umgang mit Abhängigkeit und Angewiesenheit auf den Anderen sowie mit der Alterität des Anderen zeigt.
■ Depression, Melancholie und die Entwicklung der Geschlechtszugehörigkeit Als Antworten auf Verlusterfahrungen besitzen Depression und Melancholie denselben Entstehungskontext; in einer ersten Annäherung wurden diese Verluste bereits näher spezifiziert als Wegfall von Befriedigungsmöglichkeiten, die sich aus der Beziehung zum
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Anderen ergeben. Da nun insbesondere Frauen von depressiven Erkrankungen betroffen sind, wenngleich in den letzten Jahren auch ein deutlicher Anstieg der Depressionen bei Männern zu verzeichnen ist, wäre nach Gründen für diesen geschlechtsspezifischen Unterschied zu suchen. Will man diesen Befund nicht nur soziologisch interpretieren und eine Ursache dafür im Geschlechterverhältnis oder im Wandel der Geschlechterrollen ansetzen, bietet sich eine psychodynamische Betrachtungsweise an, die den Fokus auf die Besonderheiten der weiblichen Entwicklung legt. Dieses Vorgehen könnte jedoch Gefahr laufen, den Blick vorschnell zu verengen auf – im Zusammenhang der Psychodynamik – möglicherweise vermeintliche geschlechtsspezifische Unterschiede. In meiner Argumentation möchte ich die Entstehung der Depression daher erst allgemein im Zusammenhang der Geschlechtsentwicklung bei beiden Geschlechtern ansiedeln, um dann in einem weiteren Schritt die weibliche Entwicklung noch einmal gesondert zu fokussieren. Im Prozess der Geschlechtsentwicklung sehe ich eine paradigmatische, universelle Verlusterfahrung, für die keine Trauer möglich ist und die daher in einem depressiven oder melancholischen Modus verarbeitet werden muss. Da es ungewöhnlich ist, die Geschlechtsentwicklung unter dem Aspekt eines Verlustes zu betrachten, möchte ich diesen Gedanken kurz erläutern: Die Geschlechtsentwicklung in der frühen Kindheit lässt sich als Prozess zunehmender Vereindeutigung beschreiben, an dessen Ende eine gefestigte Geschlechtsidentität steht, das heißt das sichere Bewusstsein, ein Mädchen oder ein Junge zu sein. Betrachtet man diesen Prozess nun nicht als das mehr oder weniger reibungslose Ablaufen eines biologischen Programms, sondern als Entwicklungsaufgabe einer aktiven psychischen Aneignung, öffnet dies den Blick für die psychischen Konflikte, die mit dem Erwerb der Geschlechtsidentität einhergehen. Eine zentrale Rolle in diesem Konfliktgeschehen spielen die bisexuellen Identifizierungen des Kindes. Wie noch im Einzelnen auszuführen sein wird, bildet sich die psychische Struktur des Kindes durch Identifizierungen mit beiden Elternteilen, das heißt sowohl durch gleichgeschlechtliche als auch durch gegengeschlechtliche Identifizierungen. Im Zuge der Herausbildung einer eindeutigen Geschlechtsidentität muss die gegengeschlechtliche Identifizierung aufgegeben werden; unter
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diesem Aspekt stellt der Prozess der Geschlechtsentwicklung auch einen Verlust dar, der eine psychische Verarbeitung erfordert. Charakteristisch für diese Verluste ist nun, dass sie niemals bewusst werden. Darüber hinaus ist auch kein gesellschaftliches und wohl auch nur selten ein individuelles Bewusstsein vorhanden, dass es sich überhaupt um Verluste handelt. Das Kind kann somit nicht um seine verlorenen Identifizierungen trauern, sondern ist vielmehr genötigt, sie in einem melancholisch-depressiven Modus zu verarbeiten. Aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen gestaltet sich zudem die Geschlechtsentwicklung zunehmend prekär: So nimmt einerseits die Bedeutung des Geschlechts als Ordnungskategorie in modernen Gesellschaften stetig zu und lässt das Geschlecht zum Kern personaler Identität werden. Dies vollzieht sich unter den Bedingungen einer fortbestehenden Geschlechterhierarchie, die eine eindeutige Zuordnung der Einzelnen zu einer der Kategorien verlangt, das heißt eine binäre Kodierung des Geschlechts in Männlichkeit und Weiblichkeit. Andererseits lösen sich traditionelle Geschlechterrollen und fördern die Illusion von nahezu unbeschränkten Wahlmöglichkeiten. Es ist zu vermuten, dass diese ambivalente gesellschaftliche Situation mit dazu beiträgt, auch die psychischen Konflikte und Verlusterfahrungen im Zusammenhang der Geschlechtsentwicklung und damit depressive oder melancholische Modi zu aktualisieren. In einem weiteren Argumentationsschritt fokussiere ich die Besonderheiten der weiblichen Entwicklung und gehe der Frage nach, ob sich darin Momente finden lassen, die das erhöhte Ausmaß depressiver Erkrankungen bei Frauen im Vergleich zu Männern verständlich werden lassen. Zur Erklärung dieser geschlechtsspezifischen Differenz wird zur oben skizzierten These einer melancholisch-depressiven Geschlechtsentwicklung unter der gesellschaftlichen Bedingung einer binären Kodierung des Geschlechts eine weitere gesellschaftliche Ordnungsstruktur herangezogen: der Primat der Heterosexualität und die damit verbundene Verwerfung homosexueller Beziehungen. Von diesem Primat ist die weibliche Entwicklung in besonderer Weise betroffen, da sich die primäre Liebe des Mädchens auf ein gleichgeschlechtliches Objekt, die Mutter, bezieht. Diese Liebe wird nun im Prozess der Geschlechtsent-
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wicklung und der in der Regel damit verbundenen heterosexuellen Objektwahl verworfen. Psychoanalytische Geschlechtertheorien befassen sich seit Freud mit der Bedeutung und den Auswirkungen des so genannten Objektwechsels. Ohne die Diskussion hier noch einmal im Einzelnen führen zu können, geht es dabei um die (umstrittene) Annahme, dass das Mädchen in der ödipalen Situation die primäre Liebe zur Mutter löst und ihr Begehren auf den Vater richtet. Betrachtet man diesen Objektwechsel unter der Bedingung des gesellschaftlichen Primats der Heterosexualität, wird deutlich, dass es sich auch hierbei um einen erzwungenen Verlust handelt, der nicht betrauert werden kann. Insofern ist die weibliche Entwicklung von einem doppelten Verlust betroffen, der psychisch verarbeitet werden muss: der Verlust der heterosexuellen Identifizierung, den die Entwicklung der Geschlechtsidentität verlangt, und der Verlust des primären, homosexuellen Liebesobjekts, den die heterosexuelle Objektwahl erfordert. Dieser doppelte Verlust und die Notwendigkeit seiner Verarbeitung ist möglicherweise mit ein Grund, der zur höheren depressiven Erkrankungsrate bei Frauen beiträgt.
■ Das Konzept der Melancholie und der Identifizierung bei Freud Freud differenziert nicht zwischen Melancholie und Depression und entwickelt sein Konzept der Melancholie in Abgrenzung zur Trauer: Die Melancholie stellt einen unabgeschlossenen Trauerprozess dar. Während die Trauerarbeit zu einer vollständigen Ablösung der Libido vom verlorenen Objekt führt und die frei gewordene Libido für neue Objektbesetzungen verfügbar macht, wird sie im Fall der Melancholie auf das Ich selbst zurückgezogen. Diese frei gewordene Libido dient dann dazu, eine Identifizierung des Ich mit dem aufgegebenen Objekt herzustellen: »Der Schatten des Objekts fiel so auf das Ich, welches nun von einer besonderen Instanz wie ein Objekt, wie das verlassene Objekt, beurteilt werden konnte. Auf diese Weise hat sich der Objektverlust in einen Ichverlust
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verwandelt, der Konflikt zwischen dem Ich und der geliebten Person in einen Zwiespalt zwischen der Ichkritik und dem durch Identifizierung veränderten Ich« (Freud 1916–17g, S. 435).
Soweit die frühere Vorstellung von Melancholie bei Freud – Melancholie stellt eine Verarmung des Ich dar. Später wurde diese Auffassung revidiert; in »Das Ich und das Es« greift Freud (1923b) den Vorgang der Melancholie noch einmal auf und bezeichnet ihn als häufigen und typischen psychischen Vorgang, der großen Anteil an der Ich-Bildung trägt und an dem, was man Charakter nennt. Der Grund für diese Revision liegt in einem veränderten Verständnis der Bedeutung der Identifizierung. Die Identifizierung gilt als Vorstufe der Objektwahl, sie sei eine frühe Art der Auszeichnung eines Objekts: Entsprechend der Phase der Libidoentwicklung soll das Objekt im oralen Modus »einverleibt«, »gefressen« werden. Insofern stellt die Identifizierung eine Bereicherung des Ich dar: Das verlorene Objekt wird mittels der Identifizierung im Ich wieder aufgerichtet, das Ich verändert sich partiell nach dem Vorbild des verlorenen Objekts. Wichtig ist auch der Hinweis Freuds, dass es eine Identifizierung bei erhaltenem Objekt gibt, das heißt, das Objekt muss nicht aufgegeben werden. Die libidinöse Besetzung kann neben der Identifizierung bestehen bleiben. Der melancholische Modus erhält damit wesentliche Bedeutung für die Bildung des Ich. Was bedeutet dies nun für die Entwicklung des Geschlechts, der Geschlechtszugehörigkeit? Bei den Objekten, die für die frühe Ich-Bildung maßgeblich sind, handelt es sich um die primären Bezugspersonen des Kindes, in der Regel Vater und Mutter, das heißt erwachsene Männer und Frauen mit einer ausgebildeten Geschlechtsidentität. Da sich das Kind mit beiden Objekten, mit beiden Elternteilen, identifiziert, finden sich in seiner Ich-Struktur zugleich weibliche und männliche und damit sowohl gleich- als auch gegengeschlechtliche Identifizierungen. Empirisch zeigt sich dies an der Überzeugung kleiner Kinder, beide Geschlechter zu sein oder zumindest werden zu können. So sind Jungen in den ersten drei oder vier Lebensjahren in omnipotenter Illusion fest davon überzeugt, später einmal Kinder gebären zu können, oder gehen Mädchen davon aus, noch einen Penis zu
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bekommen. Im Lauf der Entwicklung der Geschlechtszugehörigkeit verschwinden diese Überzeugungen; die gegengeschlechtlichen Identifizierungen werden unbewusst. Das ermöglicht eine eindeutige Geschlechtsidentität, das sichere Gefühl, ein Junge oder ein Mädchen zu sein, und damit die Einsicht in die Begrenztheit des eigenen Geschlechts. Dem Gewinn an Identität steht jedoch der Verlust von Identifizierungen und das heißt von Verhaltens-, Erlebens- und Befriedigungsmöglichkeiten gegenüber. Diese Überlegungen werfen neues Licht auf das inzwischen etwas verstaubte Konzept der konstitutionellen Bisexualität, an dem Freud zeit seines Lebens festhielt, wenn er auch noch 1930 sein Unbehagen darüber zum Ausdruck brachte, dass es »noch sehr im Dunkeln« liege und »noch keine Verknüpfung mit der Trieblehre gefunden« habe (Freud 1930a, S. 466). Betrachtet man die Bisexualität als Ergebnis von Identifizierungen mit beiden Elternteilen statt – wie Freud – als hereditäre biologische Anlage, ließe sie sich mit der Triebtheorie verknüpfen; dies hätte weitreichende Folgen für die psychoanalytische Konzeptualisierung der Geschlechtsentwicklung, die im Einzelnen auszuführen den Rahmen dieses Aufsatzes übersteigen würden. Erste Ansatzpunkte für eine solche Neukonzeptualisierung finden sich etwa in der Theorie Judith Butlers zur melancholischen Identifizierung (Butler 2001).
■ Der Zusammenhang von Melancholie und Entwicklung der Geschlechtszugehörigkeit in der Theorie Butlers In dem Aufsatz »Melancholisches Geschlecht/Verweigerte Identifizierung« formuliert Judith Butler (2001) als zentrale These, dass die Geschlechtszugehörigkeit eine Art von Melancholie darstellt. Unser Selbstverständnis, männlich oder weiblich zu sein, das heißt die Geschlechts-»Identität« (wenn man diesen Begriff verwenden will), kann als Ergebnis eines melancholischen Prozesses verstanden werden. Butler weist damit auf den oben skizzierten Verlustcharakter der Geschlechtsentwicklung hin, der in den biologischen Ansätzen, die dem Geschlecht den Anschein von Natürlichkeit,
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von Selbstverständlichkeit geben, verloren geht. Bei der Etablierung der Geschlechtszugehörigkeit und der damit verbundenen Einsicht in die Begrenztheit des eigenen Geschlechts handelt es sich um einen psychischen Prozess, der den Verzicht auf bisexuelle Omnipotenzphantasien erfordert und mit einer Form der Trauerarbeit – beziehungsweise präziser: mit einem depressiv-melancholischen Prozess – einhergeht. Während die psychoanalytische Theoriebildung die Identifizierung mit beiden Elternteilen auf der Ebene des Charakters ansiedelt (das wäre die Ebene des »gender«), bezieht Judith Butler den Prozess der Identifizierung explizit auch auf die Ebene des Körpers (die Ebene des »sex«). Damit wird der Einsicht Rechnung getragen, dass psychische und biologische Faktoren untrennbar miteinander verwoben sind. Butler rekurriert dabei auf die Überlegung Freuds, dass das Ich vor allem ein »Körper-Ich« sei (Freud 1923b, S. 255); als körperliches nimmt das Ich eine geschlechtsspezifische Morphologie an. Die frühe Form der Identifizierung, verstanden als eine Form der Einverleibung oder Inkorporation – so lässt sich jetzt sagen –, bildet den Körper, bildet die geschlechtsspezifische Morphologie. Diese Annahme, dass Objektbeziehungen beziehungsweise der Niederschlag solcher Beziehungen den Körper hervorbringen, stellt eine starke Zumutung an unser herkömmliches Verständnis dar, das den Körper als etwas Gegebenes, Naturhaftes ansieht. Um Missverständnisse zu vermeiden, ist zu betonen, dass Butler den Begriff von »Bildung« des Körpers im Sinne von Formung verwendet und nicht etwa im Sinne von technischer Herstellung (Butler 1991, 1995). Neben der Bildung der geschlechtsspezifischen Morphologie des Körpers kommt der Identifizierung noch die bereits genannte Funktion im Hinblick auf die Verarbeitung eines Verlustes zu. Im Modus der Identifizierung wird eine verlorene, aufgegebene Objektbeziehung verarbeitet. Während Freud die Identifizierung als zentralen Modus zur Bildung des Ich beziehungsweise der psychischen Struktur fokussiert, weist Butler auf einen interessanten, damit verbundenen Aspekt hin: Als Verinnerlichung des Objekts stellt die Identifizierung zugleich auch eine Nicht-Anerkennung des Verlustes dar. Wenn das verlorene Objekt verinnerlicht wird, gibt es nichts mehr, was verloren wäre. Indem das verlorene oder
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aufzugebende Objekt qua Identifizierung zu einem Teil der eigenen psychischen Struktur wird, bleibt es zugleich erhalten. Die Identifizierung sei nach Butler somit eine magische, eine psychische Form der Bewahrung des Objekts, das heißt, das, was aufgegeben werden soll, wird zugleich bewahrt. Soweit stellt sich die Melancholie als äußerst produktiver, »trickreicher« Modus der Verarbeitung von Verlusten dar, der Objektbesetzungen für die Ich-Bildung verfügbar macht. Aber das Ganze hat auch seine Schattenseite: nämlich den Verlust, die Aufgabe von Objektbesetzungen, welche die Voraussetzung für die Identifizierung bildet. Im Hinblick auf die Entwicklung der Geschlechtszugehörigkeit bezieht sich der Verlust – wie bereits beschrieben – auf die gleichgeschlechtliche Objektbesetzung, die mit der Identifizierung aufgegeben werden muss: die primäre Liebe des Mädchens zur Mutter beziehungsweise des Jungen zum Vater. Die Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil setzt – nach Butler – die Aufgabe des gleichgeschlechtlichen Begehrens voraus: Das Mädchen wird Mädchen, indem es ihr Begehren der Mutter gegenüber aufgibt und sich mit ihr identifiziert; die Besetzung der Mutter als Liebesobjekt wird ersetzt durch Identifizierung, die wiederum zur Bildung des eigenen Ich, der eigenen Geschlechtsposition notwendig ist. Die Identifizierung erhält und konserviert damit sowohl das Verbot einer homosexuellen Bindung als auch das homosexuelle Begehren, zugleich wird der unbetrauerte Verlust inkorporiert. Dieser Zusammenhang zwischen der Aufgabe des Begehrens und der Identifizierung, den Butler nachweist, leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Entwicklung der Geschlechtszugehörigkeit. Aus psychoanalytischer Perspektive scheinen nun noch einige Ergänzungen oder Modifikationen angebracht. Butlers Argumentation erweckt tendenziell den Eindruck eines Ersetzungsverhältnisses: Das Begehren wird durch Identifizierung ersetzt. In Freuds Darlegung (1923b) findet man jedoch den Hinweis, dass die Identifizierung die Objektbesetzung nicht notwendig aufhebt, sondern daneben bestehen bleiben kann. Dieses Nebeneinander von Identifizierung und Objektbesetzung scheint mir das Verhältnis von Eltern und Kind auch zutreffender zu beschreiben. Nichtsdestoweniger erfährt diese Objektbesetzung jedoch eine entschei-
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dende Wandlung, die als Entsexualisierung bezeichnet werden könnte. Die Liebe und das Begehren des Kindes den Eltern gegenüber werden voneinander getrennt; das Begehren oder präziser: die auf den Körper der Eltern bezogenen oralen, analen und phallischen Wünsche des Kindes werden ins Unbewusste verdrängt. Es scheint mir nun genau dieser Verlust des sexuellen Begehrens zu sein, der mit der Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil, mit der Entwicklung der Geschlechtszugehörigkeit einhergeht und der nicht betrauert werden kann. Diese Überlegungen stehen im Übrigen auch im Einklang mit der freudschen Formulierung des Ödipuskomplexes. Der Erwerb der Geschlechtsidentität geht im Ausgang des Ödipuskomplexes einher mit der Aufgabe des sexuellen Begehrens, was Freud allerdings – wie mir scheint zu Unrecht – nur auf den gleichgeschlechtlichen Elternteil bezieht. Im Hinblick auf das heterosexuelle Begehren nimmt er hingegen Verschiebungsvorgänge der Objektbesetzungen an, die im Lauf der Adoleszenz schließlich in die Besetzung eines außerfamilialen Liebesobjekts münden. Auch diese Verschiebung gründet in einem Verlust, der von Freud jedoch nicht thematisiert wird. Dieser Verlust durch die Aufgabe des Begehrens beiden Elternteilen gegenüber erfordert eine psychische Verarbeitung, die sich aufgrund der fehlenden Trauermöglichkeiten als depressiver oder melancholischer Modus beschreiben lässt. Diese Verarbeitung stellt sich nun im Hinblick auf das heteround das homosexuelle Begehren unterschiedlich dar. Aufgrund der kulturellen Vorherrschaft der Heterosexualität ist das homosexuelle Begehren in stärkerem Ausmaß von der Verdrängung betroffen. Judith Butler bezeichnet diesen Vorgang daher auch nicht als Verdrängung, sondern in Anlehnung an Lacan als Verwerfung, die das Moment der Ausschließung hervorhebt (Butler 2001). Der Begriff der Verdrängung setze ein bereits geformtes Subjekt voraus; Verwerfung sei dagegen der Akt einer Negierung, die das Subjekt selbst begründet und formt. Da die Entstehung der Geschlechtsidentität in die Subjektkonstitution eingewoben werden soll, erscheint mir diese Begriffsverwendung schlüssig. Anzunehmen ist jedoch, dass sich die verworfene Identifizierung und das verworfene Begehren im Unbewussten findet und nicht wie bei
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Lacan statt im Unbewussten mitten im Realen erscheint, wie etwa in Halluzinationen. Die Konzeption der Verwerfung könnte auch einen Ansatzpunkt bieten zur Differentialdiagnose von Depression und Melancholie beziehungsweise zur Unterscheidung des depressiven und des melancholischen Modus. Als charakteristisches Merkmal der Depression gilt eine spezifische Form von Leere, nicht ein Gefühl von Verlust, sondern der Verlust dieses Gefühls. Genau dies kennzeichnet auch den Modus der Verwerfung, der sich nicht in Affekten oder Stimmungslagen manifestiert, sondern vielmehr durch deren Ausbleiben. In diesem Sinne lässt sich in der Verwerfung auch ein zentraler Modus der Depression erkennen. Die Depression könnte so verstanden werden als nachträglicher psychischer Verarbeitungsversuch des unbetrauerten Verlustes der primären Liebe. Während die melancholische Geschlechtsentwicklung einen regelhaften Prozess in modernen Gesellschaften beschreibt, der durch die zentrale Bedeutung des binär kodierten Geschlechts als Ordnungsstruktur hervorgebracht wird und die Einzelnen zu einer Vereindeutigung ihrer Geschlechtsposition sowie den damit verbundenen Ausschließungen und Verwerfungen zwingt, stellt die Depression einen weiteren Schritt der psychischen Verarbeitung, eine Form der Abwehr dieser melancholischen Grundsituation dar. Die Depression lässt sich als Verwerfung der Melancholie, als doppelte Verwerfung betrachten. So wird nicht nur das körperliche Begehren verworfen, sondern zugleich die Liebe, indem vorgegeben wird, nie geliebt und daher auch nie verloren zu haben. Dies unterscheidet sie von melancholischen Verarbeitungen, bei denen die Liebe nicht vollständig der Verleugnung verfallen ist, sondern im diffusen Gefühl eines Verlustes noch spürbar bleibt. Die Verwerfung des homosexuellen Begehrens stabilisiert nach Butlers Argumentation die Geschlechtsidentität. Diese These eines engen Zusammenhangs von Geschlechtsidentität und Objektwahl erfordert einige Erläuterungen. Butler beschreibt damit keinen notwendigen, naturhaften Zusammenhang, sondern vielmehr einen sozialen Tatbestand (im durkheimschen Sinne eines »›fait social«), der sich aus der kulturellen Vorherrschaft der Heterosexualität und der großen Bedeutung des Geschlechts als Ordnungsstruktur in modernen Gesellschaften ergibt. Weiblich-
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keit und Männlichkeit werden nicht als biologische Anlagen konzipiert, sondern als etwas Ausgebildetes, als »Errungenschaften«, die zusammen mit dem Erlangen der Heterosexualität entstehen. Durch das Zusammenziehen von Geschlechtszugehörigkeit und Heterosexualität, das unsere kulturelle Logik erfordert, wird eine Bedrohung der Heterosexualität – etwa durch verworfene homosexuelle Strebungen – zu einer Bedrohung der Geschlechtszugehörigkeit. Männlichkeit und Weiblichkeit, die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht, werden somit wesentlich durch die heterosexuelle Ordnung gestützt. Wenn die Annahme einer bisexuellen Identifizierung des Kindes mit beiden Elternteilen zutrifft, dann besteht die Entwicklung der Geschlechtsidentität darin, die Identifizierung mit dem jeweils anderen Geschlecht zu verwerfen, um so zu einem eindeutigen, »eigenen« Geschlecht zu kommen. Hier scheint mir auch der wesentliche Effekt der kulturellen Vorherrschaft der Heterosexualität zu liegen; es geht dabei weniger um die Objektwahl, also um homosexuelle oder heterosexuelle Bindungen, als vielmehr um die binäre Kodierung des Geschlechts, die zu einer eindeutigen Zuordnung – entweder männlich oder weiblich – und damit zu einer Ausschließung des anderen zwingt. In diesem Punkt liegt meines Erachtens die Relevanz der Theorie von Judith Butler für die Psychoanalyse, für die psychoanalytische Theoriebildung: Die binäre Kodierung des Geschlechts erhält erst in der Moderne den immensen Stellenwert, den sie gegenwärtig in unserer Gesellschaft besitzt; interessant sind daher jene Ausschließungs- und Verwerfungsprozesse auf der psychischen Ebene, die von der binären Kodierung erzwungen werden und die vermutlich eine Reihe unbewusster Konflikte und Symptombildungen nach sich ziehen. Die beiden Modi der Depression und der Melancholie können in der beschriebenen Weise als Antworten auf diese Konflikte verstanden werden.
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■ Fazit Die vorgeschlagene Konzeptualisierung eines depressiven und eines melancholischen Modus zur Verarbeitung von Verlusten löst Depression und Melancholie aus einem einseitigen Krankheitsverständnis und siedelt sie als universelle Formen der Verarbeitung psychischer Konflikte im Bereich zwischen Lebensgefühl und Krankheit an. Im psychodynamischen Sinn bedeutet der Verlust des Anderen ein Verlust an Befriedigungsmöglichkeiten, die von diesem Anderen ausgehen. Der depressive und der melancholische Modus antwortet auf diesen Verlust. Die Verlusterfahrungen können zum einen traumatischer Art sein, wie etwa die faktische Trennung von einer geliebten Person. Zum anderen erscheinen für das Verständnis von Depression und Melancholie auch die universellen Verluste bedeutsam, die notwendig mit jedem menschlichen Entwicklungsverlauf einhergehen. Die Konzeption der psychosexuellen Entwicklungsphasen impliziert ein Fortschreiten von einer früheren zu einer späteren Phase, von der Oralität über die Analität und Phallizität zur Genitalität. Wenngleich Freud in seiner Triebtheorie darauf verweist, dass die früheren Befriedigungsmodalitäten durch die späteren nicht ersetzt werden, sondern nebeneinander bestehen bleiben, verlieren sie doch an Bedeutsamkeit und verändern sich unter dem Primat des jeweils aktuellen Entwicklungsstands. So ist davon auszugehen, dass mit jedem Entwicklungsschritt ein Verlust von bisher wichtigen Befriedigungsmodalitäten verbunden ist. Relevant im Zusammenhang der Depression und Melancholie sind die oralen Wünsche nach Passivität und Abhängigkeit, die mit dem Wunsch nach Autonomie und Individuation konfligieren. Mit der Autonomieentwicklung verlieren die oralen Wünsche sowohl an Bedeutung als auch an (konkreten) Befriedigungsmöglichkeiten. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um Verluste, die nicht betrauerbar sind und die daher in einem depressiven oder melancholischen Modus verarbeitet werden. Darüber hinaus lassen sich Passivität und Abhängigkeit nicht nur im Sinne oraler Wünsche verstehen, sondern bezeichnen zugleich eine universelle Grundstruktur menschlicher Existenz unter dem Primat des Anderen. Dieser Primat liegt im Konflikt mit den Autonomievorstellungen des modernen Subjekts und
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muss im Zuge der Individuationsentwicklung entsprechend psychisch bewältigt werden. Auch dazu scheinen depressive oder melancholische Modi geeignet. Exemplarisch zeigen sich diese Modi an der Entwicklung der Geschlechtszugehörigkeit, die mit der Individuation einhergeht und eine ganze Reihe von Konfliktlagen umfasst. Der Verlustcharakter dieses Entwicklungsprozesses zeigt sich insbesondere am Konflikt im Gefolge der gleich- und gegengeschlechtlichen Identifizierungen, da Letztere zugunsten einer eindeutigen Geschlechtsidentität aufgegeben werden müssen. Vielleicht bietet diese Argumentation der melancholischen Geschlechtsentwicklung auch einen Baustein, um das steigende Ausmaß depressiver Erkrankungen in modernen Gesellschaften zu erklären. Während die gesellschaftliche Bedeutsamkeit der Geschlechtszugehörigkeit zunimmt, wird der Erwerb einer Geschlechtsidentität als psychische Entwicklungsaufgabe zugleich individualisiert und den Einzelnen aufgegeben. Mit der Auflösung festgelegter, traditioneller Geschlechterrollen scheint sich dabei den Einzelnen größere Wahlfreiheit zu bieten, die sich jedoch vor dem Hintergrund der weiter bestehenden binären Kodierung und der Geschlechterhierarchie als überaus spannungsvoll und konfliktreich erweist und die Einzelnen tendenziell überfordert. Die Vervielfältigung der Geschlechterrollen einerseits und die hohe Bedeutsamkeit der Geschlechtszugehörigkeit als Ordnungsmoment moderner Gesellschaften andererseits stellen die Einzelnen vor eine paradoxe Situation, die Wahlfreiheit zugleich suggeriert und versagt. Für die psychische Verarbeitung der gleich- und gegengeschlechtlichen Identifizierungen lässt sich daraus folgern, dass Letztere im Hinblick auf die Entwicklung einer eindeutigen Geschlechtsidentität aufgegeben werden müssen, zugleich aber im Hinblick auf die erweiterte Geschlechterrolle wünschenswert erscheinen. Dieses kulturelle Paradox verändert vermutlich auch die psychischen Abwehrformationen und aktualisiert die unbewussten Konflikte zwischen den gleichund den gegengeschlechtlichen Identifizierungen. Damit wird auch der Verlust durch die aufgegebene Identifizierung virulent und fordert eine psychische Verarbeitung, die in einem melancholischen oder depressiven Modus erfolgen kann.
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Die weibliche Entwicklung ist aufgrund des kulturellen Primats der Heterosexualität und der damit verbundenen Verwerfung des homosexuellen Begehrens von einem besonders gravierenden Verlust betroffen. Da sich die primäre Liebe des Mädchens – in der Regel – auf ein gleichgeschlechtliches Objekt bezieht, wird mit der Verwerfung des homosexuellen Begehrens zugleich das erste Liebesobjekt verworfen. Diese Verwerfung bezieht sich nun nicht auf die Mutter als ganze Person, sondern auf den Körper der Mutter, der entsexualisiert wird. Wenngleich diese Entsexualisierung des mütterlichen Körpers für beide Geschlechter gilt, sind Mädchen davon in besonderer Weise betroffen: Sie generalisieren die Verwerfung des Begehrens auf den weiblichen Körper. Liebe und körperliches Begehren werden somit voneinander getrennt, das Begehren darf sich unter dem Primat der Heterosexualität nur auf den gegengeschlechtlichen Körper beziehen. Die heterosexuelle Identität der Frau wird durch eine melancholische Einverleibung des Begehrens erreicht, das sie zugleich verleugnet. Die heterosexuelle Frau wird beispielsweise behaupten, nie eine andere Frau geliebt und dementsprechend auch nie eine Frau verloren zu haben. Es handelt sich dabei um eine doppelte Verleugnung: nie geliebt und nie verloren zu haben. In den letzten Jahrzehnten lässt sich in modernen Gesellschaften eine Veränderung der Vorstellungen von Vaterschaft beobachten, die möglicherweise auch eine Rolle im Zusammenhang depressiver oder melancholischer Entwicklungen spielt. So bleibt körperliche Zärtlichkeit mit den Kindern nicht mehr ausschließlich der Mutter vorbehalten und wird nicht nur in sportlichen Aktivitäten sublimiert. Auf diese Weise erfahren auch Jungen homosexuelles Begehren, das zugunsten der gleichgeschlechtlichen Identifizierung aufgegeben werden muss. Zu fragen wäre daher, ob nicht auch bei Männern im melancholisch-depressiven Modus Spuren des unbetrauerten Verlustes der primären Liebe aufschimmern.
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■ Literatur Butler, J. (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M. Butler, J. (1995): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin. Butler, J. (2001): Melancholisches Geschlecht/Verweigerte Identifizierung. In: Butler, J.: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt a. M. Freud, S. (1916–17g): Trauer und Melancholie. G.W. Bd. X. Frankfurt a. M., S. 428–446. Freud, S. (1923b): Das Ich und das Es. G.W. Bd. XIII. Frankfurt a. M., S. 237– 289. Freud, S. (1930a): Das Unbehagen in der Kultur. G. W. Bd. XIV. Frankfurt a. M., S. 419–506.
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Melancholie als Lebensform Am Beispiel von Walter Benjamin
Sein Freund Gershom Scholem (1975) beschreibt ihn als einen Menschen von tiefer Traurigkeit. Walter Benjamin selbst verstand sich als Melancholiker, als einer, der »unterm Saturn zur Welt kam – dem Gestirn der langsamsten Umdrehung, dem Planeten der Umwege und der Verspätungen« (Benjamin 1989 VI, S. 522; vgl. auch Sonntag 1997). Aufgrund dieser lebensgeschichtlichen Prädisposition verwundert es nicht, dass er eine Habilitationsschrift zum »Ursprung des deutschen Trauerspiels« schreibt, die er 1925 an der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität einreicht. Und die verhindert wird (Brodersen 1990, S. 161ff.). Glück ist ihm, dem Lebensfremden, der sich herzkrank 1940 auf der Flucht vor den Nazis in Spanien das Leben nimmt (Brodersen 1990, S. 263ff.; vgl. auch Parini 2000), offenbar zeitlebens zu wenig zuteil geworden, es sei denn, Melancholie wäre wirklich das Glück, unglücklich zu sein.
■ Psychoanalyse Bedenkt man, dass Freud der Psychoanalyse ein tragisches Menschenbild eingeschrieben hat, sollte man meinen, Benjamin sei ihr natürlicher Parteigänger. Indessen hat er sich nie als Parteigänger geeignet, für welche Partei auch immer. Und so ist auch sein Verhältnis zur Psychoanalyse gebrochen. Sein Textfragment »Kapitalismus und Religion« enthält sogar einen geharnischten Angriff: Die »Freudsche Theorie«, heißt es, gehöre zur »Priesterschaft« der kapitalistischen Kulturreligion: »Sie ist ganz kapitalistisch gedacht.
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Das Verdrängte, die sündige Vorstellung, ist aus tiefster, noch zu durchleuchtender Analogie das Kapital, welches die Hölle des Unbewussten verzinst« (Benjamin 1989 VI, S. 101). Trotz aller Kritik an Freud und der Psychoanalyse hat Benjamin sich aber stets einer stereotypen Abqualifizierung enthalten, selbst dann, als sie politisch opportun gewesen wäre. Den Beleg dafür liefern die Hintergründe um die Entstehung seines Essays »Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker« (Benjamin 1989 II/2, S. 465ff.), einer Auftragsarbeit des Instituts für Sozialforschung. Im Herbst 1934 hatte ihm Max Horkheimer in einem Brief deutlich zu verstehen gegeben, dass er sich von dieser Arbeit eine scharfe, ideologiekritische Zurückweisung der Position erwarte, die Freud (1930a) wenige Jahre zuvor in seinem Aufsatz »Das Unbehagen in der Kultur« vertreten hatte. »Es wäre eine schöne Gelegenheit, darzutun, wie der psychologisch viel primitivere Apparat, dessen Fuchs sich bedient, infolge des Umstandes, dass er von Anfang an die richtige historische Orientierung besaß, ihn in der Sozialpsychologie viel weitsichtiger machte als Freud, in dessen Schriften die Verzweiflung an der bestehenden Wirklichkeit als das Unbehagen eines Professors zum Ausdruck kommt« (Benjamin 1989 II/3, S. 1319: Brief von Horkheimer an Benjamin vom 28. 1. 1935).
Benjamin, der zu diesem Zeitpunkt finanziell am Rande des Existenzminimums lebt und deshalb für jede bezahlte Arbeit dankbar sein muss, widerspricht dieser Einschätzung nicht (Benjamin 1966, S. 650f.). Freilich teilt er sie auch nicht. Horkheimers fragwürdiges Ansinnen, den Geschichtspessimismus Freuds als »Verzweiflung« zu denunzieren, die aus einem überholten Klassenstandpunkt resultiere, um dadurch den Fortschrittsoptimismus des historischen Materialismus zu affirmieren, befremdet ihn. So findet sich dann auch in dem nach langen Querelen publizierten Essay kein Wort zu Freud, zudem fällt das Urteil über Fuchs spürbar distanzierter aus, als Horkheimer sich dies vorgestellt hat. Als Folge davon muss Benjamin hinnehmen, dass der publizierte Text gegen seinen Willen verändert wird. Erweitert man die Perspektive über Benjamins Kritik an der Psychoanalyse hinaus, dann ist festzustellen: Zumindest Benjamins Spätwerk kann ohne Bezugnahme auf Freud und die Psycho-
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analyse nicht angemessen begriffen werden. Wenn auch ohne psychoanalytische Terminologie, argumentiert Benjamin doch weite Strecken kongenial. Eine Ahnung von Benjamins Affinität zur Psychoanalyse haben gelegentlich auch Zeitgenossen geäußert. So findet sich etwa bei Karl Kraus eine aufschlussreiche Bemerkung, mit der er die ihm bekannten Schriften Benjamins, vor allem dessen dreiteiliges Kraus-Essay, in der »Frankfurter Zeitung« kommentiert: »Ich hatte dieser Arbeit, die sicherlich gut gemeint und wohl auch gut gedacht ist, im wesentlichen nur entnehmen können, daß sie von mir handelt, daß der Autor manches von mir zu wissen scheint, was mir bisher unbekannt war, obschon ich es auch jetzt noch nicht klar erkenne, und ich kann bloß der Hoffnung Ausdruck geben, daß sie die andern Leser besser verstanden haben als ich. (Vielleicht ist es Psychoanalyse.)« (Kraus 1931, S. 27).
