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German Pages [237] Year 2012
Max Weber zwischen Heinrich Rickert und Johannes von Kries
Collegium Hermeneuticum Deutsch-italienische Studien zur Kulturwissenschaft und Philosophie Begründet von Manfred Riedel und Fulvio Tessitore Herausgegeben von Fulvio Tessitore und Jürgen Trabant Wissenschaftlicher Beirat: Tilman Borsche, Giuseppe Cacciatore, Gunter Gebauer, Antonello Giugliano, Matthias Jung, Michele Lenoci, Giancarlo Magnano San Lio, Harald Seubert Band 13
Edoardo Massimilla
Max Weber zwischen Heinrich Rickert und Johannes von Kries Drei Studien Aus dem Italienischen übersetzt von Charlotte Voermanek
2012 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Max Weber (1864–1920)
Die Originalausgabe: Tre studi su Weber fra Rickert e von Kries, Liguori Editore, Napoli, 2010. © 2010, Liguori editore S.r.l. German edition published by arrangement with Eulama Literary Agency, Roma.
© der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: xPrint s.r.o., Pribram Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-20778-6
für Fulvio Tessitore
Inhalt Vorwort ................................................................................................. 9
Rickerts Aufsatz über das ‚Allgemeine‘ in der Geschichte als Leitfaden für Max Webers Rezeption der Grenzen ...................... 21 I. Logik und Erkenntnistheorie .......................................................... 21 II. Das Problem der Geschichte als Wissenschaft vom Individuellen .... 27 III. Die Begriffselemente oder die erste Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte ........................................................................... 36 IV. Was für alle bedeutsam ist oder die zweite Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte ........................................................................... 55 V. Das Ganze in Bezug auf die Teile oder die dritte Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte ..................................................... 73 VI. Das Zusammenfassen in Gruppen oder die vierte Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte ..................................................... 86 VII. „Allseitigkeit und Differenzierung“ ................................................. 103
Weber, Rickert und der historische Kausalzusammenhang ............... 105 I.
Rickert und Weber ......................................................................... 105
II. Der historische Kausalzusammenhang ............................................ 116
Die von Weber „geplünderte“ Idee: objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung bei Johannes von Kries ................................. 140 I. Rickert und Webers Aneignung des Kries’schen Modells der kausalen Zurechnung................................................................ 143
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Inhalt
1. Rickert und/oder Kries .............................................................. 143 2. Kausalprinzip, Kausalgesetz und historischer Kausalzusammenhang ............................................................... 145 3. Die Wertbeziehung als Kriterium der Begrenzung des Explanandums .......................................................................... 147 4. Das nomologische Wissen als unentbehrliches Werkzeug der kausalen Zurechnung in der Geschichte .................................... 149 II. „Ein Philosoph auf dem Freiburger Lehrstuhl für Physiologie“: Johannes von Kries (1853–1928) ................................................... 155 III. Der Begriff der objektiven Möglichkeit .......................................... 160 1. Die Universalität des Kausalprinzips und die Konsistenz des Begriffs der objektiven Möglichkeit ........................................... 161 2. Die Erkenntnisrelevanz des Begriffs der objektiven Möglichkeit: der Spielraum ............................................................................ 165 3. Der Begriff der objektiven Möglichkeit κατ’ ν . .............. 169 4. Weitere Anwendungen des Begriffs der objektiven Möglichkeit ............................................................................... 174 IV. Der Begriff des ursächlichen Zusammenhangs ................................ 178 1. Konkrete und abstrakte ursächliche Zusammenhänge ................ 179 2. Das ursächliche Moment ........................................................... 181 3. Adäquate und zufällige Verursachung ........................................ 184 4. Kritik an der Unterscheidung zwischen den Bedingungen eines Erfolgs und seiner Hauptursache ...................................... 188 5. Die Begrenzung der Kausalitätsbegriffe und ihre Grenzen ......... 194 6. Erkenntnisinteresse und praktische Motivationen: Weber und Kries, Weber vs. Kries ............................................. 201 V. Der Begriff des ursächlichen Zusammenhangs im Strafrecht .............. 209 Abkürzungsverzeichnis .......................................................................... 225 Namensverzeichnis ................................................................................ 227
Vorwort
Die in diesem Band zusammengefassten Studien über Max Weber befassen sich im Wesentlichen mit drei einheitlichen Kernthemen: der Konstruktion des historischen Objekts, der Rolle der Abstraktion in den Geschichtswissenschaften und der kausalen Betrachtung der Geschichte. Es handelt sich hierbei durchaus um häufig behandelte Themen, die im Mittelpunkt der methodologischen Auseinandersetzungen Webers stehen. Dies gilt insbesondere für jenen Zeitraum, den man zusammenfassend als seine „Erste Phase“ bezeichnen könnte (1903–1909)1, und den man als Gegenstück zu seinen innovativen Untersuchungen über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus lesen und interpretieren muss, mit denen sich der Wissenschaftler in jenen Jahren befasste2. Denn er verstand seine methodologischen Überlegungen stets als eine Art „Krankheitsbericht nicht des Arztes [der Logiker und Erkenntnistheoretiker vom Fach], sondern des Patienten selbst [der Historiker und die Fachleute von Nachbardisziplinen]“3, oder auch jenseits aller Metaphern als „Selbstbesinnung auf die Mittel […], welche sich in der Praxis bewährt haben“. Und diese Selbstbesinnung ist „sowenig Voraussetzung fruchtbarer Arbeit, wie die Kenntnis der Anatomie Voraussetzung ‚richtigen‘ Gehens“4, sondern sie wird üblicherweise wichtig „für den Betrieb der Wissenschaft […], wenn infolge starker Verschiebungen der ‚Gesichtspunkte‘, unter denen ein Stoff Objekt der Darstellung wird, die Vorstellung auftaucht, daß die neuen ‚Gesichtspunkte‘ auch eine Revision der logischen Formen bedingen, in denen
1 Vgl. z.B. G. Nollmann, Max Webers Vergleich von Rechts- und Sozialwissenschaft. Die Entwicklung seiner Kausalitätstheorie und deren Konsequenzen für Kausalaussagen in der Sozialforschung, in „Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie“, 92 (2006), 1, S. 93–111, S. 94. 2 Es soll nur kurz daran erinnert werden, dass das Antikritische Schlußwort zum „Geist des Kapitalismus“, die letzte von Webers vier Repliken auf die Kritiken von H. Karl Fischer und Felix Rachfahl zu Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904–1905), im Jahr 1910 in Band XXXI des „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ veröffentlicht wurde. 3 M. Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik (1906), in ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, 1988, S. 215–290, I. Zur Auseinandersetzung mit Eduard Meyer, S. 215–265 (im Folgenden: KS I), S. 215. 4 Und sogar: „Ja, wie derjenige, welcher seine Gangart fortlaufend an anatomischen Kenntnissen kontrollieren wollte, in Gefahr käme zu stolpern, so kann das Entsprechende dem Fachgelehrten bei dem Versuche begegnen, auf Grund methodologischer Erwägungen die Ziele seiner Arbeit anderweit zu bestimmen“ (KS I, S. 217).
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Vorwort
sich der überkommene ‚Betrieb‘ bewegt hat, und dadurch Unsicherheit über das ‚Wesen‘ der eigenen Arbeit entsteht“5. Die vorliegenden Studien sind jedoch auch ein Versuch, die oben genannten Themen nicht direkt ausgehend von Webers Schriften zu betrachten, sondern sie vielmehr als den Endpunkt eines Prozesses zu sehen, der seinen Ausgang in der ausführlichen Untersuchung einiger Texte von Heinrich Rickert und Johannes von Kries nimmt, welche beide zu den Kollegen der glücklichen Freiburger Jahre (1894–1896) gehören, die Weber als „,exzeptionell angenehm‘“6 beschreibt. Darüber hinaus handelt es sich bei beiden um Autoren, denen gegenüber der „Methodologe Weber“ (im obigen Sinn zu verstehen) ausdrücklich eine intellektuelle Schuld von größter Bedeutung anerkennt. Neben einigen Abschnitten aus der ersten Auflage von Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (1902) sind in diesem Hinblick insbesondere Rickerts Aufsatz Les quatre modes de l’„Universel“ dans l’histoire, veröffentlicht 1901 in der von Henri Berr herausgegebenen „Revue de Synthèse Historique“, und von Kries’ Aufsatz Ueber den Begriff der objectiven Möglichkeit und einige Anwendungen desselben, veröffentlicht 1888 in der von Richard Avenarius herausgegebenen „Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie“, zu berücksichtigen. Worin liegen die Stärken einer solchen Vorgehensweise? Sie erschöpfen sich meines Erachtens nicht in dem schwer abstreitbaren Vorteil, Quellen von unzweifelhafter Bedeutung aufmerksam zu analysieren, und sie erschöpfen sich auch nicht in dem Umstand, dass eine solche Analyse dem Interpretierenden häufig ermöglicht, dem verborgenen Sinn des schwierigen weberschen Diktats auf den Grund zu gehen. Sondern ich bin in der Tat der Ansicht, dass diese besonderen philologischen Ergebnisse dazu beitragen, einen gemeinsamen Interpretationsrahmen zu festigen und zu bestärken, welcher zwei Dinge zugleich berücksichtigt: nämlich einerseits, dass Weber, oder zumindest der Weber des ersten Jahrzehnts des letzten Jahrhunderts, die von Rickert und Kries entwickelten logischen Begriffsinstrumente kombiniert und mit vollen Händen benutzt, wenn sein Blick auf das Selbstverständnis seiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit gerichtet ist (das sehr eng mit deren tatsächlicher Entwicklung verbunden ist), und andererseits, dass er mit ebensolcher Entschiedenheit diese Begriffsinstrumente aus ihrem ursprünglichen Umfeld herauslöst – dem ‚kritischen Positivismus‘ von Kries und der ‚Kulturphilosophie‘ Rickerts – und sie den Besonderheiten und Neuheiten der eigenen Probleme anpasst. Diese Probleme sind inhaltlicher und methodologischer Natur, zugleich aber auch der hauptsächliche Ausdrucksort der weberschen Philosophie, welche immer (und 5 KS I, S. 217–218. 6 Vgl. Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen, 1926, S. 217.
Vorwort
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gewollt) „wirkliche Philosophie vor ihrer Deutung, nicht gedachte Philosophie als solche, die auch ohne Wirklichkeit scheinbar im bloßen Denken sein kann“, ist7. Mit anderen Worten: Wenn man die Beziehung, die Weber mit Rickert und Kries (und wohl mit allen seinen wichtigen Quellen) verbindet, aus der Nähe betrachtet, muss man an Thomas Stearns Eliots berühmten Satz „Unreife Dichter imitieren, reife Dichter stehlen.“ denken, und vielleicht mehr noch an eine Textstelle, auf die er verweist: eine lecture über Shakespeare von Ralph Waldo Emerson, in der es heißt: „Eine Art Gesetz der Literatur ist, dass der Mensch, nachdem er sich als des originellen Schreibens (original writing) fähig erwiesen hat, deswegen autorisiert und legitimiert ist, nach Belieben aus den Schriften anderer zu stehlen“8. Folgen wir dem Faden der Analogie weiter, kommen wir unweigerlich auf das Grundproblem zurück: Ausgehend davon, dass Webers Fähigkeit des original writing unbestreitbar ist, ist nun zu bestimmen, worin genau sie besteht. Zu diesem Problem, das mehr oder weniger ausdrücklich im Mittelpunkt der gesamten Weber-Forschung steht, kann dieses Buch nur aufgrund der spezifischen Ergebnisse der drei Einzelstudien einen interessanten Beitrag liefern. Im Folgenden gebe ich einige knappe Hinweise zu den allgemeinen Interpretationsansätzen, von denen diese Untersuchungen ihren Ausgang genommen haben, um deren tatsächliche philologische und dokumentarische Konsistenz zu belegen. Zunächst möchte ich betonen, dass ich der These voll zustimme, dass der spezifische Charakter des original writing Webers nicht durch „eifriges Flicken und Ergänzen“ der „Bruchstückhaftigkeit“ seines Werkes gefunden werden kann, welche durchaus nicht „in dem frühzeitigen Tod des Autors begründet 7 Vgl. K. Jaspers, Max Weber. Politiker, Forscher, Philosoph (bereits 1932 unter dem Originaltitel Max Weber. Deutsches Wesen im politischen Denken, im Forschen und Philosophieren erschienen), München, 1958, S. 70: „Max Weber philosophierte nicht geradezu; vielmehr ist sein Philosophieren aufzusuchen in dem, was er als Politiker und Forscher und als Mensch faktisch tat. Es ist wirkliche Philosophie vor ihrer Deutung, nicht gedachte Philosophie als solche, die auch ohne Wirklichkeit scheinbar im bloßen Denken sein kann“. 8 R.W. Emerson, Shakespeare, or: the Poet, in ders., Representative Men. Seven Lectures, London, 1850, S. 115–136, S. 121. Vgl. hierzu E. Raimondi, La metamorfosi della parola. Da Dante a Montale, Mailand, 2004, S. 69f. Raimondi unterstreicht auch, dass bei Emerson das Thema der notwendigen polaren Spannung zwischen quotations und originality bei weitem den Bereich der Literatur überschreitet und den gesamten Bereich der menschlichen Realität durchdringt. – Dass Weber selbst sich durchaus der Möglichkeit bewusst war, dass seine Beziehung zu Kries und Rickert in die Kategorie ‚Diebstahl‘ eingeordnet werden könnte, zeigen ausdrücklich eine Passage aus Kritische Studien, von der der Titel der dritten Studie in diesem Band abgeleitet ist, und kaum verhüllt eine (viel häufiger zitierte) Passage aus Roscher und Knies, die der zweiten Studie dieses Bandes vorangestellt ist.
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Vorwort
ist“ und auch nicht „mit der für Webers Andenken beleidigenden Behauptung gerechtfertigt werden kann, er habe seine Gedanken nicht zu Ende gedacht“. Vielmehr ist sie „der unausweichliche Zusatz zu seinem ursprünglichen philosophischen Ansatz“9. Genauer – wie es Fulvio Tessitore schreibt – „drückt Webers ‚Fragmentarismus‘ die Bedeutung seiner Philosophie und seiner Auffassung von Wissenschaft aus, welche beide als problematisierende Funktionen einer Erkenntnis gesehen werden, die nicht die zuvor bestehende Wirklichkeit ausdrückt, sondern sie in ihrer Neuheit konstruiert und ihr einen Sinn gibt“: Gerade aus diesem Grund „positioniert sich Weber im 20. Jahrhundert an der Spitze eines Prozesses, der nach Kant und über Kant hinaus von Wilhelm von Humboldt eingeleitet wurde, der einen anderen und doch analogen ‚Frag9 F. Ferrarotti, Introduzione zu der italienischen Übersetzung von K. Jaspers, Max Weber. Politiker, Forscher, Philosoph, op. cit.: Max Weber. Il politico, lo scienziato, il filosofo, hrsg. von E. Pocar, Rom, 1998, S. 9–21, S. 16, 17 und 19. Ferrarotti entwickelt diese These in scharfer Auseinandersetzung mit den „heutigen systematischen Soziologen“, die „sich mit großem gutem Willen und löblicher philologischer Akribie damit befassen, die Bruchstücke von Webers Werk zusammenzusetzen“, nur weil sie Angst haben, „jede Sache oder Struktur und jedes Verhalten auf einen ‚ergänzenden Teil‘, ein ‚Subsystem‘ oder einen ‚Verhaltensrahmen‘ [pattern-variable] in den sauberen Fächern des eigenen Systems zu reduzieren, von dem sie annehmen, dass dort die gesamte Geschichte landet und sich mehr oder weniger ruhmreich beschließt“ (ebd., S. 17). Nach Ferrarottis Ansicht hypostasiert auch der Versuch, die Bruchstücke von Webers Werk wieder „zusammenzusetzen“, ausgehend von seinem „ständigen Interesse“ für den Sonderweg des Okzidents – und zugleich seiner „grandiosen analytischen und synoptischen Anstrengung“ folgend, in diesem Hinblick „im Wesentlichen unterschiedliche Variable“ (geophysische und ökonomisch-juristische Eigenschaften, kulturelle Traditionen, Glauben, moralische Verhaltensweisen usw.) zueinander in Beziehung zu setzen – am Ende häufig den ausgewählten Gesichtspunkt und gelangt so zu nicht nachvollziehbaren Ergebnissen: „Schluchter ist zu Recht fasziniert von dem machtvollen Gemälde, das Weber skizziert. Er errät den allgemeinen Entwurf, er sucht, entgegen den Reserven, die Weber selbst gegenüber der ungenauen Soziologie des ‚bestimmenden Faktors‘ hegt, nach dem zentralen, dem dominierenden Motiv, glaubt, es in dem ‚besonderen Rationalismus der westlichen Kultur‘ gefunden zu haben, und errichtet auf diesem ‚Faktor‘ die vereinheitlichte und vervollständigte Theorie einer diachronischen geschichtlichen Entwicklung, die seiner Ansicht nach auf dem gesamten Planeten ablaufen würde und die Weber selbst, wenn der die Zeit gehabt hätte, vollständig dargelegt hätte. Ich gebe zu, dass die Versuchung groß und vielleicht unwiderstehlich ist. Aber bei Weber […] gibt es nichts dergleichen. Weber war weit entfernt von jeglicher, auch nur im Entferntesten evolutionistischen Auffassung. Die Idee, dass man besondere ‚Stadien‘ der Entwicklung der menschlichen Geschichte, welche er immer als ein Schlachtfeld widerstreitender Wertrichtungen betrachtete, als einen unvorhergesehenen ‚Polytheismus der Werte‘, der sich im Wesentlichen durch eine grundlegende Unbestimmtheit kennzeichnet, gar festlegen und vorhersehen könnte, konnte für ihn nur haarsträubend und wissenschaftlich unhaltbar sein“ (ebd., S. 18–19).
Vorwort
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mentarismus‘ vertrat, und seinen Verlauf über Dilthey nahm, der in seinem gewaltigen Bemühen, jede und alle Einzelwissenschaften zu befriedigen, einen ähnlichen Weg einschlug“10. Die Bruchstückhaftigkeit von Webers Werk hat also weder eine zufällige Dimension, noch ist sie ein auszumerzender Mangel, sondern sie stellt das Ergebnis einer konsequenten „anthropologischen“11 Beugung der kantischen Philosophie dar, die zum Schaden jeglichen Bemühens in Richtung der transzendentalen Neugründung einer ‚Wissenschaft vom Seienden als solchem‘ vielmehr das Thema der „Grenze des Wissens und der Wissenschaft“12 radikalisiert und zugleich historisiert, eine Grenze, die in der Möglichkeit des Wissens und der Wissenschaft selbst enthalten ist. Eine der wesentlichen Stärken einer solchen Lesart von Webers Werk besteht meines Erachtens in der Möglichkeit, die gegenseitigen, wirklich komplexen, in gewisser Weise gar kreisförmigen Beziehungen besser zu beleuchten, die zwischen den Annahmen und den Inhalten seiner „Wissenschaft vom Menschen“ bestehen – ein Ausdruck mit dem, wie Wilhelm Hennis betont, Weber seit seiner Antrittsvorlesung 1895 in Freiburg konstant den Kern seiner vielfältigen Untersuchungen bezeichnet hat (also bereits einige Zeit vor dem Beginn seiner quälenden Auseinandersetzung mit den „Logikern und Erkenntnistheoretikern vom Fach“)13. Um die Kernpunkte der Thematik zu betonen, bietet es sich an, von Webers bekannter Definition auszugehen: „,Kultur‘ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“. Daher ist „transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft“, verstanden als Wissenschaft vom Menschen, „daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen. Welches immer dieser Sinn sein mag, er wird dazu führen, daß wir im Leben bestimmte Erscheinungen des menschlichen Zusammenseins aus ihm heraus beurteilen, zu ihnen als bedeutsam (positiv oder negativ) Stellung nehmen“. Dabei ist of10 F. Tessitore, Alcune osservazioni sulla „secolarizzazione“ in Weber (2005), in „Archivio di storia della cultura“, XIX (2006), S. 73–96, S. 75–76. 11 Ebd., S. 86. 12 Ebd., S. 75. 13 Vgl. W. Hennis, Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, Tübingen, 1987 und ders., Max Webers Wissenschaft vom Menschen. Neue Studien zur Biographie des Werk, Tübingen, 1996. Siehe auch A. D’Attore, Perché gli uomini ubbidiscono. Max Weber e l’analisi della socialità umana, Vorwort von R. Bodei, Neapel, 2004, S. 39ff. Auch Jaspers bemerkt: „Seine [Webers] Forschung gewann ihre Achse aber erst dadurch, daß alles auf den Menschen bezogen wurde, und zwar auf den Menschen in der geschichtlich sich wandelnden Gesellschaft“ (K. Jaspers, Max Weber. Politiker, Forscher, Philosoph, op. cit., S. 42).
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fensichtlich, dass sich jenseits jeder möglichen Divergenz, das „wissenschaftliche Interesse“ für die fraglichen Erscheinungen letztendlich auf eine ausreichend weite Anerkennung der Tatsache stützt, dass sie nicht unbedeutend sind, also auf ihre „Kulturbedeutung“14. Das impliziert, dass jede Kulturwissenschaft als Wissenschaft vom Menschen nicht nur als spezifisches Objekt15, sondern auch als Bedingung der Möglichkeit denjenigen „Begriff der ‚Persönlichkeit‘“ hat, „welcher ihr ‚Wesen‘ in der Konstanz ihres inneren Verhältnisses zu bestimmten letzten ‚Werten‘ und Lebens-‚Bedeutungen‘ findet, die sich in ihrem Tun zu Zwecken ausmünzen und so in teleologisch-rationales Handeln umsetzen“16 – eine Persönlichkeit also, die an den Antipoden der immer wieder hervortretenden „romantisch-naturalistische[n] Wendung“ dieses Ausdrucks steht, da ihr „eigentliches Heiligtum“ eben nicht „in dem dumpfen, ungeschiedenen vegetativen ‚Untergrund‘ des persönlichen Lebens, d.h. in derjenigen, auf der Verschlingung einer Unendlichkeit psycho-physischer Bedingungen der Temperaments- und Stimmungsentwickelung beruhenden ‚Irrationalität‘ [liegt], welche die ‚Person‘ ja doch mit dem Tier durchaus teilt“17. Bezieht man sich nun speziell auf diese Idee der Wissenschaft vom Menschen, mit der sich Weber sein ganzes Leben lang befasste, lässt sich zu Recht behaupten, dass von seinem Gesichtspunkt aus „die Erkenntnis nicht die zuvor bestehende Realität ausdrückt, sondern sie in ihrer Neuheit konstruiert und ihr einen Sinn gibt“18. Es ist jedoch nachdrücklich zu betonen, dass – auf der Seite des Erkennens genauso wie auf jener des Erkannten – dieses ‚Konstruieren‘ 14 M. Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, op. cit., S. 146–214, S. 180–181. 15 Natürlich stimmt der Begriff des „spezifischen Objekts“ nicht mit jenem des „einzigen Objekts“ überein. 16 M. Weber, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie (1903–1906), in ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, op. cit., S. 1–145 (im Folgenden: RuK), S. 132. Zu diesem Punkt vgl. W. Schluchter, Rationalismus der Weltbeherrschung, Frankfurt a.M., 1980, S. 35ff, und F. Tessitore, Alcune osservazioni sulla „secolarizzazione“ in Weber, op. cit., S. 86–87. Aber siehe auch D. Henrich, Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, Tübingen, 1952, S. 82ff. 17 RuK, S. 132. Von diesem „Wesen“ des Persönlichkeitsbegriffs untersucht Weber ausführlich die „Geburt“. In der Tat ist sein spezifisches Interesse für die prophetischen Religionen bekanntermaßen vor allem verbunden mit der „Zusammenfassung [...] des praktischen Verhaltens zu einer Lebensführung“, welche wo auch immer das idealtypische Ergebnis der echten Prophetie ist (M. Weber, Religiöse Gemeinschaften, in Max Weber Gesamtausgabe, I/22: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, 2, hrsg. von H.G. Kippenberg in Zusammenarbeit mit P. Schilm und J. Niemeier, Tübingen, 2001, S. 193). 18 Vgl. oben, Fußnote 10 (Hervorhebung E.M.).
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keinesfalls ein ‚Schöpfen‘ ist, das zumindest tendenziell von dem relativen Anderssein der anderen Kulturmenschen und dem tiefgreifenden Anderssein der Natur gelöst ist, die uns nicht gegenüber steht, sondern uns alle durchdringt. Mit anderen Worten: Ich teile nicht die Ansicht derer, die durch Anklänge an heideggersche Interpretationsschemata meinen, Weber ohne weiteres in den (angenommenen) mainstream des modernen Bewusstseins einordnen zu können, der notwendigerweise in einer Überhöhung des homo cultura münden muss, die vor dem Hintergrund einer Metaphysik des Willens steht, die auf der Unbedingtheit der Tat begründet ist19. Auf der Seite des Erkennens würde eine solche Annahme sogar das Verständnis erschweren, warum der Entstehungsprozess des Objekts der historisch-kulturellen Wissenschaften, auch wenn er in der „Wertung“ eines Aspekts der Realität wurzelt, den wir zuerst „dunkel und unbestimmt ‚fühlen‘“, sich laut Weber auf eine „Wert-Interpretation“ stützen muss, die uns lehrt den „,geistigen‘ Gehalt“ dessen zu „verstehen“, das wir fühlen, ohne jedoch sofort ein „Werturteil “ abzugeben oder zu suggerieren20. Wenn man dann von dieser notwendigen Form des „Nachdenkens und der gedanklichen – wir wollen absichtlich noch vermeiden zu sagen: der ‚wissenschaftlichen‘ – Bearbeitung“21 zur Ausübung der eigentlichen Wissenschaft vom Menschen übergeht, lässt uns allein das Beharren auf der kantischen Thematik der Grenzen des Wissens und auf der Art, wie dieses in Webers Wissenschaft vom Menschen verwendet wird, verstehen, warum er unablässig die Beziehung zwischen den im Wesen verschiedenen Momenten der Wertinterpretation und der kausalen Erklärung betont. Zweifelsohne stellt erstere mit ihrer Verwurzelung in dem Ereignis des persönlichen Lebens, das will und wertet, gegenüber der Umwelt Position ergreift und ihr Sinn verleiht, „die ganz unvermeidliche ‚forma formans‘ für das historische ‚Interesse‘ an einem Objekt, für dessen primäre begriffliche Formung als ‚Individuum‘“22 dar. Und damit ist sie auch „die Wegweiserin“ für jegliche Art des „kausalen Regressus“, der ohne sie, „ja ohne Kompaß ins Uferlose steuern müßte“23. Und dennoch, „wo die Analyse im Stadium einer solchen ‚Deutung‘ des ‚Eigenwertes‘ des Objekts bleibt, die kausale Zurechnungsarbeit beiseite gelassen und das Objekt auch nicht der Fragestellung unterzogen wird: was es, mit Rücksicht auf andere, umfassendere, gegenwärtigere, 19 Vgl. z.B. E. Mazzarella, Storicità e ontologia. L’uomo come programma stazionario metafisico, in G. Cacciatore - A. Giugliano (Hg.), Storicismo e Storicismi, Mailand, 2007, S. 246–275, insb. S. 265–266. 20 KS I, S. 245–246. 21 KS I, S. 245. 22 KS I, S. 263. 23 KS I, S. 251.
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Kulturobjekte, kausal ‚bedeutet‘, – da ist die historische Arbeit nicht ins Rollen gekommen, und der Historiker kann hier nur Bausteine zu historischen Problemen sehen“24. Gewiss, die für die Wissenschaft vom Menschen unverzichtbare kausale Zurechnungsarbeit will nicht abstrakte Kausalgesetze, sondern konkrete Kausalzusammenhänge erreichen. Wie Weber genau weiß, bedeutet dies aber nach Hume nicht, dass diese Zurechnungsarbeit eine tatsächliche empirische Gültigkeit anstreben kann, ohne sich instrumentell auf das Vermögen unseres nomologischen Wissens zu beziehen und also auf die Dimension des ‚Allgemeinen‘, verstanden als die Gesamtheit jener Aspekte der sinnfreien Unendlichkeit des Geschehens der natürlichen und menschlichen Welt, die unabhängig von jeglicher Sinnzuweisung erkannt werden können, da sie sich, aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet, immer wieder auf die gleiche Weise wiederholen. Wenn es also stimmt, dass jede Wert-Interpretation ein unauslöschliches subjektives Moment enthält, weil sie notwendigerweise von der ‚Wert-Eigenschaft‘ ihres Objekts ausgeht und es als „jenseits des Historischen stehend“ betrachtet, dann ist auch richtig, dass sie „ihren eigenen Zweck ganz [...] erreichen“ beziehungsweise ihr „ideale[s] Wertobjekt“ „wirklich ‚verstehen‘“ kann, allein indem sie daran erinnert, dass dieses Objekt „historisch bedingt“ ist, das heißt, indem sie die verschiedenartigen und vielfältigen Konstellationen der kausalen Momente (interpretierbare oder nicht interpretierbare) ordnet, die zu ihrer tatsächlichen Bestimmung geführt haben25. Aber worin drückt sich dieses wirklich ‚verstehen‘ auf der Seite des Verstandenen beziehungsweise auf der Seite der tatsächlichen Inhalte der Wissenschaften vom Menschen aus? Es drückt sich in dem Bemühen aus, den Blick fest auf das wandlungsfähige Geflecht zwischen zwei nur relativ unterschiedlichen Arten von Kausalität zu fixieren: der blinden Kausalität des Geschehens und der be24 KS I, S. 263. In einem kurzen, aber dichten Artikel über Burckhardt, hatte auch Dilthey nachdrücklich bemerkt, dass der „kausale Zusammenhang“ das „kompakte Gerüst“ der Geschichte bildet, ohne das „sie, obwohl von individuellen Zügen überfüllt, doch gestaltlose Masse“ bleibt (W. Dilthey, Die Kultur der Renaissance in Italien, ein Versuch von Jacob Burckhardt, 1862, in ders., Gesammelte Schriften, Bd. XI, hrsg. von E. Weniger, Stuttgart, 1965, S. 70–76, S. 72). Die von Burckhardt praktizierte Kulturgeschichte – ergänzt Dilthey – sei sich dieses Umstands sehr wohl bewusst. Und dennoch begnüge Burckhardt sich „aus einer Scheu, dem Kausalnexus auch durch abstraktere Operationen nachzugehen, einer Scheu, die man eben hinter sich lassen muß, wenn man die erzählende Form verläßt, [...] nicht selten mit ästhetischer Gruppierung einzelner Züge“, wobei er die „Erforschung der Ursache und Gründe“ (ebd.) vernachlässigt, die allein gestattet, den „Versuch, den wahren und strengen Zusammenhang des vielgestaltigen Lebens“ darzustellen (ebd., S. 73). Vgl. hierzu A. Giugliano, La storia della cultura fra Gothein e Lamprecht, Soveria Mannelli (Catanzaro), 1998, S. 39ff. 25 KS I, S. 249–250 (Hervorhebung E.M.).
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sonderen Kausalität, die jenen menschlichen Verhaltensweisen eigen ist, denen die handelnden Subjekte einen Sinn zuweisen, da letztendlich gerade letztere das ‚reale Korrelat‘ jedes möglichen Wertgesichtspunkts des Historikers darstellen26. Die reichsten und fruchtbarsten Seiten bei Weber – jene, auf denen die geduldig von ihm konstruierten idealtypischen Begriffsinstrumente schließlich angewandt werden – sind, wie ein aufmerksamer Leser weiß, nicht zufällig die Seiten, auf denen es ihm wie wenigen sonst gelingt, das Schwindelgefühl einer derartigen Verflechtung wiederherzustellen; eine Verflechtung, die das Gewebe selbst der „Universalgeschichte der Kultur“27 bildet, in dem sich unaufhörlich das sogenannte „Hohe“ und das sogenannte „Niedere“ vermischen, da sowohl die Existenzbedingungen als auch die Auswirkungen dessen, was eine mögliche Sinnbezogenheit darstellt, zu dem Feld des Sinnlosen gehören oder aus der Sicht einer ganz anderen Sinnbezogenheit interpretiert werden können. Gerade aus diesem Grund schrieb Karl Jaspers 1932 in dem Versuch, die „zentrale Achse“ der außergewöhnlich weiten und vielfältigen Untersuchungsinteressen Webers angemessen zum Ausdruck zu bringen: „Ob Weber in exakter Forschung die Psychophysik der industriellen Arbeit untersuchte oder den rationalen Zusammenhängen der teleologischen Dogmen nachging oder die Bedeutung der Gestalten der Stadt in allen Kulturen vergleichend erforschte, immer ist die Frage die nach den Menschen, welche von erkennbaren Abhängigkeiten bestimmt sind und im Handeln aus einem von ihnen gemeinten Sinn hervorbringen, was sie so gar nicht gewollt haben“28. Und ergänzt gleich anschließend: „Statt sich dem hoffnungslosen Versuch zu ergeben, den einen Sinn im Grunde alles Geschehens zu wahrhaft gültiger Einsicht zu bringen oder das beherrschende Gesetz aller Dinge oder die Ganzheit des Seins zu finden, ergriff er den feststellbaren Sinn als den von wirklichen Menschen gemeinten und hervorgebrachten in seinen Abhängigkeiten und Folgen, die jeweils nur in vereinzelten Zusammenhängen relativ erkennbar sind. Daher ist 26 Hierzu vgl. z.B. RuK, S. 116, wo Weber in der Diskussion um den Begriff der „Einfühlung“ behauptet: „Ihre indirekte logische Bedeutung für die Geschichte ist gegeben durch den Umstand, daß zum ‚einfühlbaren‘ Inhalt fremder Aktualität auch jene ‚Wertungen‘ gehören, an denen der Sinn des ‚historischen Interesses‘ verankert ist, und daß daher seitens einer Wissenschaft, deren Objekt, geschichtsphilosophisch formuliert, ‚die Verwirklichung von Werten‘ darstellt, die selbst ‚wertenden‘ Individuen stets als die ‚Träger‘ jenes Prozesses behandelt werden“. Und sofort fügt er einen wichtigen Hinweis ein, der selbst schon eingehendere Untersuchungen verdienen würde: „Alles Erforderliche enthält auch hier schon der Rickertsche Begriff des ‚historischen Zentrums‘“ (ebd., Fußnote). 27 M. Weber, Vorbemerkung (1920) zu Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen, 1988, S. 1–16, S. 10. 28 K. Jaspers, Max Weber. Politiker, Forscher, Philosoph, op. cit., S. 42.
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seine Forschung anscheinend ins Endlose zerstreut, obgleich bezogen auf eine einzige Idee, deren Erfüllung unendliche Aufgabe bleibt“29. Diese letzte Aussage Jaspers’ über die Vorgehensweise von „Max Weber als Forscher“30 scheint mir von besonderer Wichtigkeit. Hier wird klar und deutlich betont, dass gegenüber den Problemen, die eine Universalgeschichte der Kultur wie Weber sie auffasst – als unbequeme und in gewisser Weise unerwartete Frucht des Baums der Erkenntnis, von dem wir gegessen haben31 – stellt, keine theoretischen Auswege und keine wiederhergestellten Ontologien mehr möglich sind. Will heißen, dass diese „gedachte Philosophie als solche, die auch ohne Wirklichkeit scheinbar im bloßen Denken sein kann“32, sich aber in Wahrheit von der Nostalgie ernährt, nach einem neuen Zauber nach einem „wärmere[n] Frieden“ „mit der Wirklichkeit“ sucht33. Es bleibt aber zumindest in einigen Fällen eine spezielle ethische Antwort möglich, in der, wie man in Politik als Beruf lesen kann, die Modelle der Gesinnungsethik und der Verantwortungsethik „nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen [sind], die zusammen erst den echten Menschen ausmachen“34, das heißt, den Menschen, der über die beiden wesentlichen Eigenschaften „Leidenschaft und Augenmaß“35 verfügt und daher die Verantwortung für seine eigene Gesinnung übernehmen kann36, „den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält“37. So kommen wir letztendlich wie in einem Kreis wieder auf jenen Begriff der Persönlichkeit zurück, von dem aus die Wissenschaft vom Menschen immer wieder ihren Ausgang nimmt. ***
29 Ebd., S. 42–43. 30 Ebd., S. 42. 31 Vgl. M. Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit“ in den soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, op. cit., S. 489–540, S. 507– 508. 32 Vgl. oben, Fußnote 7 (Hervorhebung E.M.). 33 G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), Frankfurt a.M., 1979, S. 27. 34 M. Weber, Politik als Beruf (1919), in Max Weber Gesamtausgabe, I/17: Wissenschaft als Beruf 1917/1919 – Politik als Beruf 1919, hrsg. von W.J. Mommsen und W. Schluchter in Zusammenarbeit mit B. Morgenbrod, Tübingen, 1992, S. 113–252, S. 250. 35 Ebd., S. 251–252. 36 Vgl. P.L. Di Giorgi, Sull’etica di Max Weber, Montespertoli (Florenz), 2008, S. 81–94. 37 M. Weber, Wissenschaft als Beruf, in Max Weber Gesamtausgabe, I/17, op. cit., S. 49–111, S. 111.
Vorwort
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Die erste und die dritte hier veröffentlichte Studie sind leicht geänderte und bibliographisch ergänzte Nachdrucke zweier Schriften, die im „Archivio di storia della cultura“, Jahr XX (2007), S. 39–110 und Jahr XXIII (2010), S. 83–153 erschienen sind. Die zweite Studie dagegen ist eine Ausarbeitung des Aufsatzes Storicismo, neokantismo, filosofia della vita, erschienen in G. Cacciatore und A. Giugliano (Hg.), Storicismo e Storicismi, Mailand, 2007, S. 363–405.
Rickerts Aufsatz über das ‚Allgemeine‘ in der Geschichte als Leitfaden für Max Webers Rezeption der Grenzen
Ueber die so einfachen und doch so oft verkannten Unterschiede der Bedeutungen von „allgemein“ voneinander, mit denen wir immer wieder zu tun haben, ist grundlegend der Aufsatz von Rickert, Les quatre modes de l‘universel en histoire. Max Weber, Roscher und Knies
I. Logik und Erkenntnistheorie Das komplexe Begriffsgebäude aus Rickerts Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung stützt sich unter anderem auf eine Unterscheidung, die auf den vielen Seiten des Werks nur sehr selten in den Vordergrund tritt, jedoch meines Erachtens wichtig für das Verständnis der argumentativen Struktur sowie der einzigartigen Wirkungsgeschichte des Werks ist. Es handelt sich um den „Unterschied zwischen ‚logisch‘ im engeren Sinne und ‚erkenntnistheoretisch‘“1. Es ist zwar nicht leicht, hier einen „scharfen Unterschied“2 oder einen „prinzipiellen Unterschied“3 zu machen, denn „nicht selten glitt die [im engen Sinne logische] Darlegung der verschiedenen wissenschaftlichen Methoden in erkenntnistheoretische Untersuchungen hinüber“4. Aber nichtsdestotrotz entzieht sich Rickert nicht dem Versuch, das Feld der im engen Sinne logischen Untersuchungen von jenem der erkenntnistheoretischen abzugrenzen. Im zweiten Kapitel der Grenzen vertritt er – Bezug nehmend auf die generell dem 1 H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, erste Auflage, Tübingen – Leipzig, 1902 (im Folgenden: Grenzen 1902), S. 156, Fußnote. 2 Ebd. 3 Grenzen 1902, S. 601. 4 Ebd.
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Neukantianismus oder zumindest dem reifen Neukantianismus eigene philosophische Perspektive – die Ansicht, dass „alle die Gedankenreihen der Wissenschaftslehre erkenntnistheoretisch heissen sollen, die über die Methodenlehre hinaus zu Problemen führen, für welche der Ausdruck metaphysisch üblich ist, die zugleich aber diese Probleme nur vom Standpunkte der Wissenschaftslehre behandeln“5. Dieser Diskurs wird zu Beginn des wirklich erkenntnistheoretischen fünften Kapitels mit dem Titel Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie weiter ausgeführt. Hier kommt Rickert erneut auf die Trennung zwischen dem im engen Sinne logischen und jenem erkenntnistheoretischen Bereich zurück, verwendet hierfür aber die spezifische Begrifflichkeit des Badischen Neukantianismus. So schreibt er, dass „während es bisher [in den ersten vier Kapiteln der Grenzen, die sich durch eine überwiegend im engeren Sinne logische Bearbeitung auszeichnen] hauptsächlich darauf ankam, die verschiedenen Formen und Methoden der Wissenschaften als teleologisch nothwendige Mittel für die verschiedenen Erkenntniszwecke zu verstehen, deren Verfolgung wir nur als Thatsachen konstatiren konnten, es jetzt [im fünften Kapitel, in dem nun die erkenntnistheoretischen Untersuchungen die Oberhand gewinnen] darauf ankommt, welche Geltung die Erkenntnisziele selbst haben, und inwiefern daher von einer wissenschaftlichen Objektivität der verschiedenen Erkenntnisformen gesprochen werden darf“6. Auf der Grundlage dieser Unterscheidung lässt sich bereits allgemein verstehen, auf welcher der beiden Untersuchungsebenen der Grenzen in Wahrheit die Aufmerksamkeit der großen methodologischen Aufsätze Webers von 1903–1906 liegt, die Rickert selbst in dem Vorwort zur dritten und vierten Auflage seines Werks – das er sehr bewegt dem frühzeitig verstorbenen Freund widmet7 – als „den schönsten Erfolg“ seiner „Bemühungen um die Aufklä5 Grenzen 1902, S. 156, Fußnote. 6 Grenzen 1902, S. 601–602. Und er fährt fort: „Natürlich liegt der Schwerpunkt der Erörterung auf der Frage, unter welchen Voraussetzungen die Geltung der Naturwissenschaft und die der Geschichte sich verstehen und begründen lässt. In diesen Problemen sehen wir die Hauptfragen einer kritischen Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie“ (Grenzen 1902, S. 602). 7 Vgl. H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, fünfte, verbesserte, um einen Anhang und ein Register vermehrte Auflage, Tübingen, 1929 (im Folgenden: Grenzen 1929), Vorwort zur dritten und vierten Auflage, Oktober 1921, S. XIV–XXVI, S. XXIV: „So war es mir Bedürfnis, in dankbarer Erinnerung an die unvergeßliche Freiburger Zeit des Werdens meiner Gedanken den Namen Webers mit diesem Buch zu verknüpfen. Aus seinem Widerspruch hatte ich viel gelernt, als ich es schrieb. [...] Ein hartes Geschick, mit dessen lastender Sinnlosigkeit man sich schwer abzufinden vermag, riß ihn mitten aus intensivster und extensivster Schöpfertätigkeit […] heraus. So mußte das Werk dieses Forschers, der als
Logik und Erkenntnistheorie
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rung des logischen Wesens aller Historie“8 bezeichnet. Wenn in der Tat das Unterscheidungsmerkmal der erkenntnistheoretischen Untersuchungen das Problem der Geltung der Erkenntnisziele der Einzelwissenschaften sowie das damit zusammenhängende Problem der wissenschaftlichen Objektivität (nicht verstanden als einfache „empirische Objektivität“, sondern als absolute „kritische Objektivität“9) der verschiedenen Erkenntnisformen ist, dann ist klar, dass „die wesentlichen Gesichtspunkte der […] Arbeit Rickerts“10 für Weber jene streng logischen sind, wogegen der – im eigentlichen Sinne neukantianische – Bereich der Erkenntnistheorie einen tendenziellen Faktor der Divergenz zwischen Rickert und Weber darstellt. Denn letzterer ist besonders interessiert an den Verfahren der Objektivierung und empirischen Bestätigung der Einzelwissenschaften und zugleich weit entfernt von der Idee einer ‚wissenschaftlichen Philosophie‘, die (als transzendentale Neuauflage der alten Ontologie) fähig wäre, die absolute Gültigkeit der Erkenntnisziele der Einzelwissenschaften zu begründen11. ganzer Mann wie wenige geeignet war, ein ganzes Werk zu gestalten, Fragment bleiben, als ob unsere schwache Zeit nichts Ganzes mehr ertrage“. 8 Ebd. 9 Vgl. Grenzen 1902, Fünftes Kapitel, Abschnitte II und V, S. 626ff. und S. 674ff.. 10 Vgl. M. Weber, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie (1903–1906), in ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, 1988, S. 1–145 (im Folgenden: RuK), S. 7, Fußnote. 11 Im Übrigen weist Rickert selbst in dem bereits zitierten Vorwort zur 3. und 4. Auflage der Grenzen – in Auseinandersetzung mit Troeltsch – klar die Einordnung Webers in den Kreis der neukantianischen Philosophen zurück. Dies geschieht in dem Kontext eines umfassenderen und streng gegliederten Diskurses, in dem einerseits (in Übereinstimmung mit Rickerts Philosophiebegriff ) Weber die Philosopheneigenschaft nahezu vollständig abgesprochen wird, während er andererseits als großer Historiker, der über eine für Historiker seltene Gabe zur Generalisierung verfügt, und als „Entdeckergeist“ im Bereich der Kulturwissenschaften, verstanden als Fachdisziplin, dargestellt wird. Vgl. Grenzen 1929, Vorwort zur dritten und vierten Auflage, S. XXIV–XXV: „Weber scheint mir, falls man den unvergleichlichen Mann überhaupt einordnen will, unter die großen Historiker zu gehören. Aber es lebte in ihm zugleich ein starkes Bedürfnis nach systematischer Konstruktion, wie es sich bei Historikern selten findet. Das hat ihn besonders in späteren Jahren dazu geführt, denselben Stoff, den er geschichtlich durchforschte, auch generalisierend und insofern ungeschichtlich darzustellen. So kam er dazu, seine letzten Arbeiten als ‚Soziologie‘ zu bezeichnen und damit dem seit Comte viel gebrauchten und auch mißbrauchten Namen eine neue Bedeutung zu verleihen. […] Man sollte Weber nicht einen Philosophen nennen, falls man ihn wissenschaftlich charakterisieren will. Das Wort paßt auf ihn nur in sehr vagem Sinne. Er selbst hat wissenschaftlich philosophisch arbeiten nicht gewollt, wie er oft hervorhob. Vollends wird man der Bedeutung des einzigen Mannes nicht gerecht, wo man ihn, wie selbst Troeltsch es tut, zu den ‚Neukantianern‘ zählt, oder gar neben Windelband und mir als ‚die dritte Hauptfigur‘ der südwestdeutschen ‚Schule‘ bezeichnet
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Das ,Allgemeine‘ in der Geschichte
Es verwundert also nicht, dass Weber in seinem reichen, quälenden Text über Roscher und Knies von Rickert nicht nur die Grenzen, sondern auch einen Aufsatz erwähnt, der sich beinah ausschließlich mit im engen Sinne logischen Themen im oben ausgeführten Sinne auseinandersetzt12. Es handelt sich um den Aufsatz Les quatre modes de l’„Universel“ dans l’histoire, veröffentlicht zunächst in französischer Sprache 1901 in der „Revue de Synthèse Historique“ unter der Leitung von Henri Berr und dann, achtundzwanzig Jahre später, auf deutsch als erster Teil des Anhangs zur fünften Auflage der Grenzen (1929). In dem zweiten Teil des genannten Anhangs, im Nachwort 1928, schreibt Rickert, er habe – auf Einladung von Berr – den Aufsatz über die vier Arten des „Allgemeinen“ in der Geschichte schon Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben, als die erste vollständige Auflage der Grenzen (1902) noch nicht erschienen, die ersten drei Kapitel des Werks jedoch bereits veröffentlicht waren
[Rickert bezieht sich auf den Artikel Der Entwicklungsbegriff in der modernen Geistes- und Lebensphilosophie: II. Die Marburger Schule, die südwestdeutsche Schule, Simmel, veröffentlicht 1921 von Troeltsch in „Historische Zeitschrift“, Band 124, Heft 3, S. 377–447, und wieder aufgegriffen in Kapitel III von Der Historismus und seine Probleme]. Wir könnten stolz darauf sein, wenn das richtig wäre, aber Weber gehörte wissenschaftlich, um mit Goethe zu reden, zu keiner Innung. Darin besteht vielmehr seine wissenschaftliche Größe, daß er eine Kulturwissenschaft schuf, die in ihrer Verbindung von Geschichte und Systematik in keines der üblichen methodologischen Schemata passen will und gerade dadurch der Spezialforschung neue Bahnen weist.“ In dem Vorwort zur 3. und 4. Auflage der Grenzen versucht Rickert auch den Gegensatz zwischen den eigenen philosophischen Positionen und Webers philosophischen Optionen zum Ausdruck zu bringen und meint, dass letzterer „sich von der wissenschaftlichen Philosophie und ihren heutigen Möglichkeiten eine etwas einseitige Meinung gebildet“ hatte, denn „er glaubte eigentlich nur an die Logik“ und war „bedenklich gegen eine Philosophie der Kunst, der Religion oder gar der Liebe auf werttheoretischem Fundament“, das heißt gegen Rickerts Plan „einer universalen wissenschaftlichen Weltanschauungslehre auf Grund eines umfassenden Systems der Werte, von dem Wissenschaftslehre nur einen Teil bildet“ (Grenzen 1929, Vorwort zur dritten und vierten Auflage, S. XXV–XXVI). Wie man sieht, macht Rickert hier keinen Unterschied zwischen der Logik im engeren Sinne und der Wissenschaftslehre, welche auch eine erkenntnistheoretische Seite hat und gerade deshalb geeignet ist, sich als Teil einer universalen Wissenschaftslehre der Weltanschauungen zu gestalten. Dadurch wird schließlich die ganze Tragweite des Gegensatzes zu Weber ins Abseits gestellt, der seine Wurzeln bereits auf der logischen Erkenntnisebene hat und sich letztendlich um den Begriff der „wissenschaftlichen Philosophie“ selbst dreht. Zu dieser Frage vgl. auch F. Bianco, Rickert critico di Max Weber, in M. Signore (Hg.), Rickert tra storicismo e ontologia, Mailand, 1989, S. 323–338. 12 Vgl. RuK, op. cit., S. 15 Fußnote, wo Rickerts Aufsatz von Weber als „grundlegend“ für das Verständnis für „die so einfachen und doch so oft verkannten Unterschiede der Bedeutungen von ‚allgemein‘“ bezeichnet wird.
Logik und Erkenntnistheorie
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(1896)13. Diese drei Kapitel waren darauf ausgerichtet, die logischen Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung nachzuzeichnen und noch nicht darauf, über die Natur und die tatsächlich mögliche Durchführbarkeit der historischen Begriffsbildung Rechenschaft abzulegen. Ziel des Aufsatzes über das ‚Allgemeine‘ in der Geschichte war eben gerade, im Voraus zu zeigen, „mit welchen Fragen sich die noch nicht gedruckte ‚zweite Hälfte‘ meiner ‚Grenzen‘ beschäftigt, die im Anschluß an den ersten, mehr negativen Teil die positive Geschichtslogik entwickeln sollte“14. Diese Umstände helfen uns, die Gründe für Webers Interesse an Rickerts Aufsatz über das ‚Allgemeine‘ in der Geschichte besser zu verstehen. Gemeinsam mit der ersten Auflage von Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (1889)15 stellt er in der Tat eine Überwindung des Untersuchungsfeldes dar, das den ersten Teil der Grenzen charakterisiert, und ist eine Antizipation der Analysen, die in der zweiten Hälfte des Werks entwickelt werden, welche – und das ist der Punkt – Weber deutlich herzlicher aufnahm. Dies ruft uns Rickert selbst in dem Vorwort von 1921 in Erinnerung: „Windelbands Rede über Geschichte und Naturwissenschaft [...] die damals erschien, erregte Webers Widerspruch. Das ‚idiographische‘ Verfahren, meinte er, komme auf Aesthetizismus hinaus. Auch nachdem er die drei ersten Kapitel des vorliegenden Buches gelesen hatte 13 H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, 1. Hälfte, Freiburg i. Br., 1896. 14 Grenzen 1929, Nachwort 1928, S. 755–766, S. 756. Vgl. auch H. Rickert, Les quatre modes de l’„Universel“ dans l’histoire, in „Revue de Synthèse Historique“, II, 2 (Nr. 5), April 1901, S. 121–140 (im Folgenden: QMUH), S. 124, Fußnote; Die vier Arten des Allgemeinen in der Geschichte, in Grenzen 1929, S. 737–754 (im Folgenden: VAAG), S. 740, Fußnote. Im Nachwort 1928 – vor allem eine schlagkräftige Antwort auf das Urteil zu den Grenzen, das Georg Misch in seiner Schrift Die Idee der Lebensphilosophie in der Theorie der Geisteswissenschaften (in „Kant-Studien“, XXXI, 1926, S. 536–548) formulierte, wo Rickerts Unterscheidung zwischen Natur und Geschichte als eine rein formale und diskursive Unterscheidung stigmatisiert wird, da sie jedes Blicks für die inhaltlichen Unterschiede zwischen den beiden Bereichen entbehre – präzisiert Rickert auch, dass er mit einem Abstand von fast drei Jahrzehnten den Aufsatz über die Arten des Allgemeinen in der Geschichte gerade aufgrund seiner ursprünglichen Entstehung und Einordnung zwischen der ersten und der zweiten Hälfte der Grenzen noch einmal veröffentlichen wollte. „Insofern scheint mir das damals Gesagte auch heute noch geeignet zu sein, in das logische Hauptproblem des positiven Teils der ‚Grenzen‘ einzuführen. Dem, der mein Buch aus eigener Lektüre kennt, kann die alte kleine Schrift freilich nichts neues sagen. Aber wer sich seine Kenntnis meiner Gedanken aus irgendeiner ‚Kritik‘ verschafft hat, der möge den Anhang [den Aufsatz über die vier Arten des Allgemeinen in der Geschichte] zuerst lesen. Er wird dann vielleicht etwas überrascht sein, wenn er an das denkt, was er vorher über mich gelesen hat“ (Grenzen 1929, Nachwort 1928, S. 756). 15 H. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. Ein Vortrag, Freiburg i. Br., 1899.
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Das ,Allgemeine‘ in der Geschichte
und sah, daß ich für die Geschichte nicht wie Windelband ‚Gestalten‘, sondern individuelle Begriffe forderte, hielt er meinen Versuch einer Logik der Geschichte nicht für durchführbar. Er sagte mir oft, ich werde diese Arbeit nie abschließen. Das bisher Ausgeführte sei zwar richtig, stelle mich aber vor eine unlösbare Aufgabe, denn Geschichte sei als reine Wissenschaft nicht zu verstehen. Erst als ich ihm 1902 […] die beiden letzten Kapitel über historische Begriffsbildung und historische Objektivität vorlegte, überzeugte er sich als einer der ersten davon, daß auf Grund meines Begriffes der theoretischen Wertbeziehung das begriffliche Verfahren der wissenschaftlichen Geschichte als das einer individualisierenden Kulturwissenschaft zutreffend gekennzeichnet sei“16. Um Webers Interesse für Rickerts Aufsatz über die vier Arten des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte aber vollständig zu verstehen, muss man dessen wesentliche Inhalte, welche – wie im Folgenden zu sehen sein wird – auch ein möglicher Leitfaden für die Lektüre der Grenzen sind, genauer untersuchen. Es handelt sich, um es gleich zu sagen, um einen Leitfaden, der bewusst den ‚Willen zum System‘, der dieses (und alle anderen) Werk Rickerts durchzieht, außer Acht lässt17, aber gerade deswegen in der Lage ist, einige der weniger bekannten Motive analytisch hervorzuheben, aufgrund derer es für Weber eine ‚begriffliche Fundgrube‘ von größter Wichtigkeit darstellte18. Die Frage nach 16 Grenzen 1929, Vorwort zur dritten und vierten Auflage, S. XXIII–XXIV. Die besondere Aufmerksamkeit, die Weber der zweiten Hälfte der Grenzen widmet, wird auch aus einem Brief vom 3.9.1917 an György Lukács deutlich, worin Rickert die Urheberschaft für den Begriff der Wertbeziehung als Prinzip der Auswahl für das empirische Material in den historischen Kulturwissenschaften für sich beansprucht. Lukács hatte Rickert einen Aufsatz von sich über Emil Lask, der 1915 gefallen war, zur Lektüre geschickt. In dem kurzen Antwortbrief schreibt Rickert: „Darf ich mir eine unwesentliche Anmerkung erlauben? Unwesentlich, weil sie nicht Lask betrifft. Sie sprachen […] von ‚Windelbands Entdeckung der Eigenart der geschichtlichen Begriffsbildung‘. So würde ich nicht sagen, denn gerade das Wesen der geschichtlichen Begriffsbildung hat Windelband in seiner mit Recht berühmten Rede [seiner Antrittsrede als Rektor der Universität Straßburg Geschichte und Naturwissenschaft] nicht gesehen, ja das Problem ist dort durch den Gegensatz von Gesetz und Gestalt [von nomothetischen und idiografischen Wissenschaften] verdeckt. Max Weber wenigstens verhielt sich deshalb der Scheidung gegenüber sehr sceptisch, bis 1902 der zweite Teil meiner ‚Grenzen‘ ihn dann davon überzeugte, daß es so etwas wie historische ‚Begriffe‘ gäbe“ (G. Lukács, Briefwechsel 1902–1917, hrsg. von É. Karádi und É. Fekete, Stuttgart, 1982, S. 404). 17 Hierzu siehe auch A.P. Ruoppo „Si può apprendere più da Hegel che da Zaratustra“. La formulazione heideggeriana di una fenomenologia della vita in dialogo con Heinrich Rickert, in „Archivio di storia della cultura“, XX (2007), S. 155–177. 18 Vgl. A. Cavalli, La funzione dei tipi ideali e il rapporto tra conoscenza storica e sociologia, in P. Rossi (Hg.), Max Weber e l’analisi del mondo moderno, Turin, 1981, S. 27–52, S. 34: „Weber übernimmt in der Tat Wort für Wort einige Elemente der von Rickert in Die Grenzen
Das Problem der Geschichte
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der unterschiedlichen und oft gegensätzlichen Gesamtnutzung der ‚ausgegrabenen Materialien‘ seitens Webers bleibt hier im Hintergrund19.
II. Das Problem der Geschichte als Wissenschaft vom Individuellen Rickert beginnt seinen Aufsatz mit den Worten, dass ein Aufsatz über die „Methode der historischen Wissenschaften“ in der „Revue de Synthèse Historique“, die sich programmatisch mit den „Beziehungen zwischen Geschichte und Philosophie“ beschäftigt, gut untergebracht sei20, denn die Probleme, die der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung geführten Argumentation, isoliert sie jedoch aus ihrem Kontext […]. Es geht genau darum, einige beträchtliche Fragmente von Rickerts Untersuchungen auszugliedern und sie der Eigenart des untersuchten Problems anzupassen [...]. Diese Art, sich der Gedanken anderer Autoren zu bemächtigen und sie außerhalb ihres Kontextes und unabhängig von ihrem ursprünglichen Ziel zu verwenden, ist für Weber auch in anderen Fällen typisch“. 19 Hierzu finden sich genauere Betrachtungen in den anderen beiden Studien dieses Buches. 20 Vgl. H. Berr, Sur notre programme, in „Revue de Synthèse Historique“, I, 1 (Nr. 1), August 1900, S. 1–8, S. 1–2: „Und im Übrigen darf man sich von dem Wort Theorie nicht beunruhigen lassen: Es weckt hier nicht notwendigerweise und es weckt hier überhaupt nicht vage, zu allgemeine Betrachtungen, hervorgebracht von Denkern, die keine praktische Erfahrung mit der Geschichte haben. Wir wünschen uns und rechnen mit einer Serie von Artikeln über die Methode der verschiedenen historischen Wissenschaften. Hervorzuheben, was es an Eigenem und an Gemeinsamem bei der politischen und der ökonomischen Geschichte, der Religionsgeschichte, der Geschichte der Philosophie, der Wissenschaften, der Literatur und der Künste gibt; Ergebnisse, Erfahrungen und Gedanken illustrer Köpfe, die sich mit Erfolg diesem oder jenem Aspekt der Geschichte gewidmet haben, zusammenzustellen; die Philosophen zu überzeugen, einen wichtigen Teil der Wissenschaftslogik, der sogar in den besten Abhandlungen noch immer ungenau und unvollkommen ist, zu präzisieren: All das ist sicher nicht ohne Nutzen. Eine Wissenschaft, die der Routine und dem Empirismus überlassen wird, scheint sich nicht in bester Verfassung zu befinden. Und wenn die Theorie im Allgemeinen die Praxis bestätigt, so sorgt das Streben nach der Theorie für Fortschritte in der Praxis“. In der ausführlichen Rezension, die Benedetto Croce zu den ersten vier Bänden der „Revue“ schrieb (in „La Critica“, I, Heft I, 20. Januar 1903, S. 49–56), wird dieser Aspekt von Berrs Programm als „klar und angemessen“ beurteilt, während dagegen „der Teil des Programms, der sich mit der ‚Synthese der konkreten Geschichte‘ befasst, weniger klar ist“ (ebd., S. 50). – Für eine erste Orientierung zu Berrs „Revue“ und zu der Rolle, die diese in der französischen und europäischen Kultur der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts spielte, siehe B. Arcangeli - M. Platania (Hg.), Metodo storico e scienze sociali. La Revue de Synthèse Historique (1900–1930), Rom, 1981, Einleitung, S. 9–38, hier finden sich auch weitere bibliographische Angaben. Aber vgl. auch: A. Biard et alii (Hg.), Henri Berr et la
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der unterschiedlichen und oft gegensätzlichen Gesamtnutzung der ‚ausgegrabenen Materialien‘ seitens Webers bleibt hier im Hintergrund19.
II. Das Problem der Geschichte als Wissenschaft vom Individuellen Rickert beginnt seinen Aufsatz mit den Worten, dass ein Aufsatz über die „Methode der historischen Wissenschaften“ in der „Revue de Synthèse Historique“, die sich programmatisch mit den „Beziehungen zwischen Geschichte und Philosophie“ beschäftigt, gut untergebracht sei20, denn die Probleme, die der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung geführten Argumentation, isoliert sie jedoch aus ihrem Kontext […]. Es geht genau darum, einige beträchtliche Fragmente von Rickerts Untersuchungen auszugliedern und sie der Eigenart des untersuchten Problems anzupassen [...]. Diese Art, sich der Gedanken anderer Autoren zu bemächtigen und sie außerhalb ihres Kontextes und unabhängig von ihrem ursprünglichen Ziel zu verwenden, ist für Weber auch in anderen Fällen typisch“. 19 Hierzu finden sich genauere Betrachtungen in den anderen beiden Studien dieses Buches. 20 Vgl. H. Berr, Sur notre programme, in „Revue de Synthèse Historique“, I, 1 (Nr. 1), August 1900, S. 1–8, S. 1–2: „Und im Übrigen darf man sich von dem Wort Theorie nicht beunruhigen lassen: Es weckt hier nicht notwendigerweise und es weckt hier überhaupt nicht vage, zu allgemeine Betrachtungen, hervorgebracht von Denkern, die keine praktische Erfahrung mit der Geschichte haben. Wir wünschen uns und rechnen mit einer Serie von Artikeln über die Methode der verschiedenen historischen Wissenschaften. Hervorzuheben, was es an Eigenem und an Gemeinsamem bei der politischen und der ökonomischen Geschichte, der Religionsgeschichte, der Geschichte der Philosophie, der Wissenschaften, der Literatur und der Künste gibt; Ergebnisse, Erfahrungen und Gedanken illustrer Köpfe, die sich mit Erfolg diesem oder jenem Aspekt der Geschichte gewidmet haben, zusammenzustellen; die Philosophen zu überzeugen, einen wichtigen Teil der Wissenschaftslogik, der sogar in den besten Abhandlungen noch immer ungenau und unvollkommen ist, zu präzisieren: All das ist sicher nicht ohne Nutzen. Eine Wissenschaft, die der Routine und dem Empirismus überlassen wird, scheint sich nicht in bester Verfassung zu befinden. Und wenn die Theorie im Allgemeinen die Praxis bestätigt, so sorgt das Streben nach der Theorie für Fortschritte in der Praxis“. In der ausführlichen Rezension, die Benedetto Croce zu den ersten vier Bänden der „Revue“ schrieb (in „La Critica“, I, Heft I, 20. Januar 1903, S. 49–56), wird dieser Aspekt von Berrs Programm als „klar und angemessen“ beurteilt, während dagegen „der Teil des Programms, der sich mit der ‚Synthese der konkreten Geschichte‘ befasst, weniger klar ist“ (ebd., S. 50). – Für eine erste Orientierung zu Berrs „Revue“ und zu der Rolle, die diese in der französischen und europäischen Kultur der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts spielte, siehe B. Arcangeli - M. Platania (Hg.), Metodo storico e scienze sociali. La Revue de Synthèse Historique (1900–1930), Rom, 1981, Einleitung, S. 9–38, hier finden sich auch weitere bibliographische Angaben. Aber vgl. auch: A. Biard et alii (Hg.), Henri Berr et la
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diese Methode betreffen, gehören zu jenen, wegen derer Geschichte und Philosophie – hier bezeichnenderweise mit der Logik gleichgesetzt – „ein gemeinsames Interesse haben“21. Gewiss, das Interesse der Historiker ist nicht in dem Wunsch begründet, sich von der Logik sagen zu lassen, wie sie vorzugehen haben: So wie Kant überzeugt davon war, dass die ‚entdeckenden Genien‘ der Mathematik und der Physik diese Disziplinen bereits auf den „sicheren Gang einer Wissenschaft“22 gebracht hätten, so war Rickert überzeugt, dass „die großen Historiker längst die richtige Methode angewendet“ haben23. Und dennoch, so wie Kant der Ansicht war, dass allein die transzendentale Philosophie angemessen zeigen könne, warum der „Heeresweg der Wissenschaft“24 eben jener von den Mathematikern und Physikern eingeschlagene und nicht ein anderer wäre, so war Rickert der Ansicht, dass „wenn der Geschichtsschreiber nicht nur richtig verfahren will, sondern auch wissen will, wie er verfährt, und warum er so verfährt, kann er eine vollständige Kenntnis davon nur mit Hilfe der Logik gewinnen“25. Das Interesse der Logik für die Methode der Geschichtswissenschaften dagegen, unterstreicht Rickert, hänge von der Tatsache ab, dass die Logik „erst dann abgeschlossen und vollendet [ist], wenn sie auch die geschichtliche Methode begriffen und ihrem Systeme eingeordnet hat“26. Hier ist der Bezug auf Windelband besonders deutlich zu erkennen, welcher in Geschichte und Naturwissenschaft die Ansicht vertreten hat, dass die wahre culture du XXe siècle. Histoire, science, philosophie, Paris, 1997; M. Donzelli, Il „Vocabulaire“ di Henri Berr: Les mots de l’histoire, in F. Rizzo (Hg.), Filosofia e storiografia. Studi in onore di Girolamo Cotroneo, Soveria Mannelli (Catanzaro), 2005, S. 163–173; M. Bloch, Briefe an Henri Berr (1924–1943), hrsg. von J. Pluet-Despatin, Stuttgart, 2001. 21 QMUH, S. 121; VAAG, S. 737. 22 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart, 1985, Vorrede zur zweiten Auflage (1787), S. 23. 23 QMUH, S. 121; VAAG, S. 737. 24 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, op. cit., Vorrede zur zweiten Auflage, S. 25. 25 QMUH, S. 121; VAAG, S. 737. Zum historisch-faktischen Entstehungsprozess der Methoden und Verfahren der wissenschaftlichen Forschung schreibt Rickert auch Folgendes: „Man könnte sagen, daß verschiedene Methoden einen ‚Kampf ums Dasein‘ miteinander führen, bis zuletzt diejenige übrig bleibt, welche die ‚passendste‘ ist, und diese wird dann auch die richtige sein“ (Ebd.). Eine analoge Betrachtung, die sich jedoch nicht auf die Geschichte, sondern auf die Psychologie bezieht, findet sich auch in Grundzüge der Psychologie von Hugo Münsterberg (Leipzig, 1900, S. 7) – im Übrigen eins der wenigen von Rickert rezensierten Werke (in „Deutsche Literaturzeitung“, Nr. 14 vom 6. April 1901, Reihe 841–846). 26 QMUH, S. 121; VAAG, S. 737. Auf der Unvollständigkeit der traditionellen Logik – die „bis heute im Wesentlichen eine Logik der naturwissenschaftlichen Forschung geblieben ist“ – besteht Rickert bereits in der Einleitung zu den Grenzen (vgl. Grenzen 1902, S. 25).
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Notwendigkeit einer „Reform“ der Logik aus dem Umstand entsteht, dass sie im Laufe ihrer tausendjährigen Entwicklung „dauernd ihre allgemeinen Theorien von [den nomothetischen Denkformen] abhängig machte“, während dagegen das „historische Denken“ vernachlässigt wurde27. Rickert hebt jedoch sofort hervor, dass in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die methodologischen Verfahren des geschichtlichen Denkens zum Gegenstand einer heftigen Kontroverse wurden, welche auf der Frage nach ihrer Identität und/oder Differenz zu den Methoden und Vorgehensweisen der Naturwissenschaften basierte. Wahrscheinlich mit Bezug auf den Aufsatz La méthode historique en Allemagne von Karl Lamprecht, erschienen in der ersten Nummer der „Revue de Synthèse Historique“28, schreibt Rickert: „Vielfach wird verlangt, daß der Historiker es ebenso machen solle wie der Chemiker oder der Zoologe, und auch in dieser Zeitschrift ist ein Artikel veröffentlicht, welcher diese im 19. Jahrhundert bereits oft aufgetauchte Tendenz vertritt“29. Den immer wieder auftretenden Ansprüchen des naturalistischen Positivismus und seinem methodologischen Monismus „steht aber nicht nur die Tatsache gegenüber, daß die größten Historiker aller Zeiten eine andere als 27 W. Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft (1894), in ders., Präludien. Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie, Tübingen, 1911, S. 136–158, S. 147. Vgl. auch ebd: „Ihre [der Logik] ganze Entwicklung zeigt die entschiedenste Bevorzugung der nomothetischen Denkformen. Das ist freilich überaus erklärlich. Da alles wissenschaftliche Forschen und Beweisen in der Form des Begriffs vonstatten geht, so bleibt für die Logik immer die Untersuchung über Wesen, Begründung und Anwendung des Allgemeinen das nächste und bedeutendste Interesse. Dazu kommt die Wirkung des historischen Verlaufs. Die griechische Philosophie ist aus naturwissenschaftlichen Anfängen, aus der Frage nach der physis; d. h. nach dem bleibenden Sein im Wechsel der Erscheinungen hervorgewachsen, und in einem parallelen Verlauf, der auch der causalen Vermittlung durch historische Tradition in der Renaissance nicht entbehrte, ist die moderne Philosophie zu ihrer Selbständigkeit ebenfalls an der Hand der Naturwissenschaft emporgediehen.“ Gewiss, die erste der von Windelband angenommenen Anwendungen spiegelt seine Gegenüberstellung von naturwissenschaftlichen Gesetzen und historischen Gestalten wider, weswegen Rickert teilweise mit ihm übereinstimmte, nämlich unter Berücksichtigung der Tatsache (auf die wir später zurückkommen werden), dass auch die „historischen Begriffe“, also die individualisierenden Begriffsbildungen, sich generalisierender Begriffselemente bedienen. 28 K. Lamprecht, La méthode historique en Allemagne, in „Revue de Synthèse Historique“, I, 1 (Nr. 1), August 1900, S. 21–27. Aber vgl. auch P. Lacombe, La science de l’histoire d’après M. Xénopol, in „Revue de Synthèse Historique“, I, 1 (Nr. 1), August 1900, S. 28–51, insb. S. 44–45. Paul Lacombe, entschiedener Vertreter einer Geschichtsauffassung positivistischer Prägung (umfangreich ausgeführt in ders., De l’histoire considérée comme science, Paris, 1894) und Mitarbeiter der „Revue“, schritt ebendort unverzüglich gegen den Aufsatz von Rickert ein (vgl. ders., L’histoire comme science, à propos d’un article de M. Rickert, in „Revue de Synthèse Historique“, III, 1, Nr. 7, August 1901, S. 1–9). 29 QMUH, S. 121–122; VAAG, S. 738.
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die naturwissenschaftliche Methode gebraucht haben“, sondern auch der Umstand, dass „der Historiker […] die Dinge unter ganz anderen Gesichtspunkten [sieht] als der Naturforscher, und gerade darauf beruht seine Bedeutung“30. Diesbezüglich erklärt Rickert sein ausdrückliches Einverständnis mit einem wichtigen Mitarbeiter der „Revue“ von Berr, dem rumänischen Historiker und Methodologen Alexandru Xenopol31, der in Les principes fondamentaux de l’histoire (1899) seine Überzeugung formulierte, die Geschichte sei nicht eine der vielen, aufgrund der Eigenart ihres jeweiligen Gegenstands von den anderen getrennten Einzelwissenschaften, sondern eine der beiden möglichen und konkurrierenden Arten, die Welt in ihrer Gesamtheit zu begreifen32. Das Einverständnis zwischen Rickert und Xenopol war in Wirklichkeit begrenzt, denn letzterer – weit entfernt von Kant und jeglicher Form des transzendentalen Bewusstseins der Unmöglichkeit aus dem ‚magischen Kreis’ herauszutreten, der untrennbar das erkennende Subjekt und das erkannte Objekt verbindet33– behauptete, dass die Duplizität der Modi, die Welt zu begreifen, im Grunde die Widerspiegelung der doppelten Struktur des natürlichen und spirituellen Universums sei, in der sich faits coexistants (oder faits de répétition, wie Xenopol bereits ab 1900 bevorzugt)34 und faits successifs verflechten. Dies alles war Rickert völlig bewusst, wenn es auch stimmt, dass der neukantianische Philosoph in der durchaus positiven Rezension (erschienen 1901 in der „Historischen Zeitschrift“) zu Xenopols Buch – in der man liest, „von vornherein geht der Vf. darauf aus, die Eigenart des wirklich ausgeübten historischen 30 QMUH, S. 122; VAAG, S. 738. 31 Zu Xenopol siehe die Monographie von A. Giustino Vitolo, Storia e metodo in Alexandru D. Xenopol, Neapel, 1995, hier finden sich auch weitere bibliographische Angaben. Vgl. auch M. Popa, A.D. Xenopol, filosof al istoriei, Bukarest, 2007. 32 Vgl. A.D. Xenopol, Les principes fondamentaux de l’histoire, Paris, 1899, S. 17 und 21. 33 Hierzu empfiehlt es sich, das Urteil von Guido De Ruggiero über das Buch von Xenopol zu lesen (von dem er die 2. Aufl. mit dem Titel La théorie de l’histoire, Paris, 1908, zitiert): „Abgesehen von einer akkuraten Methodologie braucht man von dieser Geschichtslehre nichts weiter zu verlangen. Xenopol wartet noch auf einen Aristoteles oder Bacon seiner Wissenschaft; nicht auf einen Kant. Vor letzterem hat er Angst: Kants These auf die Geschichte anzuwenden, hieße, sie auf eine Phantasmagorie zu reduzieren; eine Illusion, die alle philosophischen Stümper gemein haben. Die Grundlage der Erkenntnisse besteht für ihn dagegen aus den von den Sinnen an die Seele übermittelten Eindrücken, und daher ist es eine Erkenntnis der Dinge in sich selbst; insgesamt hat er für die Philosophie nicht das geringste Gespür; er gibt jedoch eine genaue Beschreibung des historischen Verfahrens, was sein Buch nützlich und erfreulich macht“ (G. De Ruggiero, La filosofia contemporanea: Germania - Francia - Inghilterra - America - Italia, 6. Aufl., Bari, 1951, S. 225). 34 Vgl. A.D. Xenopol, Les faits de répétition et les faits de succession, in „Revue de Synthèse Historique“, I, 2 (Nr. 2), Oktober 1900, S. 121–136. Aber siehe auch A. Giustino Vitolo, Storia e metodo in Alexandru D. Xenopol, op. cit., S. 60, Fußnote 1.
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Verfahrens zum Bewußtsein zu bringen, und statt alles in dem Phantom einer Universalmethode untergehen zu lassen, sucht er vielmehr das hervorzuheben, wodurch die Geschichte sich von den anderen Wissenschaften unterscheidet“ – betont, dass „die phénomènes coexistants und die phénomènes succesifs nicht als zwei wirklich von einander verschiedene Gruppen von Thatsachen angesehen werden dürfen, die völlig unabhängig von der wissenschaftlichen Auffassung und Bearbeitung durch den menschlichen Intellekt in zwei Arten von Wirklichkeiten auseinanderfallen“. Dies sehe Xenopol nicht ganz klar, denn er tendiere dazu, die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begriffsbildung als Realität zu betrachten, und zeige so eine Grundeinstellung, die „mehr ‚dogmatisch‘ als ‚kritisch‘“ ist35. Aber von diesen Erklärungen ist in dem Artikel über die vier Arten des „Allgemeinen“ in der Geschichte keine Spur zu finden. Hier dient der Verweis auf Xenopol allein der Einführung des „fundamentalen Gegensatzes“, der sofort „zutage treten“ muss36, sobald man über die Differenzen zwischen der Vorgehensweise der Geschichte und jener der Naturwissenschaften nachdenkt, ohne sich von dem Trugbild einer „neue[n] Methode […], die noch kein Historiker angewendet hat“37, beeinflussen zu lassen. Bei der Darlegung des genannten Gegensatzes verweist Rickert auf das hauptsächliche, wenn auch noch problematische Ergebnis des ersten Teils der Grenzen, nach dem die Grenze, die die naturwissenschaftlichen Begriffsbildungen nicht überschreiten können, nicht zuvorderst in irgendeiner objektiven Unterscheidung zwischen Natur und Geist, zwischen physischer und psychischer Welt zu finden ist, sondern vielmehr in ihrem Wesen als teleologisch notwendige Mittel im Hinblick auf die Verwirklichung einer bestimmten Zielsetzung der Erkenntnis. Die Naturwissenschaften – wie Physik, Botanik, aber auch die Psychologie – „bringen ihre Objekte erstens unter Begriffe, die das vielen Gegenständen Gemeinsame enthalten, also einen allgemeinen Inhalt haben, und sie ordnen zweitens diese Begriffe so an, daß daraus ein System allgemeiner Begriffe wird, in dem jedes Ding und jeder Vorgang, der zu ihrem Gebiet gehört, seinen Platz findet. Die Darstellung des Allgemeinen ist daher immer das Ziel einer Naturwissenschaft. Das Einmalige und Besondere dagegen geht als solches nicht in ihre Begriffe ein, d. h. sie hat am Individuellen nur soweit ein Interesse, als es ihr zur Bildung ihres Systems allgemeiner Begriffe 35 H. Rickert, Rezension zu A.D. Xenopol, Les principes fondamentaux de l’histoire, in „Historische Zeitschrift“, 86 (1901), S. 464–470, S. 466 und S. 467. Aber vgl. auch Grenzen 1902, S. 450, Fußnote, und A. Giustino Vitolo, Storia e metodo in Alexandru D. Xenopol, op. cit., insb. S. 71–77. 36 QMUH, S. 122; VAAG, S. 738. 37 H. Rickert, Rezension zu A.D. Xenopol, op. cit., S. 466.
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dienen kann“38. Die Korrektheit dieser logisch-teleologischen Begrenzung der Naturwissenschaften spiegelt sich auch in dem Umstand wider, dass das nicht auf ein ‚Beispiel‘ reduzierte Individuelle (das durch die Maschen ihres Begriffnetzes fällt und nicht nicht hindurchfallen kann) in seiner Gesamtheit zur Zielscheibe eines anderen und gegensätzlichen Erkenntnisinteresses wird. In der Tat interessiert sich „alles, was man bisher Geschichte genannt hat,“ – nicht nur Geschichte der Menschheit, sondern auch Geschichte der Erde oder Geschichte des Sonnensystems – „für das, was einmal gewesen ist, und will deshalb nicht das überall und immer Vorhandene, sondern das Besondere an den verschiedenen Orten des Raumes und an den verschiedenen Stellen der Zeit gerade in seiner Individualität darstellen“39. Aus diesem Grund wird jeder „Versuch, das logische Wesen der historischen Wissenschaften zum Bewußtsein zu bringen, davon ausgehen müssen, daß die Geschichte ihrem allgemeinsten Begriffe nach die Wissenschaft vom Einmaligen und Individuellen ist, im Gegensatz zur Naturwissenschaft, welche das immer Wiederkehrende und Allgemeine darstellt“40. Gegenüber der Offensichtlichkeit dieser logischen Unterscheidung, die noch bekräftigt wird durch die Tatsache, dass „alle Historiker bisher stets einmalige, individuelle Entwicklungsreihen dargestellt haben“, bleibt jedoch das Problem zu verstehen, warum die Forderung nach der „Uebertragung der naturwissenschaftlichen Methode auf die Geschichte“ immer wieder neu wie ein Phönix aus der Asche aufersteht41. Nach Rickerts Ansicht reicht es nicht, sich auf die diffuse (eng mit ihren technologischen Erfolgen verbundene) Überbewertung der Naturwissenschaften und auch nicht auf die „Philosophie des Naturalismus“, die gerade in Mode ist (und die „natürlich nicht dulden [kann], daß es noch etwas anderes gibt als Naturwissenschaft“), zu berufen: Das Phänomen hat auch noch einen tieferen Grund, der Ausdruck in einem „logischen Argument“ findet, mit dem Rickert sich hier beschäftigen will42. „Man kann nämlich sagen, daß ohne ‚Allgemeines‘ Wissenschaft überhaupt nicht möglich sei, und daraus dann den Schluß ziehen, daß die Wissenschaft vom Besonderen und Individuellen einen Widerspruch enthalte.“43 Die Frage war unter anderem von Henri Berr aufgeworfen worden, obwohl er jeglicher simplen Reduktion der geschichtlichen Kausalität auf die Kausalität der Physik 38 QMUH, S. 122; VAAG, S. 738. 39 QMUH, S. 123; VAAG, S. 739. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Ebd.
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oder einer anderen Wissenschaft ablehnend gegenüberstand. Indem er sich gegen den „Faktensammler“ wendet, der die Geschichtswissenschaft als „Befriedigung einer Neugier“, als „retrospektive Reportage“ auffasst (zugleich aber auch gegen jene „Geister von unleugbarem Wert, die die Wissenschaft nur in der Form von stückhaften Untersuchungen verstehen und die wegen der unendlichen Fülle der Details in ihren Forschungen nur voranschreiten, um das Ziel in weitere Ferne rücken zu sehen“), schreibt Berr in dem Editorial Sur notre programme in der ersten Nummer der „Revue“: „Der Staub der Fakten ist nichts. Es gibt, nach der alten Formel, keine Wissenschaft außer der vom Allgemeinen“44. Die Anspielung Berrs auf die scheinbar unüberwindliche Barriere, die der poussière des faits und die unendliche Fülle der Details demjenigen in den Weg legen, der eine „Wissenschaft vom Besonderen und Individuellen“ verfolgt, muss Rickert schwer getroffen haben, denn für ihn ist und bleibt der Kern der komplexen Fragen nach der Rolle des „Allgemeinen“ in der Geschichte das Problem des Prinzips der Auswahl der historischen Begriffsbildung: ein Problem, welches Windelband mit dem Begriff der „idiographischen Methode“ zwar „erörtert“, aber nicht löst45 und welches auch in den Analysen des ersten Teils der Grenzen nicht gelöst wird. a) Dort ist Rickert nämlich von dem allen bekannten „unmittelbaren Erlebnis“46 der „extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit“ der empirischen Wirklichkeit ausgegangen47, von jenem kantischen 44 H. Berr, Sur notre programme, op. cit., S. 6–7. Die Position Berrs ändert sich auch elf Jahre später nicht, als ihm der Mediävist Louis Halphen in einem offenen Brief in der „Revue“ gesteht: „Ich habe Ihnen nicht verheimlicht, dass die Lektüre Ihres Buches La synthèse en histoire [Paris, 1911] meine Vorurteile eines ‚historisierenden‘ Geschichtswissenschaftlers und verstockten Gelehrten […] nicht entkräften konnte. Die Geschichte […] scheint mir weiterhin eine Wissenschaft vom Besonderen zu sein“ (H. Berr und L. Halphen, Histoire traditionnelle et synthèse historique, in „Revue de Synthèse Historique“, XIII, 2, Nr. 68, Oktober 1911, S. 121–130, S. 122–123). Als Antwort auf Halphen schreibt Berr: „Die Geschichte hat eher zu sehr unter dem häufig gemachten Versuch gelitten, sie der einen oder anderen Disziplin gleichzustellen. Sie verfügt nicht über dieselben Eigenschaften wie die Mathematik, die Physik oder die Biologie, weil sie die Geschichte ist. Aber zu behaupten, sie sei eine ‚Wissenschaft vom Besonderen‘, bedeutet in Wahrheit, den Terminus der Wissenschaft zu missbrauchen und Wörter von gegensätzlichem Sinne zusammenzutun. Sie wird nur unter der Bedingung eine Wissenschaft wie die anderen sein, dass sie das Allgemeine untersucht und bestimmt. Und dazu ist sie in der Lage; und es ist notwendig, dass sie es mit Methode tut“ (ebd., S. 128–129). 45 Vgl. Grenzen 1902, S. 302–303. Hier ist viel Aufmerksamkeit gefragt, um hinter den behutsamen und anerkennenden Respekt für den Meister zu blicken, von dem diese Seiten geprägt sind. 46 Grenzen 1902, S. 39. 47 Grenzen 1902, S. 36.
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Mannigfaltigen der Empfindung, demgegenüber sich am Nullpunkt des Erkenntnisprozesses das erkennende Subjekt wiederfindet, und sich ihm zugleich widersetzt48. b) Die Unerschöpflichkeit jedes einzelnen Teils der empirischen Wirklichkeit und der empirischen Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit (welche für den modernen Menschen und seine Wissenschaft die Wirklichkeit tout court ist und nicht eine Schattenwelt der genesis, die dem, was wirklich ist, zur Seite gestellt und untergeordnet ist) schließt von Anfang an aus, dass der Erkenntnisprozess in den Termini des Abbilds und der Widerspiegelung begriffen werden kann: Auf diesem Weg – wird Rickert in der zweiten Auflage der Grenzen schreiben – erfahren wir nur „die Ohnmacht unseres Intellektes“49. c) Die empirische Unerschöpflichkeit kann also nicht widergespiegelt werden, sie kann und muss aber durch ein Prinzip der Auswahl des Wesentlichen vom Unwesentlichen, das die tatsächliche Verwirklichung unseres Erkenntnistriebes ermöglicht, überwunden werden. d) Für die naturwissenschaftliche „mode de conception du monde“50 wird das Prinzip der Auswahl, das die Begriffsbildung der empirischen Wirklichkeit ermöglicht und leitet, eben gerade durch das Allgemeine dargestellt, etymologisch gesehen also durch das, was einer Vielzahl oder ‚allen‘ intuitiven Gestalten des Realen ‚gemein‘ ist und sich auf identische Weise in jeder von ihnen wiederholt. Dies gilt sowohl für die ‚Gattungsnamen‘, die bereits das Ergebnis der natürlichen, psychologischen Entwicklung sind und die der Wissenschaftler nach der exakten Definition ihrer Bedeutung verwendet, als auch für die kompliziertesten Gleichungen der rationalen Mechanik, sowie selbstverständlich auch für alle feinen Maschen eines Begriffsnetzes, das sehr komplex, aber in der Tiefe einheitlich ist, da es auf ein einheitliches Ziel ausgerichtet ist. e) Die einheitliche Struktur der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung scheint zunächst in ebenfalls einheitlicher Weise das Ziel und das gegenständliche Ergebnis eines anderen und gegensätzlichen Erkenntnistriebes, jenes geschichtlichen, zu bestimmen, der sich alles, was nur einer räumlich-zeitlichen Gestalt der empirischen Wirklichkeit 48 Vgl. M. Catarzi, Le Grenzen di Rickert tra sintesi e progetto, Einleitung zu H. Rickert, I limiti dell’elaborazione concettuale scientifico-naturale. Un’introduzione logica alle scienze storiche, hrsg. von M. Catarzi, Neapel, 2002, S. XI-CII, insb. XXXVI-XLV. Auf die Einleitung von Catarzi verweise ich auch für die folgenden Ausführungen; dort findet sich eine analytische Erklärung dessen, was hier nur zusammenfassend angesprochen werden kann. Aber siehe auch ders., A ridosso dei limiti. Per un profilo filosofico di Heinrich Rickert lungo l’elaborazione delle Grenzen, Soveria Mannelli (Catanzaro), 2006. 49 H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, 2. neu bearbeitete Aufl., Tübingen, 1913, S. 36. 50 A.D. Xenopol, Les principes fondamentaux de l’histoire, op. cit., S. 17 (vgl. oben, Fußnote 32).
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innewohnt, wissenschaftlich darzustellen sucht und, um es so zu sagen, der immanente Rückstand der generalisierenden Begriffsbildungen ist. Und dennoch ist dieser Rückstand bei genauer Betrachtung nichts anderes als die empirische Wirklichkeit selbst in ihrer individuellen und anschaulichen Struktur, welche – wie wir wissen – die Züge einer extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit aufweist, die unempfindlich gegenüber jeder Form begrifflicher Reproduktion ist. Aus diesem Grund bleibt jede „logische Einleitung in die historischen Wissenschaften“ nur negativ und als solche mangelhaft, solange sie nicht in der Lage ist zu zeigen, welches das Prinzip der Auswahl ist, das eine Begriffsbildung der Wirklichkeit ermöglicht und leitet, die prinzipiell alternativ zu jener der generalisierenden Wissenschaften ist. Diese schwierige Situation projiziert sich auf Rickerts (auch von Weber aufgegriffene) Definition der Geschichtswissenschaft als „Wirklichkeitswissenschaft“51: Einerseits ist sie in der Tat völlig gerechtfertigt durch den Umstand, dass „alle empirische Entwicklung […] ein einmaliger, sich unaufhörlich verändernder und daher im weitesten Sinne des Wortes historischer Entwicklungsgang“ ist, während dagegen „Wiederholungen […] sich nur insofern [finden], als wir von den individuellen Differenzen gewisser Objekte absehen“52; aber auf der anderen Seite riskiert sie, sogar widersprüchlich zu scheinen, denn die empirische Wirklichkeit, so wie sie ist, „geht in keine Wissenschaft ein“53. f ) Das Problem, um das sich der zweite Teil der Grenzen dreht (und insbesondere das vierte und grundlegende Kapitel) ist also das Prinzip der Auswahl, das die von den Geschichtswissenschaften umgesetzte Begriffsbildung der Wirklichkeit leitet. Dieses Prinzip kann natürlich nicht mit dem ‚Allgemeinen‘ im Sinne der Naturwissenschaften übereinstimmen. Aber heißt das, dass es nichts zu tun hat mit all den anderen möglichen Bedeutungen des Terminus vom ‚Allgemeinen‘? Und wenn dem nicht so wäre, wenn das Prinzip der Auswahl, das die Begriffsbildung der individualisierenden Wissenschaften leitet, ebenfalls etwas mit dem ‚Allgemeinen‘ zu tun hätte, wenn auch in einem anderen Sinn als bei den generalisierenden Wissenschaften, hieße das dann vielleicht, dass die Geschichtswissenschaften nicht auch instrumentell das ‚Allgemeine‘ annehmen können und müssen, diesmal eben genau in dem selben Sinne verstanden wie bei den Naturwissenschaften? In dem Aufsatz von 1901 über die vier Arten des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte spiegelt sich diese ganze Problematik in Rickerts Antwort auf jene wider, welche die Idee einer Wissenschaft vom Individuellen ausgehend von der Annahme, dass ohne das ‚Allgemeine‘ die Wissenschaft unmöglich ist, für 51 Vgl. Grenzen 1902, S. 263 und RuK, S. 3ff. 52 H. Rickert, Rezension zu A.D. Xenopol, op. cit., S. 467. 53 Grenzen 1902, S. 338.
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widersprüchlich halten. Er schreibt: „Nun ist die Voraussetzung in gewissem Sinne wohl richtig, aber die Konsequenz ist ganz falsch, d. h. der Umstand, daß jede Wissenschaft des Allgemeinen bedarf, beweist nicht, daß jede auch die Aufgabe habe, ein System von allgemeinen Begriffen zu bilden, wie die Naturwissenschaften und auch die Psychologie es tun. Der Ausdruck ‚allgemein‘ ist nämlich sehr vieldeutig, und nur wenn man seine verschiedenen Bedeutungen sorgfältig auseinanderhält, ist es möglich, über die Methoden der verschiedenen Wissenschaften Klarheit zu gewinnen. Wir wollen hier zeigen, daß es sogar vier verschiedene Arten des ‚Allgemeinen‘ in jeder historischen Darstellung gibt, und daß trotzdem die Geschichte, im Gegensatz zur Naturwissenschaft, als die Wissenschaft vom Besonderen und Individuellen bezeichnet werden muß“54.
III. Die Begriffselemente oder die erste Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte Zunächst einmal gibt es einen wesentlichen Grund, der das „Allgemeine“, verstanden im gleichen Sinne wie bei den Naturwissenschaften, „in der Tat jeder Wissenschaft unentbehrlich macht“55, und damit eben auch für die Geschichtswissenschaften. In seinem Aufsatz von 1901 fasst Rickert diesen folgendermaßen zusammen: „Wissenschaft setzt sich immer aus Urteilen zusammen, die unabhängig von der Anschauung einen Sinn haben und verstanden werden müssen, und die Bestandteile dieser Urteile können daher niemals individuell, sondern müssen allgemein sein. In dieser Hinsicht besteht also zwischen der Geschichte und den anderen Wissenschaften kein Unterschied“56. Diese Passage erinnert an ein Thema, das Rickert bereits im ersten Teil der Grenzen entwickelt hat, genauer gesagt in den ersten beiden Abschnitten des ersten Kapitels („Die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt“), nämlich „Die Mannigfaltigkeit der Körperwelt und ihre Vereinfachung durch die allgemeine Wortbedeutung“ und „Die Bestimmtheit des Begriffes“. Diese Abschnitte beschränken sich im Gegensatz zu den darauf folgenden nicht nur auf eine vertiefte Analyse der naturwissenschaftlichen Darstellung der Wirklichkeit,
54 QMUH, S. 123–124; VAAG, S. 739–740. 55 QMUH, S. 124; VAAG, S. 740. 56 Ebd.
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widersprüchlich halten. Er schreibt: „Nun ist die Voraussetzung in gewissem Sinne wohl richtig, aber die Konsequenz ist ganz falsch, d. h. der Umstand, daß jede Wissenschaft des Allgemeinen bedarf, beweist nicht, daß jede auch die Aufgabe habe, ein System von allgemeinen Begriffen zu bilden, wie die Naturwissenschaften und auch die Psychologie es tun. Der Ausdruck ‚allgemein‘ ist nämlich sehr vieldeutig, und nur wenn man seine verschiedenen Bedeutungen sorgfältig auseinanderhält, ist es möglich, über die Methoden der verschiedenen Wissenschaften Klarheit zu gewinnen. Wir wollen hier zeigen, daß es sogar vier verschiedene Arten des ‚Allgemeinen‘ in jeder historischen Darstellung gibt, und daß trotzdem die Geschichte, im Gegensatz zur Naturwissenschaft, als die Wissenschaft vom Besonderen und Individuellen bezeichnet werden muß“54.
III. Die Begriffselemente oder die erste Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte Zunächst einmal gibt es einen wesentlichen Grund, der das „Allgemeine“, verstanden im gleichen Sinne wie bei den Naturwissenschaften, „in der Tat jeder Wissenschaft unentbehrlich macht“55, und damit eben auch für die Geschichtswissenschaften. In seinem Aufsatz von 1901 fasst Rickert diesen folgendermaßen zusammen: „Wissenschaft setzt sich immer aus Urteilen zusammen, die unabhängig von der Anschauung einen Sinn haben und verstanden werden müssen, und die Bestandteile dieser Urteile können daher niemals individuell, sondern müssen allgemein sein. In dieser Hinsicht besteht also zwischen der Geschichte und den anderen Wissenschaften kein Unterschied“56. Diese Passage erinnert an ein Thema, das Rickert bereits im ersten Teil der Grenzen entwickelt hat, genauer gesagt in den ersten beiden Abschnitten des ersten Kapitels („Die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt“), nämlich „Die Mannigfaltigkeit der Körperwelt und ihre Vereinfachung durch die allgemeine Wortbedeutung“ und „Die Bestimmtheit des Begriffes“. Diese Abschnitte beschränken sich im Gegensatz zu den darauf folgenden nicht nur auf eine vertiefte Analyse der naturwissenschaftlichen Darstellung der Wirklichkeit,
54 QMUH, S. 123–124; VAAG, S. 739–740. 55 QMUH, S. 124; VAAG, S. 740. 56 Ebd.
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sondern enthalten auch wichtige Betrachtungen zu der wissenschaftlichen Darstellung der Wirklichkeit überhaupt57. In dem ersten der beiden Abschnitte a) zeigt Rickert zunächst, dass die wissenschaftliche Erkenntnis nicht die Aufgabe hat, die unendliche Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit abzubilden, sondern vielmehr über sie hinauszugehen, b) und erkennt in jenen Wörtern, die über „allgemeine Bedeutungen“ verfügen, die also nicht nur „eine einzelne bestimmte Anschauung“ bezeichnen, sondern auch „eine Mehrheit verschiedener Einzelgestalten der Wirklichkeit“58 umfassen, die wichtigste Handhabe, die das vorwissenschaftliche Leben der Wissenschaft zur Erfüllung ihrer Aufgabe bietet. Indem er für den Moment die heikle psychologische (aber auch logische) Frage nach dem, was in uns geschieht, wenn wir die generelle Bedeutung eines Wortes verstehen, beiseite lässt, legt Rickert sofort die Betonung auf das, worin die ursprüngliche Vereinfachung der extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit des Wirklichen besteht, die jeder vornimmt, wenn er Wörter mit einer allgemeinen Bedeutung verwendet. „Die extensive Mannigfaltigkeit der uns umgebenden Welt wird dadurch verringert, dass wir mit einem Worte eine Mehrheit von Anschauungen bezeichnen. Die intensive Mannigfaltigkeit jeder einzelnen Anschauung wird dadurch überwunden, dass wir, ohne uns ein Objekt seinem ganzen anschaulichen Inhalt nach ausdrücklich vergegenwärtigt zu haben, was unmöglich wäre, es doch mit Sicherheit einer Wortbedeutung unterordnen können. Wir nehmen also durch die Wortbedeutung mit einem Schlage eine Mehrheit von anschaulichen Gestaltungen gewissermassen in uns auf, und stellen doch zugleich nur einen kleinen Theil (vielleicht sogar nichts) von ihrem unendlichen anschaulichen Inhalt vor“59. c) Natürlich interessiert diese „Vereinfachung des Gege57 Schon in der Einleitung zu den Grenzen verwendet Rickert den Ausdruck Darstellung nicht „in einem äusserlichen Sinn“, „wonach es sich dabei nur um die sprachliche Formulirung von Gedanken handelt“, also um eine reine Darlegung der Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit, sondern er versteht darunter „die Form, in welche mit innerer Nothwendigkeit die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit sich kleiden müssen“ (Grenzen 1902, S. 23). Und kurz darauf ergänzt er, „dass es entsprechend der Beschränkung, die wir für die Untersuchung der Naturwissenschaft festgestellt haben […] weniger auf den Prozess des Findens und Forschens in den Geschichtswissenschaften, als auf die Form ihrer Darstellung, d.h. auf die logische Struktur ihrer Ergebnisse ankommt“ (Grenzen 1902, S. 25). 58 Grenzen 1902, S. 39–40. 59 Grenzen 1902, S. 40. Beispielsweise umfasst die Bedeutung des Wortes „rot“ eine extensive Mannigfaltigkeit von Farbtönen (das leuchtende Rot dieses Apfels, das Pompejirot dieses Palazzos, das Amarantrot dieses Sonnenuntergangs usw.) und wählt aus der intensiven Mannigfaltigkeit jedes von ihnen nur einen kleinen Aspekt aus (das Rot des leuchtenden Rots dieses Apfels, das Rot des Pompejirots dieses Palazzos, das Rot des Amarantrots dieses Sonnenuntergangs usw.).
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benen“, die durch die allgemeinen Bedeutungen der Wörter erreicht wird, Rickert nicht als „das Produkt einer nicht von bewussten logischen Zwecken begleiteten psychologischen Entwicklung“60 (dessen Entstehung, vielleicht gar mit Hilfe des „moderne[n] Allheilmittel[s] des ‚Darwinismus‘“61 zu finden ist), sondern als bewusst „zum Zwecke wissenschaftlicher Erkenntnis der Welt“62 eingesetztes Mittel. In dieser Eigenschaft stellen die allgemeinen Bedeutungen der Wörter zunächst „die primitivste Form des Denkvorgangs“63 dar, oder, mit anderen Worten, die einfachste Komponente jeder wissenschaftlichen Erkenntnis der Wirklichkeit, und erst an zweiter Stelle die elementarste Form des naturwissenschaftlichen Begriffs (wegen ihrer Orientierung auf die Gemeinsamkeiten in einer Mannigfaltigkeit von anschaulichen Gestalten der Wirklichkeit). d) An dieser Stelle der Grenzen scheinen sich die beiden logischen Charakterisierungen der allgemeinen Bedeutungen der Wörter zum Vorteil der zweiten und zum Nachteil der ersten zu vermischen. Bei einer aufmerksameren Lektüre wird jedoch deutlich, dass dem nicht so ist. Rickert setzt seine Analyse fort, indem er die wissenschaftlichen Urteile überhaupt sauber von jenen Urteilen trennt, „deren Elemente sich auf einzelne Anschauungen beziehen“ (wie beispielsweise: ‚Dieses Blatt ist hier‘), die aber nur verständlich sind, „wenn sie von hinweisenden Geberden begleitet werden, wenn man also die gemeinte Anschauung direkt aufzeigen kann“64. Im Gegensatz dazu verwendet „jedes Urtheil, das für sich verständlich ist – und die Urtheile, die wissenschaftlichen Werth haben sollen, müssen dies ausnahmslos sein –, […] stets allgemeine Wortbedeutungen, d.h. Gebilde, in denen sowohl eine Anzahl verschiedener Anschauungen zusammengefasst, als auch immer nur ein Theil des Inhalts der zusammengefassten Anschauungen enthalten ist“65. Dies bedeutet nicht, präzisiert Rickert, dass die wissenschaftlichen Urteile ausschließlich Wörter mit allgemeiner Bedeutung enthalten dürfen (wie z.B. in dem Urteil: ‚Die Blätter des Efeus sind segmentiert‘). In den – wenn auch nur flüchtig, so doch explizit erwähnten66 – Geschichtswissenschaften kommen in der Tat Urteile vor, die ‚Eigennamen‘ verwenden (wie z.B. in dem Urteil: ‚Octavian Augustus war erster römischer Kaiser‘). In gewisser Hinsicht stellen die Eigennamen sogar die einfachste Form des historischen Begriffs dar, genauso wie die Gattungs60 Grenzen 1902, S. 41. 61 Grenzen 1902, S. 40, Fußnote. 62 Grenzen 1902, S. 41. 63 Ebd. 64 Grenzen 1902, S. 43. 65 Ebd. (Hervorhebung E.M.). 66 Vgl. Grenzen 1902, S. 44.
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namen die einfachste Form des naturwissenschaftlichen Begriffs darstellen67. Und dennoch, „sollte sogar mit einem Worte nur eine einzige, vollkommen individualisirte anschauliche Gestaltung der Wirklichkeit gemeint sein [‚Octavian Augustus‘], so würde das betreffende Urtheil, wenn es ohne eine auf die betreffende Anschauung hinweisende Geberde verstanden werden soll, doch lediglich aus allgemeinen Begriffen bestehen [‚erster‘, ‚römischer‘, ‚Kaiser‘] und könnte uns nur durch eine bestimmte Kombination von Wortbedeutungen [‚erster‘ und ‚römischer‘ und ‚Kaiser‘] dazu auffordern, an eine einzelne wirkliche Anschauung zu denken“68. e) Rickert greift diese Betrachtungen in dem Aufsatz von 1901 über die vier Arten des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte wieder auf und schreibt: „Die letzten Elemente, aus denen die Sätze einer historischen Untersuchung bestehen, sind immer allgemein. Auch die Eigennamen, die sich nur auf ein bestimmtes Individuum beziehen, müssen sich in allgemeine ‚Vorstellungen‘ auflösen lassen, denn nur soweit dies möglich ist, haben sie einen Sinn für alle. So setzt sich jede historische Darstellung vollkommen aus lauter allgemeinen Bestandteilen zusammen, und diese ‚Elemente‘ sind die erste Art des Allgemeinen, die in jeder Geschichte vorkommt“69. Analog dazu stellt Rickert an wichtiger Stelle im zweiten Teil der Grenzen – nämlich am Anfang des zweiten Abschnitts des vierten Kapitels, wo der Ausdruck „historisches Individuum“ zum ersten Mal eine positive Begriffsbestimmung erfährt – fest, dass jede „geschichtliche Darstellung […] fast durchweg aus Worten besteht, welche allgemeine Bedeutungen haben“. Gewiss, es gebe auch „Eigennamen“, aber diese dürfen „in einer historischen Darstellung nur als Stellvertreter für einen Komplex von Worten mit allgemeiner Bedeutung auftreten, denn nur dann ist die Darstellung für Jeden verständlich, der sie hört oder liest“. Und so ist dieses Allgemeine der Elemente des Urteils ein Allgemeines, das „unentbehrlich ist für jedes logische Denken überhaupt“ und das „selbstverständlich bei einer geschichtlichen Darstellung ebenso wenig fehlen [kann] wie bei der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“70. Rickert ist folglich überzeugt, dass das historische Urteil wie jedes andere wissenschaftliche Urteil auch unter seinen Bestandteilen keine individuellen Anschauungen nennen kann, die nicht in einem Komplex aus Wörtern mit allgemeiner Bedeutung aufgelöst sind. Die Gründe für diese Überzeugung – die Rickerts Ausdruck der ‚individualisierenden Wissenschaften‘ radikal von jeder Form des ‚Ästhetizismus‘ trennt und schon allein deswegen Webers Auf67 Vgl. Grenzen 1902, S. 379–380. 68 Grenzen 1902, S. 44 (Hervorhebung E.M.). 69 QMUH, S. 124–125; VAAG, S. 740. 70 Grenzen 1902, S. 337–338.
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merksamkeit weckt71 – werden in dem zweiten Abschnitt des ersten Kapitels der Grenzen grundlegend geklärt, in dem sich Rickert mit dem Thema der „Bestimmtheit des Begriffs“ befasst und zu Ergebnissen kommt, die nicht nur für die naturwissenschaftliche, sondern auch für die historische Begriffsbildung gelten. a) Rickert spricht hier die zuvor übergangene psychologische Frage an, was in uns geschieht, wenn wir die allgemeine Bedeutung eines Wortes verstehen. Dies ist auch in logischer Hinsicht ein interessantes Problem, insbesondere im Hinblick auf die Frage nach der Möglichkeit, Wörter mit allgemeiner Bedeutung zu verstehen und von den entsprechenden individuellen Anschauungen abzusehen (die jene extensive und intensive Mannigfaltigkeit des Wirklichen mit sich bringen, welche der Begriff vereinfachen und überwinden soll). b) Doch beim alltäglichen Verstehen der allgemeinen Wortbedeutungen „scheint zunächst die Anschauung […] keine wesentliche Rolle zu spielen“72: Wenn wir eine Rede verstehen, wandeln wir nicht alle darin enthaltenen Wörter in ihre anschaulichen Bilder um, denn dann wäre ein schnelles Verständnis gar nicht möglich. Viel stärker erscheint dagegen die Verschmelzung zwischen Wort (verstanden als Laut- oder Zeichengruppe) und Wortbedeutung73. Diese richtige Beobachtung hebt aber lediglich wirkungsvoll das Problem hervor, bietet jedoch keine Lösung. Bei genauer Betrachtung ist nämlich nur eines sicher: „Wir wissen bei den meisten Worten, die wir benutzen, nicht genau anzugeben, worin ihre Bedeutung besteht“, „wenn sie keine anschauliche Vorstellung ist“74. c) Diese Schwierigkeit ist „für das tägliche Leben nicht störend“75, da es nur einen Horizont durchschnittlichen und vagen Einverständnisses braucht, der zwar Missverständnisse nicht ausschließt, aber ausreichend ist für die praktischen Ziele des Zusammenlebens. Anders sieht es bei der Logik aus, die nach dem wissenschaftlichen Gebrauch der Wörter als „Zeichen von Begriffen“ fragt und daher in einen Bereich gerät, in dem „Unklarheiten und Missverständnisse“ nicht toleriert werden können. Gewiss, auch die Logik überträgt das Problem, die tatsächliche Dynamik der „Verschmelzung“ des Wortes (verstanden als Laut- oder Zeichengruppe) und seiner allgemeinen Bedeutung, wie sie 71 Vgl. oben, Fußnote 16. 72 Grenzen 1902, S. 48. 73 Diesbezüglich verweist Rickert auf die Beiträge zur Logik von Alois Riehl (Leipzig, 1892), der bemerkt, dass wir nur in einer Fremdsprache, die wir nicht gut beherrschen, das Vorhandensein einer Trennung von Wort (verstanden als Laut- oder Zeichengruppe) und Wortbedeutung spüren; eine Trennung übrigens, die geringer wird, sobald wir in der Lage sind, die Laut- oder Zeichengruppe mit einer aus unserer Muttersprache zu übersetzen und Wort für Wort zu ersetzen. 74 Grenzen 1902, S. 48–49. 75 Grenzen 1902, S. 49.
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im alltäglichen Sprachgebrauch besteht, deutlich zu machen, an die Psychologie. Aber dies entkräftet in keiner Weise den Zwang vom – faktisch nie ganz erreichbaren – „logischen Ideal“, nach dem die allgemeinen Wortbedeutungen nur zu Instrumenten eines angestrebten wissenschaftlichen Zwecks werden können, wenn sie von ihrer unmittelbaren Verschmelzung mit den Wörtern (wie auch immer diese sich darstellt) getrennt werden. Es ist überhaupt erst nach dieser „Trennung“ möglich, „den Inhalt der Bedeutungen ausdrücklich zum Bewusstsein zu bringen“, in dem er klar und deutlich bestimmt und umrissen wird76. d) Zunächst könnte all das die Vermutung nahe legen, dass abgesehen von dem, was beim alltäglichen Gebrauch der Wörter geschieht, der wissenschaftliche Diskurs sich zumindest auf den anschaulichen Inhalt ihrer Bedeutung beziehen muss, der aber nie jener einer einzelnen Anschauung, sondern vielmehr „das mehreren einzelnen Anschauungen Gemeinsame“77 ist, welches wiederum nur einen kleinen Teil des komplexen Inhalts jeder einzelnen von ihnen ausmacht. Zum Beispiel ist der anschauliche Inhalt der Bedeutung des Wortes „orange“ das Gemeinsame verschiedener einzelner Farbempfindungen, von deren Inhalt es wiederum jeweils nur einen kleinen Teil darstellt. Und weiter: Der anschauliche Inhalt der Bedeutung des Wortes „Dreieck“ ist das Gemeinsame einzelner anschaulicher Darstellungen von gleichschenkligen, ungleichseitigen usw. Dreiecken, von deren Inhalt es jeweils nur einen kleinen Teil darstellt. Und trotzdem, bemerkt Rickert, „drängt sich, sobald wir die Bedeutung eines Wortes ausdrücklich vorzustellen suchen, immer eine individuelle Anschauung mit ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit in unser Bewusstsein, eine Anschauung, in der wir das Gemeinsame vorstellen, ja die ein wirkliches Vorstellen des Gemeinsamen allein möglich macht. Man kann sie als den Hintergrund des Begriffes im Gegensatze zu den im Vordergrund befindlichen gemeinsamen Elementen bezeichnen“78. Wenn man beispielsweise versucht, sich den anschaulichen Inhalt der Bedeutung des Wortes „orange“ bewusst zu machen, begegnet einem nicht nur das gemeinsame Element einer Gruppe von Farbempfindungen (das im Vordergrund steht), sondern man trifft auch im Hintergrund auf eine oder mehrere Farbempfindungen von Orange, während bei Fehlen dieses Hintergrunds auch die Vorstellung im Vordergrund verblasst. Auf die gleiche Weise trifft man, wenn man versucht, sich den anschaulichen Inhalt der Bedeutung des Wortes „Dreieck“ bewusst zu machen, nicht nur auf das gemeinsame Element einzelner anschaulicher Vorstellungen von Drei76 Grenzen 1902, S. 49–50. 77 Grenzen 1902, S. 50. 78 Grenzen 1902, S. 51. Hierzu verweist Rickert auf die Logische Elementarlehre von Benno Erdmann (Halle, 1892).
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ecken, sondern auch, im Hintergrund, auf eine oder mehrere anschauliche Vorstellungen von Dreiecken (gleichschenklig, ungleichseitig usw.), während bei Fehlen dieses Hintergrunds auch die Vorstellung im Vordergrund verschwindet. Wenn also der einfache Akt, die allgemeine Bedeutung der Wörter in ihrer ursprünglichen Verschmelzung mit den Wörtern selbst zu verstehen, „für die Sicherheit der wissenschaftlichen Untersuchung nicht ausreichend“79 ist, so reicht auch der konstante Bezug auf den anschaulichen Inhalt dieser Bedeutung nicht aus und verlangt eine weitere logische Ausarbeitung. Ein Problem stellt natürlich die extensive und intensive Mannigfaltigkeit der im Hintergrund vorgestellten anschaulichen Inhalte dar. „Diese Mannigfaltigkeit im Inhalt der Begriffe ist unter logischen Gesichtspunkten ein Mangel. Sie hindert uns nicht nur, den Umfang eines Begriffes mit Sicherheit anzugeben, sondern vor Allem kann ein Begriff mit unbestimmtem Inhalt für die Ueberwindung der intensiven Mannigfaltigkeit der Einzelgestaltungen wenig leisten. Es gilt also, die anschauliche Mannigfaltigkeit aus dem Inhalt der Begriffe zu beseitigen, den ‚Hintergrund‘ fortzuschaffen, in dem wir das Gemeinsame vorstellen, und den Theil der Wortbedeutungen zu isoliren, auf den es uns ankommt. […] Nur so werden wir vollkommene Begriffe bilden, die nichts Anderes, als das verschiedenen Einzelanschauungen Gemeinsame, und daher dies Gemeinsame bestimmt enthalten“80. e) Diese korrekte Hervorhebung der „Bestimmtheit als eine wesentliche Eigenschaft des logisch vollkommenen Begriffs“81 scheint jedoch die Logik vor eine „unlösbare Aufgabe“82 zu stellen, denn – wie wir gesehen haben – die anschauliche Vorstellung eines generell in mehreren einzelnen Anschauungen enthaltenen Elements ist tatsächlich nur möglich unter Zuhilfenahme einer oder mehrerer Einzelanschauungen: Ohne ‚Hintergrund‘ verschwindet auch der ‚Vordergrund‘. Mit anderen Worten: „Bestimmt ist immer nur eine individuelle Anschauung. Die Allgemeinheit eines Bewusstseinsinhalts scheint nothwendig mit Unbestimmtheit verknüpft. Bestimmte Vorstellungen vom Gemeinsamen giebt es also als psychische Gebilde nicht“83. f ) In 79 Grenzen 1902, S. 52. 80 Grenzen 1902, S. 53. 81 Ebd. Zum Thema der Bestimmtheit als wesentliche Eigenschaft der logischen Begriffe verweist Rickert auf die Logik von Christoph von Sigwart (Tübingen, 1873–1878), sowie auf das Werk Erfahrung und Denken von Johannes Volkelt (Hamburg - Leipzig, 1886). 82 Grenzen 1902, S. 54. 83 Ebd. Dies ist eine der Stellen, an denen die Distanz zwischen Rickert (der dem kantischen Prinzip der Erfahrung treu bleibt) und Husserls Begriff der ‚kategorischen Anschauung‘ greifbar wird. Gerade hierin liegt bei genauer Betrachtung der Keim jenes ‚Nominalismus‘, den Max Scheler – un embriagado de essencias wie Ortega y Gasset ihn treffend nennt – wiederholt Weber und seinen neukantianischen Meistern zuschreibt.
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Wirklichkeit lässt sich das Problem nur lösen, wenn die Bildung der allgemeinen Wortbedeutungen im Hinblick auf wissenschaftliche Ziele entschieden einen anderen Weg einschlägt: Sie darf nicht auf einen angenommenen anschaulichen Inhalt der allgemeinen Vorstellungen Bezug nehmen (welche immer dem ‚Mannigfaltigen der Empfindung‘ verpflichtet bleibt und es nicht schafft, dies zu beherrschen oder zu überwinden), sondern sie muss sich vielmehr von dem Bezug auf die Mannigfaltigkeit der individuellen Anschauungen befreien und die allgemeinen Vorstellungen in einer Reihe bestimmender Urteile oder Behauptungen auflösen. In jedem wissenschaftlichen Bereich können wir „um einen wirklich brauchbaren Begriff zu schaffen, beim blossen Vorstellen nicht stehen bleiben, denn jede Vorstellung ist mit Mannigfaltigkeit verbunden, die uns stört. Wie aber werden wir diese Mannigfaltigkeit los? Das Mittel dazu ist sehr einfach, und es wird fortwährend davon Gebrauch gemacht. Wir zählen einzeln auf, woraus der Inhalt eines Begriffes besteht. Damit kommen wir zu etwas ganz Neuem. Eine solche Begriffsbestimmung kann nur dadurch vorgenommen werden, dass wir an die Stelle einer einzelnen Vorstellung eine Mehrheit von Denkarten, und zwar eine Anzahl aufeinander folgender Urtheile treten lassen. In ihnen haben wir den Inhalt der Wortbedeutung bestimmt vor uns. Die anschauliche Mannigfaltigkeit kann jetzt nicht mehr störend wirken. Der Vordergrund ist vom Hintergrund scharf getrennt“84. Die Wortbedeutung von ‚orange‘ wird in dem Moment ein logisch abgeschlossener Begriff, in dem sein Inhalt durch das Urteil exakt bestimmt wird: Orange ist ein Farbton zwischen rot und gelb. Die Wortbedeutung von ‚Dreieck‘ wird in dem Moment zu einem logisch abgeschlossenen Begriff, in dem sein Inhalt durch das Urteil exakt bestimmt wird: Das Dreieck ist eine ebene Figur mit drei Seiten und/oder drei Ecken85. g) Gewiss kann man einwenden, dass wir, wenn wir den Inhalt einer allgemeinen Wortbedeutung mittels einer oder mehrer Behauptungen bestimmen, andere allgemeine Wortbedeutungen verwenden, auf denen die gleiche Mannigfaltigkeit und die gleiche Unbestimmtheit lastet. Die allgemeine Bedeutung des Wortes ‚orange‘ wird in dem Moment ein logisch abgeschlossener Begriff, in dem sein Inhalt durch das Urteil ‚orange ist 84 Grenzen 1902, S. 54. 85 „Das soll natürlich nicht heissen, dass bei der Verwendung des Begriffes in wissenschaftlichen Ausführungen jedes Mal beim Hören des betreffenden Wortes die Urtheile, welche den Inhalt seiner Bedeutung angeben, ausdrücklich vollzogen werden müssten. […] Nur die Möglichkeit muss vorhanden sein, dass, sobald über den Inhalt des Begriffs irgend ein Zweifel entsteht, die bestimmenden Urtheile auftreten können; nur das wollen wir sagen, dass wo das Bedürfnis nach ausdrücklicher Vergegenwärtigung des Begriffsinhaltes besteht, diese nicht in Form einer unbestimmten Vorstellung, sondern in Form von Urtheilen zu geschehen hat“ (Grenzen 1902, S. 55).
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ein Farbton zwischen rot und gelb‘ exakt bestimmt wird, aber dieses Urteil verwendet die allgemeinen Wortbedeutungen von „Farbton“, „rot“, „gelb“ usw., die ihrerseits in logisch abgeschlossene Begriffe umgewandelt werden müssen und so weiter. Rickert unterstreicht jedoch, dass die Logik, wie er sie versteht, wenn er den Begriff als Mittel für die Vereinfachung der Erkenntnis der nicht reproduzierbaren Mannigfaltigkeit des Wirklichen thematisiert, die Bestimmtheit des Begriffs allein als Garantie für die tatsächliche Anwendbarkeit des fraglichen Mittels betrachtet. Man muss sich also fragen, ob es unter diesem Gesichtspunkt – den Rickert explizit von der „rein formal logische[n] Betrachtung“ unterscheidet – immer noch unverzichtbar ist, „an jeden Begriff die Anforderung absoluter Bestimmtheit“86 zu stellen. Hierzu schreibt Rickert: „Es lässt sich zeigen, dass auf dem bei weitem grössten Theil des wissenschaftlichen Arbeitsgebietes dies nicht der Fall ist. Nur bestimmter müssen wir die Begriffe machen können, als es in vielen Fällen die psychologisch entstandenen Wortbedeutungen sind, aber darum nicht absolut bestimmt. […] So wird z.B. der Jurist bei der unbestimmten Bedeutung des Wortes Ehe zwar nicht stehen bleiben können, sondern ihren Begriff durch Angabe der betreffenden Gesetzesbestimmungen ausdrücklich feststellen. Er wird jedoch dabei nicht vermeiden können, mit unbestimmten Wortbedeutungen, wie Mann und Weib, zu operiren, und wenn er hier von einer ausdrücklichen Begriffsbestimmung absieht, so liegt das daran, dass die Unbestimmtheit der Wortbedeutungen Mann und Weib sich niemals so weit erstrecken wird, dass dadurch der Begriff der Ehe eine für den Juristen störende Unbestimmtheit enthielte“87. h) Das angeführte Beispiel ist zwar „nicht den Naturwissenschaften entnommen“, aber Rickert hält es für das angesprochene Thema durchaus für angemessen88. Dies zeigt deutlich, dass seine gesamten Analysen zur Bestimmtheit des Begriffs – im Verlauf derer sich die Überzeugung, dass das wissenschaftliche Urteil unter seinen Komponenten keine individuellen Anschauungen zählen kann, die nicht in einem Komplex aus Wörtern mit allgemeiner Bedeutung aufgelöst sind, in der Theorie radikalisiert, dass diese allgemeinen Bedeutungen sich ebenfalls von dem Hintergrund der individuellen Anschauungen, mit denen sie ursprünglich verbunden sind, befreien und sich vollständig in ihren bestimmenden Urteilen auflösen müssen – nicht allein die Naturwissenschaften, sondern
86 Grenzen 1902, S. 56. 87 Grenzen 1902, S. 57. 88 Grenzen 1902, S. 57, Fußnote.
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auch jeden anderen wissenschaftlichen Bereich, einschließlich den der Geschichtswissenschaften, betreffen89. 89 Rickert entwickelt dieses Thema auch in den folgenden Abschnitten des ersten Kapitels der Grenzen, hier dann jedoch in Bezug auf die spezifischen Problematiken der naturwissenschaftlichen Darstellung und insbesondere auf die Frage nach der wirklichen Geltung der allgemeinen und bestimmten Begriffe (oder Urteile), die, im Bereich der Naturwissenschaften, den Übergang von der Allgemeinheit der Gattung zur Allgemeinheit des Gesetzes, von der „Beschreibung“ zur „Erklärung“ leitet. In diesen Abschnitten offenbart sich die Notwendigkeit, die Wortbedeutungen in Urteile umzuwandeln, als das Ergebnis der Tendenz – ganz modern, kantisch und neukantianisch: Man denke nur an Cassirer –, die Dingbegriffe in Relationsbegriffe umzuwandeln, welche die Gesetze eben genau sind (vgl. hierzu insb. Grenzen 1902, S. 96–99). Gewiss, so wie die bestimmenden Urteile, in denen sich eine Wortbedeutung auflöst, sich ihrerseits aus übergeordneten Wortbedeutungen zusammensetzen, so sind auch die Gesetze, in denen sich ein Dingbegriff auflöst, ihrerseits Relationen von übergeordneten Dingbegriffen. Dies beinhaltet, dass die letzte Naturwissenschaft (wie auch immer sie gestaltet sein mag) in dem Bestreben, die allgemeinsten Gesetzte zu erreichen, die ausnahmslos das gesamte Geschehen beherrschen, nicht auskommen kann ohne den Begriff eines bestimmten Typs von Dingen, für den jene Gesetzte gelten. Rickert nennt sie „letzte Dinge“ (da ihre Auflösung in Relationsbegriffen nicht mehr auf eine übergeordnete generalisierende Wissenschaft übertragen werden kann) und sagt, dass die letzte Naturwissenschaft die anschaulichen Dinge in Komplexen aus letzten Dingen auflösen muss. Und dennoch haben die letzten Dinge, wenn sie wirklich solche sind, im Unterschied zu den anschaulichen Dingen einen absolut bestimmten begrifflichen Inhalt, welcher schlicht und einfach aus der Negierung all dessen resultiert, was uns von der Mannigfaltigkeit der anschaulichen Dinge bekannt ist: Sie sind in ihrem Inneren nicht teilbar und unendlich mannigfaltig, sie sind nicht und waren nie wandelbar, sie haben untereinander keine qualitativen Unterschiede usw. Aber dann besteht die Mannigfaltigkeit der letzten Dinge aus „lauter mathematischen Mannigfaltigkeiten, die, weil sie keine empirische Anschauung enthalten, nicht nur übersehbar, sondern auch von Unbestimmtheit ebenfalls vollkommen frei sind. Die Unbestimmtheit ergab sich uns ja nur als eine Folge der empirischen Anschauung. Der Begriff der letzten Dinge vollendet also [und verneint nicht etwa] zunächst unsere Theorie insofern, als mit seiner Hülfe eine vollkommene formale Bestimmtheit der Begriffe gewonnen werden kann“ (Grenzen 1902, S. 94). Mit anderen Worten: „Wenn der Begriff der letzten Dinge seinem Inhalte nach nicht dadurch zu vergegenwärtigen ist, dass wir irgend etwas anschaulich vorstellen, sondern nur dadurch, dass wir von dem letzten Dinge alles das verneinen, was wir von der empirischen Anschauung kennen, so setzt sich dieser Begriff, sobald wir ihn wirklich denken, ebenso wie die anderen logisch vollkommenen Begriffe der Naturwissenschaft aus lauter Urtheilen zusammen. Als das Ding, von dem diese Urtheile etwas aussagen, bleibt nur etwas übrig, das vorzustellen wir uns vergeblich bemühen, und das wir, auch wenn wir uns den Inhalt des Begriffes vollständig vergegenwärtigt haben, gar nicht vorzustellen brauchen. So können wir sagen, dass wir auch hier im Grunde genommen einen Relationsbegriff vor uns haben, und nur dadurch unterscheidet sich dieser Relationsbegriff von anderen Relationsbegriffen, dass wir ihn so behandeln, als ob er ein Dingbegriff wäre. Wir müssen von einem Dinge sprechen, weil wir uns die Welt nicht anders als aus Dingen bestehend denken können,
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Und trotzdem kritisiert Rickert in seinem Aufsatz von 1901 die „große logische Naivität“90 derjenigen, die nach der Feststellung, dass die allgemeinen Begriffselemente für jede Art des Denkens und damit auch für das geschichtliche Denken unverzichtbar sind, sich anmaßen daraus zu folgern, dass „die Geschichte nicht die Wissenschaft vom Besonderen und Individuellen sein könne“91. Er meint dazu: „Wäre dies der Fall, so würde eine Darstellung des Individuellen mit der Sprache überhaupt nicht möglich sein“; aber dies werde schon allein dadurch dementiert, dass „wir uns mit Hilfe von Worten, die einen allgemeinen Sinn haben, nicht nur im täglichen Leben fortwährend über individuelle Vorgänge und Dinge“ verständigen, sondern auch die Poesie, die uns sicherlich „individuelle Gestalten“ gibt, braucht „dabei ebenfalls nur Worte mit allgemeinem Sinn“92. „Jedenfalls kann die Wissenschaft einerseits mit allgemeinen Elementen Begriffe bilden, die das vielen Objekten Gemeinsame umfassen und also selbst allgemein sind, und dies tut die Naturwissenschaft. Sie kann aber andererseits ebensogut die allgemeinen Elemente auch so aneinanderfügen, daß die dadurch entstehende Vorstellung einen individuellen Inhalt hat, d. h. einen Inhalt, der sich nur an einem einmaligen und besonderen Objekt findet und gerade das wiedergibt, wodurch dieses Objekt sich von andern Objekten unterscheidet, und solchen Darstellungen begegnet man in jeder Geschichte. Wir sehen also, Naturwissenschaft und Geschichte bedürfen zwar beide der allgemeinen Elemente, aber sie machen einen verschiedenen Gebrauch davon. Für die Naturwissenschaft ist das Allgemeine der Zweck, für die Geschichte ist es dagegen das Mittel, und ihr Ziel wird die Darstellung des Individuellen sein, das sie auf diesem durch die Eigenart unseres Denkens und Sprechens bedingten Umwege zu erreichen hat“93. Die gleichen Argumentationen greift Rickert auch auf den Anfangsseiten des bereits genannten zweiten Abschnittes des vierten Kapitels der Grenzen94 aber lediglich der Inhalt der Urtheile, die wir über das Ding fällen, und ihre Geltung hat in einem wissenschaftlichen Zusammenhange einen Werth“ (Grenzen 1902, S. 94–95). 90 QMUH, S. 126; VAAG, S. 741. 91 QMUH, S. 125; VAAG, S. 740. 92 QMUH, S. 125; VAAG, S. 740. Auch ohne die vexata quaestio der Beziehungen zwischen Geschichte und Poesie umfassend zu thematisieren, behauptet Rickert, dass jene durch die Tatsache verbunden seien, dass sie das Individuelle durch das Allgemeine darstellen, wogegen der Unterschied darin liege, dass die historischen Darstellungen nicht schön, aber wahr sein müssen. „Aber dieser Unterschied betrifft nicht die Allgemeinheit der Elemente, sondern nur ihren Inhalt und die Art, wie sie miteinander verbunden sind“ (QMUH, S. 125; VAAG, S. 741). 93 QMUH, S. 125–126; VAAG, S. 741. 94 Vgl. Grenzen 1902, S. 339–341.
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wieder auf. Hier findet sich eine weitere Beobachtung, die für uns in diesem Zusammenhang erwähnenswert ist: Rickert unterstreicht, dass die allgemeinen Elemente, die der Historiker verwendet, nicht nur einfache Wortbedeutungen (welche als solche immer durch eine hohe Unbestimmtheit gekennzeichnet sind) sein können, sondern tatsächliche naturwissenschaftliche Begriffe. „Man könnte sogar behaupten, dass, weil die Naturwissenschaft allmählig auch den Sprachgebrauch beeinflusst, ihre Ergebnisse selbst dann auf die historischen Darstellungen einen Einfluss gewinnen müssen, wenn der Historiker sich dessen gar nicht bewusst ist“. Und Rickert fügt mit einem kritischen Blick auf die Geschichtsschreibung seiner Zeit hinzu: „Aber vielleicht ist der geringe Gebrauch, den die Geschichte bisher von den Ergebnissen der Naturwissenschaft gemacht hat, wirklich ein Mangel“95. Diese Art einer „Förderung der Geschichte durch die Naturwissenschaft“ – die nicht nur möglich, sondern in gewisser Weise notwendig und sogar wünschenswert ist – ändert aber trotzdem nicht die logische Funktion, die in der historischen Darstellung von den allgemeinen Begriffselementen ausgeführt wird, in der sowohl die allgemeinen Wortbedeutungen als auch die eigentlichen naturwissenschaftlichen Begriffe stets eine instrumentelle Rolle bei der Entwicklung von „Begriffen mit individuellem Inhalt“96 spielen. Bei seinen Ausführungen über die erste Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte unterstreicht Rickert mit einer Fülle von Argumenten den allgemeinen und zugleich bestimmten und nicht anschaulichen Charakter der elementaren Komponenten jeder Begriffsbildung, unabhängig davon, ob es sich um naturwissenschaftliche oder historische Begriffsbildung handelt. Mit anderen Worten: Wie schwierig es auch sein mag, etwas wie einen „individuellen Begriff“ zu denken, so hat die Geschichte als Wissenschaft nie etwas mit „anschaulichen Formen“ zu tun, sondern immer mit Begriffen (und mit den bestimmenden Urteilen, die ihnen entsprechen). Diese klare Stellungnahme war ohne Umschweife für Weber – wie Rickert selbst schreibt – der erste und grundlegende Schritt auf dem richtigen Weg97, den er Zeit seines Lebens einhalten sollte, indem er in der historisch-sozialen Forschung unaufhörlich gegen „jede intuitive, in den inneren Gang sich einfühlende […] Darstellung“98 die Kunst des Zweifelns pflegte. a) Man braucht diesbezüglich nur an die wörtliche Bedeutung des berühmten „Wer ‚Schau‘ wünscht, gehe ins Lichtspiel“ 95 96 97 98
Grenzen 1902, S. 341. Grenzen 1902, S. 341–342. Vgl. oben, Fußnote 16. E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, in Gesammelte Schriften Bd. 3, Tübingen, 1961, S. 567.
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aus dem späteren „Vorwort“ zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie zu denken. Aber man denke auch an die Polemik, die in dem Aufsatz über die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904) gegen jene gerichtet ist, nach denen der Historiker in der „Sprache des Lebens“ sprechen müsse, nach denen also „ein konkreter historischer Zusammenhang […] in seinem Ablauf anschaulich gemacht werden könne, ohne daß er fortwährend mit definierten Begriffen in Beziehung gesetzt werde“. Weber ergänzt trocken: „Jeder nur anschaulichen Schilderung haftet die Eigenart der Bedeutung künstlerischer Darstellung an: ‚Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt‘, – gültige Urteile setzen überall die logische Bearbeitung des Anschaulichen, das heißt die Verwendung von Begriffen voraus, und es ist zwar möglich und oft ästhetisch reizvoll, diese in petto zu behalten, aber es gefährdet stets die Sicherheit der Orientierung des Lesers, oft die des Schriftstellers selbst, über Inhalt und Tragweite seiner Urteile“99. b) Beispiele dieser Art lassen sich weitere finden, aber es ist vielleicht interessanter zu bemerken, dass Rickerts Überzeugung, nach der auch der Historiker mit den allgemeinen und zugleich bestimmten (d.h. so gut wie möglich von jedem ungenauen anschaulichen Bezug bereinigten) Begriffselementen arbeiten muss, sich auch direkt auf Webers großen Aufsatz über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus auswirkt. Man betrachte hierzu zum Beispiel dessen Ausgangsfrage: Ist es möglich, den vorwiegend protestantischen (und nicht katholischen) Charakter des Kapitalbesitzes, des Unternehmertums und der Arbeitereliten in den europäischen Ländern mit gemischten Konfessionen zu erklären, indem man von einer „dauernden inneren Eigenart“100 der christlichen Glaubensrichtungen ausgeht? Weber zeigt, wie falsch es ist, diese Frage mit der These zu beantworten, „daß die größere ‚Weltfremdheit‘ des Katholizismus, die asketischen Züge, welche seine höchsten Ideale aufweisen, seine Bekenner zu einer größeren Indifferenz gegenüber den Gütern dieser Welt erziehen müßten“101. Eine solche Antwort beruhe in der Tat auf „vagen Allgemeinvorstellungen“102 die „aus gewissen modernen Eindrücken“ heraus Form annehmen103. Letztere stellen, um es mit Rickerts Worten zu sagen, einen ‚Hintergrund‘ aus individuellen Anschau99 M. Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, op. cit., S. 146–214 (im Folgenden: OssE), S. 209. 100 M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904–1905), in ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen, 1988, S. 17–206 (im Folgenden: PEGK), S. 23. 101 PEGK, S. 24. 102 PEGK, S. 30. 103 PEGK, S. 24.
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ungen dar, dem einerseits die allgemeinen Vorstellungen im ‚Vordergrund‘ ihre Anschaulichkeit verdanken, der sie aber andererseits für die Wissenschaft unbrauchbar macht, da er ihrem Inhalt einen unbestimmten und ungenauen Charakter verleiht. Eine Veränderung des ‚Hintergrunds‘ – hier bestehend aus einer diachronischen Erweiterung des Blicks, die sich nicht auf einige Aspekte der zeitgenössischen Situation beschränkt – zieht in der Tat verschiedene Hypothesen und sogar entgegengesetzte Verallgemeinerungen nach sich. „Montesquieu sagt […] von den Engländern, sie hätten es ‚in drei wichtigen Dingen von allen Völkern der Welt am weitesten gebracht: in der Frömmigkeit, im Handel und in der Freiheit‘. Sollte ihre Ueberlegenheit auf dem Gebiet des Erwerbs – und, was in einen anderen Zusammenhang gehört, ihre Eignung für freiheitliche politische Institutionen – vielleicht mit jenem Frömmigkeitsrekord, den Montesquieu ihnen zuerkennt, zusammenhängen?“104. Wie man sieht, spielt diese Passage wirkungsvoll auf das Thema an, das von Weber später in seinem Aufsatz über die protestantische Ethik ausführlich entwickelt wird, und erwähnt auch bereits die Idee seiner möglichen Fortführung105. Dadurch wird nur umso bedeutungsvoller, dass Weber auch in diesem Fall die Notwendigkeit unterstreicht, nicht bei den vagen Allgemeinvorstellungen, bei der ganzen „Anzahl möglicher Beziehungen“, die „dunkel empfunden“ werden und „alsbald vor uns auf[steigen]“106, zu verbleiben. Man müsse vielmehr versuchen, „in die charakteristische Eigenart und die Unterschiede jener großen religiösen Gedankenwelten einzudringen […], die in den verschiedenen Ausprägungen der christlichen Religion uns geschichtlich gegeben sind“, um so zu der wahren Allgemeinheit der bestimmenden Urteile zu gelangen, die allein es uns gestatten, „das was uns hier undeutlich vorschwebt, so deutlich zu formulieren, als dies bei der unausschöpfbaren Mannigfaltigkeit, die in jeder historischen Erscheinung steckt, überhaupt möglich ist“107. Von besonderem Interesse für Weber ist auch die spezifischere Lehre Rickerts, nach der die allgemeinen und bestimmten Begriffe stets die Rolle der unverzichtbaren Mittel im Bereich der historisch-individualisierenden Begriffsbildung einnehmen. a) Im vierten Abschnitt des vierten Kapitels der Grenzen, in dem es um den historischen Kausalzusammenhang geht, kommt Rickert auf dieses Thema zurück108. Hier vertritt er die Ansicht, dass die Geschichts104 PEGK, S. 29. 105 Vgl. PEGK, S. 204–205 (aber vgl. auch passim: z.B. PEGK, S. 99, Fußnote). 106 PEGK, S. 29. 107 PEGK, S. 29–30. 108 Zum Thema des historischen Kausalzusammenhangs in Rickerts Grenzen und der Rezeption Webers verweise ich auf den zweiten Teil der zweiten Studie in diesem Band.
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disziplinen, um einen völlig individuellen Kausalzusammenhang darzustellen, immer auf allgemeine Begriffselemente zurückgreifen müssen, welche in diesem Fall „allgemeine Begriffe von Kausalverhältnissen“109 sind, also mehr oder weniger einfache Kausalgesetze. Denkt man zum Beispiel über die Konstellation der Ursachen nach, die zu Cäsars Ermordung führten, isoliert man die allgemeinen Begriffselemente der geschichtlichen Begriffsbildung, die dieser Prozess darstellt (die Tötung eines Mannes, die Ermordung eines Diktators usw.) und fragt nach ihren Ursachen, die offensichtlich ebenfalls allgemeine Ursachen sind. So lassen sich mehr oder weniger einfache Kausalgesetze folgender Art formulieren: ‚Ein oder mehrere Dolchstiche können einen Menschen töten‘; ‚ein Diktator wird mit gewisser Häufigkeit zum Opfer von Männern, die ihm nahe stehen und besorgt oder verärgert sind über die Machtkonzentration, die er darstellt‘, usw. Trotzdem liefern nur die Kombination und die Vereinigung dieser allgemeinen Ursachen im Hinblick auf eine individualisierende Begriffsbildung, für die sie als allgemeine Begriffselemente fungieren, den individuellen Begriff der historischen Ursache für Cäsars Tod, also gerade für dieses Ereignis und kein anderes110. Häufig setzt die Geschichtswissenschaft auf diese instrumentelle Weise „vor aller Naturwissenschaft in der ‚Erfahrung des Lebens‘ entstandene allgemeine Sätze“111 ein. Das schließt aber nicht aus, dass sie nützlicherweise auch allgemeine Sätze aus einer naturwissenschaftlichen Begriffsbildung im eigentlichen Sinne annehmen kann: Die komplizierten evolutionären Gesetze bestimmter Formen psychischer Krankheiten können beispielsweise nutzbringend verwendet werden, um Neros Befehl, Rom anzuzünden, zu erklären. Doch „eine auch noch so ausgedehnte Benutzung naturwissenschaftlicher Kausalgesetze […] kann nicht das Geringste an dem Wesen der historischen Begriffsbildung ändern“112. „Da diese 109 Grenzen 1902, S. 429. 110 Rickert präzisiert auch, dass es, während das zu erklärende „historische Individuum“ eine Sache oder ein Vorgang ist (wie im Fall von Cäsars Tod), es überhaupt nicht gesagt sei, dass seine Ursache ebenfalls eine Sache oder ein Vorgang sein ist. Und trotzdem wird, auch wenn er aus begrifflichen Elementen verschiedener Sachen und Vorgänge besteht, der Begriff der Ursache, welche Ursache eines „historischen Individuums“ ist, immer ein individueller historischer Begriff sein. Für eine formal korrekte Herleitung dieser Behauptung vgl. Grenzen 1902, S. 430ff. Im Übrigen muss man daran erinnern, dass es sich in jedem Fall um den Begriff dessen handelt, was Rickert als „sekundäres historisches Individuum“ bezeichnet und was seine Eigenschaft als „Individuendum“ nur rückwirkend, das heißt ausgehend von der Wertbeziehung, die das „primäre historische Individuum“, deren Ursache sie ist, zu einem „Individuendum“ macht (vgl. Grenzen 1902, S. 372, Fußnote und S. 475–476). 111 Grenzen 1902, S. 433. 112 Grenzen 1902, S. 434.
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Kausalgesetze immer nur Mittel sind, um den kausalen Zusammenhang individueller historischer Ereignisse einzusehen, so unterscheiden sie sich im Prinzip nicht von den anderen […] naturwissenschaftlichen Begriffen in der Geschichte, die niemals als um ihrer selbst willen erstrebte vollständige historische Begriffe auftreten, sondern nur Elemente von historischen Begriffen und insofern Umwege sind, [die die Darstellung macht und machen muss, aber] auf denen die Darstellung wieder zum Individuellen zurückkehrt“113. b) Diese Argumentation Rickerts stellt meines Erachtens eine logische Komponente dar, die grundlegend für Webers Überzeugung ist, dass das „nomologische Wissen“ eine instrumentelle aber unabdingbare Funktion im Bereich der historischen Kulturwissenschaften ausübt (in diesem Sinne stellt sie auch die Voraussetzung für ein Thema dar, das Weber unabhängig von Rickert und mit Bezug auf Kries und andere Gesprächspartner entwickelt: die Funktion des nomologischen Wissens in den Feststellungsverfahren der wahrscheinlichen empirischen Geltung der einzelnen historisch-kausalen Zurechnungen)114. c) In diesem Zusammenhang sind jene Seiten des Aufsatzes über die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis sinnbildlich, auf denen Weber – Bezug nehmend auf Rickerts Begriff der Wertbeziehung, auf den wir in Kürze zurückkommen werden – die Auffassung diskutiert, dass das Ziel der sozialökonomischen Wissenschaft die Erkenntnis sozialökonomischer Gesetze sein müsse. Weber erklärt, die sozialökonomische Erkenntnis als eine Form der „Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrer Kulturbedeutung und ihrem kausalen Zusammenhang“115 zu verstehen, und beharrt diesbezüglich auf dem „prinzipielle[n] Auseinanderfallen“ zweier Arten der „denkenden Ordnung des Wirklichen“, die „keinerlei notwendige logische Beziehungen zueinander“ haben: Die „Analyse der Wirklichkeit auf Gesetze“ und ihre „Ordnung in generellen Begriffen“ einerseits und die „Beziehung der Wirklichkeit auf Wertideen, die ihr Bedeutung verleihen, und die Heraushebung und Ordnung der dadurch gefärbten Bestandteile des Wirklichen unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung“116 andererseits. Als Ergänzung zu diesen Betrachtungen unterstreicht Weber auch, dass jedes Mal wenn man nach den konkreten Ursachen der „Individualität einer Erscheinung“ fragt, und sei es auch nach der Ursache unseres Sonnensystems, und nicht etwa danach, welcher „Formel die Erscheinung als Exemplar unterzuordnen“ ist, dann hat diese Frage allein deswegen einen Sinn, weil uns von der immensen Mannigfaltigkeit der angesprochenen 113 Grenzen 1902, S. 434–435 (2. und 3. Hervorhebung E.M.). 114 Siehe die dritte Studie in diesem Band. 115 OssE, S. 174. 116 OssE, S. 176.
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Erscheinung nur ein Teil interessiert, „weil nur er in Beziehung steht zu den Kulturwertideen, mit welchen wir [mehr oder weniger bewusst] an die Wirklichkeit herantreten“, während dagegen „ein erschöpfender kausaler Regressus von irgend einer konkreten Erscheinung in ihrer vollen Wirklichkeit aus […] nicht nur praktisch unmöglich, sondern einfach ein Unding“ ist117. Und trotzdem folgt daraus für Weber „natürlich nicht etwa, daß auf dem Gebiet der Kulturwissenschaften die Erkenntnis des Generellen, die Bildung abstrakter Gattungsbegriffe, die Erkenntnis von Regelmäßigkeiten und der Versuch der Formulierung von ‚gesetzlichen‘ Zusammenhängen keine wissenschaftliche Berechtigung hätte. Im geraden Gegenteil: wenn die kausale Erkenntnis des Historikers Zurechnung konkreter Erfolge zu konkreten Ursachen ist, so ist eine gültige Zurechnung irgend eines individuellen Erfolges ohne die Verwendung ‚nomologischer‘ Kenntnis – Kenntnis der Regelmäßigkeiten der kausalen Zusammenhänge – überhaupt nicht möglich“118. Denn, „ob einem einzelnen individuellen Bestandteil eines Zusammenhanges in der Wirklichkeit in concreto kausale Bedeutung für den Erfolg, um dessen kausale Erklärung es sich handelt, beizumessen ist, kann ja im Zweifelsfalle nur durch Abschätzung der Einwirkungen, welche wir von ihm und den anderen, für die Erklärung mit in Betracht kommenden Bestandteilen des gleichen Komplexes generell zu erwarten pflegen: welche [mithin] ‚adäquate‘ Wirkungen der betreffenden ursächlichen Elemente sind, bestimmt werden“119. „Inwieweit der Historiker (im weitesten Sinne des Wortes) mit seiner aus der persönlichen Lebenserfahrung gespeisten und methodisch geschulten Phantasie diese Zurechnung sicher vollziehen kann und inwieweit er auf die Hilfe spezieller Wissenschaften angewiesen ist, welche sie ihm ermöglichen, das hängt vom Einzelfalle ab. Ueberall aber und so auch auf dem Gebiet komplizierter wirtschaftlicher Vorgänge ist die Sicherheit der Zurechnung um so größer, je gesicherter und umfassender unsere generelle Erkenntnis ist. […] Nur ist eben die Aufstellung solcher Regelmäßigkeiten nicht Ziel, sondern Mittel der Erkenntnis“120. d) Um diesen Punkt zum Abschluss zu bringen, möchte ich darauf hinweisen, dass das von Rickert inspirierte Thema der unentbehrlichen instrumentellen Rolle der allgemeinen und bestimmten Begriffe in den Geschichtswissenschaften sich nicht nur in Webers ‚methodologischen‘ Schriften aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts findet, sondern auch in sehr viel späteren Schriften. Man denke beispielsweise an Soziologische Grundbegriffe, das erste der ‚systematischen‘ und 117 OssE, S. 178. 118 OssE, S. 178–179. 119 OssE, S. 179. 120 OssE, S. 179.
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‚abstrakten‘ Kapitel, die Weber in der letzten Phase der Überarbeitung von Wirtschaft und Gesellschaft (1919–1920) abgeschlossen hatte. Der einleitende Abschnitt dieses Kapitels, in dem der Begriff des „sozialen Handelns“ und vorher noch jener der ‚verstehenden Soziologie‘ (eine in gewisser Hinsicht wenig Rickert entsprechende Art ‚generalisierende Kulturwissenschaft‘) kurz definiert wird, wird durch zahlreiche methodologische Anmerkungen vervollständigt. In einer davon, in der es um die komplexen Beziehungen zwischen der verstehenden Soziologie und der Geschichte geht, schreibt Weber einerseits: „Die Soziologie bildet […] Typen-Begriffe und sucht generelle Regeln des Geschehens. Im Gegensatz zur Geschichte, welche die kausale Analyse und Zurechnung individueller, kulturwichtiger Handlungen, Gebilde, Persönlichkeiten erstrebt“, andererseits aber unterstreicht er: „Die Begriffsbildung der Soziologie entnimmt ihr Material, als Paradigmata, sehr wesentlich […] den auch unter den Gesichtspunkten der Geschichte relevanten Realitäten des Handelns“121. Dies geschieht – und das ist der Punkt –, denn „sie bildet ihre Begriffe und sucht nach ihren Regeln vor allem auch unter dem Gesichtspunkt: ob sie damit der historischen kausalen Zurechnung der kulturwichtigen Erscheinungen einen Dienst leisten kann“122. Es ist aber offensichtlich, dass in logischer Hinsicht ein solcher „Dienst“ der verstehenden Soziologie für die Geschichte als einen besonders wichtigen Fall des unentbehrlichen instrumentellen Werts der allgemeinen und bestimmten Begriffe im Bereich der Geschichtswissenschaften darstellt. „Wie bei jeder generalisierenden Wissenschaft 121 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., hrsg. von J. Winckelmann, Tübingen, 1985, S. 9. 122 Ebd. (2. Hervorhebung E.M.). Diesbezüglich vgl. auch den dichten Aufsatz von A. Cavalli, La funzione dei tipi ideali e il rapporto tra conoscenza storica e sociologia, op. cit., S. 48–49: „Es gibt keinen Zweifel daran, dass Wirtschaft und Gesellschaft trotz der Bruchstückhaftigkeit und der Unvollendetheit des Werks ein Begriffsgebäude von kolossalen Ausmaßen aufweist, in dem sich Geschichte und Soziologie auf einer Ebene absoluter Gleichberechtigung ergänzen. Und ebenso wenig besteht Zweifel daran, dass der Verweis auf dieses Werk Webers der Soziologie und vor allem den Soziologen bei der Verteidigung der Legitimität ihres wissenschaftlichen Unterfangens nicht wenig nützlich war. Aber das ist nicht unser Problem. Die Legitimität der Soziologie ist im Guten wie im Schlechten anerkannt worden. Ich denke, man nimmt der Soziologie nichts, wenn man einsieht, dass das Problem, die Autonomie der soziologischen Erkenntnis zu begründen, verglichen mit jenem, die Art und Weise Geschichte zu machen zu erneuern, für Weber zweitrangig war. Der Aufbau eines soziologischen Begriffsgebäudes wird bei Weber ein Modus für die systematische Produktion von Hypothesen der historischen Forschung und damit das wesentliche Instrument, um den geschichtlichen Diskurs von einem narrativ-deskriptiven in einen problemorientierten explikativen umzuwandeln“. Aber vgl. auch allgemeiner ebd., § VI, S. 44ff.
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bedingt die Eigenart ihrer Abstraktionen es, daß ihre Begriffe gegenüber der konkreten Realität des Historischen relativ inhaltsleer sein müssen. Was sie dafür zu bieten hat, ist gesteigerte Eindeutigkeit der Begriffe“123.