Man wird diese Bemerkung nicht überbewerten dürfen. Denn zweifellos nutzt Kraus die Gelegenheit, um gegen die Psychoanalyse zu polemisieren. Seine Polemik aber trifft intuitiv den Punkt, wenn er Benjamins Essayistik der Psychoanalyse offensichtlich deshalb annähert, weil ihm beide von Erkenntnisziel und -methode her ähnlich zu verfahren scheinen, indem sie im manifesten Selbstverständnis einen latenten Gegen-Sinn aufzudecken und zur Sprache zu bringen suchen. Über solche Marginalien hinaus lässt sich die These vertreten, dass es sich bei Benjamins Konzept der Geschichte und Geschichtsforschung um eine Reformulierung von psychoanalytischen Einsichten über die Aufklärung psychopathogener Lebensgeschichten handelt, wobei an die Stelle des traumatisierten Individuums, das seine lebensgeschichtlichen Verletzungen zu verdrängen sucht, das traumatisierte Kollektiv mit seinen Abwehrmechanismen tritt (vgl. Wiegmann 1989). Durch Benjamins Perspektivierung des kollektiven Schicksals wird dabei vor allem eines deutlich: dass Traumata keine lebensgeschichtlich einmaligen Konstellationen, keine Zufälle sind, wie es bei Freud, der die sozioökonomischen Konturen seiner Krankengeschichten unterbelichtet lässt, leicht den Anschein hat, sondern immer auch Resultate sozialisationsvermittelter kulturhistorischer
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und gesellschaftsstruktureller Zwänge. Auf dem Hintergrund dieser sozialphilosophischen Korrektur findet auch die Metaphorik in der zitierten Kritik an Freud und der Psychoanalyse eine mögliche Auflösung: Aus dem kollektiv Verdrängten kann Kapital geschlagen werden, weil das, was der kollektiven Verdrängung unterliegt, die Sozialisation der menschlichen Natur im Dienste des Kapitalismus ist. Falls Psychoanalytiker dies theoretisch und praktisch nicht reflektieren, geraten sie in die Rolle von Priestern, die den Glauben an die Heilkraft des Kapitalismus stärken.
■ Schockierende Moderne Explizite Bezüge zur Psychoanalyse stellt Benjamin in seiner Sozialphilosophie des Schocks her. Der Schock steht im Mittelpunkt seiner Theorie des historischen Erfahrungswandels. Mithin thematisiert er ihn auch nicht als Konstante eines anthropologischen Affektrepertoires, sondern als den maßgeblichen Affekt der Moderne (vgl. Haubl 1989, S. 32ff.). Zwar setzt er dabei Schreckhaftigkeit als basale Disposition des menschlichen Organismus voraus, es kommt ihm aber auf den Nachweis an, dass sich mit der gesellschaftlichen Lebensform der Menschen auch ihre Affektivität verändert. Im Schock stößt das Subjekt darauf, dass ihm die Objektwelt nicht nur gegenüber-, sondern mehr noch: entgegensteht und durch ihren Widerstand Unterwerfung fordert. Freilich ist dies kein mechanischer Prozess. Schock kommt zustande, wenn mit Hoffnung besetzte Vorstellungen enttäuscht werden. Das wird in Benjamins historischer Analyse deutlich. In ihr präsentiert er die handwerklich-vorindustrielle Epoche der abendländischen Geschichte als eine vergleichsweise schockarme Epoche, in der ein mimetisches Verhältnis von Subjekt und Objektwelt vorherrscht. Diesen – wenn man so will – romantischen Rückblick entfaltet er vor allem in seinem Aufsatz »Der Erzähler« (Benjamin 1989 II/2, S. 438ff.), der Abschied von einer erzählbaren Wirklichkeit nimmt. Indem diese Epoche im Modernisierungsprozess untergeht, treten Subjekt und Objektwelt zunehmend mehr in Opposition. Da das
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Subjekt von seiner Hoffnung auf mimetische Verhältnisse aber nicht lässt, nicht lassen kann, bleiben Enttäuschungen nicht aus. Dabei schreibt Benjamin dem Siegeszug der Technik, die zwischen Mensch und Natur tritt und ihn dadurch von ihr entfremdet, eine katastrophische Funktion zu. Denn den Menschen gelingt es nicht, ihre eigenen Erfindungen zu kontrollieren. Naturbeherrschung bezahlen sie mit Technokratie. Damit ist die Herrschaft des Menschen über den Menschen nicht aufgehoben, aber mediatisiert: Der Klassenkampf wird im Sachzwang unsichtbar. Tendenziell erhebt sich die Technik selbst zum Subjekt der Geschichte, obwohl oder gerade weil sich der Mensch als ihr Subjekt wähnt. Als Apotheose einer solchen, der menschlichen Kontrolle entglittenen Technik gilt Benjamin der Erste Weltkrieg. Die Soldaten, die das Inferno der entfesselten Kriegstechnik, der »zerstörenden Ströme und Explosionen« überlebt haben, kehren bei Kriegsende »verstummt aus dem Felde« zurück, »nicht reicher – ärmer an mitteilbarer Erfahrung« (Benjamin 1989 II/2, S. 439). Das Erlebte hat ihnen die Sprache verschlagen. Sie sind traumatisiert. Der Schock sitzt ihnen buchstäblich in den Gliedern: Ihr Leib ist Ort einer sprachlosen Erinnerung an das Grauen. Diese Soldaten verkörpern die existentielle Figur des modernen Menschen, der technischen Übergriffen – Prototyp des Schocks (vgl. Schivelbusch 1977, S. 134ff.) – ohnmächtig erliegt. Dabei begreift Benjamin auch andere Merkmale der modernen Lebenswelt wie die taylorisierte Fabrikarbeit und den großstädtischen Verkehr letztlich stets von der Katastrophe des Weltkriegs her. Dieser Perspektive zufolge gibt es in der Moderne nur Vorkriegszeiten. Das technisch hochgerüstete Alltagsleben macht den Schock zum Dauerzustand und erzwingt eine Desensibilisierung, die ihrerseits als psychische Aufrüstung fungiert. Für Benjamin hat der Schock aber noch eine andere Seite: Er erscheint ihm positiv, solange er die »Geistesgegenwart« (Benjamin 1989 IV/1, S. 141) des modernen Menschen fördert. Deshalb verteidigt er auch die Schock-Ästhetik, der sich die moderne Kunst seit Charles Baudelaire verschrieben hat. Freilich weiß Benjamin auch, wie schnell das Schockierende zur bloßen Attitüde verkommt: »Das Wort Erschütterung hat man bis zum Überdruß vernommen. Da darf wohl etwas zu seiner Ehre gesagt werden. Es
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wird sich keinen Augenblick vom Sinnlichen entfernen und sich vor allem an das Eine halten: daß Erschütterung zum Einsturz führt« (Benjamin 1989 IV/1, S. 408). Benjamins Kritik zielt auf ein Betroffenheitsgeschwätz, das gerade nicht dem »Einsturz«, sondern dessen Verhinderung dient, indem es den Status quo affirmiert. »Wollen die, die uns bei jeder Premiere oder jeder Neuerscheinung ihrer Erschütterung versichern, nun sagen, etwas in ihnen sei eingestürzt? Ach, die Phrase, die vorher feststand, steht auch nachher fest. Wie können sie sich auch die Pause gönnen, auf die allein der Einsturz folgen kann« (Benjamin 1989 IV/1, S. 409).
Was Benjamin hier »Pause« nennt, meint das Wagnis, den routinisierten Lebensvollzug tatsächlich zu unterbrechen, ohne das die Chance einer wirksamen Be-Sinnung verspielt wird. Nun befindet sich die Schock-Ästhetik der modernen Kunst im Vergleich mit der schockierenden Realität der Moderne immer schon auf verlorenem Posten. Um nicht affektiv erschöpft zu werden, passt der Mensch sich an: Er stumpft affektiv ab, wird blasiert, cool (vgl. auch Poschardt 2000). Unter diesen Voraussetzungen haben es ästhetische Schocks schwer, authentische Erschütterungen zu provozieren. Vielmehr stehen sie in Gefahr, nur mehr erwünschte Nervenkitzel zu liefern, die helfen, die Schwundstufe verbliebener Affektivität narzisstisch zu genießen. Benjamin hat dennoch nicht von der Idee eines heilsamen ästhetischen Schocks lassen wollen. Für ihn ist ausgemacht, dass die moderne Kunst zu diesem Zweck die jeweils fortgeschrittenste Medientechnik – zu seiner Zeit der Film mit seinen taktilen audiovisuellen Darstellungsmöglichkeiten (vgl. Benjamin 1989 I/2, S. 466) – für sich nutzbar machen muss. Diese Strategie könnte man homöopathisch nennen, weil sie versucht, den Aggressor mit dessen eigenen technischen Mitteln zu bekämpfen.
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■ Reizschutz und Bewusstsein Die theoretischen Grundlagen seiner Schocktheorie bezieht Benjamin zum einen aus metapsychologischen Spekulationen Freuds in »Jenseits des Lustprinzips« (Freud 1920g), zum anderen aus daran anschließenden Ausführungen des Freud-Schülers Theodor Reik in »Der überraschte Psychologe. Über Erraten und Verstehen unbewusster Vorgänge« (1948). Freud unterscheidet scharf zwischen Bewusstsein und Gedächtnis. Dabei bestimmt er Bewusstsein als Funktion, äußere und innere Wahrnehmungen zu bewältigen, genauer: die affektive Erregung, die mit ihnen verbunden ist, unschädlich zu machen, so dass sie »gleichsam im Phänomen des Bewußtwerdens verpufft« (Freud 1920g, S. 27), bevor sie den Organismus traumatisiert. Dieser Bestimmung zufolge hinterlässt das Bewusstsein keine dauerhaften organismischen Niederschläge. Anders das Gedächtnis: Es besteht aus Engrammen, dauerhaften unbewussten Erinnerungsspuren der (affektiv) erregenden Wahrnehmungen, an die sich die Erinnerung, die ihrerseits eine Bewusstseinsfunktion ist, heften kann. Durch diese theoretische Konstruktion bringt Freud Bewusstsein und Reizschutz zusammen. Wenn er schreibt, Bewusstsein entstehe »an der Stelle der Erinnerungsspur« (Freud 1920g, S. 27), meint er, dass die Engramme durch Stellvertreter ersetzt werden, welche die Intensität der engrammierten (affektiven) Erregung auflösen und sie dadurch kontrollierbar machen. Freud hat denselben Vorgang in anderem Zusammenhang als Übersetzung der Engramme in verschiedene Repräsentationsmedien, mithin als mehrstufige Symbolisierung beschrieben, in deren Verlauf die unbewussten Erinnerungsspuren bewusst werden (vgl. Haubl 1991, S. 269ff., 409ff.). Übereinstimmend betont Reik, dass Eindrücke, »die zu intensiv oder zu plötzlich kamen, um innerhalb einer bestimmten Zeit psychisch assimiliert werden zu können« (1948/ 1976, S. 415), nicht zu Bewusstsein kommen, sondern als unbewusste Erinnerungsspuren ins Gedächtnis eingehen, um sie dort »zur späteren Assimilation beiseite zu legen«. Folglich gelangen sie immer erst nachträglich zur Bearbeitung, die darin besteht, ihnen eine bewusste Bedeutung zu geben. Aufgrund dieser Nachträglichkeit reagiert der Mensch nicht unmittelbar auf die Eindrücke, son-
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dern auf die unbewussten Erinnerungsspuren, die sie in seinem Organismus hinterlassen haben, mithin selbstreferentiell: »Zu erfahren bedeutet, einen Eindruck, der so stark war, daß wir ihn nicht sofort erfassen konnten, innerlich zu meistern« (Reik 1948/ 1976, S. 415). Eindrücke, die – Reik folgend – sofort erfasst werden können, sind dann solche, bei denen es keine Schwierigkeit macht, ihnen eine bewusste Bedeutung zu geben. Das Bewusstsein pariert sie, bevor sie engrammiert werden. Gelingt ihm dies nicht, entsteht eine unbewusste Erinnerungsspur, welche die Eindrücke unbewältigt bewahrt. Der affektive Indikator dieses Falls, bei dem der Reizschutz durchschlagen wird, ist der Schock. Als Reaktion auf die Häufung solcher Fälle kommt es zu einer Schockprophylaxe, die im günstigsten Fall zu einer Steigerung der Geistesgegenwart führt. Das Bewusstsein wird auf ein habituell hohes Operationsniveau gehoben, das es erlaubt, immer extremere Eindrücke sofort zu meistern. Wo sich Geistesgegenwart nicht mehr steigern lässt, wird der Reizschutz durch einen Verlust affektiver Reaktionsmöglichkeiten verstärkt. Letztlich erleiden die Menschen eine psychische Erstarrung, die den Schock leibhaftig konserviert und dadurch die Bewusstseinsentwicklung verhindert, so dass an ihrer Stelle eine reaktive Übersensibilität entsteht, die eine Wiederholung des erlittenen Traumas wahrscheinlich macht. Freilich erfolgt aufgrund der Nachträglichkeit Eindrucksbewältigung, auf welchem Bewusstseinsniveau auch immer, als Wiederholung. In gewisser Weise fallen in dem von Freud und Reik elaborierten Modell Bewusstsein und Erinnerung, Bewusstwerden und Erinnern als Wieder-Holen von Eindrücken zusammen. Kontraintuitiv zum Alltagsverstand wird dieses Wieder-Holen aber nicht als Mechanismus der mnestischen Ein-Prägung, sondern als deren Dynamisierung thematisiert. Erinnern ist, so Reik (S. 416) eine »Art psychischer Arbeit«, die »zur Zerstörung der Eindrücke führt«, mithin buchstäblich Vergangenheitsbewältigung. Folglich lautet die These, dass die Vergangenheit, die durch die strukturprägenden Engramme des Gedächtnisses die Gegenwart unbewusst bestimmt, erinnert werden muss, um die Zukunft ihrem übermächtigen Einfluss zu entreißen.
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■ Eingedenken statt Andenken Obgleich an Lebensgeschichten entdeckt, erhebt die Psychoanalyse den Anspruch, dass dies auch für die Kulturgeschichte gilt. In den Worten Reiks: »Ich glaube. daß die Gültigkeit dieser psychologischen Theorie über das individuelle Leben hinausgeht und daß die bleibenden unbewußten Spuren generationenlanger Erfahrung unter den unentdeckbaren und dennoch wirksamen Faktoren sind, die unser Leben bestimmen« (1935/1976, S. 416).
Es ist Benjamin, der diese Wirkfaktoren durchaus für entdeckbar hält und konsequenter als die damaligen Psychoanalytiker selbst das Modell der intergenerationellen Tradierung unbewusster Spuren für die Kulturgeschichte übernimmt. In Auseinandersetzung mit den verschiedenen Varianten des Geschichtspositivismus betont er: »Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion« (Benjamin 1989 I/2, S. 701). Von Re-Konstruktion spricht er explizit nicht, weil dies für ihn die kausale Verkettung von Ereignissen und damit eine falsche Linearität impliziert; »kein Tatbestand ist als Ursache eben darum bereits ein historischer« (Benjamin 1989 V/1, S. 587). Diese Positionsbestimmung greift methodisch das Nachträglichkeitsprinzip auf, das Freud (1937d) selbst in seinem Aufsatz »Konstruktionen in der Analyse« zur epistemologischen Basis seiner kritisch-hermeneutischen Aufklärung historischer Prozesse gemacht hat (vgl. Haubl u. Mertens 1996; Mertens u. Haubl 1996). Demnach gibt es keine Erinnerung aus der Vergangenheit, sondern nur an die Vergangenheit, selbst dann, wenn die historischen Ereignisse in einem externen Gedächtnis – Schrift zum Beispiel – tradiert sind. Damit stellt sich die Frage nach der Einstellung, in der Vergangenheit erinnernd zu konstruieren sei. Diese Einstellung nennt Benjamin Eingedenken. Er unterscheidet sie scharf vom »Andenken«, das die »Vergangenheit als tote Habe inventarisiert«, als Souvenir einer unverbindlichen Vergegenwärtigung, »welche sich, euphemistisch, Erlebnis nennt«, und darüber hinwegtäuschen soll, dass sie »von der abgestorbenen Erfahrung[sfähigkeit] herkommt« (Benjamin 1989 I/2, S. 681). Gegenläufig dazu bemüht sich das Eingedenken um eine erinnernde
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Vergangenheitsbewältigung, die im Hier und Jetzt die Gegenwart der Vergangenheit zur Disposition stellt. Psychoanalytisch gesprochen handelt es sich dabei um die Anstrengung, sich Geschichte in und an Übertragungen bewusst zu machen. Zwar hat die Psychoanalyse eine Präferenz für eine sprachsymbolische Vergangenheitsbewältigung. Dabei ist aber vorausgesetzt, dass möglichst viel der sinnlich-symbolischen und vorsymbolischen Repräsentanzen zur Sprache kommen. Er-Innerung, so Benjamin, ist nur möglich, wo der tiefste, weil leibliche Modus, »die vergessenste Fremde« (Benjamin 1989 II/2, S. 431) erreicht wird. Für die Kulturgeschichte verlangt das, sich der Dingwelt zuzuwenden. Denn Benjamin erachtet sie als Kollektivleib, der seine Engramme in einer »mitteilenden Stummheit« (Benjamin 1989 II/ 1, S. 152) zu erkennen gibt, wie er dies etwa am Beispiel der Passagen von Paris vorgeführt hat, in denen der sich formierende Konsumkapitalismus die Gestalt eines kollektiven surrealen Tagtraums annimmt (vgl. Frisby 1989, S. 239ff.). Die Einstellung des Eingedenkens, die den Rahmen kritischhermeneutischer Geschichtsforschung absteckt, hat Benjamin allegorisch verdeutlicht. 1921 erwirbt er ein Bild von Paul Klee mit dem Titel »Angelus Novus« (vgl. Werckmeister 1981). Scholem (1972, S. 105) zufolge betrachtete er es »stets als seinen wichtigsten Besitz«. Diesem Bild kommt programmatische Bedeutung zu. Von Klees Bild heißt es: »Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt« (Benjamin 1989 I/2, S. 697). Mithin stehen ihm die physiognomischen Zeichen der Erschütterung ins Gesicht geschrieben. »Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert« (Benjamin 1989 I/2, S. 697).
Der Engel der Geschichte sieht nicht einfach etwas anderes als die Menschen in ihrem alltäglichen Lebensvollzug, sondern – Benjamin lässt daran keinen Zweifel – er sieht das, wovor diese ihre Au-
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gen verschließen. Er durchschaut alle Verdrängungen, die unbewusst halten, dass man kulturelle Errungenschaften »nicht ohne Grauen« wahrnehmen würde, wäre man sich »der namenlosen Fron der Zeitgenossen« bewusst, der sie ihre Durchsetzung verdanken: »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein« (Benjamin 1989 I/2, S. 696). Verdrängt wird die Schuld, in die sich die Menschen im Lauf ihrer Geschichte verstrickt haben. Ähnlich der mythopoetischen Ausführungen von Freud (1912–13a) in »Totem und Tabu« geht auch Benjamin von einem universalen Schuldzusammenhang aus: Schuld gilt ihm als die »höchste Kategorie der Weltgeschichte«; sie hat die »Einsinnigkeit des Geschehens zu verbürgen«. Jeder Moment im Geschichtsverlauf ist »verschuldet und verschuldend«. Um das nicht anerkennen und die daraus erwachsende Verantwortung nicht übernehmen zu müssen, dürfen die Traumata nicht erinnert werden. Übrig bleiben – psychoanalytisch gesprochen – Deckerinnerungen, die den historischen Prozess zur Fortschrittsgeschichte verklären. Obwohl der Engel der Geschichte alle Verdrängungen durchschaut, ist er doch ebenfalls ohnmächtig. »Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm« (Benjamin 1989 I/2, S. 697f.).
Der Wunsch des Engels, vergangenes Leid ungeschehen zu machen, muss unerfüllt bleiben. Er kann die Zeit nicht anhalten. Ein solcher Stillstand wäre paradiesisch. Das Paradies aber liegt vor aller Geschichte und ist deshalb für den Engel der Geschichte unerreichbar weit entfernt. So wird auch er unaufhörlich in die Zukunft fortgerissen, die der Gegenwart keine Zeit lässt, zur Besinnung zu kommen. Da er der Zukunft den Rücken kehrt, sieht er sie nicht. Das meint nicht den Sachverhalt, dass Zukunft prinzipiell offen und also letztlich nicht vorhersehbar ist, sondern das genaue Gegenteil. Indem der Engel in die Vergangenheit sieht, weiß
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er, was kommt, zumindest solange, wie die fortschrittsideologische Verdrängungsarbeit fortgesetzt wird und der Trümmerhaufen weiter wächst! Für Benjamin verkörpert der Engel der Geschichte das Ideal, das er für den kritisch-hermeneutischen Geschichtsforscher und damit, wenn man so will, auch für den Psychoanalytiker, entwirft. Dieser soll die Deckerinnerungen destruieren. In diesem Sinne hat er einen »destruktiven Charakter« (Benjamin 1989 IV/1, S. 396ff.; vgl. auch Reschke 1991). Zwar schreitet die Zeit unaufhaltsam fort; dass dies aber zwangsläufig ein Fortschritt von der Barbarei zur Humanität sei, gilt es, unablässig in Frage zu stellen. Wie es der Engel der Geschichte vormacht, so fällt auch dem kritisch-hermeneutischen Geschichtsforscher die Aufgabe zu, seiner eigenen Verdrängungsneigung »nach Maßgabe des Möglichen« (Benjamin 1989 I/2, S. 696f.) zu widerstehen: erschüttert, aber unbeirrt, ohne die Augen zu verschließen, Zeuge zu sein. Dies meint letztlich nicht allein, die Traumata zu bezeugen. Die Pointe, die Benjamins Allegorie bereit hält, ist die, dass der Engel der Geschichte nicht nur Trümmer sieht, sondern zudem das in immer weitere Ferne rückende Paradies. Auch wenn er es hinter dem sich auftürmenden Trümmerhaufen letztlich nur mehr zu ahnen vermag, hat er die Aufgabe, auch von ihm Zeugnis zu geben. Indem es sich entfernt, wird es zur Vision einer Zeit, in welcher der traumatische Wiederholungszwang aufgehoben ist. Derart vom Paradies Zeugnis zu geben, verlangt die kontrafaktische Projektierung eines Glücks in vollem Bewusstsein des universalen historischen Schuldzusammenhangs: Glück gegen den Sog eines in Verzweiflung stürzenden Bewusstseins, das nur die Schuld kennt und folglich die Frage nach dem Glück nicht mehr zu stellen wagt, sowie gegen den bewusstlosen Hedonismus, der das Paradies für gegeben hält, weil er die Schuld verdrängt. Diese zwei Seiten in Spannung zu halten, kennzeichnet den Melancholiker.
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■ Sehnsucht nach auratischer Erfahrung Benjamin geht es um das verlorene Paradies. Er nennt es Aura (vgl. Stoessel 1983). Mit diesem ursprünglich theosophischen Begriff ist ein bestimmter Erfahrungsmodus gemeint. Benjamin beschreibt ihn bevorzugt im Medium des Blicks. »Dem Blick aber wohnt die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt. Wo diese Erwartung erwidert wird …, da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu« (Benjamin 1989 I/1, S. 646). Auratische Erfahrung ist die Erfahrung des erwiderten Blicks, den Benjamin strikt vom spiegelnden Blick unterscheidet: »Blicke dürften um so bezwingender wirken, je tiefer die Abwesenheit des Schauenden, die in ihnen bewältigt wurde. In spiegelnden Augen bleibt sie unvermindert. Eben darum wissen diese Augen von Ferne nichts« (Benjamin 1989 I/1, S. 648). Der Spiegel lässt allein. Er weist den Schauenden ab, bietet narzisstische Bestätigung, aber keine Erwiderung. Um Erwiderung aber, die – Benjamins Metaphorik aufgreifend – dem Schauenden zur Erfahrung einer »unverminderten Anwesenheit« verhilft, geht es Benjamin. »Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende schlägt den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen« (Benjamin 1989 I/1, S. 646). Wer den Blick erwidert, schlägt die Augen auf: wird aufmerksam und anerkennt, was er sieht. Im Vergleich mit den niedergeschlagenen Augen eines Menschen, der durch das, was er zu sehen bekommt, beschämt wird, ist der Augenaufschlag, den Benjamin meint, das Affektsignal vorbehaltloser Wertschätzung. Letztlich bezeichnet Benjamin mit »Blick« aber nicht nur den menschlichen Seh-Sinn: »Darf man annehmen, daß der Blick der erste Mentor des mimetischen Vermögens war? daß die erste Ähnlichung sich dem Blick vollzieht?« (Benjamin 1989 II/3, S. 958). Mithin sind in auratischer Erfahrung Subjekt und Objekt einander mimetisch verbunden. Zwar entstammt dieser Erfahrungsmodus dem mitmenschlichen Bereich, Benjamin nimmt aber an, dass er auch ein basaler Erfahrungsmodus des Menschen im Umgang mit dem »Unbelebten« und der »Natur« (Benjamin 1989 I/1, S. 646) ist.
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T. W. Adorno (1970, S. 160) hat vermutet, in der Aura eines Dinges werde man des »vergessenen Menschlichen am Ding« gewahr und das sei im Kapitalismus die »Arbeit«, die dessen Warenfetischismus unsichtbar zu machen suche. Benjamin sieht das anders und bemüht sich, dieses – für Marxisten nahe liegende – Missverständnis zu korrigieren: »Aber wenn es sich in der Aura in der Tat um ein vergessenes Menschliches handeln dürfte, so doch nicht um das, was in der Arbeit vorliegt. Baum und Strauch, die belehnt werden, sind nicht von Menschen gemacht. Es muß also ein Menschliches an den Dingen sein, das nicht durch die Arbeit gestiftet wird« (Benjamin 1966, S. 849).
In der auratischen Erfahrung wird sich der Mensch also nicht seiner selbst als Produzent bewusst. Dieses Bewusstwerden ist – auch im Sinne Benjamins – ohne Zweifel wichtig, um der Selbstentfremdung im Kapitalismus zu begegnen. Indessen greift, was Benjamin meint, tiefer. In einem Abschnitt der »Berliner Chronik« hat er autobiographisch festgehalten, worum es ihm geht. Steht im Vordergrund der beschriebenen Kindheitsepisode auch eine Enttäuschung, so lässt sich doch in deren Hintergrund die Utopie erkennen. Benjamin erzählt von einem Besuch auf der Pfaueninsel: »Man hatte mir unterwegs gesagt, ich werde im Gras dort Pfauenfedern liegen finden … Hätte ich die ersehnte Feder im Gras gefunden – ich wäre an dieser Stelle mir erwartet und bewillkommt vorgekommen. Nun schien mir die Insel ein Versprechen gebrochen zu haben. Die Pfauen konnten mich darüber bestimmt nicht trösten. Sie waren ja für jedermann zu sehen. Ich aber hätte das haben müssen, was für mich allein bestimmt, vor allen anderen versteckt und nur von mir im Gras zu finden war. Diese Enttäuschung wäre nicht so schwer gewesen, wenn nicht die mütterliche Erde selber es gewesen wäre, die sie mir zugefügt hatte« (Benjamin 1988, S. 84f.).
Wer immer sich hinter dem unpersönlichen »man« verbirgt, von dem das Versprechen ausgeht, eine Pfauenfeder zu finden: In ihr manifestiert sich die Sehnsucht nach einer Welt, die das Kind »erwartet und bewillkommt« und Gaben bereit hält, die ihm »allein bestimmt« sind. Zweifellos ist dies eine Umschreibung für die utopische Lebensform, über die es in den berühmten letzten Sätzen
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von Ernst Blochs »Prinzip Hoffnung« heißt, dass sie »allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat« (Bloch 1977 V, S. 1628).
■ Falsche Hoffnungen Während Bloch »Heimat« als ein Projekt begreift, das nicht Utopie bleiben muss, sondern durch Arbeit historisch real-möglich werden kann, geht Benjamin davon aus, dass sie für den durch Arbeit bestimmten Menschen auf ewig verloren bleibt. Die Differenz zwischen beiden Positionen macht kaum etwas so deutlich, wie eine ostjüdische Anekdote, die sie beide erzählen: Im Bethaus unterhält man sich darüber, was man sich wünschen würde, wenn sie einen Engel träfen. Die Versammelten kommen ins Tagträumen. Einer wünscht, seinen Husten los zu sein, ein anderer, seine Töchter gut zu verheiraten. Als Letzter wird ein zerlumpter Bettler zum Erzählen aufgefordert. Zunächst die Version von Bloch (1977 I, S. 98f.): »Ich wollte«, sagte der Bettler, »ich wäre ein großer König und hätte ein großes Land. In jeder Stadt hätte ich einen Palast, und in der allerschönsten meine Residenz, aus Onyx, Sandel und Marmor. Da säße ich auf dem Thron, wäre gefürchtet von meinen Feinden, geliebt von meinem Volk, wie der König Salomo.«
Hier endet der Konjunktiv. Und der Bettler fährt im Indikativ fort: »Aber im Krieg habe ich nicht Salomos Glück …« Durch diesen Wechsel, den Bloch vollzieht, kommt zum Ausdruck, dass der Bettler die Distanz zu seinem Tagtraum reduziert. Er geht in ihm auf. Dass dies in der Erzählung des Bettlers genau in dem Moment geschieht, als er auf Unglück zu sprechen kommt, dürfte nicht zufällig sein. Denn Unglück ist die Realität des Bettlers, mithin auch im Rahmen der Fiktion am realistischsten. »Aber im Krieg habe ich nicht Salomons Glück; der Feind bricht ein, mehrere Heere werden geschlagen und alle Städte und Wälder gehen in Brand auf. Der Feind steht schon vor meiner Residenz, ich höre das Ge-
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tümmel auf den Straßen und sitze im Thronsaal ganz allein, mit Krone, Zepter, Purpur und Hermelin, verlassen von allen meinen Würdenträgern und höre, wie das Volk nach meinem Blut schreit. Da ziehe ich mich aus bis aufs Hemd und werfe alle Pracht von mir, springe durchs Fenster hinab in den Hof. Komme hindurch durch die Stadt, das Getümmel, das freie Feld und laufe, laufe durch mein verbranntes Land, um mein Leben. Zehn Tage lang bis zur Grenze, wo mich niemand mehr kennt, und komme hinüber, zu andern Menschen, die nichts von mir wissen, nichts von mir wollen, bin gerettet und seit gestern abend sitze ich hier.«
Nunmehr ist die Erzählung, die in einer fiktiven Vergangenheit beginnt, im realen Hier und Jetzt des Erzählers angekommen. Da sie von einem Verlust aller Habe handelt, wo man doch gerade von einem Habenichts erwartet, dass er sich wenigstens im Tagtraum für seinen realen Mangel schadlos hält, irritiert die Zuhörer, Als sie ihn darauf ansprechen, sagt ihnen der Bettler: »… ich hätte schon etwas, ein Hemd«. Fixiert auf das Tagtraumbild von königlicher Grandiosität ist den Zuhörern (sowie den Lesern von Blochs Nacherzählung) die unscheinbare Differenz entgangen: Der erzählende Bettler hat das Hemd nicht, das er hätte, wenn er der geflohene König wäre, von dem er erzählt. Für die Zuhörer sind Wunsch und Wunscherfüllung nur durch eine Kleinigkeit getrennt. So schenken sie ihm ein Hemd und realisieren damit die Moral der Parabel, dass Wünschen helfen kann. Man könnte nun sagen, es sind die bescheidenen Wünsche, die erfüllt werden. Damit wäre der Bettler eine moralische Figur. Indessen ist er das genau nicht. Bloch präsentiert ihn vielmehr als eine gewitzte Figur, die ein Gespür für die Befriedigungschancen hat, die ihm eine spezifische Situation bietet. Folglich verkörpert der Bettler Blochs Kategorie des »objektiv-real Möglichen« (Bloch 1977 V, S. 271ff.). Tagträume nützen genau dann, wenn sie nicht dem Eskapismus verfallen, sondern antizipieren, was objektiv-real möglich ist (vgl. auch Gekle 1986). Benjamin trägt dieselbe Parabel in dem Denkbild »Der Wunsch« vor. Seine Version unterscheidet sich wesentlich von der Blochs. Bei ihm erzählt der Bettler mit der Atemlosigkeit des Verfolgten: »Ich wollte, ich wäre ein großmächtiger König und herrschte in einem weiten Lande und läge nachts und schliefe in meinem Palast und von der
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Grenze bräche der Feind herein und ehe es dämmerte wären die Berittenen bis vor mein Schloß gedrungen und keinen Widerstand gäbe es, und aus dem Schlaf geschreckt, nicht Zeit mich auch nur zu bekleiden, und im Hemd, hätte ich meine Flucht antreten müssen und sei durch Berg und Tal und über Wald und Hügel und ohne Ruhe Tag und Nacht gejagt, bis ich hier auf der Bank in eurer Ecke gerettet angekommen wäre. Das wünschte ich mir« (Benjamin 1989 IV/2, S. 759f.).
Lesen wir auch hier genau: Benjamin sagt nicht »gerettet angekommen bin«. Der durchgehaltene Konjunktiv belegt das Misstrauen, das der Erzähler hegt, ob er im Hier und Jetzt tatsächlich gerettet ist. Angst beherrscht seine Erzählung. Objektiv-real möglich scheint nur, mit heiler Haut davonzukommen. Folglich erhält der Bettler in Benjamins Version, als er erklärt, er hätte ein Hemd, wenn er jener großmächtige König wäre, auch kein Hemd geschenkt. Wünschen hilft nicht. Benjamins immer wache Vorsicht gebietet, sich auf keinen Fall falschen Hoffnungen hinzugeben. Diese Angst vor falschen Hoffnungen entstammt der historischen Erfahrung, dass der Faschismus nur dadurch die Massen für sich zu gewinnen vermochte, dass er die Sehnsucht nach auratischen Erfahrungen, die den eigenen Wünschen entgegenkommen, für seine inhumanen Zwecke in den Dienst genommen hat. Benjamin ist anders als Bloch davon überzeugt, dass diese psychische Ausbeutbarkeit des modernen Menschen fortbesteht. Er votiert deshalb für eine »Organisierung des Pessimismus« (Benjamin 1989 II/2, S. 308). Es gilt, im Hoffnungslosen Fuß zu fassen – »Fuß, nicht Hoffnung … Der Mensch kann im Hoffnungslosen leben, wenn er weiß, wie er dahin gekommen ist. Dann kann er darin leben, weil sein hoffnungsloses Leben dann wichtig ist. Zugrunde gehen heißt hier immer: auf den Grund der Dinge zu gehen« (Benjamin 1989 II/2, S. 509). Im Unterschied zu Blochs Hermeneutik der Hoffnung, die in ihrer Antizipation des objektiv-real Möglichen einen lebenswerten Zukunftsentwurf positiv zu bestimmen sucht, bleibt die rettende Kritik Benjamins – darin der Freudschen Methode verwandt – negativ.
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■ Depression Weit mehr als »im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen« (Benjamin 1989 I/2, S. 695) soll der kritische Hermeneut mit seinen Konstruktionen auf einen »Chock der Erkenntnis« (Benjamin 1989 III, S. 286) zielen, der zum »Erwachen« (Benjamin 1989 V/1, S. 580) führt. Gemäß dieser Leitmetapher Benjamins erscheint Geschichte als ein Prozess, welcher der Traumarbeit analog ist. Solange man träumt, nimmt man das wahrgenommene und für wahr genommene Welt- und Selbstbild widerspruchslos hin. Denn der Traum erlaubt keine Negation. Erst durch das Erwachen werden die Bilder fremd: zu ungelösten Rätseln der eigenen Welt- und Selbstwahrnehmung. Den Zumutungen, die von ihnen ausgehen, kann erst dann widersprochen werden, wenn sie gelöst sind. Der kritische Hermeneut begleitet die Suche nach der Rätsel Lösung nicht sokratisch. Denn, so Benjamin, die »sokratische Frage« ist »eine Erektion des Wissens«, die »die Antwort von außen (bedrängt)« (Benjamin 1989 II/1, S. 131). Ihr autoritativer Gestus verdeckt, dass der kritische Hermeneut selbst immer ein – im doppelten Wortsinn – Irrender bleibt. Folglich müssen die ihm gemäßen Deutungen darum bemüht sein, die Suchbewegung in Gang zu halten. Wenn Benjamin dieses Verfahren einem »destruktiven Charakter« überantwortet, so deshalb, weil er die Analyse der Synthese vorzieht. Stets geht es darum, »Homogenität … aufzusprengen« (Benjamin 1989 V/1, S. 592f.), »gegen der Strich zu bürsten« (Benjamin 1989 I/2, S. 697), was sich alternativlos präsentiert, »hinzuführen auf das dem Wort Versagte; nur wo diese Sphäre des Wortlosen in unsagbar reiner Macht sich erschließt, kann der magische Funken zwischen Wort und bewegender Tat überspringen« (Benjamin 1966, S. 127). Deshalb misstraut Benjamin einer allzu wortgewaltigen, ausschließlich begriffszentrierten Ideologiekritik. Vollmundig verfehlt sie »das dem Wort Versagte«, die »Sphäre des Wortlosen«, die für ihn, den wortmächtigen Intellektuellen, kein Residualfaktor, sondern die sensibelste Registratur der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Ganz in diesem Sinne ist mit Verweis auf das Werk von Alfred Lorenzer (2002) zu sagen, dass eine Restitution zerstörter Sprache ohne eine Restitution zerstörter Sinnlichkeit keinen Erfolg hat.
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Wenn überhaupt: Denn Benjamin lehrt, soziales Leid zu bezeugen, ohne die Gewissheit zu haben, die gesellschaftlichen Verhältnisse tief greifend verändern zu können. Vielleicht sogar ohne Hoffnung darauf. Wer dabei aber wie der Melancholiker Benjamin im Hoffnungslosen Fuß zu fassen sucht, also ein Leben vor dem Tod bejaht, nicht weil es, wie er schreibt, »lebenswert« sei, sondern weil »der Selbstmord die Mühe nicht lohnt« (Benjamin 1989 IV/1, S. 398), der riskiert ständig, dass er keinen Grund findet: dass die intellektuelle Haltung, mit der er sich fortwährend die Allgegenwart des Katastrophischen vergegenwärtigt, um ihr zu trotzen, allmählich in eine Depression umschlägt, vor der sie doch schützen soll. Wo unbarmherziger Ernst nicht wenigstens immer wieder vorübergehend Erleichterung findet, wird er sich letztlich selbst zu einer unerträglichen Last. Erleichterung hat Benjamin zeitlebens die Bewegungsform des Flanierens gebracht. Sei es, dass er durch Texte flanierte oder durch Städte, die er wie Texte las (vgl. Opitz 1991). Er wollte eine »Kunst« entwickeln, »sich zu verirren« (Benjamin 1989 VII/1, S. 393) – wie in Labyrinthen, die ihn faszinierten und in denen er seine Lebensform gültig symbolisiert sah (vgl. Muthesius 1996, Kap. 2). Mit seiner Perfektionierung dieser »Kunst« versuchte er, die Angst zu überspielen, keinen Ausweg zu finden. Indessen ist das Labyrinth ein Symbol der Melancholie, das immer schon auf die Möglichkeit einer existentiellen Orientierungslosigkeit als finaler Depression verweist.
Melancholie als Lebensform
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Rolf Haubl
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■ Heinrich Deserno
Liebe und Depression Am Beispiel von Dieter Wellershoffs Roman »Der Liebeswunsch« 1
■ Vorbemerkung
1
Die spezifische Logik der psychoanalytischen Erkenntnisse gründet sich in erster Linie auf intersubjektiv hergestellte Bedeutungen und nicht auf die Beweiskraft von Ereignisabfolgen und Fakten. Dieses tiefenhermeneutische Sinnverstehen im Sinne Alfred Lorenzers (1986) bringt ein Wissen hervor, das mit Veränderungen zusammenhängt. Man kann der Psychoanalyse den Status einer Erfahrungswissenschaft schwerlich bestreiten; die menschliche Erfahrung, insbesondere ihre unbewussten Anteile, liegt im Zentrum ihrer Forschung und ihrer Behandlungsmethode. Insofern die Psychoanalyse Lebenspraxis untersucht, steht sie der Hermeneutik nahe: Hier geht es um unsere lebensweltlichen Interessen, die Bewältigung oder Verarbeitung unserer Erlebnisse, letztlich um die durch fortlaufende Interpretation hergestellte Kontinuität unseres Selbst – oder im Fall der Erkrankung um Diskontinuitäten unseres Selbst. Dagegen sieht am Experiment orientierte Wissenschaft von unserer Lebenspraxis ab, strebt zweckfreie, sorgsam kontrollierte 1 Dieter Wellershoff (2000), Der Liebeswunsch. Roman, wird im Folgenden abgekürzt zitiert als Lw. Mein Beitrag überschneidet sich inhaltlich zum Teil mit einer anderen Fassung, die 2005 im Jahrbuch für Psychoanalyse und Literatur unter dem Titel: »Du bist der einzige Mensch, der mich mir selbst zurückgeben kann.« Über Leidenschaft und Selbstbestimmung in der gegenwärtigen Moderne, erscheinen wird. Während dort der Akzent auf Kulturtheorie und Literatur liegt, geht es hier mehr um die Depression. Wichtige Hinweise verdanke ich dem kollegialen Austausch am SigmundFreud-Institut, vor allem Rolf Haubl, Marianne Leuzinger-Bohleber und Hans-Joachim Busch. Außerdem haben Vera King und Ilka Quindeau das Manuskript gelesen und Ergänzungen vorgeschlagen.
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Beobachtungen an, untersucht Ereignisse und Eigenschaften und produziert entsprechende Daten. Bei dieser Gegenüberstellung ist die Psychoanalyse leicht zu lokalisieren: Sie steht zwischen Science und Hermeneutik (Strenger 1991). In diese Zwischenstellung gerät auch der Literaturwissenschaftler, wenn er seine Interpretationen mit Hilfe der psychoanalytischen Methode erweitert. Rückblickend schreibt Carl Pietzcker (2003, S. 67): »So bewegte ich mich in der Universität, aber auch in den Szenarien meines Bewußtseins, zwischen einer am literarischen Detail und der literarischen Form interessierten und einer an der Gesellschaft und ihrer Geschichte orientierten Literaturwissenschaft. Als Drittes war da die Psychoanalyse.«
Pietzcker hat dieses Dritte – die in der therapeutischen Praxis der Psychoanalyse entwickelte Theorie von Übertragung und Gegenübertragung – unter Verwendung, aber auch in Abgrenzung zu den Arbeiten Lorenzers in ein Modell literarisch-szenischer Kommunikation übersetzt. In diesem Modell trete der Autor über sein Werk mit dem Adressat in eine Szene; er gestalte die Wirkungsstrategien zu dieser Szene und ziehe sich dabei als Person aus der unmittelbaren Kommunikation zurück: »Das Werk transportiert die Szenen zwischen dem ›unausgesprochenen Autor‹, hinter dem der wirkliche auftauchen kann, aber nicht muß, und dem ›unausgesprochenen Leser‹, auf den der ›wirkliche Leser‹ ebenso antwortet wie auf den ›unausgesprochenen‹ und gelegentlich auch den ›wirklichen Autor‹. In diesen Szenen spielt die Gegenübertragungsanalyse; sie erschließt sie von den Interpretierenden her« (Pietzcker 1992, S. 62f.).
Am Beispiel des Romans »Der Liebeswunsch« von Wellershoff möchte ich fragen, wie er den Zusammenhang von Liebe und Depression darstellt. Der Roman stellt eine enge Verbindung zwischen Liebe, Liebeswunsch und Depression her. Das ist ein beunruhigender Zusammenhang. Allein schon, was das Thema Liebe betrifft, befindet sich die Psychoanalyse seit der Entdeckung der Übertragung, wie Reimut Reiche (1994) treffend ausführt, in einer »beunruhigenden Doppelrolle«: Sie müsse mit der Liebe methodisch – in Gestalt der Übertragungsliebe – ein Bündnis eingehen,
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wenn sie inhaltlich etwas über die Liebe, über die unbewussten Wurzeln des Liebeslebens und die Wahl des Liebesobjekts aussagen wolle. In diesem Sinn schrieb Freud an Jung, als dieser die Psychoanalyse und ihre Therapieform kennen lernen wollte: »Es ist eigentlich eine Heilung durch Liebe: In der Übertragung liegt dann auch der stärkste, der einzig unangreifbare Beweis für die Abhängigkeit der Neurosen vom Liebesleben« (zit. n. Reiche 1994, S. 11). In seiner letzten Essaysammlung, »Der verstörte Eros« (2001), skizziert Dieter Wellershoff an Goethes »Werther« (1774), Stendhals »Le Rouge et Le Noir« (1830), Tolstois »Anna Karenina« (1875–77), Zolas »Nana« (1879/80), Lawrences »Lady Chatterly’s Lover« (1928), Houllebeques »Elementarteilchen« (1999) eine historische Linie: Das Verlangen nach erotischem Glück habe jenseits gesellschaftlicher Normen ständig zugenommen und um den Ehebruch gekreist, bis schließlich, wie Michel Houllebeque sagt, »in einem völlig liberalen Sexualsystem einige ein abwechslungsreiches und erregendes Sexualleben haben, während andere auf Einsamkeit beschränkt sind« (Wellershoff 2001, S. 304f.). Mit Houllebeque stimmt Wellershoff darin überein, dass sich Wirtschaftsliberalismus und sexueller Liberalismus parallelisieren ließen: »Einige wenige häufen beträchtliche Reichtümer an; andere verkommen in der Arbeitslosigkeit und im Elend« (Wellershoff 2001, S. 304f.). Die Literaturwissenschaft (vgl. Ricklefs 1996, Bd. 2, S. 1113f.) sieht in Wellershoff den Protagonisten eines neuen psychologischen Realismus. Wellershoff versteht Literatur und die in ihr enthaltene Kritik als einen »prospektiven Akt«, einen Ausblick über jene Realitätsgrenzen hinaus, die uns durch scheinbare Vertrautheit, durch Routine und Banalisierung, durch Normierungen und Schematisierungen gesetzt sind. Als Autor fasziniert mich Wellershoff, weil er die Verfassung und Reflexionen seiner Romanfiguren präzis beschreibt und doch den Leser in eine große Spannung hineinzieht. Er ist insofern ein für die Psychoanalyse interessanter Autor, weil er uns nicht nur aufmerksam dafür macht, ob unser Sprechen »voll« oder »leer« ist (vgl. Lacan 1953), sondern auch darauf, was wir mit dem Sprechen mit uns und dem Anderen »machen«. An anderer Stelle cha-
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rakterisiert er sich selbst als Autor, »der sich besonders für die fließenden Übergänge von Innen- und Außenwelt, von Wahrnehmungen, Affekten und Imaginationen interessiert« (Wellershoff 1996, S. 51). Wellershoff geht von zwei Lebensentwürfen aus, die einen Antagonismus bilden, der seiner Auffassung nach das Spannungsfeld der Literatur seit langem beherrsche: auf der einen Seite die Revolte der Leidenschaft, des ungezähmten Teils der menschlichen Natur, der nach Intensität, Totalität und Chaos verlange; auf der anderen Seite die Vorstellung der Treue, die einen dauerhaften, angstlosen Raum für das praktische Leben zu schaffen versuche. Der eine Weg bestehe in »der Eingliederung in das gesellschaftliche Überlebenssystem« durch soziale Anpassung und kulturell erwünschte Leistungen, der andere in der »radikalen Selbstausgrenzung aus den sozialen Zwängen in den weltabgewandten Symbiosen der Leidenschaft« (Wellershoff 1992, S. 168). Für Wellershoff bilden »Betroffenheit und Faszination, man kann auch sagen, Bedürftigkeit und Begehren das geheime Lebenszentrum der Texte« (Wellershoff 1985, S. 246f.). Heute scheitert das individuelle Glücksstreben – nach Wellershoffs Auffassung, aber auch nach vielen sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnosen – nicht mehr an der Härte des gesellschaftlichen Widerstands und der Enge der herrschenden Moral, sondern eher am Ideal der Selbstverwirklichung (vgl. Ehrenberg 2000; Bauman 1997; Birbaumer u. Steinhardt 2003). Der den neuen Normen genügende Mensch soll frei von »Hemmungen« und »falschen« Schuldgefühlen sein; er soll seinen »wirklichen« Bedürfnissen und Gefühlen Ausdruck verschaffen. Wir müssen lustfähig, erfahrungsfähig, wandlungsbereit, spontan und kreativ sein. Diese Entwicklung scheint mit einer Paradoxie zusammenzuhängen: Wir verlieren als Arbeitskräfte an Bedeutung, werden aber als Konsumenten der massenhaft produzierten Güter wichtiger. Auch die Psychologie trägt als »Psychoboom« unreflektiert zu dieser Entwicklung bei, wie Wellershoff resümiert: »Diese heitere sinnliche Welt, welche Glück für alle verspricht und jeden zum fröhlichen Mitmachen einlädt, erzeugt natürlich massenhaft Verlierer und treibt sie als Gestörte in den Alkoholismus, die Depression und in
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die Therapiegruppen, wo sie unter Anleitung eines therapeutischen Spielleiters das großartige Leben eines sich selbst verwirklichenden Menschen wieder einüben können … alles, was früher einmal institutionell vermittelt und gestützt wurde, ist nun auf sich selbst gestellt … Um so mehr wird von der Liebesbeziehung erwartet. Heilung der narzißtischen Wunden, Selbstentfaltung, Sicherheit, wechselseitige Bestärkung und Bestätigung der eigenen Selbstdarstellung« (Wellershoff 1986/1992, S. 145).
■ Sexualität, Liebeswunsch und Depression Alle Aspekte von Sexualität und Liebe lassen sich in der Formulierung zusammenbringen: Wir sehnen uns danach, uns zu vereinigen. Im Sinne Platons entspricht dieser Sehnsucht das Suchen und Finden der passenden Hälfte. Ich übergehe hier den Teil des Mythos, der begründet, warum die Hälften entstanden sind, um nur die Bedeutung der Teilung selbst hervorzuheben. Wie Rolf Haubl betont, bedeutet die Teilung in zwei verschiedene Geschlechter, »daß kein Geschlecht beanspruchen darf, der ganze Mensch zu sein«; der ganze Mensch seien Mann und Frau zusammen, und damit sei der Mensch »moralisch zur Anerkennung des Andersseins seines Mitmenschen verpflichtet: Er soll die Differenz zu ihm als notwendige Ergänzung seiner selbst anerkennen, um in erotischer Gemeinschaft mit ihm den ganzen Menschen zu verwirklichen« (Haubl 1991, S. 111). Freud und spätere Psychoanalytiker haben die von mir hervorgehobene Auffassung – der Liebeswunsch ist ein Wunsch nach Vereinigung – in mindestens vier Einzelaspekte aufgefächert: Der Liebeswunsch strebt nach Befriedigung, Vervollkommnung, Wiederfindung und Heilung (vgl. Bergmann 1987, Teil II). Dazu nur einige kurze Hinweise. Am Wunsch nach Befriedigung zeigt sich die Dialektik unseres Begehrens: Befriedigung stellt – neben dem »Lustgewinn« – vorübergehende Triebruhe her und wird auch deshalb wieder gesucht. Der Wunsch nach Vervollkommnung setzt eine Idealisierung voraus; sie macht die Verliebtheit möglich, muss aber zugleich so durchlässig beziehungsweise realistisch genug sein, dass die für jede sexuelle Erregung notwendige Beimi-
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schung von Aggression zugelassen werden kann, zum Beispiel um das Objekt der Wünsche wirklich für sich zu gewinnen. Wiederfinden und Heilung hängen eng zusammen. Hier kann man von einer Dialektik des Suchens sprechen; die geglückte Suche erweist sich als ein Wiederfinden. Freuds Vorstellung vom Wiederfinden enthält eine ständige Überarbeitung und führt – statt zu illusionären Erwartungen – zu befriedigender Ergänzung. Damit Liebe entstehen kann, muss etwas vom einem früheren Zustand, einem »Urzustand« wiedergefunden werden; in Freuds eigenen Worten: »Reale glückliche Liebe entspricht dem Urzustand, in dem Objekt- und Ich-Libido voneinander nicht zu unterscheiden sind« (Freud 1914c, S. 167). Gerade aus der Sicht neuerer Konzepte hat die Vorstellung der »Wiederfindung« sich bewährt. Ob wir den »Ursprung« der Liebe als einen der Lust und Befriedigung nach Freud, des harmonischen und sicheren Gehaltenseins nach Winnicott oder des einfühlsamen Erkanntwerdens nach Kohut fassen: Das spätere Finden eines Liebesobjekts ist eine durch Erfahrung und psychische Arbeit ausdifferenzierte Wiederfindung (vgl. Reiche 1994), an der allerdings auch unsere Erwartungen, insbesondere die unbewussten, einen großen Anteil haben. Dem existentiellen Wunsch nach Vereinigung steht ein ebenso grundlegender Wunsch nach Selbstbestimmung gegenüber; daher werden in der Liebe alle Grundkonflikte, gleichviel, wie man sie nennt, durchlaufen: die Konfliktlagen von Nähe und Distanz, Bindung und Autonomie, Identität und Differenz. Vermittelt werden diese Wünsche mit der Wirklichkeit des jeweils Anderen durch Empathie, Authentizität und Intimität. Die Liebe verleiht den Liebenden Kraft: durch die gegenseitige Anerkennung, durch das Gefühl des Zusammengehörens und die damit verbundene Sicherheit. Sich-Verlieben und gegenseitiges Lieben sind mit ungewöhnlichen Energien, Wachstum und Veränderung sowie einem Gefühl von Reichtum und Fülle begleitet. Es ist die Dialektik der Liebe, dass sie immer wieder die Vereinigung zweier Individuen sucht, ihre Individualitäten jedoch intakt lässt, denn um ihrer Liebe willen müssen beide die Individualität des Anderen erhalten. So ist es letztlich die Liebe selbst, worauf auch Reiche (1994) hinweist, die ihrer Vollendung – im Sinne der Erfüllung – wieder im Weg steht. Nur leidenschaftliche Liebe verwirk-
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licht für Momente das völlige Sich-dem-Anderen-Überlassen. Dabei erweitern sich die Ich-Grenzen. In diesem Sinne ist SichÜberlassen, so sehr es auch gefürchtet wird, stärkend und nicht schwächend, vermutlich dann, wenn man sich mehr der Macht der Liebe als der Macht des Anderen überantwortet. Der Zusammenhang von Liebe und Depression ist ein grundsätzlicher, da es in der psychischen Dynamik der Depression zumeist um Liebesobjekte geht. Um eine lange Diskussion kurz zu machen, die darum ging, welcher Entwicklungsstand erreicht sein müsse, damit ein Kind Depression und Trauer empfinden könne (vgl. Jacobson 1971/1977, S. 258, Fn. 4), die Antwort vorweg: wenn das Kind sein Objekt – im frühen Alter ohne Zweifel ein Objekt der Liebe – als ganzes Objekt wahrnehmen, wenn es in seinem Vermögen, Symbole zu bilden, so fortgeschritten ist, dass es die Abwesenheit des Liebesobjekts durch symbolische Anwesenheit für sich erträglich machen kann. Das ist einerseits ein Fortschritt; andererseits bringt dieser mit sich, dass Kinder jetzt beides verlieren können: das reale und das symbolische Objekt. Hinzu kommt, dass das reale Objekt nicht tatsächlich verloren gehen muss, sich aber so verhalten kann, dass es als symbolisches Objekt, hier als Objekt der Liebe, verloren wird. Mit der Depression reagieren wir auf unterschiedliche Verlusterfahrungen: durch Trennung, durch Tod, durch den Bruch einer emotionalen Bindung. Auch emotionale Gleichgültigkeit kann einen gefährlichen Verlust heraufbeschwören, gerade deshalb, weil die je besondere Bedeutung eines Objekts verloren wird. Grund für solche Gleichgültigkeit kann wiederum die Gefühlsabwehr des Anderen sein. Spätere Verluste haben, ebenso wie die Liebesobjekte selbst, Vorbilder. In der folgenden Paradoxie liegt das scheinbare Geheimnis der Depression: Ein Verlust wird nicht verkraftet, weil er ein verborgenes Behalten einschließt (Lewin 1961, S. 157).
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■ Handlung, Form und Konstruktion des Romans »Der Liebeswunsch« Im Mittelpunkt des Romans steht eine Gesellschaft en miniature. Die vier Hauptpersonen, die zunächst vorgestellt werden sollen, sind zwischen Ende Zwanzig und Mitte Vierzig. Im Roman stirbt eine der vier Hauptpersonen: Anja, so erfährt der Leser gleich am Anfang, stürzt sich vom Balkon eines Hochhauses. Darauf bezogen lesen sich die folgenden Kapitel als Rückblicke und Rekonstruktionen. Der Aufbau des Romans legt eine Lesart als Fallgeschichte mit den folgenden Fragen nahe: Warum wird Anja depressiv und alkoholabhängig, warum lässt sich diese Entwicklung nicht aufhalten und wie hängen ihr »Liebeswunsch« und ihr tragisches Ende zusammen? Diese Fragen lassen sich erweitern: Was tragen die weiteren Hauptpersonen dazu bei, dass Anja keinen anderen Ausweg als den Suizid findet? Anja ist 28 Jahre alt, als sie ihre Magisterarbeit und ihr Germanistikstudium abbricht. Der Richter Leonhard ist 43, als er Anja heiratet. Von der Internistin Marlene und dem Chirurgen Paul lässt sich erschließen, dass sie, wie Leonhard, Anfang Vierzig sind. Marlene war mit Leonhard zusammen und hat sich Pauls wegen von ihm getrennt. Paul wiederum hat Frau und Kinder wegen Marlene verlassen. Da man von seiner Familie im Roman nichts erfährt, verstärkt sich der Eindruck, dass Pauls Beziehungen eher an der Oberfläche bleiben. Als Leonhard durch Marlene und Paul dann Anja kennen lernt und sie kurz darauf heiratet, hat es den Anschein, als sei das belastete Verhältnis von Marlene, Leonhard und Paul in ein neues Gleichgewicht gekommen. Der Leser weiß jedoch durch den im ersten Kapitel mitgeteilten Suizid Anjas, dass dieser Eindruck täuscht. Der bekannte Ausgang nimmt jedoch keineswegs die Spannung aus dem Roman; im Gegenteil, der Roman bewirkt einen Sog, dem man sich, wie auch bei anderen Texten von Wellershoff nur schwer entziehen kann (vgl. Wellershoff 1980). Im Zentrum dieses unaufhaltbar erscheinenden Geschehens stehen, wie vom Titel des Romans benannt, Liebeswünsche. Vor allem Anja wird zur Protagonistin dessen, was schon Goethe in den »Wahlverwandtschaften« »unbedingtes Lieben« genannt hat. Dagegen scheinen die anderen Personen ihre Liebeswünsche eher
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zu kontrollieren, was wiederum bedingen kann, dass sie weder Anjas katastrophalem Ende im Suizid noch ihrer vorausgehenden Alkoholsucht etwas entgegensetzen können. Wellershoff erzählt aus wechselnden Perspektiven. Er selbst hat das Ensemble seiner vier Hauptpersonen, die von ihm in einer vertraulich-intimen Weise durchgehend bei ihren Vornamen genannt werden, im Roman selbst als »menschliches Mobile« bezeichnet. Was ist ein Mobile? Der Begriff selbst, nicht der Gegenstand, der schon viel früher bekannt war, wurde erst 1938 von Marcel Duchamps für eine Ausstellung in Paris geprägt. Die Verbindungs- und Balancestücke sollen in der Regel kaum zu sehen sein. Die aufgehängten Gegenstände sind sehr beweglich; ein kleiner Windstoß, den man selbst erzeugt, bringt sie aus der Balance, und man kann zusehen, wie eine neue Balance entsteht. Es liegt nahe, dass mit dem Mobile die wechselnden Konstellationen zwischen den vier Personen gefasst werden sollen. Sind die Bewegungen der Personen ganz zufällig oder lässt sich eine Determinierung der Bewegung erkennen? Im Roman spricht zunächst Marlene vom Mobile: »Wir waren ein menschliches Mobile – vier Figuren an unsichtbaren Fäden, pendelnd umeinander kreisend und ständig in Gefahr, sich ineinander zu verhaken. Ich glaubte allerdings, den Mechanismus in der Hand zu haben. Jahrelang ist es ja auch einigermaßen gut gegangen. Für jeden natürlich auf andere Weise und am wenigsten für Anja. Das wußte ich zwar, aber ich sagte mir: Es war ihre eigene Entscheidung« (Lw, S. 127). Wenig später sagt sie: »Zu viert hatten wir immer so getan, als seien wir ein bewährter, fest gefügter Freundeskreis, und ich wunderte mich darüber, wie voreilig ich mit der Möglichkeit zu rechnen begann, das alles könne sich plötzlich auflösen. Vermutlich hatten wir alle immer schon geahnt, wie zerbrechlich die Harmonie unseres Zusammenlebens war. Es war ein System ständiger gegenseitiger Rücksichtnahme mit ungeschriebenen Spielregeln, das zusammenbrechen mußte, wenn sich irgendein starkes Interesse querstellte« (Lw, S. 144).
Wellershoff kann mit Hilfe des Personen-Mobiles aus ständig wechselnder Figurenperspektive erzählen, die an Komplexität zunimmt, bis das Mobile zerstört ist, was Marlene gegen Ende des Romans so ausdrückt: »Alle sind wir jetzt auseinandergesprengt …« (Lw, S. 304). Im nächsten Kapitel, überschrieben mit: »Zerfallszeit«, wird
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Anjas Entzug in einer Klinik beschrieben, aus der sie wegläuft und sich dann, wie schon im 2. Kapitel von Paul erzählt, in einem Apartmenthaus an der Nordsee einmietet und vom Balkon stürzt. Ein nur zwei Seiten langes Schlusskapitel mit der Überschrift »Nachspuk« beschreibt ihre Beerdigung, und im letzten Absatz wird ein unheimlich wirkender Traum ihrer Mutter aus der Nacht nach der Beerdigung wiedergegeben. Geht es also um die Konstruktion eines Beziehungsmobiles und dessen Selbstzerstörung? Nachdem Marlene von Pauls Verhältnis mit Anja erfahren hat, konfrontiert sie Paul mit ihrem Wissen: Die Beziehung der beiden verläuft sich in immer größere Distanz, bis Paul auszieht, Marlene das Haus verkauft und sich in eigener Praxis selbständig macht. Leonhard trennt sich juristisch korrekt von Anja; sein weiterer beruflicher Aufstieg findet während dieser Trennung statt. Leonhard, gekränkt oder verletzt durch die gescheiterte Beziehung mit Marlene, hat einige Jahre als Alleinstehender im Dreierbund verbracht; man hatte ihm gegenüber Schuldgefühle, vor allem Marlene. Als er in seiner Ehe merkt, dass Anja nicht die richtige Frau für ihn ist – offensichtlich hatte er darauf gesetzt, dass er ihr überlegen sei und sie, wie es zunächst auch aussah, sich anpassen oder unterwerfen würde –, nimmt er sich vor, »mit ihr zu leben wie mit einer chronischen Krankheit, die er unter Kontrolle hatte. Er mußte nur verhindern, daß sie schlimmer wurde« (Lw, S. 75). Er muss aber erkennen, dass sie es ist, die ihn dominiert. Leonhard wird als nicht besonders einfühlsam, aber verlässlich und großzügig beschrieben.« Er sagt selbst: »In meinem Verständnis beruht das Zusammenleben von zwei Menschen immer auf der Übereinkunft, manche Dinge zu übersehen« (Lw, S. 76). Je weiter der Roman fortschreitet, desto mehr gewinnt Leonhard, auch wenn sich an seiner fehlenden Sinnlichkeit und an seiner Kontrolliertheit nichts ändert, an Respekt und Würde, was seine Beschreibung in der Hochzeitsnacht, in der er eine schlechte Figur macht, wieder ausbalanciert. Er hatte unmittelbar nach einem unerotischen Verkehr gesagt: »Jetzt sind wir richtig verheiratet« (Lw, S. 48). Das ist eine der ganz wenigen Stellen des Romans, wo etwas Komik und Humor, einem Sonnenstrahl vergleichbar, durch die Sachlichkeit und Präzision, aber auch durch die Indifferenz der Personen und des Erzählens hindurch scheint.
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Anja hatte verschiedene Beziehungen zu Männern; ihre bisherige Sexualität wird so beschrieben: »Sobald sie spürte, wie sie [die Männer; H. D.] sich mühten, sie mitzureißen, glitt sie weg in eine innere Leere« (Lw, S. 26). Durch eine differenzierte Dramaturgie gewinnt sie jedoch an Mitgefühl, vor allem, weil sie kurz nach einem intensiven Liebesakt einen Liebesbrief an Paul schreibt, der die Sprache der »unbedingten« Liebe spricht – eine Sprache, zu der sie bislang unfähig war. Genau darauf aber kann Paul nicht antworten, weil ihm die Situation als Falle erscheint. Heftig stößt er Anja zurück, und ihr selbstzerstörerisches Verhalten nimmt zu. Anjas innere Leere – oder ist es emotionale Indifferenz? – wird von Männern offenbar als Geheimnis fehlinterpretiert. Anja erscheint, was die Dramatik des Verlaufs betrifft, als Zentralfigur. Das zeigt sich sowohl in der Unabänderlichkeit ihrer Selbstzerstörung als auch in der Unbedingtheit ihrer Liebe zu Paul. Gerade als sie erstmals für ihr Leben einen Sinn findet – in der körperlich erfüllten Liebe zu Paul und in ihren Briefen an ihn –, wendet sich für sie das Geschehen in eine Katastrophe. Paul dagegen hält sich für die Zukunft so offen, dass er die Gegenwart aus den Augen verliert. Wann immer etwas schwierig, konflikthaft oder intensiv wird, kann er sich ablenken, nicht nur durch seine Arbeit, sondern auch durch eine Art Leben als Flaneur: Er sieht die Welt durch einen »Schleier von Gleichgültigkeit« und wartet, »bis aus dem Hintergrund der unzähligen Möglichkeiten des Lebens eine immer noch fremde Frau hervortritt« (Lw, S. 11). Marlene sagt von Paul, dass er sich »immer von anderen Leuten davor bewahren lassen [muss], Dummheiten zu machen«. Das sei »sein fatales Muster« (Lw, S. 14). Nach dem erwähnten intensiven Liebesakt muss er bald, aber auch möglichst unauffällig auf die Uhr schauen und dann weggehen, genauer noch: Er lässt sich das von Anja fragen und bestätigt es. Während Anja ihm einen Liebesbrief schreibt, »wie sie ihn noch nie in ihrem Leben geschrieben hat« (Lw, S. 199), gerät er, obgleich er über sich und Anja nachdenken will, in eine Runde von Kollegen, mit denen er den Abend verbringt. Dabei löst er sich völlig aus der Intimität mit Anja: »Sein längere Zeit verschüttetes Gefühl, daß das Leben in den Geheimfächern der Zukunft immer neue, andere Möglichkeiten für ihn bereithielt, begann sich wieder in ihm zu regen« (Lw, S. 209).
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Paul erlebt das Mobile eher als Knäuel, dessen Entwirrung seine Sache nicht ist. Er ist eine Art Pendant zu Anja und auch wieder nicht. Während er fast immer passiv bleibt, indem er seine Chancen nutzt, ohne sie wirklich zu suchen, trifft Anja eine Entscheidung: Sie will Paul im Sinne einer unbedingten Liebe, wovor er wiederum zurückschreckt. Paul denkt über Anja, nachdem sie auseinander sind und Anja auch von Leonhard getrennt ist: »Der mächtige Sog, der von ihr ausging, war eigentlich gar nicht anderes zu erklären als durch ein über Jahre oder vielleicht lebenslang gewachsenes Begehren, einen Mann zu finden, der alles, was er hatte und war, für sie aufgab, auch eine Frau wie Marlene, gegen deren bewunderte Überlegenheit in allen Belangen des Lebens sie nichts auszurichten vermochte, außer in diesem einen empfindlichen Punkt, dass sie ihr den Mann wegnahm … Er hatte geglaubt, alles kontrollieren zu können, aber sie hatte ihn immer tiefer hineingezogen, und er hatte in ihren Armen angefangen, Leidenschaft als Selbstpreisgabe zu verstehen« (Lw, S. 269).
Wellershoff erzählt in der dritten Person, aber weder im Sinne eines allwissenden Erzählers, der über der Handlung steht, noch eines Erzählers, der uns so einbezieht, als würde er in der Ich-Form schreiben. Nicht nur die Perspektive lässt er von einer Figur zur anderen wechseln, so dass formal das Bild des Mobiles bestätigt wird; er wechselt auch bei einer Figur von der dritten zur ersten Person und zurück. Dadurch vertieft sich die Vorstellung des Mobiles. Auch wenn der Leser es für sich nicht rekonstruiert, er wird noch enger in das Beziehungsgeschehen hineingezogen. Dazu ein Beispiel: In Kapitel 3, »Zur Vorgeschichte einer Ehe«, erzählt Anja überwiegend in der dritten Person, wie sie erst Paul und Marlene kennen lernt, weil sie deren Haus hütet, und wie sie in dieser Zeit Leonhard, ihren späteren Mann, kennen lernt und dazu denkt: »Noch nie hatte sie daran gedacht zu heiraten, nicht, weil sie es ablehnte, sondern weil sie annahm, dies sei, wie das ganze übrige normale Leben, für sie nicht vorgesehen. Sie haderte nicht damit, sie litt nicht darunter, es war ihr nicht einmal deutlich bewusst. Ihr Leben hatte seit langem etwas Unfühlbares und Gleitendes angenommen. Zwar war ihr nicht alles leicht gemacht worden, schon gar nicht von Kindheit an. Es gab Widerstände,
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Einengungen, Enttäuschungen. Doch konnte sie nie wirklich glauben, daß sie gemeint war« (Lw, S. 24).
Was da beschrieben und durch die dritte Person objektiviert wird, ist ein anhaltender Zustand von Selbstentfremdung. Später folgt eine kurzer Wechsel in die erste Person, als erzählt wird, wie Leonhard sie besucht. Er wird als ein Mann beschrieben, der an alles dachte und gewohnt war, die Dinge in die Hand zu nehmen. Also hat er zu essen mitgebracht und deckt den Tisch. Das sieht aus Anjas Perspektive so aus (Hervorh. von H. D.): »Das Haus hat uns zusammengebracht, dachte sie später. Er kannte sich hier aus und fühlte sich sicher, und mir gefiel es … Ich fühlte mich anderes als gewohnt, war in einem neuen Film. Das hatte schon begonnen, als ich mich umzog … Es gab so vieles, was wir tun konnten an diesen Sommertagen … Ich hörte nicht immer genau zu, aber ich ließ mich davon einhüllen … Wenn er da war und wir das Haus und den Garten benutzten, als lebten wir hier, fühlte ich mich nicht mehr von dieser Welt ausgeschlossen … Es fiel mir nicht auf, daß er mich nicht nach meiner Arbeit fragte, nur einmal kurz zu Anfang … Ich akzeptierte das alles, vielleicht deshalb, weil ich mit meiner Arbeit gescheitert war … Ich war seit langem in eine Sackgasse geraten« (Lw, S. 37).
Der Wechsel zurück in die dritte Person erfolgt, nachdem sie ihrer Mutter geschrieben hat, dass Leonhard sich ernsthaft für sie zu interessieren scheine, und die Mutter auf eine Weise antwortete, in der Anja ein Drängen verspürte. Jetzt kann sie sich das Leben mit diesem Mann nicht vorstellen. Es war ihr, als nähme sie eine Schuld auf sich, die sie nicht kannte – auch hier ist die dritte Person wieder mit einem entfremdeten Zustand verbunden. Der Perspektivenwechsel findet im Text gleich noch einmal abrupt statt: »Schuld – erinnerte sie sich später. Ich dachte wirklich, ich nähme eine Schuld auf mich, für die ich einmal zu büßen hätte. Aber daran war ich gewöhnt. Und was auch immer es bedeutete, ich mußte es in Kauf nehmen. Und so sagte ich einfach ja, als er mich fragte« (Lw, S. 37).
Es gibt noch viele dieser Wechsel, die ich hier nicht weiter aufführe. Durch sie ist in das Personen-Mobile ein zweites Mobile eingebaut, das für die Bewegungen zwischen Spüren und Denken, zwi-
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schen erster und dritter Person steht. Dadurch wirkt das Zusammenspiel der Personen noch dichter. In dieser Hinsicht sind alle Kombinationen, was wer über wen denkt, was wer wann empfindet, möglich und sie werden vom Autor auch genutzt. Ebenso gehe ich nicht weiter auf die anderen Personen des Romans ein und verweise auf Würker (in Vorb.), der die unbewusste Dimension der Verbrennung von Anjas Sohn Daniel herausarbeitet.