123 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 9–10. Im spezifischen Fall der verstehenden Soziologie wird die Eindeutigkeit „durch ein möglichstes Optimum von Sinnadäquanz erreicht, wie es die soziologische Begriffsbildung erstrebt“ (ebd, S. 10). Diese Sinnadäquanz deckt sich mit dem Verlauf des idealtypischen Verfahrens der Veränderung und Steigerung. Aber hier ist nicht der richtige Ort, um die komplexe Frage nach der Beziehung zwischen generalisierender und idealtypischer Erkenntnis anzugehen, welche wiederum zu dem Problem einer „Typologie“ der Idealtypen hinführt, mit dem sich bereits viele Kritiker ausführlich befasst haben. Ich beschränke mich darauf, zu diesem Thema erneut auf A. Cavalli, La funzione dei tipi ideali e il rapporto tra conoscenza storica e sociologia, op. cit., § V, S. 38–44, zu verweisen und zwei meines Erachtens wichtige Punkte festzuhalten: a) Zweifelsohne ist Webers Begriff vom Idealtypus – in gewisser Weise auch, da er sie voraussetzt – verbunden mit der (Rickert’schen) individualisierenden Begriffsbildung der historischen Kulturwissenschaften, welche gegenüber der unübersehbaren Mannigfaltigkeit eines Teils des Geschehens in diesem nicht jene Aspekte auswählen, die sich auch anderswo wiederholen, sondern vielmehr jene Aspekte, die sich auf der Grundlage einer bestimmten Wertbeziehung als kulturell bedeutsam erweisen. Sicher wird bei Weber das Thema der Begriffsbildung des Wirklichen aus der Sicht seiner Kulturbedeutung tendenziell in das Thema des Verstehens des „Handelns“ überführt (oder des Tuns, Duldens oder Unterlassens von Individuen oder Gruppen von Individuen, die mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden). Aber auch dieser Übergang wird bei genauer Betrachtung durch den Rickert’schen Begriff des „historischen Zentrums“ vermittelt, durch den die Grenzen, um es einmal so zu sagen, der üblichen Verbindung zwischen Geschichtswissenschaften und ‚Geisteswissenschaften‘ ein ‚relatives Recht‘ zuerkennen. Vgl. Grenzen 1902, S. 531–570 und M. Catarzi, A ridosso dei limiti, op. cit., S. 241ff; aber siehe auch RuK, S. 116 und Fußnote 2. b) Man muss aber bedenken, dass Weber auch in dem Aufsatz über die Objektivität der sozialwissenschaftlichen und sozialpolitischen Erkenntnis – in dem der Idealtypus vor allem „als gedankliche Konstruktion zur Messung und systematischen Charakterisierung von individuellen, d.h. in ihrer Einzigartigkeit bedeutsamen Zusammenhängen – wie Christentum, Kapitalismus usw.“ behandelt wird, „um die landläufige Vorstellung zu beseitigen, als ob auf dem Gebiet der Kulturerscheinungen das abstrakt Typische mit dem abstrakt Gattungsmäßigen identisch sei“ – nicht vergisst, Folgendes hervorzuheben: „Nun aber können natürlich auch diejenigen Gattungsbegriffe, die wir fortwährend als Bestandteile historischer Darstellungen und konkreter historischer Begriffe finden, durch Abstraktion und Steigerung bestimmter ihnen begriffswesentlicher Elemente als Idealtypen geformt werden. Dies ist sogar ein praktisch besonders häufiger und wichtiger Anwendungsfall der idealtypischen Begriffe, und jeder individuelle Idealtypus setzt sich aus begrifflichen Elementen zusammen, die gattungsmäßig sind und als Idealtypen geformt worden sind“ (OssE, S. 201). Gerade diese allgemeinen idealtypischen Begriffe (begriffliche Elemente individueller idealtypischer Begriffe) sind der Hauptgegenstand der letzten Arbeitsphase an Wirtschaft und Gesellschaft.
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IV. Was für alle bedeutsam ist oder die zweite Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte Die erste Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte erlaubt uns, in jeder Hinsicht von „naturwissenschaftlichen Bestandteilen innerhalb eines historischen Gedankenzusammenhanges“124 zu sprechen, denn, wenn man den Terminus des ‚Allgemeinen‘ in Bezug auf die Elemente jeder historisch-individualisierenden Begriffsbildung verwendet, benutzt man ihn in genau demselben Sinn, wie ihn die Naturwissenschaften benutzen. Das trifft jedoch bei Rickerts zweiter und der dritter Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte nicht zu, da in diesen beiden Fällen der Terminus anders angewendet wird als in den Naturwissenschaften. Die zweite Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte – die in den Grenzen in dem bereits zitierten Abschnitt über das ‚historische Individuum‘ im vierten Kapitel untersucht wird – steht in engem Zusammenhang mit dem Begriff der Wertbeziehung (jener ‚theoretischen Wertbeziehung‘ verstanden als Prinzip der Auswahl der historischen Kulturwissenschaften, die zweifelsohne eine der wichtigsten und bekanntesten Begriffsentleihungen ist, die Weber bei Rickert vornahm125, die aber, gerade aus diesem Grund, für sich allein betrachtet nicht zu den spezifischen Gegenständen dieser Arbeit zählt). Das ‚Allgemeine‘ von 124 Grenzen 1902, S. 529. 125 In seinem Nachwort 1928 widerspricht Rickert selbst der Meinung von Misch, dass Weber aus den Grenzen die rein formale und diskursive Unterscheidung zwischen generalisierenden und individualisierenden Wissenschaften entliehen habe: „Wäre das, was Misch vorbringt, wirklich der wesentliche Inhalt der mir eigentümlichen Geschichtslogik, dann hätte ich damit auf einen Forscher wie Max Weber keinen Eindruck gemacht. Schon eine flüchtige Kenntnisnahme von Webers methodologischen Schriften [...] zeigt, daß für diesen großen Soziologen in meiner Geschichtslogik ganz andere Fragen wesentlich waren. Man braucht nur an Webers Lehre vom ‚Idealtypus‘ zu denken. […] Was für Weber später an meinen Theorien wichtig wurde, drehte sich vor allem um die Trennung von praktischer Wertung und theoretischer Wertbeziehung, auf der das Wesen der Geschichte als wertungsfreier Wissenschaft beruht, und um den damit aufs engste zusammenhängenden Nachweis, daß der Inhalt des von den Wissenschaften dargestellten Stoffes auch für die beiden formal verschiedenen Auffassungsweisen des Generalisierens und des Individualisierens gerade nicht ‚bedeutungslos‘ bleibt, wie Misch behauptet, und nicht bedeutungslos bleiben kann, weil für die Naturvorgänge zwar in der Regel eine generalisierende Begriffsbildung genügt, Kulturvorgänge dagegen wegen der sachlichen Besonderheiten ihres Wert- und Sinngehaltes auch eine wertbeziehend individualisierende Darstellung fordern. Das ist in Wahrheit […] der zentrale Gedanke meiner positiven Geschichtslehre, der den Zusammenhang von Form und Inhalt erkennen läßt“ (Grenzen 1929, Nachwort 1928, S. 757–758).
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dem hier gesprochen wird, löst sich in der Tat – wie wir gleich sehen werden – in der allgemeinen Anerkennung der Werte auf, die die historische Begriffsbildung leiten, also in der allgemeinen Anerkennung der Bedeutsamkeit der individuellen Züge des Geschehens, die diese auswählt und umschreibt. Ist diese Anerkennung – die im Übrigen nicht gleichbedeutend ist mit einer allgemeinen positiven oder negativen Bewertung der fraglichen Züge des Geschehens und nicht einmal mit einer allgemeinen positiven oder negativen Bewertung der Werte, auf die die fraglichen Züge des Geschehens sich beziehen, – nicht vorhanden, könnte die von der Geschichte vorgenommene Auswahl des Wesentlichen vom Unwesentlichen keine Form der intersubjektiven Sanktion anstreben und wäre folglich rein willkürlich. Aber hierzu ist es angebracht, die von Rickert in seinem Aufsatz von 1901 entwickelte Argumentation aus der Nähe zu betrachten und sie dort, wo es notwendig ist, durch die Argumentation der Grenzen ergänzen. In dem Aufsatz stellt Rickert fest, dass bei der einfachen extensiven Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit die Idee „gar keinen Sinn“ habe, dass die Geschichte, verstanden als Wissenschaft vom Individuellen, in gewisser Weise diese Mannigfaltigkeit vollständig reproduzieren müsse: „Wenn wir die Geschichte auch auf das Menschengeschlecht oder einen Teil von ihm beschränken, so bleibt diese Mannigfaltigkeit doch immer noch viel zu groß, als daß alle die Dinge und Vorgänge, aus denen sie besteht, in ihrer Individualität dargestellt werden könnten“126. Nach Aufstellung dieser einfachen Prämisse kommt Rickert sehr plötzlich zum Kern der Frage: „Der Historiker bedarf eines Kriteriums dafür, welche Zustände und Ereignisse in ihrer Individualität wesentlich sind, er muß ein Prinzip zur Auswahl des historisch Wichtigen haben, und dies Prinzip kann nicht individuell, sondern muß ebenfalls allgemein sein, wenn die dadurch geleitete Darstellung für alle gültig sein soll. Damit haben wir ein zweites Allgemeines gewonnen, das in keiner geschichtlichen Untersuchung fehlen kann, und das offenbar zu dem Wesen der Geschichte in einer viel engeren Beziehung steht, als die allgemeinen Elemente oder der allgemeine Sinn der Wörter“127. Rickert extrapoliert hier nur einen Aspekt einer komplexen Thematik, die in den Grenzen behandelt wird und auf die hier kurz hingewiesen werden muss. Es handelt sich um den Übergang von dem weiten, generischen Ausdruck des ‚historischen Individuums‘ (der angewendet wird auf alles, was besonders und einzig ist, also auf jeden einzelnen Wassertropfen, jedes einzelne Stück Kohle, jeden einzelnen Menschen usw.) zu dem eigentlichen Begriff des ‚historischen 126 QMUH, S. 126; VAAG, S. 741–742. 127 QMUH, S. 126; VAAG, S. 742.
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Individuums‘. Letzterer – der nicht für jedes Stück Kohle, sondern für den Diamanten Koh-i-Noor steht, nicht eigentlich für jeden Menschen, sondern für Napoleon, Goethe usw. – bedeutet nicht nur ‚besonders‘ und ‚einzig‘, sondern zugleich auch ‚unteilbar‘ (aus diesem Grund schreibt Rickert auch häufiger „historisches In-dividuum“). Unteilbarkeit darf jedoch nicht in dem Sinne von ‚kann nicht geteilt werden‘ verstanden werden (denn dies ist allein die Eigenschaft des Atoms, d. h. des absolut Einfachen, das trotzdem niemals einzig ist, im Gegensatz zu jenem, was eine innere Vielfalt aufweist), sondern im Sinne von ‚soll nicht geteilt werden‘: „Wäre es gestattet, einen philologisch nicht zu rechtfertigenden Terminus zu bilden, so könnte man ein historisches Individuum auch ein ‚Individuendum‘ und die historische Begriffsbildung eine ‚Individuendenbildung‘ nennen“128. Schon der Mensch des praktischen Lebens, der fühlt, will und handelt, versteht spontan all jene besonderen und einzigartigen Aspekte des Wirklichen als ‚Individuenden‘, die als solche eine Verbindung mit seinen Zielen, Mitteln und Wertungen darstellen. Die vom Historiker gemachte Auswahl geht in dieselbe Richtung, aber mit zwei grundlegenden Unterschieden, die fest miteinander verbunden sind, aber in der Analyse getrennt betrachtet werden müssen. Bei dem ersten – den Rickert aber nicht direkt in seinem Aufsatz über das ‚Allgemeine‘ in der Geschichte thematisiert – geht es um die Unterscheidung zwischen den ‚direkten Wertungen‘ (positive oder negative), mit denen der Mensch des praktischen Lebens die Wirklichkeit überzieht, wobei er besondere Züge isoliert, und den ‚Wertbeziehungen‘, bei denen der Historiker sich dagegen darauf beschränkt sie festzustellen, wenn er ein historisches In-dividuum begrifflich umschreibt129. Der zweite Unter128 Grenzen 1902, S. 372, Fußnote. 129 Vgl. Grenzen 1902, S. 364–365: „In der Loslösung jedes Werthurtheils von der Werthbeziehung müssen wir […] ein wesentliches Merkmal der wissenschaftlichen historischen Auffassung erblicken. Was aber heisst es, dass ein Objekt auf einen Werth bezogen ist, ohne als werthvoll oder werthfeindlich beurtheilt zu sein? […] Denken wir dabei an zwei Menschen, die sehr stark in dem, was sie lieben und hassen, von einander abweichen. Kann trotzdem nicht mit Rücksicht auf bestimmte Werthe, wie z.B. die politischen Ideale es sind, die Wirklichkeit für Beide in ganz übereinstimmender Weise in solche Objekte zerfallen, die für sie nur als Exemplare eines Gattungsbegriffes in Betracht kommen, und solche, deren Individualität für sie bedeutsam ist? Der Eine von den Beiden möge ein radikaler Demokrat und Freihändler, der Andere ein radikaler Aristokrat und Schutzzöllner sein. Sie werden dann gewiss in ihren Werthurtheilen über die politischen Vorgänge in ihrer Zeit oder in der Vergangenheit, in ihrem Vaterlande oder bei anderen Völkern nur in wenigen Fällen übereinstimmen, aber wird darum etwa der Eine von ihnen solche individuellen politischen Ereignisse mit Interesse verfolgen, die dem Anderen vollkommen gleichgültig sind? Gewiss nicht. Auch unter den Politikern der denkbar verschiedensten Richtungen bilden immer dieselben individuellen Vorgänge den Gegenstand des Streites,
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schied, den Rickert in der bereits zitierten Stelle des Aufsatzes über das ‚Allgemeine‘ in der Geschichte behandelt, besteht in der Tatsache, dass „der individuell wollende Mensch stets auch rein individuelle Werthe und Zwecke [hat], und so werden für ihn eine Menge von Individuen zu In-dividuen, ohne dass andere Menschen Veranlassung haben, diese individuellen Mannigfaltigkeiten ebenfalls als nothwendige Einheiten anzuerkennen“130: Ein Hund z.B., der für seinen Herrn zweifelsohne ein In-dividuum ist (er gibt ihm immerhin einen eigenen Namen), ist für die anderen Menschen nur ein Tier wie andere auch, das zufällige Exemplar eines allgemeinen Begriffs. „Die Geschichte dagegen muss, so weit man den Begriff der Wissenschaft auch fassen will, jedenfalls immer eine Darstellung anstreben, die für Alle gilt, und es können daher nur die inhaltlichen Bestimmungen ihrer Begriffe, niemals aber die leitenden Prinzipien ihrer Darstellung individuell sein“131. Mit anderen Worten lässt sich sagen, dass nur „die Beziehung auf einen allgemeinen Werth es uns ermöglicht, nicht nur überhaupt in jeder beliebigen Wirklichkeit zwei Arten von Individuen zu unterscheiden [die einfachen Individuen von den ‚In-dividuen‘ oder den ‚Individuenden‘], sondern diese Scheidung auch so zu vollziehen, dass wir sie Jedem als richtig zumuthen können“132. Kehren wir nun zu dem Aufsatz von 1901 zurück. a) Hier betont Rickert, dass auch die Naturwissenschaft – „da sie darauf ausgeht, in einem geschlossenen Begriffssystem die unübersehbare Fülle der gesamten empirischen Wirklichkeit zu umfassen“ und daher ein Prinzip der Auswahl des Wesentlichen vom Unwesentlichen benötigt – zu diesem Zweck das ‚Allgemeine‘ verwend. h. die Differenzen der Werthung müssen sich auf eine gemeinsame Wirklichkeitsauffassung beziehen, denn die Streitenden würden ja sonst gar nicht von denselben Dingen sprechen, und es wäre daher ein Streit über ihren Werth überhaupt unmöglich. Wenn sich dies aber so verhält, so müssen auch die von einander abweichenden Werthurtheile sich von der gemeinsamen Wirklichkeitsauffassung, durch welche nur bestimmte Objekte zu In-dividuen werden, loslösen lassen, d. h. die Scheidung in wesentliche und unwesentliche Elemente vollzieht sich in einer von der Verschiedenheit der direkten Werthurtheile gänzlich unabhängigen Weise“. 130 Grenzen 1902, S. 356. 131 Grenzen 1902, S. 356–357. 132 Grenzen 1902, S. 358. Die Notwendigkeit für den Historiker, die direkten Wertungen in reine Wertbeziehungen umzuwandeln deckt sich nicht mit der allgemeinen Anerkennung der betreffenden Werte (derer der Historiker ebenfalls bedarf ). Wenn beispielsweise zwei Brüder radikal unterschiedliche Wertungen über ihre Eltern haben, lässt sich sagen, dass abgesehen von diesem Unterschied, die Eltern für beide Brüder eine Bedeutung und für beide eine Wertbeziehung haben. Aber das ist absolut nicht ausreichend, um die fraglichen Personen zu historischen In-dividuen zu machen: Es fehlt die allgemeine Anerkennung dieser Bedeutsamkeit.
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det, wobei wesentlich „für sie immer nur das an den Dingen und Vorgängen sein [kann], was einer Mehrheit von ihnen gemeinsam ist, und wodurch diese Objekte zu Exemplaren eines Gattungsbegriffs werden […]. Das Prinzip zur Auswahl ist also für die Naturwissenschaft die Vergleichung der Objekte mit Rücksicht auf das Uebereinstimmende“133. b) Schon ein flüchtiger Blick auf die Ergebnisse der historischen Forschung reicht, um zu verstehen, dass die Geschichte „weit davon entfernt ist, nur das an den Dingen und Vorgängen zu berücksichtigen, was sie mit anderen teilen, sondern im Gegenteil gerade solche Ereignisse und Objekte finden wir in ihr, die sich durch ihre Besonderheit und Individualität aus den Dingen herausheben, mit welchen sie von der Naturwissenschaft unter einen gemeinsamen Gattungsbegriff gebracht werden würden“134. Gewiss „wird auch der Historiker die Menschen und Völker miteinander vergleichen“, aber es handelt sich dabei nicht um eine Vergleichung der Übereinstimmungen, die sich bemüht, „das im Sinne der Naturwissenschaft ‚Menschliche‘“ zu finden, sondern es ist vielmehr eine Vergleichung der Unterschiede, die von dem spricht, „wodurch dieser eine Mensch von anderen verschieden war, die zugleich mit ihm lebten, oder wodurch die Menschen dieses einen Volkes, dieser einen Gegend zu dieser einen bestimmten Zeit sich von denen eines andern Volkes, einer andern Gegend zu einer andern bestimmten Zeit unterschieden“135. c) Diese durchaus richtigen Beobachtungen lassen sich jedoch durch eine bestimmte Interpretation dessen entkräften, was zuvor über die allgemein Anerkennung der Werte gesagt wurde, welche die historische Begriffsbildung leiten und leiten müssen. Rickert schreibt in der Tat: „Das Individuelle, das historisch ist, soll, wie gesagt, wesentlich sein, und zwar mit Rücksicht auf ein allgemeines Prinzip. Am besten kann man das so ausdrücken, daß man sagt, die Geschichte stellt nur dar, was eine allgemeine Bedeutung hat. Also scheint doch nicht etwas Individuelles, sondern nur etwas Allgemeines wesentlich, und die Geschichte ist also nicht die Wissenschaft vom Besonderen und Individuellen?“136 d) In dieser Argumentation wird der Ausdruck des ‚Allgemeinen‘ jedoch in zwei radikal verschiedenen Bedeutungen verwendet. Sie birgt deshalb einen schwerwiegenden logischen Fehler, den Rickert in einer Passage von beispielhafter Deutlichkeit erbarmungslos bloß legt. „Nur dann nämlich, wenn ein Objekt betrachtet wird mit Rücksicht auf die Bildung eines naturwissenschaftlichen Systems allgemeiner Begriffe, wird das ihm mit andern Gemeinsame immer auch das Wesentliche sein, sonst aber 133 QMUH, S. 126–127; VAAG, S. 742. 134 QMUH, S. 127; VAAG, S. 742–743. 135 QMUH, S. 127–128; VAAG, S. 743. 136 QMUH, S. 128; VAAG, S. 743. Aber vgl. auch Grenzen 1902, S. 358–359.
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kann [beachte: nicht ‚muss‘, sondern ‚kann‘] seine Bedeutung gerade auf dem beruhen, was ihm eigentümlich ist, also nur an ihm vorkommt, und daran wird gar nichts geändert, wenn man nach der allgemeinen Bedeutung eines Objektes fragt. Was allgemeine Bedeutung hat, braucht nicht selbst etwas Allgemeines zu sein. Im Gegenteil, die allgemeine Bedeutung eines Vorganges oder Objektes kann [beachte: nicht ‚muss‘, sondern ‚kann‘] in demselben Maße zunehmen, in dem die Unterschiede größer sind, die zwischen ihm und andern Objekten bestehen, und die Geschichte wird also, gerade weil sie nur von dem berichtet, was allgemeine Bedeutung hat, von Individualitäten und Besonderheiten zu berichten haben. Für Alle wird etwas durch das bedeutsam, worin es anders als Alle ist. Nur wer nicht unterscheiden kann zwischen dem, was ein Objekt mit allen teilt, und dem, was es für alle ist, wer also die allgemeine Bedeutung des Individuellen mit dem allgemeinen Inhalt eines Gattungsbegriffes verwechselt, wird meinen, daß die Geschichte wie die Naturwissenschaft nur vom Allgemeinen handle“137. Auf der Grundlage dieser Betrachtungen kann Rickert sogar behaupten, dass, so wie die allgemeinen Begriffselemente, auch die Allgemeinheit der Bedeutung nur ein Mittel ist, das die Geschichte anwendet, um das Individuelle darzustellen138. Dennoch bekräftigt er gleich danach, dass die zweite Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte in Wirklichkeit „mit dem Wesen der Geschichte enger verknüpft [ist] als der für jedes Urteil unentbehrliche allgemeine Sinn der Wörter“, da die Geschichte „das Individuelle von allgemeiner Bedeutung darzustellen“ habe139. Eine solche Charakterisierung der Aufgabe der Geschichte wirft jedoch eine weitere Frage auf, die sogar ihren „Charakter als Wissenschaft“ in Frage zu stellen scheint140. „Allgemeine Bedeutung nämlich kann ein individuelles Ereignis nur dadurch erhalten, daß es in irgendeiner Weise mit einem allgemeinen Werte verknüpft ist, und so würden es denn immer Werte sein, welche in letzter Hinsicht die Auswahl des Wesentlichen in der Geschichte leiten. Wertgesichtspunkte aber scheinen mit dem Wesen der Wissenschaft unvereinbar, weil durch sie ein Moment der Willkür herbeigezogen werde. Was hat allgemeinen Wert? Das hängt von bestimmten Voraussetzungen ab. Zum mindesten scheint deshalb die Geschichte viel weniger ‚objektiv‘ als die Naturwissenschaft“141. 137 QMUH, S. 128; VAAG, S. 743–744 (die Ergänzungen in den Klammern werden im Folgenden klar, wenn es um die vierte Art des „Allgemeinen“ in der Geschichte geht). Vgl. auch Grenzen 1902, S. 359. 138 Vgl. QMUH, S. 129; VAAG, S. 744. Aber siehe auch Grenzen 1902, S. 359. 139 QMUH S. 129; VAAG, S. 744. 140 Ebd. 141 Ebd.
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Es ist bekannt – und auch wir haben bereits daran erinnert – dass für Rickert der Schwachpunkt dieser Argumentation vor allem in der fehlenden Unterscheidung zwischen Wertung und Wertbeziehung, zwischen Werturteil und Wertbeziehung liegt; in dem Aufsatz von 1901 widerlegt er diesen Gedankengang jedoch nicht mit Berufung auf diese Unterscheidung (welche einerseits Voraussetzung ist, und andererseits in den Schatten gestellt wird). Rickert beharrt vielmehr auf der Tatsache, dass es in jeder betrachteten menschlichen Gemeinschaft zu einem gegebenen Moment ihrer Entwicklung möglich ist, das Vorhandensein einiger im Allgemeinen geteilten (oder zumindest allgemein als mögliche Werte anerkannten) Werte empirisch festzustellen, welche es dem Historiker gestatten, frei von Willkür gewisse Züge des individuellen Geschehens aus dem „Brunnen der Vergangenheit“ zu entnehmen, welche tatsächlich für all jene über eine allgemeine Bedeutung verfügen, die zu dieser Gemeinschaft gehören. a) Rickert geht dabei von einigen sehr weiten Betrachtungen aus, die sich als solche auf beide erwähnten Argumente beziehen lassen. Er schreibt: „Es soll durchaus nicht bestritten werden, daß jede historische Darstellung Wertgesichtspunkte voraussetzt, von denen es abhängt, welche Ereignisse für sie wesentlich werden oder nicht“142. Um sich davon auch jenseits jeder logisch-methodologischen Argumentation zu überzeugen, muss man nur an den „Umstand“ denken, „daß die Geschichte fast nur von Menschen handelt“143, also von jenem Teil der unübersehbaren intensiven und extensiven Mannigfaltigkeit des sinnfreien Geschehens, der mit dem Problem des Sinns zu tun hat und gegenüber den Werten Stellung nimmt. Und dennoch – fährt Rickert fort – ist es „ein Vorurteil ohne Begründung, daß jeder Wertgesichtspunkt die wissenschaftliche Objektivität störe“144. Es ist nun klar, dass Rickert, wenn er mit gewollt generischem Ausdruck von den ‚Wertgesichtspunkten‘ spricht, die die Geschichte voraussetzt, die aber ihre wissenschaftliche Objektivität nicht zerstören, sowohl auf die ‚Wertbeziehungen‘ anspielt, die keine direkten Wertungen sind, als auch auf die allgemeine Anerkennung der fraglichen Werte, die die Auswahl einiger Teile des Geschehens gegenüber anderen nicht willkürlich machen. b) Im weiteren Diskurs ist eben der letzte Punkt noch weiter auszuführen. Rickert kritisiert die verbreitete Auffassung, dass eine „naturwissenschaftliche Behandlung des gesellschaftlichen Lebens der Menschen“ – eine Behandlung des gesellschaftlichen Lebens der Menschen also, die, wie jene im positivistischen Bereich, wertfrei ist oder zu sein vorgibt – im Gegensatz zu der notwendigerweise auf Wertgesichtspunkte gegründeten his142 Ebd. (Hervorhebung E.M.). 143 Ebd. 144 Ebd.
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torischen Behandlung „von jeder Willkür frei“ sein könne145. Wenn man nicht gerade bei einer präkantianischen Auffassung der Erkenntnis im Sinne einer Widerspiegelung der Realität verweilt, stellt man sofort fest, dass „die Vergleichung von Objekten mit Rücksicht auf das Gemeinsame […] auch durchaus nicht voraussetzungslos [ist]. Man kann jedes beliebige Ding mit jedem andern vergleichen und auf diese Weise eine große Menge verschiedener Systeme von allgemeinen Begriffen zustande bringen. Welches ist das richtige? Um dies zu entscheiden, bedarf man ebenfalls eines bestimmten leitenden Gesichtspunktes, nach dem die Vergleichung und Begriffsbildung vorgenommen wird, und dieser Gesichtspunkt ist nur einer allgemeinen Theorie zu entnehmen. Werfen wir nun aber einen Blick auf die Theorien, auf Grund deren eine naturwissenschaftliche Darstellung der Geschichte versucht worden ist, so werden wir von Uebereinstimung und ‚Objektivität‘ wenig finden“146. Und Rickert schließt direkt an: „Ja die Uneinigkeit ist hier so groß, daß viel eher eine Verständigung über die Wertgesichtspunkte und dadurch eine Uebereinstimmung in bezug darauf, welche individuellen Ereignisse historisch wesentlich sind, zu erwarten ist, als über die ‚soziologischen‘ Theorien, auf Grund deren die Geschichte zu einer Naturwissenschaft gemacht werden soll“147. Die generalisierenden Behandlungen des gesellschaftlichen Lebens der Menschen weisen also, verglichen mit den historischen, nicht einen Zuwachs, sondern eine Abnahme an Objektivität und Übereinstimmung auf, und das auch abgesehen von der logisch-methodologischen Gewissheit, dass es mittels solcher Behandlungen nicht möglich ist, „Geschichte, nämlich Darstellung einmaliger individueller Entwicklungsreihen“, zustande zu bringen148. Rickert stellt weiterhin klar, dass diese Betrachtungen keinesfalls eine Antwort auf die (nicht im engen Sinne ‚logische‘, sondern die in dem zu Anfang dieser Studie spezifizierten Sinne ‚erkenntnistheoretische‘) Frage geben wollen, ob es der Geschichte möglich ist, eine „absolute Objektivität“ zu erlangen, die ihren Ergebnissen eine „Sicherheit“ verleiht, vergleichbar mit jener nur scheinbar selbstverständlichen Sicherheit, „mit welcher der Physiker Naturgesetze mathematisch formuliert“149. Vielmehr geht es um die „empirische Objektivität“, aus der die wissenschaftliche Behandlung des gesellschaftlichen Lebens 145 QMUH, S. 129; VAAG, S. 744–745. Zu der angenommenen Wertfreiheit einiger generalisierender Behandlungen des gesellschaftlichen Lebens der Menschen (mit speziellem Bezug auf die soziale Dynamik von Comte und die Theorie der Kulturepochen von Lamprecht) vgl. Grenzen 1902, S. 603–613. 146 QMUH, S. 129–130; VAAG, S. 745. 147 QMUH, S. 130; VAAG, S. 745. 148 Ebd. 149 Ebd.
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der Menschen schöpfen kann: „Beschränkt man sich aber auf eine empirische Objektivität, so befindet sich die Geschichte, welche allgemeine Wertgesichtspunkte als Prinzip der Auswahl voraussetzt, den soziologischen Theorien gegenüber durchaus nicht im Nachteil. Es kommt ja nur darauf an, empirisch allgemein anerkannte Werte der Auswahl des historisch Wesentlichen zugrunde zu legen, und die Geltung der Werte ist als eine Tatsache so gut zu konstatieren, wie andere empirische Tatsachen“150. Um den Sinn dieser letzten Bemerkungen Rickerts bis auf den Grund zu verstehen, muss man nun einen Bezug zu dem fünften Kapitel der Grenzen herstellen, das sich mit dem Problem der „wissenschaftlichen Objektivität historischer Darstellungen“151 befasst und sie der Objektivität der Naturwissenschaften gegenüberstellt; und hier ist insbesondere der zweite Abschnitt zu beachten, der sich eben genau mit der „empirischen Objektivität“ auseinandersetzt. In systematischer Hinsicht stellt der fragliche Abschnitt gewiss nur eine provisorische Zwischenstation auf dem Gedankengang dar, mit dem Rickert belegen will, dass die absolute „kritische Objektivität“152 der historischen Kulturwissenschaften (aber auch der Naturwissenschaften) nur in dem Rahmen einer philosophischen Weltanschauung denkbar sei, die jener des Naturalismus entgegengesetzt ist. Man könnte sie „Idealismus“ nennen, wenn der Ausdruck nicht „zu unbestimmt und vieldeutig“ wäre, um „ohne nähere Erklärung brauchbar zu sein“. Diese Weltanschauung gründe sich in jedem Fall auf die Auffassung, dass es notwendig ist „die Wirklichkeit, die wir sehen und mit Händen greifen können, zu einer anderen Welt in Beziehung zu setzen, die uns nicht in diesem Sinne gegeben ist“ und dass „der Schwerpunkt des Lebens“ in eben dieser Beziehung zu suchen ist153. Im Hinblick auf unsere Arbeit jedoch ist diese ‚provisorische Zwischenstation‘ von besonderem Interesse. Und auch Rickert selbst unterstreicht, dass er in dem Abschnitt über die empirische Objektivität zu einigen Schlussfolgerungen kommt, die auch jener teilen könne, der ihm nicht weiter folgen will, da er „von der Rechtlosigkeit überempirischer Elemente in der Wissenschaft so überzeugt ist, dass er die Diskussion ihrer Berechtigung von vornherein als ein ganz sinnloses und veraltetes Unternehmen ansieht“154. 150 Ebd. 151 Grenzen 1902, S. 601. 152 Vgl. Grenzen 1902, Kap. V, § V, S. 674ff. 153 Grenzen 1902, S. 18–19. 154 Grenzen 1902, S. 635. Ein solcher, schreibt Rickert, möge „vielleicht am besten thun, nicht weiter zu lesen, sondern sich bei dem bisher gewonnenen Ergebnis zu beruhigen“ (ebd.). Zumindest 1902 betrachtete er den teilweisen Konsens der Denker jeglicher Orientierung – vorausgesetzt sie arbeiten nicht mit „unbeweisbaren, metaphysisch-rationalistischen Dogmen“ (Grenzen 1902, S. 635–636) – als ein nicht zu verachtendes und sogar
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Auf diesen Seiten der Grenzen a) übernimmt Rickert den „voraussetzungloseste[n] Standpunkt in der Erkenntnistheorie“155, nämlich den, den er (als Hommage an Avenarius und an seine Meister und Gesprächspartner in Zürich)156 den Standpunkt der „reinen Erfahrung“ nennt157, und fragt sich, welches die Beziehung zwischen der Objektivität der Geschichte und jener der Naturwissenschaft ist, wenn man „den Massstab der empirischen Objektivität an sie anlegt“158. b) Dieser Maßstab wird angelegt, „wo in einem wissenschaftlichen Zusammenhange die Geltung der Urtheile auf rein thatsächliche Wahrheiten zurückgeführt werden kann“159. Und trotzdem – wenn man bedenkt, was über die nicht reproduzierbare extensive und intensive Mannigfaltigkeit des Wirklichen gesagt wurde – kann dies nicht die Wiedereinführung einer Auffassung der wissenschaftlichen Erkenntnis als „blosse Konstatirung von Thatsachen“ anstatt als „Bearbeitung und Umformung der Thatsachen nach bestimmten leitenden Gesichtspunkten“160 bedeuten. Aus diesem Grund präzisiert Rickert, dass wir „daher unter Empirismus nur noch die Ansicht verstehen [können], dass nicht allein das Material sondern auch die leitenden Gesichtspunkte seiner Bearbeitung eine rein empirische Geltung besitzen“161. c) Dass es Werte sind, die jene Gesichtspunkte darstellen, die die historische Begriffsbildung leiten, ist für einen so verstandenen Empirismus offensichtlich kein „Stein des Anstosses“ mehr: „Denn auch Werthe lassen sich ja als Thatsachen konstatiren, und insbesondere ihre faktische Anerkennung durch eine bestimmte Gemeinschaft von Menschen ist im Prinzip durch Erfahrung festzustellen. Unzulässig wird jetzt die Verwendung von Werthen nur dann, wenn ihre normativ allgemeine Geltung prinzipiell über eine empirisch zu konstatirende Allgemeinheit hinausgehen und so viel wie unbedingt geforderte Anerkennung bedeuten zu verteidigendes Ergebnis. Rickert deutet im Übrigen selbst in gewisser Weise die Möglichkeit einer freien Verwendung seiner Untersuchungen an, wie beispielsweise Weber sie vornahm. 155 Grenzen 1902, S. 626. 156 1885 besuchte Rickert als Student die Universität Zürich, wo er die Möglichkeit hatte, Avenarius kennen zu lernen und in Kontakt mit der Gruppe der „Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie“ zu treten. Hierzu vgl. M. Catarzi, A ridosso dei limiti, op. cit., S. 49–50. 157 Grenzen 1902, S. 626. Hierzu siehe C. Russo Krauss, Il tema della reine Erfahrung nella prima edizione delle Grenzen di Rickert, in „Atti dell’Accademia di Scienze Morali e Politiche“, CXIX (2009), S. 63–75. 158 Grenzen 1902, S. 626. 159 Ebd. 160 Ebd. 161 Grenzen 1902, S. 626–627.
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soll“162. Dagegen hat der wie auch immer geartete Empirismus Probleme mit den absolut gültigen Gesetzen, mit denen die Naturwissenschaften „eine extensiv und intensiv unübersehbare Mannigfaltigkeit unter ein einheitliches System bringen will“: Nach „konsequent empirischer Ansicht“ müsste der Empirist in der Tat die Meinung vertreten und vertritt sie auch, dass „auch die Begriffe von Naturgesetzen nur als empirische Verallgemeinerungen aufgefasst werden dürfen“163. d) Wählt man nun aber den Standpunkt der reinen Erfahrung (und achtet zugleich darauf, sich nicht von einem anderen Problem ablenken zu lassen, nämlich jenem, dass es schwieriger ist, das Material der Geschichte zu finden als jenes der Naturwissenschaften, welches sich direkt aus der einfachsten logischen Charakterisierung der Geschichte als „Wissenschaft dessen, was in Raum und Zeit nur einmal da war“, ableitet)164, kann man nicht umhin festzustellen, dass „die leitenden Werthe der historisch-teleologischen Begriffsbildung nicht weniger empirisch gültig zu sein [brauchen] als die Gesichtspunkte, die in der Naturwissenschaft herangezogen werden, um verschiedene Objekte rein empirisch mit einander zu vergleichen“165. Rickert führt aus: „In der Geschichte kommt nur die Beziehung der Objekte auf allgemein anerkannte Werthe in Betracht, durch die sich in ihnen in einer für Alle gültigen Weise die wesentlichen von den unwesentlichen Bestandtheilen scheiden. Natürlich kann das Wort ‚Alle‘ dann nur eine empirisch allgemeine Bedeutung haben, d. h. sich auf alle Glieder einer historischen Gemeinschaft beziehen, aber wenn empirisch festgestellt ist, dass ein bestimmter Kreis von Menschen, an den der Historiker sich mit seiner Darstellung wendet, thatsächlich gemeinsame Kulturwerthe […] besitzt, deren Anerkennung als normativ allgemein allen Gliedern der Gemeinschaft zugemuthet wird, und wenn dann mit Rücksicht auf diese Werthe die Thatsachen der Vergangenheit unter historische Begriffe gebracht werden, so entsteht auch eine für Alle gültige Darstellung, und es wird dabei doch der Boden der reinen Erfahrung gewiss nicht mehr verlassen, als wenn die Naturwissenschaft für eine bestimmte Wirklichkeit ein System von allgemeinen Begriffen durch rein empirische Vergleichung bildet“166. e) Rickert weiß genau, 162 Grenzen 1902, S. 627. 163 Grenzen 1902, S. 628. 164 Hierzu vgl. Grenzen 1902, Kap. IV, § 1, S. 311ff., wo Rickert, ausgehend von einer Auseinandersetzung mit Droysen und Bernheim, ausführlich dieser Frage nachgeht und sie in Beziehung zu der notwendigen Unterscheidung zwischen dem Geschichtsmaterial im Sinne von „Quellenmaterial“ und dem Geschichtsmaterial im Sinne von „Thatsachenmaterial“ setzt, wobei Sammlung und Kritik der Quellen den Zugang zu eben jenen Tatsachen schafft. 165 Grenzen 1902, S. 629. 166 Ebd.
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dass trotz dieser Argumente viele weiterhin der Ansicht sein werden, dass die historische Begriffsbildung, geleitet von bestimmten (und nicht anderen) kulturellen Werten, in jedem Fall einen willkürlicheren Charakter als die naturwissenschaftliche Begriffsbildung hat, die ‚nur‘ vom Vergleich und vom Ausschluss des rein Individuellen geführt wird. Und trotzdem steht nach Rickert diese Denkweise für ein Vergessen der Tatsache, dass es „in der Naturwissenschaft ebenso wenig wie in der Geschichte die ‚Sache‘ selbst [ist], die den Inhalt der Begriffe bestimmt, sondern das erkennende Subjekt entscheidet darüber, was wesentlich ist und was nicht“167. Das kann man aus den Augen verlieren, wenn man sich von der „psychologischen Selbstverständlichkeit“ einwickeln lässt, die manchmal (aber nicht immer) die Gesichtspunkte begleitet, die den generalisierenden Vergleich leiten: eine Selbstverständlichkeit, die einerseits auch die Wertgesichtspunkte interessiert, die die individualisierende Begriffsbildung leiten, und andererseits in keiner Weise eine „logische Rechtfertigung“168 darstellen kann. Es ist dagegen daran festzuhalten, dass „die intensive Mannigfaltigkeit jedes einzelnen Objektes unübersehbar“ bleibt und „unübersehbare Mannigfaltigkeiten […] sich auch unter unübersehbar vielen Gesichtspunkten miteinander vergleichen“ lassen. „Man muss also auch in der vergleichenden Naturwissenschaft immer vorher festgestellt haben, welchen Gesichtspunkt für die Vergleichung man wählen will, und diese Wahl bedarf auf rein empiristischem Standpunkt ebenso wie in der Geschichte der Zustimmung aller derjenigen, für welche die Begriffe gelten sollen“169. Aber wenn die Geschichte nicht weniger als die Naturwissenschaft in der Lage ist, diejenigen von ihren eigenen Auswahlkriterien zu überzeugen, an die sie sich wendet, kann sie im Prinzip auch dieselbe empirische Objektivität anstreben wie die Naturwissenschaft. f ) Gewiss, die absolute Allgemeingültigkeit der historischen Begriffe bleibt dabei problematisch: Wie die absolute Allgemeingültigkeit der naturwissenschaftlichen Begriffe die regulative Idee eines absolut gültigen Gesetzessystems voraussetzt, das in letzter Instanz den generalisierenden Vergleich leitet, genauso setzt die absolute Allgemeingültigkeit der historischen Begriffe die regulative Idee eines absolut gültigen und anerkannten Systems formal-allgemeiner Werte voraus, das in letzter Instanz die individualisierende Begriffsbildung leitet und festlegt, ob (und in welchem Maße) jeder inhaltlich bestimmte kulturelle Wert bewertet und anerkannt werden kann170. Aber es ist ebenso sicher, dass es für die „konsequenten Empiriker“, welche sowohl die Idee eines absolut gültigen 167 Grenzen 1902, S. 630. 168 Grenzen 1902, S. 630–631. 169 Grenzen 1902, S. 631. 170 Vgl. Grenzen 1902, S. 636–642.
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Wertsystems als auch die eines absolut gültigen Gesetzessystems ablehnen, „mit Rücksicht auf die Objektivität der Begriffe keinen Unterschied machen [kann], dass an Stelle des empirisch allgemein anerkannten Gesichtspunktes der Vergleichung, der das Wesentliche vom Unwesentlichen scheidet, ein empirisch allgemein anerkannter Werth tritt, auf den die Objekte so bezogen werden, dass sie sich zu In-dividuen zusammenschliessen“171. g) Aus der Sicht eines strengen Empirismus befindet sich die Geschichte sogar in gewisser Hinsicht in einer günstigeren Position als die Naturwissenschaft. Denn je mehr letztere (in einer ihr eigenen Bewegung) die Dingbegriffe in Relationsbegriffen auflöst172, desto mehr stößt sie „auf grosse Schwierigkeiten, wenn ein Nachweis für die faktische Anerkennung ihrer leitenden Gesichtspunkte gefordert wird“173. Wenn dagegen „der Historiker seine Begriffe mit Rücksicht auf Werthe der Gemeinschaft, der er selbst angehört“, bildet und wenn er sich (als Mann der Wissenschaft) natürlich enthält, direkte Wertungen oder Werturteile zu formulieren, „so wird die Objektivität seiner Darstellung ausschliesslich von der Richtigkeit des Thatsachenmaterials abzuhängen scheinen, und die Frage, ob dieses oder jenes Ereignis der Vergangenheit wesentlich ist, garnicht auftauchen“174. Gewiss wird die Situation problematischer, wenn der Historiker „fern stehende Kulturentwicklungen darstellen“ möchte, für die er „sich erst in fremde Kulturwerthe hineinleben“ muss175. Und gewiss ist die empirische Objektivität der besonderen historischen Darstellungen nicht etwas, auf das man zählen kann, „wenn eine ‚Weltgeschichte‘ geschrieben werden soll“, denn es kann in diesem Fall „zweifelhaft bleiben, ob die dabei verwendeten leitenden Werthgesichtspunkte auf eine empirisch konstatirbare Anerkennung bei allen Kulturgemeinschaften rechnen dürfen, die eine solche Darstellung umfasst“176. Aber das schließt nicht aus, dass die Geschichte, und nur die Geschichte, „die eigentliche Erfahrungswissenschaft [ist], nicht nur weil sie Wirklichkeitswissenschaft ist und mit ihren individuellen Begriffen der stets individuellen Erfahrung näher steht als die Naturwissenschaft, sondern auch weil ihre leitenden Gesichtspunkte sich viel leichter aus der Erfahrung selbst entnehmen lassen. Nicht dass sie Werthe als leitende Gesichtspunkte braucht, kann also vom empiristischen Standpunkte aus ein störendes Moment von Subjektivität in sie hineintragen, sondern höchstens die Unkenntnis 171 Grenzen 1902, S. 632. 172 Vgl. oben, Fußnote 89. 173 Grenzen 1902, S. 634. 174 Grenzen 1902, S. 632. 175 Grenzen 1902, S. 633. 176 Ebd.
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der Nothwendigkeit solcher Werthgesichtspunkte kann den Forscher dazu verleiten, einem unerreichbaren Ideal von ‚Objektivität‘ nachzujagen“177. Rickert ermittelt also die zweite Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte in der allgemeinen Anerkennung, die bestimmte kulturelle Werte tatsächlich in der menschlichen Gemeinschaft besitzen, an die der Historiker sich wendet. Diese Anerkennung stellt – gemeinsam mit dem Verzicht auf jede direkte Wertung zugunsten der reinen, theoretischen Wertbeziehung – die notwendige und ausreichende Bedingung dar, damit die vom Historiker vorgenommene Auswahl gewisser (und nicht anderer) individueller Zügen des Geschehens, die er kulturell für bedeutsam hält, allgemeine Zustimmung oder (in den Worten der Grenzen) eine vollständige „empirische Objektivität“ erlangen kann. Auch hier haben wir meines Erachtens ein spezifisches Ergebnis von Rickert, das für Weber wichtig ist. Diese Bedeutsamkeit muss jedoch analytisch untersucht werden (wie ich im Folgenden anhand zweier Beispiele veranschaulichen möchte), denn sie wird in der Regel durch die größere und bekanntere Bedeutung in den Schatten gestellt, die für Weber Rickerts Unterscheidung zwischen „Wertung“ und „theoretischer Wertbeziehung“ hat. Betrachten wir in erster Linie den zweiten Teil des Aufsatzes über die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in dem Weber (unter anderem) zeigt, dass die notwendige Wertfreiheit der sozialökonomischen Wissenschaft, verstanden als historische Kulturwissenschaft, ganz und gar nicht impliziert, dass jene darauf verzichten müsse, ihr empirisches Material begrifflich zu bilden, indem sie es anhand von Wertgesichtspunkten auswählt178. a) Einer der Angelpunkte von Webers Argumentation ist zweifelsohne die Unterscheidung zwischen Wertung und Wertbeziehung, die er aufgreift und sich gleichzeitig in zu Recht berühmt gewordenen Stellen aneignet179. b) Einige weitere Passagen der Argumentation, die einen klaren und 177 Grenzen 1902, S. 634–635. 178 Weber sagt hierzu: „Der Begriff der Kultur ist ein Wertbegriff. Die empirische Wirklichkeit ist für uns ‚Kultur‘, weil und sofern wir sie mit Wertideen in Beziehung setzen, sie umfaßt diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, welche durch jene Beziehung für uns bedeutsam werden, und nur diese“ (OssE, S. 175). 179 „,Kultur‘ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens. […] Transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft ist nicht etwa, daß wir eine bestimmte oder überhaupt irgend eine ‚Kultur‘ wertvoll finden, sondern daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen. Welches immer dieser Sinn sein mag, er wird dazu führen, daß wir im Leben bestimmte Erscheinungen des menschlichen Zusammenseins aus ihm heraus beurteilen, zu ihnen als bedeutsam (positiv oder negativ) Stellung nehmen. Welches immer der Inhalt dieser Stellungnahme sei, – diese Erscheinungen haben für uns Kul-
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spezifischen Bezug auf die von Rickert festgestellte zweite Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte aufweisen, dürfen jedoch nicht vernachlässigt werden. Weber schreibt nämlich: „Alle Erkenntnis der Kulturwirklichkeit ist […] stets eine Erkenntnis unter spezifisch besonderten Gesichtspunkten. Wenn wir von dem Historiker und Sozialforscher als elementare Voraussetzung verlangen, daß er Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden könne, und daß er für diese Unterscheidung die erforderlichen ‚Gesichtspunkte‘ habe, so heißt das lediglich, daß er verstehen müsse, die Vorgänge der Wirklichkeit – bewußt oder unbewußt – auf universelle [also von ‚uns‘, von der bestimmten Gemeinschaft von Menschen, an die der Historiker oder Sozialforscher sich wenden, allgemein anerkannte] ‚Kulturwerte‘ zu beziehen und danach die Zusammenhänge herauszuheben, welche für uns bedeutsam sind“180. c) Zu diesem spezifischen Aspekt der historischen Begriffsbildung bemerkt Rickert, dass, wenn „der Historiker seine Begriffe mit Rücksicht auf Werthe der Gemeinschaft, der er selbst angehört“, bildet, „so wird die Objektivität seiner Darstellung ausschliesslich von der Richtigkeit des Thatsachenmaterials abzuhängen scheinen, und die Frage, ob dieses oder jenes Ereignis der Vergangenheit wesentlich ist, garnicht auftauchen“181. Auf die gleiche Weise unterstreicht Weber, dass die immer wieder auftretende Meinung, dass die Gesichtspunkte, die die historische Darstellung ordnen, dem „Stoff selbst entnommen“ seien, „der naiven Selbsttäuschung des Fachgelehrten [entspringt], der nicht beachtet, daß er von vornherein kraft der Wertideen, mit denen er unbewußt an den Stoff herangegangen ist, aus einer absoluten Unendlichkeit einen winzigen Bestandteil als das herausgehoben hat, auf dessen Betrachtung es ihm allein ankommt“182. Wobei dieses Interesse einerseits das ist, worauf die tatsächliche Legitimität des häufigen und oft emphatischen Rufs nach dem „,Persönlichen‘“ „kulturwissenschaftlicher turbedeutung, auf dieser Bedeutung beruht allein ihr wissenschaftliches Interesse“ (OssE, S. 180–181). Und weiter: „Wenn also hier im Anschluß an den Sprachgebrauch moderner Logiker von der Bedingtheit der Kulturerkenntnis durch Wertideen gesprochen wird, so ist das hoffentlich Mißverständnissen so grober Art, wie der Meinung, Kulturbedeutung solle nur wertvollen Erscheinungen zugesprochen werden, nicht ausgesetzt. Eine Kulturerscheinung ist die Prostitution so gut wie die Religion oder das Geld, alle drei deshalb und nur deshalb und nur soweit, als ihre Existenz und die Form, die sie historisch annehmen, unsere Kulturinteressen direkt oder indirekt berühren, als sie unseren Erkenntnistrieb unter Gesichtspunkten erregen, die hergeleitet sind aus den Wertideen, welche das Stück Wirklichkeit, welches in jenen Begriffen gedacht wird, für uns bedeutsam machen“ (OssE, S. 181; erste Hervorhebung E.M.). 180 OssE, S. 181. 181 Vgl. oben, Fußnote 174. 182 OssE, S. 181.
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Arbeit“183 sich gründet, aber andererseits bestimmt ist von den „den Forscher und seine Zeit beherrschenden Wertideen“184 und sich letztendlich gestaltet als die „Farbenbrechung der Werte [der Epoche] im Spiegel seiner Seele“185. d) Und Weber fährt mit einer Passage fort, die sehr klar zeigt, wie er sich das Wesen von Rickerts Überlegungen über die zweite Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte aneignet und sie auf das Thema des (mehr oder weniger) allgemeinen Interesses überträgt, das gewisse von der historischen Begriffsbildung ausgewählte Züge des Geschehens für bestimmte Menschen und bestimmte Kulturen haben. Gleichzeitig geht er aber in derselben Passage dazu über, die von Rickert erarbeitete terminologische Verbindung zwischen diesem Thema und jenem der „empirischen Objektivität“ der Geschichte zurückzuweisen, welche Weber lieber auf die für ihn viel dringendere Frage als für Rickert nach den Verfahren der empirischen Gültigkeitserklärung der Ergebnisse aus den Kulturwissenschaften bezieht. „Ohne alle Frage sind nun jene Wertideen ‚subjektiv‘. Zwischen dem ‚historischen‘ Interesse an einer Familienchronik und demjenigen an der Entwicklung der denkbar größten Kulturerscheinungen, welche einer Nation oder der Menschheit in langen Epochen gemeinsam waren und sind, besteht eine unendliche Stufenleiter der ‚Bedeutungen‘, deren Staffeln für jeden einzelnen von uns eine andere Reihenfolge haben werden. Und ebenso sind sie natürlich historisch wandelbar mit dem Charakter der Kultur und der die Menschen beherrschenden Gedanken selbst. Daraus folgt nun aber selbstverständlich nicht, daß auch die kulturwissenschaftliche Forschung nur Ergebnisse haben könne, die ‚subjektiv‘ in dem Sinne seien, daß sie für den einen gelten und für den andern nicht. Was wechselt, ist vielmehr der Grad, in dem sie den einen interessieren und den andern nicht“186. e) Abschließend möchte ich nur bemerken, dass die Bezüge in Webers Aufsatz von 1904 auf Rickerts „logische“ Reflexionen über die zweite Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte (aus dem hier angenommen Blickwinkel) insgesamt noch wichtiger sind, weil sie direkt Webers klarer und expliziter Ablehnung jeder ‚erkenntnistheoretischen‘ Entwicklung dieses Themas vorangehen, die (wie Rickert hofft) den Entwurf eines Gefüges bedingungslos anerkannter und gültiger formal-allgemeiner Werte anstrebt, die geeignet sind, in letzter Instanz die historische Begriffsbildung zu leiten und so ihren Ergebnissen eine absolute kritische Objektivität zu verleihen187. „Endlos wälzt sich der Strom des uner183 Ebd. 184 OssE, S. 184. 185 OssE, S. 182. 186 OssE, S. 183–184. 187 Vgl. oben, Fußnote 170.
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meßlichen Geschehens der Ewigkeit entgegen. Immer neu und anders gefärbt bilden sich die Kulturprobleme, welche die Menschen bewegen, flüssig bleibt, damit der Umkreis dessen, was aus jenem stets gleich unendlichen Strome des Individuellen Sinn und Bedeutung für uns erhält, ‚historisches Individuum‘ wird. […] Die Ausgangspunkte der Kulturwissenschaften bleiben damit wandelbar in die grenzenlose Zukunft hinein, solange nicht chinesische Erstarrung des Geisteslebens die Menschheit entwöhnt, neue Fragen an das immer gleich unerschöpfliche Leben zu stellen. Ein System der Kulturwissenschaften auch nur in dem Sinne [die Unterscheidung ist wichtig, denn sie scheint genau gegen den formalen Charakter der Rickert‘schen Wertphilosophie anzukämpfen] einer definitiven, objektiv gültigen, systematisierenden Fixierung der Fragen und Gebiete, von denen sie zu handeln berufen sein sollen, wäre ein Unsinn in sich: stets kann bei einem solchen Versuch nur eine Aneinanderreihung von mehreren, spezifisch besonderten, untereinander vielfach heterogenen und disparaten Gesichtspunkten herauskommen, unter denen die Wirklichkeit für uns jeweils ‚Kultur‘, d.h. in ihrer Eigenart bedeutungsvoll war oder ist“188. Die Auswirkungen von Rickerts ‚logischen‘ Untersuchungen zur zweiten Art des ‚Allgemeinen‘ lassen sich jedoch auch an anderen wichtigen Stellen in Webers Schriften ablesen. Man denke nur an den Anfang der Vorbemerkung zu Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, ein von Webers Kritikern und Interpreten viel beachtetes Vorwort: „Universalgeschichtliche Probleme wird der Sohn der modernen europäischen Kulturwelt unvermeidlicher- und berechtigterweise unter der Fragestellung behandeln: welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?“189. Um diese schwierigen Äußerungen richtig deuten zu können, muss man ohne Zweifel berücksichtigen, dass die „Fragestellung“, von der Weber spricht, nicht in einer philosophischen und axiologischen Befragung über den bedingungslos universellen (oder auch nicht) Charakter der Bedeutung und der Geltung der Kulturerscheinungen des westlichen Rationalismus mit dem Ziel festzustellen, ob „der Okzident den ontologisch bevorzugten und höchsten Grad der Manifestation des umfassenden Sinns der Weltgeschichte bildet [oder nicht]“, besteht190. Weber denkt vielmehr an eine 188 OssE, S. 184–185. 189 M. Weber, Vorbemerkung (1920) zu Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, op. cit., S. 1–16, S. 1. 190 G.A. Di Marco, Max Weber e il razionalismo occidentale, in ders., Studi su Max Weber, Neapel, 2003, S. 183–222, S. 212.
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Untersuchung, die mit den Mitteln und auf der Grundlage der Annahmen der modernen empirischen Wissenschaft (eine der wichtigsten Manifestationen des genannten Rationalismus) geführt wird, an eine Untersuchung also, die die fraglichen Kulturerscheinungen kausal erklären und die Verkettung von besonderen Umständen ans Licht bringen will, welche die Bedingung für ihre Entstehung im Okzident und nur im Okzident ist. Es ist klar, dass gerade mit einer Fragestellung dieser Art die Söhne der modernen, europäischen Kulturwelt als ‚gute Europäer‘ außer Kraft setzen, was sie sich gerne vorstellen, nämlich, dass die Kulturerscheinungen, die im Okzident entstanden sind, in einer Entwicklungsrichtung von streng universeller Bedeutung und Geltung liegen und sich – um es mit Hegel zu sagen – als „Wirklichkeit“ darstellen, also als „Einheit des Wesens und der Existenz“, in der „das gestaltlose Wesen und die haltlose Erscheinung […] ihre Wahrheit“ haben191. Und trotzdem setzt auch die vorurteilsfreie kausale Erklärung der Kulturerscheinungen gerade des westlichen Rationalismus – welche sich auf einer radikal antiemanatistischen und antiontologischen Diskursebene bewegt und nur in den Termini der „objektiven Möglichkeit“ und der „adäquaten Verursachung“ denkt192 – zumindest voraus, dass die fraglichen Erscheinungen Gegenstand eines gemeinsamen Interesses sind, setzt also – entsprechend der Minimalbedeutung der von Rickert thematisierten zweiten Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte – voraus, dass alle Kinder der modernen, euopäischen Kulturwelt tatsächlich, im Positiven oder im Negativen, ihre Bedeutung und ihren Wert anerkennen. Gewiss hat die gewaltige Reaktion der Welt auf den expansionistischen Vortrieb des Okzidents, heute noch mehr als zu Webers Zeiten, dazu geführt, dass sich die gesamte Menschheit in gewisser Weise als ‚Tochter‘ oder ‚Stieftochter‘ oder ‚Erbin‘ der modernen europäischen Kulturwelt bezeichnen kann, da sie – im Positiven oder im Negativen – der Wissenschaft oder dem Kapitalismus oder der Bürokratie der modernen westlichen Welt eine Bedeutung und einen Wert zuerkennt. Und trotzdem stellt diese ‚Globalisierung‘ der Geschichte des Okzidents, die das historische Interesse noch vor dem erklärenden Verständnis der Ereignisse überfällt, eine weitere Komplizierung dar, sie ändert die Situation aber im Prinzip nicht, da sie bei genauem Hinsehen von Anfang an den Verzicht impliziert, den individuellen und bestimmten Verlauf der Weltgeschichte in das Bett des Prokrustes einer Geschichtsphilosophie zu zwängen.
191 G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik, 2 Bde., hrsg. von G. Lasson, Hamburg 1975, Bd. 2, S. 156. 192 Ich verweise hierzu auf den dritten und vierten Abschnitt der dritten Studie in diesem Band.
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V. Das Ganze in Bezug auf die Teile oder die dritte Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte Auch die dritte Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte ist – genau wie die zweite und anders als die erste – nicht identisch mit dem ‚Allgemeinen‘ im Sinne der Naturwissenschaften. Hierzu äußert sich Rickert in dem Aufsatz von 1901 ausführlich und greift dann die Frage in dem vierten Abschnitt des vierten Kapitels der Grenzen über den historischen Zusammenhang wieder auf, und hier insbesondere im ersten Teil193, wo das Thema von einem ‚statischen‘ Standpunkt (der „historische Zusammenhang“, der historische Kontext), und nicht etwa von einem ‚dynamischen‘ Standpunkt (der „historische Kausalzusammenhang“) aus betrachtet wird194. Daher ist es gerade hier sinnvoll, der Argumentation des Aufsatzes zu folgen, und sie durch einige Anmerkungen aus dem Gesamtwerk zu ergänzen. Nach der Allgemeinheit der Begriffselemente der individualisierenden Begriffsbildungen der Geschichte und nach der Allgemeinheit der Wertgesichtspunkte, die am Anfang der Konstruktion des historischen Objekts stehen, begegnen wir der dritten Art des „Allgemeinen“ in der Geschichte, sobald wir darüber nachdenken, dass letztere die Aufgabe hat, „mit ‚allgemeinen‘ Elementen individuelle Ereignisse“ darzustellen, „die eine ‚allgemeine‘ Bedeutung besitzen“, aber nicht die fraglichen Ereignisse als „vereinzelte und gegeneinander abgeschlossene Individuen zu behandeln“195. „Etwas Isoliertes gibt es nämlich in der Wirklichkeit nicht, sondern jedes historische Objekt steht mit andern Objekten in Zusammenhang und wird dadurch auch in seiner Individualität mehr oder weniger bestimmt. Daher muß der Zusammenhang der individuellen Dinge und Vorgänge ebenfalls als ein historisches Objekt angesehen werden, ja nur im Zusammenhang sind die Ereignisse von der Geschichte aufzufassen“196. Nun ist es zweifelsohne legitim zu behaupten, dass der Zusammenhang, in den alle einzelnen historischen Objekte eingefügt sind, im Vergleich zu jedem von ihnen einen ‚allgemeinen‘ Charakter besitzt. Aber 193 Vgl. Grenzen 1902, S. 392–409. 194 Natürlich spiegeln sich Rickerts Betrachtungen über die dritte Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte auch in der Weise wider, wie er den Ausdruck des „historischen Kausalzusammenhangs“ analysiert und ihn in Beziehung zu den (davon und unter sich zu unterscheidenden) Termini des „Kausalprinzips“ und des „Kausalgesetztes“ setzt. Aber zu diesem Thema verweise ich auf den zweiten Teil der zweiten Studie in diesem Buch. 195 QMUH, S. 131; VAAG, S. 746. 196 Ebd.
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da dieser ‚allgemeine‘ Zusammenhang, weit davon entfernt ein Mittel zu sein, sogar das letzte Ziel der historischen Darstellung ist, scheint dies noch einmal die Definition der Geschichte als Wissenschaft vom Einzelnen und Individuellen außer Kraft zu setzen: Auch die Geschichte, sagt man, habe „wie die Naturwissenschaft zu verfahren [...], weil sie jedes Objekt in seinen ‚allgemeinen Zusammenhang‘ bringen müsse“197. Rickert ist jedoch der Ansicht, dass wir auch hier wieder vor einem logischen Fehler stehen, bei dem im Wesentlichen das „Verhältnis eines Exemplares zu seinem übergeordneten allgemeinen Begriff mit dem Verhältnis eine Teiles zu seinem Ganzen verwechselt“ wird198. Er führt aus: „Der Zusammenhang, in dem sich jedes historische Objekt befindet, und in dem es auch dargestellt werden muß, kann nur in sofern ‚allgemein‘ genannt werden, als er alle die Individuen umfaßt, welche seine Teile bilden. Das Ganze aber besteht nicht nur aus lauter individuellen Teilen, sondern ist selbst etwas durchaus Individuelles, das als historische Wirklichkeit ebensowenig in einen allgemeinen Begriff eingeht, wie jedes seiner Glieder. Stellt die Geschichte also ‚allgemeine Zusammenhänge‘ dar, so bildet sie darum noch keine naturwissenschaftlichen Begriffe, und fügt sie einen individuellen Teil in einem größeren, aber ebenso individuellen Ganzen ein, so ordnet sie dabei durchaus nicht ein Individuum einem allgemeinen Begriffe unter“199. Aus dieser Passage geht klar hervor, dass sich Rickerts Argumentation sowohl mit dem historischen Zusammenhang als solchem als auch mit den logischen Prinzipien seiner Darstellung befasst. a) Auf einer ersten Ebene zeigt sie, dass der ‚allgemeine‘ Zusammenhang, an dem jedes geschichtliche Ereignis teilhat, nicht ein allgemeiner Begriff ist, von dem dieses ein Beispiel darstellt, sondern vielmehr ein umfangreicheres geschichtliches Ereignis ist, das genauso individuell ist, wie das Ereignis, das ein Teil von ihm bildet: So ist zum Beispiel die Französische Revolution, von der der Sturm auf die Bastille ein Teil ist, kein allgemeiner Begriff, für den der Sturm auf die Bastille ein Beispiel ist, sondern genauso wie der Sturm auf die Bastille ist sie ein individuelles geschichtliches Ereignis; und die Renaissance, zu der Machiavelli gehört, ist kein allgemeiner Begriff, für den Macchiavelli ein Beispiel ist, sondern genauso wie Macchiavelli ist es ein historisches Individuum. In den Grenzen bemerkt Rickert, dass diese Unterscheidung zwischen „der Allgemeinheit, die dem Ganzen im Verhältnis zu seinen einzelnen Theilen zukommt“, und der „Allgemeinheit, die der Inhalt eines Begriffes gegenüber seinen besonderen
197 Ebd. 198 Ebd. 199 QMUH, S. 131–132; VAAG, S. 746–747.
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Exemplaren besitzt“200, – eine Unterscheidung, die schon für sich „klar und selbstverständlich“201 ist – auch an der Grundlage der berühmten kantischen Argumente gegen die Behauptung steht, dass Raum und Zeit keine Anschauungen, sondern Begriffe seien202. Und doch werden sie immer wieder verwechselt, vielleicht wegen der verwirrenden Ambiguität des Ausdrucks „,Gattung‘“, welcher – wie Rickert in den Grenzen behauptet, als er eine Beobachtung von Sigwart aufgreift – nicht nur einen „allgemeinen Gattungsbegriff“ bezeichnet, für den die einzelnen Individuen Beispiele sind, sondern auch eine „konkrete Gattung“ das heißt die „konkrete Mehrheit von Individuen“, die unter einen Gattungsbegriff fällt203. Und die beiden Bedeutungen des Terminus sind ganz und gar nicht identisch: Eine Sache ist der Gattungsbegriff ‚Tiger‘, den der systematische Zoologe verwendet, um die gemeinsamen Eigenschaften einer bestimmten Spezies von Katzen zu beschreiben, eine andere Sache ist dagegen die konkrete Gattung ‚Tiger‘, von der der Ökologe spricht, wenn er sich darum sorgt, dass sie nur noch wenige Exemplare zählt. b) Wenn nun der ‚allgemeine‘ Zusammenhang, in den jedes geschichtliche Ereignis eingefügt ist, genau so individuell und einzig ist wie das fragliche Ereignis selbst, dann liegt auf der Hand, dass seine individuelle Einzigartigkeit, genauso wie jene des Ereignisses, das er einschließt, begrifflich nur dargestellt werden kann, indem man einige seiner Aspekte auswählt, die von einem gewissen Wertgesichtspunkt aus bedeutsam sind. Deshalb betont Rickert in den Grenzen bei seinen Ausführungen zu dem allgemeinen Zusammenhang, in den die Geschichte die einzelnen Individuen integrieren muss, Folgendes: „Es ist von ihm stets ein individueller Begriff zu bilden, dessen Elemente […] dann die Begriffe sind, die man von seinen historisch bedeutsamen individuellen Gliedern gebildet hat [nicht jeder Zeitgenosse Machiavellis ist ein Bestandteil des Begriffs ‚Renaissance‘, und Machiavelli ist es vor allem und meistens aufgrund jener Aspekte, die ihn von der 200 Grenzen 1902, S. 396. 201 Grenzen 1902, S. 393. 202 Vgl. Grenzen 1902, S. 396: „Man kann ‚sich nur einen ein[z]igen Raum vorstellen, und wenn man von vielen Räumen redet, so versteht man darunter nur Theile eines und desselben alleinigen Raumes‘, oder ‚verschiedene Zeiten sind nur Theile ein und derselben Zeit‘. Der allgemeine Raum und die allgemeine Zeit sind also nicht allgemeine Begriffe sondern Anschauungen, und zwar besondere und einmalige. Dadurch, dass man einen Raumtheil und eine Zeitstrecke einem grösseren Raum und einer grösseren Zeitstrecke oder auch dem Raum und der Zeit überhaupt einordnet, ordnet man sie noch nicht dem allgemeinen Raumbegriff und dem allgemeinen Zeitbegriff unter.“ Die Zitate von Kant hat Rickert der „metaphysischen Erörterung“ des Raum- und Zeitbegriffs entnommen (I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, op. cit., S. 86 und S. 95). 203 Grenzen 1902, S. 394 und Fußnote.
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großen Masse seiner Zeitgenossen unterscheiden], und die Einheit dieser Elemente ist natürlich ebenfalls teleologisch, d. h. sie schliessen sich mit Rücksicht auf die Bedeutung zusammen, die das Ganze durch seine Besonderheit besitzt. Dies Ganze ist freilich ebenfalls nicht ein vereinzeltes Individuum, sondern gehört einem noch grösseren Ganzen an, aber auch dies neue, noch umfassendere Ganze ist selbstverständlich wieder kein allgemeiner Begriff, sondern ein Individuum, und es muss von ihm daher ein neuer individueller Begriff gebildet werden, dessen Elemente die individuellen Begriffe seiner historisch bedeutsamen Theile sind“204 und so weiter bis schließlich der Begriff eines „letzten historischen Ganzen“ erreicht ist, dessen tatsächlicher Umfang „logisch zufällig“ ist, „denn ohne Kenntnis des Inhalts der Auswahlprincipien“205 lässt er sich nicht bestimmen. Man sieht also, „auch an den Prinzipien der historischen Begriffsbildung wird durch die Einordnung des einzelnen Individuums in den allgemeinen Zusammenhang nichts geändert“206. Aber Rickert geht noch weiter – beinahe als wolle er in nüchtern logischen Worten zusammenfassen, was Leopold von Ranke bereits 1835 in einem Brief an seinen Bruder Heinrich schrieb: „Überhaupt befestigt sich in mir immer mehr die Meinung, daß zuletzt doch nichts weiter geschrieben werden kann als die Universalgeschichte. Alle unsere Studien streben nur dahin, diese hervorzubringen.“207 – und behauptet, dass „diese Einfügung des Teiles in das Ganze“ nicht nur nicht mit der generalisierenden Begriffsbildung gleichstellbar ist, die das spezifische Ziel der Naturwissenschaften darstellt, sondern sogar eine charakteristische Eigenschaft der Geschichte ist, welche „sich dadurch nicht nur von der Naturwissenschaft, sondern auch von der Kunst prinzipiell unterscheidet“208. In der Tat kann sich die Naturwissenschaft, um ein Objekt „unter einen allgemeinen Begriff bringen zu können“, nicht darauf beschränken, von allem abzusehen, was nur dem fraglichen Objekt innewohnt, sondern muss es auch „faktisch durch das Experiment isolieren oder, wo dies nicht möglich ist, wenigstens begrifflich isoliert denken, denn mit den vielen Beziehungen, durch die jedes Objekt mit andern Objekten in realem [oder individuellem] Zusammenhange steht, geht es in keinen allgemeinen Begriff 204 Grenzen 1902, S. 398–399. 205 Grenzen 1902, S. 401. 206 Grenzen 1902, S. 399. 207 L. von Ranke, Das Briefwerk, hrsg. von W. P. Fuchs, Hamburg, 1949, S. 265. Zu diesem Thema verweise ich auf F. Tessitore, Ranke, il „Lutherfragment“ e la Universalgeschichte und Teoria del Verstehen e idea della Weltgeschichte in Ranke, in ders., Contributi alla storia e alla teoria dello storicismo, II, Rom, 1995, S. 731–745 und 747–810. 208 QMUH, S. 132; VAAG, S. 747.
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ein“209. Dieser von der Naturwissenschaft umgesetzten begrifflichen Isolierung entspricht die von der Kunst umgesetzte anschauliche Isolierung, die „um ästhetische Wirkungen zu erzielen, das, was sie darstellt, aus dem Zusammenhang mit der Wirklichkeit, in der wir leben, herauslösen und es scharf gegen sie abgrenzen [muss], so daß das Kunstwerk sich als etwas Geschlossenes von seiner Umgebung abhebt“210. Aber gerade diese Tendenz der ‚Isolierung‘, die (wenn auch in unterschiedlicher Weise) sowohl die Naturwissenschaft als auch die Kunst kennzeichnet, zeigt klar und deutlich, dass die Geschichte weder unter den „allgemeinen Begriff“ der Naturwissenschaft noch unter jenen der Kunst eingeordnet werden kann211, und dies trotz der vielen Versuche mal in der einen und mal in der anderen Richtung. Rickert schreibt dazu: „Nur die Geschichte verknüpft ihre individuellen Objekte mit dem individuellen Ganzen, dessen Teile sie sind, so wie sie sie in Wirklichkeit verknüpft findet, und 209 Ebd. 210 Ebd. Diesbezüglich ist Rickerts Position jener Hugo Münsterbergs sehr nahe, welcher – in dem bereits zitierten Grundzüge der Psychologie (1900) und in vielen anderen Schriften – die Ansicht vertritt, dass das proprium der künstlerischen Aktivität in einer Überarbeitung der unmittelbaren Erfahrung besteht, die darauf abzielt, eine harmonische und in sich und in jedem ihrer Teile vollendeten Welt zu schaffen. Das Kunstwerk setzt also den ‚Rahmen‘ voraus, nämlich die strenge Isolierung des Einzelnen von der strukturell unvollendeten wirklichen Verbindung, in die das Einzelne ursprünglich eingefügt ist (vgl. hierzu D. Spinosa, Verso un’estetica del cinema. Filosofia, psicologia e teoria del cinema in Hugo Münsterberg, Rom, 2007, worin sich auch die aktuellste Bibliographie zu diesem Thema findet). Rickert stimmte jedoch nicht Münsterbergs These zu, dass jede Wissenschaft sich auf die gleiche Weise der Kunst entgegenstellt, da sie als solche von dem entgegengesetzten Problem des ‚Zusammenhangs‘ des Einzelnen beherrscht ist. Er erkennt zwar an, dass auch die Naturwissenschaft „ihre Gegenstände in einen ‚Zusammenhang‘“ bringt, präzisiert aber sofort, dass dieser Zusammenhang „eben nicht das historische individuelle Ganze sondern ein System von allgemeinen Begriffen“ ist (Grenzen 1902, S. 403–404). In anderen Worten, der Begriff des ‚Zusammenhangs des Einzelnen‘, den Münsterberg verwendet, um den individuellen Charakter jeder Art wissenschaftlicher Arbeit zu beschreiben, ist für Rickert nicht eindeutig genug, was letztendlich von der mangelnden Unterscheidung zwischen dem ‚Allgemeinen‘ als ‚Gattungsbegriff‘ und dem ‚Allgemeinen‘ als ‚Ganzes‘ abhängt. Im Übrigen ist es sicher kein Zufall, dass Weber im Verlauf seiner tiefgehenden Diskussion der Grundzüge in dem Aufsatz über Roscher und Knies einige „logische Mängel“ in Münsterbergs Werk nennt, darunter auch das nicht ausreichende Bewusstsein der verschiedenen, von Rickert hervorgehobenen Arten des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte (vgl. RuK, S. 75–77, Fußnote). 211 Auch wenn der Name Benedetto Croce in keiner Ausgabe der Grenzen explizit erwähnt wird, vertritt Catarzi zu Recht die Ansicht, dass Rickerts Werk einige kritische Bezüge auf Croces Abhandlung La storia ridotta sotto il concetto generale dell’arte von 1893 enthält. Vgl. M. Catarzi, A ridosso dei limiti, op. cit., S. 176–177, Fußnote 5. Hier finden sich auch weitere bibliographische Hinweise.
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sie hat auf den ‚allgemeinen‘ Zusammenhang gerade deshalb zu achten, weil sie die Wissenschaft vom wirklichen Geschehen sein will, das stets ein einmaliges und individuelles ist“212. In den Grenzen bemerkt Rickert, dass diese Orientierung in Richtung des Zusammenhangs und des Ganzen, welches die geschichtlich-individualisierende Begriffsbildung charakterisiert, auch Konsequenzen auf logisch-formaler Ebene hat. Man braucht nur an das bekannte logische Prinzip zu denken, dass das Verhältnis von Inhalt und Ausdehnung zweier Begriffe in einem selbem System umgekehrt proportional ist (der Begriff ‚Katze‘ ist weiter als der Begriff ‚Tiger‘, hat aber gerade deshalb einen geringeren Inhalt). Im Lichte dessen, was wir zuvor gesagt haben, erweist sich dieses Prinzip als das typische Ergebnis der oben genannten einseitigen Entwicklung der Logik213, und ist in Wirklichkeit nur für die naturwissenschaftlichen Begriffe gültig. Es gibt in der Tat keinen Zweifel daran, dass „in einer vollständigen historischen Darstellung“, die auf der Grundlage derselben Auswahlprinzipien des geschichtlichen Materials erarbeitet wurde, „bei wachsendem Umfang ceteris paribus der Inhalt der Begriffe sich vergrössern muss“214 (der geschichtliche Begriff ‚Renaissance‘ ist umfassender als ‚Machiavelli‘ und hat gerade aus diesem Grund einen reicheren Inhalt). „Die Begriffe der Naturwissenschaft werden also um so leerer, je umfassender sie sind, und entfernen sich in Folge dessen mit der wachsenden Allgemeinheit immer mehr von der individuellen empirischen Wirklichkeit. Die Begriffe der Geschichte dagegen müssen, je umfassender sie werden und um so grösser ihr Umfang ist, auch um so mehr Wirklichkeit enthalten und also einen um so reicheren Inhalt haben. Man kann dann geradezu sagen, dass der umfassendste naturwissenschaftliche Begriff die denkbar grösste Vereinfachung seiner Objekte darstellt, der umfassendste historische Begriff dagegen die ganze Mannigfaltigkeit einer Universal- oder Weltgeschichte in sich aufnehmen müsste. Auch dies wird wiederum den prinzipiellen Unterschied naturwissenschaftlicher und historischer Begriffsbildung in das hellste logische Licht rücken“215. Rickert hebt hierzu abschließend hervor, dass die fehlende Unterscheidung zwischen der Allgemeinheit des naturwissenschaftlichen Begriffs und der Allgemeinheit der konkreten Totalität die Ursache „der ungewöhnlichen Verwir-
212 QMUH, S. 132; VAAG, S. 747. Zu der gesamten Thematik vgl. auch Grenzen 1902, S. 402–405. 213 Vgl. oben, Fußnote 26 und 27. 214 Grenzen 1902, S. 408. 215 Grenzen 1902, S. 408–409.