■ Möglichkeiten der Interpretation Als Essayist und als Romancier ist Wellershoff für mich ein Autor, von dem ich »gern« etwas lerne. Ich setze »gern« in Anführungszeichen, weil ich damit sowohl ein persönliches, nicht leicht aufzuschlüsselndes Empfinden ihm gegenüber offenbare als auch meine Zwiespältigkeit darüber, dass ich nicht wirklich gern Geschichten vom Scheitern lese und ein Verhältnis, in dem ich belehrt werde, auch nicht sonderlich mag. Obgleich ich weiß, dass ich aus dem Scheitern mehr lernen kann als aus dem Gelingen und auch der Sichtweise zustimmen kann, in der Normalität die Krise zu sehen, habe ich nichtsdestoweniger vermutlich wie viele andere den Wunsch, dass es nicht so sei. Ich denke die Logik des Scheiterns »nicht wirklich« gern zu Ende. Auch ich muss akzeptieren, dass Scheitern und Gelingen in einem unauflösbaren Verhältnis zueinander stehen. Wenn ich denke, dass der scheiternde depressive Neurotiker, der mein Patient ist, auch ich selbst sein könnte, so ist das keine peinliche Selbstoffenbarung, sondern die Anerkennung eines Potentials, von dem ich nicht wissen kann, ob es sich verwirklichen wird oder nicht. Wenn ich diese Haltung nicht zulassen kann, werde ich den Sinn von scheiternden Kompromissbildungen, wie sie in depressiven Symptomen und Suizidalität vorliegen, nicht erschließen können. Bei der Suche nach einer möglichen Interpretation bin ich, angesichts der Genauigkeit und Konsequenz, mit der die Personen von Wellershoff dargestellt werden, in die Situation geraten, keine Interpretation zu finden, jedenfalls keine, welche an Widersprüchlichkeiten und unvereinbaren Konfliktanteilen der Personen an-
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setzt. Es hat den Anschein, als lägen alle Probleme schon offen vor uns. Die Personen scheinen auch zu wissen, worum es geht. Sie interpretieren sich selbst und die anderen. So blieb es für mich zunächst dabei, dass der Roman sich mit guten Gründen als Fallstudie lesen lässt. Die Problematik Anjas ist sorgfältig beschrieben, von den Entfremdungserlebnissen, dem mangelnden Selbstwertgefühl und den selbstzerstörerischen Handlungen, die in eine Alkoholabhängigkeit münden bis zum völligen sozialen Rückzug, zum Scheitern einer Klinikbehandlung und dem Suizid. Anja bringt eine bestimmte Vorgeschichte mit, bevor sie Teil des VierPersonen-Mobiles wird. Wir erfahren allerdings wenig, nur dass Anja mit vier Jahren durch Trennung der Eltern die Beziehung zum Vater verloren hat. Von dieser Beziehung bleibt etwas Vages und zugleich Großartiges zurück. Es gibt eine Erinnerung an ein Fest, wo der Vater auftauchte, es war aber vielleicht nur eine Phantasie. Anja hat ein zumindest unklar zu nennendes Verhältnis zu Männern. Als ihre Mutter erfährt, dass die Tochter den zuverlässigen Leonhard mit Paul betrogen hat, wirft sie ihr vor, sie sei wie ihr Vater. Anja erzählt, dass ihre Mutter sie zumeist angehalten hat, sich anzupassen. Vielleicht ist es wirklich ihre Tragik – und im psychoanalytischen Sinn der Wiederholungszwang –, dass sie, als sie sich für die Liebe zu Paul entscheidet, genau den Mann gewählt hat, der sie verlassen muss, weil er sich weder für sie noch für ein starkes Gefühl entscheiden kann. Was aber, wenn sich auch keine Interpretation einstellen will, wenn wir uns auf Anjas Geschichte als Fall konzentrieren? Festzustellen, dass Anja depressiv ist, Schlaf- und Arbeitsstörungen hat, dass sie als Selbstbehandlung einen Alkoholmissbrauch entwickelt – das alles liegt, wie schon gesagt, auf der Hand. Als ich das stärker auf mich wirken ließ, entstand wie von selbst eine neue Fragestellung. Was könnte das emotionale Zentrum des Romans sein? Natürlich die Liebe, vor allem aber doch ihr Scheitern, aber woran? Als ich begann, nach einem Zentrum des Mobiles zu suchen, hat mich Carl Pietzcker auf eine wichtige Spur gebracht, indem er auf das Gedicht hinwies, das im Roman an der Stelle steht, wo Leonhard, angeschlagen vom Wissen um Anjas Untreue, einen Vortrag zu halten hat und eben dieses, hier folgende Gedicht an den Anfang stellt (Lw, S. 178).
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»Das Geräusch in der Brandung: Unvorstellbar viele Stimmen Reden darin, doch Keine kommt zu Wort. Jede erzählt ihre eigene Geschichte. Alle zusammen Sind sie das Rauschen Des immergleichen Traums.« Warum sollte nicht das Rauschen des »immergleichen Traums« das emotionale Zentrum des Mobiles sein? Aber was haben wir uns darunter vorzustellen? Setzt man es mit der Stummheit der Natur gleich, wie Leonhard am Beginn seines Vortrags, aber auch mit der in uns allen erhaltenen, vorsprachlich-körperlichen Erlebnisweise, unserer »primären Lebensorganisation«, so kann man ex negativo bestimmen, was dem Mobile »fehlt« und weshalb es in eine unabänderliche, selbstzerstörerischen Dynamik gerät: Das Mobile verfügt nicht über reflexive Verständigung oder Anerkennung dieser primären, existentiellen Organisation, aus der heraus wir leben, die in einem ständigen und zwangsläufigen Widerspruch zu unserer »normalen« Welt der gemeinsamen Regeln und Bedeutungen steht.2 Auf der drittletzten Seite des Romans kehrt das Rauschen wieder: Anja ist jetzt, was wir vom Beginn des Romans her schon wissen, bereit zum Suizid: »Sie will Schluß machen, für immer. Schluß mit den Täuschungen, den Demütigungen, der Angst und der eigenen Schwäche.« Als sie sich von der Brüstung 2 Es würde sich lohnen, die Bedeutung dieser primären Lebensorganisation – eine Formulierung von Holderegger (1993) – theoretisch weiter zu verfolgen. Wir stoßen dann auf die folgenden Konzepte: die physiologische Regulation (Signale, Zeichen) nach dem Prinzip der Vermeidung von Unlust (Freud), bestimmte Interaktionsformen oder »Leiborganisation« (Lorenzer), subsymbolisches System bzw. Kodierung (Bucci), nonreflexives Verhalten (Mitchell), Koenästhesie (Spitz), sensomotorische Organisation (Piaget, Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer), »occuring emotions« (Krause, Moser), protosensorisch-organismische Erfahrung, psychosomatische Schemata und Affektintensität (Aragno), »Traumleinwand« (Lewin) und die Anfänge unseres Haut-Ich (Anzieu). Neurobiologischer Bezugspunkt dieser Verfassungen ist das limbische System (aus Platzgründen werden hier nur die Autoren genannt).
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der Loggia in die Tiefe stürzt, »hört sie im Fallen das laute Rauschen der vorbeiströmenden Luft« (Lw, S. 342). Den einzelnen Figuren scheint eine innere Einheit abhanden gekommen zu sein – oder haben sie nie eine entwickelt? Bei aller Bezogenheit wirken sie zugleich unabänderlich vereinzelt. Ihre Interessen, ihre Gefühle, ihre Überlegungen – alles wirkt einerseits zutreffend, andererseits partiell oder randständig. Es scheint, als bliebe auch ihre Bezogenheit auf der Ebene ständiger Selbstbestätigung. Tritt in der momentanen Beziehung eine Verunsicherung ein, dann richten sich Aufmerksamkeit und Engagement auf einen anderen Bereich, in dem Bestätigung zu haben ist. Das wird besonders von Paul verkörpert. Dieser Bereich deckt sich zumeist mit der Arbeit, was aber bei Anja als Möglichkeit entfällt, weil sie keine Arbeit hat. Bei allen Personen ist Selbstreflexion vorhanden, aber wozu wird sie verwendet? Um den anderen besser zu verstehen? Wenn jemand die Zuwendung eines anderen braucht, hütet er sich eher, das zu erkennen zu geben. Wird sie ihm entgegengebracht, muss er alsbald eine Begrenzung dieses Geschehens einleiten, durch unwiderlegbare Hinweise wie auf Arbeit und auf Zeit. Auf diesem Weg kommen wir zu einer wichtigen Frage, die sich aus dem Roman meines Erachtens ergibt: Nach welchen Regeln lieben wir eigentlich heute, wo zur Liebe eine freiere Sexualität gehört, eine größere Distanz zu äußeren Verboten? Darauf scheinen mir Paul und Anja, Leonhard und Marlene bei aller vorhandenen Psychologie keine Antwort zu wissen: In entscheidenden Momenten erscheinen sie dem jeweils Anderen gegenüber gleichgültig. Die Gleichgültigkeit aber ist, wie schon Schnitzler als Kommentar zu seiner 1926 erschienenen »Traumnovelle« ausführt, das wirklich Verhängnisvolle, was den Weg zueinander nicht nur versperrt, sondern auch für die Liebeskatastrophe freigibt. Die Einsicht, die mir der Roman vermittelt, kommt also nicht durch eine aufdeckende Interpretation zustande. Sie beruht eher auf dem Gewahrwerden und Anerkennen eines Scheiterns und eines Mangels, der durch Gleichgültigkeit verdeckt wird. Würde den einzelnen das Scheitern und der Mangel bewusst, würden auch sie vermutlich depressiv – aber dafür haben sie ja Anja. Gleichgültigkeit als Abwehr auf der einen Seite und Depression als
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Symptombildung auf der anderen Seite gehen hier ein äußerst gefährliches Bündnis ein; die früheren wie die neuen Paare geraten in gefährliche Verstrickungen. Ohne Zweifel hat Anja eine ungünstige Ausgangsposition; sie erscheint von Anfang an in ihrer Identität zerrissen, und der Leser macht sich Gedanken in der Richtung, dass sie ein unerwünschtes Kind gewesen sein könnte, das seine Scham mit einer Phantasie kompensierte, dass ihr im Leben, vor allem in der Liebe, noch etwas Besonderes zustehe. Letzten Endes sind Marlene, Paul und Leonhard gleichgültig. Marlene und Leonhard sind dazu noch auffallend kontrolliert, Leonhard mehr in eher altmodischer Manier als die selbstbewusste Marlene. Paul dagegen ist und bleibt vage und unentschieden. Mit diesen Haltungen oder Einstellungen unterlaufen die Personen im Sinne eines schlechten Kompromisses die immer wiederherzustellende notwendige Balance von Sicherheit und emotionalem Beteiligtsein, von Sehnsucht nach Vereinigung und dem Wunsch nach Selbstbestimmung. Die heutigen Konflikte in Liebesbeziehungen scheinen zum Teil die alten zu sein, wie sich an der Reaktion Marlenes auf Pauls Untreue zeigt, an ihrer Wut, dass er, wie sie ihm sagt, insgeheim ein zweites Leben führt und sie nebenher laufen lässt. Zum anderen Teil hängt die Geheimhaltung meines Erachtens weniger als zu Freuds Zeit mit der Sexualität zusammen, sondern eher mit dem Selbst und seinem Ideal, das starke Wünsche als Schwächen zu bewerten scheint. Das Selbst der Protagonisten lässt sich aufteilen in ein IdealSelbst, das nach der vollständigen Selbstbestimmung, nach der perfekten Sexualität, nach dem idealen Paar strebt und, an diesen Idealen festhaltend, ein gegenteiliges, nichtideales Selbst hervorruft, das sich geschwächt, unwert und handlungsunfähig fühlt. Die von Freud erkannten Einschränkungen des Ich durch Triebabwehr und Triebverzicht sind sicher nicht überholt, stehen aber bei heutigen Liebesbeziehungen offensichtlich nicht mehr im Vordergrund. An ihre Stelle sind Aspekte getreten, die sozialwissenschaftlich zur späten, zweiten oder reflexiven Moderne gehören, in der eine Ausdehnung und Verallgemeinerung von Konkurrenz und Leistung in Lebensbereiche hinein stattgefunden hat, die früher als private galten. Sexualität und Intimität sind zu neuen konsumisti-
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schen Marktanteilen des spätkapitalistischen Wirtschaftens geworden. Trotz Individualisierung und Wahlbiographie, trotz größerer Freiheit und geringerer Triebunterdrückung stellt sich für viele eine Art von Selbstzwang zur Individualität her und unterläuft ihre Integrität. Neben den vielen diskutierten negativen Eigenschaften der Spätmoderne lassen sich auch positive Errungenschaften mit den folgenden Konzepten umschreiben: Identität, Authentizität, Intimität und Empathie. Sie bestimmen jeder für sich Bereiche, die von den Figuren Wellershoffs gewünscht, aber auch vermieden oder verfehlt werden, weil ihnen die Gleichgültigkeit, aber auch die Kontrolle und Unentschiedenheit als unbegriffener Ausdruck ihrer Überforderung im Wege stehen. Das festgestellte Phänomen, dass dieser Roman es in der dargestellten Weise schwer macht, ihn zu interpretieren, deute ich dahingehend: Neben dem kathartischen Moment, dem stellvertretenden Durchleben einer Katastrophe, das den Leser vielleicht wie ein Rauschen umfängt, setzt der Roman, genauer: der Autor im Lesenden eine Suchbewegung nach dem Fehlenden in Gang. Der Leser löst sich aus dem Rauschen des unabänderlich erscheinenden Verlaufs und kann in seinen Suchbewegungen auf das Fehlende stoßen, indem er bei sich gerade die Eigenschaften mobilisiert, die bei den Romanfiguren nicht oder nur wenig in Erscheinung treten. Intimität kann als gemeinsame Abgrenzung nach außen verstanden werden: Ein Paar hat mit der Intimität ein gemeinsames Inneres, das einen hohen Wert darstellt und entsprechend zu schützen ist, wenn es erhalten bleiben soll. Das Versteck der Untreuen könnte sogar ein Modell oder Vorbild für die Treuen sein, ihre Intimität zu schützen, indem sie ihr einen psychischen oder symbolischen Ort erhalten, wo wechselseitig sexuelle Dominanz und Unterwerfung gelebt werden, mit der Folge, dass ihre nichtsexuellen Beziehungen vielleicht frei von Dominanz und Unterwerfung sein können. Intimität braucht einen Ort, wo Grenzen sich auflösen können – was wiederum die Identität stärkt und nicht schwächt. Wellershoff beschreibt keine konkrete Sexualität, und doch lässt er Intimität entstehen, wie in der folgenden Passage, in der er zunächst beschreibt, wie beide beim Verkehr voneinander
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entfernt sind, aber durch neue Wellen der Lust gemeinsam fortgerissen werden: »Und nun fällt alles von ihnen ab: die Ängste, die Selbstbehauptung, alles, was sie an die äußere Welt gefesselt hat. Aneinander geklammert, ineinander verschränkt, den Atem des anderen atmend, treiben sie unaufhaltsam weiter, bis ein jäh sich öffnendes verschwenderisches Jetzt sie durchströmt und zu einer dunklen Einheit verschmilzt. Sekunden später – aber es ist in einer anderen Zeit – tauchen sie auf, eng umschlungen, doch jeder wieder für sich, zwei Menschen, die sich behutsam voneinander lösen« (Lw, S. 197).
Leider wendet sich die in der Sexualität mögliche Intimität in ein einseitiges Verhältnis; Anja hatte gehofft, »daß sich für beide die Tür zur Zukunft ein Stück weit geöffnet habe«, inzwischen aber weiß sie, »daß sie in ein Versteck verbannt worden ist« (Lw, S. 186). Identität ergibt nur zusammengedacht mit dem, was nichtidentisch ist, einen Sinn. Man bedarf des Anderen, um sich der eigenen Einzigartigkeit zu versichern, was aber wechselseitig sein sollte, trotz der Gefahr, dass dabei die Vorstellung des Individuellen relativ wird. Authentizität heißt so viel wie aufrichtig wissen, was die eigenen Gefühle sind und in der Sexualität die eigene Lust ernst nehmen können. Empathie ist die Voraussetzung für fremdseelisches Verstehen; sie hat zur Grundlage, dass wir unsere Gefühle als eigene anerkennen können, weil sie uns durch Andere gespiegelt wurden. Meine Interpretationshypothese lautet: Die phantasierten Beziehungswünsche und -ängste der Romanfiguren werden in das Mobile verlagert und an den wechselnden Beziehungskonstellationen erkennbar. Intimität, Empathie, Authentizität und Identität sind die virtuellen Dreh- und Fixpunkte des Mobiles. Die »elementaren« Triebwünsche und Ängste bringen das Mobile aus der Balance; die jeweilige Beschaffenheit der Dreh- und Fixpunkte führt zu einer neuen Balance. Alle Gleichgewichte sind instabil. Es ist, als müssten die Romanfiguren der existentiellen Dimension des Lebens ausweichen, die sich in den Begriffen Intimität, Empathie, Authentizität und Identität konkretisieren lässt beziehungsweise an ihnen »hängt« – um doch zu leiden und zu scheitern. In der Auseinandersetzung mit den Romanfiguren, mit den unaufhaltsam wechselnden Gleichgewichten kommt beim Leser ein Stück Selbstanalyse in Gang, einerseits durch den »Sog«, der sich
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aus der Spannung von »das bin ich« und »das bin ich nicht« ergibt, andererseits durch das Verstehen- und Erklärenwollen des von Beginn an katastrophalen Ausgangs. Der Leser kommt der Geschichte seiner eigenen Liebeswünsche auf die Spur, aber auch seiner Abwehr durch Gleichgültigkeit, Vagheit, Unbestimmtheit. Der beschriebene Wechsel der Figurenperspektiven innerhalb des Mobiles, also auf engstem Feld, lässt die Einsicht zu, dass jeder eine Anja enthält, sie aber in sich zurückdrängt und damit die eigene Gefährdung an die wirkliche Anja abgibt, die dann in dieser Konfiguration keine Chance mehr bekommt, weder in der Ehe mit Leonhard, im Liebesverhältnis zu Paul noch in der Freundschaft mit Marlene. Und nicht zuletzt bestätigt sich, dass Anja die schwächste soziale Position des Mobiles einnimmt, was sie nicht nur für Leonhard als Ehefrau geeignet erscheinen lässt, sondern auch für Paul als Geliebte, von der er meint, dass er sie in dieses Verhältnis einschließen und von der sozialen Wirklichkeit ausschließen kann. Bei dieser Betrachtung tritt als Kontrast zum »Fall« Anja die Abgründigkeit der Normalität von Marlene, Paul und Leonhard hervor. In dieser Sicht gewinnt Anja immer mehr das Mitgefühl des Lesers – parallel zum Verlust des Mitgefühls für Marlene, Paul und Leonhard. Trotz und wegen ihres »Zerfalls« erscheint sie konturiert wie nie zuvor, scheitert sie doch daran, dass sie jetzt ihren Liebeswunsch nicht nur spürt, sondern ihn, in dem sie ihm folgt, objektiviert. Sie will ihre Angst zu lieben überwinden. Die sozial stark und normal erscheinenden Anderen sind nun, gemessen am Liebeswunsch, dem sie ausweichen, die schwächeren. Der Titel des Romans erweist sich in dieser Lesart als programmatisch: Der Liebeswunsch ist das, was die Hauptpersonen antreibt oder wogegen sie ankämpfen – er bringt das Mobile aus der Balance. Je mehr die Romanfiguren gegen den Liebeswunsch ankämpfen, desto mehr geraten sie in die Depression, so meine weitere Annahme. In der Sexualität findet sich dieser Widerstreit wieder: Soll sie für die unterschiedlichsten Zumutungen entschädigen, oder kann sie zur einschneidenden Erfahrung werden, die ein grundsätzliches Überdenken in Gang setzt, wie wir überhaupt leben und ob wir so leben wollen? Die Depression, die sich aus der im Roman ungelösten Situation entwickelt, wird von dreien abge-
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wehrt, von Anja ausgetragen. Deshalb trifft es zu, dass sie den Liebeswunsch am stärksten artikuliert und daran scheitert; sie belegt geradezu die Paradoxie, die aus psychoanalytischer Sicht für die Depression bezeichnend ist: Die Depression verweist auf ein Paradies oder eine Illusion, die sie zugleich verbirgt. Aus dieser Paradoxie erwächst der Liebeswunsch immer wieder aufs Neue, um vielleicht doch noch eine bessere Verankerung und Befriedigung in der Wirklichkeit zu finden. Fragen wir noch ein mal abschließend: Was treibt die Zerstörung voran? Ist es wirklich die Untreue? Oder ist es die permanente, alltägliche Zurückweisung des Liebeswunsches zugunsten einer erfolgsorientierten, immer mehr diversifizierten Lebensweise, die mit einer Zurückweisung der Sehnsucht nach Vereinigung einhergeht, einer Vereinigung, die vom Körperlichen ins Gefühlsmäßige und Gedankliche führt, bei Aufrechterhaltung der Liebe zum Anderen, im Sinne der Unterschiedlichkeit?
■ Spätmodernes Selbst und zunehmende Depression als gesellschaftlich-kulturelle Veränderung Erst das Bürgertum verschaffte der »amour-passion« einen Platz in der Institution Ehe (Métral 1977). Dafür ist der in Goethes »Wahlverwandschaften« dargestellte Konflikt zwischen »unbedingter« und »verständiger« Liebe beispielhaft (vgl. Ehrich-Haefeli 2002). Die bürgerliche Ehe charakterisiert Wellershoff in seinen Essays treffend als ökonomischen Coup; vielleicht wäre sozioökonomischer Coup noch genauer. Zwischen den verschiedenen Interessen entwickelte sich ein heftiger Konflikt. Die Konventionen des Zusammenlebens wurden, je nach Geschlecht unterschiedlich – vor allem aber ungleich –, von einer doppelten Sexualmoral unterlaufen, wie in Flauberts »Madame Bovary« oder in verschiedenen Romanen von Theodor Fontane nachzulesen ist. Nach welchen Regeln leben und lieben wir heute? Ich möchte, gerade aufgrund unseres gegenwärtigen Wissens über Paare und ihre Mechanismen der Kollusion, über Familien und ihre Mechanismen der Delegation, folgern, dass die nachbürgerliche Ehe als
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»psychosozialer Coup« angelegt ist. War schon in der bürgerlichen Ehe der Liebeswunsch das »Einfallstor« oder das »Trojanische Pferd« der männlichen Dominanz, so auch in den nachbürgerlichen Paarbildungen und Ehen, nun allerdings mit einem offenen Verhältnis zur Sexualität. Als Literaturbeispiele sind anzuführen: D. H. Lawrences »Lady Chatterly«, Henry Millers Wendekreis-Romane, John Updikes »Ehepaare«. Wie Intimität an der freigesetzten Aggression scheitert, zeigen Houllebeques »Elementarteilchen« oder Elfirede Jelineks Romane »Die Klavierspielerin« und »Lust« (vgl. v. Hoff u. Leuzinger-Bohleber 1997) – und nicht zuletzt Dieter Wellershoffs »Liebeswunsch«. Einerseits liegt hier eindeutig eine Befreiung der Sexualität vor, aber gleichzeitig eine große Unsicherheit, welche Beziehungsformen dazu passen und gelebt werden können. Um die kulturelle Veränderungen deutlicher zu markieren, ist auch an die von Freud beschriebene und noch in den Romanen der 1950er und 1960er Jahre zu findende Aufspaltung des Liebeslebens zu erinnern in eine zärtliche, an die Mutterbeziehung angelehnte, und eine sinnliche, an der Hure orientierte Strebung. Es ist zu fragen, ob die gegenwärtigen Liebespaare eher unentschieden sind zwischen Sicherheit und emotionaler Involviertheit. Ist emotionale Gleichgültigkeit ein schlechter Kompromiss im Dienste der Stabilisierung? Eine sich mehr und mehr ausbreitende Indifferenz dem Leben gegenüber, die leicht in ein deprimiertes Lebensgefühl übergeht? Steht die vor allem in westlichen Gesellschaften festzustellende Zunahme von Depressionen in nachweisbarem Zusammenhang mit sowohl erhöhten Anforderungen als auch vermehrten Verlusten, die durch die Individualisierungsschübe gesellschaftlicher Modernisierung ausgelöst werden? Immer mehr Menschen spüren, dass sie ihr Leben unter veränderten, neuen Bedingungen gestalten müssen. Dieses Gespür ist zumeist nicht reflexiv, da weder die Veränderungen noch die Bedingungen dem Einzelnen unmittelbar einsichtig sind. Diesem präreflexiven Lebensgefühl kann man sich, wie HansJoachim Busch (2001, 2004) vorschlägt, mit der Argumentation des freudschen »Unbehagens in der Kultur« annähern, auch wenn sich seit diesem kulturkritischen Essay von 1930 die individuellen und kollektiven Anforderungen verändert haben. Neben die von
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Freud postulierten Einschränkungen des Ich im Sinne von Triebverzichten sind neue Anforderungen getreten, die das Ich nicht einschränken, sondern eher durch eine Vielfalt von Anpassungsleistungen überfordern. Das gilt auch für die Identitätsbildung. Unter dem Titel »Der flexible Mensch« hat, wie schon erwähnt, Richard Sennett (1998) diese veränderten Bedingungen einer spätmodernen Lebensweise als »neue Kultur« des Kapitalismus beschrieben. In der psychoanalytischen Krankheitslehre wurden nach dem Zweiten Weltkrieg große Fortschritte in der Behandlung der so genannten Persönlichkeitsstörungen erreicht. Als theoretische Antwort darauf – und damit auch auf die Spätmoderne – hat in der Psychoanalyse das Konzept des Selbst an Bedeutung gewonnen. Seit etwa 15 Jahren zeichnet sich deutlich ab, dass Depressionen für den spätmodernen Lebensstil beispielhaft werden könnten, und zwar in dem Sinne, dass sie das Negativbild der Anforderungen beziehungsweise paradoxen Zumutungen der gesellschaftlichen Veränderungen darstellen und deshalb in besorgniserregender Weise zunehmen könnten, wie von der Weltgesundheitsbehörde hochgerechnet: Im Jahr 2020 sollen Depressionen weltweit und in allen Bevölkerungsschichten die zweithäufigste Krankheitsursache sein, verbunden mit hohen Behandlungskosten und Verlusten an Lebensqualität (vgl. Böker et al. 2002). Hieraus erwächst der psychoanalytischen Behandlung und der aus ihr ableitbaren Sozialpsychologie eine neue und wichtige Aufgabe; ihre Fallgeschichten werden sich aus früheren Orientierungen an einem gegebenen authentischen und mit sich identischen Ich lösen müssen, um die komplizierte Angewiesenheit des gegenwärtigen Selbst auf intersubjektive Prozesse von Anerkennung oder Missachtung, von Bemächtigung oder Unterwerfung kritisch darstellen zu können. Vom SigmundFreud-Institut aus wird unter der Leitung von Marianne LeuzingerBohleber ein europäisches Netzwerk aufgebaut, in dem die Versorgung depressiver Patienten, aber auch die Behandlungsmöglichkeiten chronisch depressiver Patienten untersucht werden (LeuzingerBohleber et al. 2005). Gravierende Verluste treten auch durch destabilisierende gesellschaftliche Veränderungen ein. Gerade die Nichtnachvollziehbarkeit dieser Veränderungen durch den Einzelnen kann einen Verlust
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an Gewissheiten bedeuten. So zum Beispiel die von Freud kulturkritisch beschriebene Gewissheit von Gebot und Gehorsam, in der Hemmung die Norm war und ein zu strenges Gewissen – das Über-Ich – den Einzelnen in neurotische Konfliktlösungen und damit in Stagnation trieb. Diese Regulative unseres Erlebens und Verhaltens sind heute nicht aufgelöst, aber erheblich relativiert und von anderen Regulativen überlagert, von einer allgemeineren Konkurrenz und Leistung, in die, wie schon angemerkt, immer mehr Aspekte des so genannten privaten Lebens wie Sexualität und Beziehungserfahrungen einbezogen werden. Unser persönliches Erleben von Befriedigung beziehungsweise Befriedigungssuche wird als gesellschaftlich relevante Leistungen erschlossen, nicht zuletzt, weil sie dadurch zu einem Marktbestandteil werden. Gerhard Schulze (1992) hat unter dem Titel »Die Erlebnisgesellschaft« diese Veränderungen systematisiert. Das herrschende Realitätsprinzip soll sich, wie Rolf Haubl resümiert, verändert haben: »An die Stelle eines asketischen Leistungsprinzips ist ein konsumistisches Leistungsprinzip getreten, das Arbeitsleid durch Konsumfreuden abfedert, was einschließt, dass die einstige Berufsorientierung von einer Freizeitorientierung subvertiert wird. Die Gesellschaft kommt den früher unterdrückten Triebwünschen ihrer Mitglieder nunmehr entgegen, indem sie diese erfüllt, freilich marktförmig, das heißt, indem sie sie sozialisatorisch mit den Dienstleistungen und Gütern verknüpft, die kommerziell angeboten werden« (Haubl 1997, S. 7).
In dieser Kultur erscheint Hemmung als Defizit: Was früher als lähmender Konflikt erlebt wurde, wird heute eher als Unvermögen oder Ungenügen wahrgenommen. Um der permanent geforderten Flexibilität zu genügen, sind feste Persönlichkeitseigenschaften und langfristige Bindungen eher hinderlich. So wird nach Richard Sennett »ein nachgiebiges Ich begünstigt, eine Collage von Fragmenten, die sich ständig wandelt, sich immer neuen Erfahrungen öffnet – denn das sind die psychologischen Bedingungen, die der kurzfristigen, ungesicherten Arbeitserfahrung, den flexiblen Institutionen, den ständigen Risiken in Beziehungen entsprechen« (Sennett 1998, S. 192). Alain Ehrenberg (2000) stellt in der Gesellschaft Verschiebun-
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gen vom Gehorsam zum Handeln, von der Disziplin zur Autonomie, von der Identifizierung zur Identität fest. Durch das Nachlassen der von außen kommenden moralischen Zwänge sollen innere psychische Zwänge zunehmen. In positiver Hinsicht werden Freisetzung aus Unterordnung (Emanzipation) und Autonomie möglich, aber um den Preis einer Ausdehnung der individuellen Verantwortlichkeit und des Bewusstseins, nur man selbst zu sein und nur auf sich selbst gestellt zu sein. Dieser Gedanke ist schon in der Beschreibung der Individualisierung durch Beck und Beck-Gernsheim enthalten: »Die Biographie der Menschen wird aus sozialen Vorgaben und Sicherheiten, aus fremden Kontrollen und überregionalen Sittengesetzen herausgelöst, [sie wird] offen, entscheidungsabhängig und als Aufgabe in das Handeln jedes einzelnen gelegt … Normalbiographie verwandelt sich in Wahlbiographie … Demnach ist Individualisierung auf der einen Seite: Freiheit, Entscheidung, auf der anderen: Zwang, Exekution verinnerlichter Marktanforderungen. Einerseits Selbstverantwortlichkeit, andererseits Abhängigkeit von Bedingungen, die sich dem individuellen Zugriff vollständig entziehen« (1990, S. 12).
So entsteht ein Selbstzwang zur Standardisierung der eigenen Existenz – was paradoxerweise unserer traditionellen Vorstellung vom Individuum und von Individualität widerspricht. Diese Paradoxie hat Axel Honneth (2002) ausführlicher dargelegt: Das Potential zur autonomen Identitätsfindung ist angewachsen; es ist aber auch durchsetzt mit neuen Konsumformen, die das Lebensgefühl steigern sollen. Die Folge dieser Veränderungen ist vor allem, wie ich hervorheben möchte, ein erhöhter Reflexionsbedarf, an dem jedoch viele, weil sie über diese Kompetenz nicht verfügen, scheitern. So erscheint mit der Depression, wie wir zumindest vermuten dürfen, vor allem mit ihrer Zunahme, die unvermeidliche Kehrseite des individualisierten spätmodernen Menschen. Es geht nicht mehr so sehr um einen Menschen, der falsch oder unrechtmäßig handelt und deshalb schuldig wird, sondern um einen Menschen, der nicht mehr handeln – oder nicht mehr lieben – kann und sich deshalb ungenügend, unfähig, unwert, schlecht und letzten Endes beschämt fühlt. Es geht nicht mehr hauptsächlich um die Kategorie: erlaubt oder verboten, also um eine auferlegte
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Versagung oder ein Verzichten-Müssen, sondern um die Frage: möglich oder unmöglich? Das Prinzip des Genügens oder Ungenügens schürt Abhängigkeiten, die mit Depressivität wiederum geradezu synonym sind. Deshalb spitzt Ehrenberg seine Auffassung in der folgenden Weise zu: »Depression ist die Melancholie in einer Gesellschaft, in der alle gleich und frei sind, es ist die Krankheit von Demokratie und Marktwirtschaft par excellence. In dieser Hinsicht ist die Depression die unvermeidliche Kehrseite der Souveränität des Menschen, nicht dessen, der falsch handelt, sondern dessen, der gar nicht handeln kann. Bei der [gegenwärtigen, H. D.] Depression wird nicht in Begriffen von Rechtmäßigkeit, sondern von Handlungsfähigkeit gedacht« (Ehrenberg 2000, S. 125).
An dieser Stelle erhebt sich der berechtigte Einwand, ob der psychopathologische Begriff der Depression alle diese Phänomene umfassen kann oder unzulässig überdehnt wird, wenn man ihm eine aktuelle kulturelle Bedeutung zuschreibt. Hier bietet sich der terminologische Ausweg an, dem Begriff der Melancholie, der auch in der Psychiatrie inzwischen als Diagnose der psychotischen Depression aufgegeben ist, seine kunst- und kulturgeschichtliche Bedeutung wieder zurückzugeben. Melancholie kann dann für eine Zurücknahme des Handelns zugunsten von Reflexivität stehen, in der das Verlorene sinnlich-trauernd bewahrt wird, während es in der Depression als sinnliche Erfahrung abgewehrt wird. Für die depressiv abgewehrte Weiblichkeit hat Dörthe Binkert diese Rückbesinnung auf den kulturgeschichtlichen Melancholiebegriff erläutert; »Die Melancholie ist eine Frau« lautet kulturkritisch ihr Titel (Binkert 1995). In der Depression sind die notwendige Stille und Langsamkeit als Bedingung der Reflexion sowie eine Art »mittlerer Bereich« von Affekten nicht gegeben. Der depressiven Erstarrung, die oft von einer paradoxen und unaufhaltbaren Beschleunigung der destruktiven Aggression begleitet wird, lässt sich eine melancholische »Entschleunigung« gegenüberstellen (vgl. Haubl in diesem Band). So könnte man in einer reflexiv-melancholischen Haltung eine Voraussetzung für eine moderne »Liebeskunst« vermuten: eine Beziehung der Wechselseitigkeit, die nicht nur die geschlechtliche Unterschiedlichkeit, sondern auch den Wechsel von Anwesenheit und Abwesenheit anerkennen kann,
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weil sie dem Anderen den Unterschied und das Andere lässt (zur »Geschlechtermelancholie« bei Judith Butler vgl. Quindeau in diesem Band). Dann können Liebe und Erkenntnis sich ergänzen und Veränderungen ermöglichen. Während es im Alltagsdenken eher heißt, dass Liebe den Verstand beeinträchtigt, gilt ebenso und gegensätzlich, dass Liebe unsere Erkenntnis lenkt und fördert. Allerdings werden uns die Grenzen unserer Modelle von Intersubjektivität, Anerkennung und Relationalität in der Gegenüberstellung von Liebe und Depression deutlich aufgezeigt – und damit die Notwendigkeit anhaltender Reflexion. Der größte Feind des Zusammenhangs von Liebe, Erkenntnis und Veränderung könnte emotionale Indifferenz sein. Sie setzt die Grundlage von Wechselseitigkeit, die Anerkennung, ebenso außer Kraft wie die »romantische Liebesutopie«, die nach Illousz weiterhin »eine lebendige Quelle egalitärer Beziehungen und Solidaritäten bilden wird« (Honneth 2003, S. XXI). In Wellershoffs »Liebeswunsch« wird vieles durch Gleichgültigkeit oder Indifferenz außer Kraft gesetzt, sowohl Sicherheit als auch Befriedigung in Beziehungen. Im Roman äußern sich beide Frauen, wenn auch unterschiedlich, zu ihren Liebeswünschen; die Männer bleiben eher vage. So formuliert Marlene, als sie von Paul die Entscheidung zwischen ihr und seiner Familie fordert: »Ich brauchte ihn, um wieder zu mir selbst zu kommen. Ich dachte, das ist die Sehnsucht – man wartet darauf, zu sich selbst erlöst zu werden« (Lw, S. 69). Und Anja schreibt Paul, nachdem sie weiß, dass er die Beziehung zu ihr flieht, einen Liebesbrief, in dem sie um einen Neubeginn wirbt: »Wie gut war es, Dich zu sehen, so falsch und schmerzlich es zunächst auch schien. Dich anzusehen, nur Dich anzusehen, macht mich glücklich. Du bist der einzige Mensch, der mich mir selbst zurückgeben kann. Alles, was ich sein möchte, kann ich nur sein, wenn ich es Dir bringen darf …« (Lw, S. 232).
In beider so ausgedrücktem Liebeswunsch ist der Andere die entscheidende Bedingung für das eigene Selbstsein. Der Wunsch nach Vereinigung und der Wunsch nach Selbstbestimmung sind ununterscheidbar geworden. Die Differenz zwischen beiden Wünschen wird als unerträglich empfunden. Wenn dieser Zustand erreicht
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wird, verliert das Mobile seinen Sinn und die Gesellschaft en miniature existiert nicht mehr, weder innen noch außen. Das Modell der Wechselseitigkeit, angewiesen auf Intimität, Empathie, Authentizität und Identität, ist außer Kraft gesetzt, der »Kampf um Anerkennung« verloren (Honneth 1992). Vielleicht hat Wellershoff mit dem Begriff und Thema des Liebeswunsches diese ununterscheidbare Vermischung von Vereinigungswunsch und Selbstbestimmungswunsch, vom »Rauschen« der primären Lebensorganisation und notwendigen Überlebensstrategien in kritischer Absicht fassen und aufzeigen wollen.
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■ Hans-Joachim Busch
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In einer Einschätzung der Weltlage kurz nach dem Ende des Kriegs der USA gegen den Irak kommt der US-amerikanische Konfliktforscher Thomas P. M. Barnett (2003) zu folgendem Schluss: »Zeigen Sie mir, wo die Globalisierung reich ist an Netzwerk-Verbindungen, finanziellen Transaktionen, wo es liberale Medien gibt und kollektive Sicherheit herrscht, und ich werde Ihnen Regionen mit stabilen Regierungen und steigendem Lebensstandard zeigen, wo die Zahl der Suizid-Toten diejenige der Mordopfer übersteigt. Diese Teile der Welt nenne ich den Funktionierenden Kern … kurz Kern. Zeigen Sie mir dagegen, wo die Globalisierung spärlich ausfällt oder vollständig fehlt, zeige ich Ihnen Regionen, die unter repressiven Regimes leiden, mit verbreiteter Armut und Krankheit, routinemäßigem Massenmord und – am allerwichtigsten – mit chronischen Konflikten, in denen die kommende Generation globaler Terroristen herangezogen wird. Diese Teile der Welt bezeichne ich als Nichtintegrierte Lücke …, kurz Lücke.«
Wie immer man zu ihr stehen mag, die Aussage des Amerikaners enthält – und das macht sie für meine Erörterung interessant – eine sozialpsychologisch aufschlussreiche Wertung. Friede, Fortschritt, Stabilität, Globalisierung werden indiziert durch eine höhere Suizid- als Mordrate. Nach innen, gegen das eigene Ich gewendete überwiegt nach außen gerichtete Aggression. Wenn Suizidalität, nach inzwischen üblicher klinischer Einschätzung, als Spitze des Eisbergs von Depressivität zu gelten hat, kann man die These wagen, Globalisierung und ausgeprägte Depressivität seien gleichzusetzen, Letztere die psychische Seite ersterer. Nun hat es Depressivität schon immer gegeben. Von Gehlen wurde sie sogar als menschliche Grundeigenschaft betrachtet, die
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es nicht zu pflegen, sondern zu überwinden gelte. Weit davon entfernt, ist sie heute, so belehrt uns nicht nur das Zitat, sondern besagen auch eine Reihe derzeit umlaufender Gegenwartsdiagnosen, die maßgebliche sozialpsychologische Ingredienz des fortgeschrittenen Teils der spätmodernen Weltgesellschaft. Auf die Untersuchung dieser Aussage kommt es mir in meinen Überlegungen an. Zunächst soll jedoch der vormoderne kulturgeschichtliche und konzeptuelle Hintergrund der Auffassung von Depression und deren Wandel im Übergang zur Moderne aufgehellt werden. In einem zweiten Schritt werde ich dann den konzeptuellen Wechsel von Melancholie zu Depression beleuchten. Erst anschließend werde ich ausführlich der Frage nachgehen, ob Depression als (die) sozialpsychologische Signatur der spätmodernen Gesellschaft (also der globalisierten westlichen Nachkriegsgesellschaft)1 gelten kann. Dieser zentralen Auseinandersetzung werde ich zum Schluss, viertens, eine Betrachtung darüber anfügen, ob Melancholie als Lebensgefühl eines die Globalisierung nicht nur passiv hinnehmenden, sondern aktiv human gestaltenden Subjekts Bedeutung und Zukunft haben kann.
■ Vormoderner kulturgeschichtlich-konzeptueller Hintergrund und der Übergang in die Moderne Zunächst, so ist festzuhalten, kennt die Geschichte das Konzept »Depression« noch gar nicht, obgleich ihr der damit verbundene Gehalt wohl bekannt war. Alles, was darunter heute verstanden wird – sowohl die Bedeutung von Lebensgefühl als auch von Depression –, firmierte zunächst unter »Melancholie«. Deshalb trägt ja auch Lepenies’ für unser Thema wegweisende Studie den Titel »Melancholie und Gesellschaft« (1969). Lepenies wählt einen soziologischen Zugang. Diesem zufolge gilt Melancholie als Form der Abweichung von der gesellschaftlichen Ordnung, die folglich zu korrigieren ist. Schon die bahnbrechende, im 17. Jahrhundert erschienene Arbeit Robert Burtons, »Anatomie der Melancholie«, 1 Zur Verwendung des Terminus »spätmodern« vgl. Busch (2001), S. 14f., Fn.
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die den neuzeitlichen Diskurs über Melancholie mitprägte beziehungsweise in Gang brachte und die auch in Lepenies’ Argumentation breiten Raum einnimmt, war von dieser Auffassung geprägt. Zwei Bedeutungslinien der Genese des Topos der Melancholie sind dort zu finden. Die eine, medizinisch-defizitär, nimmt ihren Ausgang bei Hippokrates im 5. Jahrhundert. Die zweite, aus der griechischen Philosophie herstammend, versteht Melancholie als innere Ausstattung von Genie, von großen, kritischen Geistern. Diese grundlegende Zweiteilung der Melancholie-Auffassung hält sich historisch grundsätzlich in verschiedenen Verkleidungen bis heute durch. Burton hingegen lässt sie in einer vergröberten Einheits-Lesart aufgehen. Sein Motiv war nicht in erster Linie die Auseinandersetzung mit der eigenen Melancholie; das Vertrautsein mit dieser Materie – und das Motiv, die eigene Melancholie zu bekämpfen – waren vielmehr die Voraussetzung für eine gleichsam sozialpsychologische Streitschrift mit aktuellem politischen Bezug. Er attestiert dem politischen System seiner Zeit eine typische Erstarrung; und er sieht in der »herrschenden Melancholie« den Ausdruck einer Sozialpathologie, einer Krankheit des Staates. Dem sich ausbreitenden Pessimismus gilt es, etwas entgegenzusetzen. Und so entwickelt Burton als »Gegengewicht gegen die herrschende Melancholie« (Lepenies 1969, S. 20) eine Utopie, einen »antimelancholischen utopischen Gegenentwurf« (S. 26). Er soll die Lähmung bekämpfen und Engagement und Lebendigkeit wiedererwecken. Diese Utopie hat, soviel kann ich hier nur andeuten, den Charakter einer dem Chaos resolut Einhalt gebietenden funktionalistischen Ordnungs-Utopie (in der alles minutiös geregelt ist). Melancholie, so lässt sich aus Lepenies’ Abhandlung, die bis ins 20. Jahrhundert ausgreift, generell schließen, tritt immer dann auf, wenn Stillstand statt Fortschritt, Resignation statt Hoffnung, Langeweile statt erfüllter Zeit, Tatenlosigkeit statt Tatendrang, Handlungshemmung und Reflexion statt aktivem Engagement herrschen. Auf den ersten Blick scheint das sich nicht mit der Mentalität prosperierender Globalisierung zu vertragen. Und in der Tat ist die kapitalistische Gesellschaft, wie Lepenies zeigt, auf antimelancholischem Grund gebaut; hypothetisch zugespitzt for-
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muliert und das Fazit einer klinischen Fallanalyse (s. Plänkers in diesem Band) aufgreifend, das sozialpsychologische Bewegungsgesetz der modernen bürgerlichen Gesellschaft lautet schlechthin »manische Abwehr von Depression«. Will sagen: Diese Gesellschaft kennt keinen Stillstand, keine Handlungshemmung, kein Verweilen – und darf es auch nicht; sie ist unentwegt tätig, verwirft und schafft unermüdlich neu, wirtschaftliches Wachstum und technischer Fortschritt sind oberstes Gebot. Es ist aber nicht so, dass diese Utopie, nämlich eine Leistungs-, Markt- und Fortschritts-Utopie, eins zu eins umgesetzt wäre. Zum Glück ist sie dies nicht. Und sie kann auch nicht Realität werden, weil Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten, Fehler, Risiken, Interessenkonflikte von diesem Gesellschaftsmodell notwendig miterzeugt werden und sein reibungsloses Funktionieren unterbinden. Aber das sozialpsychologische Prinzip einer solchen Gesellschaft ist: Melancholie darf nicht zugelassen, Melancholie muss verhindert werden. Warum ist das das Ziel einer Gesellschaft? Keiner verfällt aus freien Stücken in Langeweile, Resignation, Schwermut – das muss ihm also die Gesellschaft nicht erst klar machen. Es ist aber subtiler. Die Gesellschaft will ihre Defizite verschleiern und den Einzelnen davon abhalten, darauf zu kommen. Er könnte ja bemerken, dass durchaus Grund für diese Gefühle herrscht; am Ende könnte er gar – ganz und gar unmelancholisch – darauf verfallen zu rebellieren. Deswegen muss der Bürger unablässig beschäftigt werden, um nicht gelangweilt oder schwermütig zu sein – denn das könnte ihn ja so verdrießen, dass er auf Abwege gerät, gar auf Auswege sinnt. Lepenies (1998) macht ebenfalls auf diesen Zusammenhang aufmerksam, wenn er den Effekt der gegenwärtig schwindenden Erwerbsarbeit in der drohenden massenhaften Freisetzung melancholischer Dispositionen sieht. Die Herausforderung sei es, heute und in Zukunft, wie er in einem eher affirmativen Sinn der Kulturindustrie-These der Kritischen Theorie argumentiert, dass kompensatorisch künstliche Spannungen geschaffen werden, die das Verweigerungspotential der Melancholie gleichsam aufsaugen. Die entsprechende sozialpsychologische Strategie geht jedoch (wie das utopische Konzept) nicht vollends auf. Es gibt zumindest Einzelne, Sonderlinge, Flaneure, Intellektuelle, die sich den modernen Bewegungsgesetzen nicht unterwerfen, sich Genuss, Müßiggang,
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Bummelei und Reflexion hingeben, wenigstens partiell oder auf Zeit »aussteigen« – sich, so könnte man sagen, in ihrer Melancholie einrichten. Nun merkt man an dieser Stelle auch, dass auf diesem Weg kein vollständiges sozialpsychologisches Bild der Melancholie zu bekommen ist. In der bisherigen, zwar durchaus plausiblen, jedoch recht holzschnittartigen Darstellung verschwimmen die unterschiedlichen Facetten des Melancholie-Begriffs allzu sehr. Denn was ist schließlich mit der Großzahl derer, deren melancholische Stimmungen nicht zu einem gesellschaftlichen Distinktionsgewinn (fast einem sozialen Kapital) führen oder unter Verschluss gehalten werden, sondern sich so verschärfen, dass es zu einem gravierenden Verlust an solchem sozialen Kapital kommt: den ernsthaft melancholisch Kranken?
■ Von der Melancholie zur Depression Schon bei Burton (Ausgabe 2003, S. 97ff.) ist Melancholie eine Pathologie – wenn auch eine soziale, noch nicht eine psychiatrische Pathologie –, die zu bekämpfen ist. Aber die Mittel dafür liefern bei ihm Sozialreform und Utopie. Die Problemstellung ist – wenn man so will – psychosozial, noch nicht psychiatrisch. Man kann sagen, dass die Melancholie als Lebensgefühl und die Melancholie als Krankheit noch nicht wirklich unterschieden sind – auch wenn es die entsprechende Unterscheidung schon gibt. Diese Ausdifferenzierung vollzieht sich erst mit der allmählichen Etablierung der modernen bürgerlichen Gesellschaft, wobei der psychopathologische Diskurs langsam, aber sicher die Oberhand gewinnt. Der ordnende, analytische Blick der Aufklärung richtet sich auch auf das Innere der Menschen und wird psychiatrisch.2 Freuds Leistung war es dann, Melancholie als Weltverlust und als selbstbestrafenden Rückzug aufs eigene Ich infolge nicht gelungener Trauer wis2 Die bürgerliche Innerlichkeit (als ein poetisch-emphatisches Lebensgefühl) ist nur kurze Episode, über die der Fortschritt schnell hinwegeilt. In der Folge wird Melancholie, wie Lepenies an der psychiatrischen Literatur des 20. Jahrhunderts zeigen kann, mehr und mehr eine Raum-Metapher.
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senschaftlich zu bestimmen (vgl. Freud 1916–17g). Erst wo ein ausgeprägtes psychisches »Ich« ist, kann Melancholie vom Körpersaft zum genau umrissenen Bestandteil einer psychischen Innenausstattung werden. Melancholie hat nun einen verschärften Charakter bekommen; dem soziologischen (und sozialpsychologischen?) Zugang ist sie, wie Lepenies treffend bemerkt, versperrt. Das, was bisher, als Lebensgefühl, unter dem Rubrum Melancholie firmierte, gleicht doch – würde ich sagen – mehr dem passageren Seelenzustand, den Freud als Trauer abgehandelt hat. Aber sie ist auch mehr – vielleicht eine Art Dauertrauer, ein Weltschmerz ohne die aggressive Wendung gegen die eigene Person, gar mit einem gewissen Behagen einhergehend. Dies ist die Stelle, um sich für das Weitere schon einmal die begriffliche Lage zu vergegenwärtigen. Deren Unübersichtlichkeit hat J. Kristeva (1987) dazu veranlasst, von einem zusammengesetzten Gebilde »melancholisch/depressiv« zu sprechen, dessen Grenzen unscharf sind. Darin hat die psychiatrisch definierte Melancholie, endogen-psychotisch, nur pharmakologisch der Therapie zugänglich, ihren eigenen Platz; neben ihr ist die neurotische postiert, deren Behandlungsort nicht die psychiatrische Klinik, sondern die psychotherapeutische Praxis ist. Außerhalb dieses klinischen Definitionsbereichs ist dann die allgemeine Melancholie als ein menschliches Grundgefühl angesiedelt. Die Dinge haben sich dadurch noch kompliziert, dass die Verwendung des Wortes Melancholie heute kaum noch vorkommt. Auch der Titel dieses Bandes zeigt das. Die klinische Terminologie, die inzwischen komplett von Melancholie auf Depression umgeschaltet hat, schlägt ihrerseits auf den Alltag durch und gibt dem Lebensgefühl seinen Namen. Während Depression ihren Siegeszug zur psychiatrischen und seelischen Leitkategorie der späten Moderne angetreten hat und wohl jeder schon einmal mit der Artikulation einer depressiven Gestimmtheit den Gesprächsfluss zu beleben versucht hat, fristet Melancholie nun ein etwas angestaubtes Dasein als Begriff für eine weltfern-verstiegene, existentiell angegriffene, gedrückte Stimmung, die nicht mehr so recht ins gegenwärtige Zeitalter passen will.
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■ Depression als sozialpsychologische Signatur der spätmodernen Gesellschaft? Damit wären wir also beim Heute angelangt. Für die gegenwärtige, spätmoderne Gesellschaft sind zahllose diagnostische Etikette verwendet worden. Risikogesellschaft, Wissensgesellschaft, Dienstleistungsgesellschaft, Konsumgesellschaft sind einige davon. Für ihre innere Verfassung scheinen Begriffe wie Erlebnisgesellschaft, gar Spaßgesellschaft, zu stehen. Der dahinter stehende sozialpsychologische Grundton, das scheint sich mehr und mehr herauszuschälen, ist jedoch Depression. In der in ihrer Weitsichtigkeit gar nicht genügend gewürdigten Analyse der vaterlosen Gesellschaft Alexander Mitscherlichs kündigt sich das ja bereits konkret an. Und das scheinen nicht nur die klinischen Diagnosen zu belegen, die weltweit, und »auf breiter Front«, also bei Jungen und Alten, Frauen und Männern, eine Zunahme der Depression verzeichnen und einen weiteren Anstieg prognostizieren. Haben diese aber tatsächlich Aussagekraft als Beschreibung des Seelenzustandes der Gesellschaft? Ist Depression (in einem vom psychopathologischen Verständnis nicht mehr zu unterscheidenden Sinn) also wirklich die Innenseite von Globalisierung und Individualisierung? Verschiedene Autoren behaupten das. Unternehmen wir eine kleine diesbezügliche Erkundungsreise und beginnen sie gleich hier in der Nachbarschaft. Da legt Axel Honneth (2002), der Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, eine sehr treffende und instruktive Zustandsbeschreibung der gegenwärtigen Gesellschaft vor. Vor 40 bis 50 Jahren habe sich aus Traditionsbeständen der Romantik, Einflüssen der Rockmusik und bestimmter Romane Hermann Hesses und Henry Millers, Wirkungen der elektronischen Medien und dem drastischen Wandel der Arbeitswelt ein neuer Individualismus gebildet. Anfangs noch emanzipatorisch gestimmt, verdichteten sich dessen Motive im Lauf der Entwicklung immer mehr zu einem Anspruchssystem, das sich gegenüber den Einzelnen verselbständigte (und ihnen äußerlich wurde). Etwas schief formuliert: Die Lust der Selbstverwirklichung wurde mehr und mehr zur auferlegten Last. Der Freiheit, sich zu binden, steht die ständige Gefahr des Verlusts von partnerschaftlichen und familialen Beziehungen und
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die Mühsal einer Single-Existenz, auf ständiger Suche nach Bindung und Halt, gegenüber. Von den Medien und der Werbung werden Selbst-Bilder und Lebensmuster vorgeführt, die prägenden Charakter annehmen und zum Nacheifern anstacheln. Dadurch wird die Unruhe des eigenen Lebensentwurfs immer in Gang gehalten und die lineare Gemächlichkeit und Voraussagbarkeit klassischer Existenzen der bürgerlichen Gesellschaft außer Kraft gesetzt. Vor allem aber hat im Wirtschaftsleben ein Wandlungsprozess stattgefunden, der immer mehr auf die Flexibilität vereinzelter Wirtschaftssubjekte setzt, die sich den unentwegt sich ändernden Anforderungen des Markts geschmeidig anpassen. Die Tugenden individueller Verantwortung, persönlicher Einsatzbereitschaft und so weiter greifen fortschrittliche Forderungen des bürgerlichen Persönlichkeitsideals auf, verwandeln sie aber zu AnForderungen, deren Nicht-Erfüllung die Berufskarriere, die vorher selbstverständliche Grundlage politischer Teilhabe und persönlicher Teilnahme war, nachhaltig gefährdet. All das hat, wie Honneth seinen Befund mit Boltanski und Chiapello bilanziert, dazu geführt, »dass sich … der vor einem halben Jahrhundert allmählich herangewachsene Individualismus der Selbstverwirklichung durch Instrumentalisierung, Standardisierung und Fiktionalisierung inzwischen in ein emotional weitgehend erkaltetes Anspruchssystem verkehrt hat, unter dessen Folgen die Subjekte eher zu leiden als zu prosperieren scheinen« (Honneth 2002, S. 154).
Honneth schließt nun, und damit kommen wir wieder zu unserem Thema im engeren Sinn zurück, die Vermutung an, diese Verwicklungen und Verkehrungen ihrer Bedürfnisse in äußere Ansprüche würden auch in den Individuen Spuren hinterlassen. Es seien deutliche Zeichen neuartiger Formen sozialen Unbehagens und Leidens zu beobachten. Diese Zeichen zu entziffern, haben der französische Soziologe Alain Ehrenberg (2000) und seine Kollegin, die Historikerin der Psychoanalyse, Elisabeth Roudinesco (1999), unternommen. Beide beurteilen die gegenwärtige, spätmoderne Gesellschaft als »depressive Gesellschaft«. Typisch für die sie bevölkernden Subjekte seien nicht mehr, wie noch zu Zeiten Freuds, tragisch-konflikthaf-
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te Existenzformen, in denen Triebwünsche und gesellschaftliche Normen unausweichliche Kollisionen hervorrufen, die zu neurotischen Verarbeitungsformen führen; die typische Lebensweise der Subjekte bestehe heute vielmehr in der zunächst authentisch angestrebten, dann aber mehr und mehr gesellschaftlich erwarteten und geforderten Entfaltung und Präsentation des eigenen Selbst, der vollständigen Übernahme der Verantwortung für den eigenen Selbst-Entwurf und sein Gelingen. Dass wir die offizielle Rede von der »Ich-AG« so widerstandslos geschluckt und ins Vokabular aufgenommen haben, ist ein Indiz für die Richtigkeit dieser Einschätzung. Das habe, so schließen Roudinesco und Ehrenberg weiter, zu einem charakteristischen Symptomwandel geführt. Das heutige Subjekt leide weniger an neurotischen Verstimmungen. Es verstoße, sei es in der Phantasie, sei es in der Realität, nicht so sehr gegen Normen, als dass es ihnen nicht mehr gerecht zu werden vermöge. Ausgelaugt vom unaufhörlichen Druck, sich als Selbst auf dem Markt anzubieten, verliere das Subjekt seine Motivation; von Antriebslosigkeit, von »Müdigkeit, man selbst zu sein« (Ehrenberg 2000), befallen, drohe es in Depressionen zu versinken und handlungsunfähig zu werden. Erinnert man sich an eine emphatische Formel Herbert Marcuses, so könnte es einem in den Sinn kommen, hier eine »schweigende« neue soziale Bewegung der kleinen, vielleicht aber auch einmal »großen Weigerung« am Werk zu sehen. Aber diesen Optimismus teilen Roudinesco und Ehrenberg nicht. (Und er ist auch einstweilen sicher nicht am Platz.) Bei ihnen tun beziehungsweise geben die Subjekte alles, um nicht depressionsbedingt aus dem Rennen auszuscheiden. Die Bewegung, die gegenwärtig im Gang ist, ist nicht auf Weigerung aus; sie sagt vielmehr der Depression den Kampf an und will sie eliminieren. Dass heute allerorten, also auch fern der psychotherapeutischen Praxis, von Depression die Rede ist, hat auch den Sinn einer (inner-)gesellschaftlichen Feinderklärung.3 Depression wird zum lästigen Störenfried, der, wie der Stress-Kopfschmerz, in pharmakologischer Eigenbehandlung vertrieben werden kann. Die Phar3 Es könnte aber auch bedeuten, dass wir unseren Psychotherapeuten immer im Kopf haben, es selbst sind und damit die gesellschaftliche Tendenz verinnerlichen.
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maindustrie arbeitet, wie die beiden Autoren meinen, maßgeblich an einem Menschenbild mit, demzufolge wir uns über naturwissenschaftlich erzeugte Techniken selbst steuern. Schönheit, Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Potenz, Jugend, all diese vom präsentativen Selbst angestrebten Eigenschaften verspricht uns die moderne Pharmakologie und Medizin. Diese Auffassung vom Menschen, die gelegentlich auch absichtsvoll »posthuman« genannt wird, hat sich längst verbreitet und eine besondere Konjunktur in der Humangenetik erfahren – sie läuft auf eine Neu-Herstellung beziehungsweise Neu-Modellierung des Menschen hinaus. (Der Gedanke wäre eine Erörterung wert, ob nicht dies die Ursache neuer Depression, infolge prometheischer Scham etwa, sein könnte.) Die historische Schwäche der Psychoanalyse heute, so folgert insbesondere Roudinesco, hänge genau mit diesem Symptom- und Subjektwandel zusammen. Depressionen neigen dazu, anders als Konfliktneurosen, sich der analytischen Bearbeitung zu entziehen. Einfacher gesagt: Die Subjekte schauen heute nach vorn und nicht mehr zurück. Benjamins Allegorie vom Engel der Geschichte (vgl. Haubl in diesem Band, dessen Benjamin-Lektüre ich auch im Weiteren folge) scheint heute unzeitgemäßer denn je. Die These, die heutige Gesellschaft sei von Depression gekennzeichnet, hat gewiss etwas für sich. Aber doch bleiben Unklarheiten bestehen. Erinnern wir uns der zuvor unternommenen terminologischen Klärungsversuche. Danach haben wir es mit einem klinisch auffälligen Typ von Depression zu tun, der grob in zwei Varianten, einer schweren und einer weniger schweren (neurotischen), vorkommt. Ferner gibt es ein Lebensgefühl gleichen Namens, weniger stark, weniger vorherrschend – und daher nicht pathologisch. Ist es dann aber signifikant genug, um den Namen Depression zu verdienen? Ist es nicht eine Mode? Ist es ein »kombiniertes« Lebensgefühl, also eines, das gemeinsam oder gemischt mit Freude, Genuss, Leidenschaft und so weiter auftritt? Oder hängt es gar mit einem kulturellen Grundgefühl zusammen, das noch nichts mit pathologischer Depression zu tun hat? Bei unseren beiden französischen Autoren, die uns bisher so sehr angeregt haben, kann man zur Beantwortung dieser Frage keine Hinweise finden.
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Angesichts der vernichtenden Diagnose, die Roudinesco der gegenwärtigen Gesellschaft stellt, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie sich in ihrer eigenen Argumentation aporetisch verstrickt. Die Klage, die sie gegen die depressive Gesellschaft führt, gerät ihr so eindringlich und »wasserdicht«, dass sie selbst zu deren Gefangenen wird. Das Buch ist ein einziges Betrauern des Verlustes des Subjekts, seiner Triebkonflikte, Hysterien, denen es sich mithilfe der Psychoanalyse stellt. Konflikte werden dagegen heute nicht mehr wahr-, Psychoanalyse nicht mehr in Anspruch genommen. Wo man hinschaut: Depression. Die denkerische Trauerarbeit der Autorin führt nicht aus der Trauer heraus; als auf Dauer gestellte wird sie somit selbst Melancholie, Depression. Nun will ich nicht bestreiten, dass biographische und gesellschaftliche Situationen denkbar sind, die keinen anderen Ausweg als Resignation, Melancholie, gar Suizid zulassen. Aber sind wir heute in einer solchen Situation? Ich denke, nein. Und wir tun gut daran, unübersehbare Tendenzen nicht zu einem totalisierenden Bild aufzublähen und ihm, wie im Konstrukt der »depressiven Gesellschaft«, hermetische Züge zu verleihen. Vielleicht sollten wir, der Klarheit halber, in der Terminologie etwas zurückstecken und das Wort von der »depressiven« Gesellschaft überdenken. Es ist meines Erachtens ein altes Übel psychoanalytisch-sozialpsychologischer Zeitdiagnose, zwischen der individualpathologischen und der sozialpathologischen Ebene umstandslos schlussfolgernd hin und her zu wechseln.4 Zunächst ist zu berücksichtigen, dass Depressionen allenfalls die Folge von Sozialpathologien sein können, nicht diese selbst oder deren bloßes Abbild.5 Aber auch die Einstufung der seelischen Verfassung der in der spätmodernen Gesellschaft lebenden Menschen als depressiv ist meines Erachtens nicht weiterführend. Wir können 4 Die Lehre vom Sozialcharakter, wie sie in der Kritischen Theorie verbreitet wurde, ist davon bereits affiziert und der Befund eines »narzisstischen Sozialisationstyps« ebenfalls. 5 Ist die Gesellschaft krank, so sind es auch ihre Mitglieder, legte der Soziologe Hans-Peter Dreitzel schon 1968 (Ausg. 1972, S. 10) den tautologischen Kern solchen sich zum gegenwartsdiagnostischen Richter aufspielenden Denkens frei, das sich dann auch nur in der Ausweglosigkeit des ganz und gar schlechten Gegenwärtigen ergeht.
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natürlich die Zunahme des entsprechenden Krankheitsbildes bewerten; aber wir können es nicht der großen Mehrheit der nicht depressiv Erkrankten überstülpen.6 Dass depressive Stimmungen zum alltäglichen Lebensgefühl der Menschen, jenseits der klinischen Auffälligkeit, gehören, reicht dazu nicht aus. Möglicherweise ist es auch ratsam, für dieses Lebensgefühl einen anderen Ausdruck zu finden. Da wir uns auf dem Gebiet der Sozialpsychologie befinden, haben wir es, wie Freud darlegte, nicht mit individuellem neurotischem Elend, sondern mit »gemeinem Unglück« zu tun. Aufgabe der Psychoanalyse, so stellte er klar, sei es, von Ersterem zu befreien. Die Leiden an unserem Los als Kulturteilnehmer zu beheben, stehe dagegen nicht in ihrer Macht. Später hat Freud die entsprechende charakteristische Grundstimmung des Kulturmenschen theoretisch genauer ins Auge gefasst und »Unbehagen in der Kultur« genannt. Dieses Unbehagen in der Kultur teilt mit der Depression viele Züge, ohne doch mit ihr identisch zu sein. Es bildet meiner Ansicht nach nach wie vor und mehr denn je das Zentralmassiv einer psychoanalytisch-sozialpsychologischen Gegenwartsdiagnose. Ich trete damit einer heute verbreiteten Auffassung entgegen, Unbehagen in der Kultur habe mittlerweile, infolge der gewonnenen sexuellen Freiheit, seine Konfliktgrundlage verloren und sei deshalb im Schwinden begriffen. Unbehagen in der Kultur zielte aber auf einen ganz anderen Konflikt, der, wie Freud zu Recht prognostizierte, die Menschheit heute zutiefst beschäftigt und beunruhigt. Freud meinte den Kampf zwischen zerstörenden und erhaltenden, verbindenden, liebenden Kräften in der Kultur. Die nationalsozialistische Barbarei und der Zweite Weltkrieg sowie eine Kette von weiteren Kriegen, Atomwaffenarsenale, Terrorismus und Umweltzerstörung haben den Kontostand an innergesellschaftlicher Destruktivität gegenüber Freuds Zeiten noch erheblich anwachsen lassen. Unbehagen in der Kultur erwächst, laut Freud, nicht so sehr aus sexueller Frustration, sondern aus unter6 Epidemiologische Erkenntnisse wie die der Mannheimer Langzeitstudie (Franz, Lieberz u. Schepank 2000) besagen nur, dass in der Normalbevölkerung Depression latent weiter verbreitet ist, als es die aktuellen Krankheitsstatistiken ausweisen.
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drückter Aggression. Damit Kultur funktioniert, floriert, muss Aggression zurückgehalten, gebremst, gebändigt werden (wie das zum Binnensee abgedämmte Meer). Sie ist aber nicht verschwunden, sondern bleibt innerlich unerledigt, spürbar. Sie kann nicht nur jederzeit ausbrechen; sie breitet sich auch durch unser Mitwirken wie auch bloßes Zuschauen und Gewährenlassen um uns herum aus. Unbehagen in der Kultur ist der Name für eine gedrückte Stimmung, die aus dem Ver-Spüren einer innerlich angesammelten, aber nicht angemessen artikulierbaren Aggression stammt. Und diese innere Stimmung ist meines Erachtens heute umso viel stärker vorhanden, weil zusätzlich die friedliche, technisch-industrielle Entwicklung, ja unsere technisch-konsumistische Alltagslebensweise ebenfalls unser umweltzerstörerischselbstdestruktives Wirken offenbaren. Das Trümmerfeld, auf das der benjaminsche Engel der Geschichte heute zurückblickt, ist noch um ein Vielfaches gewachsen. Vor allem aber hat sich der naive prometheische Optimismus, den Freud noch hegte, nicht bewahrheitet, der allen Ernstes meinte, die Aggressionen könnten leicht auf den Kampf gegen die Natur umgeleitet werden. Das ist inzwischen eine ganz schlechte Idee. Und auch wenn der infolge grassierender Destruktivität drohende kollektive Suizid der Gattung (zu denken wäre heute etwa an den gezielten, massiven Einsatz von Computer-Viren, bakteriellen Terrorismus, private Atomwaffen, Mini-Nukes etc.), den Sozialpsychologen wie Richter und Lifton ins Bewusstsein rücken, abgewendet werden sollte, so droht doch die Heraufkunft eines posthumanen Zeitalters, durch das unsere prometheische Scham auf die Spitze getrieben würde. Von »prometheischer Scham« spricht Günter Anders. Sie entsteht aus dem Gefühl des Zurückbleibens, der Minderwertigkeit des Menschen im technischen Zeitalter gegenüber seinen Apparaten, Geräten, Produkten. »Mensch, was die kann«, diesen Ausruf legte Anders (1983, S. 28) schon Anfang der 1960er Jahre dem vor Bewunderung vor der »computing machine« (statt vor einer schönen Frau, Landschaft, Musik …) in die Knie gehenden kleinen »Prothesengott«, als den Freud (1930a, S. 222) den technisch fortgeschrittenen Kulturmenschen in treffender Ironie charakterisierte, in den Mund. Er fühlt sich nicht nur klein und unperfekt gegenüber den technischen Dingen, ihn wurmt die nicht
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verwundene Einsicht, nur geboren, nicht gemacht zu sein. Statt sich darüber zu schämen, was er alles gemacht hat (denn er ist ja letzten Endes »Schöpfer dieser Dinge« – wie Klaus Horn 1985 formulierte), schämt sich unser kleiner Prothesengott, nicht selbst perfekt gemacht zu sein. (Und er wird nicht ruhen zu versuchen, sich selbst herzustellen.) Prometheische Scham ist also in anderen Worten ein gänzlich unangebrachter »Kleinheitswahn«. Von »Kleinheitswahn« sprach schon Freud in seiner grundlegenden Arbeit »Trauer und Melancholie«. Dieses hinter allem großen Gehabe steckende Gefühl der Minderwertigkeit und Selbstherabsetzung ist nicht die einzige Plage, unter der das spätmoderne Selbst leidet. Immer klarer wird erkennbar, dass die Menschen sich heute eine Welt eingerichtet haben, in der sich Gefühle der Heimat- und Orientierungslosigkeit, Einsamkeit und Kleinheit ausbreiten, was sie sich natürlich selten und nur ungern eingestehen. Vater- und elternlos – so könnte man zugespitzt sagen – irren sie durch dieses Gefüge von Systemen und Lebenswelten und basteln mehr oder weniger freudlos und verbittert am Patchwork ihrer Identität. Der Wegfall der Gottesvorstellung, von Traditionen, Orientierungen, Bindungen, viel beklagt, kann auch als ein einziger großer Objektverlust (gewissermaßen ein Weltverlust) verstanden werden. Diesen erfolgreich zu betrauern, ist den spätmodernen Individuen kaum möglich. Die Trauer wird chronisch, bekommt depressionsartige Züge. Das ist die weitere Facette von Unbehagen in der Kultur, die die Innenausstattung der Menschen heute aufweist. Noch auf eine andere Weise offenbart sich ein Zusammenhang von Unbehagen und depressiver Stimmung. Freud hatte die kriegerischen Taten der Völker und das Anwachsen dieses Gefahrenpotentials als einen aktuellen Grund steigenden Unbehagens bereits ins Blickfeld gerückt. Immer mehr wird ja heute – im Zeitalter der Globalisierung – klar, dass wir alle zusammen eine Weltgemeinschaft bilden – in vollständiger Inklusion (wie Habermas 1998 es einmal genannt hat). Ein nuklearer Schlag oder Super-Gau hat ebenso weltweite, alle betreffende Folgen wie die Schadstoffbelastung der Atmosphäre durch automobile Aktivitäten, an welchem Punkt des Erdballs und durch welches noch so einzelne Individuum auch immer. Die Produktion von Vernich-
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tungswaffen und von Schadstoffen durch tägliche Arbeit und Lebensaktivität (als pure Folge von Zivilisation sozusagen) ist, sozialpsychologisch gesehen, Teil eines Zirkels. Die depressionsförderliche Beziehungsarmut, die wir empfinden, sorgt für eine Dumpfheit und Apathie, die es uns erlaubt, die beschriebene Praxis unberührt mit zu vollziehen oder doch jedenfalls über uns ergehen zu lassen. Mehr noch, unterschwellig manifestiert sich hier ein Selbsthass, der die ungeliebte, resonanzlose Welt und sich als Teil darin aufs Korn nimmt. Erinnern wir uns des Eingangszitats des Amerikaners, das die Aufmerksamkeit auf die Suizidrate richtete. Vor dem Hintergrund eines durchaus bekannten, aber ausgeblendeten, Untergangsszenarios schreitet die multipel riskante Praxis alternativlos fort. Es ist, als wünsche man sich unbewusst dereinst die große, umfassende Strafe – sieht man sich an, wie konsequent darauf hingearbeitet wird. Noch gar nicht berücksichtigt ist dabei die Angst, die der globale Terrorismus in seiner perfiden Kombination von Vernichtung anderer und suizidaler Autodestruktion in den letzten Jahren ausgelöst hat. Sie unterminiert weiterhin das ohnedies schwindende Weltvertrauen und fördert Aggression und depressive Stimmung.