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rung [ist], die in manchen ‚modernen Schriften‘ über das Wesen der historischen Methode herrscht“216. a) Er denkt an erster Stelle an die Debatte über die Milieu-Theorie von Hippolyte Taine, mal unterstützt, mal angefeindet aufgrund der irrigen Annahme, dass sie die Möglichkeit beinhalte, das logische Wesen der Geschichte jenem der Naturwissenschaften anzugleichen. Aber bei genauer Betrachtung kann das Milieu „gar nichts anderes bedeuten als das Ganze, zu dem ein Individuum als Teil gehört, und es ist daher auch ein einmaliges, individuelles Objekt. Selbst wenn man daher annehmen wollte, daß jedes einzelne Individuum vollständig durch das Milieu bestimmt wird, so würde deshalb die Geschichte noch immer nicht aufhören, die Wissenschaft vom Besonderen und Individuellen zu sein. Sie hätte dann die Aufgabe, das Milieu an den verschiedenen Stellen des Raumes und der Zeit in seiner Individualität und Besonderheit darzustellen, und die überall individuellen Beziehungen aufzuzeigen, in denen die verschiedenen Individuen zu ihrem Milieu stehen. Oder ist das Bestimmtwerden dieses besonderen Individuums durch dieses besondere Milieu nicht ein ganz individueller, nur einmal dagewesener und niemals wiederholbarer Vorgang? Mag also die Theorie des Milieu falsch oder richtig sein, an dem logischen Wesen der Geschichtswissenschaft wird dadurch nichts geändert“217. Diese Rückführung auf das rechte Maß erlaubt dem Historiker im Übrigen gegenüber der Milieu-Theorie seine volle Freiheit als Fachwissenschaftler wiederzuerlangen. Denn diese (um es mit Weber zu sagen) habe sich von einem nützlichen heuristischen Instrument zu einer Bedrohung der „historischen Wahrheit“ gewandelt, „wenn sie nicht Vorarbeit, sondern Abschluß der Untersuchung zu sein beanspruch[t]“218. Der Historiker „wird immer für jeden besonderen Fall zu 216 Grenzen 1902, S. 407. 217 QMUH, S. 133; VAAG, S. 747–748. Die Passage nimmt nicht nur Bezug auf die Individualität des Milieus, verstanden als konkretes Ganzes, von dem das Individuum ein Teil ist (d.h. auf den historischen Zusammenhang als einfacher, statischer ‚Kontext‘), sondern auch auf die Individualität des Prozesses, mit dem das Milieu das Individuum bestimmt oder bedingt, das ein Teil von ihm ist (d.h. auf den historischen Zusammenhang als dynamischer ‚historischer Kausalzusammenhang‘). In den Grenzen thematisiert Rickert die Milieu-Theorie ausdrücklich aus dieser letzten Perspektive, also ausgehend von der Unterscheidung zwischen Naturgesetzmäßigkeit und historischer Kausalität. Vgl. Grenzen 1902, S. 424–427. Der gleiche Standpunkt beherrscht auch die kurze und interessante Rezension Rickerts zu Die Theorie des Milieu von Eugénie Dutoit, Bern, 1899 (in „Deutsche Literaturzeitung“, Nr. 23 vom 6. Juni 1903, Reihe 1399–1400). 218 PEGK, S. 206. Webers Hervorhebung am Ende des Aufsatzes über die protestantische Ethik betrifft (wie man weiß) nicht die Milieu-Theorie, sondern jene Theorien, die eine kausale Interpretation des historischen Werdens in einseitig ‚materialistischem‘ Sinn oder in einseitig ‚spiritualistischem‘ Sinn verfolgen. Einerseits schließt diese Beobachtung jede
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untersuchen haben, ob die historisch wesentlichen Wirkungen von einzelnen Individuen oder vom Milieu ausgehen, und es ist gar nicht einzusehen, wie das vor der Feststellung der individuellen Ereignisse an dem besonderen Ort und zu der besonderen Zeit entschieden werden sollte“219. b) Nach Rickerts Ansicht beherrscht die Verwechslung von der Allgemeinheit der konkreten Totalität und der Allgemeinheit des naturwissenschaftlichen Begriffs auch die von Lamprecht vorgeschlagene Unterscheidung zwischen einer „alten Richtung“ der Geschichtswissenschaft, die als „individualistisch“ charakterisiert wird, und einer „neuen Richtung“ der Geschichtswissenschaft, die dagegen als „kollektivistisch“ sei und sich aus diesem Grund an die Methoden und Verfahren der Naturwissenschaften angleicht220. Lamprecht behauptet in der Tat, dass die erste Richtung (vertreten auf höchstem Niveau von Ranke und seiner Schule) „den Menschen als gesellschaftlichen Gattungsbegriff“ grundsätzlich ablehnt und „am Menschen nur das von diesem Gattungsbegriff angeblich unabhängige Singuläre“221 sieht, wogegen sich die zweite Tendenz – welche die Kulturgeschichte so charakterisiert, wie er sie versteht, und die danach strebt, die Geschichte zur vollen Wissenschaftlichkeit der generalisierenden Wissenschaften zu erheben – bewusst ist, dass „in jeder sozialen Bildung ein Gesamtwille, ein Gesamtgefühl, ein Gesamtkomplex von Vorstellungen und Begriffen“ besteht, und es daher für zulässig hält, „die Personen, welche dieses Gebilde ausmachen, insofern sie eben dies thun, als identisch zu betrachten“, als „Mitglieder dieses Gebildes“222. Einmal völlig abgesehen von dem komplexen Problem, diese Thesen in den im späten 19. Jahrhunderten währenden Methodenstreit der Geschichte und zugleich der Psychologie einzuordnen223, ist hier eher darauf hinzuweisen, dass Rickert ihnen gegenüber grobe Deutung seines Werks als schlichte und einfache Umkehr des historischen Materialismus unmittelbar aus. Andererseits ist, was Weber beunruhigt, nicht so sehr die Einseitigkeit der explikativen Hypothese (die ihm nicht nur möglich scheint, sondern sogar erstrebenswert: Man denke nur an den Bildungsprozess der Idealtypen), sondern vielmehr der Anspruch sic et simpliciter diese Einseitigkeit auf das Ergebnis der historischen Untersuchung zu übertragen. 219 QMUH, S. 133; VAAG, S. 748. 220 Vgl. K. Lamprecht, Alte und neue Richtungen in der Geschichtswissenschaft, Berlin, 1896 und ders., Was ist Kulturgeschichte? Beitrag zu einer empirischen Historik, in „Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“, N.F., 1896–1897, 1, S. 75–150. 221 K. Lamprecht, Was ist Kulturgeschichte, zitiert aus K. Lamprecht, Ausgewählte Schriften zur Wirtschafts- und Kulturgeschichte und zur Theorie der Geschichtswissenschaft, Aalen, 1974, S. 257–327, S. 260. 222 Ebd., S. 264. 223 Zu dieser Frage vgl. insb.: G. Cacciatore, Crisi dello storicismo e „bisogno“ di „Kulturgeschichte“: il caso Lamprecht, in „Archivio di storia della cultura“, I (1988), S. 257–281;
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leichtes Spiel hat, wenn er betont, dass „auch das Kollektivum […] ja kein allgemeiner Begriff, sondern ein individuelles Ganzes“224 ist und folglich die Mitglieder eines Kollektivums ganz und gar nicht gleichgesetzt werden können mit den identischen Exemplaren eines Gattungsbegriffs. „Individualistisch verfährt die Geschichte daher sowohl, wenn Kollektiva, als auch wenn einzelne Persönlichkeiten ihr Objekt sind, denn sie stellt die Besonderheit und Individualität eines bestimmten historischen Kollektivums an bestimmtem Ort und zu bestimmter Zeit dar und versucht niemals, ein System allgemeiner Begriffe zu bilden, in welchem das zu allen Zeiten und an allen Orten sich Wiederholende enthalten ist“225. Der Versuch, den „Gegensatz von individualistischer und kollektivistischer Geschichtsschreibung“ als einen „methodischen“ Unterschied226 zu denken, der die spezifischen Erkenntnisziele, die die Geschichte gegenüber den Naturwissenschaften auszeichnen, außer Kraft setzt, ist also abzulehnen. Der Gegensatz ist vielmehr als ein „sachlicher Unterschied“227 aufzufassen, welcher im Übrigen niemals hätte zu einer Prinzipienfrage verschärft werden dürfen. Es gibt in der Tat keinen Zweifel darüber, dass die Geschichte „,kollektivistisch‘ verfährt“, „wenn sie nicht nur die Einzelnen, sondern auch die Massenbewegungen berücksichtigt“, was „bei bestimmten Vorgängen, wie den wirtschaftlichen, vor allem nötig sein [mag], während die politischen oder künstlerischen Entwicklungen ohne Berücksichtigung auch der einzelnen Persönlichkeiten sich wohl nicht werden verstehen lassen“228. Und trotzdem darf Ders., I „principi“ della Kulturgeschichte, in „Archivio di storia della cultura“, V (1992), S. 315–324; Ders., Karl Lamprecht und die „Kulturgeschichte“ im Rahmen des Nachdenkens über die überlieferten Paradigmen der Theorie der Geschichte, in G. Diesener (Hg.), Karl Lamprecht weiterdenken. Universal- und Kulturgeschichte heute, Leipzig, 1993, S. 335–351; Ders., Karl Lamprecht an den Ursprüngen der Sozialgeschichte, in „Geschichte und Gegenwart“, XII (1993), 3, S. 131–140. Siehe außerdem A. Giugliano, La storia della cultura tra Gothein e Lamprecht, Soveria Mannelli (Catanzaro), 1998 (hier finden sich auch weitere bibliographische Hinweise) und F. Tessitore, Storicismo e storia della cultura (2003), in ders., Altri contributi alla storia e alla teoria dello storicismo, Rom, 2007, S. 129–185, insb. S. 134–140. 224 QMUH, S. 133; VAAG, S. 748. 225 QMUH, S. 134; VAAG, S. 749. 226 Ebd. 227 Ebd. 228 QMUH, S. 133; VAAG, S. 748. „Ist es ein Fehler, bei Bismarck anzufangen?“ – Fragt sich ironisch der englische Historiker Gordon Craig in dem brillanten Anfang des ersten Kapitels von Germany 1866–1945 (veröffentlicht 1978 in der Reihe „Oxford History of Modern Europe“) – „So viel und so nachdrücklich wird heute über die vorrangige Bedeutung wirtschaftlicher und sozialer Kräfte in der Geschichte geschrieben, daß man Gefahr läuft, als altmodisch zu gelten, wenn man der Persönlichkeit zu großes Gewicht beimißt. Es ist jedoch gewiß unnötig, sich für die Nennung des Namens Bismarck am Anfang
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man wegen dieser empirischen Generalisierungen, auch wenn sie weitgehend gültig sind, nicht vergessen, dass jedenfalls „immer nur von Fall zu Fall entschieden werden [kann], was die Kollektiva und was die einzelnen Individuen für den Verlauf der Ereignisse bedeuten“, während „Theorien, die dies vor der historischen Spezialuntersuchung für alle Fälle entscheiden und zum methodischen Grundsatz machen wollen, […] nur dazu dienen [können], die Geschichte zu fälschen“229. Gewiss, Rickert steht persönlich der ‚alten Richtung‘ der Geschichtsschreibung näher, welche überhaupt nicht mit dem stereotypen Bild übereinstimmt, das Lamprecht von ihr zeichnet, denn – „wo die Sache es verlangte“ – haben ihre größten Vertreter gezeigt, dass sie in der Lage sind, die Grenzen der pragmatischen Geschichtsschreibung zu überwinden, das Milieu durchaus zu berücksichtigen und auf kollektivistische Weise zu verfahren und zwar schon „ehe die Schlagworte dafür erfunden waren, und gerade diese Schlagworte können der Geschichtswissenschaft nur schaden“230. dieses Buches zu entschuldigen. Die Einigung Deutschlands hätte wahrscheinlich auch stattgefunden, wenn er nie an die Spitze der preußischen Politik getreten wäre, sicher aber nicht zum selben Zeitpunkt und nicht ganz auf demselben Wege. Was immer sich auch über die Bewegung ökonomischer Kräfte sagen läßt, die Tatsache ist nicht zu leugnen, daß die Entscheidung über die Gestalt eines geeinten Deutschlands nicht auf dem Felde der Wirtschafts- und Handelspolitik fiel, sondern am 3. Juli 1866 auf dem Schlachtfeld von Königgrätz; es hieße, sich etwas vormachen, wollte man bestreiten, daß die versprengten Reste von Benedeks Armee, als sie sich an jenem düsteren Nachmittag unter dem Feuerschutz ihrer Artillerie um Elbeufer zurückzogen, den Triumph der Politik Bismarcks bezeugten“ (G. Craig, Deutsche Geschichte 1866–1945, München, 1999, S. 15). 229 QMUH, S. 133–134; VAAG, S. 748. 230 QMUH, S. 134; VAAG, S. 748. In den Grenzen vertieft Rickert dieses Thema und diskutiert kritisch Lamprechts Forderung, der ‚alten Richtung‘ der Geschichtsschreibung eine atomistische Geschichtsauffassung zuzuschreiben, die direkt von der individuellen Psychologie des 17./18. Jahrhunderts abgeleitet ist. Diese Psychologie, schreibt Lamprecht, „sah in dem Atom ebenso wenig ein Abstraktum, wie in der ganz auf sich gestellten Einzelperson, sondern vielmehr das allein vorhandene, das erklärende Konkretum“ (K. Lamprecht, Was ist Kulturgeschichte?, op. cit., S. 260). Gerade hierin wurzelt nach Lamprechts Ansicht jener Atomisierungsprozess des historischen Werdens, der die alte individualistische Geschichtsschreibung auszeichnet und gegen den nur die neue kollektivistische Geschichtsschreibung Abhilfe schaffen kann, die gegründet ist auf der sozialen Psychologie, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Bezüglich dieser Argumente stellt Rickert vor allem klar, dass der Ausdruck ‚Atom‘ (da er das Ergebnis einer auf die Spitze getriebenen generalisierenden Begriffsbildung der Wirklichkeit ist) logischerweise an den Antipoden des Ausdrucks ‚Individuum‘ einzuordnen ist, selbst wenn er in seiner einfachsten Bedeutung verstanden wird, also in Bezug auf den einzigartigen und unwiederholbaren Charakter jeder wirklichen Sache und jedes wirklichen Prozesses. Aber dann riskiert gerade Lamprechts ‚neue Geschichtsschreibung‘ – mit ihrer Tendenz zur Verwechslung des ‚Allgemeinen‘ als individuelles Ganzes, von dem die einzelnen Individuen Teile sind,
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Und trotzdem ist Rickert genauso streng gegenüber jenen, die sich anmaßen, polemisch den Satz, „daß die Geschichte die Wissenschaft vom Besonderen und Individuellen ist“, mit der Behauptung, „daß einzelne Persönlichkeiten die Geschichte ‚machen‘“, gleichzusetzen231. „Das wäre auch eine unhistorische Verallgemeinerung, vor der man sich ebenso hüten sollte, wie vor der entgegengesetzten, daß niemals ein Einzelner von ausschlaggebender Bedeutung für den Gang der Entwicklung sei. ‚Individualistisch‘ kann die Geschichte nur in dem Sinne genannt werden, da sie die Individualität bestimmter räumlich und zeitlich begrenzter Zustände und Ereignisse darstellt. […] ‚Individualistische‘ Geschichte in dem Sinne, daß sie den Zusammenhang der Teile mit dem Ganzen völlig ignoriert, gibt es dagegen nicht“232. Jenseits der soeben hervorgehobenen Übereinstimmungen über die Notwendigkeit, dass die Geschichtswissenschaft sorgfältig vermeiden muss, ihre eigenen Forschungshypothesen zu verabsolutieren, gibt es keinen Zweifel daran, dass auch die dritte von Rickert festgestellte Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte für Weber von großer Bedeutung ist. In ihrer dynamischen Projektion, als Problem des ‚historischen Kausalzusammenhangs‘ nämlich, stellt sie sogar die logische Voraussetzung für Webers Überzeugung dar, dass das Ziel jeder empirischen Kulturwissenschaft „die Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrer Kulturbedeutung und ihrem kausalen Zusammenhang“ ist233. Es handelt sich dabei aber um eine Überzeugung, die er auf eine Weise behandelt, die und des ‚Allgemeinen‘ als Gattungsbegriff, von dem die einzelnen Individuen Exemplare sind – dem seit langer Zeit von der spezialisierten historischen Untersuchung überwundenen aufklärerischen historischen Atomismus wieder Luft zu geben. „Es genügt jedoch ein Hinweis darauf, dass jeder Versuch, in den geschichtlichen Individuen nach naturwissenschaftlicher Methode lediglich Exemplare eines Gattungsbegriffes zu erblicken, sie als ‚Massenerscheinungen‘ zu behandeln und in der Masse verschwinden zu lassen, auf das Engste mit jenen atomisirenden Aufklärungsgedanken verwandt ist, denen jedes Verständnis für die bedeutungsvolle Eigenart des Einmaligen und Besonderen fehlt. Nur für eine naturwissenschaftliche Auffassung wird die menschliche Gesellschaft zu einem Komplex von einander gleichen, also atomartigen Wesen. Diesem unhistorischen atomisirenden Verfahren ist daher das individualistische geschichtliche Verfahren gegenüberzustellen, und nur die individualistische, niemals aber die naturwissenschaftliche Methode kann uns von den unhistorischen Abstraktionen der Aufklärungsphilosophie befreien. Die Vertreter der ‚alten‘ Richtung haben denn auch längst den Atomismus in der Geschichte überwunden, die Vertreter der ‚neuen‘ Richtung dagegen bleiben in der von ihnen mit Worten so lebhaft bekämpften Aufklärungsphilosophie stecken, die Atome nicht von Individuen unterscheiden kann, und sie sind daher die eigentlichen ‚Alten‘“ (Grenzen 1902, S. 406). 231 QMUH, S. 134; VAAG, S. 748. 232 QMUH, S. 134; VAAG, S. 748–749. 233 Vgl. oben, Fußnote 115.
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Rickert und jeder neukantianischen Kulturphilosophie sehr fremd ist, denn er ist sehr bemüht, durch seine scharfsinnigen Analysen zu zeigen, dass das universalgeschichtliche Werden – von welchem Wertgesichtspunkt aus man es auch angeht – in Wirklichkeit der Ort der verschiedensten und zwitterhaftigsten Verflechtungen zwischen den Prozessen der kausalen Bedingung und den Prozessen der Sinnzuweisung ist234. Aber es gibt bei Weber auch klare Bezüge auf die dritte Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte in ihrer statischen Projektion: nämlich betrachtet als jener individuelle Zusammenhang, in den jedes historische Individuum eingefügt ist, und noch zuvor als jener individuelle Zusammenhang, den jedes historische Individuum bereits in sich selbst einschließt. a) Man braucht hier nur daran zu erinnern, dass Weber häufig den Terminus „Konstellation“ benutzt, um die Gesamtheit der Faktoren zu bezeichnen, die „zu einer geschichtlich für uns bedeutsamen Kulturerscheinung gruppiert“, d.h. zu einem historischen Individuum gruppiert sind235. b) Man beachte aber auch den Beginn des Aufsatzes über Roscher und Knies, wo Weber behauptet, dass das „spezifische historische Mittel“ der historischindividualisierenden Wissenschaften – „Wohlgemerkt: nicht ihr ausschließlich oder auch nur überwiegend verwendetes Mittel, sondern dasjenige, welches sie von den exakten Naturwissenschaften unterscheidet“ – nicht durch Gattungsoder Gesetzesbegriffe dargestellt wird, sondern durch „Begriffe […], welche die konkrete historische Erscheinung einem konkreten und individuellen, aber möglichst universellen Zusammenhang einordnen“236. Genauso meint Weber in dem Aufsatz über die Objektivität der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis, der „Ausgangspunkt des sozialwissenschaftlichen Interesses [in seinem Sinne] ist nun zweifellos die wirkliche, also individuelle Gestaltung des uns umgebenden sozialen Kulturlebens in seinem universellen, aber deshalb natürlich nicht minder individuell gestalteten, Zusammenhange“237. c) Und auch der Aufsatz über die protestantische Ethik schließlich weist einen klaren Bezug zu der Allgemeinheit des individuellen Zusammenhangs als charakterisierendem Aspekt 234 Hierzu verweise ich auf den letzten Teil des zweiten Abschnitts der zweiten Studie dieses Buches. 235 OssE, S. 174. Vgl. A. Albrecht, ‚Konstellationen‘. Zur kulturwissenschaftlichen Karriere eines astrologisch-astronomischen Konzepts bei Heinrich Rickert, Max Weber, Alfred Weber und Karl Mannheim, in „Scientia Poetica“, 14 (2010), S. 104–149. 236 RuK, S. 6 und Fußnoten. Weber stellt hier solche Begriffe mit stets reicherem Inhalt und geringerer Ausdehnung den Gattungs- und Gesetzesbegriffen mit stets größerer Ausdehnung und geringerem Inhalt gegenüber. Er übernimmt also nicht Rickerts Vorschlag, die umgekehrte Proportionalität von Ausdehnung und Inhalt auf die naturwissenschaftlichen Begriffe zu begrenzen (vgl. oben, Fußnoten 214 und 215). 237 OssE, S. 172.
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der geschichtlichen Begriffsbildung auf. Dies geschieht gleich zu Beginn, in einer sehr feinfühligen Passage, in der Weber zeigt, dass er sich durchaus des möglichen metaphysisch-emanatistischen Abdriftens des „etwas anspruchsvoll klingende[n] Begriff[s]: ‚Geist des Kapitalismus‘“238 bewusst ist und deswegen versucht, diesem zuvorzukommen, indem er seine empirische Herkunft, aber auch seine besondere logische Struktur betont. Mit diesem Versuch spielt Weber nicht nur auf den Wertgesichtspunkt an, der notwendigerweise die historisch-individualisierende Begriffsbildung der empirischen Wirklichkeit leitet, sondern auch auf eine andere (mit der ersten unlöslich verwobene) Eigenschaft dieser Art der Begriffsbildung, welche – im Unterschied zur naturwissenschaftlichen – nicht nach der Allgemeinheit der Gattungsbegriffe strebt, sondern nach der Allgemeinheit des individuellen Zusammenhangs, in den jedes historische Individuum eingefügt ist und den jedes historische Individuum in sich selbst einschließt. „Wenn überhaupt ein Objekt auffindbar ist, für welches der Verwendung jener Bezeichnung [jener des ‚Geist des Kapitalismus‘] irgendein Sinn zukommen kann, so kann es nur ein ‚historisches Individuum‘ sein, d.h. ein Komplex von Zusammenhängen in der geschichtlichen Wirklichkeit, die wir unter dem Gesichtspunkte ihrer Kulturbedeutung begrifflich zu einem Ganzen zusammenschließen. Ein solcher historischer Begriff aber kann, da er inhaltlich sich auf eine in ihrer individuellen Eigenart bedeutungsvolle Erscheinung bezieht, nicht nach dem Schema: ‚genus proximum, differentia specifica‘ definiert (zu deutsch: ‚abgegrenzt‘), sondern er muß aus seinen einzelnen der geschichtlichen Wirklichkeit zu entnehmenden Bestandteilen allmählich komponiert werden. Die endgültige begriffliche Erfassung kann daher nicht am Anfang, sondern muß am Schluß der Untersuchung stehen: es wird sich m.a.W. erst im Lauf der Erörterung und als deren wesentliches Ergebnis zu zeigen haben, wie das, was wir hier unter dem ‚Geist‘ des Kapitalismus verstehen, am besten – d.h. für die uns hier interessierenden Gesichtspunkte adäquatesten – zu formulieren sei. […] Das liegt eben im Wesen der ‚historischen Begriffsbildung‘, welche für ihre methodischen Zwecke die Wirklichkeit nicht in abstrakte Gattungsbegriffe einzuschachteln, sondern in konkrete Zusammenhänge von stets und unvermeidlich spezifisch individueller Färbung einzugliedern strebt“239.
238 PEGK, S. 30. 239 PEGK, S. 30–31. Nur in der Auflage von 1920 wird „konkrete Zusammenhänge“ durch das spezifischere „konkrete genetische Zusammenhänge“ ersetzt.
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VI. Das Zusammenfassen in Gruppen oder die vierte Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte Macht man sich einen Überblick von den bisherigen drei von Rickert festgestellten Arten des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte – das heißt die Allgemeinheit der Begriffselemente der historischen Begriffsbildung, die Allgemeinheit der Bedeutung der historischen In-dividuen und die Allgemeinheit des historischen Zusammenhangs –, wird schnell klar, dass „das Allgemeine in der Geschichte entweder überhaupt kein allgemeiner Begriff [ist], wie die Naturwissenschaft ihn bildet, oder wenn es wirklich ein allgemeiner Begriff ist, so wird es nur als Mittel zur Darstellung des Individuellen und Besonderen benutzt“240. Dies lässt sich jedoch nicht auf jene vierte Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte übertragen, die umfassend in dem sechsten Abschnitt des vierten Kapitels der Grenzen untersucht wird, der nicht ohne eine gewisse Zweideutigkeit die Überschrift „Die naturwissenschaftlichen Bestandtheile in der Geschichte“ trägt. Rickert schreibt dazu: „In diesem letzten Falle sind es nun wirklich Begriffe mit allgemeinem Inhalt, die nicht nur als Mittel, sondern als Zweck der Darstellung in jeder geschichtlichen Untersuchung ihren Platz finden.“241 Allein diese Formulierung aus dem Aufsatz von 1901 macht deutlich, dass die vierte Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte ganz und gar nicht mit der ersten identisch ist. In den Grenzen stellt Rickert dies explizit klar, um zu verhindern, dass seine logischen Untersuchungen über die „naturwissenschaftlichen Bestandtheile in der Geschichte“ von Beginn an missverstanden werden. Die fraglichen Untersuchungen befassen sich nicht mit den „allgemeinen Elementen der historischen Begriffe“, die – seien es einfache allgemeine Wortbedeutungen, die bereits in der der vorwissenschaftlichen Entwicklung der Sprache verwurzelt sind, oder komplizierte evolutive Gesetze, die das Ergebnis spezialisierter Arbeit der Naturwissenschaften sind, – in jedem Fall in der Geschichte „nur Mittel“ sind242; sondern sie drehen sich vielmehr um die Situation, die jedes Mal entsteht, „wenn ein Begriff mit einem im naturwissenschaftlichen Sinne allgemeinen Inhalt wirklich zugleich eine erschöpfende historische Darstellung giebt“243, und sich also nicht als ein Mittel und schon 240 QMUH, S. 135; VAAG, S. 749–750. 241 QMUH, S. 135; VAAG, S. 750. 242 Grenzen 1902, S. 481. 243 Grenzen 1902, S. 485. Es ist klar, dass diese Situation nicht jedesmal eintritt, wenn die historische Darstellung den eigenen Inhalt mit einem allgemeinen Begriff bezeichnet.
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gar nicht als ein unumgängliches Mittel darstellt, sondern als das eigentliche Ziel der oben genannten Darstellung. Welches aber sind die Fälle, in denen ein allgemeiner Begriff im naturwissenschaftlichen Sinne eine erschöpfende historische Darstellung liefert? In dem Aufsatz von 1901 erklärt Rickert dies sehr eindrucksvoll, indem er sich bemüht, „solche Gedanken“ auszudrücken, die „dem Leser vielleicht schon als Einwand gegen unsere Ausführungen über das milieu und die Kollektiva gekommen“ sind244. Wenn es daraufhin sogar notwendig war, „das dritte Allgemeine zuerst einmal von einem Begriff mit allgemeinem Inhalt zu scheiden, mit dem es oft verwechselt wird, so werden wir nun doch sagen müssen, daß jedesmal, wenn ein allgemeiner Zusammenhang, ein ‚milieu‘ oder ein Kollektivum in der Untersuchung vorkommt, dies zum Teil wenigstens auch in einem Begriff dargestellt werden wird, der einen allgemeinen Inhalt hat, und unter den daher eine Mehrheit von Teilen des ganzen Zusammenhanges zugleich als Exemplar fällt“245. Das ist der Fall, wenn die historische Darstellung von den ‚Soldaten‘ einer Schlacht, den ‚Bauern‘ einer Gegend oder den ‚Parlamentariern‘ einer politischen Gruppe spricht, aber auch, wenn sie „Individuen [nennt], die ‚typisch‘ in dem Sinne des Wortes sind, dass sie den Durchschnitt einer Gruppe erkennen lassen“, und beispielsweise meint, dass eine einzelne Person wirkungsvoll die Eigenschaften der Schicht, der sie angehört, darstellt, oder dass ein einzelnes Dokument der Vergangenheit, nehmen wir an „eine einzelne Rechnung“, hinweisend auf „die Lebenshaltung ganzer Klassen“246 ist. Ein derartiges Verfahren hat sicher nicht den Charakter der logischen Notwendigkeit, denn „das Ganze ist ja stets etwas Individuelles und der ‚allgemeine‘ Zusammenhang könnte daher auch so dargestellt werden, daß für jeden indi-
Wenn man also „Luther einen echten Deutschen“ nennt, spielt man auf einen Begriff der „deutschen ‚Volksseele‘“ an, welche – „wenn sie für den Historiker überhaupt etwas bedeutet“ – gewiss kein „allgemeiner Gattungsbegriff“ ist, für den Luther ein Beispiel wie jeder andere Deutsche auch wäre. Vielmehr ist sie „ein sich im Laufe der Geschichte unaufhörlich verändernder individueller Entwicklungsprozess, und sie [die Volksseele] gewinnt ihre charakteristischen Züge erst allmählig Schritt für Schritt durch die individuellen historischen Ereignisse“, zu denen zweifelsohne die großen Persönlichkeiten Luther, Goethe, Bismarck usw. zu zählen sind, und zwar nicht wegen dem, was sie mit „dem Durchschnittsexemplar eines Deutschen“ gemeinsam haben, sondern wegen dem, was sie von jenen unterscheidet (Grenzen 1902, S. 483–484). In anderen Worten, ein allgemeiner Ausdruck kann sowohl die Allgemeinheit eines Gattungsbegriffs als auch die Allgemeinheit einer historisch-individuellen Verbindung bezeichnen. 244 QMUH, S. 136; VAAG, S. 750. 245 QMUH, S. 135–136; VAAG, S. 750. 246 Grenzen 1902, S. 487.
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viduellen Teil ein individueller Begriff gebildet würde“247. Aber „faktisch wird das die Geschichte nicht tun“, und sie hat gute Gründe dafür, „weil nicht jeder Teil in seiner Eigenart historisch bedeutsam ist, und es werden daher bei weitem die meisten Teile jedes umfassenden Ganzen in Gruppen zusammengefaßt und dann unter Begriffe gebracht werden, die nur das allen Teilen der Gruppe Gemeinsame enthalten“248. Es erscheint sogar „logisch denkbar, daß der Geschichte an einem umfassenden historischen Ganzen nichts von dem wesentlich ist, was nur an einem einzelnen oder an wenigen seiner Teile sich findet, so daß alles Wichtige zugleich allen Gliedern des Ganzen gemeinsam ist“: In einer solchen Grenzsituation, der sich die ökonomisch-soziale Geschichte stärker annähert als die politische, „würde auch die historische Darstellung aus lauter Begriffen mit allgemeinem Inhalt bestehen“249, also aus allgemeinen Begriffen im naturwissenschaftlichen Sinn. Nun geht es Rickert aber gar nicht darum, in Zweifel zu ziehen, dass „bei den bei weitem meisten historischen Vorgängen auch die namenlosen Massen von Bedeutung sind“250, es geht also nicht darum zu widerlegen, dass Begriffsbildungen mit allgemeinem Inhalt berechtigterweise in jeder historischen Darstellung vorhanden sind. Das Problem ist vielmehr festzustellen, ob bei der Bildung dieser Begriffe „die Geschichte naturwissenschaftlich verfährt, und daß daher diese Begriffe die Grenze zwischen Naturwissenschaft und Geschichte verwischen“251. Auf diese Frage gibt Rickert eine negative Antwort, die er auf verschiedenen Ebenen ausführt. Rickert bemerkt zunächst, dass „die Geschichte es niemals zum Prinzip machen [kann], nur allgemeine Begriffe bilden zu wollen“252. a) Die Dinge könnten nur anders stehen – schreibt er in den Grenzen –, wenn sie in der Lage wären Folgendes zu beweisen: „Es giebt keinen einzigen leitenden Werthgesichtspunkt, den alle anerkennen, und mit Rücksicht auf den das nur an einem Objekt Vorhandene geschichtlich wesentlich werden kann, sondern alle Gesichtspunkte, unter denen eine für alle gültige Darstellung möglich ist, schliessen nur das einer Gruppe oder Masse Gemeinsame zu einer individuellen Einheit zusammen“253. Aber um das zu widerlegen, braucht man nur einen Blick in eine Biographie von Napoleon oder Goethe zu werfen. b) Die Situa247 QMUH, S. 136; VAAG, S. 750. 248 Ebd. 249 Ebd. 250 Ebd. 251 QMUH, S. 135; VAAG, S. 750. 252 QMUH, S. 136; VAAG, S. 751. 253 Grenzen 1902, S. 504.
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tion ändert sich nicht, auch wenn man spitzfindig die geschichtliche Irrelevanz dessen zu beweisen versucht, was nur individuell ist, indem man einerseits die kausale Bedingtheit jedes historischen Ereignisses unterstreicht und andererseits behauptet, „historisch wesentlich sei nur das, was auf die Masse wirkt“254. Daraufhin fragt sich Rickert in dem Aufsatz von 1901: „Aber selbst wenn dies richtig wäre, wirkt etwa nur das auf die Masse, was der Masse gleich ist? Haben Voltaire und Napoleon für die französische Kulturentwicklung, haben Goethe und Bismarck für die deutsche Geschichte nur durch das geschichtliche Bedeutung, was sie mit allen ihren Landsleuten ihrer Zeit gemeinsam haben?“255 Es ist klar, dass die Dinge nicht so liegen und dass die Geschichte „niemals vor der Untersuchung wissen [kann], ob nicht von einem einzigen Individuum Wirkungen ausgehen, die allein von der Einzigartigkeit dieses Individuums abhängen und doch von ungeheurer Bedeutung für Jahrtausende werden“256. c) In den Grenzen erarbeitet Rickert auch eine scharfsichtige Interpretation für die Gründe, die einen Wissenschaftler dazu bringen, die unhaltbare These der historischen Irrelevanz all dessen, was rein individuell ist, zu stützen. „Diese Ansicht kann in zwei Formen auftreten. Zunächst kann man behaupten, es entspringe das Interesse am rein Individuellen und an den Wirkungen, die es ausübt, einer blossen Neugierde und habe daher mit dem wissenschaftlichen historischen Interesse nichts zu thun. Zu dem selben Resultat gelangt man ferner auch dadurch, dass man zwar die Berechtigung des Interesses am Individuellen anerkennt, aber trotzdem verlangt, dass der wissenschaftliche Historiker auf seine Darstellung verzichte, weil es sich in allgemeine Begriffe nicht bringen lasse und daher einer wissenschaftlichen Darstellung unzugänglich sei“257. Nach Rickerts Ansicht beruhen diese scheinbar ähnlichen Behauptungen in Wirklichkeit auf sehr unterschiedlichen Gründen. d) Hinter der Gleichsetzung des Interesses für das rein Individuelle mit der „Neugierde“ steht keinerlei methodologischer Gesichtspunkt. „Es sind irgendwelche mehr oder weniger klaren ‚Weltanschauungen‘, ja bisweilen sogar wohl nur persönliche Stimmungen oder politische Vorurtheile, welche hier die Aufgaben der Geschichte feststellen wollen“ und zwar aufgrund einer Abneigung „gegen Menschen, die sich durch ihre Eigenart aus der Masse hervorheben“258. Aber „die Thorien, in denen derartige Elemente eine Rolle spielen, sind nothwendig ebenso werthlos wie die entgegengesetzten Ansichten, welche sich auf einen 254 QMUH, S. 136–137; VAAG, S. 751. 255 QMUH, S. 137; VAAG, S. 751. 256 QMUH, S. 136; VAAG, S. 751. 257 Grenzen 1902, S. 501. 258 Ebd.
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extremen ‚Individualismus‘ gründen und deshalb eine geschichtliche Darstellung wünschen, die nur von einzelnen Individuen spricht, alle geschichtlichen Gruppen- oder Massenbewegungen dagegen verachtet“259. Sowohl der „individualistische“ als auch der „kommunistische“ Standpunkt maßen sich in der Tat an, ohne jeden Vorbehalt „das Sympathische“ mit dem „historisch Wesentlichen“ gleichzusetzen, wobei es – man beachte – gar nicht darum gehe zu leugnen, dass „manchen geschichtlichen Darstellungen die rein persönlichen Sympathien auch zu leitenden Prinzipien für die Auswahl des Wesentlichen werden“ (was, betont Rickert, „in gewisser Hinsicht nur unsere Theorie der historischen Begriffsbildung bestätigen“ kann), sondern vielmehr darum, den oben genannten Auswahlprinzipien, abgesehen von und vor der konkreten geschichtlichen Forschung, eine empirische Gültigkeit beizumessen, da man auf diese Weise die Unterscheidung von „Wertbeziehungen“ und „Werturteilen“ aus den Augen verliert und auf „jede wissenschaftliche Objektivität“ verzichtet260. e) Ganz anders sind die Motivationen jener, die die Ansicht vertreten, das Interesse für das Individuelle sei zwar wissenschaftlich begründet, aber zugleich wissenschaftlich unfruchtbar, da das absolut Individuelle nicht unter allgemeine Begriffe eingeordnet werden kann. Dies tritt – der Bezug auf Lamprecht ist hier offensichtlich – „gewöhnlich in der Form auf, dass gesagt wird, es sei der historische Ablauf der politischen Ereignisse allerdings zum großen Theil durch die individuelle Eigenart einzelner Persönlichkeiten bestimmt, aber eben deshalb wissenschaftlich nicht darstellbar, und es müsse daher die eigentliche wissenschaftliche Grundlage für die Geschichte durch eine Darstellung der Ereignisse gewonnen werden, welche nicht von der Individualität einzelner Persönlichkeiten abhängen. Diese eigentlich wissenschaftliche historische Darstellung wird dann gewöhnlich als ‚Kulturgeschichte‘ der politischen Geschichte gegenübergestellt“261. Als er sich explizit darauf beschränkt, die „rein logische Seite des Problems“ zu betrachten, bemerkt Rickert, dass sich hinter einem solchen Diskurs nicht nur ein sehr präziser methodologischer Gesichtspunkt verbirgt, sondern „ein Fanatismus der naturwissenschaft-
259 Grenzen 1902, S. 501–502. Und Rickert fährt fort: „Wir [d.h. unsere Auffassung von Geschichte als ‚individualisierende‘ Wissenschaft] haben mit einem ‚Individualismus‘ in diesem Sinn ebenso wenig wie mit seinem Gegentheil gemein“ (Grenzen 1902, S. 502). 260 Ebd. In diesem Abschnitt der Grenzen scheint Rickert (zumindest „in gewisser Hinsicht“, wie er sagt) eine Unterscheidung, aber keine klare Trennung zwischen ‚Wertbeziehungen‘ und ‚Werturteilen‘ zu machen, die objektiv jener Auffassung Webers sehr nahe ist, dass die letzte Voraussetzung der Kulturwissenschaften der Umstand ist, dass wir Kulturmenschen sind (vgl. oben, Fußnote 179). 261 Grenzen 1902, S. 502–503.
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lichen Methode“262. „Man denke: nicht das sachliche Interesse am Stoff soll in der Geschichte sich die zur Befriedigung dieses Interesses geeignete Methode schaffen und ihre logische Struktur bestimmen, sondern eine für ganz andere wissenschaftliche Zwecke ausgebildete und bereits feststehende Methode soll entscheidend sein, für welchen Stoff wir ein wissenschaftliches Interesse haben dürfen. Es giebt vielleicht nichts, was die Absurdität des Glaubens an das allein selig machende naturwissenschaftliche Verfahren in ein helleres Licht rücken kann, als der Hinweis auf dieses Unternehmen, die Alleinherrschaft des in allgemeinen Begriffen sich bewegenden Denkens zu rechtfertigen. Hier wird deutlich der eigentliche Nerv der ‚modernen‘ Geschichte blossgelegt […], d.h. es werden dem abstrakten Prinzip des Naturalismus zu Liebe, der allerdings eine andere als die naturwissenschaftliche Methode nicht anerkennen kann, die glänzendesten Leistungen, welche die Geschichte überhaupt aufzuweisen hat, aus der Liste der wissenschaftlichen Werke gestrichen“263. Aber der Umstand, dass die Geschichte aus Prinzip nie nur Gruppenbegriffe entwickeln kann, ist nicht das einzige Argument gegen die Behauptung, diese Begriffe würden die Grenze zwischen der naturwissenschaftlichen und der geschichtlichen Begriffsbildung auflösen. „Nehmen wir einmal an“, schreibt Rickert in seinem Aufsatz von 1901, „daß in einer geschichtlichen Darstellung nur Begriffe von Gruppen vorkommen, die das allen Teilen der Gruppe Gemeinsame enthalten, würden dies naturwissenschaftliche Begriffe sein?“264 a) Um seine eigene negative Antwort auf diese Frage zu begründen, erinnert Rickert zunächst daran, dass aus der Sicht der formalen Logik „die Begriffe des Allgemeinen und des Besonderen relativ sind“, wenn es wahr ist – wie es wahr ist –, dass „ein Allgemeines im Vergleich zu einem noch Allgemeineren etwas Individuelles bildet“265. Im Übrigen hat Rickert bereits in dem dritten Abschnitt des dritten Kapitels der Grenzen – welcher eine offensichtliche thematische Verbindung zu dem Abschnitt über „die naturwissenschaftlichen Bestandtheile in den historischen Wissenschaften“ zeigt, weil die Überschrift „die historischen Bestandtheile in den Naturwissenschaften“ trägt – hervorgehoben, dass verglichen mit den „absolut allgemeinen“ Begriffen der „letzten Naturwissenschaft“ (sowohl im Sinne der Mechanik des Äthers von Heinrich Hertz als auch im Sinne der „Energetik“ von Wilhelm Ostwald)266, 262 Grenzen 1902, S. 503–504. 263 Ebd. 264 QMUH, S. 137; VAAG, S. 751. 265 Ebd. 266 Zur Auseinandersetzung Rickerts mit den abweichenden Theorien von Hertz und Ostwald vgl. Grenzen 1902, Kap. I, § V, S. 99–123.
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alle anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen wenn auch auf unterschiedlichen Ebenen, so doch immer mit „relativ allgemeinen“ Begriffen arbeiten: Das gilt schon für die optische, akustische usw. Physik, die Begriffe gebraucht wie ‚Licht‘, ‚Schall‘ usw., welche bezogen auf die Bewegung der Atome gewiss etwas Individuelles oder etwas ‚Historisches‘ enthalten. Geht man in der anderen Richtung vor, kann man also die Begriffe, die die Biographie oder die politische Geschichte vorwiegend verwenden, als „absolut individuell“ oder „absolut historisch“ bezeichnen und von jenen „relativ individuellen“ oder „relativ historischen“ Gruppenbegriffen unterscheiden, die beispielsweise in der ökonomisch-sozialen Geschichte dominieren267. b) Auf der Basis solcher Betrachtungen lässt sich zweifelsohne behaupten, dass „auch der allgemeine Begriff einer Gruppe, die sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort findet, […] im Vergleich zu einem naturwissenschaftlichen Begriff etwas Besonderes enthält“268. Und trotzdem weiß Rickert genau, dass sich auf diese Weise kein wirklicher Ausweg finden lässt. Verbleibt man auf der Ebene der formalen Logik, bilden die relativ allgemeinen und die relativ individuellen Begriffe in aller Offensichtlichkeit nicht zwei getrennte Klassen, sondern durchdringen sich ohne dauerhafte Lösung und bestätigen so die Auflösung der Grenze zwischen naturwissenschaftlicher und geschichtlicher Begriffsbildung. c) Aber die Situation ändert sich radikal, wenn man – in Übereinstimmung mit dem was Rickert meint, wenn er von ‚logischer Erörterung‘269 spricht – nach dem ‚Zweck‘ jener Begriffe fragt und sie als Mittel und Instrumente betrachtet, die im Hinblick auf die Verwirklichung bestimmter Erkenntnisziele angewendet werden. In dieser Perspektive unterscheidet sich ein relativ individueller Begriff (zum Beispiel ‚Soldaten des napoleonischen Heeres‘) deutlich von einem relativ allgemeinen Begriff (zum Beispiel ‚Katze‘), denn er hat „den Zweck, […] nicht das allgemeine Wesen einer Gattung, sondern die Individualität einer Gruppe zum Ausdruck zu bringen“270 und zwar in Bezug auf einen allgemein anerkannten Wertgesichtspunkt. Gewiss, bei den relativ individuellen Begriffen kommt „das für alle Bedeutsame, also das historisch Wesentliche, zugleich auch an allen Teilen einer Gruppe“ vor271. Und 267 Vgl. Grenzen 1902, S. 492. Rickert schreibt weiter: „Wollten wir die Sache auf die Spitze treiben, so könnten wir sagen, dass auch die absolut historischen Begriffe, die sich auf ein einziges Individuum, z.B. auf eine Persönlichkeit, beziehen, bisweilen das einer Reihe von individuellen Zuständen dieser Persönlichkeit Gemeinsame enthalten und insofern auch einen allgemeinen Inhalt haben“ (Grenzen 1902, S. 492–493). 268 QMUH, S. 137–138; VAAG, S. 752. 269 Vgl. oben, Fußnote 6. 270 QMUH, S. 138; VAAG, S. 752. 271 Ebd.
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trotzdem: „Eine solche Koinzidenz des Bedeutsamen und des Gemeinsamen ist aber unter logischen Gesichtspunkten zufällig“272, während dagegen bei den relativ allgemeinen Begriffen der Naturwissenschaften das Gemeinsame als solches das Kriterium zur Unterscheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen darstellt. Diese wichtigen Betrachtungen, die auch bereits in dem Aufsatz von 1901 enthalten sind, werden in den Grenzen in einer Passage von beispielhafter Klarheit wieder aufgegriffen und weiter entwickelt, die es wert ist, in ihrer ganzen Länge zitiert zu werden: „In einem naturwissenschaftlichen Begriff gehören die Elemente zusammen, weil sie das mehreren Objekten Gemeinsame enthalten, und darauf beruht seine Geltung. Dieser Grund dagegen ist für die Einheit eines historischen Begriffes nie massgebend, wenn auch faktisch sein Inhalt aus dem mehreren Objekten Gemeinsamen besteht. Seine Geltung beruht vielmehr darauf, dass er das mit Rücksicht auf die leitenden Werthgesichtspunkte der geschichtlichen Darstellung Wesentliche enthält, denn das, und nur das, was in der angegebenen Weise zu einem Individuum, d.h. zu einer durch ihre Eigenartigkeit einheitlichen Mannigfaltigkeit wird, gehört in einen historischen Begriff, gleichviel ob er absolut oder relativ historisch ist. Die Geschichte würde jedes Interesse an einem allgemeinen Begriff verlieren, der nicht diese teleologische Einheit besitzt. Sie kann sich mit relativ historischen [oder relativ individuellen] Begriffen nur dann begnügen, wenn das teleologisch Wesentliche sich an allen Individuen einer bestimmten Gruppe findet, und daher ein allgemeiner Begriff schon die historische Individualität der Gruppe erschöpfend zum Ausdruck bringt, aber niemals kann es ihr einfallen, wie die Naturwissenschaft einen Begriffsinhalt mit Rücksicht darauf zusammenzustellen, dass er das einer Mehrheit von Individuen Gemeinsame umfassen soll. Wenn es also in der Geschichte immer Werthgesichtspunkte sind, die darüber entscheiden, was wesentlich ist und was nicht, so bleiben die Prinzipien der Begriffsbildung für die relativ historischen Begriffe genau dieselben wie für die absolut historischen, und wenn wir als massgebend für den Charakter der Methode das Band betrachten, das aus dem Inhalt eines Begriffes eine nothwendige Einheit macht, kann von einem Eindringen der naturwissenschaftlichen Methode in die Geschichtswissenschaft niemals die Rede sein, auch wenn sie noch so allgemeine Gruppenbegriffe bildet. Die relativ historischen Begriffe haben stets einen Inhalt, der das mit Rücksicht auf die leitenden Werthe durch seine Individualität Wesentliche enthält, und dass dieser Inhalt mit dem eines allgemeinen Begriffes zusammenfällt, ist unter logischen Gesichtspunkten zufällig“273. d) Auf der Grundlage solcher Prämissen 272 Ebd. 273 Grenzen 1902, S. 494–495.
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kann Rickert leicht die von Otto Ritschl gegen ihn erhobene Kritik zurückweisen, dass er nur den polaren Gegensatz zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen kennen würde und nicht eine Reihe von drei Gliedern, in der der Begriff des „Typus“ eine angemessene Vermittlung zwischen der absoluten Allgemeinheit des Begriffs „Gesetz“ und der absoluten Besonderheit des Begriffs „Individuum“ darstellt274. Aus der Perspektive der Grenzen beträgt die Anzahl der Glieder der angesprochenen Reihe in der Tat nicht nur zwei, sondern sogar vier, „denn die Begriffe mit relativ historischem oder relativ allgemeinem Inhalt […] können zwei verschiedene Zwecke erfüllen, und ihre Elemente können daher durch zwei verschiedene Einheitsprinzipien verbunden sein, je nachdem sie die relativ allgemeine ‚Natur‘ der unter sie fallenden Exemplare einer besonderen Gattung oder die relativ besondere Individualität der durch gemeinsame Eigenschaften historisch wesentlichen Glieder einer bestimmten Gruppe darstellen. In dieser viergliedrigen Reihe findet dann jeder naturwissenschaftliche und jeder historische Begriff seinen Platz, möge er inhaltlich noch so individuell oder noch so allgemein sein“275. Der Unterschied zwischen dem „Einheitsprinzip“ der relativ allgemeinen Begriffe und jenem der relativ individuellen Begriffe (oder, was dasselbe ist, zwischen dem „Zweck“ der einen und der anderen) entsteht auch, wenn die entsprechenden Begriffsbildungen aus ihrer Isolierung herausgeholt und in Bezug auf die Verbindung untersucht werden, in die sie im wissenschaftlichen Diskurs immer eingefügt sind. a) Dieser Punkt wird nur in dem Aufsatz von 1901 angesprochen, wo Rickert unterstreicht, dass „das Wesen der Naturwissenschaft nicht nur in der Bildung allgemeiner Begriffe, sondern auch in der Bildung eines Systems allgemeiner Begriffe besteht, und daß immer erst der systematische Zusammenhang den Gesichtspunkt für die Vergleichung der Objekte gibt und damit den Inhalt der naturwissenschaftlichen Begriffe bestimmt“, während dagegen die allgemeinen Begriffsbildungen, die der Historiker verwendet, ihren Bestand nicht „einer allgemeinen Theorie und einem systematischen Zusammenhange“ verdanken. Daher können sie auch nicht „noch allgemeineren Begriffen oder einem ganzen System von allgemeinen Be274 Vgl. O. Ritschl, Die Causalbetrachtung in den Geisteswissenschaften, Bonn, 1901, Spalte 16–19. Ritschl – der sich, um den Unterschied zwischen den qualitativen Begriffen des „Typus“ und des „Individuums“ zu untermalen, auf den wahren Kern in Duns Scotus Unterscheidung zwischen quidditas und haecceitas bezieht (vgl. ebd., Spalte 19) – verfasst seine Kritik an Rickert im Rahmen einer vertieften Auseinandersetzung mit der „allgemeinen Wissenschaftstheorie“ von Münsterbergs Grundzüge der Psychologie (vgl. ebd., Spalte 5–6) aus. Siehe hierzu auch E. Massimilla, Psicologia fisiologica e teoria della conoscenza. Saggio su Hugo Münsterberg, Neapel, 1994, S. 329–335. 275 Grenzen 1902, S. 530, Fußnote.
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griffen“ untergeordnet werden276. Diesbezüglich betont Rickert auch, dass nur die Darstellung einer „einmalige[n], räumlich und zeitlich begrenzte[n] Entwicklung“ zu Recht als „Geschichte“ bezeichnet werden kann277. Gleichzeitig zeigt er sich aber dessen bewusst, dass dieses Thema hier nicht angemessen vertieft werden kann, denn es sei überhaupt so kompliziert und undurchsichtig geworden, weil „der ursprünglich historische Entwicklungsgedanke im 19. Jahrhundert vielfach auch auf die Körperwelt übertragen“ wurde, wodurch beispielsweise eine Wissenschaft wie die „,entwicklungsgeschichtliche‘ Biologie“ entstand, in deren Methoden „sich naturwissenschaftliche und historische Bestandteile oft unklar mischen“278. b) Der Sinn dieser Beobachtungen wird aber nur in den Grenzen vollständig deutlich, wo Rickert sich fragt, ob die im Bereich der Geschichte vorhandenen Begriffe allgemeinen Inhalts (das heißt die relativ individuellen Begriffe) durch eine weitere Entwicklung in eine wechselseitige Beziehung eintreten können, analog zu jener, welche die allgemeinen Begriffe bindet, die ein Naturgesetz bilden und so – nach dem Muster der Naturwissenschaften und ihrer Methode – richtige „historische Gesetze“ entstehen lassen, welchen sich nur die absolut individuellen Begriffe entziehen würden279. c) Ein korrektes, logisches Herangehen an diese Frage – die offensichtlich das letzte der von den historischen Gruppenbegriffen aufgeworfenen Probleme an der von Rickert gezogenen Grenze zwischen der Naturwissenschaft und der Geschichte darstellt – verlangt sogar die Hervorhebung dessen, „dass eine Darstellung es, solange sie Geschichte ist, stets mit einer einmaligen Entwicklungsreihe zu thun hat, denn jedes historische Ganze, welches geschichtlich behandelt wird, ist seinem Begriffe nach etwas Einziges und Einmaliges, gleichviel ob es sich dabei um die Wirklichkeit überhaupt, um das Sonnensystem, um die Erde, um die Lebewesen, um die Menschheit, um die Kulturmenschheit oder um einen kleineren Theil der Wirklichkeit handelt. Nur die Theile des historischen Ganzen können unter relativ historische Begriffe gebracht werden, die vollständige Darstellung des Ganzen selbst aber muss einen absolut historischen, nur auf eine einzige Wirklichkeit passenden Inhalt haben. Wir dürfen also nur fragen, ob die Darstellung eines einmaligen historischen Ganzen, die mit lauter allgemeinen Begriffen arbeitet, eine Gestalt annehmen kann, welche den prinzipiellen Gegensatz naturwissenschaftlicher und historischer Begriffsbildung nicht mehr erkennen lässt“280. d) Um 276 QMUH, S. 138; VAAG, S. 752. 277 QMUH, S. 137; VAAG, S. 751. 278 QMUH, S. 139; VAAG, S. 753. 279 Vgl. Grenzen 1902, S. 490–491. 280 Grenzen 1902, S. 505.
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diese Frage zu beantworten, lässt sich gerade der Fall der entwicklungsgeschichtlichen Biologie des 19. Jahrhunderts heranziehen, denn sie sucht „die einmalige Entwicklung der Lebewesen darzustellen, und sie thut dies durchweg mit so allgemeinen Begriffen, dass man nicht behaupten wird, eine geschichtliche Darstellung des menschlichen Lebens sei in der Lage, noch allgemeinere Begriffe zu verwenden“281. In der Tat kann kein historischer Gruppenbegriff der Allgemeinheit des Begriffs homo sapiens gleichkommen. Anders gesagt, die naturwissenschaftlichste Art, sich die einzigartige und unwiederholbare Entwicklung der Menschheit vorzustellen, ist jene, sie als Fortsetzung der einzigartigen und unwiederholbaren Entwicklung des organischen Lebens auf der Erde zu denken, und zwar nach der gleichen Methode. „Sollte sich daher zeigen, dass auch die historische oder phylogenetische Biologie niemals Gesetze finden kann, in welche die einmalige Abfolge der verschiedenen Entwicklungsstufen des organischen Lebens eingeht, so wird an der Unmöglichkeit, die Geschichte als Darstellung einmaliger Entwicklungsreihen zu einer Naturwissenschaft im logischen Sinne zu machen, nicht mehr zu zweifeln sein“282. e) Mit dieser Demonstration beabsichtigt Rickert gewiss nicht zu leugnen, dass die Biologie des 19. Jahrhunderts als Naturwissenschaft versucht hat, nomologische Erkenntnisse über die Evolution des organischen Lebens zu erreichen. Er bemüht sich vielmehr Folgendes hervorzuheben: „Ein ‚Entwicklungsgesetz‘ kann immer nur das enthalten, was sich in einer Mehrzahl von Entwicklungsreihen wiederholt, aber niemals die Brücke zwischen zwei Stadien einer einmaligen Entwicklung schlagen, die darauf hin betrachtet werden, was das Spätere dem Früheren gegenüber an Neuem und noch nicht Dagewesenem enthält. Naturwissenschaftlich lässt sich also zwar vielleicht begreifen, wie aus irgend einer Gattung eine andere entsteht und entstehen muss, aber ein Gesetz, welches zeigt, dass aus Amöben gerade Moreaden, aus Moreaden gerade Blasteaden werden müssen, ist ein logischer Unsinn. Die biologischen Gesetze müssen auf alle solche Umwandlungen anwendbar sein und dürfen daher nichts enthalten, was nur der einmaligen historischen Entwicklung von Moreaden aus Amöben oder von Blasteaden aus Moreaden eigenthümlich ist“283. Aber dann wäre die Geschichte, wenn sie nutzbringend mit so allgemeinen Begriffen arbeiten könnte wie mit jenen der historischen Biologie, in keinem Fall in der Lage, „historische Entwicklungsgesetze“ der Menschheit zu finden, da dieser Ausdruck „eine contradictio in adjecto“ enthält284. Wenn sie 281 Grenzen 1902, S. 505–506. 282 Grenzen 1902, S. 506. 283 Grenzen 1902, S. 516–517. 284 Grenzen 1902, S. 517.
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unter einen Gesetzesbegriff eingeordnet werden, verlieren die Gattungsbegriffe, mit denen die phylogenetische Biologie arbeitet, und (a fortiori) die Gruppenbegriffe, mit denen die Geschichte arbeitet, ihre jeweilige Individualität, auf die gleiche Weise wie die Begriffe Napoleon oder Goethe in einem analogen Fall ihre absolute Individualität verlieren würden. f ) Im Übrigen bemerkt Rickert, dass die historische Komponente der entwicklungsgeschichtlichen Biologie die Richtigkeit der zwischen der naturwissenschaftlichen und der geschichtlichen Begriffsbildung errichteten logischen Grenzen bestätigt, nicht nur im Negativen, sondern auch im Positiven, das heißt nicht nur, weil sie nicht mit Gesetzesbegriffen arbeitet, sondern auch weil sie sich konstant auf einen Wertgesichtspunkt bezieht, der es ihr ermöglicht, die ungeheure Mannigfaltigkeit des Entwicklungsprozesses in einem einzigartigen und einheitlichen Ganzen zusammenzufügen. Der fragliche Wertgesichtspunkt wohnt der Bedeutung inne, die die Menschen im Allgemeinen der Entwicklung des Menschen zuweisen, und die im Übrigen häufig in ein regelrechtes Werturteil übergeht, wie es zum Beispiel der Fall ist, wenn Haeckel vom Menschen als ‚höchstem‘ Stadium des organischen Lebens spricht285. „Im Übrigen“, bemerkt Rickert ironisch, „werden Menschen wohl immer in dem Weg von den Moneren bis zu ihnen selbst einen Fortschritt anerkennen, und die direkte Werthbeurtheilung der historischen Biologie wird daher von Menschen auch nicht als willkürlich empfunden werden“286. Und trotzdem kann, wenn auch abgesehen von jeder direkten Wertbeurteilung und jedes daraus hervorgehenden Fortschrittsgedankens, die Darstellung der von der historischen Biologie erarbeiteten organischen Entwicklung sich gar nicht nicht auf einen präzisen Wertgesichtspunkt beziehen (wenn auch theoretisch und wertfrei), wie es besonders deutlich eine Textstelle von Karl Ernst von Baer zeigt, die an anderer Stelle in den Grenzen zitiert wird. Der große Embryologe stellt sich hier „die Entwicklungsgeschichte vom Standpunkt der Vögel geschrieben“ vor: „Die Bewohner der Luft finden den Menschen natürlich sehr unvollkommen, die Fledermäuse scheinen ihnen unter den Säugetieren am höchsten zu stehen, und sie weisen den Gedanken zurück, dass Wesen, die so lange nach der Geburt ihr Futter nicht selber suchen und sich nie frei vom Erdboden erheben, höher organisirt sein sollen als sie“287. Wir sehen also, schließt Rickert, dass „wir in der historischen Biologie das typische Beispiel für eine Wissenschaft [besitzen], die 285 Vgl. Grenzen 1902, S. 518. Rickert zitiert die 9. Aufl. (Berlin, 1898) der Natürlichen Schöpfungsgeschichte von Haeckel (1868). 286 Grenzen 1902, S. 520. 287 Grenzen 1902, S. 619. Vgl. K.E. von Baer, Ueber Entwicklungsgeschichte der Thiere. Beobachtung und Reflexion, I, Königsberg, 1828, S. 203f.
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durchweg mit relativ historischen Begriffen arbeitet, und mit diesen Begriffen einen einmaligen Entwicklungsgang darstellt, der sich mit Rücksicht auf einen allgemein anerkannten Werth zu einem einzigartigen und einheitlichen Ganzen oder historischen In-dividuum zusammenschliesst. Auch eine nach ihrer Methode betriebene Geschichte der Menschen, die freilich bisher noch nicht existirt, muss sich daher vollkommen unserem Begriff einer historischen Darstellung unterordnen lassen“288. Auch Rickerts Analysen zu der vierten Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte (zur ‚relativen Individualität‘ der historischen Gruppenbegriffe und die Prinzipien bei der Begriffsbildung, die diese Begriffe mit den absolut historischen Begriffen teilen) sind sehr wichtig für Weber. Sie stellen in ihrer Gesamtheit eine einfache, aber grundlegende logische Voraussetzung für Webers entschiedene Zuordnung seiner eigenen Untersuchungen über die „sozialökonomische Struktur des menschlichen Gemeinschaftslebens“289 (die kontinuierlich mit den Gruppenbegriffen arbeiten) zu dem Feld der historischen Kulturwissenschaften dar. a) Es ist kein Zufall, dass Weber in einer Passage seines Aufsatzes über die sozialwissenschaftliche und sozialpolitische Erkennt288 Grenzen 1902, S. 520. Natürlich stimmt die Behauptung, der Inhalt einer historischen Begriffsbildung könne in keinem Fall (auch nicht im Fall der phylogenetischen Biologie) aus einem Gesetz bestehen, ganz und gar nicht mit jener (fälschlichen) Behauptung überein, dass unter den allgemeinen Begriffselementen der historischen Begriffsbildung keine mehr oder weniger komplexen nomothetischen Erkenntnisse genannt werden könnten. Diesbezüglich verweise ich auf das, was wir oben über die erste von Rickert untersuchte Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte und ihren Einfluss auf Weber gesagt haben. Aber Rickert kommt auf das Thema auch im sechsten Abschnitt des vierten Kapitels der Grenzen zurück und stellt einen wichtigen Vergleich mit der marxistischen Geschichtsschreibung her: „Es wäre z. B. denkbar, dass in mehreren Fällen auf eine sozialrevolutionäre Arbeiterbewegung, die nur durch das historisch wesentlich ist, was sie mit sozialrevolutionären Arbeiterbewegungen in anderen Volksentwicklungen gemeinsam hat, eine gewisse Organisation der Arbeiter folgt, und dass bei anderen Völkern sich ebenfalls solche Organisationen als Folge einstellen, deren historisch erschöpfende Darstellung unter denselben relativ historischen Begriff fällt. Dann könnte man sagen, dass hier ein naturnothwendiger Zusammenhang zwischen zwei relativ historischen Begriffen besteht, und es liesse sich ein Gesetz über den Zusammenhang sozialrevolutionärer Bewegungen mit Arbeiterorganisationen aufstellen“ (Grenzen 1902, S. 523). Rickert erklärt ausdrücklich, dass allgemeine Gesetze dieser Art (seien sie richtig oder nicht) „keinen logischen Widerspruch enthalten“, aber er ergänzt sofort, dass „es immer nur Theile einer einmaligen Entwicklung sein können, die sich unter solche […] Gesetze bringen lassen“, oder genauer: Teile, die wir „stets nur begrifflich isoliren“ können (Grenzen 1902, S. 523–524). Mit anderen Worten: Die allgemeinen Gesetze können nur (mehr oder weniger relevante) Elemente einer historisch-individualisierenden Begriffsbildung im eigentlichen Sinne sein. 289 OssE, S. 165.
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nis, die ich bereits an anderer Stelle zitiert habe290, beinahe wörtlich Rickerts Bemerkungen über den „zufälligen“ Charakter der „Koinzidenz des Bedeutsamen und des Gemeinsamen“291 aufgreift. Denn Weber vertritt die Ansicht, dass die Einordnung der Wirklichkeit unter allgemeine Begriffe und das Hervorheben einiger Elemente des Wirklichen unter dem Gesichtspunkt ihrer kulturellen Bedeutung „in einem Einzelfall einmal koinzidieren“ können. Er fügt jedoch sofort hinzu, dass es aber „von den verhängnisvollsten Folgen [ist], wenn dies zufällige Zusammentreffen über ihr prinzipielles Auseinanderfallen täuscht“292. In Bezug hierauf führt Weber auch ein Beispiel an, das für uns wichtig ist, weil es uns unverzüglich die Bedeutung der fraglichen logischen Themen für seine konkreten Forschungsfelder erkennen lässt. Er schreibt: „Es kann die Kulturbedeutung einer Erscheinung, z.B. des geldwirtschaftlichen Tausches, darin bestehen, daß er als Massenerscheinung auftritt, wie dies eine fundamentale Komponente des heutigen Kulturlebens ist. Alsdann ist aber eben die historische Tatsache, daß er diese Rolle spielt, das, was in seiner Kulturbedeutung verständlich zu machen, in seiner historischen Entstehung kausal zu erklären ist“293. Diese Fragen können jedoch durch weitere, generalisierende Ausarbeitung des ökonomischen Massenphänomens des geldwirtschaftlichen Tausches keine angemessenen Antworten finden, da diese nur ein nützliches Instrument zur Erlangung dieses Ziels darstellen kann (und darstellt). Und so schreibt Weber: „Die Untersuchung des generellen Wesens des Tausches und der Technik des Marktverkehrs ist eine – höchst wichtige und unentbehrliche! – Vorarbeit. Aber nicht nur ist damit die Frage nicht beantwortet, wie denn historisch der Tausch zu seiner heutigen fundamentalen Bedeutung gekommen ist, sondern vor allen Dingen: das, worauf es uns in letzter Linie doch ankommt: die Kulturbedeutung der Geldwirtschaft, um derentwillen wir uns für jene Schilderung der Verkehrstechnik ja allein interessieren, um derentwillen allein es heute eine Wissenschaft gibt, welche sich mit jener Technik befaßt, – sie folgt aus keinem jener ‚Gesetze‘. […] Wo wir verstehen wollen, was unsere sozialökonomische Kultur etwa von der des Altertums, in welcher der Tausch ja genau die gleichen gattungsmäßigen Qualitäten aufwies wie heute, unterscheidet, [...] da ragen logische Prinzipien durchaus heterogener Herkunft in die Untersuchung hinein“294. b) Auch in anderen methodologischen Schriften Webers gibt es klare und spezifische Bezüge auf Rickerts 290 Vgl. oben, Fußnote 116. 291 Vgl. oben, Fußnote 272. 292 OssE, S. 176. 293 Ebd. 294 OssE, S. 176–177.
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Untersuchungen über die vierte Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte, so beispielsweise in dem zweiten Teil des Aufsatzes über Roscher und Knies, wo Weber – Knies’ Ausdrücke der ‚Willensfreiheit‘ und der ‚Naturbedingung‘ auch in Bezug auf die angenommenen Unterschiede zwischen den Handlungen eines einzelnen Individuums und den Handlungen vieler Individuen diskutierend – folgenden Wunsch formuliert: „Das alte lächerliche Vorurteil naturalistischer Dilettanten, als ob die ‚Massenerscheinungen‘, wo sie als historische Ursachen oder Wirkungen in einem gegebenen Zusammenhang in Betracht kommen, ‚objektiv‘ weniger ‚individuell‘ seien als die Handlungen der ‚Helden‘, wird sich hoffentlich auch in den Köpfen von ‚Soziologen‘ nicht mehr allzulange behaupten“. Gleich anschließend glossiert er in einer Fußnote: „Daß das generell Gleiche an der beteiligten Vielheit von Individuen die ‚Massenerscheinung‘ konstituiert, hindert nicht, daß ihre historische Bedeutung in dem individuellen Inhalt, der individuellen Ursache, den individuellen Wirkungen dieses den Vielen Gemeinsamen (z.B. einer konkreten religiösen Vorstellung, einer konkreten wirtschaftlichen Interessenkonstellation) liegt“295. c) Der Bezug auf eine konkrete religiöse Darstellung als ein Fall, in dem die geschichtliche Bedeutung eines Phänomens darin liegen kann, was einer Pluralität von Individuen gemein ist, verweist in aller Deutlichkeit auf Webers zeitgleiche Untersuchung über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus. Und tatsächlich zeigen einige wesentliche Passagen des Aufsatzes von 1904–1905 mit großer Klarheit die Dynamik, die den allgemeinen Gruppenbegriffen im Bereich der kulturgeschichtlichen Forschung eigen ist. Mit der Passage zum Beispiel, in der er den Calvinismus, den Pietismus, den Methodismus und die „aus der täuferischen Bewegung hervorgewachsenen Sekten“ als die „geschichtlichen Träger des asketischen Protes-tantismus“296 bezeichnet – also als geschichtliche Träger jener Art Religiosität, der er eine kausale Relevanz in Bezug auf das kulturell bedeutsame Ereignis zumisst, das im Mittelpunkt seiner Forschungen steht (das Entstehen und sich Festigen der modernen Berufsethik in großen Menschengruppen) –, legt Weber deutlich die Möglichkeit dar, von den individuellen Unterschieden dogmatischer Art abzusehen, die diese religiösen Bewegungen unterscheiden, und dies nicht so sehr und nicht nur wegen ihrer unentwirrbaren historisch-faktischen Verflechtungen, sondern vor allem, weil „die für uns wichtigen Erscheinungen der sittlichen Lebensführung [...] sich bei den Anhängern der verschiedensten, aus einer der oben verzeichneten vier Quellen oder einer Kombination mehrerer von ihnen hervor-
295 RuK, S. 48 und Fußnote. 296 PEGK, S. 84.
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gegangenen Denominationen in gleichartiger Weise“ finden297. Daher liegt also aus Sicht von Webers Untersuchung das, was kulturell bedeutsam ist, nicht in dem, was den Calvinismus von den Mennoniten oder Quäkern unterscheidet und beide wiederum vom Pietismus oder vom Methodismus, sondern in der „sittlichen Praxis“298, die sie vereint und die den wesentlichen Inhalt von Webers Begriff des „asketischen Protestantismus“ darstellt; andererseits aber ist das, was die Bildung dieses Begriffsinstruments leitet, ganz und gar nicht der „relativ allgemeine“ Charakter der genannten sittlichen Praxis, sondern gerade die kulturell bedeutsame individuelle Eigenart, die sie in Bezug auf die sittliche Praxis des lutherischen Protestantismus oder auf andere Arten der religiösen Ethik darstellt299. d) Es ist aber bekannt, dass Weber diesem nur angedeuteten Weg nicht folgt, sondern sich vielmehr entscheidet, bei den „untereinander verschiedenen dogmatischen Wurzeln der asketischen Sittlichkeit“ zu verweilen, da er meint, dass es sich nur durch ihre Kenntnis verstehen lässt, „wie jene Sittlichkeit mit dem die innerlichsten Menschen jener Zeit absolut beherrschenden Gedanken an das Jenseits verknüpft war, ohne dessen alles überragende Macht damals keinerlei die Lebenspraxis ernstlich beeinflussende sittliche Erneuerung ins Werk gesetzt worden ist“300. Aber die „Eigenart der religiösen Glaubensvorstellungen“ interessiert Weber nicht so sehr wegen ihres theologischen Inhalts, sondern vielmehr wegen ihrer Auswirkungen auf „die durch den religiösen Glauben und die Praxis des religiösen Lebens geschaffenen psychologischen Antriebe, welche der Lebensführung die Richtung wiesen und das Individuum in ihr festhielten“301, oder besser: ‚große Gruppen von Individuen‘, da nur die Lebensführung großer Gruppen von Individuen für die Entstehung des modernen Berufsethos eine gewisse Bedeutung erlangen kann. Und so ist bei der Untersuchung der konkreten Auswirkung der Prädestinationslehre auf die Lebensführung der Gläubigen im Fall des Calvinismus folgendes Problem entscheidend: „Wie wurde diese Lehre ertragen in einer Zeit, welcher das Jenseits nicht nur wichtiger, sondern in vieler Hinsicht auch sicherer war, als alle Interessen des diesseitigen Lebens. Die eine Frage mußte ja alsbald für jeden einzelnen Gläubigen entstehen und alle anderen Interessen 297 PEGK, S. 85. 298 PEGK, S. 86. 299 Aus der in Webers Aufsatz von 1904–1905 angenommenen Sicht erweist sich die individuelle Besonderheit der sittlichen Praxis des asketischen Protestantismus nur indirekt als kulturell bedeutsam, d.h. nur weil sie einen kausalen Einfluss auf die Entstehung des Geists des modernen, westlichen Kapitalismus hat. In Rickerts Worten handelt es sich um ein „sekundäres historisches Individuum“ (vgl. Grenzen 1902, S. 474–480). 300 PEGK, S. 86. 301 PEGK, S. 86.
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in den Hintergrund drängen: Bin ich denn erwählt? Und wie kann ich dieser Erwählung sicher werden?“302 In dieser Perspektive war der ‚absolut individuelle‘ Fall Calvins, der „sich als ‚Rüstzeug‘“ fühlte und „seines Gnadenstandes sicher“ war303, wohl gerade der am wenigsten bedeutsame. Deutlich wichtiger dagegen ist der ‚relativ individuelle‘ Fall der „Epigonen [...] und vor allem die breite Schicht der Alltagsmenschen“, vereint durch die Tatsache, dass für sie „die ‚certitudo salutis‘ im Sinn der Erkennbarkeit des Gnadenstandes zu absolut überragender Bedeutung aufsteigen“ musste304. Die seelsorgerische Praxis ist, gerade um auf das psychologische Leiden zu antworten, das die unmenschliche Folgerichtigkeit der Prädestinationslehre im Geist der vielen Gläubigen hervorruft, dazu gezwungen, die Überzeugung Calvins zu mildern, nach der kein äußerliches Zeichen mit Gewissheit die Erwählten von den Verworfenen unterscheidet, indem einerseits „schlechthin zu Pflicht gemacht [wird], sich für erwählt zu halten, und jeden Zweifel als Anfechtung des Teufels abzuweisen“ und andererseits, „um jene Selbstgewißheit zu erlangen, als hervorragendstes Mittel rastlose Berufsarbeit eingeschärft“ wurde305. Und so werden „an Stelle der demütigen Sünder, denen Luther, wenn sie in reuigem Glauben sich Gott anvertrauen, die Gnade verheißt, [...] jene selbstgewissen ‚Heiligen‘ gezüchtet, die wir in den stahlharten puritanischen Kaufleuten jenes heroischen Zeitalters des Kapitalismus und in einzelnen Exemplaren bis in die Gegenwart wiederfinden“306. Noch einmal also deckt sich, das was sich aus einem gewissen Gesichtspunkt als historisch bedeutsam erweist, mit dem, was eine Vielzahl von Individuen vereint. Aber der historische Gruppenbegriff, der diesen Umstand darstellt, gründet sich nicht auf die relative Allgemeinheit, sondern im Gegenteil auf die kulturelle Bedeutung seiner relativen Individualität.
302 PEGK, S. 102–103. 303 PEGK, S. 103. „Demgemäß hat er auf die Frage, wodurch der einzelne seiner eigenen Erwählung gewiß werden könne, im Grunde genommen nur die Antwort: daß wir uns an der Kenntnis des Beschlusses Gottes und an dem durch den wahren Glauben bewirkten beharrlichen Zutrauen auf Christus genügen lassen sollen. Er verwirft prinzipiell die Annahme: man könne bei anderen aus ihrem Verhalten erkennen, ob sie erwählt oder verworfen seien, als einen vermessenen Versuch, in die Geheimnisse Gottes einzudringen. Die Erwählten unterscheiden sich in diesem Leben äußerlich in nichts von den Verworfenen und auch alle subjektiven Erfahrungen der Erwählten sind – als ‚ludibria spiritus sancti‘ – auch bei den Verworfenen möglich, mit einziger Ausnahme jenes ‚finaliter‘ beharrenden gläubigen Vertrauens. Die Erwählten sind und bleiben also Gottes unsichtbare Kirche“ (PEGK, S. 103–104). 304 PEGK, S. 104. 305 PEGK, S. 105–106. 306 PEGK, S. 105.
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VII. „Allseitigkeit und Differenzierung“ Auf der letzten Seite des Aufsatzes von 1901 schreibt Rickert, er habe „auf die verschiedenen Arten des Allgemeinen in der Geschichte“ hinweisen wollen, „die voneinander getrennt werden müssen, wenn man das logische Verhältnis der Geschichte zur Naturwissenschaft überhaupt verstehen“307 und über die modischen Schlagworte sowie ihre unzulässigen Vereinfachungen hinausgehen will. Bezüglich letzterer bemerkt er auch: „Besonders auffallend ist gerade bei Historikern, die doch die Mannigfaltigkeit alles menschlichen Tuns kennen sollten, der Glaube an eine einzige wissenschaftliche Universalmethode. Der menschliche Geist“ – fährt Rickert in einer Passage fort, die zumindest für jenen, der verstehen möchte, warum der neukantianische Philosoph einer der bevorzugten Gesprächspartner Webers und der großen Vertreter des deutschen Historismus war, unzweifelhaft bedeutsam ist – „ist sehr kompliziert, und ebenso kompliziert ist seine wissenschaftliche Betätigung. Wer ihm verbieten will, auf verschiedenen Wegen die Dinge zu erforschen, wird ihn nicht fördern. Auch hier kann nur Allseitigkeit und Differenzierung dem Fortschritt dienen“308. Gewiss, am Ende behauptet Rickert mit Bezug auf eine bekannte Stelle aus der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft: „Die Logik jedenfalls wird niemals hoffen dürfen, durch Konstruktion einer Universalmethode die verschiedenen Wissenschaften in ihrem Wesen zu verstehen, sondern nur dadurch, daß sie sich stets das Wort des größten Logikers der modernen Welt gegenwärtig hält: ‚Es ist nicht Vermehrung, sondern Verunstaltung der Wissenschaften, wenn man ihre Grenzen ineinander laufen läßt‘“309. Mit diesem Zitat drückt Rickert unterschwellig seine eigene feste Überzeugung aus, dass nur der angemessene Rückgriff aus das „erkenntniss-kritische Verfahren“ von Kant es der zeitgenössischen Philosophie ermöglicht – eingedenk des 307 QMUH, S. 139–140; VAAG, S. 753. In dem Nachwort 1928 schreibt Rickert, dass er in den späteren Auflagen der Grenzen den vier Arten des Allgemeinen in der Geschichte, die er bereits in dem Aufsatz von 1901 nennt, ein „‘fünftes Allgemeines‘ hinzugefügt“ habe (Grenzen 1929, Nachwort 1928, S. 759). Rickert spielt hier auf die Allgemeinheit der „irrealen Sinngebilde“ an, die Thema des neunten Abschnitts sind, den er ab der 3. und 4. Aufl. von 1921 dem vierten Kapitel der Grenzen hinzugefügt hat. Vgl. hierzu Grenzen 1929, Kap. 4, Abschnitt IX, S. 533–611: „Die irrealen Sinngebilde und das geschichtliche Verstehen“. Vgl. auch M. Catarzi, A parte obiecti. Le ‚formazioni irreali di senso’ come tensione dell’oggetto storico verso la forma nelle ultime edizioni delle Grenzen di Rickert, in H. Rickert, Le formazioni irreali di senso e l’intendere storico, aus dem Deutschen übersetzt von M. Catarzi, Soveria Mannelli (Catanzaro), 2005, S. 5–65. 308 QMUH, S. 140; VAAG, S. 753–754. 309 QMUH, S. 140; VAAG, S. 754 (vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, op. cit., Vorrede zur zweiten Auflage, S. 22).
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Schicksals der großen Gedankensysteme der Blütezeit des deutschen Idealismus und ihres „Muth[s] zur Wahrheit“, der „die Kraft des Universums […] erheblich unterschätzt“ –, mit dem produktiven „Spezialistenthum“ der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen abzurechnen, ohne dabei seine „grossen Ziele“ und seine „alten Probleme“ aus den Augen zu verlieren, die letztendlich in der Aufgabe bestehen, eine „allgemeine Welt- und Lebensauffassung“, „eine allseitige und umfassende Weltanschauung“ zu entwickeln oder sich zumindest asymptotisch diesem Ziel anzunähern310. Aber die ‚wahre‘ Kulturgeschichte ist gegenüber dem ‚Systemgeist‘ der Philosophen schlicht rücksichtslos. Und so konnte diesen „beschwerlichen und dornenvollen Weg“, der Rickert zu seinem Ziel führen sollte – zunächst ein beschwerlicher und dornenvoller „Weg der Logik“ und später erst „der Erkenntnistheorie“311 – auch ein ‚heterodoxer Kantianer‘ wie Weber aufmerksam und nutzbringend einschlagen. Aber Weber schritt auf ein ganz anderes letztes Ziel zu als Rickert. Man bedenke nur, was für ihn „eine unentrinnbare Gegebenheit unserer historischen Situation“ ist: nämlich dass die Wissenschaft nicht mehr „eine Heilsgüter und Offenbarungen spendende Gnadengabe von Sehern und Propheten“ ist und nicht einmal „ein Bestandteil des Nachdenkens von Weisen und Philosophen über den Sinn der Welt“, sondern „ein fachlich betriebener ‚Beruf‘ […] im Dienst der Selbstbesinnung und der Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge“312.
310 Grenzen 1902, S. 10–14. 311 Grenzen 1902, S. 13. 312 M. Weber, Wissenschaft als Beruf, in Max Weber Gesamtausgabe, I/17: Wissenschaft als Beruf 1917/1919 – Politik als Beruf 1919, hrsg. von W.J. Mommsen und W. Schluchter in Zusammenarbeit mit B. Morgenbrod, Tübingen, 1992, S. 49–111, S. 105. – Rickerts Aufsatz Les quatre modes de l’„Universel“ dans l’histoire wurde kürzlich in „Les Études Philosophiques“ ( Januar 2010, 1, S. 9–23) wieder veröffentlicht, in einem großen Teil über „Rickert et la question de l’histoire“ (ebd., S. 3–107), der eine Präsentation von Marc de Launay, Studien von Julien Farges, Arnauld Dewalque und Christian Krijnen und die französische Übersetzung von einem anderen Aufsatz Rickerts (Ueber die Aufgaben einer Logik der Geschichte, 1902) enthält.
Weber, Rickert und der historische Kausalzusammenhang Ich glaube, […] mich ziemlich sinngetreu an die wesentlichen Gesichtspunkte der […] Arbeit Rickerts angeschlossen zu haben, soweit sie für uns von Belang sind. Es ist einer der Zwecke dieser Studie, die Brauchbarkeit der Gedanken dieses Autors für die Methodenlehre unserer Disziplin zu erproben. Ich zitiere ihn daher nicht bei jeder einzelnen Gelegenheit erneut, wo dies an sich zu geschehen hätte. Max Weber, Roscher und Knies
I. Rickert und Weber Horizont und Absicht meiner Arbeit über Voraussetzungen, Art und Tragweite von Webers Auffassung von der Wissenschaft als Beruf und darüber, wie diese sich erklären, indem sie sich mehr oder weniger direkt an den widerstreitenden Interpretationen der Gegner, Anhänger und Gesprächspartner brechen1, war es, der tatsächlichen historiographischen Konsistenz einer bestimmten Lesart von Webers Werk auf den Grund zu gehen: einer Lesart, die in Weber den apikalen Moment des ‚neuen Historismus‘ sieht, der als „ein spezifischer theoretischer Typus des 20. Jahrhunderts“ verstanden wird oder sogar als eines der für das Verständnis der Gegenwart nützlichsten und vitalsten philosophischen Modelle des vergangenen Jahrhunderts2. Und dies bleibt auch der Horizont 1 Vgl. E. Massimilla, Intorno a Weber. Scienza, vita e valori nella polemica su „Wissenschaft als Beruf“, Napoli, 2000 (dt. Übers. von C. Voermanek: Ansichten zu Weber. Wissenschaft, Leben und Werte in der Auseinandersetzung um „Wissenschaft als Beruf“, Leipzig, 2008) und Ders., Scienza, professione, gioventù: rifrazioni weberiane, Soveria Mannelli (Catanzaro), 2008. Aber siehe auch Ders., Le lezioni husserliane di introduzione all’etica: qualche osservazione a partire da Weber, in R. Bonito Oliva et alii (Hg.), Etica Antropologia Religione. Studi in onore di Giuseppe Cantillo, Neapel, 2010, S. 55–73. 2 F. Tessitore, La questione dello storicismo, oggi (1996), in Ders., Contributi alla storia e alla teoria dello storicismo, IV, Rom, 1998, S. 231–289, S. 238 und S. 289. Was die von Tessitore vorgeschlagene Lesart von Webers Werk betrifft, siehe abgesehen von Introduzione a Lo
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und die Absicht meiner jetzigen Untersuchungen darüber, auf welche Weise Weber einige seiner Quellen verwendet: Max Weber, dessen Texte heute in ihrer wirklichen historisch-philologischen Dimension in der beeindruckenden und noch nicht abgeschlossenen Max Weber Gesamtausgabe erscheinen, die in einigen Fällen (ich denke da beispielsweise an Wirtschaft und Gesellschaft) sogar eine Arbeit radikaler Destrukturierung ist, in gewisser Weise vergleichbar mit jener von Colli und Montinari über Der Wille zur Macht. Ich bin außerdem überzeugt, dass eine Etappe bei einer solchen Untersuchung zwangsläufig in der Reflexion über ein inzwischen ‚klassisch‘ zu nennendes Thema – nämlich der Beziehung zwischen Rickert und Weber – besteht; jedoch unter der Voraussetzung, dass diese im Sinne einer genauen Untersuchung der tatsächlichen Auswirkung und der komplexen Verwendung der logischen Argumente des ersten in den (‚methodologischen‘ und anderen) Schriften des zweiten erfolgt. Eine solche Arbeit kann sich ohne Zweifel der vorhandenen hervorragenden Forschungen über Rickert bedienen3, sowie der zahlreichen storicismo, Rom-Bari, 1991, S. 200–208 und La questione dello storicismo, oggi, op. cit., passim, auch: Max Weber e lo storicismo (1983) und Troeltsch, Weber e il destino dello storicismo (1993), in Ders., Contributi alla storia e alla teoria dello storicismo, IV, op. cit., S. 159–196 und 149–158; Lo storicismo come filosofia dell’evento (2000), in Ders., Nuovi contributi alla storia e alla teoria dello storicismo, Rom, 2002, S. 429–470, insb. § 5; Storicismo e storia della cultura (2003), in Ders., Altri contributi alla storia e alla teoria dello storicismo, Rom, 2007, S. 129–185, insb. § 7; Alcune osservazioni sulla „secolarizzazione“ in Weber (2005), in „Archivio di storia della cultura“, XIX (2006), S. 73–96. 3 Ich möchte hier nur die vielen Beiträge über Rickert aus der Neapolitanischen Schule erwähnen, deren Ursprung zweifelsohne auf die erneute Aufmerksamkeit für den Danziger Philosophen zurückgeht, die Giuseppe Cantillo mit seinen Arbeiten über Troeltsch hervorgerufen hat. Abgesehen von den vielen Bezügen auf Rickert in G. Cantillo, Ernst Troeltsch, Neapel, 1979, siehe auch: Metafisica critica e teoria della conoscenza. Considerazioni sul rapporto Troeltsch-Rickert, in G. Moretto (Hg.), Filosofia, religione, nichilismo, Neapel, 1988, S. 553–574; Sehen und Denken. Considerazioni sul rapporto Troeltsch-Rickert, in M. Signore (Hg.), Rickert tra storicismo e ontologia, Mailand, 1989, S. 251–268; Complessità della storia della filosofia, in C. Guetti (Hg.), La filosofia e la sfida della complessità, Rom, 1994, S. 11–142, insb. S. 130ff. Außerdem sind die aufschlussreichen Aufsätze über Rickert von A. Giugliano zu erwähnen: Heinrich Rickert tra Philosophie des Lebens e Lebensphilosophie (1987), Dover-essere e valore: Heinrich Rickert tra psicologia trascendentale e logica trascendentale (1992) und Note sulla critica di Rickert e Heidegger alla psicologia delle „visioni del mondo“ di Jaspers (1995), in Ders., Nietzsche Rickert Heidegger (ed altre allegorie filosofiche), Neapel, 1999, S. 209–233, 173–208 und 291–365, sowie der Beitrag von G. Cacciatore, Scienza dello spirito e mondo storico nel confronto Dilthey-Rickert, in M. Signore (Hg.), Rickert tra storicismo e ontologia, op. cit., S. 223–249. Vgl. außerdem die Monographien von A. Donise, Il soggetto e l’evidenza. Saggio su Heinrich Rickert, Neapel, 2002 und von M. Catarzi, A ridosso dei limiti. Per un profilo di Heinrich Rickert lungo l’elaborazione delle Grenzen, Soveria Mannelli (Catanzaro), 2006, auf die ich auch für weitere bibliographische Angaben verweise.
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Studien, die sich speziell mit der Beziehung zwischen Rickert und Weber befassen4. Ich möchte hier natürlich nicht die gesamte reiche und ausführliche
4 Bereits umfassend thematisiert von A. von Schelting (Max Weber’s Wissenschaftslehre, Tübingen, 1934), R. Aron (vgl. zumindest La philosophie critique de l’histoire, 1938, 2. Aufl., Paris, 1950), D. Henrich (Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, Tübingen, 1952), P. Rossi (vgl. zumindest Lo storicismo tedesco contemporaneo, Turin, 1956 und mehrfach nachgedruckt, sowie die inzwischen in dem 1. Teil von Ders., Max Weber. Un’idea di Occidente, Rom, 2007, S. 1–112, zusammengefassten Aufsätze), F. Loos (Zur Werte- und Rechtslehre Max Webers, Tübingen, 1970), W.G. Runciman (A Critique of Max Weber’s Philosophy of Social Science, Cambridge, 1972) und T. Burger (Max Weber’s Theory of Concept Formation. History, Laws, and Ideal Types, Durham, 1976), ist das Problem der Beziehungen zwischen Rickert und Weber in den letzten Jahrzehnten Gegenstand zahlreicher und detaillierter Studien gewesen, von denen ich hier insb. auf folgende verweise: M. Corselli, Sinn e Kultur. Studi sul pensiero di Rickert e di Weber, Palermo, 1985; K.-H. Nusser, Kausale Prozesse und sinnerfassende Vernunft. Max Webers philosophische Fundierung der Soziologie und Kulturwissenschaften, Freiburg - München, 1986; G. Wagner, Geltung und normativer Zwang. Eine Untersuchung zu den neukantianischen Grundlagen der Wissenschaftslehre Max Webers, Freiburg - München, 1987; W. Schluchter, Religion und Lebensführung, Band I. Studien zu Max Webers Kultur- und Werttheorie, Frankfurt am Main, 1988 (aber vgl. auch Ders., Werturteilsfreiheit und Wertdiskussion: Max Weber zwischen Immanuel Kant und Heinrich Rickert, in T. Beschorner - T. Eger, Hg., Das Ethische in der Ökonomie: Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans G. Nutzinger, Marburg, 2005, S. 39–65); G. Oakes, Weber and Rickert. Concept formation in the cultural sciences, Cambridge (Mass.), 1988 (aber vgl. auch Ders., Die Grenzen kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung, Frankfurt am Main, 1990 und Ders., Rickerts Wert/Wertungs-Dichotomie und die Grenzen von Webers Wertbeziehungslehre, in G. Wagner - H. Zipprian, Hg., Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, Frankfurt am Main, 1994, S. 146–166); F. Bianco, Rickert critico di Weber, in M. Signore (Hg.), Rickert tra storicismo e ontologia, op. cit., S. 323–338 (aber vgl. auch F. Bianco, Le basi teoriche dell’opera di Max Weber, Rom, 1997); B. Accarino, Validità e relazione al valore: tra Weber e Rickert, in M. Signore (Hg.), Rickert tra storicismo e ontologia, op. cit., S. 355– 370; P.-U. Merz-Benz, Max Weber und Heinrich Rickert. Die erkenntniskritischen Grundlagen der verstehenden Soziologie, Würzburg, 1990; F. Ringer, Max Weber Methodology. The Unification of the Cultural and Social Sciences, Cambridge (Mass.), 1997; O. Agevall, A Science of Unique Events: Max Weber‘s Methodology of the Cultural Sciences, Dissertation an der Universität Uppsala, Uppsala, 1999; H.H. Bruun, Weber on Rickert: From Value Relations to Ideal Type, in „Max Weber Studies“, I (2001), 2, S. 138–160 (aber vgl. Ders., Science, Values and Politics in Max Weber’s Methodology, Kopenhagen, 1972, Monographie neu aufgelegt 2007 mit einer umfangreichen Einleitung, in der der Autor die neuste kritische Literatur zu seinem Thema diskutiert); S. Wöhler, Das heterologische Denkprinzip Heinrich Rickerts und seine Bedeutung für das Werk Max Webers. Die Einheit der modernen Kultur als Einheit der Mannigfaltigkeit, Dissertation am „Max Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien“ der Universität Erfurt, veröffentlicht in elektronischer Form, 2001; S. Eliaeson, Max Weber’s Methodologies: Interpretation and Critique, Cambridge (UK), 2002.
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Debatte abschreiten und analytisch prüfen5, sondern insbesondere einen Aspekt darstellen, der aus meiner Sicht noch nicht ausreichend berücksichtigt wurde. Ich bin in der Tat der Ansicht, dass man, noch bevor man sich die Frage über den guten oder schädlichen Charakter von Rickerts Einfluss auf Weber stellt, versuchen muss, folgenden Ansatz zu problematisieren: Es gibt je nach Auslegung eine mehr oder weniger große Zahl von Fragen, in denen Rickert und Weber übereinstimmen (wie beispielsweise die Auffassung der empirischen Wirklichkeit als ungeheure intensive und extensive Mannigfaltigkeit, die vor allem logisch-methodologische Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften und kulturgeschichtlichen Wissenschaften oder die zentrale Rolle der Wertbeziehung in der Konstruktion des historischen Objekts), und andere Fragen, bei denen sie deutlich unterschiedliche Theorien vertreten (so zum Beispiel die Art, wie sie das Problem der Objektivität der kulturgeschichtlichen Wissenschaften lösen, oder die Möglichkeit, ein offenes System unbedingter Werte zu entwickeln). Ein hierauf basierender Untersuchungsansatz erweist sich in gewisser Hinsicht als exzessiv schematisch und riskiert so, die Wirklichkeit einer sehr intensiven intellektuellen Beziehung zu verschleiern, in der sich nicht selten der maximale Grad der Übereinstimmung der einzelnen Argumentationen mit dem maximalen Grad der Divergenz der grundlegenden theoretischen Optionen deckt. Um es mit einem Bild zu veranschaulichen: Es ist wie, wenn man sich vor dem Dom von Syrakus befindet, der nicht nur erkennbare Teile, sondern ganze Blöcke eines anderen Gebäudes birgt (des antiken dorischen Tempels der Athene) und diese in einer völlig anderen architektonischen Einheit aufgehen lässt. Nun ist es aber nötig, in Treue sowohl zu Rickert als auch zu Weber, von den Bildern zu den Begriffen überzugehen. Hierbei werde ich aus Gründen der größeren Klarheit eine relativ wichtige Frage weitgehend außer Acht lassen und nur kurz ansprechen, zu der sich unter anderem Sven Wöhler6 umfangreich geäußert hat. Es geht um die gerechtfertigte Unterstreichung der Tatsache, dass die Beziehung zwischen Rickert und Weber sich nicht allein um die erste Auflage der Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (1896–1902) dreht, wie es in einigen Auslegungen scheint. Wir wissen aus der Biographie von Marianne Weber, die ab 1894 in Freiburg die Philosophiekurse und -seminare Rickerts besuchte, dass Weber „schon vor Jahren Rickerts erste erkenntnistheoretische Schriften: ‚zur Lehre von der Definition‘ [1888] und 5 Für eine erste Orientierung verweise ich auf die treffenden einleitenden Seiten von Bruun zu der 2. Auflage von Science, Values and Politics in Max Weber’s Methodology. 6 Vgl. S. Wöhler, Das heterologische Denkprinzip Heinrich Rickerts und seine Bedeutung für das Werk Max Webers, op. cit., S. 14–16.
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‚Der Gegenstand der Erkenntnis‘ [1892] studiert und in ihrer gedanklichen Schärfe und Durchsichtigkeit bewundert“ hat7. Im Übrigen verweist Weber selbst in einer Anmerkung zu Roscher und Knies auf Rickerts Aufsatz Les quatre modes de “l’Universel” dans l’histoire, den er 1901 in der „Revue de Synthèse historique“ veröffentlichte8, und viele Jahre später spielt er in einer einleitenden Bemerkung zu Soziologische Grundbegriffe, dem berühmten ersten Kapitel des vermuteten ersten Teils von Wirtschaft und Gesellschaft, ebenfalls auf einige Beobachtungen über den Begriff des ‚Verstehens‘ an, die sich in der zweiten Auflage der Grenzen (1913) finden9. In den in der Gesamtausgabe veröffentlichen Briefen Max Webers lassen sich noch weitere, auch kritische Bemerkungen zu anderen Schriften Rickerts finden: Einige werden ausdrücklich erwähnt, wie der Aufsatz über die Geschichtsphilosophie, erschienen in der Festschrift für Kuno Fischer von 190510, der wichtige Aufsatz Zwei Wege der Erkenntnistheorie, erschienen in den „Kant-Studien“ und in einer separaten Auflage 190911, und der Aufsatz Vom System der Werte, veröffentlicht 1913 in „Logos“12; und andere lassen sich zumindest plausibel identifizieren, wie die zweite, komplett überarbeitete Auflage von Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (1910) und der Aufsatz Vom Begriff der Philosophie, der den ersten Band von „Logos“ aus den Jahren 1910–1911 eröffnet13. Ich lasse diese Problematik jedoch bewusst außen vor und werde mich im Folgenden nur auf die erste Auflage der Grenzen beziehen. Auf dieses „grundlegende[…] Werk von H. Rickert“14 beruft sich Weber bereits in der zweiten Fußnote des ersten Teils (1903) seines Aufsatzes über Roscher und Knies (der trotz oder gerade wegen seiner Gewundenheit eine Art Zusammenfassung aller 7 Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen, 1926, S. 216. 8 Vgl. M. Weber, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie (1903–1906), in Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, 1988, S. 1–145 (im Folgenden: RuK), S. 15, Fußnote. Vgl. hierzu auch die erste Studie in diesem Buch. 9 Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. durchgesehene Aufl., hrsg. von J. Winckelmann, Tübingen, 1985, S. 1. 10 Vgl. M. Weber, Gesamtausgabe (im Folgenden: MWG), II/5: Briefe 1906–1908, hrsg. von M.R. Lepsius und W.J. Mommsen in Zusammenarbeit mit B. Rudhard und M. Schön, Tübingen, 1990, S. 414. 11 Vgl. MWG, II/6: Briefe 1909–1910, hrsg. von M.R. Lepsius und W.J. Mommsen in Zusammenarbeit mit B. Rudhard und M. Schön, Tübingen, 1994, S. 202. 12 Vgl. MWG, II/8: Briefe 1913–1914, hrsg. von M.R. Lepsius und W.J. Mommsen in Zusammenarbeit mit B. Rudhard und M. Schön, Tübingen, 2003, S. 262. Aber siehe auch ebd., S. 408–411. 13 Vgl. MWG, II/6: Briefe 1909–1910, op. cit., S. 571. 14 RuK, S. 4, Fußnote.
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zukünftigen Probleme seines Autors darstellt). Und in einer folgenden, häufig zitierten Fußnote schreibt er gar: „Ich glaube, […] mich ziemlich sinngetreu an die wesentlichen Gesichtspunkte der früher zitierten Arbeit Rickerts angeschlossen zu haben, soweit sie für uns von Belang sind. Es ist einer der Zwecke dieser Studie, die Brauchbarkeit der Gedanken dieses Autors für die Methodenlehre unserer Disziplin zu erproben. Ich zitiere ihn daher nicht bei jeder einzelnen Gelegenheit erneut, wo dies an sich zu geschehen hätte“15. Man braucht nur lesen zu können, um zu sehen, dass Weber schon hier sehr klar die oben angesprochene maximale Übereinstimmung mit, aber zugleich auch die Divergenz zu Rickert ausdrückt. Aber ‚lesen können‘ steht hier zunächst für die Entscheidung, die Gesamtstruktur und die ‚langen Argumentationsketten‘ der Grenzen nicht einzeln, sondern gemeinsam zu betrachten. Geht man diesen nicht immer leichten Weg, stellt man zwei Dinge fest. a) Erstens zitiert Weber Rickert wirklich nicht jedes Mal, wenn er es eigentlich müsste, und zwar nicht nur, wenn Fragen im Spiel sind wie jene nach der ‚ungeheuren intensiven und extensiven Mannigfaltigkeit des Wirklichen‘ oder auch der ‚theoretischen Wertbeziehung‘, bezüglich derer Webers Anleihen bei Rickert allgemein bekannt sind, sondern auch, wenn es um andere Fragen geht, wie beispielsweise jene (auf die ich im Folgenden zu sprechen kommen werde) nach der kausalen Betrachtung der Geschichte, bei der man bisweilen dazu tendiert zu glauben, dass die einzigen wichtigen Bezugspersonen für Weber hier Autoren wie Johannes von Kries oder Gustav Radbruch und gewiss nicht Rickert sind. b) Und zweitens versteckt Webers scheinbar harmlose Erklärung, eines der Ziele des Aufsatzes über Roscher und Knies sei es, die Verwendbarkeit der logischen Argumentationen Rickerts für die Probleme der eigenen Fachdisziplin zu prüfen (welches in Wirklichkeit nicht nur methodologische Probleme sind, sondern, wie immer bei Weber, Probleme, die aus der Interaktion von Methoden und Inhalten entstanden sind), die klare Distanznahme gegenüber Rickert. Diese besteht nicht so sehr und nicht nur in der einen oder anderen Meinungsverschiedenheit, sondern auch und vor allem in einer kompletten Metamorphose des letzten Sinns aller logischen Argumentationen der Grenzen und jeder einzelnen von ihnen (wie ich Folgenden und immer in Bezug auf die spezifische Frage nach der kausalen Betrachtung der Geschichte zeigen werde). In der Tat sind bei Rickert die analytischen logisch-methodologischen Überlegungen über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung und über die Begriffsbildungen der historischen Kulturwissenschaften in jedem Moment auf das Ziel einer erkenntnistheoretischen Begründung 15 RuK, S. 7, Fußnote.
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der historischen Kulturwissenschaften (aber auch der Naturwissenschaften)16 gerichtet, die in der Lage ist, ein festes kritisches Fundament für einen wirksamen Wiederaufschwung des philosophischen Idealismus zu bilden. Bei Weber dagegen werden dieselben Überlegungen von Anfang an aus ihrem letzten Bezugsrahmen gelöst, um in den Dienst eines ganz anderen grundlegenden Projekts und einer ganz anderen grundlegenden Perspektive gestellt zu werden, die beide direkt aus der Praxis der spezialisierten wissenschaftlichen Arbeit (des Rechtshistorikers, Wirtschaftshistorikers, Soziologen usw.) entstanden sind. Es handelt sich dabei um eine Arbeit, die weit entfernt von den klar abgegrenzten ‚italienischen Gärten‘ ist, wie sie die philosophischen Klassifikationen der Wissenschaften entwerfen, und dagegen aber sehr sensibel für die beweglichen und durchlässigen Grenzen ist, die die Einzelwissenschaften voneinander trennen. Bei dem genannten Projekt geht es darum, mit den Instrumenten der modernen empirischen Wissenschaft und auf der Grundlage ihrer Annahmen und Implikationen die Genese und die Entwicklung des ‚westlichen Rationalismus‘17 zu untersuchen und auf diese Weise zu versuchen, den Faden eines sehr komplizierten, vielgerichteten Prozesses zu entwirren, der in den einzelnen Lebensgebieten alles andere als synchron verläuft und an das Überkreuzen relativ unabhängiger Kausalreihen gebunden ist, zu denen das Handeln bestimmter Menschengruppen (also ihr mit subjektivem Sinn ausgestattetes Tun, Dulden oder Unterlassen) zu zählen ist18: Es handelt sich also um einen individuellen und bestimmten Prozess, dem aber „der Sohn der modernen eu-
16 Zu Beginn des letzten Kapitels der Grenzen schreibt Rickert trotz der Behauptung, den nicht ganz leichten „prinzipiellen Unterschied“ zwischen „den im engeren Sinne logischen und methodologischen Problemen“ (Hauptgegenstand der ersten vier Kapitel) und den „üblicherweise als erkenntnistheoretisch bezeichneten Fragen“ (deren Bearbeitung die „Wissenschaftslehre“ in dem fraglichen Kapitel verlangt) nicht analytisch behandeln zu wollen, Folgendes: „Während es bisher hauptsächlich darauf ankam, die verschiedenen Formen und Methoden der Wissenschaften als teleologisch nothwendige Mittel für die verschiedenen Erkenntniszwecke zu verstehen, deren Verfolgung wir nur als Thatsachen konstatiren konnten, [kommt] es jetzt darauf an[…], welche Geltung die Erkenntnisziele selbst haben, und inwiefern daher von einer wissenschaftlichen Objektivität der verschiedenen Erkenntnisformen gesprochen werden darf“ (H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, Tübingen - Leipzig, 1902, im Folgenden: Grenzen 1902, S. 601–602). Vgl. hierzu auch den ersten Abschnitt der ersten Studie in diesem Buch. 17 Vgl. G.A. Di Marco, Max Weber e il razionalismo occidentale, in ders., Studi su Max Weber, Neapel, 2003, S. 183–222. 18 Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 1.
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ropäischen Kulturwelt“19 geneigt ist, eine universalgeschichtliche Bedeutung zuzuschreiben. Die Grundperspektive, vor der Weber dieses Projekt entwickelt, ist eine „Universalgeschichte der Kultur“20, die nicht nur radikal antimetaphysisch und antiemanatistisch ist (und also ‚positivistisch‘ im tiefsten Sinne des Wortes)21, sondern auch radikal antiontologisch (was bei der Differenzierung zwischen Webers ‚Positivismus‘ und jenem ganz anderer Art von Marx und in gewisser Weise auch von Nietzsche äußerst wichtig ist). Im Hinblick auf diese Perspektive verwendet Weber zweifelsohne Instrumente von Rickert, um eine erbarmungslose Kritik der metaphysisch ausgerichteten Lebensphilosophien zu entwickeln: eine Kritik also, die nicht nur den ‚Emanatismus der Vernunft‘, der in Hegels Philosophie seinen Höhepunkt findet, einbezieht, sondern auch den ‚Emanatismus der Unvernunft‘, wie jenen organizistisch-romantischen und totalistischen von Roscher oder jenen anthropologisch-individualistischen von Knies. Dennoch geschieht dies nicht im Namen einer Philosophie des Lebens in Rickerts Sinn – die ‚Philosophie des Lebens‘ im objektiven Sinn des Genitivs sein kann, wenn sie in Bezug auf das Leben etwas absolut Anderes und Transzendentes meint, nämlich die ‚irreale‘ Dimension der Werte und ihres Geltens, von der aus das Leben einen Sinn erhalten kann22 –, sondern vielmehr im Namen einer Auffassung vom Leben, das „in sich selbst beruht und aus sich selbst verstanden wird“ und aus diesen beiden Gründen verlangt, sich zwischen den „letzten überhaupt möglichen Standpunkte[n] zum Leben […] zu entscheiden“23. Dies ist eine Lebensauffassung, die trotz aller notwendigen, ja sogar unverzichtbaren Vorbehalte, mir ein Weg zu sein scheint, im großen Stil und auf der Grundlage neuer Anforderungen die alte Dilthey’sche Lektion zu überdenken. Ist es im Übrigen vielleicht ein Zufall, dass sich Arthur Salz, der, wie Troeltsch meint, wegen seiner Spezialisierung für politische Ökonomie und Soziologie nicht nur ein vorsichtiger ‚Georgeaner‘24, sondern der entschiedenste Verteidiger Webers in der Auseinandersetzung nach der 19 M. Weber, Vorbemerkung (1920) zu Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen, 1988, S. 1–16, S. 1. 20 Ebd., S. 10. 21 Vgl. G.A. Di Marco, Premessa zu Studi su Max Weber, op. cit., S. XIII–XXX, insb. S. XXVII. 22 Hierzu vgl. A. Giugliano, Heinrich Rickert tra Philosophie des Lebens e Lebensphilosophie, op. cit. 23 M. Weber, Wissenschaft als Beruf, in MWG, I/17: Wissenschaft als Beruf 1917/1919 – Politik als Beruf 1919, hrsg. von W.J. Mommsen und W. Schluchter in Zusammenarbeit mit B. Morgenbrod, Tübingen, 1992, S. 49–111, S. 104–105. 24 Vgl. E. Troeltsch, Die Revolution in der Wissenschaft (1921), in Ders. Gesammelte Schriften, Bd. 4 hrsg. von H. Baron, Tübingen, 1925, S, 653–677, S. 673.
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Veröffentlichung des Vortrags über die Wissenschaft als Beruf25 ist, in seiner Schrift Für die Wissenschaft gegen die Gebildeten unter ihren Verächtern (1921) mehrfach auf Dilthey beruft26? Um zu verstehen, dass diese Probleme und Prägungen von Anfang an weit von den Problemen und Prägungen Rickerts und seiner anderen Form des Kantianismus entfernt waren, braucht man sich nur einige Stellen der Einleitung zu der ersten Auflage der Grenzen in Erinnerung zu rufen, die insgesamt von der Absicht dominiert wird, „den eigentlichen Sinn“ der nachfolgenden Untersuchung zu erklären, da – wie er schreibt – „der Weg, den wir einschlagen“, jener trockene und beschwerliche Weg der logisch-methodologischen und erst danach der erkenntnistheoretischen Analysen27 zu den Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildungen und den davon zu unterscheidenden Eigenschaften der kulturgeschichtlichen Begriffsbildungen, uns „vielleicht längere Zeit über das letzte Ziel, dem wir zustreben, im Unklaren lassen könnte“28. Und dieses Ziel ist, eine „allgemeine Welt- und Lebensanschauung“ zu erarbeiten, eine „allseitige und umfassende“ Weltanschauung29, frei von den gefährlichen Einseitigkeiten des Naturalismus. Aber warum also sollte man diesen ermüdenden ‚Gang durch die Wüste‘ auf sich nehmen, anstatt direkt eine alternative Weltanschauung zu jener des Naturalismus zu entwickeln und damit Hegels Aufforderung nach dem „Muth zur Wahrheit“ zu folgen, dem nicht einmal „das verschlossene Wesen des Universums“ widerstehen kann30? Ich bin der Ansicht, dass Rickerts Antwort auf diese Frage, nicht nur erlaubt, die Distanz abzuschätzen, die zwischen seiner Form des Neukantianismus und dem deutschen Idealismus liegt, sondern auch und vielleicht vor allem, die Distanz abzuschätzen, die seinen Neukantianismus von jener anthropologischen (aber deswegen nicht psychologistischen) Lesart des Kant‘schen Denkens trennt, die Fulvio Tessitore eindrücklich als ‚heterodoxen Kantianismus‘ 25 Vgl. E. Massimilla, Ansichten zu Weber. Wissenschaft, Leben und Werte in der Auseinandersetzung um „Wissenschaft als Beruf“, dt. Übers. C. Voermanek, Leipzig, 2008, S. 97–143. Aber zu Salz siehe auch den umfangreichen Aufsatz von J. Fried, Zwischen „Geheimem Deutschland“ und „geheimer Akademie der Arbeiter“. Der Wirtschaftswissenschaftler Arthur Salz, in B. Schlieben - O. Schneider - K. Schulmeyer (Hg.), Geschichtsbilder im GeorgeKreis, Göttingen, 2004, S. 249–302. 26 Um sich nur auf die ausdrücklichen Zitate zu begrenzen, vgl. A. Salz, Für die Wissenschaft gegen die Gebildeten unter ihren Verächtern, München, 1921, S. 54, 69 und 74–78. 27 Vgl. oben, Fußnote 16. 28 Grenzen 1902, S. 14. 29 Grenzen 1902, S. 10. 30 Grenzen 1902, S. 11.
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bezeichnet und der er einen Stammbaum zeichnet, der von Humboldt zu Weber führt31. a) Gewiss, für den Neukantianer Rickert ist es nicht möglich, jede Erkenntnistheorie zu überspringen und offen gegen das verschlossene Wesen des Universums anzustürmen. „Vielleicht kommt einmal für die Philosophie wieder eine andere Zeit. Für heute scheint das erkenntniss-kritische Verfahren ihr ganz unentbehrlich zu sein. Wir wissen, nach wie kurzer Zeit jene stolzen Gedankensysteme des deutschen Idealismus in sich zusammengebrochen sind. Wenn diese Systeme auch vielleicht noch nicht ganz so ‚historisch‘ geworden sind, wie man heute vielfach meint, so hatte doch jedenfalls der philosophische Muth die Kraft des Universums damals erheblich unterschätzt, und die Folgen davon waren die traurigsten. Eine Zeit der philosophischen Feigheit brach an, unter deren Nachwirkungen wir noch zu leiden haben“32. Schon in dieser Passage stellen aber die Anspielung auf die Möglichkeit, dass für die Philosophie wieder neue Zeiten anbrechen, und die Einschätzung, dass die Systeme des deutschen Idealismus nicht so historisch sind, wie man denkt, einen klaren Hinweis auf das Folgende dar. b) In der Tat scheint nach Rickerts Ansicht diese Zeit der Feigheit, diese „Periode des Rückschlags“, die den größten Teil des 19. Jahrhunderts andauerte, vorüber zu sein: „Die Theilnahme an allgemeinen Problemen wächst. Die Zeit des reinen Spezialistenthums, d.h. eines Wissenschaftsbetriebes, der jede umfassendere Ueberlegung grundsätzlich als unwissenschaftlich meidet, hat, wenn nicht Alles täuscht, ihren Höhepunkt überschritten“33. c) Bei genauer Betrachtung ist gerade diese im Wesentlichen antiwebersche Überzeugung, dass die Epoche des Spezialistentums ihren Höhepunkt überschritten hat, der Ausgangspunkt dafür, dass Rickert seine Aufforderung formuliert, „vorsichtig“ in der Philosophie zu sein34: „Aber gerade weil diese Stimmung, in der eine Philosophie allenfalls gedeihen kann, wieder aufkommt, ist jedes unkritische Darauflosgehen um so bedenklicher. Nur vorsichtig und langsam, jeden Schritt vorher überlegend und rechtfertigend, können wir vorwärts kommen“35. Wer diese Vorsicht als „Schwäche“36 deutet und meint, frei von ihr zu sein, habe den Beweis zu erbringen, dass auch ein anderer Weg möglich ist. Aber in Wirklichkeit müssen „die Verächter erkenntnisstheoretischer Untersuchungen […] heute als Schwärmer erscheinen, die der Ge31 Ich verweise hier lediglich auf F. Tessitore, Per una storia della cultura, in „Archivio di storia della cultura“, I (1988), S. 11–47, insb. S. 21ff.; auch in Ders., Contributi alla storia e alla teoria dello storicismo, I, Rom, 1995, S. 35–79, insb. S. 47ff. 32 Grenzen 1902, S. 12. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Grenzen 1902, S. 12–13. 36 Grenzen 1902, S. 13.
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winnung einer umfassenden Welt- und Lebensauffassung gefährlicher sind, als jene allzugenügsamen und bescheidenen [aber offensichtlich ebenfalls gefährlichen] Naturen, die mehr als ein Spezialistenthum in der Wissenschaft überhaupt nicht wollen“37. d) „So hat auch die Philosophie unserer Zeit ihre Scylla und ihre Charybdis. Zwischen Schwärmern und Spezialistenthum hindurch muss sie ihren Weg machen, oder sie wird überhaupt keinen Weg machen. [Gegen die Schwärmer ist zu sagen:] Wir brauchen nicht jenen Muth einer früheren Zeit, der ein Uebermuth war, wir brauchen Muth, uns immer wieder auf den beschwerlichsten und dornenvollen Weg der Logik und Erkenntnistheorie zu wagen. [Aber gegen das Spezialistentum ist zu betonen, dass dieser Weg, genauso dornenvoll und beschwerlich wie er ist, eingeschlagen werden muss, denn und nur denn] hier liegen heute die wichtigsten Aufgaben für eine Philosophie, die in bewusstem Zusammenhange mit den grossen Denkern der Vergangenheit unbekümmert um die Moden des Tages an den alten Problemen weiterarbeitet […]. Auch unser Weg soll schliesslich zu umfassender Lebensund Weltauffassung hinführen. Das ist eine Aufgabe, die keine Zeit vernachlässigen darf. Niemals über das Ziel, nur über den Weg kann in einer Philosophie, die ihren Namen verdient, eine verschiedene Meinung entstehen“38. Es fällt schwer, oder zumindest fällt es mir schwer, diese Überlegungen Rickerts (die bereits auf das Jahr 1896 zurückgehen)39 nicht als Gegensatz neben eine sehr viel spätere Behauptung Webers in Wissenschaft als Beruf (1917/1919) zu stellen, in einer Schrift also, in der mit außerordentlicher Eindrücklichkeit die Themen, Probleme und Annahmen eines der Forschung gewidmetem Lebens zum Ausdruck kommen, das im Begriff war, frühzeitig zu enden: Ich beziehe mich auf die Behauptung, dass es „eine unentrinnbare Gegebenheit unserer historischen Situation“ ist, dass die Wissenschaft heute nicht mehr „eine Heilsgüter und Offenbarungen spendende Gnadengabe von Sehern, Propheten“ und nicht einmal mehr „ein Bestandteil des Nachdenkens von Weisen und Philosophen“ ist, sondern „ein fachlich betriebener ‚Beruf‘ […] im Dienst der Selbstbesinnung und der Erkenntnis der tatsächlichen Zusammenhänge“40. Sollte Weber hier einfach unterlassen haben, eine explizite Ausnahme für die philosophischen Pläne seiner neukantianischen Gesprächspartner zu machen? Das scheint mir nicht plausibel: Schreibt er doch wenige Seiten später, als er die Unterschiede zwischen der Wissenschaft, 37 Ebd. 38 Grenzen 1902, S. 13–14. 39 Vgl. H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, 1. Hälfte, Freiburg i. Br., 1896. 40 M. Weber, Wissenschaft als Beruf, op. cit., S. 105.
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wie sie sich in unserer geschichtlichen Situation gestaltet, und der Theologie darlegt, in aller Klarheit, dass der größte Unterschied darin besteht, dass die Theologie mit jeder Philosophie die Voraussetzung teilt, „die Welt müsse einen Sinn haben“, was unabänderlich die Frage aufwirft, „wie muss man ihn [den Sinn] deuten, damit dies denkmöglich sei?“ Als Vergleich führt er Kant an, und eben dieses unerwartete Beispiel ist der entscheidende Punkt, der jede Kulturphilosophie neukantianischer Prägung einschließt: „Ganz ebenso wie Kants Erkenntnistheorie von der Voraussetzung ausging: ‚Wissenschaftliche Wahrheit gibt es, und sie gilt‘ – und dann fragte: Unter welchen Denkvoraussetzungen ist das (sinnvoll) möglich?“41
II. Der historische Kausalzusammenhang Um die Möglichkeiten der Interpretation der Beziehung zwischen Weber und Rickert als einer Beziehung, in der die größte Nähe der einzelnen Argumentationen häufig mit der größten Distanz der theoretischen Grundperspektive zusammentrifft, konkret und aus der Nähe darzustellen, komme ich nun (wie bereits angedeutet) auf ein spezifisches Thema zu sprechen, das bei anderen Untersuchungen zu dieser Problematik manchmal ein wenig im Schatten bleibt: die kausale Betrachtung der Geschichte. Ich möchte in diesem Zusammenhang gewiss nicht leugnen, dass Weber sich auf Autoren wie Kries oder Radbruch (und nicht auf einen Philosophen wie Rickert) bezog, als er sich dem Problem der Zuverlässigkeit der einzelnen historisch-kausalen Zurechnungen stellte. Ich bin aber überzeugt, dass sich Weber bezüglich eines Begriffs, der auch die Frage nach der Zuverlässigkeit der einzelnen historisch-kausalen Zurechnungen leitet, nämlich des Begriffs des historischen Kausalzusammenhangs, beinah in allen Punkten mit dem Rickert der ersten Auflage der Grenzen einig ist; und das, obwohl Weber von Anfang an diesen Begriff absolut zweckdienlich für seine eigenen Interessen verwendet. Um diese beiden Punkte zu belegen, werde ich nicht auf Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik (1906) zurückgreifen, in denen der Verweis auf Rickerts Behandlung des Kausalzusammenhangs in der Geschichte immerhin an einigen wichtigen und nicht immer angemessen betonten Stellen wiederkehrt42, sondern insbesondere auf die Anfangsseiten 41 Ebd., S. 106–107. 42 Siehe hierzu den ersten Abschnitt der dritten Studie in diesem Buch. Aber vgl. auch E. Massimilla, Il caso e la possibilità: Max Weber tra von Kries e Rickert, in „Rivista di storia della filosofia“, Nr. 3, 2009, S. 491–504.
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wie sie sich in unserer geschichtlichen Situation gestaltet, und der Theologie darlegt, in aller Klarheit, dass der größte Unterschied darin besteht, dass die Theologie mit jeder Philosophie die Voraussetzung teilt, „die Welt müsse einen Sinn haben“, was unabänderlich die Frage aufwirft, „wie muss man ihn [den Sinn] deuten, damit dies denkmöglich sei?“ Als Vergleich führt er Kant an, und eben dieses unerwartete Beispiel ist der entscheidende Punkt, der jede Kulturphilosophie neukantianischer Prägung einschließt: „Ganz ebenso wie Kants Erkenntnistheorie von der Voraussetzung ausging: ‚Wissenschaftliche Wahrheit gibt es, und sie gilt‘ – und dann fragte: Unter welchen Denkvoraussetzungen ist das (sinnvoll) möglich?“41
II. Der historische Kausalzusammenhang Um die Möglichkeiten der Interpretation der Beziehung zwischen Weber und Rickert als einer Beziehung, in der die größte Nähe der einzelnen Argumentationen häufig mit der größten Distanz der theoretischen Grundperspektive zusammentrifft, konkret und aus der Nähe darzustellen, komme ich nun (wie bereits angedeutet) auf ein spezifisches Thema zu sprechen, das bei anderen Untersuchungen zu dieser Problematik manchmal ein wenig im Schatten bleibt: die kausale Betrachtung der Geschichte. Ich möchte in diesem Zusammenhang gewiss nicht leugnen, dass Weber sich auf Autoren wie Kries oder Radbruch (und nicht auf einen Philosophen wie Rickert) bezog, als er sich dem Problem der Zuverlässigkeit der einzelnen historisch-kausalen Zurechnungen stellte. Ich bin aber überzeugt, dass sich Weber bezüglich eines Begriffs, der auch die Frage nach der Zuverlässigkeit der einzelnen historisch-kausalen Zurechnungen leitet, nämlich des Begriffs des historischen Kausalzusammenhangs, beinah in allen Punkten mit dem Rickert der ersten Auflage der Grenzen einig ist; und das, obwohl Weber von Anfang an diesen Begriff absolut zweckdienlich für seine eigenen Interessen verwendet. Um diese beiden Punkte zu belegen, werde ich nicht auf Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik (1906) zurückgreifen, in denen der Verweis auf Rickerts Behandlung des Kausalzusammenhangs in der Geschichte immerhin an einigen wichtigen und nicht immer angemessen betonten Stellen wiederkehrt42, sondern insbesondere auf die Anfangsseiten 41 Ebd., S. 106–107. 42 Siehe hierzu den ersten Abschnitt der dritten Studie in diesem Buch. Aber vgl. auch E. Massimilla, Il caso e la possibilità: Max Weber tra von Kries e Rickert, in „Rivista di storia della filosofia“, Nr. 3, 2009, S. 491–504.
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des zweiten Teils des Aufsatzes über Roscher und Knies, der 1905 erschien und (wie im Übrigen auch der dritte und letzte Teil von 1906) den Titel Knies und das Irrationalitätsproblem trägt43. Dieses ‚Irrationalitätsproblem‘ ist, nebenbei gesagt, schon in jenen Jahren für Weber alles andere als ein einfaches ‚methodologisches‘ Problem, was offensichtlich wird, wenn man an die Polemik gegen die zu eindeutigen Sombart‘schen Begriffe des ‚Rationalismus‘ und der ‚Rationalisierung‘ denkt, mit der der zweite Abschnitt („Der Geist des Kapitalismus“) des ersten Kapitels (1904) des Aufsatzes über die protestantische Ethik schließt44. Im Übrigen erklärt Weber bekanntermaßen in der fraglichen Schrift ausdrücklich, dass die Auseinandersetzung mit Knies, wie auch jene mit Roscher, nur einen „,Vorwand‘“45 darstellt, um eine Reihe logischer (aber von einer unmittelbaren inhaltlichen Auswirkung geprägter) Probleme anzugehen, die nicht nur im Bereich der Nationalökonomie (und speziell in der Nationalökonomie mit historischer Orientierung) noch offen seien, sondern auch, allgemeiner, im Bereich der historischen Kulturwissenschaften. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit Knies auch zugleich und vorwiegend eine Auseinandersetzung mit einer langen Reihe zeitgenössischer Autoren von Wundt bis Münsterberg, von Simmel bis Gottl, von Croce bis Lipps. Und trotzdem geht Weber immer von dem Vorwand aus, den er gewählt hat, nämlich von der Klassifizierung der Wissenschaften, die Knies in Die politische Oekonomie vom Standpuncte der geschichtlichen Methode vorschlägt (bereits in der ersten Auflage von 1853, aber mit größerer Deutlichkeit in der zweiten, stärker beachteten Auflage von 1881–1883, die kurz vor dem Methodenstreit zwischen Menger und Schmoller und Diltheys Einleitung in die 43 Vgl. RuK, S. 42 und S. 105. 44 Auf diesen wichtigen Seiten unterstreicht Weber nicht nur, dass „die Geschichte des Rationalismus keineswegs eine auf den einzelnen Lebensgebieten parallel fortschreitende Entwicklung zeigt“, sondern auch Folgendes: „Der ‚Rationalismus‘ ist ein historischer Begriff, der eine Welt von Gegensätzen in sich schließt“. Oder in anderen Worten: „Man kann eben […] das Leben unter höchst verschiedenen letzten Gesichtspunkten und nach sehr verschiedenen Richtungen hin ‚rationalisieren‘“ (M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1904–1905, in Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, op. cit., S. 17–206, im Folgenden: PEGK, S. 61–62). Das ist wesentlich für die Umschreibung des eigentlichen Problems dieses großen Aufsatzes von 1904–1905: nämlich das Problem „zu untersuchen […], wes Geistes Kind diejenige konkrete Form ‚rationalen‘ Denkens und Lebens war, aus welcher jener ‚Berufs‘-Gedanke und jenes, – […] vom Standpunkt der rein eudämonistischen Eigeninteressen aus so irrationale – Sichhingeben an die Berufsarbeit erwachsen ist, welches einer der charakteristischsten Bestandteile unserer kapitalistischen Kultur war und noch immer ist“ (PEGK, S. 62). 45 RuK, S. 44, Fußnote.
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Geisteswissenschaften erschien). a) Diese Klassifizierung basiert auf einer doppelten Voraussetzung, die Knies als „selbstverständlich“ ansieht und die Weber zunächst entscheidet, nicht zu diskutieren, obwohl er sie (in Anlehnung an Rickert) ganz anders sieht: Es handelt sich um die doppelte Voraussetzung, „daß die wissenschaftliche ‚Arbeitsteilung‘ eine Repartierung des objektiv gegebenen Tatsachenstoffes darstelle, und daß ferner dieser objektiv ihr zugewiesene Stoff es sei, der einer jeden Wissenschaft ihre Methode vorschreibe“46. b) Ausgehend davon halte es Knies für notwendig, den zwei bereits von Herrmann von Helmholtz nach ihrem Gegenstand unterschiedenen Gruppen von Disziplinen (‚Naturwissenschaften‘ und ‚Geisteswissenschaften‘) eine dritte Gruppe zur Seite zu stellen, nämlich die ‚Geschichtswissenschaften‘, „welche es mit äußeren, aber durch ‚geistige‘ Motive mitbedingten Vorgängen zu tun haben“47. c) Zu letzteren gehöre auch die Nationalökonomie, die „jene Vorgänge [erörtert], welche daraus entspringen, daß der Mensch für die Deckung des Bedarfs ‚des menschlich persönlichen Lebens‘ auf die ‚Außenwelt‘ angewiesen ist“. Diese Definition ist für Weber eine dem „Aufgabenkreise“ der Nationalökonomie „teils zu weite, teils zu enge Umgrenzung“48. Das ist völlig verständlich, wenn man bedenkt, dass er in dem Aufsatz von 1904 über die Objektivität der sozialwissenschaftlichen und sozialpolitischen Erkenntnis den „grundlegende[n] Tatbestand, an den sich alle jene Erscheinungen knüpfen, die wir im weitesten Sinne als ‚sozial-ökonomische‘ bezeichnen“ in dem Umstand ermittelt hat, „daß unsere physische Existenz ebenso wie die Befriedigung unserer idealsten Bedürfnisse [Knies’ Definition ist zu eng, da sie sich nur auf die höchsten der idealen Bedürfnisse bezieht, auf das „menschliche persönliche Leben“] überall auf die quantitative Begrenztheit und qualitative Unzulänglichkeit der dafür benötigten äußeren Mittel stößt, daß es zu ihrer Befriedigung der planvollen Vorsorge und der Arbeit, des Kampfes mit der Natur und der Vergesellschaftung mit Menschen bedarf, [hier ist Knies Definition zu weit, da sie sich auf die Ressourcen der Außenwelt im Allgemeinen bezieht, und nicht auf den Mangel an Ressourcen der Außenwelt]“49. d) In jedem Fall ist es ein anderer Punkt, den Weber unterstreicht, nämlich dass Knies damit die ‚amphibische‘ Natur der Vorgänge erklärt, mit denen sich nach seiner Sichtweise die Nationalökonomie befasst: „Da diese Wissenschaft menschliches Handeln unter einerseits naturgegebenen, andererseits historisch 46 RuK, S. 44. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 M. Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in Id., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, op. cit., S. 146–214, S. 161.
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bestimmten Bedingungen behandelt, so ergibt sich ihm, daß in ihr Beobachtungsmaterial als Determinanten auf der einen Seite, der des menschlichen Handelns, die menschliche ‚Willensfreiheit‘ ‚eingehen‘, auf der anderen dagegen ‚Elemente der Notwendigkeit‘: nämlich – erstens – in den Naturbedingungen die blinde Nezessitierung des Naturgeschehens und – zweitens – in den historisch gegebenen Bedingungen die Macht kollektiver Zusammenhänge“50. Hier müssen wir uns demnach erneut einem „hundertmal ‚erledigten‘, aber in stets neuer Form auftauchenden Problem“51 widmen, nämlich dem Problem der „Willensfreiheit“ und deren Verhältnis zum Kausalprinzip. e) Dabei ist eine wichtige Beobachtung zu ergänzen: Für Knies wie auch für Roscher ist „Kausalität gleich Gesetzmäßigkeit“, und das schließt für sie ein, dass „die Einwirkung der natürlichen [...] Zusammenhänge“ eine „gesetzmäßige Einwirkung“52 ist. f ) Aus den letzten beiden Tatsachen geht hervor, dass für Knies die Naturgesetze auch in der Ökonomie gelten, sich aber nicht völlig mit den Gesetzen der Ökonomie decken, weil es in der Ökonomie auch jene Nichtübereinstimmung mit dem Gesetz gibt, die (gemäß der Identifikation von kausaler Bestimmtheit und Gesetzmäßigkeit) im Wesentlichen die Freiheit des menschlichen Willens charakterisiert. So tritt bei Knies an die Stelle des Gegensatzes „zweckvolles menschliches Handeln“ (oder allgemeiner: zwischen dem menschlichen Tun, Dulden und Unterlassen, dem das handelnde Subjekt einen Sinn zumisst) einerseits und „durch die Natur und die geschichtliche Konstellation gegebene Bedingungen dieses Handelns“53 andererseits – ein Gegensatz, den Weber in gewisser Hinsicht für gerechtfertigt hält und selbst in dem Aufsatz über Roscher und Knies entwickelt, indem er darüber nachdenkt, dass das menschliche Verhalten sich ‚weniger irrational‘ gestalten kann als das Naturgeschehen, zumindest soweit es auf Grundlage seiner Kompatibilität mit unserem nomologischen Wissen nicht nur erklärt, sondern auch ‚verstanden‘ werden kann, d.h. erklärt werden kann auf der Grundlage eines Motivs oder eines Komplexes von Motiven des Handelnden selbst54 – dieser „ganz andere 50 RuK, S. 44. 51 RuK, S. 46. 52 RuK, S. 44–45 (1. Hervorhebung E.M.). 53 RuK, S. 45. 54 Vgl. RuK, S. 67: „Unser kausales Bedürfnis kann bei der Analyse menschlichen Sichverhaltens eine qualitativ andersartige Befriedigung finden, welche zugleich eine qualitativ andere Färbung des Irrationalitätsbegriffs nach sich zieht. Wir können für seine Interpretation uns, wenigstens prinzipiell, das Ziel stecken, es nicht nur als ‚möglich‘ im Sinn der Vereinbarkeit mit unserem nomologischen Wissen ‚begreiflich‘ zu machen, sondern es zu ‚verstehen‘, d.h. ein ‚innerlich‘ ‚nacherlebbares‘ konkretes ‚Motiv‘ oder einen Komplex von solchen zu ermitteln, dem wir es, mit einem je nach dem Quellenmaterial verschieden
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[Gegensatz]: ‚freies‘ und daher irrational-individuelles Handeln der Personen einerseits, – gesetzliche Determiniertheit der naturgegebenen Bedingungen des Handelns anderseits“55. Es lässt sich demnach eine doppelte Identifikation ausmachen: „Die Identifikation von Determiniertheit mit Gesetzlichkeit einerseits, von ‚freiem‘ und ‚individuellem‘, d.h. nicht gattungsmäßigem Handeln anderseits“56. Es ist bekannt, dass Weber sich entschieden dieser doppelten Identifikation widersetzt, die er als die beiden Seiten ein und desselben logischen Fehlers interpretiert, der – nicht allein ein Fehler von Knies – fortgesetzt als Brückenkopf für die unrechtmäßigen Einmischungen der Frage nach der Willensfreiheit in die methodologischen Diskussionen der empirischen historischen Kulturwissenschaften dient, indem er sich insgesamt als eine „degenerierte“, hohen Grade von Eindeutigkeit, zurechnen. Mit anderen Worten: individuelles Handeln ist, seiner sinnvollen Deutbarkeit wegen, – soweit diese reicht, – prinzipiell spezifisch weniger ‚irrational‘ als der individuelle Naturvorgang. Soweit die Deutbarkeit reicht: denn wo sie aufhört, da verhält sich menschliches Tun wie der Absturz jenes Felsblocks: die ‚Unberechenbarkeit‘ im Sinn der fehlenden Deutbarkeit ist, mit anderen Worten, das Prinzip des ‚Verrückten‘“. Im Übrigen erkennt Weber bereits in einer langen Fußnote im ersten Teil von Roscher und Knies, auch wenn er von der logisch-methodologischen Wissenschaftsklassifikation von Windelband und Rickert überzeugter ist als von jener „ontologischen“ von Dilthey und Gottl, den grundlegenden Beitrag Diltheys gerade in dem Beharren auf diesem möglichen Gegensatz zwischen dem menschlichen Verhalten und dem Naturgeschehen: „Andererseits bleibt auch bei grundsätzlicher Annahme des Rickertschen Standpunktes zweifellos und von Rickert selbst natürlich nicht bestritten, daß der methodische Gegensatz, auf den er seine Betrachtungen zuspitzt, nicht der einzige und für manche Wissenschaften nicht einmal der wesentliche ist. Mag man insbesondere seine These, daß die Objekte der ‚äußeren‘ und ‚inneren‘ Erfahrung uns grundsätzlich in gleicher Art ‚gegeben‘ seien, annehmen, so bleibt doch [...] bestehen, daß der Ablauf menschlichen Handelns und menschlicher Aeußerungen jeder Art einer sinnvollen Deutung zugänglich ist, welche für andere Objekte nur auf dem Boden der Metaphysik ein Analogon finden würde […]. Die Möglichkeit dieses Schrittes über das ‚Gegebene‘ hinaus, den jene Deutung darstellt, ist dasjenige Spezifikum, welches trotz Rickerts Bedenken es rechtfertigt, diejenigen Wissenschaften, die solche Deutungen methodisch verwenden, als eine Sondergruppe (Geisteswissenschaften) zusammenzufassen“ (RuK, S. 12–13, Fußnote). Webers konstantes Bemühen geht jedoch dahin, eine solche Antithese zu rezipieren und sie nie in einem ontologischen Gegensatz zu verhärten. 55 RuK, S. 45. Weber hebt explizit hervor, dass auf der Grundlage der Prämissen von Knies’ Diskurs die dem menschlichen Handeln von den kollektiven historischen Konstellationen gestellten Bedingungen, da sie selbst das Ergebnis menschlichen Handelns sind, nicht als ein ‚dritter Pol‘ gegenüber dieser Antithese bestehen können, sondern vielmehr in den anomischen und irrationalen Bereich der Freiheit des Willens fallen (vgl. ebd., Fußnote). 56 Ebd.
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aber weit verbreitete Version von dem „trotz aller Widersprüche […] grandiosen […], rückhaltlos unverhüllten Charakter“ der kantischen „Kausalität durch Freiheit“ und ihrer philosophischen Weiterentwicklungen darstellt57. Weber zitiert beispielsweise einige Argumente, die Meinecke in der Polemik gegen Lamprecht (einen Autor, den Weber selbst kritisiert, jedoch als Entartung eines nicht individualistischen, sondern totalistischen Emanatismus wie Roschers)58 verwendet, und in denen Meinecke sich auf die „Tatsache der menschlichen Willensfreiheit“59 beruft, um in der Geschichte die Möglichkeit einer Gesetzmäßigkeit von der Art jener der Naturwissenschaften auszuschließen. In einer Erwiderung auf Lamprecht schreibt Meinecke 1896 in der Tat: Man wird „den geschichtlichen Massenbewegungen doch mit ganz anderen Augen gegenüberstehen, wenn man in ihnen die Leistungen vieler Tausende freiheitlicher X verborgen weiß [der Bezug zu Droysen ist offensichtlich], als wenn man sie nur als das Spiel gesetzmäßig wirkender Kräfte ansieht“, und spricht gleich danach von diesen X – dem irrationalen „Rest“ der Persönlichkeit – als von seinem „inneren Heiligtum“60. Und Weber glossiert: Wenn all das sich nicht in einer gerechtfertigten „Mahnung an die ‚ars ignorandi‘“ auflöst (gegen die einfachen Generalisierungen des organizistischen und totalistischen Emanatismus in allen seinen romantischen oder positivistischen Versionen), verwandele es sich in die „seltsame Vorstellung“, „daß die Dignität einer Wissenschaft oder aber ihres Objektes gerade in dem beruhe, was wir von ihm in concreto und generell nicht wissen können. Das menschliche Handeln würde also seine spezifische Bedeutung darin finden, daß es unerklärlich und daher unverständlich ist“61. Ein Aspekt der Frage wird jedoch nicht immer ausreichend betont: Nämlich die Tatsache, dass es Rickert ist, der Weber das gesamte, wirklich das gesamte logisch-methodologische Rüstzeug liefert, um die doppelte Identifikation zwischen Kausalität und Gesetzmäßigkeit (typisch für die ‚Rationalität‘ des Naturgeschehens) und Freiheit und Individualität (typisch für die ‚Irrationalität‘ des menschlichen Handelns) aus den Angeln zu heben. Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur noch einmal den zweiten Teil des vierten Abschnitts des vierten, grundlegenden Kapitels der Grenzen nachzulesen, also 57 Vgl. RuK, S. 62. 58 Vgl. RuK, S. 24–25, Fußnote. 59 RuK, S. 46, Fußnote. 60 F. Meinecke, Erwiderung zu: Karl Lamprecht, Zum Unterschiede der älteren und jüngeren Richtungen der Geschichtswissenschaft, in „Historische Zeitschrift“, LXXVII (1896), S. 264 und S. 266. 61 RuK, S. 46, Fußnote.
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dort, wo Rickert sich mit dem Problem des Kausalzusammenhangs in der Geschichte befasst. a) Rickert setzt sich hier das Ziel, die Haltlosigkeit einer gefährlichen Antinomie zu beweisen. Bei dieser Antinomie finden sich auf der einen Seite jene, die, da sie zu Recht dem Imperialismus der naturwissenschaftlichen Methode ablehnend gegenüberstehen, fordern, dass für die Geschichte „der kausale Zusammenhang nicht in Frage kommen oder gar überhaupt geleugnet werden soll“62. Aber das hieße einerseits zu vergessen, dass wir „nur eine empirische Wirklichkeit“ kennen63, welche, wenn sie durch Ursachen bedingt ist, dies sowohl ist, wenn sie wegen ihrer besonderen Individualität berücksichtigt wird, als auch, wenn sie auf allgemeine Begriffe zurückgeführt wird, und andererseits hieße es zu vergessen, dass es nicht zulässig ist, sich in der Diskussion über die logisch-methodologischen Unterschiede zwischen Natur- und Geschichtswissenschaften auf das allgemeine erkenntnistheoretische Problem der Anwendbarkeit des Begriffs der Ursache auf die empirische Wirklichkeit zu beziehen (wie es z.B. der Fall ist, wenn man unter der Berufung auf Kant behauptet, dass die kausale Wirklichkeitsauffassung nur gelte, wenn man die Wirklichkeit als Natur betrachtet, ohne dabei zu berücksichtigen, dass Kant, der vor der großen Entwicklung der Geschichtswissenschaften im 19. Jahrhundert lebte, „die Formen, welche für jede wissenschaftliche Auffassung der Welt unentbehrlich sind, nicht ausdrücklich von den Formen geschieden hat, die wir nur bei der Betrachtung der Wirklichkeit als Natur anwenden“)64. Gegen diese Position stehen auf der anderen Seite jene, die ausgehend von der richtigen Überzeugung der „durchgängige[n] kausale[n] Bestimmtheit aller historischen Thatsachen“65, fordern, daraus abzuleiten, dass die Geschichte nach der naturwissenschaftlichen Methode behandelt werden müsse, womit auch sie eine allgemeine erkenntnistheoretische Voraussetzung (die „der durchgängigen kausalen Bedingtheit des Seins“)66 mit einer besonderen methodologischen Form verwechseln, in der diese sich widerspiegelt (das Naturgesetz), und also im Wesentlichen Kausalität und Gesetzmäßigkeit identifizieren. b) Um das Knäuel zu entwirren, schlägt Rickert vor, zwischen drei Begriffen zu unterscheiden. „Die Voraussetzung, dass alles Geschehen seine Ursache hat, wollen wir, um sie von den Naturgesetzen der empirischen Wissenschaften zu unterscheiden, nicht Kausalitätsgesetz, sondern Grundsatz der Kausalität 62 63 64 65 66
Grenzen 1902, S. 409–410. Grenzen 1902, S. 410. Grenzen 1902, S. 411. Grenzen 1902, S. 410. Grenzen 1902, S. 413.
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oder Kausalprinzip nennen. Sodann muss, da jede Ursache und jede Wirkung von jeder anderen Ursache und jeder anderen Wirkung verschieden ist, jeder wirkliche Zusammenhang von Ursache und Wirkung nach unserer Terminologie als ein historischer Kausalzusammenhang im weitesten Sinne des Wortes bezeichnet werden. Schliesslich sprechen wir von einem Kausalgesetz, wenn individuelle Kausalzusammenhänge auf das hin betrachtet werden, was ihnen mit anderen Kausalzusammenhängen gemeinsam ist, oder wenn ein unbedingt allgemeiner Begriff gebildet wird, der nur das enthält, was an beliebig vielen Kausalzusammenhängen sich wiederholt“67. Diese Dreiteilung macht ein für alle Mal klar, dass „der Begriff der kausalen Verknüpfung als solcher den der Naturgesetzmässigkeit durchaus nicht einschliesst. Der Begriff einer einmaligen und individuellen Kausalreihe schliesst es vielmehr aus, dass ihre Darstellung durch Begriffe von Naturgesetzen erfolgen kann. So ist es z.B. gewiss ein kausal vollkommen bestimmter Vorgang, dass Lissabon am 1. November 1755 durch das bekannte Erdbeben zerstört wurde, oder dass Friedrich Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone ablehnte, aber es giebt keine allgemeinen Kausalgesetze, in deren Inhalt sich diese einmaligen individuellen Ereignisse befinden. Ja, der Gedanke eines solchen Gesetzes enthält geradezu einen logischen Widersinn, denn jedes Gesetz ist allgemein und kann daher von den besonderen Ursachen des einmaligen Vorganges, auf die es dem Historiker ankommt, nichts enthalten“68. c) Gewiss, auch für den historischen Kausalzusammenhang gilt, was im Allgemeinen für jede Form der historischen Begriffsbildung gilt (wie z.B. die Begriffe ‚Napoleon‘ oder ‚Dreißigjähriger Krieg‘). Ich beziehe mich auf die Tatsache, dass dieser, auch wenn er sich als ein ‚individueller Begriff‘ infolge einer theoretischen Wertbeziehung gestaltet, wenn er verstehbar und kommunizierbar sein will, immer auch aus allgemeinen ‚Begriffselementen‘ bestehen muss, wie es auch die generalisierenden Begriffsbildungen tun (wie z.B. der Begriff ‚Säugetier‘ oder das Gesetz der ‚allgemeinen Schwerkraft‘). Das ist die erste der ‚vier Arten‘ des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte, bei der der Ausdruck genau im Sinne der Naturwissenschaften angewandt wird69. Das bedeutet, dass, um einen vollkommen individuellen Kausalzusammenhang darzustellen, die Geschichtswissenschaften trotzdem von allgemeinen Begriffselementen Gebrauch machen müssen, die in diesem Fall „allgemeine Begriffe von
67 Grenzen 1902, S. 413–414. 68 Grenzen 1902, S. 414. 69 Siehe den dritten Abschnitt der ersten Studie in diesem Buch.
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Kausalverhältnissen“70 sind, also mehr oder weniger einfache Kausalgesetze71. Diese Argumentation von Rickert stellt meines Erachtens eine grundlegende logische Komponente von Webers Überzeugung dar, dass das „nomologische Wissen“ eine instrumentelle aber unabdingbare Rolle im Bereich der historischen Kulturwissenschaften spielt (in diesem Sinn ist sie auch die Bedingung der Möglichkeit für ein Thema, das Weber unabhängig von Rickert und in Bezug auf andere Autoren entwickelt, nämlich jenes der Funktion des nomologischen Wissens in den Verfahren der Feststellung der empirischen Geltung der einzelnen historisch-kausalen Zurechnungen). Denkt man zum Beispiel über die Konstellation der Ursachen nach, die zu Cäsars Ermordung führten, isoliert man die allgemeinen Begriffselemente der historischen Begriffsbildung, die dieser Vorgang darstellt (die Tötung eines Mannes, die Ermordung eines Diktators usw.) und fragt nach ihren Ursachen, die offensichtlich ebenfalls allgemeine Ursachen sind. So lassen sich mehr oder weniger einfache Kausalgesetze folgender Art formulieren: ‚Ein oder mehrere Dolchstiche können einen Menschen töten‘; ‚ein Diktator wird mit gewisser Häufigkeit zum Opfer von Männern, die ihm nahe stehen und besorgt oder verärgert sind über die Machtkonzentration, die er darstellt‘ usw. Trotzdem liefern nur die Kombination und die Vereinigung dieser allgemeinen Ursachen im Hinblick auf eine individualisierende Begriffsbildung, für die sie als allgemeine Begriffselemente fungieren, den individuellen Begriff der historischen Ursache für Cäsars Tod, also gerade für dieses Ereignis und kein anderes72. Häufig setzt die Geschichtswissenschaft auf diese instrumentelle Weise „vor aller Naturwissenschaft in der ‚Erfahrung des Lebens‘ entstandene allgemeine Sätze“73 ein. Das schließt aber nicht aus, dass sie nützlicherweise auch allgemeine Sätze aus einer naturwissenschaftlichen Begriffsbildung im eigentlichen Sinne annehmen kann: Die komplizierten evolutionären Gesetze bestimmter Formen psychischer Krankheiten 70 Grenzen 1902, S. 429. 71 In seinem berühmten Aufsatz The Function of General Laws in History von 1942 spricht Carl Gustav Hempel in analogem Sinn von ‚covering-laws‘, vertritt aber im Gegensatz zu Rickert die Ansicht, dass diese ein entscheidendes Argument gegen jede Möglichkeit darstellen, eine logische Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften und historischen Kulturwissenschaften herauszuarbeiten. 72 Rickert präzisiert auch, dass, wenn das zu erklärende ‚historische Individuum‘ eine Sache oder ein Vorgang ist (wie im Fall von Cäsars Tod), es ganz und gar nicht gesagt sei, dass seine Ursache ebenfalls eine Sache oder ein Vorgang ist. Und trotzdem wird, auch wenn sie aus mehreren Begriffselementen verschiedener Sachen und Vorgänge besteht, der Begriff dieser fraglichen Ursache, die Ursache eines ‚historischen Individuums‘ ist, immer ein individueller historischer Begriff sein. Für eine genaue, formale Beweisführung vgl. Grenzen 1902, S. 430ff. 73 Grenzen 1902, S. 433.