■ Das Lebensgefühl Melancholie als wichtiger Bestandteil von Subjektivität Ich habe einige Zusammenhänge zu erfassen versucht, in denen sich Unbehagen und depressive Gestimmtheit heute verstärken und verbreiten. Und zweifellos haben wir hier ein Lebensgefühl vor uns, gekennzeichnet von gedrückter, pessimistischer Stimmung infolge unverarbeiteter Destruktivität, fehlender Bindungen, mit insgeheimen Selbstvorwürfen verknüpft. Ist das schon alles, was zum heutigen Lebensgefühl in Zusammenhang mit dem Thema »Depression« gesagt werden kann? Zum Glück ist unsere gegenwärtige Lebensstimmung nicht nur von Düsternis geprägt. Sollten also meine Darlegungen reichlich finster gewirkt haben, so will ich am Ende doch den Blick auf die hellere Seite unseres Innenlebens richten.
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Freud (1927c, S. 186) hatte in einem der Momente, in denen er sich traute, in der Hoffnungslosigkeit Fuß zu fassen (Benjamin), für die Zukunft auf die »Stimme des Intellekts« gesetzt, die zwar leise sei, sich aber doch nach und nach Gehör verschaffen werde. Wie und wo kann man denn diese Stimme des Intellekts heute finden? In aller Regel ist derjenige, der dafür infrage kommt, ihr Ausdruck und Gewicht zu verleihen, der Intellektuelle. Dieser Intellektuelle ist heute viel gescholten, eine fast in Verruf geratene Spezies. Lepenies, der sich über die Rolle des Intellektuellen und seine aktuelle Funktion viele Gedanken gemacht hat, hat immer wieder den Zusammenhang von Intellektualismus und Melancholie betont. In der europäischen Neuzeit lässt sich das von Burton an verfolgen. (Auch Luther ließe sich als ein frühes Beispiel anführen.) Die einen beantworteten den Missmut über die gesellschaftlichen Missstände mit dem Entwurf von Utopien, die auch die Funktion der inneren Entspannung übernahmen. Diese Linie lässt sich bis hin zur Studentenbewegung und zu Ernst Bloch ziehen. Die anderen verharrten in der reflexionsbedingten Handlungshemmung, verbunden mit einer utopielosen Melancholie und waren damit ihrer Gesellschaft auch keine rechte Hilfe. Dem Europa unserer Zeit, nach 1989, bescheinigt Lepenies (1998, S. IX) die »Wiederkehr der Melancholie« nach dem »Ende der Utopie«. Und er fordert angesichts dessen einen Intellektuellen, der sich, ohne utopisch zu überborden, aus der Handlungslähmung befreit und aktiv wird. Damit stößt er auf die von Freud eingeschlagene Spur. Indes ist sie von diesem doch breiter angelegt worden. Und er hat uns ein Verfahren an die Hand gegeben, dass erheblich zur Mehrung von Subjektivität beitragen kann. Der Paradefall einer produktiven Paradoxie, dass, infolge Handlungshemmung, Handlungsfreiheit neu erzeugt und entbunden wird, liegt in der Psychoanalyse als außeralltäglicher sozialer Praxis mit gleichwohl paradigmatischem Charakter vor. Diese bricht der Stimme des Intellekts Bahn, ebnet aber nicht überschwänglicher Utopie den Weg. Sie bringt aufklärerisches Licht ins innere Haus, dessen Herr wir jedenfalls soweit werden müssen, um dem allgemeinen Unglück ins Gesicht zu sehen und Not zu wenden.7 (Aber vielleicht 7 Ich will damit nicht die Psychoanalyse zum Zentrum einer politischen
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ist das ja auch eine – psychoanalytische – Utopie.) Melancholie – so würde ich in diesem Sinn nunmehr argumentieren – wird in der Moderne zunehmend zu einem erwünschten oder gar erforderlichen Lebensgefühl, das sich vor dem Abgleiten in Depression bewahrt und davor zu bewahren ist, Lust und Leid miteinander vermittelt erlebt und – vor allem – erleben kann. Darin liegt die Wahrheit auch der von mir ansonsten nicht bevorzugten kleinschen Terminologie der »depressiven Position«. Das impliziert aber auch eine terminologische Entscheidung, die ich zur Klärung vorschlage. Danach ist Depression, leicht oder schwer, neurotisch oder psychotisch, ein klinischer, ein pathologischer Begriff. Melancholie hingegen ist die nichtklinische Verwandte der Depression, ein vor- oder außerpathologisches Lebensgefühl, an dessen Entwicklung und Schutz Psychoanalyse als erste interessiert ist. Auch dieses Lebensgefühl, das sich durch einen offenen und entspannten Umgang mit Unbehagen in der Kultur auszeichnet, kann beeinträchtigt sein, durch innere Unzulänglichkeit oder durch antimelancholische soziale Strategien. In solcher Beeinträchtigung besteht die Gefahr der Depression; und die Tatsache ihrer Zunahme heutzutage hat sicher damit zu tun. Nun kann man die Psychoanalyse nicht zu einer Sozialtherapie, nicht einmal der der Intellektuellen, machen. Psychoanalytische Sozialpsychologie kann aber, anhand dieses Modells, Hinweise geben auf gewisse Ausstattungsmerkmale eines solchen Intellektuellen wie auch eines einer verantwortlichen, sinnlich-reflektierten Praxis verpflichteten Subjekts generell. Die Haltung des Intellektuellen, eines derartigen Subjekts überhaupt, versinnbildlicht durch den Engel der Geschichte, zeigt sich der Erinnerung an die in der Vergangenheit angehäufte Schuld fähig und gewachsen; und er ist der Natur in sich selbst und um sich herum eingedenk, sorgt sich ernsthaft um Frieden und Gerechtigkeit weltweit, strebt nach Geschlechterdemokratie.8 Zugleich, oder dies alles praktizierend, hält er an einer vagen Vorstellung von Glück fest – fast nach Art eines 8 Strategie der reflexiven Moderne machen. Aber ich will doch jedenfalls eine Antwort geben auf jene Stimmen, die wieder das Veralten der Psychoanalyse betonen. 8 Diese Merkmale zeichnen nach Giddens – so wie ich ihn lese (vgl. Busch 2001, S. 51ff. u. 255ff.) – ein lebenspolitisch engagiertes Selbst aus.
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»credo, quia absurdum«. Das zusammen, in gegenseitiger Spannung zu halten, kennzeichnet den Melancholiker – Rolf Haubls Benjamin-Lektüre zufolge (Haubl in diesem Band); er erinnert sich noch an das Paradies, obwohl er der historischen Trümmerlandschaft angesichtig ist. Und es kommen in Benjamins Denken – wie Haubl ebenfalls zeigt – auch Heimat und Utopie (als verlorene, aber erinnerte Paradiese) vor. Anders als bei Bloch wird die Utopie aber nicht konkret, sondern bleibt allenfalls unerreichbarer Leitstern am Firmament. Der Melancholiker gibt sich nicht der Hoffnung hin, sondern fasst im Hoffnungslosen Fuß. Das heißt, er ist bei den Hoffnungslosen, bezeugt Leid (ohne Hoffnung, Änderungsimpulse) bis zum letzten Atemzug. Freilich ist das überaus Riskante solcher melancholischer Existenz, der drohende Umschlag in (finale, suizidale) Depression zu betonen, wie ihn ja Benjamin erleben musste (vgl. Haubl in diesem Band). Deshalb fragt es sich, ob ein Leben in melancholischer Haltung denkbar ist, das nicht nur auf des Messers Schneide balancierend existiert, das sich durch regelmäßige Erleichterungen dem Sog der Depression zuverlässig entziehen kann? Anders gefragt: Wenn der Engel der Geschichte noch eine Ahnung vom Paradies hat, hat er dann nicht eine Spur Hoffnung, die mehr bedeutet als das bloße Fußfassen im Hoffnungslosen? Kann er nicht in den Augenblicken des Lebens auch sinnliche und geistige Erfüllungen finden, die tragen? Sind es nicht die auratischen Momente der Blick- oder sonst wie gearteten sinnlichen Verschmelzung (die ja Benjamin auch schon hervorhob) – das, was Ludwig Feuerbach schwärmerisch (und geradezu hemdsärmelig) auf die (allem späteren Intersubjektivismus voranleuchtende) Formel brachte: »Im Ich und Du werden wir zu Göttern«? Der Glanz im Auge der Mutter ist solch eine biographische Wegzehrung. Solchen Erfüllungen kann das seiner Melancholie nicht vollkommen erliegende Subjekt sich umso leichter hingeben, wenn es seinem neurotischen Elend entronnen ist oder ihm nie begegnen musste. Dann kann es sich auch mit der nötigen melancholischen Standhaftigkeit, verbunden mit Handlungsfähigkeit (und natürlich Bindungsfähigkeit), an der Milderung und Minderung von »gemeinem Unglück« versuchen. Diesen Weg zu unterstützen und zu gehen, ist das Interesse psychoanalytischer Sozialpsychologie. Und ich hoffe, sie kann auch
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künftig Beiträge zu diesem Thema liefern und dafür Interesse und Rückhalt finden.
■ Literatur Anders, G. (1983): Die Antiquiertheit des Menschen, Bd.1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten Industriellen Revolution. 6. Aufl. München. Barnett, T. P. M. (2003): Die neue Weltkarte des Pentagon. Frankfurter Rundschau vom 25. 6. 2003. Burton, R. (2003): Die Anatomie der Schwermut. Frankfurt a. M. Busch, H.-J. (2001): Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Konzeptuelle Schwierigkeiten und Möglichkeiten psychoanalytisch-sozialpsychologischer Zeitdiagnose. Weilerswist. Dreitzel, H.-P. (1968): Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Gek. Taschenbuchausg. Stuttgart, 1972. Ehrenberg, A. (2000): Depression. Die Müdigkeit, man selbst zu sein. In: Hegemann, C. (Hg.): Kapitalismus und Depression. 1. Endstation Sehnsucht. Berlin, S. 103–139. Franz, M.; Lieberz, K.; Schepank, H. (2000) (Hg.): Seelische Gesundheit und neurotisches Elend. Der Langzeitverlauf in der Bevölkerung. Wien u. a. Freud, S. (1916–17g): Trauer und Melancholie. G. W. Bd. X. Frankfurt a. M., S. 427–444. Freud, S. (1927c): Die Zukunft einer Illusion. G. W. Bd. XIV. Frankfurt a. M., S. 323–380. Freud, S. (1930a): Das Unbehagen in der Kultur. G. W. Bd. XIV. Frankfurt a. M., S. 419–506. Habermas, J. (1998): Die postnationale Konstellation. Frankfurt a. M. Honneth, A. (2002): Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung. In: Honneth, A. (Hg.): Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus. Frankfurt a. M., S. 141–158. Horn, K.; Lorenzer, A. (1985): Vorwort. In: Busch, H.-J.: Interaktion und innere Natur. Sozialisationstheoretische Reflexionen. Frankfurt a. M. Kristeva, J. (1987): Black Sun. Depression and Melancholia. New York, 1989. Lepenies, W. (1969): Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt a. M. Lepenies, W. (1998): Neue Einleitung: Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie. In: Lepenies, W.: Melancholie und Gesellschaft. Neuaufl. Frankfurt a. M., S. VII–XXVII. Roudinesco, E. (1999): Wozu Psychoanalyse? Stuttgart, 2002.
■ Dagmar von Hoff
Das Leuchten des Abgrunds Robert Musil und Vladimir Nabokov – Das Dunkle des Gemüts
Es existiert ein Zusammenhang zwischen der Metapher vom Einfärben des Gemüts und der Depression. Sowohl die Neurobiologie als auch die Psychoanalyse sprechen davon, dass bei Depressiven Erlerntes emotional ausgesprochen negativ erscheint; dass man davon ausgehen muss, dass große Gefühle wie Wut und Angst »das Gedächtnis färben« (Albrecht 2004, S. 73). Bildgebende Verfahren zeigen, dass Patienten, die schon länger leiden, einen kleineren Hippocampus besitzen als gesunde Altersgenossen. Dieser Teil des limbischen Systems sitzt zwischen Stammhirn und Großhirnrinde. Man vermutet hier eine Art Adressenverzeichnis des Gedächtnisses. Starke unangenehme Affekte lösen nun eine vermehrte Ausschüttung des Stresshormons Cortisol aus, was auf Dauer dazu führen kann, dass der Hippocampus schrumpft. Im Blut von schwer depressiven Patienten fand man in der Tat erhöhte Cortisolspiegel, so, als lebten sie unter Dauerstress. Insofern spricht man davon, dass bei Depressiven Erfahrungen durch Gefühle negativ gefärbt werden. Und hierfür kommt eigentlich nur eine Nichtfarbe in Frage: nämlich Schwarz. Von der Mattigkeit und der Verzweiflung des Herzens wird berichtet, solange es schriftliche Aufzeichnungen gibt. Hippokrates waren sie als »Schwarzgalligkeit« bekannt, das Mittelalter kannte sie als Todsünde »acedia« (wörtlich: Säure, Synonym für übergroße Schärfe des Denkens). Die Krankheit wechselte mehrfach ihren Sitz. Bald belastete sie das Hirn, bald das Gemüt, bald die Seele, von wo aus sie dann wieder in Organe wie Milz oder Leber wanderte. Auf erste Spuren eines Zusammenhangs zwischen Galle und Geist (Gemüt) stoßen wir bei Homer, der zwar die schwarze Galle als solche nicht erwähnt, jedoch die schwarze Farbe mit der Verne-
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belung des Gemüts in Zusammenhang bringt. »Das finstere Herz« des wütenden Agamemnon, »von der Galle schwarz umströmt«, ist, obschon unausgesprochen, genauso die Veränderung der Galle wie seines Grolls. Die schwarze Farbe also (der schwarze Saft), ein Gift des Körpers, spielt bei Sophokles aber auch für die antiken Ärzte und Priester eine wesentliche Rolle.
■ Das Schwarz bei Leonardo da Vinci und Robert Musil Leonardo da Vinci hat die Bedeutung der Finsternis und des Schwarzen für die Entstehung der Farbwerte herausgestrichen. »Ein Versuch, der zeigt, daß die Luft hinter sich eine Finsternis hat, aber blau erscheint. Mache ein Feuer aus wenig Holz, das dürr ist; auf seinen Rauch sollen Sonnenstrahlen fallen; hinter den Rauch hänge ein Stück schwarzen Samt, auf den die Sonne nicht scheint: Dann wirst du sehen, daß sich der ganze Rauch, der sich zwischen dem Auge und der Dunkelheit des Samts befindet, in einem wunderbaren Blau zeigt, aber wenn du statt des Samts ein weißes Tuch hinhängst, wird der Rauch aschfarben« (Leonardo da Vinci, Ausg. 1999, Blatt 1 B, Folio 36 R).
Dieses Zitat zeigt, dass gerade der dunkle Hintergrund in der Lage ist, Farben – hier eben ein Blau – hervorzubringen. Das Besondere also ist, dass das Schwarz, die Finsternis, quasi als ein Negativ für intensive Qualitäten fungiert. So wie das Chaos eng an die Schöpfung gebunden wird (vgl. Hesiodus, Ausg. 1999), gilt Ähnliches auch für die Finsternis. Licht ist ohne Finsternis nicht zu haben. In Leonardo da Vincis Weltbild spielt dieser dialektische Zusammenhang ebenfalls eine Rolle. Leonardo da Vinci versucht in seinem »Codex Leicester« (1510) die Facetten der Welt durch Naturgesetze zu erklären. Dabei betrachtet er die Erde als einen lebendigen Körper, dessen Funktionsweise zahlreiche Ähnlichkeiten mit dem menschlichen Körper aufweist. Ein solches Verhältnis von Mikround Makrokosmos entspricht einer alten Idee, die bis in die Antike zurückreicht und auch im Mittelalter und in der Renaissance vorherrschend war.
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In Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« (1930ff.) findet sich eine Szene, in der Ulrich und Agathe unter heller »Frühsommersonne« (ein Moment »der taghellen Mystik«) gemeinsam darüber räsonieren, was denn eigentlich eine Farbe sei beziehungsweise wie man die Farbe vielleicht »messen« könne. Es geht um Farbworte, das grüne Gras, die »Familie Grün«, und Ulrich gibt eine mögliche Antwort: »Sie [die Farbe Grün] dürfte schätzungsweise eine Wellenlänge von fünfhundertvierzig Millionstelmillimetern besitzen; und da wäre dieses Grün nun doch scheinbar gefangen und auf einen bestimmten Punkt angenagelt!« (Musil 1930ff./1987, S. 1089).
Agathe schaltet sich nun in diesen Diskurs über die Farben ein, indem sie auf das Schwarz rekurriert, das eigentlich als Nichtfarbe gilt: »Ich rate dir, sieh einmal einen Spiegel in der Nacht an: er ist dunkel, er ist schwarz, du siehst beinahe überhaupt nichts; und doch ist dieses Nichts ganz deutlich etwas anderes als das Nichts der übrigen Finsternis. Du ahnst das Glas, die Verdopplung der Tiefe, irgendeine noch zurückgebliebene Fähigkeit zu schimmern – und doch gewahrst du gar nichts!« (Musil, S. 1089f.).
Musil zeigt hier, dass in der Finsternis ein Schimmer zu erkennen ist. Damit werden Differenzen in das Schwarz eingeführt, und die Finsternis selbst wird darstellbar. Das Besondere dabei ist auch, dass im Dunkel selbst ein Klarsehen erfolgt, wie auch im hellsten Gedankengang ein Dunkel vorhanden ist. Wie nun werden diese Knotenpunkte unseres Seins bei Musil und Nabokov inszeniert?
■ Mondstrahlen bei Tage – Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« Als die »Ursprungszelle der schönsten Inzestleidenschaft der modernen Literatur« hat Maurice Blanchot Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« (I/1930, II/1932, Nachlass zu Lebzeiten 1936) bezeichnet. In diesem literarischen Werk wird In-
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zest als Möglichkeit begriffen, die textuell durchgespielt wird und einen seltsamen Schwebezustand in der Schreibweise erzeugt. Es existiert noch ein weiterer Text, der diesem Roman an Schönheit und Lebendigkeit in nichts nachsteht. Es ist Vladimir Nabokovs »Ada or Ardor: A Family Chronicle« (1969). Für die beiden Texte gilt gleichermaßen, dass sich Bruder und Schwester in einem Raum/Zeitgefüge begegnen, das außerordentlich ist und sich jeder Definition entzieht. Musils Text scheint ins Mondlicht getaucht und Nabokovs Roman von der Wärme der Sonnenstrahlen durchtränkt zu sein. Und gemeinsam ist ihnen, dass sie sich von der Bedeutungsschwere einer verhängnisvollen Thematik befreien. Es gibt nicht nur eine Szene in Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«, die ins Mondlicht getaucht erscheint. Vor allem der von Adolf Frisé herausgegebene Nachlass demonstriert die Variationsbreite der Mondverarbeitungen; es geht ums »Mondscheinschwärmen«, um »Mondscheinromantik«, »Mondstrahlen bei Tage« (Musil 1930ff./1987, S. 1086f.) und um das Bild des mondsüchtigen Pierrots. Bei Musil klingt die sanfte Gegenwart des Mondes an, der sich ohne Blendung anschauen lässt und die vertraute Nähe mit unerreichbarer Ferne verbindet: »Was uns mit dem ersten Augenblick einander zugewandt hat, ließe sich recht ein Leben der Mondnächte nennen!«, behauptet Ulrich Agathe gegenüber. Demgegenüber kritisiert Agathe das »Mondscheinschwärmen« (S. 1085), wenn sie sagt: »Mondgespräche sind so von ganzem Herzen verbraucht« (S. 1084). In den Mondscheingesprächen wird letztlich eine Kritik an Mondscheinromantik geübt, wie sie seit der Romantik tradiert ist und auch in konventionellen mythischen Bildern immer wieder belebt wird. »Das Fieber der Liebe war in ihren Körpern, aber diese wagten keine Wiederholung, und jenseits des Fensters, dessen Vorhänge fast offen standen, befand sich das, was ihnen die Einbildungskraft entführt hatte, ohne die das Fleisch nur roh oder mutlos ist. Als Agathe die ersten Schritte in diese Richtung tat, löschte Ulrich, ihr Einverständnis erratend, das Licht aus, um den Blick in die Nacht freizumachen. Der Mond war hinter den Fichtenwipfeln empor gekommen, deren grün glimmendes Schwarz sie schwerblütig von der goldblauen Höhe und der blaß glitzernden Weite abhob. Unwillig musterte Agathe das tiefe, kleine Stück Welt. ›Also doch nicht mehr als Mondscheinromantik?!‹ fragte sie« (Musil, S. 1086).
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Agathes Kritik an den konventionellen und stereotypen Bildwelten einer Mondmetaphorik, ihr Hinweis auf die Stilisierung ihres Bruders zum Pierrot lunaire, macht es erst möglich, dem Mond und seinem Licht eine neue Dimension abzugewinnen. Die »Mondstrahlen bei Tage« (Musil, S. 1087), die Verzauberung von Alltäglichkeiten und zum ersten Mal beobachteten Momenten, stellen den Mond als poetische Erscheinung vor. Korreliert die Bedeutung des Mondes mit dem Möglichkeitssinn und dem Nicht-Wirklichen, beschreibt sie zugleich Fiktives. Und genau um die Gewinnung dieses poetischen Raumes geht es in Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«. Wenn dieses Gestirn am dunklen Himmel steht, werden Liebesschwüre unter Vorbehalt gemacht. Die Nachsicht eines geliehenen Lichtes fällt auf eine menschliche Szene, die ohnehin schon die Ausnahme von der Helligkeit des Tages für sich nutzt und der Unwirklichkeit einer Optik bedarf, die Intersubjektivität, schlichter: Zeugenschaft, ausschließt. Niemand kann sich darauf berufen, was beim Lichte des Mondscheines passiert. Zugleich gehört der Mond in den Bereich der poetischen Erscheinungen, der Möglichkeiten und des Fabulierens. Das Signifikante des Mondes besteht darin, einen anderen Zustand zu bezeichnen, der nach Arthur Schopenhauer »keine Sache des Willens« ist, weshalb er zu einer »möglichen der Poesie« wird. Es ist die Vorstellung der Mondnacht, die sich in Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« ausformuliert findet und die die Geschwisterliebe so seltsam unwirklich erscheinen lässt. Diese Chiffre steht ein für eine Selbstvergessenheit und Entpersönlichung – aber zugleich auch für ein anderes höheres Selbst, von dem man durchdrungen ist: »So hat jeder innere und jeder äußere Vorgang in Mondnächten die Natur des Unwiederholbaren. Er hat die des Gesteigerten … Denn das Ich behält keine Verdichtung des Besitzes an sich selbst davon zurück, kaum eine Erinnerung, das gesteigerte Selbst strahlt in eine grenzenlose Selbstlosigkeit hinein, und diese Nächte sind voll des unsinnigen Gefühls, daß etwas geschehen müsse, wie es noch nie da war, ja wie es mit der verarmten Vernunft des Tages nicht einmal vorgestellt werden kann. Und nicht der Mund schwärmt, sondern der Körper vom Kopf bis zu den Füßen ist über dem Dunkel der Erde und unter dem Licht des Himmels in eine Erregung eingespannt, die zwischen zwei Gestirnen schwingt. Und das Flüstern mit
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dem Gefährten ist voll einer ganz unbekannten Sinnlichkeit, die nicht die Sinnlichkeit einer Person ist, sondern die des Irdischen, des in die Empfindung Dringenden überhaupt, die plötzlich enthüllte Zärtlichkeit der Welt, die unaufhörlich alle unsere Sinne berührt und von unseren Sinnen berührt wird« (Musil, S. 2034f.).
Hier wird ein magischer Raum beschrieben, der sich im Spannungszustand einer Mondnacht eröffnet und die Dramatik des Lebens beschreibt. Im Rhythmus des Sich-Verlierens kommt etwas Neues und Anderes zum Vorschein. Eingespannt zwischen zwei Polen, zwei Gestirnen entsteht die Sehnsucht nach einer anderen Helligkeit, Sinnlichkeit und Möglichkeit. Es ist diese Sinnlichkeit (das Flüstern, die Zärtlichkeit), die ein Einverständnis und einen Einklang mit der Welt herstellt sowie eine Verbindung zum Unendlichen andeutet. Die zitierte Textstelle mutet geradezu romantisch an. Ja, es scheint, als ob Musil die säkularisierte Variante einer Novalis-Konzeption durchspielt: Prosa contra Poesie und Aufgehen in einem höheren Selbst. Man könnte meinen, dass da, wo bei Novalis der waltende Gott positioniert ist, bei Musil der Inzest anzutreffen ist. Aber dem ist nicht ganz so. Manfred Frank hat darauf aufmerksam gemacht, dass ähnlich wie in Novalis’ romantischem Denken dem höheren Selbst sich hinzugeben nicht etwa »eine Differenz auf eine Einheit reduzieren« bedeutet (Frank 1983, S. 250). Ganz im Gegenteil: Es ist die Unpersönlichkeit des niederen Selbst, die sich als höhere Potenz in einer alltäglichen Selbstvergessenheit gesteigert findet. Dementsprechend heißt es bei Musil: »Es ist ein Zustand voll ungeheurer Macht des Inneren, die ganz mit der Macht der Welt in einem liegt. Aber Herr dieses Zustands werden zu wollen, kam U. jetzt oft ganz lächerlich vor. – Ich bin ja seine Frau geworden – sagte er sich – Wir sind drei Schwestern, Ag, ich, und dieser Zustand« (Musil, S. 1523).
Auf diese »transzendierende« Dimension ist immer wieder in der Sekundärliteratur aufmerksam gemacht worden. Dabei ist auffallend, dass die Forschungsliteratur entweder den Text als quasi religiösen vor dem Hintergrund der Mystik und Martin Bubers IchDu-Beziehung gelesen hat oder aber sich auf die verbotene Inzestleidenschaft der Geschwister zentriert und diese an Begriffen wie Narzissmus, Androgynität, Hermaphroditismus festgemacht hat.
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Musil selbst hat in seinem umfassenden unvollendeten Romanprojekt immer wieder bekannte Inzesttopoi eingestreut: Platons Kugelmenschen und der Mythos von Isis und Osiris gehören hierzu. Doch gibt es bei ihm eine deutliche Distanzierung zu den mythischen Anspielungen. Während es in den erwähnten Mythen lediglich um eine Vergangenheit und um einen Verlust von ehemaliger Kraft und Größe geht, fokussiert Musils Text »Der Mann ohne Eigenschaften« eben auch die Zukunft, die Zeit, die sich erst noch erfüllen wird. Insofern eröffnet diese Schreibweise eine gänzlich andere Erzähldimension, die lediglich Fragmente und Versatzstücke einer konventionellen Mythologie aufruft, um sie letztlich für eine Vorwärtsbewegung nutzen zu können. Dies ist die Freude über das Kugeln und das Rollen der in einer Vorzeit angesiedelten Kugelmenschen und es ist die Erfahrung des Glücks über eine körperliche Gabe: »Und er ißt ihr Herz, und sie das seine« (Musil 1923/1983, S. 465), wie es sich im Mythos von Isis und Osiris formuliert findet. In der Beziehung zwischen Ulrich und Agathe geht es um eine Sehnsucht des Menschen, um ein Streben ins Imaginäre, das vom Gegebenen seinen Ausgang nimmt und im Imaginären seine Fundierung sucht. Und so wie das Imaginär-Träumerische des Mondes mit den beiden Möglichkeitsmenschen Ulrich und Agathe korreliert, geht es ihnen auch um das Erleben der Wirklichkeit als verwirklichte Möglichkeit. Bei Musil und dem gesetzlosen Paar ist das Gelingen der Beziehung von Bedeutung. Wie das vorherige Textbeispiel gezeigt hat, beschreibt der Roman die Erfahrung des Glücks und nicht des Mangels und Unheils. Vielmehr wird deutlich, dass es im Mann ohne Eigenschaften darum geht, den Defekt des Lebens, der eben in der Selbstheit besteht, aufzulösen, um die Helligkeit eines »anderen Zustands« zu erfahren. Dabei kommt dieser inzestuösen Erfahrung, neben der Freundschaft und der Poesie, eine wichtige Funktion zu. Agathe ist für Ulrich eben auch eine traumhafte Wiederholung und Veränderung seiner selbst; eine Metamorphose, die sich ereignet, wenn er »anders« (im Sinne eines unpersönlichen Zustands und einer Eigenschaftslosigkeit) wird. Und Ulrich denkt:
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»›Sobald es mir gelingt, gegen Agathe gar keine Selbst- und Ichsucht mehr zu haben und kein einziges häßlich-gleichgültiges Gefühl, dann zieht sie die Eigenschaften aus mir hinaus wie der Magnetberg die Schiffsnägel! Ich werde moralisch in einem Uratomzustand aufgelöst, wo ich weder ich, noch sie bin! Vielleicht ist so die Seligkeit?!‹» (Musil, S. 940).
Und doch ist Agathe auch leibhaftig im Roman anwesend. Die »unbekannte Schwester« wird zur »Zwillingsschwester« und ganz konkret zur Frau, die von Ulrich wahrgenommen und begehrt wird. Und wenn dies passiert, dann ist der Raum lichtdurchflutet: »So verließ sie ihren Liegestuhl ganz und stand eine Weile unschlüssig, indes sie lächelnd bald auf Ulrich, bald in den Garten blickte. Sie streckte ihre Beine und klopfte mit kleinen Schlägen der Hände ihren Rock zurecht. Jede einzelne dieser Bewegungen hatte eine Art bäurischer Schönheit, einfach, gesund, gedankenlos; und entweder geschah es so durch Zufall oder weil sie durch ihren letzten Gedanken auf handfeste Weise munter geworden war. Das Haar fiel in einem Zacken zu Seiten ihres Gesichts hinab, und der Hintergrund, der jetzt von Bäumen und Gebüschen gebildet wurde, die sich an der Stelle, wo sie stand, in die Tiefe öffneten, war ein Rahmen, der ihr Bild einprägsam vor die Welt und den Himmel stellte. So sah sie Ulrich vor sich, wenn er einen schmalen Spalt zwischen seinen Augenlidern öffnete, und dieser Anblick, den er verstohlen genoß, war nicht nur anziehend, sondern wurde es – und vielleicht durch die Wirkung von Agathes nachklingenden Worten – bald auch so sehr, daß er nichts neben sich übrig zu lassen begann, was nicht herangezogen worden wäre. Es schien in der Richtung auf sie eine Bewegung zu walten, die mit Begriffen nicht zu erfassen war, eine gesteigerte Sinnfülle, ja eine hohe Überfülle und Bedrängnis, derart daß alles, was sie umgab, einen Abglanz auf sie warf und sie in ein Ansehen setzte, für das nicht nur kein Wort vorhanden war, sondern auch jeder andere Ausdruck und Ausweg fehlte. Jede Falte ihres Kleides war so mit Kräften oder vielleicht wäre schlechthin zu sagen mit Geltung, geladen, daß sich kein größeres Glück, aber auch kein ungewisseres Abenteuer denken ließ, als diese Falte vorsichtig mit der Fingerspitze zu berühren!« (Musil, S. 1329).
Musil zeigt hier Ulrich, wie er seine Schwester erschaut und geradezu trunken von diesem Anblick ist. Ulrich entfaltet seine Sinne, gibt ihnen Ausdruck und der geglückte Augenblick steigert ein Sehen, das im Berühren gipfelt. Die unbefangene Selbstberührung gelangt zur Fremdberührung, das Eigene des Blicks wandert zur
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Berührung des Anderen (Haut und Falte). Dabei stellt Ulrich Agathe in einen Rahmen, hebt sie also aus dem Kontext heraus, womit ihr Ausdruck verliehen wird. Dabei wandert der Blick dynamisch umher, allein Ulrichs Leib bleibt statisch, fast wie gelähmt an einem Ort. Es ist also der Augenaufschlag, es sind die Wimpern, die geöffnet und geschlossen werden, die hier den Zugang zur Welt regulieren. Denn »… durch mein Blicken, durch meine Augen gelange ich zum wahren Ding« – so formuliert es Merleau-Ponty (1996, S. 23). Und »wahr« ist Agathe in dieser Inszenierung, aufgeladen mit Sinn und Bedeutung wie keine zweite. Die Falten ihres Kleides gleichen dabei den beschriebenen Seiten der Poesie.
■ Sonnendurchfluteter Raum – Vladimir Nabokov: »Ada or Ardor« »Auf dem Bauche liegend, die Wange in die Hand gestützt, betrachtete Van den geneigten Hals seiner Geliebten, während sie englische Anagramme mit Grace spielte, die voller Unschuld insect vorgegeben hatte. ›Scient‹, sagte Ada und schrieb es nieder. ›O, nein‹, protestierte Grace. ›O, ja! Ich bin sicher, das gibt es. Er ist ein großer ›Scient‹. Dr Entsic was scient in insects. Grace dachte nach, wobei sie sich mit dem Radiergummi – Ende des Bleistifts – an die gerunzelte Stirn klopfte, und brachte hervor: ›Nicest!‹ ›Incest‹, sagte Ada sofort« (Nabokov 1969/1983, S. 88).
Es ist ein Wortspiel und ein Assoziationsnetz, was im Freien an einem schönen Sommertag in Szene gesetzt wird. Insekten, Wissenschaft, ein unbekannter Dr. Entsic, Schönes und Inzest stiften hier einen pluralen Zusammenhang. Die beiden Worte »insect« und »incest« gehen dabei die stärkste Verbindung ein (bezeichnen sie doch Ausgangspunkt und Ende des Spiels) und geben ein Wortpaar ab, dessen Bedeutungsdimensionen sich im Text reflektiert findet. Denn was wie ein sprachlicher Zufall wirkt, findet auf der
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inhaltlichen Ebene seine Kongruenz. Die Geschwister Ada und Van sind ein Liebespaar, und es schwirren Worte und flirrende Wesen – Insekten – in der Luft herum. Nabokov selbst hat davon gesprochen, dass er das Geschwisterpaar gewählt hat, weil der bl-Laut in »sibling« wie in »blue« (Farbe und Traurigkeit) vorhanden ist (Nabakov 1993, S. 38f.). Dem hier beschriebenen ScrabbleSpiel kann eine allegorische Funktion zugeschrieben werden: Denn so wie hier unter dem anagrammatischen Gesetz eine Reihung von Worten vorgenommen wird, ja, sogar ein eigenständiger Satz entsteht, erscheint der Text insgesamt als Effekt eines Spiels mit Zeichen. Es ist so, als würde die Ursprungslosigkeit des Textes selbst thematisiert und motivisch in Form von Sprachspielen in den Diskurs eingebaut. Und so wie das Sprachspiel eine verhüllte Allegorie des Schreibprozesses ist, kann das Insekt als eine Allegorie des Buchstabens gelten. Akzentuiert wird in Ada (übrigens von rückwärts wie vorwärts zu lesen) die Sprachbewegung selbst. Der Text macht sich ein Vergnügen daraus, immer wieder neue Worte zu bilden und aneinander zu reihen. Dabei werden eine Unmenge von Referenzbezügen und auf einer thematischen Ebene zahlreiche intertextuelle Anspielungen produziert, die in ihrer Vielfältigkeit kaum noch nachvollziehbar sind. Die Buchstaben auf dem Papier, die Insekten auf dem Rasen avancieren zu einer intensiven Eigenrealität. Es ist dies die Erfahrung der Körperlichkeit der Buchstaben in der Inszenierung der Schrift. Und auch dieser Zusammenhang findet sich gespiegelt im Text, wenn die Figuren selbst in der Maske eines Insekts in Szene gesetzt werden. Ada erscheint hier mit ihren Zebrastreifen auf den Rückseiten ihrer bloßen Arme geradezu als eine Wespe. »Es war der erste körperliche Kontakt der Kinder, und beide waren verlegen. Sie setzte sich mit dem Rücken zu Van, setzte sich erneut zurecht, als die Kutsche anruckte, und zappelte noch ein bißchen mehr, um ihren weiten, kiefernduftenden Rock zurechtzulegen, der ihn luftig einzuhüllen schien, um alle Welt wie ein Friseur-Umhang. Benommen, voll ungeschickten Entzückens, hielt er sie bei den Hüften. Heiße Sonnenflecken liefen rasch über ihre Zebrastreifen und die Rückenseiten ihrer bloßen Arme und schienen ihre Reise durch den Tunnel seines eigenen Körpers fortzusetzen« (Nabakov, S. 89).