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können beispielsweise nutzbringend verwendet werden, um Neros Befehl, Rom anzuzünden, zu erklären74. Doch „eine auch noch so ausgedehnte Benutzung naturwissenschaftlicher Kausalgesetze […] kann nicht das Geringste an dem Wesen der historischen Begriffsbildung ändern“75. „Da diese Kausalgesetze immer nur Mittel sind, um den kausalen Zusammenhang individueller historischer Ereignisse einzusehen, so unterscheiden sie sich im Prinzip nicht von den anderen bisher betrachteten naturwissenschaftlichen Begriffen in der Geschichte, die niemals als um ihrer selbst willen erstrebte vollständige historische Begriffe auftreten, sondern nur Elemente von historischen Begriffen und insofern Umwege sind, auf denen die Darstellung wieder zum Individuellen zurückkehrt [aber die sie nicht vermeiden kann]“76. d) All das bestätigt die Unterscheidung zwischen Grundsatz der Kausalität, historischem Kausalzusammenhang und Kausalgesetz: Eine Unterscheidung, die, obwohl sie sich letztendlich nun auf logisch-methodologischer Ebene bewegt (Rickert selbst erklärt ausdrücklich, in den Grenzen nicht das erkenntnistheoretische Problem des Wesens des Grundsatzes der Kausalität darlegen zu wollen, sondern lediglich festzustellen, dass dieser sowohl die Voraussetzung für die Kausalgesetze als auch für die historischen Kausalzusammenhänge darstellt), die von Weber Knies und anderen angelastete doppelte Identifikation von ‚Kausalität und Gesetzmäßigkeit‘ (des Naturgeschenes) einerseits und ‚Freiheit und Individualität‘ (des menschlichen Handelns) andererseits außer Kraft setzt. Zum einen beobachtet Rickert mit einem polemischen Bezug auf Lamprecht, dass „die ‚moderne kausale Auffassung‘“ der Geschichte, die „gegen die ‚alte Richtung‘ triumphierend ins Feld geführt“ wird, all ihre Schärfe verliert, denn „mit dem Wort ‚kausal‘ ohne weiteren Zusatz [ist] noch nichts über die Methode einer empirischen Wissenschaft gesagt“77, während 74 Ein ähnliches Beispiel aus der zeitgenössischen historiographischen Debatte ist sicher die Art, wie Christopher Browning die allgemeinen Ergebnisse der von dem Sozialpsychologen Stanley Milgram durchgeführten komplexen Experimente zum Gehorsam gegenüber Autoritäten verwendet hat, um einige Aspekte dessen zu erklären, was zwischen Juli 1942 und November 1943 die Männer des Hamburger Reserve-Polizeibataillons 101 (etwa 500 anonyme Männer unterschiedlicher sozialer Herkunft, zu alt oder untauglich für den Dienst in der Wehrmacht) dazu veranlasste, von eigener Hand 40 000 Juden zu töten und sich an den Operationen zur Exportation weiterer 45 000 nach Treblinka zu beteiligen. Vgl. S. Milgram, Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität (1974), Reinbeck bei Hamburg, 1995, und C.R. Browning, Ganz normale Männer, Das Reserve Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen (1992), Reinbeck bei Hamburg, 2002, insb. S. 208ff. 75 Grenzen 1902, S. 434. 76 Grenzen 1902, S. 434–435 (2. Hervorhebung E.M.). 77 Grenzen 1902, S. 415.
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das, was die „neue Richtung“ unhaltbar mache, ihre Identifikation von Kausalprinzip und Kausalgesetz ist. Zum anderen aber bemerkt Rickert, dass es ebenfalls falsch sei, gegen das Ausbreiten des „nichtssagenden Schlagwort[s] von der ‚kausalen Methode‘“ in der Geschichte, den Akzent auf die „Freiheit der historischen Persönlichkeit“ zu legen, eine Freiheit, die in diesem Kontext nichts anderes heißt als „Ursachlosigkeit“78. Auch wenn er sich sicher nicht gegen „den Glauben an eine transcendente oder transcendentale Willensfreiheit“ aussprechen will, erkennt Rickert, dass es „sehr bedenklich“ wäre, „ihm auf die empirische Untersuchung der Geschichte einen Einfluss zu gestatten“. Dagegen sei es wichtig, „zu betonen, dass der logische Gegensatz von Natur und Geschichte mit dem Gegensatz von Nothwendigkeit und Freiheit nichts zu tun hat, und dass die individualistische Geschichtsauffassung [im logischmethodologischen Sinne Rickerts] keinerlei individuelle Freiheit im Sinne von Ursachlosigkeit behauptet. Das Historische entzieht sich unter logischen Gesichtspunkten nicht deswegen dem naturwissenschaftlichen Begreifen, weil es Produkt freier Wesen ist, sondern nur, weil es in seiner Individualität dargestellt werden muss“79. e) Aber das sind noch nicht alle Argumente, die für Weber von Interesse sind. Ebenfalls auf der Grundlage der oben genannten begrifflichen Dreiteilung unterstreicht Rickert weiterhin, „dass in jedem unmittelbar beobachteten individuellen Kausalvorgang die Ursache vom Effekt verschieden ist“80, während dagegen die Naturwissenschaft, vor allem wenn es ihr gelingt, jede qualitative physische Wirklichkeit (und vielleicht sogar das psychische Leben) durch quantitativ bestimmte Begriffe zu denken, nach dem Prinzip der Äquivalenz von Ursache und Wirkung argumentieren kann. Er schreibt: „Der Satz causa aequat effectum bedeutet nur, dass Ursache und Effekt sich von einer allgemeinen naturwissenschaftlichen Theorie so unter zwei Allgemeinbegriffe bringen lassen, dass deren im naturwissenschaftlichen Sinne wesentliche Elemente mit Rücksicht auf einen bestimmten Massstab als einander äquivalent anzusehen sind. Die Geschichte, die nicht allgemeine sondern individuelle Begriffe bildet, hat also garkeine Möglichkeit, von dem Prinzip der Gleichheit von Ursache und Effekt Gebrauch zu machen oder ihre Kausalzusammenhänge auch nur nach Analogie dieses Prinzips zu denken“81. Letzteres ist eine Schlussfolgerung – das muss hier noch einmal im Hinblick auf die folgenden Ausführungen zu Weber betont werden –, zu der Rickert durch rein logisch78 Ebd. 79 Grenzen 1902, S. 415–416. 80 Grenzen 1902, S. 420. 81 Grenzen 1902, S. 421–422.
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methodologische Überlegungen gelangt, welche keinen Bezug auf die Freiheit oder Schöpferkraft des menschlichen Handelns beinhalten, der ein Novum in die Geschichte einführt. f ) Wieder ausgehend von dem Unterschied zwischen Kausalgesetz und historischem Kausalzusammenhang hebt Rickert gleichfalls die begriffliche Ungenauigkeit einer linguistischen Gewohnheit aus dem Bereich der Naturwissenschaften hervor, welche für die Naturwissenschaften völlig unschädlich, für die Geschichtswissenschaften jedoch voller Gefahren sei. Häufig heißt es in den Naturwissenschaften, dass ein Gesetz die Ursache für ein Ereignis ist, so wie man beispielsweise sagt, dass das Gesetz vom freien Fall die Ursache für die Beschleunigung eines fallenden Körpers ist. Dabei darf man jedoch nicht vergessen, dass „in der empirischen Wirklichkeit immer nur besondere und individuelle Dinge und Vorgänge, aber niemals Allgemeinbegriffe oder Gesetze als Ursachen gelten können“82. Diese Präzisierung ist von außerordentlicher Wichtigkeit, nicht so sehr, um das Wesen der naturwissenschaftlichen Kausalität zu verstehen, sondern vielmehr, um das Wesen der historischen Kausalität zu verstehen. Denn, wenn „zwar die Naturwissenschaft als ‚Ursache‘ der beschleunigten Bewegung eines fallenden Körpers das Fallgesetz [...] betrachten darf, weil sie immer nur allgemeine Begriffe miteinander verbinden will, so würde in der Geschichtswissenschaft jeder Versuch, bei der Darstellung eines einmaligen individuellen Kausalzusammenhanges allgemeine Begriffe oder Kausalgesetze als wirkende Ursachen anzusehen, uns die Möglichkeit rauben, den historischen Vorgang zu verstehen, denn statt der angestrebten Kenntnis dessen, was einmal wirklich Ursache war und wirkte, erhielten wir nur allgemeine begriffliche Abstraktionen, die uns niemals zeigen könnten, wodurch die historischen Ereignisse geworden sind“83. Auf dieser Grundlage formuliert Rickert eine scharfe Kritik an der Geschichtsschreibung des Milieu, für die „jedes Individuum von seiner ‚allgemeinen‘ Umgebung kausal bedingt sei“84 und daher nicht mehr als ein Individuum betrachtet werden könne, da eine allgemeine Ursache auch eine allgemeine Wirkung produziert: Damit wird an erster Stelle der Fehler begangen, die konkrete Gattung (ein bestimmter historischer Kontext, von dem jedes Individuum ein Teil ist, aber der als solcher selbst etwas Individuelles ist: die ‚dritte Art‘ des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte, bei der der Terminus nicht im Sinne der Naturwissenschaften verstanden wird)85 durch einen allgemeinen Begriff zu ersetzen, und an zweiter Stelle wird über82 83 84 85
Grenzen 1902, S. 423. Grenzen 1902, S. 423–424. Grenzen 1902, S. 424. Siehe den fünften Abschnitt der ersten Studie in diesem Buch.
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sehen, dass, „da kein Mensch dem anderen gleicht, die Kausalzusammenhänge jedes historischen Individuums mit seiner individuellen Umwelt an jedem besonderen Falle von jedem anderen Falle individuell verschieden sein [müssen], und sie sind daher nur unter den Begriff der historischen Kausalität, nicht aber unter Naturgesetze zu bringen“86. Das Gleiche gilt – und hier meint man wirklich, Weber zu hören – für jene, die auf die Ausdrücke ‚Zeitgeist‘ oder ‚Volksseele‘ als etwas ‚Allgemeines‘ zurückgreifen, dem die wahre Ursache für das Geschehen zugeschrieben werden kann: Auch in diesem Fall wird die konkrete Gattung mit einem allgemeinen Begriff verwechselt und dann, nicht anders als bei den „mittelalterlichen Realisten“87, dieser allgemeine Begriff zu einer metaphysischen Wirklichkeit hypostasiert, die Wirkungen produziert. Ein „echter Historiker“ aber weiß immer, dass die Vorstellung dieser Hypostasen als Erklärungsgrund, „nichts als ein ‚asylum ignorantiae‘“ ist: Er wird „immer nur in individuellen Ereignissen die Ursachen des geschichtlichen Werdens und die Objekte der geschichtlichen Darstellung erblicken und wissen, dass allgemeine Wendungen wie ‚Stimmung der Zeit‘ nur auf Mängel und Lücken im historischen Material hinweisen, aber nichts erklären können“88. g) Und schließlich berührt Rickert eine letzte Problematik, die für Weber sehr interessant ist. Er geht dieses Thema jedoch nicht im vierten Abschnitt des vierten Kapitels der Grenzen an, sondern am Ende des fünften, in welchem er sich mit dem grundlegenden Begriff der historischen Entwicklung befasst (im Sinne einer diachronischen Projektion jener Auswahl aus der unübersehbaren empirischen Mannigfaltigkeit aufgrund einer Wertbeziehung, die den Kern des Begriffs des historischen Individuums im eigentlichen Sinne darstellt)89 und diesen Begriff von sechs anderen Entwicklungsbegriffen abgrenzt, je drei mit einem zu geringen und drei mit einem zu reichen Inhalt für das logische Ideal einer empirischen Geschichtswissenschaft. Trotzdem erkennt Rickert am Ende seiner ausführlichen Darlegung an, dass auch der eigentliche Begriff der historischen Entwicklung noch nicht allen vom Problem der historischen Kausalität aufgeworfenen Fragen gerecht wird. In der Tat, auch wenn durch die theoretische Wertbeziehung viele Glieder der Kausalkette als diachronische Projektion des historischen Individuums aufgefasst werden können, geht der Begriff der kausalen Verknüpfung immer über die von der Wertbeziehung zugesicherte 86 Grenzen 1902, S. 425. 87 Grenzen 1902, S. 428. 88 Ebd. 89 Dieser Begriff des historischen Individuums wird in den Grenzen von einem weiter gefassten und ‚schwachen‘ Begriff des historischen Individuums abgegrenzt, der allein aufgrund der Besonderheit und Unwiederholbarkeit auf jeden Zug der empirischen Wirklichkeit bezogen werden kann (so z.B. auf jedes einzelne Blatt, jeden einzelnen Wassertropfen usw.).
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teleologische Einheit hinaus. Dies geschieht aus zwei Gründen: Einmal, weil jede wirkliche Entwicklung sich in ihrem Inneren als ein Kontinuum darstellt, während ihre Gliederung in Stadien aufgrund des Bezugs auf einen Wertgesichtspunkt die graduellen Übergänge von einem Stadium zum nächsten eliminiert, wobei sie die Aufgabe der Geschichte als Wirklichkeitswissenschaft, diese Lücken mit einem kausalen, in Bezug auf den zuvor gewählten Wertgesichtspunkt nicht unbedingt teleologisch notwendigen Werden zu füllen, noch offen lässt; und zweitens, weil „die Kausalität kein Fiaker ist, den man beliebig halten lassen kann“90, und also jede wirkliche Entwicklung in ihrem Äußeren mit diachronischen und synchronischen Ursachen verbunden ist, die in Bezug auf den zuvor gewählten Wertgesichtpunkt nicht teleologisch notwendig sind. Aus diesem Umstand leitet sich ab, dass „die Beziehung zu dem Werthe, die einen Werdegang zu einer historischen Entwicklung macht, auf die individuelle Gestaltung auch der Vorgänge übertragen [wird], die, ohne durch ihren Inhalt teleologisch wesentlich zu sein, kausal mit ihm verknüpft sind“91. In anderen Worten: „Wir werden also noch einen neuen Begriff einführen müssen, um die logische Struktur der Darstellung historischer Entwicklungsreihen zu verstehen, und zwar ist es nothwendig, zwei Arten von historischen Individuen [im eigentlichen Sinne] auseinanderzuhalten: Die einen haben eine direkte, die anderen eine indirekte Beziehung auf den leitenden Werthgesichtspunkt [wegen ihrer kausalen Relevanz für die historischen Individuen vom ersten Typ], und so können wir von primären und sekundären historischen Individuen sprechen“92. Es gibt aber natürlich auch Objekte und Prozesse, die gemessen 90 Grenzen 1902, S. 474. Rickert zitiert ein Wort Schopenhauers, dass dann auch von Weber auf den Seiten von Roscher und Knies aufgegriffen wird, auf denen er sich kritisch mit der von Münsterberg vorgeschlagenen Antithese zwischen ‚objektivierenden‘ und ‚subjektivierenden‘ Wissenschaften oder auch zwischen Kausalzusammenhang und teleologischem Zusammenhang auseinandersetzt (vgl. RuK, S. 77). Vgl. hierzu E. Massimilla, „La causalità non è un fiacre che si può far fermare quando si vuole“: Weber e la „libertà del volere“ nelle scienze storiche della cultura, in „Rendiconti“ der Accademia Nazionale dei Lincei, Classe di Scienze Morali, Storiche e Filologiche, Reihe IX, Bd. XX, Heft 4, Jahr CDVI -2009, S. 751–765. 91 Grenzen 1902, S. 475. 92 Ebd. Für eine explizite Wiederaufnahme dieser begrifflichen Unterscheidung Rickerts bei Weber vgl. M. Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik (1906), in Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, op. cit., S. 215–290, S. 257: „Offenbar sind tatsächlich in [E. Meyers] Ausführungen […] zwei verschiedene Begriffe von ‚historischen Tatsachen‘ ineinander geschoben: einmal solche Bestandteile der Wirklichkeit, welche, man kann sagen: ‚um ihrer selbst willen‘, in ihrer konkreten Eigenart als Objekte unseres Interesses ‚gewertet‘ werden, zum anderen solche, auf welche unser Bedürfnis, jene ‚gewerteten‘ Bestandteile der Wirklichkeit in ihrer historischen Bedingtheit zu
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an einem Wertgesichtspunkt sekundäre historische Individuen und gemessen an einem anderen Wertgesichtspunkt primäre historische Individuen sind: „So wird z.B. Friedrich Wilhelm I. für die Geschichte der Philosophie nur ein sekundäres historisches Interesse besitzen, insofern er die Schicksale Christian Wolff‘s beeinflusst hat, für Preussens Geschichte dagegen ein eminent primäres historisches Individuum sein“93. Rickert erkennt jedoch gezwungenermaßen die substanzielle Unmöglichkeit an, von einem rein logischen Standpunkt aus ein Kriterium der Auswahl für die sekundären historischen Individuen zu formulieren: Hier ist – so schreibt er – alles „der Neigung und Willkür des Historikers überlassen“94. Und das gilt nicht nur in Bezug auf den internen Kausalzusammenhang des historisch-teleologischen Prozesses, sondern auch und vor allem in Bezug auf jene „sekundär historischen Bestandtheile […], die ausserhalb der teleologisch wesentlichen Entwicklungsreihe liegen, und die wir auch als deren Vor- [wenn sie teleologisch wesentlichen Entwicklungsreihen vorangehen] und Nebengeschichte [wenn sie mit den teleologisch wesentlichen Entwicklungsreihen zeitgleich sind] bezeichnen können“95. Aber eine solche Anerkennung – die, wie wir in Kürze sehen werden, kein Problem darstellt, sondern geradezu eine Voraussetzung ist für die „Universalgeschichte der Kultur“, wie Weber sie versteht, – erfolgt bei Rickert nicht ohne ein gewisses Unbehagen, das sich hinter dem logisch-methodologischen Argumentationsfaden erahnen lässt. Dieses Unbehagen manifestiert sich, wenn er behauptet, es sei in jedem Fall notwendig, „dem historischen Interesse an der Verfolgung der Kausalreihen überhaupt irgend eine Grenze zu setzen, um damit den Gedanken zurückzuweisen, es könne der Begriff der historischen Kausalität jemals wieder in die unübersehbare Mannigfaltigkeit der Welt hineinführen“96. Wenn Rickert sich dann bemüht, diese Grenze zu bestimmen, indem er „die Ursachen […], die auf alle Stadien der primär historischen Entwicklung gleich bedeutsame Wirkungen ausüben“, als „absolut unhistorisch, d.h. in keiner Weise auch nur zur Vor- oder Nebengeschichte zu rechnen“97 bezeichnet, wie beispielsweise den Umstand, dass „nichts von dem existiren würde, womit die Geschichte es zu thun hat, wenn […] das Individuum Erde nicht von dem Individuum Sonne
93 94 95 96 97
verstehen, beim kausalen Regressus als ‚Ursachen‘, als historisch ‚wirksam‘ in [E. Meyers] Sinn, stößt. Man kann die ersteren historische Individuen, die letzteren historische (Real-) Ursachen nennen und sie mit Rickert als ‚primäre‘ und ‚sekundäre‘ historische Tatsachen scheiden“. Grenzen 1902, S. 475–476. Grenzen 1902, S. 478. Grenzen 1902, S. 477. Grenzen 1902, S. 478–479 (Hervorhebung E.M.). Grenzen 1902, S. 479.
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in ganz bestimmter und individueller Weise erleuchtet und erwärmt würde“98, könnte man beinah an den Versuch einer Antwort in munere alieno darauf denken, was der junge Nietzsche in seinem beunruhigenden Apolog als Eröffnung von Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn schrieb: „In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der ‚Weltgeschichte‘; aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben“99. In jedem Fall sind die logisch-methodologischen Argumentationen von Rickert über das Problem der historischen Kausalität insgesamt sehr wichtig für Weber, der sie mit vollen Händen nicht nur in den Kritischen Studien verwendet, sondern auch in dem Aufsatz über Roscher und Knies, wenn es ihm darum geht, die doppelte Identifikation zwischen kausaler Bestimmtheit und Gesetzmäßigkeit (des Naturgeschehens) einerseits und Freiheit und Individualität (des menschlichen Handelns) andererseits aufzulösen, die nach seiner Sichtweise ein gefährlicher Fehler von Knies und vielen anderen Autoren ist. Gewiss bringt Weber direkt gegen Knies den ebenfalls in letzter Instanz auf den Argumentationen von Rickert beruhenden Einwand vor, dass das konkrete menschliche Handeln nicht nur nicht immer ‚weniger berechenbar‘ als das konkrete Naturgeschehen („die ‚Berechenbarkeit‘ von ‚Naturvorgängen‘ in der Sphäre von ‚Wetterprophezeiungen‘ etwa ist nicht entfernt so ‚sicher‘ wie die ‚Berechnung‘ des Handelns einer uns bekannten Person“)100, sondern nie ‚weniger berechenbar‘ als jede Art konkreten Naturgeschehens ist, wie z.B. die Fallrichtung der einzelnen Felsbrocken bei einem Steinschlag. Denn, wenn wir es nicht mit abstrakten Relationen wie bei der Physik zu tun haben, sondern mit der vollen Individualität eines realen zukünftigen Vorgangs, dann beschränkt sich die Erklärung auf die Frage nach ihrer Kompatibilität mit unserem nomologischen Wissen, und also mit den uns bekannten Kausalgesetzen, und nimmt so „die universelle Geltung des ‚Determinismus‘“ als „reines a priori“ an101. Noch zuvor aber entwickelt Weber seine Argumentation gegen die oben genannte doppelte Identifikation in einer strengen Auseinandersetzung mit Wundts Kategorie der ‚schöpferischen Synthese‘, einer Kate-
98 Grenzen 1902, S. 478. 99 F. Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn (1873), in Ders. Werke in drei Bänden, Bd. 3, München 1954, S. 309–322, S. 309. 100 RuK, S. 64–65. 101 RuK, S. 66.
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gorie, die für den „hervorragenden Gelehrten“102 von besonderer Wichtigkeit für die Beschreibung des spezifischen Charakters des Objekts der Psychologie und aller Geisteswissenschaften war, was – nebenbei gesagt – nur denjenigen überraschen kann, der nicht bedenkt, dass die ‚physiologische Psychologie‘ von Wundt zwar sicherlich synonym zur ‚Experimentalpsychologie‘ ist, aber ganz und gar nicht mit dem ‚psychophysischen Materialismus‘ vieler seiner Schüler wie Münsterberg oder Titchener gleichgesetzt werden darf, für die es zwei unterschiedliche Reihen von Ereignissen gibt (die physischen und die psychischen), aber nur einen Kausalzusammenhang (den physischen), der, die Hirnrinde einschließend, als eigenes Epiphänomen den Zusammenhang der psychischen Ereignisse induziert. Dies war Dilthey vollkommen klar, der in seinem Aufsatz von 1894 über die analytische und die deskriptive Psychologie mit großem Interesse Wundts Bemühungen betrachtet, die Eigenschaften einer autonomen psychischen Kausalität zu umschreiben103, während er dagegen in dem psychophysischen Materialismus Münsterbergs, dessen intellektueller Werdegang sich von diesem Gegensatz zu seinem Meister aus entwickelt104, eine seiner eigenen klar entgegengesetzte Position erkennt105. Trotzdem wurden diese Aspekte von Wundts Gedanken in den darauf folgenden Jahrzehnten, wohl bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts, wirksam von der grundlegenden History of Experimental Psychology (1929) Edwin G. Borings in die zweite Reihe gedrängt, welcher nicht zufällig ein Schüler Titcheners war, also des englischen Psychologen, der gegen den Funktionalismus einerseits und den Behaviourismus andererseits in den Vereinigten Staaten zum Apostel einer von Wundt inspirierten Experimentalpsychologie wurde, die aber sorgfältig von den Wundt‘schen Begriffen der ‚schöpferischen Synthese‘, der ‚psychischen Kausalität‘, des ‚Wachstums der psychischen Energie‘ usw. bereinigt war106. Von jenem reichen Abschnitt des Aufsatzes über Roscher und Knies, der der Auseinandersetzung mit Wundt gewidmet ist (dritter Abschnitt des zweiten Teils), möchte ich beinah ausschließlich den langen Einführungsabsatz 102 RuK, S. 56. 103 Vgl. W. Dilthey, Ideen für eine beschreibende und zergliedernde Psychologie. Sitzungsber. d. Akad. d. Wiss. (1894, S. 80 ff.), in Ders. Gesammelte Schriften, Bd. V. Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens, 7. unveränd. Auflage, Stuttgart/Göttingen, 1982, S. 139–240, hier S. 166–167. 104 Hierzu verweise ich auf E. Massimilla, Psicologia fisiologica e teoria della conoscenza. Saggio su Hugo Münsterberg, Neapel, 1994, insb. S. 23–42 und S. 167–186. 105 Vgl. W. Dilthey, Ideen für eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894) op. cit., S. 165, Fußnote. 106 Siehe hierzu N. Dazzi - F. Ferruzzi, Wundt, Titchener e la psicologia americana, in „Storia e Critica della Psicologia“, I (1980), S. 29–52.
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hervorheben, in dem Weber sich, bevor er sich direkt mit Wundt befasst, bemüht, den möglichen Gebrauch vom „Begriff des ‚Schöpferischen‘“107 in Bezug auf die empirische Wissenschaft im Allgemeinen und die empirischen Wissenschaften des menschlichen Handelns im Besonderen logisch zu umreißen. Ich denke, in diesem Absatz ist das, was hier für uns am wichtigsten ist, gut erkennbar, nämlich die absolute Nähe zu den von Rickert entwickelten Argumentationen zum historischen Kausalzusammenhang und zugleich die von Weber vorgenommene besondere Verbiegung dieser Argumentation im Hinblick auf ein von jenem Rickerts himmelweit entferntes, gesamtes theoretisches Projekt. Weber unterstreicht sofort, dass „die Vorstellung gänzlich irrig“ ist, „das, was unter jenem ‚schöpferischen‘ Charakter menschlichen Tuns etwa verstanden werden kann, [hinge] mit ‚objektiven‘, – d.h. hier: von unseren Wertungen abgesehen in der empirischen Wirklichkeit gegebenen oder aus ihr abzuleitenden, – Unterschieden in der Art und Weise der Kausalbeziehungen zusammen“108. In der Tat sei der „Begriff des ‚Schöpferischen‘“ – wenn er nicht schlicht und einfach mit dem Begriff der ‚Neuheit‘ identifiziert werden soll, der das gesamte reale Werden (verstanden als qualitativer Vorgang, in dem die Ursache niemals identisch mit der Wirkung ist) charakterisiert, eine Identifikation die ihn völlig farblos machen würde – „kein reiner Erfahrungsbegriff, sondern hängt mit Wertideen zusammen, unter denen wir qualitative Veränderungen der Wirklichkeit betrachten“109. Das gilt in genau der gleichen Weise für die ‚physischen‘ und die ‚psychischen‘ oder ‚geistigen‘ Vorgänge: „Die physikalischen und chemischen Vorgänge z.B., welche zur Bildung eines Kohlenflözes oder Diamanten führen, sind ‚schöpferische Synthesen‘ in formal ganz demselben – nur durch die Verschiedenheit der leitenden Wertgesichtspunkte inhaltlich verschieden bestimmten – Sinn wie etwa die Motivationsverkettungen, welche von den Intuitionen eines Propheten [zur Bildung einer Persönlichkeit, die, wie viele andere, von einer psychischen Krankheit betroffenen ist, oder] zur Bildung einer neuen Religion führen. Unter logischen Gesichtspunkten betrachtet, hat die qualitative Veränderungsreihe in beiden Fällen die gleiche Eigenart der Färbung lediglich dadurch angenommen, daß infolge der Wertbeziehungen eines ihrer Glieder die Kausalungleichung, in welcher sie – wie an sich jede lediglich auf ihre qualitative Seite hin betrachtete Veränderung in der individuell besonderten Wirklichkeit – verläuft, als eine Wertungleichung ins
107 RuK, S. 49. 108 Ebd. 109 RuK, S. 49.
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Bewußtsein tritt“110. In dieser Passage muss einfach die absolute Austauschbarkeit der Termini Wertung und Wertbeziehung auffallen. Die praktisch-vitalen Stellungnahmen der Menschen als Kulturwesen (der „Kulturmenschen“) und ihre historisch-wissenschaftlichen, heuristisch bereinigten Auswirkungen (die sicherlich unverzichtbar für die Konstruktion des Objekts der Geschichte, des historischen Individuums im eigentlichen Sinne, sind) stehen auf derselben Seite, und haben sich gegenüber auf der anderen Seite den individuellen Kausalzusammenhang der gesamten Wirklichkeit, die immer generell ‚schöpferisch‘ ist, da sie immer etwas Neues, eine Ungleichung zwischen Ursache und Wirkung produziert, aber nur dann im starken Sinne ‚schöpferisch‘ wird, wenn einige dieser qualitativen Ungleichungen von den Menschen als Wertungleichungen gedeutet werden. Wie man sieht, handelt es sich genau um die logisch-methodologischen Gedankengänge Rickerts, aber Weber verwendet sie, um einerseits hervorzuheben, dass der Wert nicht den Dingen selbst innewohnt, sondern ihnen immer vom Menschen als Kulturwesen zugewiesen wird, und andererseits um zu betonen, dass das, dem der Mensch einen Wert zuweist, im individuellen Kausalzusammenhang des Universalgeschehens keinen besonderen (positiven oder auch negativen) Status genießt. All dies wird bestätigt und ergänzt durch die spezifischere Fortsetzung des Diskurses, bei der Weber, in Anlehnung an Rickert, vertritt, dass die wissenschaftliche Thematisierung der empirischen Wirklichkeit in ihrer Individualität (die individualisierende Begriffsbildung) per se unvereinbar mit dem Prinzip causa aequat effectum oder auch mit der Vorstellung einer „Kausalgleichung“ ist111. Diese Vorstellung ist in der Tat nur im Bereich einer generalisierenden Begriffsbildung oder sogar auf ihrem Scheitelpunkt anwendbar, wenn die qualitativen Unterschiede der Wirklichkeit in quantitative Veränderungen aufgelöst sind, so dass das reale Werden auf die Spezifikation einer Statusfunktion zurückführbar wird. Es ist aber offensichtlich, dass eine solche Nichtanwendbarkeit des Prinzips causa aequat effectum im Bereich der individualisierenden Wissenschaften auf logisch gleiche Weise auch für die physischen Vorgänge gilt, für die ‚niederen‘ psychischen und auch für dasjenige „,Handeln‘, sei es Einzelner, sei es einer als Gruppe begrifflich zusammengefaßten Vielheit von Menschen112, welches wir als ‚historisches‘ Handeln aus der Fülle des vom 110 RuK, S. 49–50. 111 RuK, S. 50. 112 Das ist die ‚vierte Art‘ des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte, bei der der Terminus wie bei der ‚ersten Art‘ (vgl. oben, Fußnote 69) ebenfalls im Sinne der Naturwissenschaften verstanden wird. Was den Historiker interessiert, liegt hier in der Tat in einem Zug des Realen, der die einzelnen Individuen oder Vorgänge vereint. Dieser Zusammenfall ist jedoch zufällig. In anderen Worten: Der fragliche Zug des Realen wird vom heterogenen
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geschichtlichen Interesse nicht erfaßten Tuns herausheben“113. Und so gibt es wieder einmal nichts Empirisches, nichts ‚Objektives‘, das das historische Handeln ‚schöpferischer‘ macht als eine chemische Reaktion oder auch eine chemische Zersetzung, als das Verschmelzen einer Mannigfaltigkeit von Empfindungen in einer Darstellung oder auch als das Zersplittern einer Darstellung in ihre sinnlichen Bestandteile. Gemäß Weber (aber auch nach der Logik von Rickerts Argumentationen) können wir in der Tat von einer größeren Schöpferkraft des ‚historischen Handelns‘ Einzelner oder von Gruppen nur sprechen, wenn die kausale Wirkung dieses Handelns ein ‚historisches Individuum‘ im eigentlichen Sinne ist, oder auch ein durch einen Wertgesichtpunkt begrenzter Teil der unübersehbaren Mannigfaltigkeit des Wirklichen. Trotzdem betont Weber mit großem Nachdruck, dass im konkreten kulturgeschichtlichen Werden kontinuierlich eine unentwirrbare Verflechtung zwischen zwei Dynamiken entsteht, nämlich jener der Sinn- und Wertzuweisung und jener der kausalen Bedingtheit, zwischen denen keinerlei Form der ‚prästabilierten Harmonie‘ besteht. Diese Ausführungen finden wir in einer Passage, die auf ‚abstrakte Weise‘ das Schwindelgefühl wiedergibt, das man auf vielen der besten Seiten seiner historisch-soziologischen Forschungen verspürt, welche uns greifbar machen, dass der vielseitige Charakter der Entwicklung nicht ein Entfalten ihrer Herkunft ist, sondern beständig diese Herkunft verrät, und zwar in alle Richtungen (an das sogenannte ‚Hohe‘ und an das sogenannte ‚Niedere‘). a) Weber schreibt: „das Eingreifen jener Wertungen, an denen unser geschichtliches Interesse verankert ist, läßt aus der Unendlichkeit der an sich historisch sinnlosen und gleichgültigen ursächlichen Komponenten das eine Mal gleichgültige Ergebnisse, das andere Mal aber eine bedeutungsvolle, d.h. in bestimmten Bestandteilen von jenem historischen InterKontinuum der Wirklichkeit nicht ausgewählt, weil er mehreren Individuen oder Vorgängen ‚gemein‘ ist, sondern aufgrund seiner spezifischen Bedeutung in Bezug auf einen zuvor gewählten Wertgesichtspunkt. Dies geschieht beispielsweise, wenn die Eigenschaften oder Standpunkte, die eine parlamentarische Gruppe, eine Klasse, eine Schicht oder eine religiöse Gruppe usw. einen, und nicht etwa die Unterschiede, die immer zwischen ihren einzelnen Mitgliedern bestehen, als historisch bedeutsam angesehen werden. Man denke an die Aufmerksamkeit, die Weber in dem Aufsatz über die protestantische Ethik, nicht etwa den ‚Heiligen‘ des Calvinismus widmet, sondern der großen Masse der Gläubigen, die dieser Konfession anhängen und die bezüglich der Frage nach der Herkunft des ‚Geist des Kapitalismus‘ eben gerade wegen dem historisch bedeutsam sind, was sie eint: die einsame Angst vor dem Problem der ‚Bewährung‘ des Erwähltseins und die (‚asketischen‘ und nicht ‚mystischen‘) Modalitäten, auf diese Angst zu reagieren. Vgl. diesbezüglich aber den sechsten Abschnitt der ersten Studie in diesem Buch. 113 RuK, S. 50.
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esse erfaßte und gefärbte Konstellation entstehen“114. Hat man also einmal einen gewissen Wertgesichtspunkt angenommen, muss man feststellen, dass aus sinnlosen kausalen Bedingungen sowohl ebenfalls sinnlose Wirkungen als auch historisch bedeutsame Konstellationen, also historische Individuen im eigentlichen Sinne, hervorgehen können. b) „Im letzteren Fall sind für unsere ‚Auffassung‘ neue Wertbeziehungen gestiftet worden, die vorher fehlten, und wenn wir nun weiterhin diesen Erfolg anthropozentrisch dem ‚Handeln‘ der Menschen kausal zurechnen, dann gilt uns dasselbe in solchen Fällen als ‚schöpferisch‘“115. Also, um es mit Rickert zu sagen, der Wert des „primären historischen Individuums“ wird zurück projiziert auf seine kausalen Bedingungen (jene, die chronologisch seiner teleologischen Entwicklung vorangehen, oder auch jene, die synchronisch zu ihr sind, aber nicht als ihre Momente zu ihr gehören) und verwandelt sie so in „sekundäre historische Individuen“116. Unter diese kausalen Bedingungen kann ohne weiteres auch das menschliche Handeln fallen, das so die Dignität eines ‚schöpferischen‘ Handelns erlangt. c) Nun kann aber „rein logisch betrachtet, die gleiche Dignität auch reinen ‚Naturvorgängen‘ zukommen, – sobald nämlich von jener ‚objektiv‘ ja ganz und gar nicht selbstverständlichen anthropozentrischen Zurechnung abstrahiert wird“117. Zum Beispiel handelt die Bergkette, die den Doriern den Weg in Richtung der Attika versperrte und so einige besondere Eigenschaften der athenischen Kultur des fünften Jahrhunderts gegenüber der peloponnesischen bestimmte, genauso ‚schöpferisch‘ wie ein Solon oder Peisistratos. d) Und „vor allem ist […] selbstverständlich zwischen Sinn und Maß des ‚Eigenwerts‘ des ‚schöpferisch‘ handelnden Menschen und seines Tuns und demjenigen des ihm zugerechneten Erfolges keinerlei notwendige Beziehung vorhanden“118. Es ist also überhaupt nicht gesagt, dass ein (von einem gewissen Wertgesichtspunkt aus) bedeutsames Handeln bedeutsame Wirkungen oder dass ein (von einem gewissen Wertgesichtspunkt aus) unbedeutendes Handeln unbedeutende Wirkungen hervorrufen muss. „Ein – nach seinem ‚Eigenwert‘ bemessen – für uns absolut wert- und geradezu sinnloses Handeln kann in seinem Erfolge durch die Verkettung historischer Schicksale eminent ‚schöpferisch‘ werden, und anderseits können menschliche Taten, welche, isoliert ‚aufgefaßt‘, durch unsere ‚Wertgefühle‘ mit den grandiosesten Farben getränkt werden, in den ihnen zuzurechnenden Erfolgen in der grauen Unendlichkeit des historisch 114 Ebd. 115 RuK, S. 50–51. 116 Vgl. oben, Fußnote 92. 117 RuK, S. 51. 118 Ebd.
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Gleichgültigen versinken und also für die Geschichte kausal bedeutungslos werden“119. e) Aber Weber hebt auch etwas anderes „in der Geschichte regelmäßig Wiederkehrende[s]“ hervor, nämlich den Fall, dass (von einem gewissen Wertgesichtspunkt aus) bedeutsame menschliche Taten „in der Verkettung der historischen Schicksale ihren ‚Sinn‘ nach Art und Maß bis zur Unkenntlichkeit ändern. Gerade diese letzteren Fälle des historischen Bedeutungswandels pflegen unser historisches Interesse im intensivsten Maße auf sich zu ziehen“120. Und hier kommt einem sofort der Gedanke an den zeitgleichen Aufsatz über die protestantische Ethik, wo durch bestimmte kausale Verkettungen im Wesentlichen psychologischer Art die christlich-protestantische Askese, also ein Verhalten, das als solches präzise Wertbeziehung religiöser Art aufweist, eine Sinnverschiebung erlebt und sich – nicht bei den Heiligen des asketischen Protestantismus, sondern in der „breite[n] Schicht der Alltagsmenschen“121 – in das moderne Berufsethos verwandelt, also in ein Verhalten, das eine andere und weniger klare Wertbeziehung aufweist, aber zugleich eine der Bedingungen für die Durchsetzung des modernen Kapitalismus als System ist. Aus diesen Gründen kann man nach Webers Ansicht, „also die spezifisch historische Arbeit der Kulturwissenschaften […] als äußerste Antithese aller auf Kausalgleichungen hinarbeitenden Disziplinen ansehen: Die Kausalungleichung als Wertungleichung ist für sie die entscheidende Kategorie“122. Hier finden wir Rickerts logisch-methodologische Argumentationen wieder, die er ausführlich und detailliert in dem vierten Kapitel der Grenzen entwickelt. Aber in Webers Händen werden diese Argumente zu einem hervorragenden Mittel, um die verschiedenen Wege aufzuzeigen, auf denen sich Sinnzuweisung und empirische Kausalität voneinander abweichend verflechten und sich verflechtend von einander abweichen, und lassen den Charakter der Universalgeschichte der Kultur erkennen, wie er sie versteht: radikal antiemanatistisch und antiontologisch, aber auch absolut losgelöst von dem neukantianischen Projekt einer ‚transzendentalen Kulturphilosophie‘. Diese Betrachtungen bestimmen im Übrigen auch den Kern von Webers Kritik an Wundt. Welches ist, Webers Argumentationslinie folgend, das wesentliche Ziel des Angriffs auf den Wundt‘schen Begriff der ‚psychischen Kausalität‘ als spezifischer Form der Kausalität? Es ist die Idee, dass die psychischen Gebilde im Fluss des mentalen Lebens zwar kausal mit ihren Bestandteilen verbunden sind, aber so, dass sie in Bezug auf diese immer etwas Neues enthalten, 119 Ebd. 120 Ebd. 121 PEGK, S. 104. 122 RuK, S. 51.
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das einen objektiven Wert- und Bedeutungszuwachs darstellt (in diesem Sinn spricht Wundt von ‚Wachstum der psychischen Energie‘). Und was macht Weber? Einerseits unterstreicht er nochmals, dass dieses ‚etwas Neues enthalten‘ genauso auch die physische Welt betrifft, wenn man den individuellen und qualitativen Verlauf der Wirklichkeit im Blick hat: Das Wasser enthält, verglichen mit Wasserstoff und Sauerstoff, etwas Neues, die Pest, verglichen mit den Bakterien, die sie verursachen, ebenfalls, und genauso auch die Vorstellung, verglichen mit den Empfindungen, aus denen sie zusammengesetzt ist. Andererseits bekräftigt Weber zum wiederholten Mal, dass der Wert und die Bedeutung dieses ‚Neuen‘ weder in dem einen noch in dem anderen Fall von der Art der kausalen Bedingtheit abhängt: Die Bedeutung der Pest für die Sozialgeschichte wird nicht von den sie verursachenden Bakterien vorweggenommen, genauso wie die Bedeutung einer gewollten Handlung einer historischen Persönlichkeit nicht von ihren sinnlichen Bestandteilen vorweggenommen wird. Er schreibt: „In allen diesen Fällen ist vielmehr der Sinn, den wir den Erscheinungen beilegen, d.h. die Beziehungen auf ‚Werte‘, die wir vollziehen, dasjenige, was der ‚Ableitung‘ aus den ‚Elementen‘ als prinzipiell heterogenes und disparates Moment die Pfade kreuzt“. Und er fügt hinzu: „Diese ‚unsere‘ Beziehung ‚psychischer‘ Hergänge auf Werte, – gleichviel, ob sie als undifferenziertes ‚Wertgefühl‘ oder als rationales ‚Werturteil‘ auftritt, – vollzieht eben die ‚schöpferische Synthese‘. Bei Wundt ist erstaunlicherweise die Sache gerade umgekehrt gedacht: das in der Eigenart der psychischen Kausalität ‚objektiv‘ begründete Prinzip der ‚schöpferischen Synthese‘ findet nach ihm seinen ‚charakteristischen Ausdruck‘ in Wertbestimmungen und Werturteilen“123. Bei einer Auffassung dieser Art ist Weber kategorisch: „Die außerordentliche, dankbare Hochachtung, welche der umfassenden Gedankenarbeit dieses hervorragenden Gelehrten geschuldet wird“124, darf nicht übersehen machen, dass er in diesem Punkt im Stillen „eine im Gewande ‚objektiver‘ psychologischer Betrachtung auftretende geschichtsphilosophische Konstruktion“125 einführt, die im Übrigen weit von dem grandiosen Rationalismus der hegelschen Geschichtsphilosophie entfernt ist und in letzter Instanz basiert auf dem „metaphysischen Glauben, als ob, auch bei Abstraktion von unserer wertenden Stellungnahme, aus dem Reiche der zeitlosen Werte in das Reich des historischen 123 RuK, S. 54 (2. Hervorhebung E.M.). In der Tat ist Wundts ‚Voluntarismus‘ nicht als eine Art metaphysischer Primat des Willens zu verstehen, sondern als Fähigkeit der Willenserscheinungen und der Wertzuweisung, stärker das hervorzuheben, was in Wirklichkeit allen Vorgängen des psychischen Lebens innewohnt. 124 RuK, S. 56. 125 Ebd.
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Geschehens durch Vermittelung, sei es der genialen ‚Persönlichkeit‘, sei es der ‚sozialpsychischen Entwickelung‘, ein Jungbrunnen hinübersprudle, welcher den ‚Fortschritt‘ der Menschheitskultur in die zeitlich unbegrenzte Zukunft hinein ‚objektiv‘ stets von neuem erzeuge“126. Ich möchte diese Passage abschließend hervorheben, weil mir scheint, dass sie, wenn man sie von ihrem unmittelbaren polemischen Bezug löst (Wundt’s Begriffe der ‚schöpferischen Synthese‘, der ‚psychischen Kausalität‘, des ‚Wachstums der psychischen Energie‘ usw.), noch einmal und in allgemeiner Form umfasst, was ich bis hierher zu zeigen versucht habe: Einerseits enthält diese Kritik an der Geschichtsphilosophie von Wundt – zwar an die Stelle des „Fortschritts der Menschheitskultur“ das ‚Schicksal‘ oder den ‚Regressus‘ der Menschheitskultur(en) setzend – in der Tat bereits schon die polemischen Argumente, die Weber anhand der logisch-methodologischen Untersuchungen Rickerts im Folgenden gegen den vermeintlichen ‚Objektivismus‘ der metaphysisch begründeten Lebensphilosophien verwenden wird. Andererseits aber enthält diese Kritik auch, indem sie immer wieder und in jedem Fall die Unmöglichkeit betont, von unseren „wertenden Stellungnahmen“ gänzlich abzusehen, unterschwellig eine klare Distanznahme von dem Bezug auf ein Reich der zeitlosen Werte (an dem sich die historische Entwicklung orientieren ‚soll‘, auch wenn sie es tatsächlich nicht tut), ein Reich, das sich uns nach der Kulturphilosophie des Badischen Neukantianismus in erster Linie nicht wegen der (auch für Weber notwendigen) einfachen Unterscheidung, sondern wegen der scharfen Trennung von ‚Wertungen‘ und ‚theoretischen Wertbeziehungen‘127 öffnet, und in zweiter Linie wegen der Frage nach den Bedingungen, die nicht die einfache „empirische Objektivität“, sondern – um die Sprache der Grenzen zu verwenden – die absolute „kritische Objektivität“128 der aufgrund theoretischer Wertbeziehungen gebildeten Begriffe, also der historischen Begriffe, denkbar machen.
126 RuK, S. 62. 127 Auf der Bedeutung dieser scharfen Trennung zwischen Wertung (oder „Wertbeurteilung“) und theoretischer Wertbeziehung besteht auch Windelband in seiner letzten Schrift, in der er sich explizit auf Rickerts Grenzen bezieht. Vgl. W. Windelband, Geschichtsphilosophie. Eine Kriegsvorlesung, Kant-Studien Ergänzungsheft 38, Berlin, 1916, S. 48–49. 128 Vgl. Grenzen 1902, Kapitel V, Abschnitte II und V, S. 626ff. und S. 674ff.
Die von Weber „geplünderte“ Idee: objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung bei Johannes von Kries Der Umfang, in welchem hier […] v. Kries’ Gedanken ‚geplündert‘ werden, ist mir fast genant, zumal die Formulierung vielfach notgedrungen an Präzision hinter der von Kries gegebenen zurückbleiben muß. Allein für den Zweck dieser Studie ist beides unvermeidlich. Max Weber, Kritische Studien
Eine Überzeugung des „historischen Realismus“ mit seinem „naive[n] Bewußtsein“1, die viele und verschiedene Formen der Geschichtsphilosophie verbindet, lehnt Max Weber radikal ab. Es handelt sich um die Überzeugung, dass die Geschichte ‚nicht mit wenn und falls gemacht wird‘ und ‚nicht im Konditional geschrieben wird‘, also „keine Möglichkeiten“ kennt2. Hierzu braucht man lediglich einen Blick auf die erste Seite des zweiten Teils der Kritischen Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik zu werfen, auf der Weber – in der Besprechung von Eduard Meyers Behauptung, dass einerseits der Ausbruch des österreichisch-preußischen Kriegs von 1866 die Folge einer Willensentscheidung Bismarcks war, ohne die der Verlauf der Geschichte ein anderer gewesen wäre, aber nach der es andererseits „eine völlig unbeantwortbare und daher müßige Frage“ sei, ob es in diesem Fall genauso zu diesem Krieg gekommen wäre – entschieden einwendet: „Und trotz alledem ist diese Fragestellung: was hätte werden können, wenn […] Bismarck den Entschluß zum Kriege nicht gefunden hätte, durchaus keine ‚müßige‘. Denn eben sie betrifft ja das für die historische Formung der Wirklichkeit Entscheidende: welche kausale Bedeutung diesem individuellen Entschluß innerhalb 1 G. Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie (19073), München, 1923, Vorwort zur dritten Auflage, S. V. 2 M. Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik (1906), in Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, 1988, S. 215–290, II. Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung, S. 266– 290 (im Folgenden: KS II), S. 275.
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der Gesamtheit der unendlich zahlreichen ‚Momente‘, die alle gerade so und nicht anders gelagert sein mußten, damit gerade dies Resultat daraus entstand, eigentlich zuzuschätzen ist und welche Stelle ihm also in der historischen Darstellung zukommt. Will die Geschichte über den Rang einer bloßen Chronik merkwürdiger Begebenheiten und Persönlichkeiten sich erheben, so bleibt ihr ja gar kein anderer Weg, als die Stellung ebensolcher Fragen. Und sie ist auch, solange sie Wissenschaft ist, so verfahren“3. Es ist bekannt, dass der Fachwissenschaftler Weber sich im zweiten Teil der Kritischen Studien mit dem spezifischen Problem der tatsächlichen Möglichkeit des Zweifeln und Einwänden ausgesetzten Historikers befasst, die kausale Auswirkung eines bestimmten Vorfalls auf historisch bedeutsame Ereignisse demonstrativ zu rechtfertigen (oder auch zu ‚beweisen‘)4. Es ist außerdem bekannt, dass nach Weber dieses Problem nur lösbar ist durch eine „Betrachtung des logischen Wesens solcher Urteile, welche aussagen, welcher Erfolg bei Fortlassung oder Abänderung einer kausalen Einzelkomponente aus einem Komplex von Bedingungen [für den unveränderten Rest] zu erwarten gewesen ‚wäre‘“5 (Urteile der Art ‚wenn nicht x, dann…‘, die die zeitgenössische Logik sicherlich dem Bereich der Theorie der kontrafaktischen Konditionale zuordnen würde). Und schließlich ist bekannt, dass Weber im Hinblick auf diese logischen Überlegungen eine wertvolle Hilfe nicht in den Untersuchungen der „Historiker“ oder der „Methodologen der Geschichte“ sieht, sondern bei „Vertreter[n] weit abliegender Fächer“6, und an erster Stelle in den Begriffen der ‚objektiven Möglichkeit‘ und der ‚adäquaten Verursachung‘, die der Physiologe Johannes von Kries entwickelt hat – von dessen Gedanken Weber offen zugibt, sie „geplündert“ und zugleich vereinfacht zu haben7 –, sowie 3 KS II, S. 266–267. 4 Auf der Grundlage dessen, was Weber bereits im ersten Teil der Kritischen Studien erläutert hat, müssen wir unter ‚historisch bedeutsamen Ereignissen‘ hier jene Ereignisse verstehen, die in ihrer individuellen Beschaffenheit und unabhängig von ihren kausalen Auswirkungen für sich allein Objekt einer Wertinterpretation durch den Historiker und all jene sind, an die der Historiker sich wendet. 5 KS II, S. 268. 6 KS II, S. 269. 7 Vgl. KS II, S. 288, Fußnote: „Der Umfang, in welchem hier wieder, wie schon in vielen vorstehenden Ausführungen v. Kries’ Gedanken ‚geplündert‘ werden, ist mir fast genant, zumal die Formulierung vielfach notgedrungen an Präzision hinter der von Kries gegebenen zurückbleiben muß. Allein für den Zweck dieser Studie ist beides unvermeidlich“. Es handelt sich offensichtlich um die Anerkennung einer weitreichenden intellektuellen Schuld. In den ‚methodologischen Aufsätzen‘ wird sie nur übertroffen von dem, was Weber mehrfach Rickert gegenüber zugibt, was im Übrigen häufig (wie auch im Fall von Kries) begleitet wird von dem ausdrücklichen Eingeständnis des Willens, sich der Theorien von
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in der Rezeption dieser Begriffe im Strafrecht und anderen Rechtsbereichen durch Gelehrte wie Adolf Merkel, Gustav Rümelin, Moritz Liepmann und insbesondere Gustav Radbruch8. Aber in der Kulturgeschichte wird, wie anderswo auch, nicht alles, was bekannt ist, auch wirklich gekannt. Aus diesem Grund werde ich im Folgenden eine analytische Neuauslegung des komplexen Modells der kausalen Zurechnung von Kries vorschlagen. Dabei gehe ich von der Annahme aus, dass es sich um einen unverzichtbaren (aber von der Weber-Forschung noch nicht angemessen bearbeiteten) einleitenden Schritt handelt, um glaubwürdig zu bestimmen, wie Weber dieses fragliche Modell aus seinem ursprünglichen Rahmen ausgliedert und es den Besonderheiten seiner eigenen inhaltlichen und methodologischen Probleme anpasst, indem er, wie es Alessandro Cavalli zu Recht definiert, auf seine „typische Art“ vorgeht und sich „die Gedanken anderer Autoren aneignet, außerhalb des Kontextes und so, wie es seinem Zweck dient“9. In anderen Worten, die Absicht dieser Arbeit ist nicht so sehr, direkt die Art und Weise zu thematisieren, wie Weber die Ideen von Kries ‚plündert‘ Rickert in dem Maße zu bedienen, wie sie im Hinblick auf seine eigenen Probleme nutzbringend sein können. 8 Wir werden im Folgenden sehen, wie die Rezeption und Diskussion der Begriffe der objektiven Möglichkeit und der adäquaten Verursachung im Strafrecht direkt von den effizienten ‚Überfällen‘ von Kries auf diesen Bereich angeregt und eingeleitet wurde. 9 A. Cavalli, La funzione dei tipi ideali e il rapporto tra conoscenza storica e sociologia, in P. Rossi (Hg.), Max Weber e l’analisi del mondo moderno, Turin, 1981, S. 27–52, S. 34. – Zu von Kries’ Modell der kausalen Zurechnung finden sich einige spezifische Betrachtungen von unzweifelhafter Bedeutung in F. Ringer, Max Weber Methodology. The Unification of the Cultural and Social Sciences, Cambridge (Mass.), 1997, insb. S. 63ff. (Kap. 3: „Singular Causal Analysis“). Vom gleichen Autor siehe auch Max Weber on Causal Analysis, Interpretation, and Comparison, in „History and Theory“, 41 (2002), 2, S. 163–178. Vgl. weiterhin O. Agevall, A Science of Unique Events: Max Weber’s Methodology of the Cultural Sciences, Uppsala, 1999. Und schließlich ist ein neuer Beitrag zu nennen, der sich dadurch auszeichnet, die Beziehung zwischen Weber und von Kries ausgehend von einem ursprünglichen Interesse für Kries zu untersuchen: M. Heidelberger, Erklären und Verstehen bei Max Weber, unter Rückgriff auf Johannes von Kries, in U. Feest (Hg.), Historical Perspectives on Erklären and Verstehen: An Interdisciplinary Workshop, Berlin, 2007, S. 225–235. Hierdurch will Heidelberger Webers „Erklärungstheorie“ jener des „Logischen Empirismus“ annähern und differenziert zugleich Webers Auffassung vom Verstehen von der „Tradition von Dilthey, Windelband, Rickert“ (ebd., S. 225). Eine ähnliche Absicht lässt sich im Übrigen schon am Titel in der englischsprachigen und geänderten Version des fraglichen Aufsatzes erkennen: From Mill via von Kries to Max Weber: Causality, Explanation, and Understanding, in U. Feest (Hg.), Historical Perspectives on Erklären and Verstehen, Dordrecht – Heidelberg – London – New York, 2010, S. 241ff. Mir scheint aber, dass Heidelberger mit einem extrem stereotypierten Bild der „Tradition von Dilthey, Windelband, Rickert“ und ihrem (angenommenen) einheitlichen Charakter arbeitet.
Das Modell der kausalen Zurechnung
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und sie seiner eigenen Problematik anpasst, sondern vielmehr, diese Frage nur indirekt zu streifen (was deshalb aber nicht weniger ertragreich sein muss), im Hinblick auf das, was noch fehlt: eine gründliche Untersuchung eben der Ideen von Kries, die Weber ‚geplündert‘ hat.
I. Rickert und Webers Aneignung des Kries’schen Modells der kausalen Zurechnung 1. Rickert und/oder Kries Auch meine Darlegungen müssen jedoch ihren Ausgang von der Betrachtung einiger Passagen des zweiten Teils der Kritischen Studien nehmen. Nur so ist es möglich, auf eine erste Frage einzugehen, die nicht übergangen werden darf: jene nach Rickerts Einfluss auf Webers Rezeption des Modells der kausalen Zurechnung von Kries. Diesbezüglich sind die Positionen in der kritischen Literatur eher widersprüchlich: Denjenigen, die keinerlei Widerspruch zwischen der Kausalitätsauffassung Rickerts und jener sehen, die hinter den Begriffen der objektiven Möglichkeit und der adäquaten Verursachung steht, und die Öffnung Webers gegenüber letzterer eher als „eine Weiterentwicklung des Rickertschen Ansatzes“10 interpretieren, stehen diejenigen gegenüber, die 10 K.-H. Nusser, Kausale Prozesse und sinnerfassende Vernunft. Max Webers philosophische Fundierung der Soziologie und der Kulturwissenschaften, Freiburg - München, 1986, S. 68. Im gleichen Sinne vgl.: P.J. Bouman, Kausalität und Funktionalzusammenhang in der Soziologie Max Webers, in „Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft“, 105, 1949, S. 463–475 (der auf S. 464–465 bereits einige wesentliche Beiträge von Rickert zu Webers Kausalitätsauffassung unterstreicht); P.-U. Merz-Benz, Max Weber und Heinrich Rickert. Die erkenntniskritischen Grundlagen der verstehenden Soziologie, Würzburg, 1990, S. 294ff. und 382ff. und S. Wöhler, Das heterologische Denkprinzip Heinrich Rickerts und seine Bedeutung für das Werk Max Webers. Die Einheit der modernen Kultur als Einheit der Mannigfaltigkeit, Dissertation am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt), elektronisch veröffentlicht, 2001, S. 145ff. – In der Monographie von Merz-Benz, wird auf den mehr als 450 Seiten Kries keinmal zitiert. In der Monographie von Nusser wird auf den knapp 300 Seiten Kries nur einmal auf S. 171 zitiert: in einer Fußnote, in der behauptet wird, dass die Theorie der objektiven Möglichkeit von Kries Rickert (anders als Simmel) völlig vertraut gewesen sei und dass Rickert sich auch in den Grenzen auf sie bezogen habe, wenn auch ohne Kries zu nennen. Als Beleg dafür verweist Nusser auf H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, Tübingen - Leipzig, 1902 (im Folgenden: Grenzen 1902), S. 384ff. Auch wenn ich die These Nussers nicht ganz teile, ist anzuerkennen, dass sich auf den fraglichen Seiten der Terminus Spielraum findet, der, wie wir im Folgenden sehen wer-
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meinen, dass Rickert für Weber im Hinblick auf das „Problem des ‚Beweises‘ der Beziehungen“, die sich im Bereich der konkreten historischen Forschung „zwischen explanandum und explanans bilden können“, „keinerlei Hilfe bot“11, oder auch diejenigen, die es sogar als unmöglich ansehen, Rickerts Modell des ‚historischen Individuums‘ mit dem von Kries entwickelten Modell der kausalen Zurechnung in Einklang zu bringen12. Persönlich bin ich der Ansicht, dass Webers Aneignung des von Kries entwickelten Modells der kausalen Zurechnung – das es Weber aus verschiedenen Gründen sicherlich erlaubt, eine mögliche Antwort auf das Problem der empirischen Geltung der einzelnen historischen Kausalzusammenhänge zu finden – von Anfang an nicht nur geleitet wird von den von Rickert im eng logischen Sinne erarbeiteten Begriffen der ‚Geschichtswissenschaft‘ und des ‚historischen Individuums‘13, sondern auch von dessen spezifischeren Analysen zum Thema des „historischen Kausalzusammenhangs“14.
den, eine äußerst wichtige Notion in der Theorie der objektiven Möglichkeit von Kries ist. Vgl. Grenzen 1902, S. 385: Hier präzisiert Rickert, auch wenn er ausdrücklich zugibt, dass das logische Verständnis der Geschichte mit den unüberwindbaren Grenzen des anschaulichen Charakters der historischen Darstellung und ihrer Beziehung zu den Neigungen und persönlichen Fähigkeiten des Historikers abrechnen muss, Folgendes: Wir müssen „die Behauptung, dass es keine logische Grenze für den bei der anschaulichen Darstellung vorhandenen Spielraum giebt, in gewisser Hinsicht auch wieder einschränken“. 11 P. Rossi, Introduzione a M. Weber, Saggi sul metodo delle scienze storico-sociali, op. cit., S. VII–XLIII, S. XXV. Die Einleitung (La metodologia delle scienze storico-sociali) ist außerdem der erste Aufsatz in Ders., Max Weber. Una idea di Occidente, Rom, 2007, S. 3–36. Bei den wenigen, von Rossi vorgenommenen Änderungen im Vergleich zu dem Text von 2007 fällt die Streichung dieses scharfen Urteils über Rickert auf (vgl. ebd., S. 19). Ich sehe diese Streichung gern als ein Zeichen dafür, dass dieser maßgebliche Wissenschaftler sich davon überzeugt hat, dass das Problem in gewisser Weise zu überdenken ist. 12 Vgl. G. Wagner - H. Zipprian, Methodologie und Ontologie: Zum Problem kausaler Erklärung bei Max Weber, in „Zeitschrift für Soziologie“, 14 (1985), S. 115–130. Diese Position ist auf verschiedene Weise verbunden mit der strengen Kritik, die Guy Oakes mehrfach daran übt, wie Rickert die Unterscheidung zwischen Wertung und Wertbeziehung erklärt. Diese Kritik findet sich in zusammengefasster Form in G. Oakes, Rickerts Wert/WertungsDichotomie und die Grenzen von Webers Wertbeziehungslehre, in G. Wagner – H. Zipprian (Hg.), Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, Frankfurt am Main, 1994, S. 146–166. 13 Zu der in den Grenzen gemachten Unterscheidung zwischen im engen Sinne ‚logischen‘ Analysen und ‚erkenntnistheoretischen‘ Analysen (sowie zu Webers besonderem Interesse an ersteren) verweise ich auf den ersten Abschnitt der ersten Studie in diesem Band. 14 Zu den wesentlichen Zügen von Rickerts Begriff des „historischen Kausalzusammenhangs“ siehe den zweiten Abschnitt der zweiten Studie in diesem Buch.
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2. Kausalprinzip, Kausalgesetz und historischer Kausalzusammenhang Im zweiten Teil der Kritischen Studien bemerkt Weber zuallererst, dass man nicht verwundert sein dürfe, dass die Kausalitätstheorie von Kries, da sie sich unter anderem (wie wir sehen werden) mit dem Problem befasst, die Auswirkung eines bestimmten ‚kausalen Moments‘ auf das Eintreten eines individuellen und konkreten Ereignisses zu bestimmen, unverzüglich von den Juristen und in erster Linie von den Strafrechtlern aufgegriffen wurde. In der Tat ist „die Frage nach der strafrechtlichen Schuld“, die das Problem der Bestimmung der Umstände umfasst, unter denen man behaupten kann, jemand habe „durch sein Handeln einen bestimmten äußeren Erfolg ‚verursacht‘“, nicht nur eine „reine Kausalitätsfrage“, sondern eine Kausalitätsfrage mit einer besonderen „logischen Struktur“, die bei genauer Betrachtung die gleiche ist, wie jene der „historische[n] Kausalitätsfrage“15. Dies ist aus inhaltlicher Sicht sicherlich richtig, denn „ebenso wie die Geschichte sind die Probleme […] der Rechtspflege ‚anthropozentrisch‘ orientiert, d.h. sie fragen nach der kausalen Bedeutung menschlicher ‚Handlungen‘“16. Aber für uns ist die ‚formale‘ Seite dieser Konvergenz interessanter, die Weber folgendermaßen bestimmt: „Und ebenso wie bei der Frage nach der ursächlichen Bedingtheit eines konkreten, eventuell strafrechtlich zu sühnenden oder zivilrechtlich zu ersetzenden schädigenden Erfolges, richtet sich auch das Kausalitätsproblem des Historikers stets auf die Zurechnung konkreter Erfolge zu konkreten Ursachen, nicht auf die Ergründung abstrakter ‚Gesetzlichkeiten‘“17. Diese Unterscheidung der konkreten historischen Kausalität von der ‚Ergründung abstrakter Gesetzmäßigkeiten‘ zeigt, dass Webers Rezeption der Kries’schen Theorie von Anfang an von den logischen Untersuchungen Rickerts zum Problem des Kausalzusammenhangs in der Geschichte geleitet wird. Um sich davon zu überzeugen, braucht man sich lediglich die wesentlichen Punkte der dichten Seiten aus den Grenzen in Erinnerung zu rufen, auf denen Rickert dieses Thema behandelt. Rickerts Ziel ist dabei, die Unhaltbarkeit einer gefährlichen Antinomie offen zu legen. Bei dieser Antinomie finden sich auf der einen Seite jene, die, da sie zu Recht dem Imperialismus der naturwissenschaftlichen Methode ablehnend gegenüberstehen, fordern, dass für die Geschichte „der kausale Zusammenhang nicht in Frage kommen oder gar
15 KS II, S. 270. 16 Ebd. 17 Ebd.
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überhaupt geleugnet werden soll“18. Aber das hieße einerseits zu vergessen, dass wir „nur eine empirische Wirklichkeit“19 kennen, welche, wenn sie durch Ursachen bedingt ist, dies sowohl ist, wenn sie wegen ihrer besonderen Individualität berücksichtigt wird, als auch, wenn sie auf allgemeine Begriffe zurückgeführt wird, und andererseits hieße es zu vergessen, dass es nicht zulässig ist, sich in der Diskussion über die logisch-methodologischen Unterschiede zwischen Natur- und Geschichtswissenschaften auf das allgemeine erkenntnistheoretische Problem der Anwendbarkeit des Begriffs der Ursache auf die empirische Wirklichkeit zu beziehen (wie es z.B. der Fall ist, wenn man unter der Berufung auf Kant behauptet, dass die kausale Wirklichkeitsauffassung nur gelte, wenn man die Wirklichkeit als Natur betrachtet, ohne dabei zu berücksichtigen, dass Kant, der vor der großen Entwicklung der Geschichtswissenschaften im 19. Jahrhundert lebte, „die Formen, welche für jede wissenschaftliche Auffassung der Welt unentbehrlich sind, nicht ausdrücklich von den Formen geschieden hat, die wir nur bei der Betrachtung der Wirklichkeit als Natur anwenden“)20. Gegen diese Position stehen auf der anderen Seite jene, die ausgehend von der richtigen Überzeugung der „durchgängige[n] kausale[n] Bestimmtheit aller historischen Thatsachen“21, behaupten, die Geschichte müsse nach der naturwissenschaftlichen Methode behandelt werden, womit auch sie eine allgemeine erkenntnistheoretische Voraussetzung (die „der durchgängigen kausalen Bedingtheit des Seins“)22 mit einer besonderen methodologischen Form verwechseln, in der diese sich widerspiegelt (das Naturgesetz), und also im Wesentlichen Kausalität und Gesetzmäßigkeit identifizieren. Um das Knäuel zu entwirren, schlägt Rickert daraufhin eine – von Weber vollständig rezipierte – Unterscheidung zwischen drei verschiedenen Kausalitätsbegriffen vor: „Die Voraussetzung, dass alles Geschehen seine Ursache hat, wollen wir, um sie von den Naturgesetzen der empirischen Wissenschaften zu unterscheiden, nicht Kausalitätsgesetz, sondern Grundsatz der Kausalität oder Kausalprinzip nennen. Sodann muss, da jede Ursache und jede Wirkung von jeder anderen Ursache und jeder anderen Wirkung verschieden ist, jeder wirkliche Zusammenhang von Ursache und Wirkung nach unserer Terminologie als ein historischer Kausalzusammenhang im weitesten Sinne des Wortes bezeichnet werden23. Schliesslich sprechen wir von einem Kausalgesetz, wenn 18 19 20 21 22 23
Grenzen 1902, S. 409–410. Grenzen 1902, S. 410. Grenzen 1902, S. 411. Grenzen 1902, S. 410. Grenzen 1902, S. 413. Diesem „historischen Kausalzusammenhang im weitesten Sinne des Wortes“ entspricht Rickerts Notion des ‚historischen Individuums‘ im weitesten Sinne des Wortes. Beide (so wie
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individuelle Kausalzusammenhänge auf das hin betrachtet werden, was ihnen mit anderen Kausalzusammenhängen gemeinsam ist, oder wenn ein unbedingt allgemeiner Begriff gebildet wird, der nur das enthält, was an beliebig vielen Kausalzusammenhängen sich wiederholt“24. Diese begriffliche Unterscheidung macht ein für alle Mal klar, dass „der Begriff der kausalen Verknüpfung als solcher den der Naturgesetzmässigkeit durchaus nicht einschliesst. Der Begriff einer einmaligen und individuellen Kausalreihe schliesst es vielmehr aus, dass ihre Darstellung durch Begriffe von Naturgesetzen erfolgen kann. So ist es z.B. gewiss ein kausal vollkommen bestimmter Vorgang, dass Lissabon am 1. November 1755 durch das bekannte Erdbeben zerstört wurde, oder dass Friedrich Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone ablehnte, aber es giebt keine allgemeinen Kausalgesetze, in deren Inhalt sich diese einmaligen individuellen Ereignisse befinden. Ja, der Gedanke eines solchen Gesetzes enthält geradezu einen logischen Widersinn, denn jedes Gesetz ist allgemein und kann daher von den besonderen Ursachen des einmaligen Vorganges, auf die es dem Historiker ankommt, nichts enthalten“25.
3. Die Wertbeziehung als Kriterium der Begrenzung des Explanandums Wir werden im Folgenden sehen, dass dies alles für Rickert wie für Weber ganz und gar nicht ausschließt, dass das nomologische Wissen eine unverzichtbare instrumentelle Rolle im Bereich der historisch-kausalen Zurechnung einnimmt. Zunächst jedoch ist es angebracht, eine zweite wichtige Voraussetzung für Webers Rezeption der Kries’schen Theorie zu unterstreichen, eine Voraussetzung, die in aller Offensichtlichkeit auf die bekanntesten Aspekte von Rickerts Untersuchungen zur Logik der Geschichte verweist. Im zweiten Teil der Kritischen Studien schreibt Weber in der Tat: „Wenn man sagt, daß die Geschichte die konkrete Wirklichkeit eines ‚Ereignisses‘ in seiner Individualität kausal zu verstehen habe, so ist damit […] nicht gemeint, daß sie dasselbe in der Gesamtheit seiner individuellen Qualitäten unverkürzt zu ‚reproduzieren‘ und kausal zu erklären habe“26. Dieses Ziel zu verfolgen, auch der Windelband’sche Begriff des ‚Idiographischen‘) bleiben für Rickert problematisch, da sie gerechtfertigter Weise die Frage nach der hartnäckigen Individualität jedes einzelnen Zugs der Wirklichkeit und jedes einzelnen Kausalzusammenhangs stellen, aber noch nicht auf das Problem des Prinzips der Auswahl antworten, das in jedem Fall ihre Begriffsbildung leiten muss (die sich niemals in einem reinen Abbild auflösen kann). 24 Grenzen 1902, S. 413–414. 25 Grenzen 1902, S. 414. 26 KS II, S. 272.
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würde – um es mit Rickert zu sagen – bedeuten, die unübersehbare intensive Mannigfaltigkeit, die jeden einzelnen, nicht begrifflich gebildeten Zug der empirischen Wirklichkeit charakterisiert, auf seine Entstehungsbedingungen zurück zu projizieren, und so auch auf dieser Ebene lediglich „die Ohnmacht unseres Intellekts“ feststellen27. Weber dagegen geht implizit von Rickerts Notion der ‚Wertbeziehung‘ aus, verstanden als Prinzip der Auswahl, das es dem Historiker erlaubt, das Objekt seiner Wissenschaft zu konstruieren, indem er aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit der empirischen Wirklichkeit und aus jedem einzelnen ihrer Züge jene individuellen Aspekte extrapoliert, die, einmal abgesehen von ihrer kausalen Bedeutung, aus sich selbst heraus eine Bedeutung für den Historiker und alle die haben, an die der Historiker sich wendet (und die gerade deshalb die verschiedensten Werturteile und die gegensätzlichsten Stellungnahmen hervorrufen). Allein aus diesem Grund kann Weber behaupten, dass es „der Geschichte ausschließlich auf die kausale Erklärung derjenigen ‚Bestandteile‘ und ‚Seiten‘ des betreffenden Ereignisses an[kommt], welche unter bestimmten Gesichtspunkten von ‚allgemeiner Bedeutung‘ und deshalb von historischem Interesse sind“28. Und gerade hierin liegt im Übrigen für Weber der Grund für eine andere, wichtige Übereinstimmung in der Art, wie die Rechtswissenschaft und die Geschichte in ihren jeweiligen Bereichen die Theorie der objektiven Möglichkeit und der adäquaten Verursachung von Kries aufnehmen. Denn auch „für die Erwägungen des Richters [kommt] nicht der gesamte individuelle Ablauf des Geschehnisses“ in Betracht, sondern allein „die für die Subsumtion unter
27 H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, zweite, neu bearbeitete Auflage, Tübingen, 1913, S. 36. 28 KS II, S. 272. Der Ausdruck ‚allgemein‘ wird hier von Weber natürlich nicht in dem naturwissenschaftlichen Sinne von ‚allen gemein‘ verwendet, sondern in dem spezifischen historischen Sinne von ‚bedeutsam für alle‘. Damit haben wir, was Rickert die zweite Art des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte nennt (vgl. den vierten Abschnitt der ersten Studie in diesem Band). Aber dazu, wie Weber den Rickert’schen Begriff der Wertbeziehung rezipiert und gleichzeitig dem von Rickert verwendeten Ausdruck des ‚Wertes‘ etwas ratlos gegenübersteht (ein wohlklingender Ausdruck, der nach seinen Worten aber „ein höchst bedenklich schillernder, vieldeutiger und zu Missverständnissen geradezu auffordernder Ausdruck“ ist) ist ein anderer Text von besonderem Interesse: das Nervi-Fragment, eine lange Anmerkung, die Weber bei seinem Aufenthalt im Schickert‘s Park-Hotel in Ligurien (Januar 1903) schrieb und Rickerts ‚Werte‘ nannte. Den deutschen Text des Nervi-Fragments und seine englische Übersetzung finden sich in H.H. Bruun, Weber on Rickert: From Value Relations to Ideal Type, in „Max Weber Studies“, I (2001), 2, S. 138–160, hier S. 157–159 und 143–144. Vgl. auch E. Massimilla, Nota introduttiva alla traduzione italiana del ‚frammento di Nervi‘, in „Archivio di storia della cultura“, XXIV (2011), S. 361–365.
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die Normen wesentlichen Bestandteile desselben“29. In anderen Worten: Das, was es dem Juristen erlaubt, das Explanandum (das normativ definierte Kriterium der ‚Justiziabilität‘) exakt zu begrenzen und zu umschreiben, entspricht im Bereich der Geschichte der Wertbeziehung, die es dem Historiker erlaubt, jene Bestandteile und Aspekte eines konkreten Ereignisses zu begrenzen und zu umschreiben, die eine kausale Erklärung verlangen, weil sie und nur weil sie über eine allgemeine Bedeutung verfügen. Folglich erweist sich „wie für die juristische, […] auch für die historische Zurechnungsfrage […] die Ausscheidung einer Unendlichkeit von Bestandteilen des wirklichen Herganges als ‚kausal irrelevant‘, denn ein einzelner Umstand ist […] nicht nur dann unerheblich, wenn er mit dem zur Erörterung stehenden Ereignis in gar keiner Beziehung stand, dergestalt, daß wir ihn wegdenken können, ohne daß irgend eine Aenderung des tatsächlichen Verlaufes eingetreten ‚wäre‘, sondern schon dann, wenn die in concreto wesentlichen und allein interessierenden Bestandteile jenes Verlaufes durch ihn nicht mitverursacht erscheinen“30.