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Am Anfang steht die Scheu, doch dann durch die anfahrende Kutsche entsteht eine Erregung, die in einem Zusammenspiel mehrerer Sinneseindrücke kumuliert: Wärme wird evoziert, ein typischer Waldduft wird wahrgenommen, Schatten entfalten ihr visuelles Spiel. Die Mehrsinnigkeit der Empfindung gipfelt schließlich in einem Gefühl des Entzückens. Das, was hier beschrieben wird, ist eine Verbindung von Zeit und Genus, die mit dem Prozess des Lesens selbst übereinstimmt. Der Text produziert insofern seinen eigenen Augenblick, seine eigene Realität. Im Gegensatz zu Musils gigantischem Romanfragment, das offen bleibt, ist Nabokovs Text abgeschlossen. Eine Endlichkeit, die sich inhaltlich auf der Textebene – ironisch zugespitzt – reflektiert findet. Der Chronist des Textes, Van, ist fast 90 Jahre alt geworden, bevor er anfängt, die Geschichte seines Lebens zu schreiben. Eine Geschichte, die reich an Abwegen scheint und die doch die zielgerechte Erfüllung einer einzigen, alles Geschehen beherrschenden Leidenschaft ist. Denn nach vielen Umwegen und Widerständen, mit denen die Geschwister zu kämpfen hatten, finden die beiden dennoch zueinander. Das Paar wurde vom Vater Demon in flagranti erwischt und sie mussten sich dem Willen des Vaters beugen und sich für einen längeren Zeitraum trennen. Erst mit Anfang Fünfzig steht ihrem Glück nichts mehr im Weg. Seit 1922 leben sie zusammen, Bruder und Schwester, als Mann und Frau, und legen nun, 40 Jahre später, Zeugnis davon ab. Dabei schaut Ada dem Chronisten Van über die Schulter, bringt Korrekturen, Verbesserungen und Ergänzungen an. In »Ada« geht es mehr als in anderen literarischen Texten um das Genießen des Existierens, um das »glittering now« als der Realität »of Time’s texture«. Dies ist der Moment zwischen Momenten, der Herzschlag zwischen zwei Herzschlägen. Es geht um die absolute, reine Zeiterfahrung, die nur zwischen zwei sukzessiven Bewusstseinszuständen, als Differenz zwischen dem NichtMehr und dem Noch-Nicht, erfahrbar ist. Es geht Nabokov also um das Moment der Zeit in seinem Erleben und Verstehen. Das Besondere dabei ist, dass die Inzestthematik aus ihrem tragischen Zusammenhang und damit aus dem Bedeutungshorizont der »Not« gerissen wird. Nabokov unternimmt also in seinem Roman eine Abgrenzungsbewegung zum Mythos, wenn der Erzähler sich
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als Märchenerzähler inszeniert, und Van und Ada sind seine Zeugen: »›Es ist ein gutes Märchen‹, sagte Van. ›Es ist ein Märchen‹, sagte die vorsichtige Ada« (Nabakov, S. 90).
Nabokov erzählt ein Märchen, setzt sich mit dem Mythos auseinander, weiß von der Wucht des Abgrunds, aber auch von der Abnutzung der Metaphern, und spielt mit dem Satz: »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute …«. Walter Benjamin hat in seinem Essay »Der Erzähler« darauf hingewiesen: »der erste wahre Erzähler ist und bleibt der von Märchen« (1977, S. 457). In einer Zeit, in der die Not und der Abgrund des Mythos groß waren, wusste das Märchen Antwort, um dem Gegenüber, dem Schweigen, dem Absoluten entgegenzustehen. »Das Märchen gibt uns Kunde von den frühesten Veranstaltungen, die die Menschheit getroffen hat, um den Alp, den der Mythos auf ihre Brust gelegt hatte, abzuschütteln. … Das Ratsamste, so hat das Märchen vor Zeiten die Menschheit gelehrt, und so lehrt es noch heut die Kinder, ist, den Gewalten der mythischen Welt mit List und mit Übermut zu begegnen« (Benjamin 1977, S. 458).
Und genau das tut Nabokov, wenn er listige Textstrategien einsetzt, um eine Welt des Übermuts und des Genusses entstehen zu lassen. Hierfür spielt er mit den Ursprungsgedanken und Schöpfungsmythen und ironisiert diese. »Ada or Ardor« ist ein Roman über menschliche Tragik, aber auch über das Glück, das Treiben, das Driften – eben ein modernes Märchen.
■ Leichtigkeit Das Sprach- und Liebesspiel, so wie es bei Nabokov inszeniert wird, ist geprägt vom Moment der Leichtigkeit. Musils schwerer wiegende Mondscheinromantik hingegen enthält die Konfrontation einer gesellschaftlichen Lebens- und Liebesordnung mit den Ansprüchen einer gesteigerten Sensibilität. Bei Musil werden das Reich der Poesie, die Imagination und die Abgrenzung von der
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Romantik beschrieben. Bei Nabokov geht es hingegen um die taghelle Wissenschaft, um die Kenntnis des Schmetterlingsforschers sowie um Ironie und Sprachspiel. Beide Texte schlagen sich leidenschaftlich auf die Seite der individuellen Erfahrung, variieren literarische Muster und spielen mit Verboten. Ja, es wird am Gesetz gerüttelt beziehungsweise die Liebespaare schlängeln sich durch das Nadelöhr des Gesetzes hindurch. Gefunden wird die Leidenschaftlichkeit der Wollust, die darin besteht, zu zweit zu sein. Dort, wo man nur Verhängnis und Finsternis erwartet hätte, scheinen gelingende Momente auf. Die Geschwister, die auf dem Grün des Rasens zu Hause sind oder die sich im Mondlicht bei Tage Liebesschwüre zuflüstern, wirken seltsam geglückt. Es geht um die Verwandtschaft der Empfindung, die Übereinstimmung eines inneren Zeitbewusstseins. Beide Texte polemisieren gegen alles Bestehende und bieten der Realität die Stirn. Sie erzählen neue Mythen und Märchen und benutzen das Imaginäre als Fundament für eine Literatur, die darin ihren Sinn findet, eine neue Wirklichkeit mit vorzubereiten. Denn es könnte auch anders sein.
■ Literatur Albrecht, J. (2004): Die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 25. 4. 2004. Benjamin, W. (1977): Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: Benjamin, W.: Gesammelte Schriften. Bd. II (2). Hg. von R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. Frank, M. (1983): Auf der Suche nach neuem Grund. Über den Umschlag von Erkenntniskritik in Mythologie bei Musil. In: Boehrer, K. H. (Hg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt a. M., S. 318–362. Hesiodus: Theogonie / Hesiod. Hg. u. übers. von Karl Albert. 5., verb. u. erg. Aufl. Sankt Augustin, 1993. Leonardo da Vinci (1510): Der Codex Leicester. Hg. vom Haus der Kunst München. Berlin, 1999. Merleau-Ponty, M. (1996): Das Sichtbare und das Unsichtbare. München. Musil, R. (1923): Isis und Osiris. In: Musil, R.: Gesammelte Werke in neun Bänden. Prosa und Stücke; Kleine Prosa: Aphorismen; Autobiographisches. Hg. von A. Frisé. Reinbek, 1983.
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Musil, R. (1930ff.): Der Mann ohne Eigenschaften. 2 Bände. Reinbek, 1987. Nabokov, V. (1969): Ada or Ardor. A Family Chronicle. London, 1971. Nabokov, V. (1983): Ada oder Das Verlangen. Aus den Annalen einer Familie. Reinbek. Nabokov, V. (1993): Deutliche Worte. Interviews – Leserbriefe – Aufsätze. In: Nabokov, V.: Gesammelte Werke Bd. XX. Reinbek.
■ Angelika Ebrecht
Auf der Suche nach dem verlorenen Objekt Die Funktion der Stimmung im depressiven Lebensgefühl der Moderne
Der Begriff der Stimmung ist ein Kennzeichen der frühen wie auch der späten Moderne. Im beginnenden 20. und im angehenden 21. Jahrhundert avanciert er zu einem Grundbegriff, mit dem geistes- und sozialwissenschaftliche Theorien den emotionalen Zustand einer sich stetig wandelnden Gesellschaft zu erfassen suchen. Doch wird er nicht etwa als theoretisch systematisierender Begriff verwendet. Indem er emotionale Phänomene des gesellschaftlichen Wandels markiert, stellt er vielmehr selbst schon eine emotionale Signatur dieses Wandels dar: In ihm manifestiert sich eine psychische Konfliktdynamik sozialer Veränderungen. Stimmung meint generell eine Gemengelage unterschiedlicher Gefühle, die sich in einem emotionalen Grundton zusammenzieht. So unterscheidet man zwar in der Regel (scheinbar eindeutig) eine gute von einer schlechten oder eine gedrückte von einer gehobenen Stimmung. Was sich dahinter aber jeweils genau verbirgt, welche mehr oder weniger bewussten Gefühle und Gedanken zu einer spezifischen Stimmung beitragen, bleibt undeutlich, unklar und unbestimmt. Das mag auch damit zusammenhängen, dass die Stimmung unter anderem einen »Querschnitt des gesamten Ich-Zustandes« darstellt und die Gefühle »von der alleinigen Verbindung mit besonderen, ausgewählten Objekten oder Vorstellungen« ablöst (Jacobson 1971/1983, S. 92, 94). Sie dominiert den jeweiligen emotionalen Zustand eines Menschen, ohne klar fassbar oder gar auf etwas oder jemanden beziehbar zu sein. Doch geht die Stimmung in dieser Beschreibung nicht auf. Sie ist eben keine Zustandsbeschreibung und auch kein leerer Oberbegriff, den man mit Attributen wie zum Beispiel gut oder schlecht füllen muss, damit er signifikant erscheint. Es handelt sich bei ihr viel-
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mehr um eine Vorrichtung oder Funktion, die den Umgang mit Gefühlen reguliert. Indem sie sich dem begrifflich differenzierenden Verständnis und dem Bemühen um Eindeutigkeit entzieht, enthält jede Stimmung potentiell auch Unsicherheit. Diese Unsicherheit ist im Bewusstsein nicht immer präsent; wähnt man sich doch oft in einer Stimmung sicher, zumal in einer guten. Dass Unsicherheit aber dennoch zu ihrer unbewussten Konfliktdynamik gehört, wird etwa in raschen Stimmungsumschwüngen oder Stimmungsschwankungen spürbar. In ihnen zeigt sich, dass eine Stimmung keinen sicheren emotionalen Hintergrund bietet, sondern das schlechthin Wechselhafte im individuellen Seelenleben darstellt. Bezogen auf die geistige Gesamtsituation einer Gesellschaft verleiht der Begriff der Stimmung auch den Zeitenwenden in der Moderne etwas Unbestimmtes, Unheimliches und Unheilschwangeres. Gegen die Aufbruchstimmung und den Fortschrittsoptimismus des rationalistischen Wissenschaftsglaubens, eingebettet in einen Diskurs über die Krise von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, haftet ihm hier etwas von einer depressiven Symptomatik an. Die erweist sich in der Tiefe jedoch nicht als Depression im eigentlichen Sinn, sondern vielmehr als ein der Depression vorausgehender Konflikt. So, wie depressive Symptome klinisch im Kontext unterschiedlicher Krankheitsbilder auftauchen können, lässt sich das Attribut »depressiv« auch im Hinblick auf die Stimmung als symptomatisch verstehen. Gleichwohl weisen die modernen Diskurse über die Stimmung darauf hin, dass zwischen der Stimmung und der Depression durchaus nicht nur eine symptomatische, sondern auch eine systematische Nähe existiert. Ich möchte im Folgenden der Psychodynamik dieser Diskurse nachgehen, um den kollektiven Symbolgehalt des Begriffs »Stimmung« zu entschlüsseln und ihn als soziale Pathologie zu beschreiben. In Abgrenzung zu Alain Ehrenberg (2000) und Elisabeth Roudinesco (1999), die die gegenwärtige, spätmoderne Gesellschaft als »depressive Gesellschaft« beurteilen, gehe ich davon aus, dass in der Gesellschaft zwar eine depressive Symptomatik zu beobachten ist, dass diese jedoch einer pathologischen Dynamik entstammt, die im Vorfeld der Depression anzusiedeln ist. Diese Dynamik manifestiert sich in der Art, wie der Begriff der Stimmung
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im Kontext der Diskurse über die spezifisch moderne Zeitstimmung in der Gesellschaft verwendet wird. Die Konfliktdynamik dieser Diskurse ähnelt zwar der einer Depression, da sie wie diese auf einem Objektverlust beruht. Im Unterschied zur Depression, in der das verlorene Objekt nicht verabschiedet werden kann, weil die Angst, es als gutes Objekt zerstört zu haben überwiegt (Klein 1935), markiert die Stimmung eine Objektsuche, in der unsicher bleibt, ob das Objekt in seiner Realität jemals gefunden wird. Insofern sie das Subjekt also mit dem Absturz in innere Leere als extremer Negativität (Green 1999, S. 57) konfrontiert, erscheint sie als existentielle Bedrohung. Umgekehrt liegt jedoch auch in der Abwehr drohender Negativität durch illusionäre Verschmelzung mit einem als allgegenwärtig phantasierten Objekt eine immense Gefahr. Denn in beiden Extremen droht die Stimmung durch eine Zerstörung der Distanz zur Objektwelt total zu werden und dann ins Totalitäre umzuschlagen.
■ Depressives Lebensgefühl und Stimmung zu Beginn des 21. Jahrhunderts Trotz aller offiziell behaupteten sozialen Sicherheit scheint es, als stehe das beginnende 21. Jahrhundert in Deutschland im Zeichen von Gefühlen der Unsicherheit, denen ein depressives Lebensgefühl entspricht. Immer häufiger ist von einem Abwärtstrend die Rede, der für die Politik und Wirtschaft ebenso diagnostiziert wird wie für das soziale Leben insgesamt. Beklagt werden etwa ein Werteverfall, die wachsende Zukunftsangst, die zunehmende Arbeitslosigkeit, der Zerfall der sozialen Sicherungssysteme, das Steigen der Scheidungs- und das Fallen der Geburtenrate, die Überalterung der Bevölkerung sowie ein genereller Abwärtstrend in der Wirtschaft. Das depressive Lebensgefühl scheint sich als krisenhafte Grundstimmung über die Gesellschaft insgesamt auszubreiten, bis hin zu ihren ökonomischen Grundlagen. Dabei ist die Tendenz zu beobachten, »die Ökonomie sogar ganz auf Psychologie« zurückzuführen (Siemons 2003, S. 33). Beide scheinen in einer Art »Teufelskreis aneinander gekettet: ist die Stimmung schlecht, reißt
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sie über sinkende Konsum- und Investitionsausgaben die gesamte Wirtschaft nach unten, worauf die Stimmung noch schlechter wird und so weiter.« Dass die »negative Entwicklung des Großen und Ganzen« zu einer »Art Dogma« (Horx 2003, S. 6) geworden ist, drückt sich darin aus, dass die Gesellschaft als in der Krise befindlich, mindestens aber am Rande einer Krise verharrend wahrgenommen wird. Die Krisenstimmung wird von den Medien und Meinungsforschungsinstituten sorgsam registriert. Sie beobachten so intensiv wie nie die Stimmungslage unterschiedlicher Gruppierungen: Die Stimmung an der Börse ist ebenso von Interesse wie die Stimmung am Markt oder die allgemeine politische Stimmung im Land. »Gesellschaftlicher Wandel und Stimmung in der Bevölkerung« scheinen untrennbar miteinander verbunden zu sein, wie dem Titel eines Dossiers der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« im Internet (FAZ 2004a) zu entnehmen ist. In derartigen Aussagen bildet die Gesellschaft so etwas wie eine Kollektivpsyche, deren Befindlichkeit – ähnlich der psychischen Verfassung eines Kranken – mit einem diagnostischen Blick und in therapeutischer Absicht beobachtet wird. Als wesentliche Symptome des für Deutschland diagnostizierten Stimmungstiefs gelten dabei Verdruss, »Zukunftsangst«, wütende Resignation und Pessimismus (vgl. auch FAZ 2004b). Der immer wieder beschworenen Konsum- und Politikverdrossenheit entsprechen Zweifel, an der realen Situation und dem mit ihr einhergehenden Stimmungstief etwas ändern zu können. Es scheint, als sei die von Wolf Lepenies (1969/1972, S. 47ff.) analysierte Melancholie des machtlosen Adels im Feudalabsolutismus sowie des Bürgertums im 18. Jahrhundert in der Moderne in eine ängstlich-depressive Stimmung der Gesellschaft insgesamt übergegangen. Ehrenberg (2000, S. 104) erklärt diese Tendenz damit, das von allen Fesseln der Moral befreite, zur Souveränität verdammte autonome Subjekt der späten Moderne empfinde sich als einsam und individualisiert, so dass eine »depressive Handlungsunfähigkeit« seine grundlegende Pathologie darstelle. Verweist nach Ehrenberg (2000, S. 118f.) die »Depression, die gegenwärtig unsere Gesellschaft« durchherrscht, auf die Schwierigkeit, überhaupt »eine Beziehung herzustellen«, so wird darin meines Erach-
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tens deutlich, dass der depressiven Symptomatik an der Oberfläche der Gesellschaft eine tiefere pathologische Verunsicherung in den Objektbeziehungen zugrunde liegt. Neben der allgemeinen Krisenstimmung dominieren Langeweile und Vergnügungssucht das Lebensgefühl der Moderne. Sie bilden Abkömmlinge der depressiven Symptomatik, in denen die Konflikthaftigkeit der Moderne repräsentiert und zugleich abgewehrt wird. Um dies zu zeigen, muss man nicht auf die steigende Kaufsucht oder den besonders unter Jugendlichen rapide anwachsenden Drogenkonsum und Alkoholmissbrauch hinweisen. Es reicht, sich zu vergegenwärtigen, was die Medien, was Kultur und Kommerz ständig vorführen und was im täglichen Umgang der »Spaßgesellschaft« beziehungsweise »Erlebnisgesellschaft« mehr und mehr gefordert ist: Es gilt, in guter Stimmung zu bleiben, »Party zu machen«, »gut drauf« zu sein, also stets und ständig auf einer Woge rauschhaften Genusses zu schwimmen. Bei den Versuchen, »Genuss als Inhalt der innenorientierten Sinngebung« zu etablieren, dominiert jedoch nicht nur »die Gestaltungsidee eines schönen, interessanten, subjektiv als lohnend empfundenen Lebens« (Schulze 1992, S. 108 u. S. 37), sondern mit dem »Erlebnishunger« vor allem auch der Wunsch nach rauschhaften Entgrenzungserfahrungen (Hartmann u. Haubl 1996, S. 13f.). Diese extremen Gefühlslagen sind nach meiner Auffassung nicht in erster Linie als Depressionsabwehr zu verstehen. Sie setzen die Gesellschaft vielmehr dem Verdacht aus, sie fördere eine andere Art der »Unfähigkeit zu trauern«, die dazu dient, ein aus der Vergangenheit stammendes Leid und eine Angst vor dem drohenden Absturz nicht mehr nur in die Depression (Alexander und Margarete Mitscherlich 1967/1977, S. 36ff.), sondern mehr noch in innere Leere und totale Vernichtung zu verhindern. Meiner Ansicht nach wehrt die im gesellschaftlichen Bewusstsein symptomatisch depressive Stimmung eine tiefere psychotische Angst ab. Hinter den pessimistischen Stimmungen, den Gefühlen von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Langeweile, die die Zivilgesellschaft in Deutschland gegenwärtig in ihrer Entwicklung hemmen, verbirgt sich die Angst vor Desintegration und kollektivem psychischem Absturz, der die sozialen und politischen Institutionen mitreißen könnte. Denn in dem depressiven Lebensge-
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fühl und der krisenhaften Zeitstimmung manifestiert sich eine diffuse Ahnung, dass der Gesellschaft derzeit etwas Wichtiges verloren zu gehen droht. Es ist dies etwas, was zwar noch spürbar und im Ansatz noch vorhanden ist, was sich aber zunehmend mehr entzieht: die Vorstellung von etwas Wertvollem, das dem Handeln Sinn verleiht und die Einzelnen nicht nur in ihrer Individualität und Autonomie bestätigt, sondern sie auch politisch sowie psychisch »hält« und zu einer Gemeinschaft zusammenfügt. Es fehlt, so könnte man meinen, die symbolische Repräsentanz eines gemeinsamen guten Objekts, das sowohl Trennung als auch Zusammenhalt repräsentiert.
■ Krisenstimmung, Rationalitätskritik und Objektverlust zu Beginn des 20. Jahrhunderts Die Suche nach den tieferen Dynamiken des pessimistischen Lebensgefühls in der Moderne führt zurück zu den geistigen Strömungen des frühen 20. Jahrhundert, in denen die Konjunktur des Begriffs der Stimmung ihren Ursprung hat. Schon in dieser Zeit, in der ja auch die Psychoanalyse entstand, war das wissenschaftlich-kulturelle Leben in Deutschland von einer allgemeinen depressiven Krisenstimmung beherrscht (Ebrecht 1992), auf der auch die von Freud (1927c, S. 360) diagnostizierte »Kulturfeindschaft« der Menschen beruhte. Beziehungslosigkeit, Vereinzelung und Sinnferne waren emotionale Symptome jener Krise, die damals als so verbreitet wie existentiell bedrohlich empfunden und thematisiert wurde. »In keiner Zeit noch«, bemerkt Ludwig Klages (1913, S. 15), »war die Unzufriedenheit größer und vergiftender.« Walther Rathenau (1917, S. 201) sieht die »Stimmung menschlicher Beziehungen« durch »Fremdheit und Feindschaft« geprägt. Und Georg Simmel (1900/1922, S. 550f.) beschreibt diese Stimmung als ein »dumpfes Gefühl von Spannung und unorientierter Sehnsucht«, »als läge der ganze Sinn unserer Existenz in einer so weiten Ferne, dass wir ihn gar nicht lokalisieren können«. Edmund Husserl (1935–36/1962, S. 10) spricht davon, dass diese »Krisis« nicht nur alle »neuzeitlichen Wissenschaften«, sondern
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die »gesamte Sinnhaftigkeit«, ja die Existenz des ganzen »kulturellen Lebens« in Europa erfasst habe. Das Besondere an dieser Krisenstimmung ist, dass sie die geistes- und sozialwissenschaftlichen Diskurse ebenso durchherrschte wie die Literatur und eine so allgemeine wie schwer zu fassende depressive Gefühlslage schuf, deren Inhalte und psychischen Ursachen unverstanden blieben. Ihre sozialen Ursachen hingegen wurden eifrig beschrieben. Denn mit der Krisenstimmung verband sich eine generelle Kultur-, Rationalitäts- und Technikkritik, die ein weiteres Merkmal des beginnenden 20. Jahrhunderts bildet. Lange vor der radikalen Vernunftkritik, die Horkheimer und Adorno (1947) in ihrer »Dialektik der Aufklärung« entfalteten, hieß es, die Moderne sei »vom Geist der Mechanisierung«, von »Spezialisierung und Abstraktion, von gewollter Zwangsläufigkeit, von zweckhaftem, rezeptmäßigem Denken« bestimmt (Rathenau 1917, S. 44). Die »Entzauberung der Welt« (Weber 1919, S. 16) sowie der Glaube, alles »durch Berechnen beherrschen« zu können, habe zu jener »mechanisierte(n) Versteinerung« der Kultur geführt und jenes »stahlharte Gehäuse« der Hörigkeit (Weber 1904–05/1920, S. 203) erzeugt, das dem Leben Lebendigkeit, Zusammenhalt sowie Einheit geraubt und das Individuum in Vereinzelung, Sinnlosigkeit und Angst gestürzt habe. Der gesamte kulturelle Stil der Zeit sei durch die Technik beeinflusst, sodass diese selbst die individuellen Motivationen beherrsche (Sombart 1911, S. 328). Eine auf Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit ausgerichtete Lebenshaltung ordne die Individuen einer gleichförmigen Funktionalität unter, die »nicht Grübeln über den Sinn, sondern geschicktes Zugreifen, nicht Gefühle, sondern Objektivität« erfordere (Jaspers 1930/1979, S. 43). Entworfen wird hier das Bild einer von Rationalität und Technik beherrschten Realität, in der alle menschlichen Kontakte technisch vermittelt und begrifflich normiert, unlebendig und sinnentleert erscheinen. Die Moderne wirkt wie ein kaltes, lebloses und triebentleertes Objekt, das sich dem Subjekt entzieht und ihm die erforderlichen Ressourcen für eine lebendige, von Bedeutung und Sinn getragene, erfüllte Existenz vorenthält. Zugleich lässt sie vorgeblich alle Interaktionen erstarren, zerschneidet den Zusammenhalt zwischen den Menschen und stößt den Einzelnen in tiefe, grausame Einsamkeit.
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Individualisierung, Zerfall der Gemeinschaft, Verlust persönlicher Bindungen und Erstarrung der Gesellschaft zu einem »mechanischen Aggregat und Artefakt« gegeneinander isolierter Individuen (Tönnies 1887/1922, S. 5) lassen sich aus der Distanz auch als Folge eines generalisierten Objektverlustes verstehen. Denn, wie Tönnies (S. 40) treffend feststellt, es gibt »kein Gemeinsamgutes in der Wirklichkeit«; es kann nur »durch Fiktion der Subjekte« existieren und setzt voraus, dass ein »gemeinsames Subjekt« konstruierbar ist, auf das »dieser gemeinsame Wert bezogen werden« kann. Hinter dieser Beschreibung verbirgt sich mehr als ein depressives Festhalten am verlorenen Objekt. Denn an den theoretischen Reflexionen wird deutlich, dass sich der kollektive Zugang zur Welt der Objekte auf der Ebene der sozialen Gemeinschaft mehr und mehr zu verschließen scheint. Das wiederum hat nachhaltig eine Verunsicherung der emotionalen Hintergrundsicherheit in kulturellen Deutungskontexten zur Folge, wodurch es wiederum zu einer Störung kollektiver Symbolisierungsprozesse kommt. Nicht zufällig ist Unsicherheit ein entscheidendes Signum der Stimmung; denn mit dem Zerfall der sozialen Bindungskräfte und dem Verlust des Glaubens an ein kollektiv gutes Objekt droht auch das Gefühl existentieller Sicherheit verloren zu gehen, das selbstverständlich gegebene Gefühl, in einer gemeinsamen, tragenden Realität zu leben, die dem eigenen Handeln Sinn und den sozialen Beziehungen Bedeutung verleiht. Der depressiv beklagte Sinnverlust stellt sich als drohender Objektverlust dar, der wiederum einen kollektiven Desymbolisierungsprozess nach sich ziehen würde. Unter einem kollektiven Desymbolisierungsprozess ist hier das Ergebnis der Unfähigkeit zu verstehen, durch subjektiven Zusammenhalt gemeinsame Vorstellungen von etwas Wertvollem, also von einem guten Objekt herzustellen, das Destruktion auffangen und alle (inneren wie äußeren) Zerstörungsversuche überleben kann (Winnicott 1970/1990, S. 293f.).
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■ Stimmung zwischen Absturz und Existenzsicherung – Heidegger und Bollnow In einer Zeit des schwindenden Glaubens an die einheitsstiftende Macht der Vernunft und ihrer Bindungskräfte, im Kontext der depressiven Zeitstimmung, tauchten zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend Fragen danach auf, ob ein allgemeiner Sinn und wie verbindliche Werte oder übergreifende Bedeutungskontexte überhaupt noch vorstellbar und begründbar seien. Eine Lösung schien darin zu bestehen, sie aus der inneren, psychischen Natur der individuellen Subjekte immer wieder neu herzustellen. An die Stelle der großen philosophischen Systeme und eines Einheit stiftenden Vernunftsubjekts traten um die Jahrhundertwende unterschiedliche Weltanschauungen, die jeweils von einer spezifischen »Lebensstimmung« getragen schienen (Dilthey 1931, S. 82). Ihnen lagen Vorstellungen vom Subjekt als individuellem Ganzen (Ebrecht 1992) zugrunde, in dem sich Verstand und Vernunft aus seiner natürlichen, psychischen Verfasstheit heraus entwickeln. In diesem Kontext übt der Begriff der Stimmung Kritik am zweckrationalen Fortschrittsoptimismus der Moderne und versucht ihn zu überwinden. Gegen die Angst vor dem psychischen Tod, vor einer Erstarrung des Trieblebens im Prozess der Modernisierung, gegen den Fortschrittsoptimismus der Rationalisierung und Technisierung wird im Begriff der Stimmung eine emotionale Grundlage gesucht, die dazu dienen kann, zwischen den vereinzelten Individuen etwas allgemein Verbindendes her- und darzustellen. Gesucht wird etwas, das einen Kontakt zur Realität sowie einen Halt im Denken ermöglicht und das gleichwohl nicht umstandslos den Gesetzen einer erstarrten Vernunft unterliegt. Aus heutiger Sicht wird in dieser Entwicklung neben aller berechtigten Kritik an den Verhärtungen der Moderne auch ein erhebliches Gefahrenpotential deutlich, das im Sinne einer psychischen Totalisierung dem nationalsozialistischen Totalitarismus zuarbeitete. Doch geht es in dieser Diskussion nicht nur um die von Georg Lukács (1960) kritisierte »Zerstörung der Vernunft« beziehungsweise einen Siegeszug des Irrationalen am Vorabend des deutschen Faschismus, sondern es geht auch um eine Revision der aufklärerischen Vorstellung eines autonomen Vernunftsubjekts.
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Denn es wurde immer deutlicher, dass dessen Autonomie nicht in einer autarken, von aller lebendigen Grundlage abgekoppelten Vernunft, sondern allenfalls in der Spannung von Natur- und Vernunftkräften verortet werden kann. Solche Überlegungen wurden vor allem von der Existenzphilosophie, Phänomenologie und Lebensphilosophie des frühen 20. Jahrhunderts zur Geltung gebracht. Werden Stimmungen traditionell in Abgrenzung zu den Vernunftkräften eher dem Bereich des Vorrationalen, der Gefühle und Affekte, der Musikalität und dem Gemüt zugeordnet (Lüthi 1951, S. 13ff.), so differenzieren Vertreter dieser geistigen Strömungen noch einmal zwischen Stimmung und Gefühl (Wetz 1998), wobei die Stimmung den rationalen Kräften des Menschen näher zu stehen scheint als das Gefühl. Bei Martin Heidegger und daran anknüpfend bei Otto Friedrich Bollnow erhält die Stimmung dann sogar eine zentrale Position in der Bestimmung des menschlichen Daseins, das durch die Fähigkeit zur Selbstreflexion gekennzeichnet ist. Anhand ihrer beider Positionen soll nun die Psychodynamik der Stimmung im Kontext des depressiven Lebensgefühls der Moderne verdeutlicht werden. Wenn Heidegger (1927/1979, S. 134) das »Gestimmtsein« als »fundamentales Existential« und die Stimmung als »Grundweise des Daseins als Dasein« (1929–30/1983, S. 101) bezeichnet, so fragt sich, was diese zentrale Position rechtfertigt. Immerhin sind aus Heideggers (1929–30/1983, S. 97) Sicht Gefühle und Stimmungen zugleich auch das »Unbeständigste«; sie erscheinen »unfasslich« und »ohne festen Bestand«. Das würde sie eigentlich eher dazu prädestinieren, der depressiven Krisenstimmung zugeschlagen zu werden. Paradoxerweise führt Heidegger die Stimmung jedoch wenn nicht als Garanten so doch zumindest als Hoffnungsträger einer Art Existenzsicherung ein, als etwas, »was dem Dasein von Grund auf Bestand und Möglichkeit gibt« (Heidegger 1929–30/1983, S. 101). Sieht Bollnow (1941/1956, S. 33) in den Stimmungen ebenfalls die Grundlage, »unterste Schicht« des »gesamten seelischen Lebens« oder auch »die Grundverfassung des menschlichen Daseins«, dann fragt sich einmal mehr, wie aus etwas derart emotional Verunsicherndem, Diffusem etwas Haltendes, die psychische Existenz Sicherndes erwachsen kann. Bollnow (S. 118) zufolge eröffnet die Stimmung den Zugang
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zum »Fördernden und Tragenden« im Verhältnis zur Realität. Da die Stimmung den Menschen ohne sein Zutun und ohne Einflussmöglichkeit gleichsam überfällt, da er ohne bewusste Absicht und gegen sein ausdrückliches Wollen in eine Stimmung »gerät« (Lüthi 1951, S. 12), ermöglicht sie es, dass der Mensch noch »vor allem Erkennen und Wollen« (Heidegger 1927/1979, S. 136) zu der Welt der Objekte in Beziehung treten kann. Während Gefühle und Affekte bereits auf konkrete Objekte bezogen seien, stehe die Welt dem Menschen in der Stimmung noch nicht »gegenständlich« gegenüber; er fühle sich mit ihr vielmehr noch unmittelbar verbunden (Bollnow 1941/1956, S. 39). Die Stimmung bilde kraft ihrer »Einheitlichkeit« demzufolge »den tragenden Grund der Seele« (Lüthi 1951, S. 20f.), jene Einheit, »die dem Auseinanderbrechen von Subjekt und Objekt, von Selbst und Welt noch vorausliegt«, ein »ursprüngliches Ineinander von Innen und Außen«. Bezogen auf die metapsychologischen Grundannahmen der Psychoanalyse könnte man die Stimmung demzufolge verstehen als affektiven Abkömmling einer entwicklungspsychologisch frühen Zeit, in der die Trennung von Innen- und Außenwelt noch nicht vollzogen ist und in der mit dem Gefühl der eigenen Existenz auch die psychischen Grundlagen für die Bedeutungshaftigkeit der äußeren Realität gelegt werden, für das sichere und unhintergehbare Gefühl des Subjekts, es müsse so etwas wie die äußere Realität existieren (Ebrecht 2000, S. 42). Doch trifft diese Interpretation nur teilweise den Sinn, den Heidegger und Bollnow der Stimmung zuweisen. Denn aus ihrer Sicht ermöglicht die Befindlichkeit auch, »dass ich empfinde, mich auf etwas richten kann« (Pöggeler 1960, S. 274). Dass die Stimmung etwas ist, »was da ist und zugleich nicht da ist« (Heidegger 1929–30/1983, S. 91), prädestiniert sie in dieser Argumentation nicht nur dazu, Unsicherheit auszudrücken, sondern zugleich auch dazu, sie aufzufangen. Im Zusammentreffen von Positivität und Negativität wird deutlich, dass sich der Mensch der Welt in der Stimmung in der »Weise der ausweichenden Abkehr« zuwendet (Heidegger 1927/1979, S. 136): Die Stimmung erschließt die Welt zwar, verschließt sie jedoch auch – was sich Heidegger zufolge etwa in der Verstimmung zeigt. Der Stimmung wird hier also die Aufgabe zuerkannt, die Beziehung zu den Ob-
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jekten zu regulieren, einen Zugang zu den Dingen zu schaffen und ihn auch wieder zu versperren. Wenn Bollnow betont, die Stimmung bedinge, wie die Dinge dem Menschen erscheinen (Bollnow 1941/1956, S. 55), dann erhält sie eine Bedeutung schaffende wie auch differenzierende Funktion: Nicht nur scheint wichtig, dass die Stimmung nach Art einer Ich-Funktion den Zugang zu den Objekten regulieren und somit Differenzen markieren kann, sondern dass sie darüber hinaus auch darstellt, was die Welt der Objekte als solche dem Subjekt bedeutet. In diesem Bemühen um ein Verständnis der Stimmung scheint es um die Fähigkeit der Subjekte zu gehen, zur äußeren Objektwelt überhaupt in eine Beziehung treten zu können, die es ihnen zugleich ermöglicht, sich auch im Inneren von den Objekten abzugrenzen und ihre Eigenständigkeit zu entwickeln. Insofern die Stimmung jedoch dazu tendiert, die Grenzen zwischen Innen und Außen partiell außer Kraft zu setzen, schafft sie nicht nur, wie Heidegger und Bollnow behaupten, eine grundlegende Verbindung zur Welt der Objekte, sondern sie bedroht das Subjekt auch damit, seine Autonomie sowie sein Ich preisgeben zu müssen, sein Selbst nicht mehr vom Objekt abgrenzen und seine Triebe nicht mehr regulieren zu können. Darin, dass Heidegger und Bollnow das destruktive Potential und die Gefahren dieser Preisgabe des Menschen an die äußere Welt und die Gemeinschaft nicht gesehen oder zu wenig systematisch hervorgehoben haben, verbirgt ihr Denken eine totalitäre Tendenz. Ohne das hier weiter ausführen zu können, möchte ich behaupten, dass solche Wünsche an die NSIdeologie anschließen, die vom Einzelnen verlangte, seine Autonomie und in letzter Konsequenz auch seine Existenz der Volksgemeinschaft zu opfern (Ebrecht 1992, S. 283ff.). Selbst wenn es nicht ausdrücklich gesagt wird: Ideologien, die die Auflösung des Individuums im großen Ganzen unterstützen, enthalten stets insofern totalitäre Züge, als sie eine destruktiv vernichtende, alle Differenzen einebnende Beziehung zwischen dem Subjekt und der Objektwelt fordern und fördern. In aufklärerischer, das Subjekt erhaltender Absicht repräsentiert die Stimmung jedoch sowohl eine die Existenz grundlegend sichernde Beziehung als auch die existentiellen Ängste und Unsicherheiten des Einzelnen im Verhältnis zur Objektwelt als ganzer.