4. Das nomologische Wissen als unentbehrliches Werkzeug der kausalen Zurechnung in der Geschichte Erst nachdem Weber ausgehend von Rickert verdeutlicht hat, dass das Problem der kausalen Zurechnung in der Geschichte sich immer als Zuweisung individueller Wirkungen zu individuellen Ursachen darstellt, oder spezifischer als Zuweisung einiger von „jenen ‚wesentlichen‘ Bestandteilen des Erfolges“ zu „bestimmten Bestandteilen aus der Unendlichkeit determinierender Momente“, stellt er die Frage, „durch welche logischen Operationen gewinnen wir die Einsicht und vermögen wir sie demonstrierend zu begründen, daß eine solche Kausalbeziehung […] vorliegt?“31 Eine solche Demonstration (bezogen auf welche nun gerade das von Kries entwickelte Modell der kausalen Zurechnung ins Spiel kommt) „vollzieht sich in Gestalt eines Gedankenprozesses, welcher eine Serie von Abstraktionen enthält“, von denen „die erste und entscheidende […] nun eben die [ist], daß wir von den tatsächlichen kausalen Komponenten des Verlaufs eine oder einige in bestimmter Richtung abgeändert denken und uns fragen, ob unter den dergestalt abgeänderten Bedingungen des Hergangs
29 KS II, S. 272. 30 KS II, S. 273. 31 Ebd.
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der (in den ‚wesentlichen‘ Punkten) gleiche Erfolg oder welcher andere ‚zu erwarten gewesen‘ wäre“32. Um diese Vorgehensweise durch ein Beispiel zu erläutern, greift Weber bekanntermaßen auf das ideale Experiment der ‚Schlacht bei Marathon‘ zurück, das es ihm erlaubt die methodologischen Reflexionen Eduard Meyers zu kritisieren, indem er sich auf dessen eigene historiographische „Praxis“33 bezieht. Laut Weber hat es der große Altertumsforscher wie kein zweiter vermocht, die „welthistorische ‚Tragweite‘ der Perserkriege für die abendländische Kulturentwicklung“ zu illustrieren, allein indem er hervorhebt: a) „daß zwischen den beiden ‚Möglichkeiten‘: Entfaltung einer theokratisch-religiösen Kultur, deren Ansätze in den Mysterien und Orakeln vorlagen, unter der Aegide des persischen Protektorats, welches möglichst überall, so bei den Juden34, die nationale Religion als Herrschaftsmittel nutzte, auf der einen Seite, und dem Siege der diesseitig gewendeten, freien hellenischen Geisteswelt, welche uns jene Kulturwerte schenkte, von denen wir noch heute zehren, die ‚Entscheidung‘ fiel“; b) und dass diese „,Entscheidung‘ fiel durch ein Gefecht von den winzigen Dimensionen der ‚Schlacht‘ bei Marathon, welche ja die unerläßliche ‚Vorbedingung‘ der Entstehung der attischen Flotte und also des weiteren Verlaufes des Freiheitskampfes“ darstellte35. Auf diesen Punkt kommt Weber auch in einer Passage aus Religiöse Gemeinschaften zurück (die ‚Religionssoziologie‘ der Vorkriegsfassung von Wirtschaft und Gesellschaft). In der Absicht zu zeigen, wie der Übergang von der Priesterschaft der politischen Gruppe zur eigentlichen religiösen Gemeinde durch das Entstehen der großen Reiche im Vorderen Orient und insbesondere Persiens gefördert wurde, schreibt Weber: „Die politischen Verbände wurden vernichtet, die Bevölkerung entwaffnet, die Priesterschaft dagegen, mit gewissen politischen Befugnissen ausgestattet, in ihrer Stellung garantiert. Ähnlich, wie die Zwangsgemeinde aus dem 32 KS II, S. 273. Wenn wir die Argumentationen von Kries untersuchen, werden wir verstehen, warum Weber sehr zu Recht im Plural von ‚einer Serie von Abstraktionen‘ spricht. 33 KS II, S. 273. 34 Das Buch Esra bezeugt klar und deutlich, dass Kyros II, nachdem er die Babylonier besiegt hatte, den Juden erlaubte, nach Jerusalem zurückzukehren und den Tempel wieder aufzubauen (1, 2–4) und enthält außerdem das ‚Edikt des Artaxerxes‘ (7, 11–26), in dem der „König aller Könige“ sich mit der offiziellen persischen Anrede an Esra, den „Priester und Schriftgelehrten im Gesetz des Gottes des Himmels“ wendet und ihn auffordert, das gesellschaftliche Leben in Judäa und Jerusalem nach dem Gesetz seines Gottes und dem Gesetz des Königs zu regeln. Aufgrund der ungewissen Datierung des Buchs Esra ist nicht klar, ob es sich hierbei um Artaxerxes I. (465–425/424 v. Chr.) oder um Artaxerxes II. (404–359 v. Chr.) handelt. 35 KS II, S. 273–274.
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Nachbarschaftsverband zur Sicherung fiskalischer Interessen, so wurde hier die religiöse Gemeinde als ein Mittel der Domestikation der Unterworfenen verwertet. So entstand durch Erlasse der persischen Könige von Kyros bis Artaxerxes das Judentum als eine vom König anerkannte religiöse Gemeinde mit einem theokratischen Zentrum in Jerusalem“; und ergänzt sofort danach (unter Verwendung eines für uns sehr interessanten Konditionals): „Ein Sieg der Perser hätte vermutlich dem delphischen Apollon und den Priestergeschlechtern anderer Götte, vielleicht auch orphischen Propheten, ähnliche Chancen gebracht“36. Webers Problem besteht darin, die logische Struktur dieser Behauptungen aus größerer Nähe zu analysieren: Dabei stellt sich an erster Stelle die Frage, was es denn heißt, „wenn wir von mehreren ‚Möglichkeiten‘ sprechen, zwischen denen jene Kämpfe ‚entschieden‘ haben sollen“, wobei allerdings – entgegen der verbreiteten Ansicht, dass „die Geschichte […] keine Möglichkeiten“ kennt – von der Überzeugung auszugehen ist, dass die Geschichte von solchen „Möglichkeitsurteilen“ durchwoben ist, „vorausgesetzt, daß sie Wissenschaft sein will“37. In diesem Prozess der logischen Klärung, den Weber im zweiten Teil der Kritischen Studien skizziert, ist die Rolle der von Kries ausgeführten Theorie von solcher Tragweite, dass man sie endlich einmal einer detaillierten Untersuchung unterziehen sollte. Um aber zumindest vorübergehend den Diskurs über die Rolle, die Rickert in Webers Rezeption der Kries’schen Theorie spielt, abzuschließen, ist es notwendig, einen Aspekt der Frage vorzuziehen, der intuitiv klar wird: In den Behauptungen zu den möglichen Folgen eines anderen Ausgangs der Perserkriege wird die Kategorie der Möglichkeit nicht „in dem Sinne [verwendet], daß sie ein Ausdruck unseres Nicht- resp. Nichtvollständig-Wissens“ ist38, wie es der Fall ist, wenn man auf die Frage, ob ein bestimmtes Ereignis eintreten wird (oder eingetreten ist), mit ‚möglicherweise‘ antwortet und damit sagen will, dass man subjektiv nicht über ein Wissen verfügt, das einem erlaubt, die Frage zu beantworten. Wenn dagegen Meyer „urteilt, daß eine theokratischreligiöse Entwicklung in Hellas zur Zeit der Schlacht bei Marathon ‚möglich‘ oder unter gewissen Eventualitäten ‚wahrscheinlich‘ gewesen sei“39, versteht man sofort, dass es sich hier nicht um ein ‚Nicht-Wissen‘, sondern eher um 36 M. Weber, Religiöse Gemeinschaften, in Ders., Gesamtausgabe (im Folgenden: MWG), I/22 (Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß) - 2, hrsg. von H.G. Kippenberg in Zusammenarbeit mit P. Schilm und J. Niemeier, Tübingen, 2001, S. 198. 37 KS II, S. 275. 38 KS II, S. 276. 39 Ebd.
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ein Wissen, eine Form objektiv gültiger empirischer Erkenntnis handelt. Aus logischer Sicht betrachtet – also einmal abgesehen von der Rolle, die die Anschauung des Historikers im „psychologische[n] Hergang“ ihrer „Entstehung“40 spielt –, ist diese Erkenntnis laut Weber das Ergebnis von „Isolationen und Generalisationen“41. In unserem Fall werden aus dem Komplex der kausalen Bedingungen der spezifischen Beschaffenheit der hellenischen Kultur, die Objekt unseres Interesses ist, (also aus einem bereits zuvor begrenzten Komplex von kausalen Bedingungen) ein oder mehrere Bestandteile isoliert, und man fragt sich, ob ceteris paribus ihre Abwesenheit oder ihr anderer Verlauf die Wirkung in den für uns wichtigen Punkten verändert hätten. Trotzdem erlauben uns diese „Phantasiebilder […] durch Absehen von einem oder mehreren der in der Realität faktisch vorhanden gewesenen Bestandteile der ‚Wirklichkeit‘“42 nur dann eine objektiv gültige Kenntnis über ihren kausalen Einfluss auf die Wirkung zu erlangen, wenn es dem Zersetzungsprozess gelingt, dass die so isolierten realen und irrealen kausalen Bestandteile (in unserem Fall: das Vorhandensein besonders starker Priestergeschlechter in Griechenland und besonders in Athen sowie die Niederlage Griechenlands in den Perserkriegen) unter eine oder mehrere „allgemeine[n] Erfahrungsregeln“43 fallen können (in unserem Fall: die einheitliche Haltung der Reiche des Vorderen Orients und insbesondere der Perser in Jerusalem, Ägypten und Kleinasien gegenüber der Religion und der Priesterschaft der unterworfenen Völker). In anderen Worten: Die Möglichkeitsurteile, von denen die Geschichte als Wissenschaft durchwoben ist (wie auch immer sie verstanden werden), gründen nach Weber ihre objektive Gültigkeit auf die Reibungskraft, die unser „,nomologisches‘ Erfahrungswissen“44 auf die fantastische Konstruktion ausübt, deren Ergebnis sie sind. Wie wir sehen werden, stimmt die Überzeugung, dass das nomologische Wissen eine unverzichtbare instrumentelle Rolle in der kausalen Zurechnung in der Geschichte spielt, vollständig mit dem von Weber rezipierten Kries’schen Begriff der ‚objektiven Möglichkeit‘ überein. Das bedeutet aber nicht, dass diese Anerkennung von sich aus eine Abwendung Webers von Rickert beinhaltet, welcher dagegen diese instrumentelle Rolle systematisch abgelehnt hätte45. 40 KS II, S. 278. 41 KS II, S. 275. 42 Ebd. 43 KS II, S. 276. 44 KS II, S. 277. 45 Vgl. z.B. P. Rossi, Max Weber und die Methodologie der Geschichts- und Sozialwissenschaften, in J. Kocka (Hg.), Max Weber, der Historiker, Göttingen, 1986, S. 28–50, S. 39: „Die Rickertsche Dichotomie zwischen Naturerkenntnis und historischer Erkenntnis, zwischen Natur- und Kulturwissenschaften, wird [von Weber] in dem Sinne korrigiert, daß das
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Im Gegenteil, die logischen Reflexionen in den Grenzen über die Notwendigkeit, mehr oder weniger einfache Kausalgesetze zu verwenden, um einen völlig individuellen Kausalzusammenhang wissenschaftlich darzustellen (was eine ganz andere Sache ist, als ihn unmittelbar zu erleben oder aus der Erinnerung zu rekonstruieren), bilden auch in dieser Hinsicht eine Voraussetzung für Webers Aneignung des von Kries entwickelten konditionalen Modells der kausalen Zurechnung. Rickert ist in der Tat überzeugt, dass auch für den historischen Kausalzusammenhang gilt, was generell für jede Form der historischen Begriffsbildung gilt (wie z.B. die Begriffe ‚Napoleon‘ oder ‚Dreißigjähriger Krieg‘). Ich beziehe mich auf die Tatsache, dass letztere, auch wenn sie sich als ‚individueller Begriff‘ aufgrund einer theoretischen Wertbeziehung darstellt, wenn sie für alle verständlich und allen mitteilbar sein will, immer aus allgemeinen ‚Begriffselementen‘ zusammengesetzt sein muss, so wie jene, aus denen die generalisierenden Begriffsbildungen bestehen (wie z.B. der Begriff ‚Säugetier‘ oder das ‚allgemeine Gravitationsgesetz‘). Dies ist die erste der vier Arten des ‚Allgemeinen‘ in der Geschichte, die Rickert in den Grenzen unterscheidet, bei der der Terminus ‚allgemein‘ im gleichen Sinn wie in den Naturwissenschaften angewandt wird46. Das bedeutet, dass die Geschichtswissenschaften, um einen völlig individuellen Kausalzusammenhang darzustellen, in jedem Fall auf allgemeine Begriffselemente zurückgreifen müssen, die in diesem Fall „allgemeine Begriffe von Kausalverhältnissen“47, also Kausalgesetze, sind. Denke ich zum Beispiel über die Konstellation der Ursachen nach, die zu Cäsars Ermordung führten, zähle ich die allgemeinen Begriffselemente der geschichtlichen Begriffsbildung auf, die dieses Ereignis darstellt (die Tötung eines Mannes, die Ermordung eines Diktators usw.) und frage nach ihren Ursachen, die offensichtlich ebenfalls allgemeine Ursachen sind. So kann ich mehr oder weniger einfache Kausalgesetze folgender Art formulieren: ‚Ein oder mehrere Dolchstiche können einen Menschen töten‘; ‚ein Diktator wird mit gewisser Häufigkeit zum Opfer von Männern, die ihm nahe stehen und besorgt oder verärgert sind über die nomologische Wissen als wesentlicher Bestandteil auch dieser letzteren betrachtet wird. Die Untersuchung zwischen den beiden Wissensformen wird somit in der unterschiedlichen Funktion gesucht, welche die Gesetze in ihnen erfüllen: eine Zweckfunktion in der Naturerkenntnis, eine instrumentale Funktion in der historischen Erkenntnis“. Aber in Wirklichkeit übernimmt Weber diese Position gerade von Rickert, der in den Grenzen „der Tatsache Rechnung [trägt], daß wir Individuelles nur im Medium allgemeiner Begriffe als individuell erkennen können“ (H. Schnädelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel, Die Probleme des Historismus, Freiburg - München, 1974, S. 153). 46 Ich verweise auf den dritten Abschnitt der ersten Studie in diesem Band. 47 Grenzen 1902, S. 429.
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Machtkonzentration, die er darstellt‘, usw. Trotzdem liefern nur die Kombination und die Vereinigung dieser allgemeinen Ursachen im Hinblick auf eine individualisierende Begriffsbildung, für die sie als allgemeine Begriffselemente fungieren, den individuellen Begriff der historischen Ursache für Cäsars Tod, also gerade für dieses uns interessierende Ereignis und kein anderes48. Häufig setzt die Geschichtswissenschaft auf diese instrumentelle Weise „vor aller Naturwissenschaft in der ‚Erfahrung des Lebens‘ entstandene allgemeine Sätze“ ein49. Das schließt aber nicht aus, dass sie nützlicherweise auch allgemeine Sätze aus einer naturwissenschaftlichen Begriffsbildung im eigentlichen Sinne annehmen kann: Die evolutionären Gesetze bestimmter Formen psychischer Krankheiten können beispielsweise nutzbringend verwendet werden, um Neros Befehl, Rom anzuzünden, zu erklären; und genauso können die Gesetze der Hydrodynamik nutzbringend verwendet werden, um zu erklären, warum 1588 die Schiffe der Armada Philipps II. von jenen leichteren und wendigeren Elisabeths im Ärmelkanal besiegt wurden. Ausgehend von einer solchen Perspektive kann Rickert – zur Schande jeder oberflächlichen Betrachtung seiner ‚Geschichtslogik‘ als eine Art uneinnehmbare theoretische Trutzburg zur Verteidigung der ‚alten Richtung‘ der Geschichtsschreibung gegen die Angriffe des (immerhin kritisierten) Lamprecht50– sogar behaupten, dass vielleicht „der geringe Gebrauch, den die Geschichte bisher von den Ergebnissen der Naturwissenschaft gemacht hat, wirklich ein Mangel“ ist51. Und dennoch kann jegliche „Benutzung naturwissenschaftlicher Kausalgesetze […] nicht das Geringste an dem Wesen der historischen Begriffsbildung ändern“52. 48 Rickert präzisiert auch, dass es, während das zu erklärende ‚historische Individuum‘ eine Sache oder ein Vorgang ist (wie im Fall von Cäsars Tod), es überhaupt nicht gesagt sei, dass seine Ursache ebenfalls eine Sache oder ein Vorgang sein muss. Und trotzdem wird, auch wenn er aus begrifflichen Elementen verschiedener Sachen und Vorgänge besteht, der fragliche Begriff der Ursache, welche Ursache eines ‚historischen Individuums‘ ist, immer ein individueller historischer Begriff sein. Für eine genaue formale Beweisführung dieser Behauptung vgl. Grenzen 1902, S. 430ff. Im Übrigen muss man daran erinnern, dass es sich in jedem Fall um den Begriff dessen handelt, was Rickert als „sekundäres historisches Individuum“ bezeichnet und was seine Eigenschaft als „Individuendum“ nur rückwirkend, das heißt ausgehend von der Wertbeziehung, die das „primäre historische Individuum“, deren Ursache sie ist, zu einem „Individuendum“ macht. Vgl. hierzu Grenzen 1902, S. 372, Fußnote und S. 475–476. Aber siehe auch die Ausführungen zu der Rickert’schen Unterscheidung zwischen primären und sekundären historischen Individuen im zweiten Abschnitt der zweiten Studie in diesem Band. 49 Grenzen 1902, S. 433. 50 Vgl. Grenzen 1902, S. 329–332. 51 Grenzen 1902, S. 341. 52 Grenzen 1902, S. 434.
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„Da diese Kausalgesetze immer nur Mittel sind, um den kausalen Zusammenhang individueller historischer Ereignisse einzusehen“, treten sie „niemals als um ihrer selbst willen erstrebte vollständige historische Begriffe“ auf, sondern nur als „Elemente von historischen Begriffen und insofern Umwege […], auf denen die Darstellung wieder zum Individuellen zurückkehrt [aber die sie nicht vermeiden kann]“53.
II. „Ein Philosoph auf dem Freiburger Lehrstuhl für Physiologie“: Johannes von Kries (1853–1928) Aber kommen wir nun zu der Hauptfigur dieser Studie: Johannes Adolf von Kries, geboren am 6. Oktober 1853 in Roggenhausen in Preußen (heute Rogoźno/Polen) und gestorben am 30. Dezember 1928 in Freiburg im Breisgau. Er studierte Medizin in Halle gemeinsam mit Alfred Wilhelm Volkmann – dem Physiologen, der 1842 die Struktur des sympathischen Nervensystems entdeckte, also des vegetativen oder selbstständigen Nervensystems, das dem Parasympathicus gegenübergestellt ist – und dann in Zürich und Leipzig, wo er 1876 promovierte. Von 1876 bis 1877 arbeitete Kries am Institut für Physik der Universität Berlin unter der Führung von Hermann von Helmholtz, als dessen „größter Schüler“ er bezeichnet wurde54. 1877 wurde er in Leipzig Assistent von Karl Ludwig – dem Verfasser wichtiger Untersuchungen im Bereich der Physiologie der Nieren, der Lymphogenese und der Endokrinologie – und habilitierte sich 1878 in Physiologie. 1880 wurde er zum außerordentlichen Professor für Physiologie und 1883 zum ordentlichen Professor und Direktor des Instituts für Physiologie an der Universität Freiburg ernannt. 1890 gründete er gemeinsam mit Hermann Ebbinghaus (dem für seine experimentellen Studien zum Gedächtnis berühmt gewordenen Psychologen) die „Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane“, die schnell zu einer der maßgeblichen Fachzeitschriften in ihrem Bereich wurde. Bereits anhand dieser Fakten ist leicht zu erkennen, dass Kries ein Fachwissenschaftler von hoher Schule und hohem Rang war. Wir verdanken ihm wichtige Beiträge aus dem Bereich der experimentellen Physiologie und insbesondere der Physiologie des Auges. Er hat mit seiner ‚Zonentheorie‘ in ge53 Grenzen 1902, S. 434–435 (2. Hervorhebung E.M.). 54 R.S. Turner, Consensus and Controversy: Helmholtz on the Visual Perception of Space, in D. Cahan (Hg.), Hermann von Helmholtz and the Foundations of Nineteenth-Century Science, Berkeley, 1994, S. 154–204, S. 198.
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„Da diese Kausalgesetze immer nur Mittel sind, um den kausalen Zusammenhang individueller historischer Ereignisse einzusehen“, treten sie „niemals als um ihrer selbst willen erstrebte vollständige historische Begriffe“ auf, sondern nur als „Elemente von historischen Begriffen und insofern Umwege […], auf denen die Darstellung wieder zum Individuellen zurückkehrt [aber die sie nicht vermeiden kann]“53.
II. „Ein Philosoph auf dem Freiburger Lehrstuhl für Physiologie“: Johannes von Kries (1853–1928) Aber kommen wir nun zu der Hauptfigur dieser Studie: Johannes Adolf von Kries, geboren am 6. Oktober 1853 in Roggenhausen in Preußen (heute Rogoźno/Polen) und gestorben am 30. Dezember 1928 in Freiburg im Breisgau. Er studierte Medizin in Halle gemeinsam mit Alfred Wilhelm Volkmann – dem Physiologen, der 1842 die Struktur des sympathischen Nervensystems entdeckte, also des vegetativen oder selbstständigen Nervensystems, das dem Parasympathicus gegenübergestellt ist – und dann in Zürich und Leipzig, wo er 1876 promovierte. Von 1876 bis 1877 arbeitete Kries am Institut für Physik der Universität Berlin unter der Führung von Hermann von Helmholtz, als dessen „größter Schüler“ er bezeichnet wurde54. 1877 wurde er in Leipzig Assistent von Karl Ludwig – dem Verfasser wichtiger Untersuchungen im Bereich der Physiologie der Nieren, der Lymphogenese und der Endokrinologie – und habilitierte sich 1878 in Physiologie. 1880 wurde er zum außerordentlichen Professor für Physiologie und 1883 zum ordentlichen Professor und Direktor des Instituts für Physiologie an der Universität Freiburg ernannt. 1890 gründete er gemeinsam mit Hermann Ebbinghaus (dem für seine experimentellen Studien zum Gedächtnis berühmt gewordenen Psychologen) die „Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane“, die schnell zu einer der maßgeblichen Fachzeitschriften in ihrem Bereich wurde. Bereits anhand dieser Fakten ist leicht zu erkennen, dass Kries ein Fachwissenschaftler von hoher Schule und hohem Rang war. Wir verdanken ihm wichtige Beiträge aus dem Bereich der experimentellen Physiologie und insbesondere der Physiologie des Auges. Er hat mit seiner ‚Zonentheorie‘ in ge53 Grenzen 1902, S. 434–435 (2. Hervorhebung E.M.). 54 R.S. Turner, Consensus and Controversy: Helmholtz on the Visual Perception of Space, in D. Cahan (Hg.), Hermann von Helmholtz and the Foundations of Nineteenth-Century Science, Berkeley, 1994, S. 154–204, S. 198.
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wisser Weise zwei Auffassungen zur Farbwahrnehmung zusammengeführt, die bis dahin absolut gegensätzlich schienen: erstens die ‚Dreifarbentheorie‘ Newton‘scher Abstammung (vertreten von Thomas Young und ab einem gewissen Punkt auch von Helmholtz), nach der die Farbwahrnehmung von dem Vorhandensein eines Mosaiks dreier Arten von Rezeptoren in der Retina abhängt, die auf drei Primärfarben (rot, grün, blau) reagieren55; und zweitens die von Karl Ewald Hering vertretene und im goethischen Sinne der qualitativen Farberfahrung gegenüber aufmerksamere ‚Gegenfarbtheorie‘, nach der die Farbwahrnehmung auf antagonistische und differenziale Weise funktioniert, es also sechs in drei Gegensatzpaaren zusammenfasste Primärfarben gibt (rotgrün, gelb-blau, weiß-schwarz), wobei die Rezeptoren auf eine dieser Farben inhibatorisch und auf die entsprechende Gegenfarbe exzitatorisch reagieren (was natürlich das Vorhandensein sechs verschiedener Rezeptoren in der Retina voraussetzen würde)56. Die ‚Zonentheorie‘ von Kries greift nun die sogenannte ‚Duplizitätstheorie‘ von Max Schultze auf und erweitert sie: Auf diese Weise erreichte er das größte Verständnis der Funktionsweise der Retina, indem er korrekt die Zapfen (Zellen dreier verschiedener Typen) als Rezeptoren für die Primärfarben bei hoher Lichtintensität und die Stäbchen (Zellen nur eines Typs) als Rezeptoren für das ‚Nachtsehen‘, also das Sehen in Schwarz und Weiß bei niedriger Lichtintensität, identifiziert. Kries verdanken wir auch die erste Theorie zur chromatischen Anpassung, dem dynamischen Mechanismus des menschlichen Sichtsystems, der die Variation der Spektralqualität einer Lichtquelle kompensiert und so für Farbbeständigkeit der beleuchteten Objekte sorgt. Aber das ist noch nicht alles. Die wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Kries (mehr als 120) umfassen wichtige Studien zur Physiologie des Gehörs, zur Mechanik des Muskelapparates und zur Hämodynamik. Was den letzten Bereich betrifft, wurde kürzlich gut dokumentiert vertreten, dass in den Forschungen zur arteriellen Zirkulation seit 1883 Kries als erster zu einer umfassenden theoretischen Beschreibung des ‚hydraulischen Widders‘ gelangt ist57. 55 Der endgültige Beweis zugunsten dieser Hypothese von Young wurde erst 1959 erbracht, als zwei Gruppen von amerikanischen Forschern bei mikroskopischen Untersuchungen zur Absorptionsfähigkeit der Retina-Zapfen von Licht mit verschiedenen Wellenlängen nur drei Typen von Zapfen entdeckten. 56 Die Theorie von Hering wurde 1970 in gewisser Weise aufgegriffen, abgewandelt und rehabilitiert, als Edwin Land feststellte, dass die drei Farben von Young und Helmholtz bei der Übermittlung von der Retina zum Gehirn in sechs Farben ‚übersetzt‘ werden. 57 Vgl. A.S. Tijsseling - A. Anderson, A Precursor in Waterhammer Analysis: Rediscovering Johannes von Kries. in S.J. Murray (Hg.), The Practical Application of Surge Analysis for Design and Operation, Proceedings of the 9th International Conference on Pressure Surges, Cran-
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Und dennoch sagt uns Franz Rosenzweig – der in den Jahren seines Medizinstudiums (1905–1908), bevor er seiner eigentlichen Berufung zum Historiker folgte, Gelegenheit hatte, den Vorlesungen von Kries zu folgen –, dass dieser seine Zeit zwischen „Physiologie und Philosophie“ aufteilte58. Ein nicht unähnliches Bild gibt der Titel eines Beitrags von Paul Hoffmann (1884– 1962) von 1957 wider, der Kries’ Nachfolger in Freiburg war: Johannes von Kries, ein Philosoph auf dem Freiburger Lehrstuhl für Physiologie59. Und dasselbe lässt sich von zwei neueren Dissertationen am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Albert-Ludwig-Universität sagen, die ausführlich die wissenschaftliche Arbeit von Kries beschreiben und die überraschende Interessenvielseitigkeit des Gelehrten aufzeigen, der auch in dieser Hinsicht ein würdiger Schüler von Helmholtz war: Die erste von 1983 mit dem Titel Leben und Werk des Physiologen Johannes von Kries; Sinnesphysiologie und Erkenntniskritik; die zweite von 1996 mit dem Titel Brücken zwischen Naturwissenschaft, Klinik und Geisteswissenschaft: Johannes von Kries in Freiburg – Historische Untersuchung zum Problem des Universalgelehrtentums in der modernen Medizin60. Im Übrigen ist diesbezüglich auch die von Kries verfasste Selbstdarstellung für den vierten Band des von Louis Grote herausgegebenen Werks Die Medizin der Gegenwart in Selbstdarstellungen aufschlussreich (der vierte Band von 1925 enthält unter anderem auch die Selbstdarstellung von Freud)61. Aber auch die Themen einiger späterer Werke von Kries dürfen nicht vernachlässigt werden, field (Bedfordshire, UK), 2004, S. 739–751 und A.S. Tijsseling - A. Anderson, Johannes von Kries and the History of Water Hammer, in „Journal of Hydraulic Engineering“ der ASCE (American Society of Civil Engineers), 133 (2007), 1, S. 1–8. Der ‚hydraulische Widder‘ nutzt das Phänomen des Druckstoßes, das in einer flüssigkeitsführenden Rohrleitung auftritt, wenn ein Fluid in ihrem Inneren plötzlich durch das abrupte Schließen eines Ventils gestoppt wird, oder, andersherum, wenn eine geschlossene, unter Druck stehende Rohrleitung abrupt geöffnet wird. Der Stoß verläuft in Form einer Druckwelle, die in der Nähe des Ventils aufgrund der Trägheit der sich bewegenden Flüssigkeitssäule entsteht, und gegen die Armatur zurückschlägt. Die Intensität des Schlags und der maximale Druckwert der Welle können so hoch sein, dass die Rohrleitung explodiert. Der Druck hängt ab von der Größe der Rohrleitung, der Fließgeschwindigkeit, der Dichte des Fluids und vor allem von der Schließzeit des Ventils. 58 F. Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, 2 Bde., Den Haag, 1979, S. 60. Vgl. E. D’Antuono, Ebraismo e filosofia. Saggio su Franz Rosenzweig, Einführung von F. Tessitore, Neapel, 1999, S. 174–177. 59 P. Hoffmann, Johannes von Kries, ein Philosoph auf dem Freiburger Lehrstuhl für Physiologie, in „Berliner Medizin“, 8–9 (1957), S. 187–192. 60 Der Verfasser der ersten Dissertation ist B.M. Oser, der Verfasser der zweiten S. Lorenz. 61 L.R.R. Grote (Hg.), Die Medizin der Gegenwart in Selbstdarstellungen (1923–1929), Bd. IV, Leipzig, 1925: Freud (Wien), Gottstein (Berlin), Heubner (Dresden), von Kries (Freiburg i. B.), Much (Hamburg), Ortner (Wien). Selbstdarstellung von Kries’: S. 125–187.
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wie beispielsweise die monumentale Logik mit mehr als 700 Seiten, erschienen 1916 bei Mohr in Tübingen, die Rede Über Merkmale des Lebens vom 26. Oktober 1918 anlässlich des Jahrestags der Freiburger Wissenschaftlichen Gesellschaft und veröffentlicht 1919, die Schriften Immanuel Kant und seine Bedeutung für die Naturforschung der Gegenwart, erschienen 1924 bei Springer in Berlin, und Goethe als Psycholog, veröffentlicht im gleichen Jahr bei Mohr in Tübingen62. Die Schrift, die aber die Aufmerksamkeit Webers und zuvor eines ganzen Trupps von Strafrechtlern auf sich zog, war bereits lange vor den soeben genannten Werken erschienen. Es handelt sich um einen langen, 1888 von Kries veröffentlichten Aufsatz, der sich in den Rahmen seines besonderen Interesses für die Wahrscheinlichkeitsrechnung und ihre theoretischen Grundlagen einreiht. Diesem Thema hatte er 1886 bereits ein Buch gewidmet: Die Principien der Wahrscheinlichkeits-Rechnung. Eine logische Untersuchung, erschienen bei Mohr in Freiburg und neu aufgelegt 1927 in Tübingen. Um sich von der Relevanz und dem Einfluss dieser ‚logischen Untersuchung‘ zu überzeugen, braucht man nur einen Blick auf einige neuere Studien zu werfen, die sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit ihr befasst haben. Michael Heidelberger beispielsweise hat in einem Artikel von 2001 über die Ursprünge der Wahrscheinlichkeitsrechnung die Ansicht vertreten, das Buch von Kries (bedeutsamerweise beschrieben als „Physiologe“ und „neukantianischer Philosoph“) sei einer der wichtigsten Beiträge zur zugleich logischen und physisch-objektiven Begründung des Begriffs der Wahrscheinlichkeit nach Laplace und vor dem Ersten Weltkrieg. Sein besonderer Ansatz, dessen Potential von den Zeitge62 Kries’ wissenschaftliche und menschliche Größe vermittelt der Schlusssatz des Nachrufs eines seiner Schüler (K. Ziegler), der auf der Internetseite des Familienverband von Kries e.V. (www.von-kries.de) wiedergegeben wird: „Aus Forschung und Lehre, aus den wissenschaftlichen Arbeiten tritt uns die große Gesamtpersönlichkeit klar entgegen. Kritik und Scharfsinn, eindringliche Klarheit, Beharrlichkeit und Ausdauer, mathematische Begabung und logisch dialektische Veranlagung, Verantwortungsgefühl und Wahrheitsliebe, höchste Kultur in Form und Sprache, Güte und Nachsicht, Schärfe nur in der Treffsicherheit der Beweisführung und der Prägnanz der Formulierung. Und wer das seltene Glück genossen hat, ihm als Lehrer, im Freundeskreis, in dem engeren Rahmen der Fakultät, im geselligen Kreis des gastfreien Hauses näherzutreten, dem werden diese Stunden unvergeßlich sein; unvergeßlich der Zauber der gewinnenden Persönlichkeit, die Lauterkeit des Charakters, die Vornehmheit der Gesinnung, die Bescheidenheit bei allem Bewußtsein von Kraft und Geltung, unvergeßlich auch die Begeisterungsfähigkeit für alles Schöne in Kunst, Literatur und Musik, das Bild eines Mannes universeller Bildung, eines geborenen Führers edelster Prägung. Bleiben wird die Dankbarkeit für alles, was er als Lehrer, Führer und Freund gegeben, der Dank für alle die unvergänglichen Güter, welche er verschwenderisch der Menschheit und der Wissenschaft geschenkt hat“.
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nossen nicht gänzlich erkannt worden sei, habe laut Heidelberger Einfluss auf die ersten Schriften von Ludwig Wittgenstein und Friedrich Waismann gehabt (und könne insbesondere den Sinn erhellen, den diese Philosophen der Notion des „Elementarsatzes“ gegeben haben)63. Umgekehrt interpretiert Martin Neumann in seiner umfangreichen Monographie von 2002, die den eindrücklichen Titel Die Messung des Unbestimmten trägt, den von Kries entwickelten Begriff des ‚Spielraums‘ (auf den wir später zurückkommen werden), auch wenn er ihn in der Behandlung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs im 20. Jahrhundert als obsolet betrachtet, als vollendeten Ausdruck und katalysierendes Element eines regelrechten Sonderwegs, der in vielen Bereichen der zeitgenössischen deutschen Wissenschaft eingeschlagen wurde, um eben ‚das Unbestimmte zu messen‘, das heißt, den Zufall zu bändigen und in gewisser Weise zu beherrschen64. Aber es ist auch an einen Aufsatz von Guido Fioretti (2001) zu erinnern, der in Kries’ Schriften zu den Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung eine der wichtigsten Quellen für die Treatise on Probability von John Maynard Keynes (1921) ausmachte. Insbesondere stehen laut Fioretti Kries’ Ideen am Ursprung einiger dort zu findender ungewöhnlicher Begriffe, wie die
63 M. Heidelberger, Origins of the Logical Theory of Probability: von Kries, Wittgenstein, Waismann, in „International Studies in the Philosophy of Science“, 15 (2001), 2, S. 177–188. Auf diese Thematik kam Heidelberger auch in folgendem Vortrag zurück: L’interprétation logique de la probabilité: Johannes von Kries source de Wittgenstein?, gehalten im Januar 2008 bei dem monatlichen Kolloquium Probabilités, Décision et Incertitude, organisiert vom Institut d’Histoire et de Philosophie des Sciences et des Techniques der Université Paris 1 Panthéon - Sorbonne. 64 M. Neumann, Die Messung des Unbestimmten: die Geschichte der Konstruktion und Dekonstruktion eines Gegenstandsbereichs der Wahrscheinlichkeitstheorie, Frankfurt am Main München - Miami - New York, 2002. Aus diesem Blickwinkel ist – wie Salvatore Veca bereits 1981 feststellte – symptomatisch, dass das Buch von Kries „beträchtlichen Widerhall im deutschen Sprachraum fand: Meinong widmete ihm 1890 eine detaillierte Rezension; unter anderem Autoren wie Stumpf und Bortkiewicz, der zu Schule von Lexis gehörte, befassten sich mit ihm“ (S. Veca, Il metodo e le condizioni dell’„oggettività“, in P. Rossi, Hg., Max Weber e l’analisi del mondo moderno, op. cit., S. 3–26, p. 20). – Auf die Rezeption der Kries’schen Theorien von Ladislaus von Bortkiewicz und anderen „Theoretikern der Statistik“ spielt auch Weber an: vgl. KS II, S. 269 und S. 269–270, Fußnote. Aber siehe auch den dichten Antwortbrief, den Weber am 12. März 1906 an Bortkiewicz schrieb und aus dem hervorgeht, dass dieser Gelehrte (der Beamter im Russischen Transportministerium und dann Professor für Statistik in Berlin war) die Kritischen Studien aufmerksam gelesen hatte und gegenüber Weber detaillierte Einwände insbesondere bezüglich seiner Zustimmung zu Rickerts Positionen machte: MWG, II/5: Briefe 1906–1908, hrsg. von M.R. Lepsius und W.J. Mommsen in Zusammenarbeit mit B. Rudhard und M. Schön, Tübingen, 1990, S. 45–47.
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„nicht-numerische Wahrscheinlichkeit“ und das „Gewicht der Argumente“65. Diese Begriffe spiegeln in jedem Fall einen Bezug auf Inhalte von Kries’ Denken wider, die zweifelsohne auch Weber interessierten.
III. Der Begriff der objektiven Möglichkeit Zwei Jahre nach den Principien veröffentlichte Kries in der von Richard Avenarius gegründeten und geleiteten „Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie“ den Aufsatz Ueber den Begriff der objectiven Möglichkeit und einige Anwendungen desselben, auf den Weber in den Kritischen Studien direkt Bezug nimmt66. Erklärtes Ziel des Aufsatzes ist es, eine „Überzeugung“ zu rechtfertigen, die Kries bereits in den Untersuchungen zu den Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung bezüglich einiger dort zusammengestellter Ergebnisse zum Ausdruck brachte, die, weit davon entfernt, „bloss für diese Disziplin [die eigentliche Wahrscheinlichkeitsrechnung] und die in ihr zumeist behandelten Erscheinungsgebiete belangreich zu sein“, ihm eher „eine allgemeine logische Bedeutung zu besitzen scheinen“67. Um seine Überzeugung zu begründen, untersucht Kries im Laufe der Arbeit zwei zweifelsohne bedeutsame Themenbereiche: jenen der „Verursachung“ und des „ursächlichen Zusammenhangs“ (der uns im Besonderen interessiert) sowie den Themenbereich der „Gefahr“68. Er will belegen, dass aus der Verwendung der „Begriffe und Betrachtungsweisen […], auf welche die Untersuchung der Wahrscheinlichkeits-Rechnung führt“, auch für die fraglichen Themenbereiche „ein gewisser Gewinn“ erwachsen wird69. Zu diesem Zweck braucht er sich nicht auf die gesamte, in der Untersuchung von 1886 dargelegte Theorie zu beziehen, sondern nur auf ihren ‚generativen Kern‘, der eben in jenem „Begriff der objektiven Möglich65 G. Fioretti, Von Kries and the Other „German Logicians“: Non-Numerical Probabilities before Keynes, in «Economics and Philosophy“, 17 (2001), 2, S. 245–273. Aber vgl. auch ders., John Maynard Keynes and Johannes von Kries, in „History of Economic Ideas“, 6 (1998), 3, S. 51–80. 66 J. von Kries, Ueber den Begriff der objectiven Möglichkeit und einige Anwendungen desselben, in „Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie“, XII (1888), S. 179–240 (2. Heft), S. 287–323 (3. Heft) und S. 393–428 (4. Heft). Im Folgenden: Kries 1888. 67 Kries 1888, S. 179. Vgl. J. von Kries, Die Principien der Wahrscheinlichkeits-Rechnung. Eine logische Untersuchung (1886), Freiburg i. B., 2. Aufl. 1927, Vorwort zum ersten Abdruck, S. XVII, wo wir lesen, „dass in der Wahrscheinlichkeits-Rechnung nur ein Specialfall eines sehr allgemeinen Princips zur Erscheinung kommt, dessen deutliche Erfassung uns einen nicht wertlosen Einblick in die logischen Fundamente unseres Wissens gewährt“. 68 Kries 1888, S. 195. 69 Kries 1888, S. 179.
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„nicht-numerische Wahrscheinlichkeit“ und das „Gewicht der Argumente“65. Diese Begriffe spiegeln in jedem Fall einen Bezug auf Inhalte von Kries’ Denken wider, die zweifelsohne auch Weber interessierten.
III. Der Begriff der objektiven Möglichkeit Zwei Jahre nach den Principien veröffentlichte Kries in der von Richard Avenarius gegründeten und geleiteten „Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie“ den Aufsatz Ueber den Begriff der objectiven Möglichkeit und einige Anwendungen desselben, auf den Weber in den Kritischen Studien direkt Bezug nimmt66. Erklärtes Ziel des Aufsatzes ist es, eine „Überzeugung“ zu rechtfertigen, die Kries bereits in den Untersuchungen zu den Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung bezüglich einiger dort zusammengestellter Ergebnisse zum Ausdruck brachte, die, weit davon entfernt, „bloss für diese Disziplin [die eigentliche Wahrscheinlichkeitsrechnung] und die in ihr zumeist behandelten Erscheinungsgebiete belangreich zu sein“, ihm eher „eine allgemeine logische Bedeutung zu besitzen scheinen“67. Um seine Überzeugung zu begründen, untersucht Kries im Laufe der Arbeit zwei zweifelsohne bedeutsame Themenbereiche: jenen der „Verursachung“ und des „ursächlichen Zusammenhangs“ (der uns im Besonderen interessiert) sowie den Themenbereich der „Gefahr“68. Er will belegen, dass aus der Verwendung der „Begriffe und Betrachtungsweisen […], auf welche die Untersuchung der Wahrscheinlichkeits-Rechnung führt“, auch für die fraglichen Themenbereiche „ein gewisser Gewinn“ erwachsen wird69. Zu diesem Zweck braucht er sich nicht auf die gesamte, in der Untersuchung von 1886 dargelegte Theorie zu beziehen, sondern nur auf ihren ‚generativen Kern‘, der eben in jenem „Begriff der objektiven Möglich65 G. Fioretti, Von Kries and the Other „German Logicians“: Non-Numerical Probabilities before Keynes, in «Economics and Philosophy“, 17 (2001), 2, S. 245–273. Aber vgl. auch ders., John Maynard Keynes and Johannes von Kries, in „History of Economic Ideas“, 6 (1998), 3, S. 51–80. 66 J. von Kries, Ueber den Begriff der objectiven Möglichkeit und einige Anwendungen desselben, in „Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie“, XII (1888), S. 179–240 (2. Heft), S. 287–323 (3. Heft) und S. 393–428 (4. Heft). Im Folgenden: Kries 1888. 67 Kries 1888, S. 179. Vgl. J. von Kries, Die Principien der Wahrscheinlichkeits-Rechnung. Eine logische Untersuchung (1886), Freiburg i. B., 2. Aufl. 1927, Vorwort zum ersten Abdruck, S. XVII, wo wir lesen, „dass in der Wahrscheinlichkeits-Rechnung nur ein Specialfall eines sehr allgemeinen Princips zur Erscheinung kommt, dessen deutliche Erfassung uns einen nicht wertlosen Einblick in die logischen Fundamente unseres Wissens gewährt“. 68 Kries 1888, S. 195. 69 Kries 1888, S. 179.
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keit“ (untrennbar verbunden mit dem Prinzip der ‚Spielräume‘) liegt, der nicht zufällig das Thema des ersten der vier Kapitel des Aufsatzes ist70.
1. Die Universalität des Kausalprinzips und die Konsistenz des Begriffs der objektiven Möglichkeit Kries stellt sofort klar, dass jegliche Forschung zur Natur der Begriffe von Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit von der Annahme ausgehen muss, dass „jedes Ereignis, welches thatsächlich eintritt, durch die Gesammtheit der zuvor bestehenden Verhältnisse mit Nothwendigkeit herbeigeführt wird“71. In anderen Worten, der Terminus a quo von Kries’ Untersuchungen ist die Universalität des Verursachungsprinzips, natürlich nicht verstanden im traditionellen metaphysischen Sinn, nach dem die Wirkung rational von der Ursache ableitbar ist, sondern verstanden im Sinne Humes, nach dem die Wirkung, auch wenn sie nicht rational von der Ursache ableitbar ist, so doch aufgrund der Beständigkeit und der Gleichmäßigkeit der Folge eindeutig auf ihrer Grundlage vorhersagbar ist. Kries ist sich im Übrigen vollkommen im Klaren über die komplexe Debatte im 19. Jahrhundert zwischen den Vertretern einer induktiven und jener einer transzendentalen Begründung des fraglichen Prinzips, als er deutlich macht, von jeglicher Untersuchung über ihre „logische Natur“ zur Bestimmung, ob es sich um ein „Axiom oder […] etwas Anderes“72 handelt, absehen zu wollen. In dieser sehr allgemeinen Hinsicht findet die Annahme, von der Kries ausgeht, natürlich weite Zustimmung. Beispielsweise behauptet John Stuart Mill – ein Denker, der zweifelsohne einen großen Einfluss auf Wissenschaftler wie Helmholtz oder Kries hatte, die die methodologischen Strömungen des Positivismus aufmerksam beobachteten und Hauptfiguren ihrer weiteren Entwicklung wurden – in System of Logic, dass „jedes Ding, das einen Anfang, 70 Der Aufsatz von Kries ist gegliedert in ein kurzes Vorwort und vier Kapitel, die wiederum in Abschnitte unterteilt sind. Die vier Kapitel sind überschrieben mit: I. Ueber den Begriff der objectiven Möglichkeit; II. Ueber den Begriff des ursächlichen Zusammenhangs; III. Ueber den Begriff der Gefahr; IV. Literarische Bemerkungen. – Auch die Principien nehmen ihren Ausgang von der Frage nach dem „Sinn“ der Begriffe der „objektiven Wahrscheinlichkeit“ und der „physischen Möglichkeit“, die in zahlreichen wissenschaftlichen Studien zur Wahrscheinlichkeitsrechnung wieder auftauchen, auch wenn sie in klarem Gegensatz zu der verbreiteten Überzeugung der „Logiker“ stehen, dass es „unzulässig und verkehrt erscheint, diese Begriffe in objectivem Sinne zu nehmen“ (J. von Kries, Die Principien der Wahrscheinlichkeits-Rechnung, op. cit., S. 1–2). 71 Kries 1888, S. 180. 72 Ebd.
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auch eine Ursache hat“ und dass „für einen jeden Vorgang (ein jedes Ereignis) […] also eine Combination von Dingen oder Vorgängen [besteht], ein gegebenes Zusammenwirken von positiven und negativen Umständen, die, wenn sie eintreten, jene Erscheinung zur Folge haben“73. Aus Rickerts Sicht ist diese Art der Formulierung der Universalität des Verursachungsprinzips gewiss unangemessen74: Aber Rickert selbst ist überzeugt, dass – wie auch immer die vorgeschlagene Lösung für das Kausalitätsproblem in der „allgemeinen Erkenntnistheorie“75 aussieht – die logisch-methodologischen Debatten über die empirischen Wissenschaften nie das Prinzip ablehnen können, dass „es keinen Theil der empirischen Wirklichkeit [gibt], in dem nicht jedes Ding die Wirkung von anderen Dingen ist und für andere Dinge eine Ursache bildet“76, das Prinzip also, nach dem, wenn man „unter zufällig im Gegensatz zum kausal Nothwendigen das [versteht], was keine Ursache hat, […] umgekehrt nichts in der Welt zufällig, sondern Alles nothwendig“ ist77. Genauso vertritt Weber 73 J.S. Mill, System der deduktiven und induktiven Logik (1843), in zwei Teilen, hier Teil 1, Braunschweig, 1877, S. 405 und 407. Aus der Sicht von Mill wird die Universalität des Verursachungsprinzips (des Gesetzes, nach dem alle Dinge ein Gesetz haben) nicht durch den Umstand entwertet, dass dieses Prinzip selbst das Ergebnis einer Induktion ist (und gewiss nicht eines der ersten, das die Menschen hinzufügten). Wer hier einen Teufelskreis erkennt, zeigt damit seine anhaltende Abhängigkeit von den traditionellen logischen Maßstäben und ihren stillschweigenden metaphysischen Annahmen, die die Tatsache außer Acht lassen, dass das Universelle in keiner Weise eine ‚getrennte Existenz‘ besitzt, sondern nur im Besonderen besteht und stattfindet. Die Universalität des Verursachungsprinzips wird folglich kontinuierlich bestärkt durch die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschungen, die, sich ihrerseits kontinuierlich auf es stützend, geduldig mit ihren analytischen und experimentellen Methoden das Gewebe der Wirklichkeit zerfasern, um die niemals abnehmenden Gleichmäßigkeiten, also die eigentlichen Naturgesetze und ihre wechselseitigen Beziehungen, ans Licht zu bringen. 74 Aus Rickerts Sicht ist Mills Formulierung des Kausalprinzips, nach der es für jedes Ereignis irgendein Zusammentreffen von Umständen gibt, das immer gefolgt ist von jenem Ereignis, in gewisser Weise emblematisch für die schädliche Verwechslung zwischen ‚individuellen oder historischen Kausalzusammenhängen‘ und ‚Kausalgesetzen‘ (also allgemeinen Begriffen, die nur das enthalten, was viele individuelle Kausalzusammenhänge gemeinsam haben), vor der nicht einmal die Empiristen gefeit sind. Vgl. oben I, § 2. 75 Grenzen 1902, S. 410. 76 Grenzen 1902, S. 409. 77 Grenzen 1902, S. 417. Ganz anders ist folgende Situation: „Nennt man ‚zufällig‘ das, was nicht in einen allgemeinen Begriff oder ein naturwissenschaftliches Kausalgesetz eingeht, und versteht man unter nothwendig nur das Gesetzmässige, so ist alles Wirkliche als solches zufällig, denn alle Wirklichkeit ist individuell und geht in kein allgemeines Naturgesetz ein. Es ist z. B. in diesem Sinne zufällig, dass gerade der Saturn und nicht die Erde Ringe besitzt, dass Friedrich der Grosse die Schlacht bei Leuthen gewonnen hat, oder dass es im Osten Deutschlands mehr Rittergüter giebt als im Westen, d. h. es lassen sich keine
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die Ansicht, dass „‘absoluter‘ Zufall im metaphysischen Sinn“, also „objektive ‚Ursachlosigkeit‘“78, in der Debatte um die empirischen Wissenschaften nicht verwendet werden kann: Gerade in diesem Sinn versichert er entschieden, dass „für jede kausal arbeitende empirische Wissenschaft“ „die Gesamtheit aller Bedingungen, auf welche der kausale Regressus von einem ‚Erfolge‘ aus führt, so und nicht anders ‚zusammenwirken‘ mußte, um den konkreten Erfolg so und nicht anders zustande kommen zu lassen“, was bedeutet, dass „der Eintritt des Erfolges […] nicht erst von einem bestimmten Moment an, sondern ‚von Ewigkeit her‘ feststand“79. In jedem Fall scheint es, wenn man davon ausgeht, dass jedes stattfindende Ereignis notwendigerweise von der Gesamtheit der zuvor existierenden Bedingungen bestimmt ist, als müsse man „die subjective Natur“80 der Wahrscheinlichkeit einfach anerkennen, wenn man nicht dessen beschuldigt werden will, was bereits Comte gegen die „angebliche Wahrscheinlichkeitsrechnung“ der Algebraisten seiner Zeit einwendete, die „implizit die Abwesenheit jeglichen realen Gesetzes für gewisse Ereignisse voraussetze“ und sich daher als der mehr oder weniger verhüllte Ausdruck einer ténébreuse réaction darstelle81. Sagt man beispielsweise, es sei wahrscheinlich, dass bei zehnmaligem Würfeln mindestens eine Sechs fällt, so impliziert das nicht, dass das Zusammenspiel aller realen Bedingungen, die jedem Wurf vorausgehen, nicht zuvor entschieden hat, ob das fragliche Ereignis eintritt oder nicht, sondern es impliziert nur (zumindest zuerst), dass „wir nicht wissen“, ob es eintreten wird oder nicht. „Es ist also in diesem Sinne jede Wahrscheinlichkeit subjectiv“, meint Kries, und das gleiche gilt auch für den Begriff der Möglichkeit: Wenn wir sagen, dass ein Ereignis möglich ist, meinen wir „in vielen Fällen“ damit nur, dass wir unsicher über sein tatsächliches Eintreten sind82. allgemeinen Gesetze aufstellen, in denen diese individuellen Thatsachen als gesetzmässig nothwendig enthalten wären“. Und dennoch (für denjenigen, der nicht von den dogmatischen Annahmen des Naturalismus beherrscht ist) heißt das nicht zu leugnen, dass die Tatsache, „dass der Saturn Ringe besitzt, und Friedrich die Schlacht gewonnen hat“, „ebenso kausal bestimmt, also nothwendig [ist], wie irgend ein anderes Faktum“ (Grenzen 1902, S. 416–417). 78 M. Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, op. cit., I. Zur Auseinandersetzung mit Eduard Meyer, S. 215–265 (im Folgenden: KS I), S. 219. 79 KS II, S. 289. 80 Kries 1888, S. 180. 81 A. Comte, Discours sur l’esprit positif, Paris, 1974, S. 28. 82 Kries 1888, S. 180. Wir haben hier die Bedeutung der Kategorie der Möglichkeit als „Ausdruck unseres Nicht- resp. Nichtvollständig-Wissens“ (vgl. oben, Fußnote 38), die Weber im zweiten Teil der Kritischen Studien folgendermaßen exemplifiziert: „Wenn auf die Frage, ob ein bestimmter Eisenbahnzug eine Station bereits passiert habe, geantwortet wird: ‚es
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Kries fragt sich aber, ob es nicht unzulässig und unsinnig ist, „von einem bestimmten Ereignis zu behaupten, dass seine Verwirklichung sowohl wie seine Nichtverwirklichung objectiv möglich sei, oder von einem, welches thatsächlich schon eingetreten ist, zu sagen, es sei auch sein Ausbleiben objectiv möglich gewesen“83, oder ob es dagegen nicht eine spezifische Betrachtungsweise gibt, die in der Lage ist, solchen Behauptungen, die doch in der Alltagssprache und nicht nur dort präsent sind, eine Bedeutung zuzuerkennen. Ohne Zweifel: Geht man von der ganz genau gestimmten Gesamtheit der Bedingungen für ein Ereignis aus, die „in concreto“84 bestanden, so muss diese notwendigerweise das fragliche Ereignis hervorrufen oder nicht hervorrufen, wobei es dem Begriff der objektiven Möglichkeit keinerlei Freiraum lässt. Wenn es sich aber, wie es häufig der Fall ist, darum handelt, „die Beziehung einer Folge zu irgend welchen allgemein, generell bezeichneten Bedingungen“, zu untersuchen, ändert sich die Situation radikal: „Dass unter gewissen Umständen ein Ereignis sowohl eintreten als ausbleiben könne, dass Beides objectiv möglich sei, das ist eine Behauptung, die einen durchaus haltbaren und verständlichen Sinn hat, wenn darin die Bezeichnung der bedingenden Umstände eine allgemeine, ungenaue, eine Anzahl verschiedener Verhaltungsweisen einschliessende ist“85. Kommen wir auf das vorangehende Beispiel von einem neuen Standpunkt aus zurück: Sagt man, dass es bei zehnmaligem Würfeln objektiv möglich ist, wenigstens eine Sechs zuwerfen, will man hervorheben, dass die vollkommen allgemeine und generelle Definition der bestimmenden Umstände (‚es wird zehn Mal gewürfelt‘) nichts enthält, was das Eintreten des Ergebnisses mit einer den Gesetzen des Geschehens entsprechender Notwendigkeit ausschließt. „Man nennt also das Eintreten eines Ereignisses unter gewissen ungenau bestimmten Umständen dann objectiv möglich, wenn Bestimmungen dieser Umstände denkbar sind, welche gemäss den factisch geltenden Gesetzen des Geschehens das Ereignis verwirklichen würden“86. Dieser Bezug auf die Übereinstimmung mit den Gesetzen des Geschehens schließt natürlich ein, dass jede Behauptung zu der objektiven Möglichkeit eines Ereignisses ab sofort ein Wissen,
ist möglich‘, so bedeutet diese Aussage die Feststellung, daß der Betreffende subjektiv keine Tatsache kenne, welche diese Annahme ausschließe, aber auch ihre Richtigkeit zu behaupten nicht in der Lage sei: ‚Nichtwissen‘ also“ (KS II, S. 276). 83 Kries 1888, S. 180. 84 Kries 1888, S. 181. 85 Ebd. 86 Ebd.
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und speziell „ein Wissen nomologischen Inhalts“, vermuten lässt und zugleich ausdrückt87. Daher erhält bereits auf dieser ersten Ebene des Diskurses der der Universalität des Verursachungsprinzip gegenübergestellte Begriff der objektiven Möglichkeit für Kries nur dank zweier Voraussetzungen eine reale logische Konsistenz: Einerseits müssen uns die Bedingungen für das Ereignis, dessen Eintreten oder Ausbleiben als ‚objektiv möglich‘ betrachtet wird (oder wurde), allgemein und generell, das heißt abstrakt und nicht in ihrer vollen und tatsächlichen Konkretheit, bekannt sein; und andererseits müssen wir im Besitz eines nomologischen Wissens sein, das es uns erlaubt zu behaupten, dass weitere und spezifischere Bestimmungen dieser abstrakt definierten Bedingungen die Verwirklichung des fraglichen Ereignisses herbeiführen können (oder gekonnt hätten). Es verwundert also daher nicht, dass Weber in den Kritischen Studien, nachdem er eine Verbindung zwischen dem Problem der kausalen Zurechnung in der Geschichte und der Kategorie der objektiven Möglichkeit hergestellt hat und bevor er die genannte Kategorie „einer näheren Betrachtung“ unterzieht88, ab sofort auf dem doppelten Umstand beharrt, dass die kausale Zurechnung in der Geschichte sich „der Abstraktion […] bedient“ und „sachlich nur dadurch Gültigkeit empfängt, daß wir zu der ‚gegebenen‘ Wirklichkeit den ganzen Schatz unseres ‚nomologischen‘ Erfahrungswissens hinzubringen“89 .
2. Die Erkenntnisrelevanz des Begriffs der objektiven Möglichkeit: der Spielraum Kries unterstreicht, nachdem er gezeigt hat, dass man dem Begriff der objektiven Möglichkeit eine tatsächliche logische Konsistenz zusprechen kann, auch wenn er an dem Prinzip festhält, dass jedes Ereignis notwendigerweise von der Gesamtheit der zuvor bestehenden Bedingungen bestimmt ist, dass der fragliche Begriff „die Bedeutung, die er thatsächlich besitzt“ nur gewinnt, weil
87 Kries 1888, S. 182. Kries stellt auch klar, dass er die Gesetze des Geschehens als Gesetze einer Folge versteht, als gesetzliche Zusammenhänge von vorausgehenden und folgenden Ereignissen. Dabei hält er für die spezifische Zielsetzung seiner Untersuchung eine „Erweiterung“ der Notion der „Naturgesetze“ nicht für vorteilhaft, denn das würde umfangreiche Forschungen über ihre „logische Form“ implizieren (vgl. ebd., Fußnote). 88 KS II, S. 282. 89 KS II, S. 277.
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die objektive Möglichkeit sich „als etwas Abstufbares“ gestaltet, also als eine „Größe“90. Schon auf der Ebene der Alltagssprache sagt man in der Tat, dass die Möglichkeit dafür, dass ein Ereignis eintritt, ‚größer‘ oder ‚kleiner‘ ist, und die Wahrscheinlichkeitsrechnung entwickelt einen ähnlichen Ansatz, wenn sie vertritt, dass die Möglichkeit, die gewisse allgemeine Bedingungen haben, ein bestimmtes Ereignis hervorzurufen, nicht selten durch einen präzisen Zahlenwert darstellbar ist, der abhängt von der relativen Häufigkeit des Ereignisses in einer ausreichend großen Zahl von Einzelfällen, in denen die genannten allgemeinen Bedingungen vorliegen (wenn das Ereignis x im fünften Teil aller betrachteten Fälle, in denen bestimmte allgemeine Bedingungen vorhanden sind, eintritt, sagt die Wahrscheinlichkeitsrechnung, dass unter diesen Bedingungen die Wahrscheinlichkeit für das Ereignis x gleich 1/5 ist). Dennoch muss man sich fragen, welches die theoretische Grundlage ist, auf der die objektive Möglichkeit eines Ereignisses als eine Größe aufgefasst werden kann. Hierzu hebt Kries hervor, dass die allgemeine und generelle Charakterisierung der Bedingungen für ein Ereignis (ohne die die Notion der objektiven Möglichkeit jeglichen Sinns beraubt wäre) sich in der Tatsache auflöst, dass sie mit einer gewissen „Unbestimmtheit“ vereinbar ist, darin also, dass sie einer Reihe besonderer, in sich verschiedener Verläufe des Geschehens (also nicht allen) einen „Spielraum“ lässt91. Wenn wir uns nun auf den Standpunkt des uns interessierenden Ereignisses stellen, ist klar, dass einige dieser besonderen Verläufe zu seinem Eintreten führen und andere dagegen nicht. Aber dadurch wird „jener ganze Spielraum in zwei Theile getheilt“92, deren Größe vergleichbar sein kann. Unter gewissen Umständen, auf die wir zurückkommen werden, ermöglicht dieser Vergleich sogar eine genaue zahlenmäßige Bestimmung ihrer Beziehung. „Die Beziehung des Erfolges zu den allgemeinen Bedingungen erscheint dann in der That als eine abstufbare und auch zahlenmässig zu bezeichnende, je nachdem ob die Verwirklichung des Erfolges einem kleineren oder grösseren Theile des gesamten Spielraums entspricht“93. Auf der anderen Seite hebt Kries – mit Bezug auf „die bekannten Regelmässigkeiten, welche die Massenerscheinungen, entsprechend dem Gesetz der grossen Zahlen, so vielfach aufweisen“94 – hervor, dass, wenn man viele Einzelfälle betrachtet, in denen die gleichen allgemeinen Bedingungen vorliegen, die 90 Kries 1888, S. 182. 91 Kries 1888, S. 183. 92 Ebd. 93 Ebd. 94 Kries 1888, S. 184.
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relative Häufigkeit, mit der ein Ereignis eintritt oder nicht, immer annähernd der Größenbeziehung entspricht, die zwischen dem es hervorrufenden und dem es nicht hervorrufenden Teil des Spielraums besteht. In anderen Worten: Die Idee einer quantitativen Gradabstufung der objektiven Möglichkeit eines Ereignisses kann einerseits durch den Begriff des Spielraums theoretisch bestimmt und andererseits in Bezug auf die durchschnittliche Häufigkeit empirisch definiert sein95. Üblicherweise wird die Größe der objektiven Möglichkeit, die gewisse allgemeine Bedingungen für ein Ereignis darstellen, bezogen auf das Verhältnis zwischen dem das Ereignis hervorrufenden Teil des Spielraums und dem gesamten Spielraum. Der Zahlenwert liegt also zwischen 0 und 1, wobei der Wert 0 bedeutet, dass das Ereignis bei keiner besonderen Gestaltung der allgemeinen Bedingungen eintritt, und der Wert 1 bedeutet, dass das Ereignis bei jeder besonderen Gestaltung der allgemeinen Bedingungen eintritt und daher mit diesen Bedingungen notwendig zusammenhängt. Kries bemerkt auch, dass die vollständige theoretische Begründung für diese wichtige quantitative Bedeutung des Begriffs der objektiven Möglichkeit lange Zeit durch eine zu enge Wechselbeziehung zwischen der objektiven Möglichkeit eines Ereignisses und der „partielle[n] Bestimmung“ seiner Bedingungen96 blockiert wurde. Mit anderen Worten: Um zu erklären, warum das Vorliegen gewisser Bedingungen das Eintreten eines Ereignisses objektiv möglich macht, appellierte man ausschließlich an die Tatsache, dass ihr Vorhandensein, zusammen mit dem Hinzutreten weiterer Umstände, zur Verwirklichung des genannten Ereignisses führt. „Um die Größenbestimmung der objectiven Möglichkeit zu verstehen, muss man streng daran festhalten, dass die Verwirklichung eines Erfolges an die besondere Gestaltung eines Allgemeinen geknüpft ist“97: Wenn beispielsweise bei jedem Würfeln, die Wahrscheinlichkeit, eine Drei zu werfen gleich 1/6 ist, so liegt das nicht daran, dass bei dem Wurf weitere äußere Umstände hinzutreten, sondern daran, dass die gleiche allgemeine und unbestimmte Bedingung des Würfelns verschiedenen besonderen Gestaltungen entsprechen kann, von denen jene, die zu dem fraglichen Ergebnis führen, 1 /6 des Spielraums ausmachen. Im Übrigen führt bei genauer Betrachtung auch in den Fällen, in denen man von der partiellen Bestimmung der Bedingungen für ein Ereignis ausgeht, das Hinzutreten dieser oder jener ergänzender 95 Vgl. ebd. 96 Ebd. Aber vgl. auch Kries 1888, S. 181: Hier heißt es, dass die allgemeine und generelle Bestimmung der Bedingungen für ein Ereignis, die für die Notion der objektiven Möglichkeit unverzichtbar ist, „häufig, aber keineswegs ausschliesslich, dadurch gegeben [ist], dass nur ein Theil aller für das Ereignis wesentlichen Umstände bestimmt, ein anderer Theil ganz unbestimmt gelassen ist“ (Hervorhebung E.M.). 97 Kries 1888, S. 185.
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Umstände zu besonderen Gestaltungen einer größeren Allgemeinheit, in denen sich „bestimmte Spielraums-Verhältnisse“98 ausmachen lassen. Behauptet man, dass gewisse partielle Bedingungen für ein Ereignis der Möglichkeit von einem Drittel entsprechen, dass dieses Ereignis eintritt, will man damit sagen: Der von den hinzutretenden, gemeinsam mit den schon vorhandenen das Ereignis herbeiführenden Bedingungen begrenzte Teil des Spielraums entspricht der Hälfte des von den hinzutretenden, gemeinsam mit den schon vorhandenen nicht zum Eintreten des Ereignisses führenden Bedingungen begrenzten Teils (also einem Drittel des gesamten Spielraums). Aber auch, wenn man nur behauptet, dass die partiellen Bedingungen für ein Ereignis eine große Möglichkeit beinhalten, dass das Ereignis eintritt, meint man damit: Der von den hinzutretenden, gemeinsam mit den schon vorhandenen das Ereignis herbeiführenden Bedingungen begrenzte Teil des Spielraums ist deutlich größer als der von den hinzutretenden, gemeinsam mit den schon vorhandenen nicht zum Eintreten des Ereignisses führenden Bedingungen begrenzte Teil. Es scheint mir erwähnenswert, dass Weber diesen wichtigen Aspekt von Kries’ Argumentation, nach der auch die von der Bestimmung der partiellen Bedingungen für ein Ereignis ausgehenden objektiven Möglichkeitsurteile, um abstufbar und also wirklich relevant zu sein, auf die Idee besondere Gestaltung einer Allgemeinheit zurückgeführt werden müssen, sehr klar erfasst. Wenn Weber auf die Abstraktion anspielt, die die Konsistenz der objektiven Möglichkeitsurteile garantiert, sagt er an mehreren Stellen, dass diese „in ihren beiden Wendungen: Isolierung und Generalisierung“99 verstanden werden soll, dass sie „eine isolierende und generalisierende Abstraktion“100 ist. Die Isolierung einiger partieller Bedingungen für ein Ereignis entspricht also für ihn (wie für Kries) einer Form der Generalisierung, die, da sie mit einer gewissen Unbestimmtheit vereinbar ist, einen Spielraum für besondere, je nach den verschiedenen hinzutretenden (realen oder gedachten) Bedingungen unterschiedliche Abläufe des Geschehens lässt. Und so ist es auch in diesem Fall auf der Grundlage unseres nomologischen Wissens möglich festzustellen, dass einige dieser besonderen Verläufe das uns interessierende Ereignis auslösen (oder ausgelöst hätten) und andere nicht. Auch hier teilt sich der gesamte Spielraum 98 Ebd. Aber vgl. auch Kries 1888, S. 181: Hier heißt es, dass in den fraglichen Fällen objektiver Möglichkeit die Bezeichnung der Bedingungen für ein Ereignis „eine allgemeine einfach dadurch [ist], dass sie eine partielle ist“. 99 KS II, S. 277 (Hervorhebung E.M.). 100 KS II, S. 289. Aber vgl. auch KS II, S. 279: „Es ist nun aber klar, daß ganz in derselben Weise, wie die kausale Entwicklung der ‚historischen Bedeutung‘ der Schlacht bei Marathon durch Isolierung, Generalisierung und Konstruktion von Möglichkeitsurteilen auch die kausale Analyse persönlichen Handelns logisch vor sich geht“ (Hervorhebung E.M.).
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also in zwei Teile, deren Größe verglichen werden kann, um den Einfluss der vorhandenen und/oder der verschiedenen hinzutretenden Bedingungen auf das Eintreten des Ereignisses abzuwägen. All dies ist zweifelsohne in Webers Behauptung eingeschlossen, dass „das objektive ‚Möglichkeits‘-Urteil […] seinem Wesen nach [und also auch, wenn es im Bereich der ‚historischen Kausalbetrachtung‘ verwendet wird101] Gradabstufungen zu[lässt]“102. Es gibt einen Aspekt der Frage, von dem Weber absolut überzeugt ist und der auch intuitiv klar ist: Im Bereich der Geschichte können sich diese „Gradabstufungen“ nicht in einer präzisen „zahlenmäßige[n] Bestimmbarkeit“103 oder einem „,zahlenmäßig‘ zu schätzende[n] Verhältnis beider ‚Möglichkeiten‘“104 ausdrücken. Um aber gänzlich zu verstehen, warum die Dinge so sind und nicht anders, muss man die letzten Entwicklungen von Kries’ Argumentation analytisch mit in Betracht ziehen.
3. Der Begriff der objektiven Möglichkeit κατ’ ν Nachdem er die Konsistenz des Begriffs der objektiven Möglichkeit und die Gründe für seine Erkenntnisrelevanz allgemein erklärt hat, untersucht Kries einige spezifische Situationen, in denen dieser Begriff, genauso wie jener der Wahrscheinlichkeit, eine ganz besondere Bedeutung bekommt. Ein typisches und zugleich bekanntes Beispiel für diese Situationen sind „die sogenannten Zufallsspiele“105 wie Würfelspiele oder Roulette, die in vollendeter Weise zwei Eigenschaften aufweisen, denen sich de facto und, um es so zu sagen, a posteriori, auch andere Prozesse (wie die sozialen Massenphänomene) annähern. a) Einerseits werden in den fraglichen Spielen die tatsächlichen Wirkungen der allgemein und generell bestimmten Bedingungen, wie das Werfen der Würfel oder das Drehen beim Roulette, von einer solchen Menge von kleinen Variationen verändert, dass es für uns nicht nur nicht möglich ist, sie vorherzusehen, sondern es auch unmöglich ist, nach ihrem Eintreten die Ursachen dafür festzustellen: „Wir gelangen also nie (weder ex ante noch ex post) zu einer so genauen Kenntniss der Bedingungen, dass ein bestimmter Erfolg an dieselben nothwendig geknüpft erschiene“106. b) Und dennoch reicht es hier auf 101 Vgl. oben, Fußnote 2. 102 KS II, S. 284. 103 KS II, S. 285. 104 KS II, S. 284. 105 Kries 1888, S. 185. 106 Kries 1888, S. 186.
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der anderen Seite nicht zu sagen – wie in jedem Fall objektiver Möglichkeit –, dass das Bestehen gewisser allgemeiner Bedingungen die mehr oder weniger große Möglichkeit für das Eintreten eines gewissen Ereignisses enthält: Die Spielräume der verschiedenen Ergebnisse werden in der Tat ausschließlich bestimmt durch einige sehr einfache, allgemeine Bedingungen (wie z.B. die geometrische Form des Würfels oder die einheitliche Größe der Kästchen auf der Roulettescheibe), welche dafür sorgen, dass trotz aller möglichen Variationen jedem Ergebnis die gleiche und genau bestimmte Chance der Verwirklichung zugemessen ist. Wirft man einen Würfel vorschriftsmäßig, so ist die Wahrscheinlichkeit für jedes der sechs Ergebnisse gleich, und zwar abgesehen von der großen Zahl der besonderen, unbekannten Umstände, die den realen Ausgang des Wurfes bestimmen. Analog dazu weist unter bestimmten sozialen Bedingungen allgemeiner Art die Selbstmordrate einen konstanten Verlauf auf und zwar abgesehen davon, dass es unzweifelhaft sowohl ex ante als auch ex post sehr schwer zu verstehen ist, was ein einzelnes Individuum dazu gebracht hat, sich das Leben zu nehmen. Nun ist Kries überzeugt davon, dass sich einigen sprachlichen Ausdrücken, die ansonsten keinen Sinn haben, nur bezogen auf die Spezifizität solcher Situationen ein Sinn zuweisen lässt. Hierzu stellt er sich vor allem die Frage, was man damit meint, wenn man behauptet, dass einige Ereignisse „vom Zufall abhingen, dass es z.B. beim Würfeln Sache des Zufalls sei, ob die eine oder die andere Zahl falle“107. Gewiss kann man damit nicht meinen, dass ein bestimmtes Ereignis (ein gewisses Würfelergebnis) nicht regelmäßig und nicht notwendig mit bestimmten partiellen Bedingungen verbunden ist oder, was dasselbe ist, mit bestimmten allgemeinen Bedingungen. Doch wenn man sich nicht auf eine solche Notion vom „relativen Zufall“108 beschränkt, sondern dagegen „die Erfolge des Würfelspiels in einer ganz absoluten Weise zufällige“ nennt109, tritt man in offensichtlichen Widerspruch zu der Annahme, dass auch diese notwendigerweise mit der konkreten Gesamtheit ihrer Bedingungen verbunden sind. Aber bei genauer Betrachtung wird die hier gemeinte Notion des „absoluten Zufalls“ nicht – um es mit Weber zu sagen – „im metaphysischen Sinn“ also als „objektive ‚Ursachlosigkeit‘“110 verstanden, sondern im „logischen“111 107 Ebd. 108 Kries 1888, S. 187. Auch für Weber ist der Begriff des „relativen Zufalls“ eine „logische […] Beziehung zwischen gesondert gedachten Ursachenkomplexen“ und stellt daher einen „kausale[n] Begriff des ‚Zufalls‘“ dar (KS I, S. 219). 109 Kries 1888, S. 187. 110 Vgl. oben, Fußnote 78. 111 KS I, S. 284.
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oder „im erkenntnistheoretischen Sinn“112, also als „subjektive, aber bei jedem Einzelfall der betreffenden Art […] notwendig erneut auftretende absolute Unmöglichkeit der Erkenntnis der ursächlichen Bedingungen“113. Genau in diesem Sinn schreibt Kries: „Wir nennen diejenigen Ereignisse absolut […] zufällig, für welche sich allgemein wohl gewisse Möglichkeiten angeben lassen, deren Stattfinden oder Ausbleiben aber von den unserer Kenntniss sich durchaus entziehenden Besonderheiten des Verhaltens in jedem Einzelfalle abhängt“114. In den spezifischen Situationen, die wir hier untersuchen, weisen auch die Begriffe der ‚Wahrscheinlichkeit‘ und der ‚objektiven Möglichkeit‘ genauso wie jener des ‚Zufalls‘ eine besondere Bedeutung auf, in deren Bezug Kries von „ein Gebrauch κατ’ ν“115 der genannten Begriffe spricht, welcher Ausdrücken wie ‚dieses Ereignis könnte eintreten‘ oder ‚dieser Prozess hätte einen anderen Verlauf nehmen können‘ einen objektiven bestimmten Sinn zuweist. a) Was den Begriff der ‚Wahrscheinlichkeit‘ betrifft, so wissen wir, dass er im Allgemeinen durch seine subjektive Natur charakterisiert wird: „Ein Ereignis kann mir sehr wahrscheinlich, einem Anderen, der über seine Bedingungen mehr weiss, unwahrscheinlich sein“116. In den spezifischen Fällen, die wir hier untersuchen (für die das Würfelspiel ein Beispiel ist), kann man dagegen objektiv und numerisch bestimmt von der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses sprechen (wie, wenn man sagt, dass bei jedem Wurf die Chance für jedes der sechs möglichen Ergebnisse gleich groß ist). In den fraglichen 112 KS I, S. 219. 113 KS I, S. 219. Als Weber in dem ersten Teil der Kritischen Studien den Begriff des ‚Zufalls‘ bei Eduard Meyer diskutiert und die Unterscheidung zwischen „‘absolute[m]‘ Zufall im metaphysischen Sinn“, „‘absolute[m]‘ Zufall im erkenntnistheoretischen Sinn“ und „‘relativem‘ Zufall“ macht, bezieht er sich auf „Windelbands Erstlingsschrift“ (Die Lehren vom Zufall, Berlin, 1870), auf die „die Lehre der Fachlogik“ „trotz mancher Fortschritte im einzelnen“ „auch heute noch“ weitgehend zurückgeht (KS I, S. 219). Mit scheint wichtig, darauf hinzuweisen, dass auch Kries in dem Schlusskapitel „Zur Geschichte der Wahrscheinlichkeits-Theorie“ des Buchs von 1886 auf dieselbe Schrift Windelbands hinweist (vgl. J. von Kries, Die Principien der Wahrscheinlichkeits-Rechnung, op. cit., S. 266–298, insb. S. 292ff.). Kries betrachtet Windelbands Positionen zum Begriff der Wahrscheinlichkeit, genauso wie jene Lotzes und Sigwarts, als typischen Ausdruck einer Tendenz, die die „moderne Logik“ prägt, welche, „wo sie die Wahrscheinlichkeits-Rechnung behandelt, im Allgemeinen sich darauf beschränkt, die subjective Bedeutung der Wahrscheinlichkeits-Sätze hervorzuheben“ (ebd., S. 288). Zu der Schrift von Windelband vgl. auch G. Morrone, I modi del caso. Intorno al primo scritto di Wilhelm Windelband, in „Atti dell‘Accademia di Scienze Morali e Politiche“, CXXI (2011), in Veröffentlichung, 114 Kries 1888, S. 187. 115 Kries 1888, S. 188. 116 Kries 1888, S. 187–188.