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Indem sie die Verbindung zu den Objekten reguliert, sie zugleich eröffnet und verhindert, wehrt sie Unsicherheit ab, ohne sie gänzlich zu verleugnen. Sie nimmt Unsicherheit auf und bietet den konstruktiven wie auch den destruktiven Kräften psychisch einen gesellschaftlichen Raum, schafft für sie einen kollektiven Container, einen allgemeinen Bedeutungsraum. Diese Funktion der Stimmung macht einmal mehr deutlich, dass differierende psychische Konfliktlagen in einem gesellschaftlichen Kontext die Dominanz je unterschiedlicher Stimmungen erwirken. Welche Art von Unsicherheit dominiert, wie diese aufgefangen wird und welche kollektive Psychodynamik sich in ihr ausdrückt, ist demnach abhängig davon, wie Objektbeziehungen jeweils kollektiv symbolisiert werden. Dabei erscheint die depressive Stimmung wohl deshalb besonders bedrohlich, weil sie das Unsicherheitspotential im Hinblick auf die Objekte, das die Stimmung ohnehin schon enthält, verstärkt und konkretisiert.
■ Langeweile und Sucht als Grundstimmungen der Moderne Dass Langeweile und (Vergnügungs-)Sucht zwei Grundstimmungen der Moderne darstellen und einen Teil ihres depressiven Lebensgefühls ausmachen, ist ebenfalls schon bei Heidegger und Bollnow angedeutet. Heidegger führt die »Verunsicherung unserer heutigen Lage« darauf zurück, dass die Menschen sich selbst »unbedeutend«, gleichgültig und langweilig geworden seien (1929–30/ 1983, S. 115). Daher bezeichnet er (S. 120, S. 251ff.) die »tiefe Langeweile« als moderne »Grundstimmung«, die durch eine Spannung zwischen Bewusstsein und Unbewusstem gekennzeichnet ist. In der durch sie zugleich verdeckten wie auch eröffneten Abgründigkeit und Leere komme die »Vereinzelung«, »Gebrochenheit« und »Endlichkeit« des Daseins zum Ausdruck. Psychoanalytisch können Vereinzelung, Abgründigkeit und Leere als symptomatisch für eine gestörte Beziehung zu den Objekten und zum eigenen Selbst begriffen werden. Doch ist der Langeweile im Unterschied zur depressiven Stimmung das abgründig Destruktive, was in ihr
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steckt, kaum noch anzumerken. Es wird gebannt durch jenes »Nebeneinander von Betätigungsdrang und Betätigungshemmung«, das sie Fenichel (1934/1985, S. 297) zufolge kennzeichnet. Wer sich langweilt, möchte etwas tun, weiß aber nicht was und wie. Dass, wie Fenichel (S. 298) darstellt, in der Langeweile zwar »die Triebspannung« da ist, »das Triebziel« jedoch fehlt, kennzeichnet sie als eine Stimmung, in der das Subjekt nicht nur den Objekten, sondern auch seiner eigenen Lust entfremdet ist. In dieser Stimmung wird zwar Fenichel zufolge durchaus ein Objekt gesucht, aber nicht, um »Triebimpulse zu betätigen«, sondern um »ein fehlendes Triebziel zu gewinnen«. Da aufgrund des fehlenden Triebziels nicht klar ist, welche Bedeutung das Objekt für das Subjekt besitzt, kann auch nicht klar sein, welches spezifische Objekt jeweils gesucht wird. Infolgedessen erscheint die ganze äußere Welt als unpassend. Das wiederum führt dazu, dass mit der Langeweile meist eine Handlungshemmung einhergeht: Wer nicht weiß, welches Objekt er wählen soll, nimmt häufig am Ende gar keins. Da er nicht weiß, was er sucht, und folglich auch nichts finden kann, erscheint er pessimistisch und unzufrieden. Doch gibt es neben dieser gehemmten Langeweile auch eine andere, agierte Form. Denn wer sich langweilt, kann durchaus versucht sein, seine Triebimpulse tatsächlich zu befriedigen. Dann freilich bleiben alle Objekte, die er dazu auf- und aussucht, unbefriedigend, da er aufgrund des fehlenden Triebziels ja nicht weiß, was er von ihnen erwartet. Weil die Triebimpulse unter solchen Bedingungen jedoch nicht befriedigt werden können, wird, wer seine Langeweile unter wachsendem Triebdruck agiert, bald rauschhaft von Objekt zu Objekt taumeln, ohne die erstrebte Befriedigung zu finden. In beiden Formen, in der agierten wie auch in der gehemmten, macht die Langeweile nicht nur »die unmögliche Erfahrung erträglich«, »auf etwas zu warten, ohne zu wissen, was es sein könnte« (Phillips 1997, S. 118), sondern sie versucht auch, die Angst davor zu vertreiben, dass sich ein passendes Objekt niemals werde finden lassen. Da diese Erfahrung die äußere Objektwelt bedeutungslos, das eigene Tun sinnlos und die einzelnen Gegenstände wertlos erscheinen lässt, kann die Langeweile, so sehr sie symptomatisch auch der Depression ähnelt, dynamisch als Abkömmling des Negativen (Green 1999),
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der Angst vor einer Vernichtung des Selbst wie der Objekte begriffen werden. Geht in der unabschließbaren Objektsuche der agierten Form die Langeweile in Sucht über, so liegt es nahe, an die von Adorno (1944, S. 230) erwähnte »Affinität von Askese und Rausch« anzuknüpfen. Wie die agierte Form der Langeweile ließe sich auch die rauschhafte Vergnügungssucht als »Negativ der Langeweile« fassen, dem die Abwehr der Handlungshemmung fehlt. Der in der Langeweile drohende Sturz in den Abgrund des Negativen, in Leere und Vernichtung, wird in der Sucht vollzogen und zugleich durch die illusionäre Vereinigung mit einem grandiosen Objekt abgewehrt. Selbst Bollnow (1941/1956, S. 44, S. 51), der zwischen »gehobener« und »gedrückter Stimmung« unterscheidet, bemerkt, dass beide sich bis zum Rausch und zur Verzweiflung steigern können. Und auch Fenichel (1934/1985, S. 306) erwähnt, »dass pathologische Langeweile lange einer Sucht« oder Ähnlichem vorangehen kann. Oft kommen weder die gehemmte noch die agierte Form der Langeweile beziehungsweise die Vergnügungssucht allein vor. Die Triebdynamik der Langeweile tendiert vielmehr dazu, »zwischen den Polen der Starre und Ekstase« (Ebrecht 1983, S. 87), zwischen Hemmung und rauschhafter Entgrenzung hin- und herzupendeln. In beiden Extremen wirkt sie jedoch zerstörerisch. Wird in der gehemmten Langeweile das eigene Selbst, werden die eigenen Triebwünsche negiert, so zerstören Ekstase und Rausch die Getrenntheit von Selbst und Objekt und dadurch auch die Eigengeltung der Objekte. In der Vergnügungssucht durchbricht die agierte Langeweile den pathologischen Konflikt zwischen Betätigungsdrang und Betätigungshemmung vollends, indem gar keine Hemmung den Betätigungsdrang mehr einzuschränken scheint, der nunmehr die Realität ganz dem Lustprinzip zu unterwerfen versucht. In diesem Versuch verwandelt sich die Suche nach Lust in Destruktion: In ihrer Extremform agiert die Langeweile jene Zerstörung der Objektwelt, vor der sie zu fliehen trachtet. In der Vergnügungssucht scheinen die Objekte den Trieben genau zu entsprechen. Hier sucht der Süchtige eine Welt, die ihm jederzeit und immer für seine Triebbefriedigung zur Verfügung steht und die für seine wechselnden Triebziele immer neue Objekte bereithält. Rauschhafte Objektsuche steigert sich zur Illusion, Herr der eige-
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nen Bedürfnisse zu sein. Die Objekte erscheinen nurmehr als Erfüllungsgehilfen des eigenen Lustempfindens; sie werden in ihrer Eigenständigkeit nicht mehr wahrgenommen. In dieser rauschhaft gesteigerten Stimmung ungebremsten Vergnügens verkehrt sich der Gedanke des autonomen Subjekts zur Illusion eines autarken Individuums, das sich so unabhängig wähnt, wie es abhängig ist: Es möchte sich die Objektwelt, die seine Triebe befriedigt, selber schaffen und durchbricht zu diesem Zweck alle Grenzen. Der Süchtige »radikalisiert die Figur des souveränen Individuums«, indem er glauben macht, er könne »die Grenze zwischen ›alles ist möglich‹ und ›alles ist erlaubt‹« überschreiten (Ehrenberg 2000, S. 127). Handlungshemmung und süchtige Suche nach dem fehlenden Objekt rücken die Langeweile in die Nähe der Depression. Doch anders als in der Depression, in der das verlorene Objekt destruktiv festgehalten wird, drückt sich in Langeweile und Vergnügungssucht die Angst des Subjekts aus, kein passendes gutes Objekt finden zu können und sich daher innerer Leere und Vernichtung ausgeliefert zu sehen. Im Versuch, die drohende totale Destruktion zu fliehen, wird sie schrittweise agiert und damit partiell entkräftet. In ihrer gefühlsmäßigen Spanne zwischen Leere und leerer Fülle ist Langeweile also eben gerade nicht als »Trauer des Alltagslebens« (Phillips 1997, S. 109) zu bezeichnen, sondern als eine spezifische Art der Unfähigkeit zu trauern: Da ein Objekt noch nicht sicher gefunden ist, kann auch die Trennung von ihm nicht anerkannt werden. In ihrer tendenziell grenzenlosen Destruktivität unterscheidet sich die Langeweile von der Depression: Wo diese destruktiv an einem Objekt festhält, greift jene die Möglichkeit einer erfüllten Beziehung zu den Objekten generell an. Deshalb auch fehlen in ihr die Schuldgefühle, die eine Depression kennzeichnen. Doch wie für jede Stimmung gilt auch für die Langeweile, dass ihr nicht nur ein destruktives, sondern auch ein konstruktives Potential eigen ist; denn sie eröffnen die Möglichkeit, »selbst etwas zu begehren« (Phillips 1997, S. 106). Wie beide in totalisierende Destruktivität entgleisen können, können sie auch produktive Kräfte freisetzen (vgl. Rath 2003, S. 83).
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■ Die destruktive und die produktive Kraft der Stimmung Auf den ersten Blick erscheinen Stimmungen wenig produktiv. Indem sie sich »wie ein Nebel« (Rath 2003, S. 75) über die Triebansprüche legen, üben sie ihren alles eröffnenden, aber zugleich diffus hemmenden Einfluss auf die Gefühlswelt aus. Oft weiß man nicht, aus welchen Gefühlen eine Stimmung besteht, woher sie kommt und wohin sie führt: Man weiß nicht, was sie bedeuten soll. Dass sie augenscheinlich etwas verbirgt, macht die Stimmung unheimlich; in der Tradition von Freuds (1919h, S. 231) Verständnis des Unheimlichen müsste das, was sie verbirgt, etwas »Altbekannte(s), Längstvertraute(s)« sein; etwas, was das Subjekt nicht als solches erkennen kann. Das Unheimliche der Stimmung, so lässt sich vermuten, resultiert daraus, dass es scheint, als wäre ein Objekt bereits da und entziehe sich doch schon wieder, bevor es nur psychisch in Erscheinung getreten ist. Diese qualvolle orpheische Unsicherheit verleiht der Stimmung einen Sogcharakter: Aus der Unsicherheit angesichts des fehlenden, sich in der Annäherung entziehenden Objekts entsteht ein sehnsuchtsvoll übersteigerter Wunsch, das Ersehnte aus der Vergangenheit tatsächlich emporholen zu können. Dieser Wunsch betrifft gleichsam die inneren Fundamente psychischer Beziehungsfähigkeit: Wird es möglich sein, in der Vergangenheit eine reale Beziehungserfahrung aufzufinden, die Grundlage aktueller wie auch künftiger Objektsuche sein kann? Das ursprünglich befriedigende Objekt ist als Vergangenes ja notwendig ein verlorenes Objekt, das gleichwohl einmal existiert hat, so dass ihm nicht unweigerlich die Bedeutung eines vernichtenden Verlustes anhaftet. Wie in der Geschichte von Orpheus und Eurydike stellt sich in der Stimmung indes die Frage, ob es sich bei dem gesuchten geliebten Objekt um ein nur kurzfristig verlorenes oder ein totes, also unwiederbringlich verlorenes Objekt handelt, ob also hinter dem unabweislichen Verlust das ehedem lebendige Objekt wiedergefunden werden kann. Auf diesem Hintergrund können Stimmungen als eine Art Objektsuche begriffen werden, in der unsicher bleibt, ob das verlorene Objekt in seiner Realität jemals wieder gefunden werden wird.
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Wird in der Depression als »milde(r) Form der früheren Melancholie« (Roudinescau 1999/2002, S. 17) das verlorene Objekt qua Identifikation im Ich unbewusst festgehalten und sadistisch verfolgt (Freud 1916–17g, S. 435), so wird es in der Stimmung zunächst auf idealisierende Weise halluzinatorisch herbeibeschworen mit dem Ziel, eine illusionäre Vereinigung zu bewirken. Dadurch knüpft die Stimmung an jene frühen Erfahrungen an, in denen das Gewünschte »einfach halluzinatorisch gesetzt« wird, sobald ein Bedürfnis den »psychischen Ruhezustand« stört (Freud 1911b, S. 231f.). In diesem Stadium omnipotenter Kontrolle (Winnicott 1951/1983, S. 315), in dem der Säugling noch die Illusion hegt, er habe das Objekt (die Brust) selbst erschaffen, sind Innen und Außen noch nicht getrennt, haben die Objekte also noch nicht die Bedeutung einer realen Möglichkeit gewonnen. Weil das Objekt mithin noch nicht als reales repräsentiert werden kann, droht in der Stimmung mit dem Beschwören des ursprünglich halluzinatorisch gleichsam selbst erschaffenen Objekts auch die plötzliche Erfahrung von Vernichtung und Leere: Bleibt die Wunscherfüllung lange aus, geht mit der halluzinatorischen Illusion auch die Hoffnung verloren, das Gewünschte tatsächlich einmal finden zu können. Das entspricht der von Melanie Klein (1935/1994, S. 62) dargestellten Beobachtung, dass kurz vor dem Erreichen der depressiven Position und mit einer verstärkten Integration guter und böser Anteile zu einem ganzen Objekt das Ich »ständig in seinem Besitz der guten, verinnerlichten Objekte bedroht« und voller Angst ist, »dass diese Objekte sterben könnten«. Solche depressiven Ängste entstehen, wenn das Individuum das Gefühl haben muss, beim Bewahren der »guten inneren Objekte versagt« und »sie niemals sicher genug besessen« (Klein 1935/1994, S. 63) zu haben. Es versucht dann voller Angst und Sorge, die guten Objekte zu retten und wiederherzustellen, so dass es sich nicht von den ursprünglich inneren Objekten trennen und der je realen Außenwelt zuwenden kann. Dadurch läuft es Gefahr, auf die paranoidschizoide Position zu regredieren, was eine Desintegration guter und böser Objektvorstellungen sowie eine Verstärkung von Hass und paranoiden Ängsten zur Folge hat. Ich nehme an, dass die Stimmung auf einem Grad balanciert beziehungsweise einen Punkt markiert, an dem depressive Gefühle
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in extremste paranoide Vernichtungsängste umschlagen können und umgekehrt. Die Stimmung nimmt das Scheitern der Depression als Möglichkeit vorweg: In ihr drückt sich die Unentschiedenheit darüber aus, ob ein gutes, lebendiges Objekt gefunden werden kann oder ob dieses als endgültig verloren und unwiederbringlich vernichtet erfahren werden muss. Wird der mögliche Verlust in der guten Stimmung verleugnet, so erscheint er in der schlechten Stimmung als beschlossene Sache. Um die in beiden Fällen drohenden Vernichtungsängste abzuwehren und den jähen Absturz in Einsamkeit und Leere zu verhindern, muss also unausgesetzt versucht werden, in der Phantasie eine omnipotente Kontrolle über das Objekt auszuüben. Daher enthält die Stimmung das Paradoxon, dass die Objektwelt in ihr zwar ersehnt wird, auf keinen Fall aber wirklich erscheinen darf. Insofern die Objekte noch nicht die Bedeutung einer äußeren Realität gewonnen haben (Ebrecht 2000, 2003) und auch nicht gewinnen dürfen, handelt es sich bei der Stimmung um eine Gefühlslage, die sich einem vorsymbolischen Stadium verdankt. Vorsymbolisch können Stimmungen deshalb genannt werden, weil sie sich im Vorfeld der depressiven Position bewegen, in dem es noch keinen symbolischen »Niederschlag der Trauer um das Objekt« (Segal 1991/1996, S. 60) geben kann, da ja die Trennung von den inneren Objekten und mit ihr die Unterscheidung in innere und äußere Objekte noch nicht vollzogen ist. In diesem Stadium ist aber die »symbolische Gleichsetzung« (Segal 1991/1996, S. 54; Klein 1930/1995, S. 353) zwischen einem inneren und einem äußeren Objekt bereits ansatzweise in Richtung auf eine »symbolische Darstellung« aufgehoben, da sich als Drittes die vom Subjekt erschaffene Halluzination zwischen es selbst und das Objekt geschoben hat. Da es sich dabei jedoch um eine pure Illusion handelt, bleibt dieses Stadium früher Symbolisierung stets vom Zusammenbruch, von Desymbolisierung und Regression in die Dyade bedroht. Dennoch bilden Stimmungen eine wichtige Grundlage zur Entfaltung von Eigenaktivität in Richtung auf eine reale Wunscherfüllung, da sie – an die produktiv schöpferische Kraft halluzinatorischer Wunscherfüllung anknüpfend – in dem halluzinierten Objekt auch die wirkliche Wunscherfüllung suchen. Wie das Baby,
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das die Brust erwartet, noch unentschieden ist, ob sie kommen wird, ob es lachen oder weinen soll, bleibt auch die Stimmung oft unentschieden. Während die Gewissheit, etwas werde kommen, eher als Grundlage von Zweckrationalität gelten kann, erscheint die zunächst unverlässlichere Stimmung in ihrem konstruktiven Gelingen als Grundlage schöpferischer Phantasietätigkeit auf der Grenze zwischen Hoffen und Bangen. Es könnte sich dabei um ein Übergangsstadium handeln, das einen symbolischen Raum eröffnet, der mit Phantasien über das gute wie auch das böse Objekt gefüllt wird, so dass die äußere Welt mit Bedeutung versehen werden kann. Denn wenn das gesuchte Objekt in seiner Bedeutung für das Subjekt entworfen wird, erhält auch die Außenwelt als solche einen Sinn. In einer Hinsicht hat die Stimmung daher auch und gerade ein kritisches Potential: Gegen die von einer überversorgenden, kaum frustrierenden mütterlichen Realität nahe gelegte Gewissheit und Entschiedenheit, es werde stets und immer etwas kommen, setzt die Stimmung das Unentschiedene, Erwartungsvolle verbunden mit der Hoffnung, es möge und könne irgendwann auch einmal wieder etwas oder jemand kommen, wenn das Subjekt seine aktiven Potentiale entfaltet. Indem sie die Suche nach dem Objekt fortschreibt und den Verlust zu verhindern sucht, erscheint sie trotz aller ihr eigenen Unsicherheit auch als Vorrichtung, um mit Objektverlust konstruktiv umzugehen. Um indes die konstruktiven Potentiale entfalten zu können, bedarf es der sozialen Erfahrung, dass die eigene Stimmung auch von anderen geteilt wird. Ähnlich der rêverie entspricht die Stimmung jener Phase, in der Mutter und Kind sich aufeinander einstimmen, wenn es um die Frage geht, welche Art der Bedürfnisbefriedigung angezeigt erscheint. Rêverie, jene von Bion (1962/1990, S. 84) dargestellte »träumerische Gelöstheit«, in der die Mutter für »die Wahrnehmung aller ›Dinge‹ von dem geliebten Objekt offen« ist, könnte als grundlegende Stimmung verstanden werden, die ein Gestimmtsein als Eingestimmtsein auf den anderen ermöglicht. Dieses Eingestimmtsein wäre unabdingbar, um im Kind die existentielle Zuversicht zu nähren, dass die Mutter, wenn es nötig ist, auch wirklich kommen wird. Die Erfahrung, dass Bedürfnisse entdeckt und befriedigt werden können, würde demzufolge den tra-
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genden Grund des eigenen Existenzgefühls wie auch des Gefühls der Existenz anderer Menschen bilden. In ihr läge dann auch der Ursprung jener lebenswichtigen Annahme, die eigenen Bedürfnisse einmal selber entdecken und (wenn möglich) auch befriedigen zu können. Aufgrund ihrer Besonderheit, individuelle Phantasietätigkeit in soziales Handeln überführen zu können, wird die Stimmung zu Recht immer wieder auch auf kollektive Phänomene übertragen. Wenn jede Art der Massenbildung erfordert, dass die Einzelnen irgend »etwas miteinander gemein haben, ein gemeinsames Interesse an einem Objekt, eine gleichartige Gefühlsrichtung« (Freud 1921c, S. 90), dann sind kollektive Stimmungen Anzeichen einer solchen Objektsuche. Sie bilden das Anfangsstadium, in dem Gruppen gemeinsame emotionale Grundannahmen über ihre Ziele und Aktivitäten herausbilden und in einen Prozess gemeinschaftlicher Symbolisierung eintreten, deren Zusammenbruch unweigerlich zum Zerfall der Gruppe führt (Bion 1961/2000, S. 185ff., S. 188). In modernen Gesellschaften sind Sinn und Wert im gesellschaftlichen Kontext nicht mehr fraglos durch eine paternalistische Instanz politischer Tradition vorgegeben (Mitscherlich 1963); sie müssen von der sozialen Gemeinschaft in kollektiver Symbolisierung stets neu geschaffen werden. Dabei repräsentieren Stimmungen jene emotionalen Zustände, die die individuelle Innenwelt zu einer Allgemeinheit zusammenfügen, noch bevor kollektive Symbole die destruktiven Kräfte einbinden können. In ihnen eröffnet sich ein Bedeutungsraum, in dem sich Gruppen ganz unterschiedlicher Art und Größe miteinander verbinden, in dem sich Gefühle verallgemeinern und in dem die inneren Objekte der Einzelnen zu allgemeinen symbolischen Vorstellungen guter und böser Objekte zusammengefasst werden. Indem Gruppen sich Vorstellungen eines gemeinsamen Guten schaffen, fügen sie im besten Fall väterliche und mütterliche Anteile zum Bild eines auf fruchtbare Weise ödipal vereinigten Elternpaars zusammen und entwerfen Vorstellungen und Wünsche für die gesellschaftliche Entwicklung. Auf diese Weise wird zugleich auch die psychische Basis für den Fortbestand einer Gemeinschaft geschaffen. Wo sich eine Gesellschaft depressiv in der Krise wähnt und ihr Fortbestand nicht
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mehr sicher erscheint, fehlen dementsprechend auch sichere Vorstellungen eines gemeinsam Guten. In dieser Hinsicht markiert der Begriff der Stimmung gleichsam die emotionale Seite des modernen Fortschrittsgedankens, demzufolge der Rationalisierung aller Lebensbereiche eine stetige Entwicklung zum Besseren entsprechen soll: Geht es gut, soll es immer noch besser gehen, damit die Gefahr des Absturzes in Destruktion gebannt bleibt. Auf der Schwelle zwischen den Jahrhunderten scheinen jedoch die Konflikte deutlicher zu werden, die sich mit diesem Fortschrittsdenken verbinden: Indem der Wandel als Wende die Konnotation einer grundsätzlichen Umkehr und jähen Veränderung erhält, tritt das Unsicherheitspotential der Moderne zutage, das der Fortschrittsoptimismus manisch abwehrt. Gegen die rationalistischen Anforderungen von Gradlinigkeit und Entschiedenheit setzt die Stimmung das Unsichere, Unentschiedene, Erwartungsvolle, stets verbunden mit der Hoffnung, es möge etwas sich zum Guten wenden. Sie kündigt an, dass etwas kommt, aber noch nicht da ist. Und das, was kommt, ist in ihr nicht mehr ganz unbewusst und noch nicht wirklich bewusst. Dadurch erzeugt sie nicht nur Unsicherheit, sondern lässt auch spüren, dass ein Bedeutungswandel bevorsteht, der gleichwohl noch nicht vollzogen ist. Das kann dann sowohl zu einer hoffnungslosen Katastrophenstimmung als auch zu einer hoffnungsvollen Aufbruchstimmung führen. Gegenwärtig sehen wir uns mit dem Problem konfrontiert, dass in Gesellschaften, in denen das soziale Leben von Konsum und Kommunikationstechnik beherrscht wird, Sinn und Bedeutung abnehmen. In einer Gesellschaft, die suggeriert, alle Bedürfnisse und Wünsche erfüllen und die Wunscherfüllung im Konsumrausch von außen steuern zu können, droht der Glaube verloren zu gehen, das erwünschte Objekt könne tatsächlich durch die eigene Aktivität gefunden werden. Denn die Sucht entleert den Wunsch, macht das Objekt bedeutungslos und raubt dem Leben seinen Sinn. Die süchtig aufgeblähte soziale Welt erscheint im Kern öde und leer, an sich schon depressiv konstituiert. In der Moderne fehlt gleichsam die Vorstellung eines guten, hilfreichen Objekts, das die Bedürfnisbefriedigung nicht steuert, das keine Verschmelzung suggeriert, sondern das die Menschen als Gruppen
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in die Lage versetzt, sich gemeinsam Phantasien zu erschaffen, die als Grundlage kollektiven Handelns dienen können. Fehlt diese Vorstellung ganz, dann droht die Stimmung nicht nur krisenhaft depressiv zu werden, sondern ins Katastrophische umzuschlagen. Das derzeit herrschende depressive Lebensgefühl wirft somit auch die Frage auf, ob und wie lange die aktuell wirksamen kollektiven Symbolisierungsprozesse die in der Gesellschaft wachsende Destruktivität noch werden halten können. In dieser Hinsicht hält die depressive Stimmung gegen alle Vernichtungsängste an der Hoffnung fest, es müsse das verlorene Objekt doch noch einmal wiederzufinden sein.
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Angelika Ebrecht
Klein, M. (1935): Zur Psychogenese der manisch-depressiven Zustände. In: Klein, M.: Das Seelenleben des Kleinkindes. 5. Aufl. Stuttgart, 1994, S. 5594. Lepenies, W. (1969): Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt a. M., 1972. Lüthi, W. (1951): Ein Beitrag zur Geschichte der Stimmungen im 18. Jahrhundert. Die Entfaltung des Lyrischen. Pfäffikon-Zürich. Lukács, G. (1960): Die Zerstörung der Vernunft. Werke Bd. 9. Darmstadt u. a. Mitscherlich, A. (1963): Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie. München, 1992. Mitscherlich, A.; Mitscherlich, M. (1967): Die Unfähigkeit zu trauern. München, 1977. Phillips, A. (1997): Vom Küssen, Kitzeln und Gelangweiltsein. Göttingen. Pöggeler, O. (1960): Das Wesen der Stimmungen. Kritische Betrachtungen zum Werk O. Fr. Bollnows. Zeitschrift für philosophische Forschung 14: 272-284. Rath, C.-D. (2003): »Es geht nicht …« – Langeweile. Jahrbuch für klinische Psychoanalyse 5: 67-84. Rathenau, W. (1917): Von kommenden Dingen. Berlin. Roudinesco, E. (1999): Wozu Psychoanalyse? Stuttgart, 2002. Schulze, G. (1992): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a. M. u. a. Segal, H. (1991): Traum, Phantasie und Kunst. Stuttgart, 1996. Siemons, M. (2003): Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. 3. 2003, Nr. 63. Simmel, G. (1900): Philosophie des Geldes. 4. unv. Aufl. Leipzig u. a., 1922. Sombart, W. (1911): Technik und Kultur. In: Jaffé, E.; Sombart, W.; Weber, M. (Hg.): Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 33. Bd., H. 2, S. 305-347. Tönnies, F. (1887): Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. 4./5. Aufl. Berlin, 1922. Weber, M. (1904-05): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Weber, M.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1. Tübingen, 1920, S. 1-206. Weber, M. (1919): Wissenschaft als Beruf. In: Weber, M.: Geistige Arbeit als Beruf. Vorträge vor dem Freistudentischen Bund. München u. a., S. 3-37. Wetz, F. J. (1998): Stimmung. In: Ritter, J.; Gründer, K.: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10. Darmstadt, Sp. 173–176. Winnicott, D. W. (1951): Übergangsobjekte und Übergangsphänomene. In: Winnicott, D. W.: Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. Aus den »Collected Papers« (1941–1956). Frankfurt a. M., 1983, S. 300-319. Winnicott, D. W. (1970): Der Ort der Monarchie. In: Winnicott, D. W.: Der Anfang ist unsere Heimat. Zur gesellschaftlichen Entwicklung des Individuums. Stuttgart, 1990, S. 290-299.
Die Autorinnen und Autoren
Busch, Hans-Joachim, PD Dr. phil., Diplom-Soziologe, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt/ Main, vertritt derzeit eine Professur für Soziologie und Sozialpsychologie an der Universität Frankfurt. [email protected] Deserno, Heinrich, Dr. med., Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker und Lehranalytiker (IPA, DPV), Gruppenanalytiker (DAGG), Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt/Main. [email protected] Ebrecht, Angelika, PD Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychologische Psychotherapeutin und psychologische Gutachterin. [email protected] Hau, Stephan, PD Dr. phil., Psychoanalytiker (DPV, IPA), Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Grundlagenabteilung (empirische Schlaf- und Traumforschung) am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt/Main. [email protected] Haubl, Rolf, Dr. Dr., Professor für Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie an der Universität Frankfurt/Main und Direktor des Sigmund-Freud-Instituts, Frankfurt/Main; Gruppenlehranalytiker, gruppenanalytischer Supervisor und Organisationsberater. [email protected]
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Die Autorinnen und Autoren
Heim, Robert, Prof. Dr. phil., Psychoanalytiker in eigener Praxis in Frankfurt/Main und lehrt als außerplanmäßiger Professor Psychoanalyse und Sozialpsychologie an der Universität Hannover. [email protected] Hoff, Dagmar von, Dr. phil., Wissenschaftliche Assistentin am Literaturwissenschaftlichen Seminar der Universität Hamburg. [email protected] Leuzinger-Bohleber, Marianne, Prof. Dr. phil., Klinische Psychologin, Psychoanalytikerin, Geschäftsführende Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts Frankfurt/Main und Professorin für psychoanalytische Psychologie an der Universität Kassel. [email protected] Plänkers, Tomas, Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychoanalytiker (DPV, IPA), Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt/Main und niedergelassen in eigener Praxis. Lehranalytiker am Frankfurter Psychoanalytischem Institut (FPI). [email protected] Quindeau, Ilka, Dr. phil. habil, Dipl.-Soziologin und Dipl.-Psych., Professorin für Klinische Psychologie an der Fachhochschule Frankfurt/Main und Psychoanalytikerin. [email protected]
Schriften des Sigmund-Freud-Instituts Nach Prognosen der Weltgesundheitsorganisation entwikkelt sich die Depression weltweit zur Volkskrankheit. Lange Zeit galten Depressionen als leicht zu behandeln. Diese Auffassung hat sich angesichts neuer Studien radikal verändert: Über die Hälfte der Patientinnen und Patienten erleiden nach Therapie einen Rückfall und 20 bis 30 Prozent chronifizieren ihr Leiden. Daher ist eine gemeinsame Anstrengung von Praktikern verschiedenster Professionen und von Forschern unterschiedlichster Disziplinen geboten. Dieser Band illustriert, dass sich der Blick über den Zaun der eigenen Disziplin gleichzeitig als verunsichernd und herausfordernd, aber auch als motivierend und förderlich erweist. Mit Beiträgen von Gherardo Amadei, Jules Angst, Heinz Böker, Jacek Bomba, Jo-Anne Carlyle, Heinrich Deserno, Melitta Fischer-Kern, Stephan Hau, Rolf Haubl, Martin Hautzinger, Gerd Laux, Marianne Leuzinger-Bohleber, Marcella Rietschel, Anne Katrin Risch, Christian Scharfetter, Katarzyna Schier, Peter Schuster, Sigmund Soback, Marianne Springer-Kremser, Ulrich Stangier, Hans Stassen, Nicolas Tzavaras.
Marianne LeuzingerBohleber / Stephan Hau / Heinrich Deserno (Hg.)
Depression – Pluralismus in Praxis und Forschung Schriften des Sigmund-Freud-Instituts, Reihe 1: Klinische Psychoanalyse: Depression, Band 1 2005. 353 Seiten mit 22 Abbildungen und 15 Tabellen, kartoniert ISBN 3-525- 45164-4
Depressive Verstimmungen Kurt und Gudrun Eberhard
Stavros Mentzos
Typologie und Therapie der depressiven Verstimmungen
Depression und Manie
1997. 143 Seiten , kartoniert ISBN 3-525-01436-8
Es deutet alles darauf hin, dass sich unter dem Begriff Depression sehr unterschiedliche Störungsformen angesammelt haben, die erst nach ihren Eigenheiten und Gesetzmäßigkeiten erkannt werden müssen, bevor man nach den Ursachen und Therapiemöglichkeiten fragt. Kurt und Gudrun Eberhard haben sich diese Aufgabe gestellt. Auf der Basis langjähriger therapeutischer Erfahrungen, wissenschaft-licher Forschungsergebnisse und der Analyse psychographischer Romane haben sie systematisch die verschiedenen Ausprägungen der depressiven Verstimmungen untersucht. In ihrer Typologie werden die verschiedenen Faktoren der Entstehung deutlich, die Merkmale für eine exakte Indikationsstellung und die psychodynamischen Verlaufstypen. Dazu werden praktische, typspezifische Therapievorschläge unterbreitet, die sich in der Praxis der Berliner Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie bereits gut bewährt haben.
Psychodynamik und Therapie affektiver Störungen 3. Auflage 2001. 206 Seiten mit 5 Abbildungen und 3 Tabellen, kartoniert ISBN 3-525-45775-8
Depressive Psychosen und die Manien gelten als endogene Erkrankungen, die darum auch – relativ erfolgreich – mit Psychopharmaka behandelt werden können. Dagegen kann aber auch nicht übersehen werden, daß es sehr häufig schwerwiegende Trennungserlebnisse sind, Verluste, Kränkungen oder Enttäuschungen, die solche Krankheitsmanifestationen auslösen. Und zuvor schon bestehende innerseelische Konflikte, spezifische Abwehrmechanismen und Charakterstrukturen, psychogene Faktoren also, prägen die Symptomatik mit. Stavros Mentzos erschließt die zirkulare Kausalität dieser Faktoren in seinem integrativen psychosomatischen Modell. Die ausführlichen Behandlungsberichte verdeutlichen seinen therapeutischen Zugang – und seine vielfachen, erstaunlichen Behandlungserfolge.