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Fällen zeigt sich die Wahrscheinlichkeit also als „allgemein giltig“ und etwas „ganz Bestimmtes“117. b) Aber in diesen Situationen übernimmt auch der Begriff der objektiven Möglichkeit bei genauer Betrachtung eine spezifische und zugleich exemplarische Bedeutung: Er beschränkt sich nicht darauf (wie immer) vorauszusetzen, dass die Bedingungen für ein Ereignis nur allgemein und generell, und nicht in ihrer konkreten Gesamtheit definiert werden, sondern er setzt auch voraus, dass diese Generalisierung auf der Grundlage eines ganz bestimmten Prinzips erfolgt. „Es wird die Gesamtheit derjenigen Fälle zusammengefasst, welche bezüglich der Bedingungen für unsere Auffassung und Beobachtung sich nicht mehr unterscheiden, es wird abstrahirt von denjenigen feinsten Besonderheiten des Verhaltens, welche sich unserer Einsicht schlechthin entziehen“118. Wenn man beispielsweise sagt, dass die objektive Möglichkeit, eine Drei zu würfeln gleich 1/6 ist, nimmt man eine Abstraktion der Gesamtheit der spezifischen Bedingungen vor, die von Mal zu Mal das tatsächliche Ergebnis des Wurfes bestimmen und die vorher wie nachher unserem Unterscheidungsvermögen entgehen, und bezieht sich nur auf die allgemeinen, genau erkennbaren Bedingungen, die jedem Wurf vorausgehen, Bedingungen, nach denen die einzelnen konkreten Würfe gleichwertig und nicht unterscheidbar sind. Kries nennt diese Art von Generalisierung „eine Generalisierung nach Massgabe der Erkennbarkeit“119 (verstanden insbesondere als Unterscheidungsvermögen) und behauptet, dass sie nicht selten erlaubt, präzise zu bestimmen, wie groß der von den allgemeinen Bedingungen dargestellte Grad der Möglichkeit im Hinblick auf das Eintreten bestimmter Ereignisse ist. All das impliziert, dass in den fraglichen Situationen eine völlige Übereinstimmung zwischen der allgemeingültigen Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses und seiner objektiven Möglichkeit besteht, die, nicht zufällig, beide „derselbe Zahlenwerth“120 ausdrückt. Wir wissen in der Tat, dass die Wahrscheinlichkeit für ein Ereignis allgemeingültig ist, „wenn sie nicht auf einem Mangel nomologischen Wissens beruht“ (das von Individuum zu Individuum variieren und durch spätere Untersuchungen ausgefüllt werden kann), sondern sich vielmehr auf „eine ungenaue Kenntniss der individuellen oder […] ontologischen Verhältnisse des Einzelfalls“ gründet, und genauer „in einer Unkenntniss, die jedem neuen Falle gegenüber wieder in ganz gleicher Weise besteht“121, 117 Kries 1888, S. 188. 118 Ebd. 119 Ebd. 120 Kries 1888, S. 189. 121 Ebd.
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wie es am Deutlichsten im Fall der Zufallsspiele zutrifft. „Die allgemeingiltige Wahrscheinlichkeit ist also dadurch charakterisiert, dass wir das Verhalten der Bedingungen im Einzelfalle nicht genau kennen, dieselben vielmehr nur durch eine allgemeine Angabe bezeichnen können; dass wir aber andererseits sicher wissen, in welchen Grössenverhältnissen innerhalb dieses Rahmens die Spielräume der Gestaltungen stehen, welche die Verwirklichung des einen oder des anderen Erfolges mit sich bringen“122. Auf der Grundlage dieser Annahmen wird die Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Ereignisses präzise messbar und wird in der Tat durch einen numerischen Wert zwischen 0 und 1 gemessen, der der Größe des Teils des gesamten Spielraums entspricht, der zum Eintreten des fraglichen Ereignisses führt. Aber das bedeutet, das „Princip der Spielräume“123 vollständig anzunehmen und anzuerkennen, dass der genannte Zahlenwert auch die objektive Möglichkeit für das Eintreten eines Ereignisses bezeichnet. „Es ist daher in diesem Gebiete zulässig zu sagen, dass die (allgemeingiltige) Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs ebenso gross ist, wie seine (objective) Möglichkeit, dass derselbe Zahlenwerth Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit angebe“124. Weber bezieht sich speziell auf diese Argumentationen von Kries, wenn er bemerkt, dass die den objektiven Möglichkeitsurteilen wesentlich zugehörigen Gradabstufungen (die die Quelle ihrer Erkenntnisrelevanz auch im Bereich der historiographischen Untersuchungen sind) sich nicht immer in einer Beziehung zwischen ‚Möglichkeiten‘, definiert durch eine präzise numerische Bestimmung, ausdrücken. Er schreibt in einer Passage, die nun klarer werden müsste: „Derartiges gibt es nur auf dem Gebiet des ‚absoluten Zufalls‘ (im logischen Sinn), d.h. in Fällen, wo – wie z.B. beim Würfeln, bei der Ziehung von Kugeln verschiedener Farbe aus einer Urne, die stets die gleiche Mischung 122 Ebd. (2. Hervorhebung E.M.). 123 Kries 1888, S. 189–190. Für eine präzisere Formulierung des genannten Prinzips und für eine ausführlichere Untersuchung seiner logischen Relevanz vgl. J. von Kries, Die Principien der Wahrscheinlichkeits-Rechnung, op. cit., S. 24–36 und 157ff. (auf die Kries auch in dem Aufsatz von 1888 ausdrücklich verweist). 124 Kries 1888, S. 190. Kries stellt auch klar, dass die Relevanz dieser Zahlenwerte drastisch unterbewertet wird, wenn man sie nur als Ausdruck der Tatsache interpretiert, dass wir (beispielsweise) zwei Ereignisse nur als gleichermaßen wahrscheinlich einstufen, wenn wir keinen Grund haben, die Verwirklichung des einen eher als die des anderen zu erwarten. Die fraglichen Zahlenwerte haben dagegen eine ganz präzise objektive Bedeutung, denn sie sagen aus (um bei demselben Beispiel zu bleiben), dass die beiden Ereignisse von gleichgroßen besonderen Gestaltungen bestimmender Umstände allgemeiner Art verursacht wurden und daher gleichermaßen objektiv möglich sind. Gerade daraus lässt sich ableiten, dass bei einer ausreichend großen Zahl von Einzelfällen die beiden Ereignisse mehr oder weniger gleich oft eintreten.
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derselben enthält – bei einer sehr großen Zahl von Fällen bestimmte einfache und eindeutige Bedingungen sich absolut gleich bleiben, alle übrigen aber in einer unserer Kenntnis absolut entzogenen Weise variieren, und wo diejenige ‚Seite‘ des Erfolges, auf die es ankommt: – beim Würfeln die Zahl der Augen, beim Ziehen aus der Urne die Farbe der Kugeln –, in ihrer ‚Möglichkeit‘ durch jene konstanten und eindeutigen Bedingungen (Beschaffenheit des Würfels, Verteilung der Kugeln) dergestalt bestimmt wird, daß alle sonst denkbaren Umstände gar keine in einen generellen Erfahrungssatz zu bringende kausale Beziehung zu jenen ‚Möglichkeiten‘ aufweisen. Die Art, wie ich den Würfelbecher ergreife und rüttle, ehe ich werfe, ist eine absolut determinierende Komponente für die Zahl der Augen, die ich in concreto werfe, – aber es gibt trotz alles ‚Knobler‘ – Aberglaubens keinerlei Möglichkeit, einen Erfahrungssatz auch nur zu denken, der ausspräche, daß eine bestimmte Art, beides zu vollziehen, ‚geeignet sei‘, das Werfen einer bestimmten Anzahl von Augen zu begünstigen“125.
4. Weitere Anwendungen des Begriffs der objektiven Möglichkeit Kries hebt aber hervor – und das ist der für Weber wichtige Punkt –, dass es auch weitere Anwendungen des Begriffs der objektiven Möglichkeit gibt, die seinen Gebrauch κατ’ ν überschreiten und aus zwei verschiedenen Arten von Gründen „größere Aufmerksamkeit und Vorsicht“ verlangen126. In erster Linie wird in den zuvor behandelten Situationen die allgemeine und generelle Definition der bedingenden Umstände (die immer vom Begriff der objektiven Möglichkeit vorausgesetzt ist) mit der Berufung auf die Tatsache erreicht, dass unsere Erkenntnisfähigkeit die Gesamtheit der spezifischen Bedingungen einer Reihe konkreter Ereignisse nicht (weder ex ante noch ex post) durchdringen kann, welche in dieser Hinsicht also untrennbar und deswegen auf die gleichen allgemeinen bedingenden Umstände zurückführbar sind. Aber die Anwendung des Begriffs der objektiven Möglichkeit gründet sich nicht immer auf diese „Generalisierung nach Massgabe der Erkennbarkeit“127. Sagt man beispielsweise, dass es möglich gewesen wäre, ein Unglück zu vermeiden, gründet sich die Generalisierung auf dem Umstand, dass nur ein Teil der realen und erkennbaren Bedingungen eines konkreten Ereignisses „für uns ein
125 KS II, S. 284. 126 Kries 1888, S. 190. 127 Vgl. oben, Fußnote 119.
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besonderes Interesse hat“128: Aus diesem Grund wird dieser Teil von der Gesamtheit der übrigen, uns bekannten, unverändert bleibenden Bedingungen isoliert, und dann wird behauptet, dass in Übereinstimmung mit den Regeln der Erfahrung sein anderer Verlauf objektiv das Eintreten des Unglücks hätte verhindern können. Die Grundlage einer solchen Anwendung des Begriffs der objektiven Möglichkeit ist also „irgend eine stillschweigend gemachte Abstraction“, die von unserem Interesse geleitet wird, das jedoch von Mal zu Mal deutlich gemacht werden muss, indem man sich fragt, „in welchen Hinsichten die Bedingungen des concreten Falles, sei es verallgemeinert, sei es in bestimmter Weise verändert gedacht sind“129. Nur so – schreibt Kries in einer kurzen Passage seiner Überlegungen, die Weber stark berührt haben muss – sei es möglich, einer ziemlich häufigen Anwendung des Begriffs der objektiven Möglichkeit „nicht nur in den Betrachtungen des täglichen Lebens, sondern namentlich auch in denen der Geschichtschreibung“130 eine präzise Bedeutung zu geben. Denken wir nur für einen Augenblick noch einmal an das Beispiel der Schlacht von Marathon zurück. Wenn man sagt, dass eine griechische Niederlage in den Perserkriegen das Errichten einer Priesterherrschaft in Athen möglich gemacht hätte, geschehen in Wirklichkeit zwei Dinge: In erster Linie isoliert unser Interesse für die kausale Relevanz des Ausgangs dieses Konflikts auf die besonderen Eigenschaften der athenischen Kultur des 5. Jahrhunderts stillschweigend den fraglichen Konflikt von der Gesamtheit der übrigen, uns bekannten und unverändert bleibenden Bedingungen für die Entstehung dieser Kultur (einschließlich des Vorhandenseins starker Priesterschichten in Athen); und in zweiter Linie wird auf der Grundlage gewisser wiederkehrender Verhaltensweisen der Perser gegenüber den unterworfenen Völkern behauptet, dass ein anderer Verlauf des Konflikts das Entstehen der genannten Priesterherrschaft sehr viel wahrscheinlicher gemacht hätte. In seinen Ausführungen dazu, dass das, was für den Gebrauch κατ’ ν des Begriffs der objektiven Möglichkeit gilt, nicht unvorsichtig auf alle Anwendungen des Begriffs übertragen werden dürfe, entwickelt Kries jedoch auch einen anderen Gedanken und unterstreicht, dass „nur unter besonderen Verhältnissen eine allgemeine Bedingung für einen Erfolg eine zahlenmässig angebbare Möglichkeit repräsentirt“131, wozu er einige grundsätzliche Hinweise 128 Kries 1888, S. 191 (Hervorhebung E.M.). 129 Ebd. 130 Ebd. (Hervorhebung E.M.). Im zweiten Teil der Kritischen Studien taucht immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln das Thema der Nähe zwischen den „im Alltagsleben“ und den „in der Geschichte“ verwendeten objektiven Möglichkeitsurteilen auf (KS II, S. 285–286). 131 Kries 1888, S. 191.
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liefert132. a) Es lässt sich ohne weiteres annehmen, dass das Bestehen einer allgemeinen Bedingung einschließt, dass ein Ereignis eine zahlenmäßig bestimmte Möglichkeit hat einzutreten, wenn man sicher ist, dass in einer Vielzahl von ähnlichen Fällen, in denen die allgemeine Bedingung herrscht, das fragliche Ereignis mit einer annähernd stabilen Häufigkeit eintritt. Dies gilt offensichtlich für die oben erwähnten ‚Zufallsspiele‘, in denen die stabile Häufigkeit, um es einmal so zu sagen, bereits a priori von der Form des Würfels, der Größe der Kästchen auf der Roulettescheibe usw. bestimmt ist. Man braucht aber nur einen Blick auf die (bei der Beobachtung sozialer Zustände entstandene) Statistik zu werfen, um zu sehen, dass eine Vielzahl von Phänomenen sich diesem Sachverhalt annähern. b) Trotzdem ist eine solche quantitative Bestimmung der objektiven Möglichkeit eines Ereignisses durch die Beobachtung der konstanten durchschnittlichen Ergebnisse nicht ohne Tücken, was Kries mit dem ersten seiner vielen, in dem Aufsatz von 1888 enthaltenen Beispiele aus dem medizinischen und epidemiologischen Bereich hervorhebt. Man könne veranlasst sein zu denken, schreibt er, dass die allgemeine Bedingung ‚ein Mensch erkrankt an Lungenentzündung‘ eo ipso eine zahlenmäßig bestimmbare Möglichkeit für den tödlichen Verlauf der Krankheit enthalte. Aber das wäre „ein grosser Irrtum“133, denn wie es die Praxis und das Studium lehren, stützt sich die durchschnittliche Mortalität der Krankheit in Wirklichkeit auf die annähernde Konstanz anderer allgemeiner Bedingungen (durchschnittlicher Lebensstil, Gesundheitszustand, Ernährung usw.) und variiert beachtlich bei Veränderung derselben. Daher repräsentiert die ausdrücklich erwähnte allgemeine Bedingung nur bei stillschweigend angenommenem Zusammentreffen anderer allgemeiner Bedingungen (die gegenwärtig bei bestimmten Völkern vorliegen) eine zahlenmäßig bestimmte Möglichkeit dafür, dass ein Ereignis eintritt. Da solche Beispiele nicht selten sind, muss man immer und in jedem Fall „beachten, dass die allgemeinen Bedingungen, von welchen wir annehmen, dass sie für einen Erfolg eine gewisse Möglichkeit repräsentiren, dies vielfach nur thun, sofern eine Anzahl nicht ausdrücklich namhaft gemachter Bestimmungen stillschweigend hinzugedacht wird“134. c) Nach diesen Präzisierungen gibt es keinen Zweifel daran, dass fast alle sozialen Phänomene Regelmäßigkeiten aufweisen, die eine exakte Bestimmung der objektiven Möglichkeit eines bestimmten Ereignisses ausgehend von einer gewissen Konstellation allgemeiner 132 Für eine ausführliche Untersuchung der Frage, die über die spezifischen Ziele seines Aufsatzes von 1888 hinausgeht, verweist Kries auf Die Principien der WahrscheinlichkeitsRechnung (vgl. Kries 1888, S. 183, Fußnote). 133 Kries 1888, S. 192. 134 Ebd.
Der Begriff der objektiven Möglichkeit
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Bedingungen zulassen: Um bei dem vorherigen Beispiel zu bleiben, können wir durchaus behaupten, dass es bei der heute in den Ländern Europas herrschenden Situation eine genau bestimmte objektive Möglichkeit dafür gibt, dass eine Lungenentzündung tödlich verläuft. Kries bemerkt auch, dass Darstellungen dieser Art häufig eine große Bedeutung nicht nur im Hinblick auf das Verständnis der tatsächlich bei Massenphänomenen bestehenden Regelmäßigkeit hat, sondern auch in Bezug auf das, was wir im Einzelfall erwarten. Er schreibt: „Je weniger wir in der Lage sind, über die individuellen Verhältnisse des Einzelfalles Werthvolles zu ermitteln, umso mehr ist für unsere Erwartung die Kenntniss einer allgemeinen Möglichkeit entscheidend“; und ergänzt sofort: „Wir können daher mit Grund behaupten, dass unser Wissen von den Erscheinungen des menschlichen Lebens, soweit es den gesetzmässigen Zusammenhang des Geschehens betrifft, zum überwiegend grössten Theile in der Kenntniss der kleineren oder grösseren Werthe solcher genereller Möglichkeiten besteht“135. d) Nichtsdestotrotz ist es, wenn verschiedene Verlaufstypen von ähnlichen Fällen in einer gewissen Hinsicht keine konstante Häufigkeit aufweisen, nicht mehr erlaubt, eine allgemeine Bedingung zu extrapolieren, die eine zahlenmäßig bestimmte Möglichkeit für jeden von ihnen darstellt. Ein kleiner Schnitt kann beispielsweise wegen einer Blutvergiftung zum Tod führen, aber sobald wir nach der tatsächlichen Größe dieser Wahrscheinlichkeit fragen, lehrt uns die Statistik, dass es keinen Häufigkeitswert dafür gibt (nicht einmal annähernd), der dauerhaft gültig wäre, da der tödliche Verlauf in diesem Fall fast vollständig von anderen Bedingungen abhängt, die überdies noch extrem wechselhaft sind. „Die Bedingung, dass Jemand in einer gewissen Weise verletzt sei, repräsentirt also an sich zwar zweifellos eine gewisse Möglichkeit einer septischen Infection und des Todes; diese Möglichkeit ist aber ihrer Größe nach nicht zahlenmässig angebbar“136. e) Kries entwickelt schließlich eine andere Beobachtung, die ebenfalls in besonderer Weise Webers Aufmerksamkeit auf sich zog: Er bemerkt, dass in einer ganzen Reihe von Fällen die Voraussetzungen, die eine zahlenmäßige Bestimmung der Möglichkeit für ein Ereignis erlauben, sich nur annähernd realisieren. In diesen Fällen ist es gewiss gestattet, die verschiedenen Grade der Möglichkeit für ein oder mehrere Ereignisse zu vergleichen, aber nur, um die deutlichsten Unterschiede hervorzuheben. Es lässt sich beispielsweise, auch ohne das exakte zahlenmäßige Verhältnis zwischen den beiden Möglichkeiten angeben zu können, behaupten, dass das Leben eines Arztes eine größere Möglichkeit der Infektion mit einer ansteckenden Krankheit bietet als das Leben eines Bauern. Allgemeiner: „Wir 135 Kries 1888, S. 193. 136 Kries 1888, S. 193–194.
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tragen mit Recht kein Bedenken zu behaupten, dass unter gewissen Umständen etwas sehr häufig oder sehr selten, Eines erheblich häufiger als etwas Anderes vorkomme, auch wenn wir wissen, dass für keinen der betreffenden Werthe eine ganz scharfe zahlenmässige Bezeichnung zu geben ist. Überall, wo uns diese Aufstellungen bezüglich der Häufigkeit und Seltenheit als zulässig und sicher erscheinen, werden dieselben auf analoge Grössenverhältnisse objectiver Möglichkeiten zurückgeführt werden müssen und in ihnen ihre Erklärung finden“137. Stellen wir uns jetzt auf Webers Standpunkt und sehen von anderen Aspekten der Frage ab, auf die wir später zurückkommen werden, versteht man sofort, dass dies der Sachverhalt ist, unter den das Urteil fällt, dass ein anderer Ausgang der Perserkriege die Errichtung einer Priesterherrschaft in Athen sehr viel wahrscheinlicher gemacht hätte, da ein solches Urteil sich nie in einem präzisen zahlenmäßigen Verhältnis zwischen zwei ‚Möglichkeiten‘ ausdrücken kann und deswegen trotzdem nicht ohne ein „erhebliches Maß von Bestimmtheit“138 ist. f ) Kries schließt seine Argumentationen, indem er erneut nachdrücklich unterstreicht, dass jede Anwendung des Begriffs der objektiven Möglichkeit jenseits des Bereichs des „absoluten Zufalls“ (im logischen Sinne) und der „constanten allgemeinen Bedingungen“139 eine besondere Vorsicht verlange, da es einerseits ein Irrtum sei zu denken, dass die Frage nach der objektiven Möglichkeit (und der allgemeingültigen Wahrscheinlichkeit) für ein Ereignis ausgehend von allgemein bestimmten Bedingungen in jedem Umstand gestellt werden könne, und da es andererseits falsch sei, zu meinen, die größere oder kleinere objektive Möglichkeit für ein Ereignis könne immer und in jedem Fall durch einen präzisen Zahlenwert angegeben werden.
IV. Der Begriff des ursächlichen Zusammenhangs Nachdem er zusammenfassend die Grundlinien seiner „Theorie der objektiven Möglichkeit“ dargelegt hat, zeigt Kries, wie sich diese Theorie auf zwei Bereiche, nämlich „erstens auf den Begriff der Verursachung und des ursächlichen Zusammenhangs und zweitens auf den der Gefahr“ anwenden lässt140. In beiden Fällen beginnt er zunächst allgemein141, um dann „einige Abschweifungen“ zu
137 Kries 1888, S. 194. 138 KS II, S. 285. 139 Kries 1888, S. 194. 140 Kries 1888, S. 195. 141 Vgl. Kries 1888, S. 195–222 und S. 287–299.
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tragen mit Recht kein Bedenken zu behaupten, dass unter gewissen Umständen etwas sehr häufig oder sehr selten, Eines erheblich häufiger als etwas Anderes vorkomme, auch wenn wir wissen, dass für keinen der betreffenden Werthe eine ganz scharfe zahlenmässige Bezeichnung zu geben ist. Überall, wo uns diese Aufstellungen bezüglich der Häufigkeit und Seltenheit als zulässig und sicher erscheinen, werden dieselben auf analoge Grössenverhältnisse objectiver Möglichkeiten zurückgeführt werden müssen und in ihnen ihre Erklärung finden“137. Stellen wir uns jetzt auf Webers Standpunkt und sehen von anderen Aspekten der Frage ab, auf die wir später zurückkommen werden, versteht man sofort, dass dies der Sachverhalt ist, unter den das Urteil fällt, dass ein anderer Ausgang der Perserkriege die Errichtung einer Priesterherrschaft in Athen sehr viel wahrscheinlicher gemacht hätte, da ein solches Urteil sich nie in einem präzisen zahlenmäßigen Verhältnis zwischen zwei ‚Möglichkeiten‘ ausdrücken kann und deswegen trotzdem nicht ohne ein „erhebliches Maß von Bestimmtheit“138 ist. f ) Kries schließt seine Argumentationen, indem er erneut nachdrücklich unterstreicht, dass jede Anwendung des Begriffs der objektiven Möglichkeit jenseits des Bereichs des „absoluten Zufalls“ (im logischen Sinne) und der „constanten allgemeinen Bedingungen“139 eine besondere Vorsicht verlange, da es einerseits ein Irrtum sei zu denken, dass die Frage nach der objektiven Möglichkeit (und der allgemeingültigen Wahrscheinlichkeit) für ein Ereignis ausgehend von allgemein bestimmten Bedingungen in jedem Umstand gestellt werden könne, und da es andererseits falsch sei, zu meinen, die größere oder kleinere objektive Möglichkeit für ein Ereignis könne immer und in jedem Fall durch einen präzisen Zahlenwert angegeben werden.
IV. Der Begriff des ursächlichen Zusammenhangs Nachdem er zusammenfassend die Grundlinien seiner „Theorie der objektiven Möglichkeit“ dargelegt hat, zeigt Kries, wie sich diese Theorie auf zwei Bereiche, nämlich „erstens auf den Begriff der Verursachung und des ursächlichen Zusammenhangs und zweitens auf den der Gefahr“ anwenden lässt140. In beiden Fällen beginnt er zunächst allgemein141, um dann „einige Abschweifungen“ zu
137 Kries 1888, S. 194. 138 KS II, S. 285. 139 Kries 1888, S. 194. 140 Kries 1888, S. 195. 141 Vgl. Kries 1888, S. 195–222 und S. 287–299.
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begehen, die aber „auf das Strafrecht beschränkt bleiben“142, denn hier sind die Begriffe ‚Verursachung‘ und ‚Gefahr‘ von besonderer Wichtigkeit. Und dieser Umstand verlangt seiner Meinung nach nach ihrer Neuinterpretation im Licht des Begriffs der objektiven Möglichkeit. Im Folgenden werden wir hier die von Kries vorgenommenen Analysen zum Begriff des ursächlichen Zusammenhangs prüfen, da sie für unseren Diskurs von besonderem Interesse sind.
1. Konkrete und abstrakte ursächliche Zusammenhänge Kries geht von der Feststellung aus, dass die Ausdrücke ‚Ursache‘, ‚Verursachung‘, ‚kausaler Zusammenhang‘ usw. im allgemeinen Sprachgebrauch nicht in genau dem gleichen Sinn angewendet werden wie im philosophisch spezifizierten Gebrauch. Sagt man umgangssprachlich, dass eine Sache, ein Vorgang oder eine Handlung die Ursache für ein Ereignis ist, so lehrt die Philosophie, dass „unstreitig nur der ganze Complex von Bedingungen, der einen Erfolg factisch herbeiführte, die Ursache desselben heissen“ kann143. Im Übrigen wies auch schon Mills in seiner (bereits in anderem Zusammenhang erwähnten) Formulierung des Verursachungsprinzips auf die Notwendigkeit hin, den gesamten Komplex von Bedingungen für ein Ereignis einzubeziehen, und behauptete, jedem Ereignis entspreche „eine Combination von Dingen oder Vorgängen, ein gegebenes Zusammenwirken von positiven und negativen Umständen, die, wenn sie eintreten, jene Erscheinung zur Folgen haben“144. Kries ist jedoch überzeugt, dass diese „philosophisch strenge“145 Deutung des Ursachenbegriffs ganz und gar nicht die Frage nach dem ‚möglichen Sinn‘ von „weniger correcten“146 Deutungen desselben Begriffs überflüssig macht, die nicht nur im alltäglichen Leben und in der Umgangssprache, sondern auch in anderen Bereichen wie der „Rechtswissenschaft“147 eine sehr wichtige Rolle spielen, welche sicher nicht mit dem genannten streng philosophischen Ursachenbegriff arbeitet. Um das Problem in seiner gesamten Tragweite zu erfassen, ist es für Kries unabdingbar, von einer Unterscheidung zwischen „konkretem“ und „abs-
142 Kries 1888, S. 195. Vgl. auch Kries 1888, S. 222–240 und S. 299–323. 143 Kries 1888, S. 195. 144 Vgl. oben, Fußnote 73 (Hervorhebung E.M.). 145 Kries 1888, S. 196. 146 Kries 1888, S. 195. 147 Kries 1888, S. 196.
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traktem ursächlichem Zusammenhang“148 auszugehen, die sehr an jene Unterscheidung erinnert, die Rickert zwischen „historischem Kausalzusammenhang“ und „Kausalgesetz“149 gemacht und die Weber umfassend rezipiert hat. Kries behauptet in der Tat: „Alle Aufstellungen über Causalität (im weitesten Sinne des Wortes) sind offenbar zweierlei Art: entweder beziehen sie sich auf individuelle, concrete Fälle und sagen etwas darüber aus, wie ein bestimmtes, tatsächlich eingetretenes Ereignis zu Stande kam, oder sie sind allgemeine, abstracte Aussagen über den gesetzmässigen Zusammenhang von Bedingungen und Folgen“150, Aussagen, die üblicherweise als „Causalgesetze“151 bezeichnet werden. Kries ist jedoch überzeugt, dass sich diese wichtige Unterscheidung keinesfalls in einen absoluten Gegensatz verhärten könne, welcher letztendlich wieder einen metaphysischen Ursachenbegriff einführen würde, der mit der Hume‘schen Auflösung des Begriffs in der gleichmäßigen Konstanz der Folge gänzlich unvereinbar ist. Zwischen jeder konkreten kausalen Zurechnung und der abstrakten Verursachung bestehe vielmehr eine enge Beziehung (die im Übrigen auch Rickert durchaus anerkennt, wenn er unterstreicht, dass die „Begriffselemente“, derer sich jede Aufstellung bezüglich eines individuellen Kausalzusammenhangs bedient, immer aus mehr oder weniger einfachen „Kausalgesetzen“ gebildet sind)152 . Gerade die Unterscheidung und zugleich die notwendige Beziehung, die zwischen konkreter und abstrakter Kausalität herrscht, erlaubt es Kries, auf die anfängliche Frage nach dem ‚möglichen Sinn‘ der ‚philosophisch nicht strengen‘, sondern weit verbreiteten Formulierungen, ob eine Sache, ein Prozess oder eine Handlung die Ursache für ein Ereignis ist oder nicht, eine Antwort zu geben. Diese Antwort – die nicht, zumindest nicht sofort, die Notwendigkeit impliziert, auf die Theorie der objektiven Möglichkeit zurückzugreifen – basiert insgesamt auf dem Begriff des „ursächlichen Momentes“153.
148 Kries 1888, S. 195. 149 Vgl. oben, Fußnote 24. 150 Kries 1888, S. 196. 151 Ebd., Fußnote. 152 Vgl. oben, I.4. 153 Kries 1888, S. 197.
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2. Das ursächliche Moment Jedes konkrete Ereignis wird natürlich von einem ungeheueren Komplex bedingender Umstände hervorgerufen. Trotzdem geschieht es häufig, dass unsere Aufmerksamkeit sich auf einen besonderen Aspekt dieser Umstände konzentriert (auf einen einzelnen Vorgang, einen einzelnen Gegenstand oder auch nur eine bestimmte Eigenschaft eines einzelnen Vorgangs oder Gegenstands). Man muss sich also fragen „ob und in welchem ursächlichen Zusammenhange ein solches bestimmtes Moment der bedingenden Umständen zu dem Erfolge gestanden habe“154. a) Der einfachste Fall ist dabei die Frage, ob und in welcher Weise reale Dinge am Eintreten eines Ereignisses mitgewirkt haben. Kries unterstreicht aber, dass auch in diesem relativ einfachen Fall „die im Grunde transcendente Vorstellung des Wirkens“ sich sofort „in die einer Gesetzmässigkeit“ auflösen muss155. Das bedeutet bei genauer Betrachtung, dass alle Aufstellungen, die die spezifischen, einem bestimmten Gegenstand inhärenten Wirkungen betreffen, sich nicht auf etwas gründen, das direkt „an dem concreten Geschehn erkannt und beobachtet werden könnte“156, sondern sie gründen sich vielmehr auf die Tatsache, dass wir uns jeden konkreten Vorgang im Rahmen eines gesetzmäßigen Geschehens vorstellen und in der Lage sind, auf den konkreten Fall ein bestimmtes nomologisches Wissen anzuwenden (ein Wissen also, das als eigenen Inhalt dieses gesetzmäßige Geschehen hat). „Dass ein Gegenstand im concreten Fall etwas bewirkt habe, können wir nicht an dem Vorgange selbst beobachten; wir können es vielmehr nur sagen auf Grund einer gewissen Kenntniss der Gesetze des Geschehens, welche uns zu beurteilen gestattet, wie der Gang der Ereignisse sich bei Fehlen des Gegenstands gestaltet hätte. Die Frage nach der Causalität eines bestimmten Gegenstands ist also gleichbedeutend mit der, was geschehen wäre, wenn in dem Complexe der Bedingungen jenes Reale (ein bestimmter Theil) gefehlt, alles Uebrige aber sich genau gleich verhalten hätte“157. b) Betrachtet man das Problem auf diese Weise, ist festzustellen, dass die Situation im Wesentlichen immer dieselbe ist, auch in den komplexeren Fällen, die nicht die ursächliche Wirkung eines realen Gegenstands (also eines leicht zu extrapolierenden „Teils“ des Komplexes der Bedingungen für ein Ereignis), sondern die ursächliche Wirkung von etwas Flüchtigerem betreffen, beispielsweise eines unvorsichtigen oder unrechtmäßi-
154 Ebd. 155 Kries 1888, S. 198, Fußnote. 156 Kries 1888, S. 197. 157 Kries 1888, S. 197–198.
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gen Verhaltens wie Trunkenheit am Steuer158. Auch hier muss, wer die tatsächliche Wirkung eines ursächlichen Moments bestimmen will, „die Verhältnisse des concreten Falles in einer gewissen Hinsicht abgeändert“159 denken, denn nur das erlaubt uns auf der Grundlage unseres nomologischen Wissen zu bewerten, ob sie in dieser anderen Konfiguration ebenfalls dieselbe Wirkung hervorgerufen hätten. Der einzige Unterschied ist, dass die gedachte Veränderung nicht, wie in den einfacheren Fällen, in einem Wegnehmen, sondern in einem Ersetzen besteht: Fragt man beispielsweise nach der ursächlichen Einwirkung eines unvorsichtigen Verhaltens, vergleicht man den realen Verlauf der Ereignisse mit jenem, der eingetreten wäre, wenn man das fragliche Verhalten durch ein normales aufmerksames und abgewogenes Verhalten ersetzt hätte. Auf der Grundlage dieser Betrachtungen – die insgesamt zeigen, dass die ursächliche Einwirkung jedes einzelnen Zuges der Wirklichkeit nur vor dem Hintergrund eines Wissens über die „Gleichförmigkeit in dem Gange der Natur“160 erkannt werden kann – gelingt es Kries an einem gewissen Punkt, die Unterscheidung zwischen dem Begriff des konkreten und jenem des abstrakten ursächlichen Zusammenhangs außer Kraft zu setzen. „Die Unterscheidung der concreten und abstracten Causalität, von welcher hier in Anlehnung an die gewöhnlichen Gedankengänge des täglichen Lebens ausgegangen wurde, entbehrt […] eigentlich der tieferen Begründung. Ein Unterschied besteht nur insofern, als in dem einen Falle (bei der concreten Causalität) in der Regel nur genau bestimmte, aus dem in concreto vorhandenen durch eine Modification entstanden gedachte Bedingungen in Betracht gezogen werden, während abstracte Aufstellungen auf ganz beliebig definirte Bedingungen sich beziehen können. Beiden ist aber gemeinsam, dass sie etwas über die nothwendige Folge gewisser nicht realisirter, sondern nur gedachter Bedingungen behaupten“161. Diese Worte von Kries könnten uns veranlassen, einseitig hervorzuheben, dass für Weber (wie für Rickert) durchaus eine ‚tiefere Begründung‘ der allgemeinen Unterscheidung zwischen ‚konkreter Wirklichkeit‘ und ‚Abstraktion‘ existiert, die letztendlich darauf beruht, dass die anschauliche und zugleich individuelle Struktur der konkreten Wirklichkeit, so wie sie ist, aufgrund ihrer ungeheuren intensiven Mannigfaltigkeit in keinem Fall in unseren Begriffen widergespiegelt und aufgenommen werden kann. Wenn dies zwar auch gewiss 158 Aus diesem Grund zieht Kries es vor, von ‚Momenten‘ und nicht von „Theilen des Bedingungscomplexes“ zu sprechen: Er wählt mit ersterem einen „möglichst allgemeinen“ Ausdruck, der den zweiten als besonderen Fall einschließt (vgl. Kries 1888, S. 197, Fußnote). 159 Kries 1888, S. 198. 160 J.S. Mill, System der deduktiven und induktiven Logik, op. cit., Teil 1, S. 407. 161 Kries 1888, S. 198, Fußnote.
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stimmt, so ist es doch wichtiger, jene Passagen aus Kries’ Argumentation zu betonen, die dagegen insbesondere bei Webers Rezeption von Rickerts Analysen zur ‚Logik der Geschichte‘ seine Aufmerksamkeit und Zustimmung erlangten. Weber stimmt in der Tat der doppelten Überzeugung von Kries zu, dass a) eine Aufstellung bezüglich eines konkreten ursächlichen Zusammenhangs, da sie eine, wenn auch individualisierende Begriffsbildung ausdrückt, nicht die reale Tatsache („die realisierten Bedingungen“) wiedergibt, sondern sie erarbeitet („die gedachten Bedingungen“); b) und im Laufe dieser Erarbeitung verwendet diese Aufstellung notwendigerweise allgemeine Begriffselemente, die in unserem Kontext abstrakte Kausalzusammenhänge, das heißt Kausalgesetze sind. Diese Elemente objektiver Übereinstimmung scheinen im Übrigen auch durch eine spätere und wichtige Präzisierung von Kries bestätigt: „Wir negiren [...] die Causalität eines Momentes für einen Erfolg durchaus nicht bloss dann, wenn [...] der Erfolg in genau derselben Weise eingetreten wäre“, wenn das fragliche Moment nicht vorhanden gewesen wäre oder einen anderen Verlauf genommen hätte, sondern auch in den Fällen, in denen unter ähnlichen Umständen nur eine „untergeordnete Modification“ der Wirkung eingetreten wäre162. Fragt man also beispielsweise nach dem kausalen Einfluss eines gegebenen Faktors auf den Tod eines Menschen, so fragt man, ob ohne diesen Faktor der Mensch ebenfalls tot wäre, und nicht etwa, ob ohne den Faktor der Tod auf genau dieselbe Weise eingetreten wäre (ob also der Mensch in derselben Position, an derselben Stelle im Zimmer, im selben Augenblick usw. gestorben wäre). „Gegenstand unserer Fragestellung ist also nicht der factisch eingetretene Erfolg in seiner vollen concreten Bestimmtheit […], sondern eine verallgemeinerte Vorstellung, welche wir uns aus diesem bilden“163. Aber wir wissen gut, dass auch für Weber „die konkrete Wirklichkeit eines ‚Ereignisses‘ in seiner Individualität kausal zu verstehen“ nicht bedeutet, dass „sie dasselbe in der Gesamtheit seiner individuellen Qualitäten unverkürzt zu ‚reproduzieren‘ und kausal zu erklären habe“, denn was hier wirklich erfolgt, ist „die Ausscheidung einer Unendlichkeit von Bestandteilen des wirklichen Hergangs als ‚kausal irrelevant‘“, und dies nicht nur und nicht so sehr, weil sie „mit dem zur Erörterung stehenden Ereignis in gar keiner Beziehung“ stehen, sondern auch und vor allem, weil sie in keiner Beziehung zu ihren „in concreto wesentlichen und allein interessierenden Bestandteilen“ stehen164. 162 Kries 1888, S. 199. 163 Ebd. 164 Vgl. oben, Fußnoten 26 und 30. Gerade das von Kries verwendete Beispiel zeigt in aller Klarheit, dass in der „verallgemeinerten Vorstellung“ des Erfolgs, von dem er spricht, das ‚Allgemeine‘ völlig mit dem für uns wesentlichen Aspekt des Erfolgs, dem Zug, der uns
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3. Adäquate und zufällige Verursachung Die bisher von Kries entwickelten Betrachtungen zur Verursachung – auf die Notion des ursächlichen Moments gestützt und die Unterscheidung und Beziehung zwischen konkreten kausalen Zurechnungen und abstrakten Kausalgesetzen betreffend – weisen allein keinen spezifischen Bezug zur Theorie der objektiven Möglichkeit auf. Und dennoch wird dieser Bezug an einem gewissen Punkt unumgänglich, und zwar aus zwei Gründen. a) An erster Stelle ist offensichtlich, dass die von Kries vorgebrachte Theorie der objektiven Möglichkeit „eine gewisse Erweiterung“165 des Inhalts der Kausalgesetze impliziert. Diese leiten sich nicht mehr nur davon ab, dass Bedingungen einer gewissen Art regelmäßig und ausnahmslos Wirkungen einer gewissen Art hervorrufen, denn abstrakte Kausalzusammenhänge dieses Typs gestalten sich nur als „ein Specialfall“166 eines größeren Ganzen, das alle Fälle umfasst, bei denen Bedingungen einer gewissen Art die mehr oder weniger große objektive Möglichkeit für das Eintreten von Wirkungen einer gewissen Art enthalten. „Auch diese Sätze lehren etwas über den gesetzmässigen Zusammenhang der Erscheinungen, auch sie betreffen die causalen Beziehungen, auch sie sind nomologischen Inhalts“167. b) Es gibt jedoch eine weitere Frage, auf die Kries seine Aufmerksamkeit konzentriert: „wie die Behauptung oder die Negirung solcher genereller ursächlicher Zusammenhänge [die neuartigen Kausalgesetze, die den Grad
am meisten interessiert, gleichkommt. Dennoch ist für Kries’ positivistische Denkweise das, was uns aus wissenschaftlicher Sicht von dem konkreten Einzelfall interessieren kann, immer das ‚Allgemeine‘, verstanden als das, was ihn mit ähnlichen Fällen verbindet, d.h. das ‚Allgemeine‘ im Sinn der Naturwissenschaften. Der Faktor, der konkret den Tod eines Menschen verursacht hat, ist nur als Beispiel für einen abstrakten Kausalzusammenhang, der so präzise wie möglich zu bestimmen ist, von wissenschaftlichem Interesse. Jedes darüber hinausgehende Interesse für diesen individuellen Fall ist ausschließlich mit praktischen Motivationen verbunden, wie jene, die uns zu der Untersuchung veranlassen, ob der Tod eines Menschen durch einen Mord, den Fehler eines Arztes usw. verursacht wurde. Aus Rickerts und Webers Perspektive kann aber, was uns wissenschaftlich an dem konkreten Einzelfall interessiert, auch das ‚Allgemeine‘, verstanden als das, was gewisse Aspekte des fraglichen Einzelfalls bedeutsam für alle und offen für eine Wertinterpretation macht, die so seine individualisierende Begriffsbildung erlaubt, sein. Aus diesem Grund können wir ein rein wissenschaftliches (wenn auch fest in unserer Natur wollender und wertender Subjekte verankertes) Interesse für den Tod von Cäsar als solchem und für seine individuellen und konkreten Ursachen hegen. Hierzu siehe unten, IV.6. 165 Kries 1888, S. 196. 166 Ebd. 167 Kries 1888, S. 196–197.
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der objektiven Möglichkeit eines gewissen Ereignisses betreffen] in die Beurtheilung der einzelnen concreten Fälle hineinspielt“168. Um sich der Relevanz des Problems klar zu werden, braucht man nur von einem konkreten Fall auszugehen, in dem ein gewisses ursächliches Moment eine bestimmende Einwirkung auf das Eintreten eines Ereignisses hatte, und sich zu fragen, ob diese Einwirkung zu verallgemeinern ist oder ob es sich dagegen nur um eine Besonderheit des fraglichen Einzelfalls handelt. Man muss sich also fragen, „ob das Moment, wie man wohl zu sagen pflegt, allgemein geeignet ist, eine Tendenz besitzt, einen Erfolg solcher Art hervorzubringen, oder ob es nur in zufälliger Weise die Veranlassung desselben geworden“169. Fragen dieser Art, die zwar im allgemeinen Sprachgebrauch (und nicht nur dort) mit gewisser Häufigkeit vorkommen, hätten keinerlei Sinn, wenn wir ausschließlich ein nomologisches Wissen über die reguläre und ausnahmefreie Folge von Bedingungen und Konsequenzen hätten. Aber schon rein intuitiv wird klar, dass die Dinge nicht so liegen, und Kries belegt das mit einem Beispiel. Nehmen wir an, sagt er, dass der betrunkene Fuhrmann einer Kutsche eine falsche Straße wählt und dass einer seiner Passagiere von einem Blitzschlag getroffen und getötet wird. In einem solchen Fall lässt sich ohne weiteres behaupten, dass die Trunkenheit des Kutschers ceteris paribus den Tod des Passagiers verursacht hat. Es gibt in der Tat keinen Zweifel daran, dass der Fuhrmann, wenn er nüchtern gewesen wäre, nicht falsch abgebogen wäre, und dass also der Passagier, der sich so an einer anderen Stelle als das Gewitter befunden hätte, noch am Leben wäre. Man muss allerdings anerkennen, dass zwischen dem betreffenden ursächlichen Moment und der Wirkung „kein allgemeiner Zusammenhang“ besteht170: Wenn zwar in dem spezifischen Falle die Trunkenheit des Kutschers der Anlass für den Tod des Passagiers war, so besteht für den Passagier einer Kutsche im Allgemeinen jedoch stets die gleiche Wahrscheinlichkeit, vom Blitz erschlagen zu werden, gleich ob der Fuhrmann nüchtern oder betrunken ist. Die Situation wäre jedoch eine andere, wenn die Kutsche sich überschlagen und dadurch den Tod eines Passagiers verursacht hätte. In diesem Fall wäre es in der Tat möglich, zwischen der Trunkenheit des Kutschers und dem Tod des Passagiers „einen nicht bloss individuellen, sondern zu verallgemeinernden ursächlichen Zusammenhang“ anzunehmen171, und zwar nicht, weil die Trunkenheit des Kutschers regelmäßig und ausnahmslos zum Überschlagen der Kutsche führt, sondern weil sie im Allgemeinen ‚geeignet‘ ist 168 Kries 1888, S. 197. 169 Kries 1888, S. 201. 170 Ebd. 171 Ebd.
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(oder ‚die Tendenz besitzt‘), die „Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit“172 des Ereignisses um ein Vielfaches zu steigern. Dass derartige Aussagen einen Sinn haben, ist offensichtlich, aber der fragliche Sinn wird nur „mit Hilfe des Begriffs der objectiven Möglichkeit“ und jenem damit zusammenhängenden des ‚Spielraums‘ vollständig verständlich, die erlauben zu behaupten oder zu negieren, dass „ein gewisses ursächliches Moment die Möglichkeit eines Erfolges vermehre, dass bei dem Vorhandensein des Momentes der Erfolg durch eine weit grössere Mannigfaltigkeit von Umständen bewirkt werde, als ohne dasselbe“173. Nicht zufällig ist „diese Betrachtung […] der Wahrscheinlichkeits-Theorie eine ganz geläufige; dieselbe hat für die bezeichnete Art des ursächlichen Zusammenhangs den terminus technicus des begünstigenden Umstandes. Man sagt z.B., dass eine excentrische Lage des Schwerpunkts im Würfeln gewisse Würfe begünstige u. dgl. Nichts Anderes ist es, was den Ausdrücken des gewöhnlichen Lebens, dass ein Verhalten auf einen Erfolg hinwirke, ihn herbeizuführen geeignet sei oder eine Tendenz besitze, als berechtigter Sinn zu Grunde liegt“174. All das gestattet es Kries, zum ersten Mal das grundlegende Ergebnis der Anwendung des Begriffs der objektiven Möglichkeit im Bereich der „Causalitäts-Theorie“175, das heißt die Unterscheidung zwischen adäquater und zufälliger Verursachung, einzubringen. „Um für die bezeichnete Differenz kurze Ausdrücke zu haben, will ich einerseits von adäquaten, andererseits von zufälligen Verursachungen reden. Es soll also, wo das ursächliche Moment A den Erfolg B verursachte (bedingte), A die adäquate Ursache von B, B die adäquate Folge von A heissen, falls generell A als begüns172 Ebd. 173 Kries 1888, S. 201–202. 174 Kries 1888, S. 202. Vgl. KS II, S. 285: Es gibt „einen generellen Erfahrungssatz, welcher aussagt, daß bei exzentrischer Lage des Würfelschwerpunktes eine ‚Begünstigung‘ einer bestimmten Seite dieses ‚falschen‘ Würfels, nach oben zu kommen, bei Hinzutritt beliebiger anderer konkreter Determinanten besteht, und wir können das Maß dieser ‚Begünstigung‘, der ‚objektiven Möglichkeit‘, durch hinlänglich häufige Wiederholung des Würfelns sogar zahlenmäßig zum Ausdruck bringen. Trotz der Warnungstafel, die mit vollem Recht vor der Uebertragung der Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf andere Gebiete aufgerichtet zu werden pflegt, ist es nun klar, daß dieser letztere Fall seine Analogien auf dem Gebiet aller konkreten Kausalität hat und so auch der historischen“. Siehe hierzu R. Bodei, Il dado truccato. Senso, probabilità e storia in Weber, in „Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa“, Dritte Reihe, VIII (1978), S. 1415–1433, aber siehe auch S. Veca, Il metodo e le condizioni dell’“oggettività“, op. cit., insb. S. 17ff. und G.A. Di Marco, Max Weber in Italia: linee di una interpretazione (1982–1983), jetzt unter dem (passenderen) Titel Su alcune implicazioni filosofiche della riflessione weberiana, in Ders., Studi su Weber, Neapel, 2003, S. 3–115, insb. S. 73ff. 175 Kries 1888, S. 201.
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tigender Umstand von B anzusehen ist; im entgegengesetzten Falle soll von zufälliger Verursachung und von zufälligem Effecte gesprochen werden“176. Wie bekannt greift Weber im zweiten Teil der Kritischen Studien in seinen Analysen zur kausalen Betrachtungen der Geschichte diese Unterscheidung vollständig auf177: „Die ‚Bedeutung‘ der Schlacht bei Marathon“ – schreibt Weber – würde logisch nicht dahingehend zu bestimmen sein, dass „ein Sieg der Perser eine bestimmte ganz andersartige Entwicklung der hellenischen und damit der Weltkultur hätte zur Folge haben müssen – ein solches Urteil wäre schlechthin unmöglich –, sondern [dahingehend,] daß jene andersartige Entwicklung die ‚adäquate‘ Folge eines solchen Ereignisses gewesen ‚wäre‘“178. Kries hält es aber für nötig, sofort zu bemerken, dass eine solche Unterscheidung zwischen adäquater und zufälliger Ursache niemals direkt und sozusagen augenscheinlich von der zwischen einem individuellen und konkreten kausalen Moment und einer individuellen und konkreten Wirkung bestehenden Beziehung abgeleitet werden kann. In voller Übereinstimmung mit dem Begriff der objektiven Möglichkeit, vom dem sie abgeleitet ist179, setzt die Unterscheidung zwischen adäquater und zufälliger Ursache vielmehr eine „generalisirende Betrachtung des Einzelfalls“ voraus, setzt also einerseits einen „abstract definirten […] Erfolge“ auf der Grundlage dessen, was uns daran interessiert, voraus und andererseits, dass das betreffende ursächliche Moment „ein Verhalten bezeichnet, welches zu einer grossen Mannigfaltigkeit von Umständen, zu einer ganzen Classe von Fällen als Modification hinzugedacht werden kann“180. Und dennoch heißt das nicht, dass die Unterscheidung zwischen 176 Kries 1888, S. 202. 177 Vgl. KS II, S. 286. 178 Vgl. KS II, S. 286–287. 179 Vgl. oben, III.1. 180 Kries 1888, S. 203. Im Fall des gezinkten Würfels: Uns interessiert nicht der Ausgang des einzelnen Wurfes in seiner vollen Konkretheit (der zum Beispiel die exakte Position einschließt, in der der Würfel liegen bleibt, die Zeit, die er dafür gebraucht hat, usw.), sondern nur ein abstrakter und isolierter Aspekt desselben (die erreichte Punktzahl); darüber hinaus lässt sich nur vor dem Hintergrund der gedachten (und realen) Betrachtung des Erfolgs einer gewissen Schwerpunktverschiebung im Würfel in einer ganzen Reihe von Würfen sagen, ob (und in welchem Maß) dieses Verschieben des Schwerpunkts geeignet ist, das fragliche Ergebnis zu begünstigen. ‚Analog‘ dazu (vgl. oben, Fußnote 174) der Fall der Schlacht von Marathon: Es interessieren uns nicht die auf einen Sieg der Perser folgenden möglichen Entwicklungen der hellenischen Zivilisation in ihrer vollen Konkretheit (von der wir uns im Übrigen keinerlei Darstellung machen können), sondern nur ein abstrakter und isolierter Aspekt derselben (die Entstehung einer religiös-theokratischen Kultur anstelle der hellenischen ‚freien geistigen Welt‘); darüber hinaus lässt sich behaupten, das der Sieg der Perser für das Entstehen einer religiös-theokratischen Kultur nur
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Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung
adäquater und zufälliger Verursachung keine wesentliche Bedeutung in der objektiven Erkenntnis der konkreten kausalen Beziehungen hätte (im Hinblick auf welche die ‚abstrakte Kausalität‘, wie wir wissen, immer eine bestimmende Rolle spielt). Man muss nur an die sozialen Massenphänomene denken, bei denen uns ein einzelnes Ereignis häufig nur als „Exemplar einer gewissen Kategorie“181 interessiert: So wird eine ganz bestimmte Frage nach den ursächlichen Momenten aufgeworfen, die im Allgemeinen geeignet sind, es hervorzurufen. Aber auch wenn unser Interesse sich auf die speziellen Eigenschaften des konkreten Einzelfalls und der Kausalität, die ihn steuert, richtet (was laut Kries nur aus praktischen Gründen geschieht)182, kann die Unterscheidung zwischen adäquater und zufälliger Verursachung eine wichtige instrumentelle Rolle einnehmen: Wenn man beispielsweise feststellt, dass „ein gewisses Ereignis einen Erfolg, zu dessen Herbeiführung es generell geeignet ist, in concreto nicht bewirkte“183, wird es auch möglich, den Einfluss ursächlicher Momente anderer Art objektiv zu bewerten, die den Verlauf der Dinge verändert haben.
4. Kritik an der Unterscheidung zwischen den Bedingungen eines Erfolgs und seiner Hauptursache Nachdem Kries in engem Bezug zu dem Begriff der objektiven Möglichkeit die Unterscheidung zwischen adäquater und zufälliger Verursachung eingeführt hat, hält er es für angebracht, sich mit einer anderen begrifflichen Unterscheidung zu befassen, die die Notion der Ursache betrifft und Anlass zu heftigen Auseinandersetzungen war: jene zwischen den ‚Bedingungen‘ eines Ereignisses und seiner ‚Hauptursache‘. „Der gewöhnliche Sprachgebrauch nennt, wie bekannt, sehr häufig in dem ganzen Complex bedingender Umstände, welche einen Erfolg herbeiführen, eine einzelne Besonderheit schlechtweg ‚die Ursache‘ des Erfolges. Es handelt sich hier um eine Ursache im engeren Sinne, um eine Ursache κατ’ ν. Man bezeichnet überdies gewöhnlich die sonstigen Momente, die für das Zustandekommen des Erfolges ebenfalls erforderlich waren, nicht als Ursache, sondern als Bedingungen desselben. Ich will, um ein kurzes deutsches Wort zur Verfügung zu haben, diese Ursache κατ’ ν förderlich gewesen wäre vor dem Hintergrund der Betrachtung, wie die Perser sich allgemein gegenüber den Priesterschichten der unterworfenen Völker in Jerusalem, Ägypten und Kleinasien verhalten haben. 181 Kries 1888, S. 203. 182 Vgl. oben, Fußnote 164 und unten, IV.6. 183 Kries 1888, S. 202–203, Fußnote.
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die Hauptursache nennen“184. Trotzdem wird im logischen und wissenschaftlichen Bereich die tatsächliche Haltbarkeit dieses Begriffs der Hauptursache von vielen angezweifelt, eine Ansicht, die – um es gleich zu sagen – Kries durchaus teilt, wenn auch aus eigenen und speziellen Gründen. Die Kritiker der wissenschaftlichen Haltbarkeit des Begriffs der ‚Hauptursache‘ unterstreichen überwiegend, dass diese Notion „nur nach subjectiven Gesichtspunkten zu definiren“ sei: Sie bezeichne in der Tat lediglich „das ursächliche Moment, welches aus irgendeinem Grunde uns am meisten interessiert, für uns die grösste Wichtigkeit besitzt“, was abhänge von Faktoren, die so verschieden sind, dass sich jede Identifikation der Hauptursache mit einem „objective[n] Verhalten“185 verbiete. a) Gewiss, es gibt Fälle, bei denen „anstandslos aus allen etwa angebbaren ursächlichen Momenten eines als Hauptursache hervorgehoben wird“186, aber das – betont Kries – hängt nicht von seinen objektiven Eigenschaften ab, sondern davon, dass auch unser subjektives Interesse typische Züge und gleichmäßige Tendenzen aufweist. b) Ein Beispiel dafür ist schon allein die Tendenz, das gemeinsame Interesse für ein außergewöhnliches Ereignis (also ein deutlich anderes als der große Teil der Ereignisse derselben Kategorie) auf jene bedingenden Umstände zu übertragen, die es abweichend von der Regel (gemeinsam mit anderen) hervorgerufen haben, und dann solche Umstände und nur solche als ‚Ursache‘ des Ereignisses zu bezeichnen und all die anderen ursächlichen Momente, die ebenfalls zu seinem Eintreten beigetragen haben, nicht einmal zu erwähnen. Löst beispielsweise das nicht erfolgte Stellen einer Weiche durch einen Weichensteller ein Zugunglück aus, bezeichnen wir dies als ‚Ursache‘ des Unfalls und nicht etwa das Losfahren des Zuges, das höchstens eine einfache ‚Bedingung‘ desselben ist; und trotzdem ist aus objektiver Sicht die Abfahrt des Zuges ebenso notwendig für das Eintreten des Ereignisses wie das unterlassene Stellen der Weiche. Bei genauer Betrachtung liegt die unterschiedliche Relevanz, die den beiden ursächlichen Momenten des konkreten Ereignisses ‚anstandslos‘ zugeschrieben wird, nur in der Tatsache, dass die Abfahrt des Zuges regelmäßig erfolgt ist, der Fehler des Weichenstellers jedoch eine Abweichung von der Regel darstellt, der in toto die interessante Außergewöhnlichkeit des Ereignisses zugerechnet wird. c) Analog dazu erregt etwas, das für eine gewisse Zeit in dem gleichen Zustand bleibt und dann eine Veränderung durchmacht, typischerweise unser Interesse. Und unser Interesse lässt uns, projektiert auf die Gesamtheit der bedingenden Umstände, diejenigen ursächlichen Momente als einzige oder wenigstens als 184 Kries 1888, S. 204. 185 Ebd. 186 Ebd. (Hervorhebung E.M.).
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‚Hauptursache‘ für die Veränderung betrachten, die ebenfalls verändert sind. Man vergisst so, dass auch die unveränderten ursächlichen Momente gleichermaßen zu seiner Bestimmung beitragen. Wird zum Beispiel ein kalter Raum wärmer, sagen wir, dass die ‚Ursache‘ für das Warmwerden des Zimmers das Anzünden des Ofens und nicht etwa das Vorhandensein der Wände ist: Aus objektiver Sicht jedoch gibt es keinen Zweifel daran, dass das Vorhandensein der Wände genauso notwendig ist wie das Anzünden des Ofens, damit das Zimmer warm wird. d) So „sprechen wir von Bedingungen, die den Dauerzustand erhalten, dagegen von der Ursache einer Aenderung, ebenso von den Bedingungen eines regelmässigen Verhaltens, dagegen von der Ursache einer Abweichung“. Und wenn es nun in diesen Fällen möglich scheint, objektiv die ‚Hauptursache‘ eines konkreten Ereignisses anzugeben, so nur, weil „der Gesichtspunkt der Beurtheilung unmittelbar gegeben ist“187, das heißt, weil das subjektive Interesse für bestimmte Aspekte des untersuchten Ereignisses weitgehend und stillschweigend geteilt wird. Sobald aber das geteilte Interesse abnimmt, löst sich dieser Schein auf, und es wird klar, dass die Unterscheidung zwischen ‚Hauptursachen‘ und ‚Bedingungen‘ eines Ereignisses komplett abhängig ist von den subjektiven (dieses Mal unterschiedlichen) Standpunkten, von denen aus dieses Ereignis thematisiert wird. Wenn zum Beispiel ein junger Tuberkulosepatient, dessen Gesundheitszustand bis dahin eher unauffällig und nur langsamen Veränderungen unterlegen war, innerhalb weniger Tage an Masern stirbt, wird der behandelnde Arzt die Masern als Hauptursache für den Tod ansehen, während dagegen ein Arzt, der sich mit Statistiken zu Masern befasst (die in Europa nur selten tödlich verlaufen) die Hauptursache für den Tod eher in der Tuberkulose sehen wird. Aber trotz dieser starken Gegenargumente wird die Theorie, dass objektiv zwischen der Hauptursache eines Ereignisses und der Gesamtheit seiner Bedingungen zu unterscheiden ist, immer wieder von neuem vorgeschlagen188, meistenteils auf der Grundlage einer unzulässigen Generalisierung einiger Einzelfälle: Einzelfälle, in denen „der Erfolg quantitativ abstufbar ist“ und es also möglich ist zu behaupten, dass der Erfolg „bei dem Fortfall des einen Moments in diesem, bei dem Fortfall eines anderen Moments in jenem Betrage eingetreten wäre“189. Tragen beispielsweise zwei Öfen sehr ungleich zur Erwärmung eines Zimmers bei, kann man ohne weiteres sagen – indem man natürlich 187 Kries 1888, S. 205. 188 Im Hinblick auf die Strafrechtsdebatte zum Kausalzusammenhang verweist Kries kritisch auf den damals neu erschienenen Aufsatz von Karl von Birkmeyer, Über Ursachenbegriff und Causalzusammenhang im Strafrecht, in „Gerichtssaal“, XXXVII (1885), S. 257ff. 189 Kries 1888, S. 206.
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vom Vorhandensein der Wände des Raumes abstrahiert –, dass derjenige Ofen, der mehr Wärme liefert, objektiv die ‚Hauptursache‘ für das Warmwerden des Zimmers ist. Aber sobald man über diesen Sachverhalt hinausgeht – sobald man, um es mit Mill zu sagen, die große Zahl an Kausalbeziehungen in Betracht zieht, die nicht unter das „Prinzip der Zusammensetzung“ fallen, nach dem die gemeinsame Wirkung mehrerer Ursachen identisch ist mit der Wirkungen, die jede einzeln hervorgerufen hätte190 –, wird der Versuch, die ‚Hauptursache‘ eines Ereignisses objektiv zu bezeichnen, jeder Grundlage enthoben. Welchen Sinn hätte es in der Tat, die Hauptursache eines Ereignisses objektiv von der Gesamtheit seiner Bedingungen zu unterscheiden, wenn das Ereignis das Ergebnis eines Zusammenspiels vieler ursächlicher Momente ist, bei dem das Fehlen eines dieser Momente das Ausbleiben des Ereignisses zur Folge gehabt hätte? Keine Hilfe stellt dabei der eventuelle Bezug auf die unterschiedliche Menge an ‚Arbeit‘ (im physikalischen Sinn) dar, die jedes der beteiligten ursächlichen Momente erfüllt: Die für den Weichensteller notwendige Menge an Arbeit, um den Handgriff auszuführen, ist unendlich viel kleiner als die, um die Abfahrt des Zuges auszulösen, trotzdem ist es (aus den oben genannten Gründen) auch in der Umgangssprache üblich, den fehlenden Handgriff und nicht das Losfahren des Zuges als ‚Hauptursache‘ für das Unglück zu sehen.
190 Zu Mills Unterscheidung zwischen den Wissenschaften, in denen der Kausalzusammenhang vom „Prinzip der Zusammensetzung“ geleitet wird, und jenen, in denen der Kausalzusammenhang „noch“ vom „chemischen Prinzip“ (nachdem das Zusammentreffen zweier Gesetze neue Wirkungen hervorruft, die sich unmöglich aus der separaten Betrachtungen der einzelnen Gesetze ableiten lassen) geleitet wird, siehe: J.S. Mill, System der deductiven und inductiven Logik, op. cit., Teil 1, Drittes Buch, Sechstes Kapitel: „Von der Zusammensetzung der Ursachen“. Auch das Prinzip der Zusammensetzung kennt aber die Möglichkeit, dass die Wirkung die für ihr Eintreten verantwortlichen Ursachen verbirgt: Ein Körper, der zwei gleichstarken und entgegengesetzten Kräften unterliegt, bleibt in einem Ruhezustand, aber deswegen hören die fraglichen Kräfte keinesfalls auf zu wirken. Auf diesem Umstand basiert Mills Überzeugung, dass, „alle Causalgesetze […], da sie alle einer Entgegenwirkung ausgesetzt sind, in Worten ausgedrückt werden [müssen], die nur ihr Bestreben, und nicht ihre wirklichen Resultate ausdrücken“ (ebd., Teil 1, S. 559). Auf diesen problematischen Begriff der „Tendenz“ gründet Mill seinen ‚objektiven‘ Begriff des Wahrscheinlichkeitsquotienten für ein Ereignis als Beziehung zwischen den zu einem Zeitpunkt bestehenden Ursachen, die es hervorrufen, und die zum selben Zeitpunkt bestehenden Ursachen, die es verhindern. Das Aufgreifen dieser Wahrscheinlichkeitsauffassung im Strafrecht durch den Strafrechtler Karl Binding (Die Normen und ihre Übertretung: eine Untersuchung über die rechtmässige Handlung und die Arten des Delikts, Bd. I, Leipzig, 1872, S. 41ff.) wird von Kries kritisch besprochen (Kries 1888, S. 396–399), worauf sich auch Weber auf den Schlussseiten der Kritischen Studien bezieht (KS II, S. 288–290).
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Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung
Kries hebt aber hervor, dass gerade die Begriffe der objektiven Möglichkeit und der adäquaten Verursachung – die, wie wir wissen, immer eine „generalisierende Betrachtung“ des konkreten Falls enthalten – auf den ersten Blick demjenigen neue Argumente zu liefern scheinen, der die logische und wissenschaftliche Konsistenz des Begriffs der Hauptursache verteidigt: „Ist nicht vielleicht Hauptursache das ursächliche Moment, welches generaliter die grösste Möglichkeit für den Erfolg repräsentirt?“191 Bei der Behandlung dieser Frage betont Kries jedoch, dass auch diese Definition der Hauptursache, weit davon entfernt, schlicht und einfach ‚objektiv‘ zu sein, in Wirklichkeit einen wesentlichen Bezug zu unserem subjektiven (mal zustimmenden, mal abweichenden) Interesse für eine gewisse Art von ursächlichen Momenten verbirgt, ein Interesse, das den Gesichtspunkt bestimmt, von dem aus die Generalisierung erfolgt. Was tun wir zum Beispiel genau, wenn wir behaupten, dass das ausbleibende Stellen einer Weiche im Allgemeinen einen größere objektive Möglichkeit für ein Zugunglück beinhaltet und dass dies also als ‚Hauptursache‘ für einen tatsächlich eingetretenen solchen Unfall definiert werden kann? Wir vergleichen auf der Grundlage unseres zusammenlaufenden Interesse für den abweichenden Fall, projektiert auf die Varietät seiner ursächlichen Momente, gewisse allgemeine Kausalzusammenhänge (jene, die typischerweise durch einen falschen Handgriff hervorgerufen werden, und jene, die durch sein korrektes Ausführen eintreten würden), aber zugleich halten wir – indem wir sie als sicher voraussetzen – an einer ganz anderen Reihe von ursächlichen Bedingungen fest (zu denen unter anderem das pünktliche Abfahren des Zuges gehört), ohne deren Mitwirken die von uns festgelegte ‚Hauptursache‘ objektiv ohne Wirkung bleibt. Es verwundert daher nicht, dass es sich auch dieses Mal, sobald die Konvergenz des objektiven Interesses fehlt oder sobald kein unmittelbares Einverständnis über die ursächlichen Momente mehr besteht, die aus den Verflechtungen der konkreten Verursachung isoliert und allgemein miteinander verglichen werden müssen, als vollkommen willkürlich erweist zu behaupten, dass ein bestimmtes ursächliches Moment die ‚Hauptursache‘ für ein gegebenes Ereignis sei, weil es allgemein geeignet ist, sein Eintreten zu begünstigen. Im Kontext dieses Diskurses – der insgesamt darauf ausgerichtet ist, die grundlegende Relevanz übereinstimmender subjektiver (und nicht ausreichend thematisierter) Interessen verschiedener Art in jeder Situation, in der die Alltagssprache anstandslos von den ‚Hauptursachen‘ eines Ereignisses spricht, zu betonen – führt Kries auch und zum ersten Mal das Thema des gemeinsa191 Kries 1888, S. 206.
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men Interesses für „rechtswidrige (schuldhafte)“192 menschliche Handlungen ein, sobald diese Teil der Konstellation von ursächlichen Momenten sind, die zu einem Ereignis führt. Dieses Interesse liegt versteckt der Tendenz einiger Strafrechtler zu Grunde, sich den Begriff der ‚Hauptursache‘ zu eigen zu machen und so das Problem der kriminellen Verantwortung auf die Frage nach der Verursachung zu reduzieren (so dass die Behauptung, ein Mensch sei für einen Schaden haftbar, gleichbedeutend wäre mit, er habe ihn ‚verursacht‘, oder sei zumindest dessen ‚Hauptursache‘): eine Methode, die Kries als ganz und gar unzulässig ansieht193 – auf die wir aber zurückkommen werden –, weil sie uns andersherum zu Behauptungen folgender Art zwingt: Ein Arzt, der mit dem vollem Einverständnis eines sich noch wohlbefindenden und aufgeklärten Patienten eine große und riskante Operation versucht, in deren Folge der Patient stirbt, habe, da er nicht gesetzlich für den Tod des Patienten haftbar ist, ihn nicht einmal verursacht194. Dies vorangestellt kann Kries also 192 Kries 1888, S. 208. 193 „Die neueren Untersuchungen haben mit grosser Klarheit an den Tag gelegt, dass Verantwortlichkeit nur da stattfindet, wo eine Handlung den schädigenden Erfolg verursacht hat […] und außerdem die Handlung an sich eine rechtswidrige (schuldhafte) war“ (ebd., 2. Hervorhebung E.M.). Aber vgl. hierzu auch Kries 1888, S. 399ff., wo er spezifisch Bezug nimmt auf eine ganze Reihe von Autoren und insbesondere auf den Strafrechtler Maximilian von Buri (Über Causalität und deren Verantwortung, Leipzig, 1873). Bei diesem verbinden sich die Übernahme eines streng philosophischen Ursachenbegriffs, der mit der Gesamtheit der Entstehungsbedingungen eines konkreten Ereignisses gleichgesetzt wird, und die daraus folgende Auffassung, dass jede dieser Bedingungen eine conditio sine qua non des fraglichen Ereignisses darstellt (mit dem Ausschluss jeder Möglichkeit, objektiv zwischen den ‚Bedingungen‘ eines Ereignisses und seiner ‚Hauptursache‘ zu unterscheiden), auf bedeutsame Weise mit „dem wichtigen Ergebniss, dass für die Verantwortlichkeit ausser der Causalität und von ihr ganz gesondert noch die Schuld in Betracht gezogen werden müsse“ (ebd., S. 400). 194 Laut Kries gibt es neben dem Fehler von denjenigen, die – durch die problematische Notion der ‚Hauptursache‘ – die rechtliche Beurteilung einer Handlung ausschließlich daraus ableiten wollen, wie sich der Kausalzusammenhang objektiv gestaltet, noch einen anderen: nämlich jenen, im Strafrecht den (ebenfalls problematischen) Begriff der „Unterbrechung des Causalzusammenhanges“ anzuwenden (Kries 1888, S. 210), in der Absicht, darauf den Haftungsausschluss oder die eingeschränkte Haftbarkeit des Handelnden zu gründen. a) Einerseits geschieht dies in Bezug auf Einzelfälle, in denen eine schädigende Handlung nicht alle Wirkungen erzielt, die sie normalerweise geeignet ist hervorzubringen, weil besondere und unvorhersehbare Umstände hinzutreten (ein Mann zündet an einer bevölkerten Stelle eine Bombe, aber die Splitter verletzen niemanden; ein Mann verletzt einen anderen tödlich, aber dieser wird, bevor er an der Verletzung stirbt, von einem Blitz erschlagen). Derartige Vorkommen fallen sicher unter den Begriff des ‚absoluten Zufalls‘ (im erkenntnistheoretischen Sinn), aber nicht unter jenen der „Unterbrechung des Causalzusammenhanges“. Die Explosion und die Verletzung haben in der
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seine eigene kritische Behandlung des Begriffs der Hauptursache oder Ursache κατ’ ν folgendermaßen schließen: „Die Abweichung des Seltenen vom Gewöhnlichen, des neu Eintretenden von dem schon lange Bestehenden, endlich des Rechtmässigen vom Rechtswidrigen: all‘ dies sind Momente, welche unsere Aufmerksamkeit bestimmen und uns zu der Hervorhebung einzelner Ursachen veranlassen. Aber sie sind viel zu heterogen, um in einer einheitlichen Definition zusammengefasst werden zu können. […] Ich glaube daher, dass aus der wissenschaftlichen und namentlich der juristischen Terminologie der Begriff der Hauptursache oder der Ursache κατ’ ν verschwinden sollte; und zwar nicht sowohl deswegen, weil er einigermassen unbestimmbar ist, sondern weil er der Vermischung von verschiedenartigen Betrachtungsweisen seine Entstehung verdankt, die wir sehr wohl trennen können und daher im Interesse der Klarheit und Präcision auch nothwendig trennen müssen“195.
5. Die Begrenzung der Kausalitätsbegriffe und ihre Grenzen Nachdem er einige Begriffe und Begriffspaare zur Theorie der Verursachung (die Unterscheidung zwischen konkreter und abstrakter Verursachung, jene Tat alles hervorgerufen, was sie unter den gegebenen Umständen hervorrufen konnten und mussten. Und auch mit dem Blitz beginnt im kantischen Sinn keine „neue Causalitäts-Reihe“ (ebd.), da er sich aufgrund der bestehenden meteorologischen Bedingungen notwendigerweise gerade in jenem Moment und an jener Stelle entladen musste. „Es ist also hier der Causalzusammenhang nicht unterbrochen, sondern die [an sich] schuldhafte Handlung ist zufolge besonderer Formation des Einzelfalls nicht in der gewöhnlichen Form causal geworden“ (Kries 1888, S. 211). b) Andererseits wird auf den Begriff der ‚Unterbrechung des Kausalzusammenhangs‘ zurückgegriffen, wenn es um die Anstiftung zu Straftaten geht. So wird vertreten, dass wer einen anderen zu einer Straftat anstiftet, weniger strafbar ist, als wenn er die Tat direkt begangen hätte, weil der Zusammenhang zwischen der Tat des Anstifters und der Wirkung durch den Willen des Angestifteten unterbrochen ist. Aber bei genauer Betrachtung stützt sich auch hier die unterschiedliche rechtliche Beurteilung nicht auf eine angenommene objektive Unterbrechung des Kausalzusammenhangs, sondern auf das besondere, vom Handelnden angewendete Mittel. In anderen Worten: „Dass man die Anstiftung anders beurtheilt als die directe Ausführung, ist ohne grosse Schwierigkeit begreiflich zu machen. Es ist aber ebenso überflüssig wie vergeblich, nach einem allgemeinen Begriffe der Verursachung zu suchen, in welchem der Anstifter den verletzenden Erfolg nicht verursacht hat“ (ebd.). c) Kries schließt: „Es zeigt sich daher hier, wie mir scheint, ganz dieselbe fehlerhafte Tendenz, in den Begriff der Verursachung fremdartige Dinge hineinzubringen, wie sie auch in dem Versuche zum Ausdruck kam, das ganze Problem der criminellen Haftbarkeit in den Begriff der Ursache zusammenzudrängen“ (ebd.). 195 Kries 1888, S. 209–210.
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zwischen adäquater und zufälliger Verursachung, die problematische Unterscheidung zwischen ‚Hauptursache‘ und ‚Bedingungen‘ eines Ereignisses) vorgestellt und illustriert hat, kommt Kries auf die im Hinblick auf die „Begrenzung der Causalitäts-Begriffe“ angewandten „Kriterien“ zurück, um deutlicher hervorzuheben, wie diese erlauben, „einen völlig stetigen Uebergang“ zwischen den Bereichen der fraglichen Begriffe zu schaffen196. In anderen Worten: Kries ist überzeugt, dass gerade bei einer strengen und gut begründeten Begrenzung verschiedener Begriffe von Kausalzusammenhängen, anzuerkennen ist, dass diese sich nicht mit scharf voneinander getrennten Begriffsbereichen zu befassen hat, und daher selbst von den eigenen unüberwindbaren Grenzen Kenntnis nehmen muss. Kries stellt diesbezüglich vor allem klar, dass, wenn man nach einem konkreten Kausalzusammenhang fragt, ein gewisser Grad an Unbestimmtheit bereits sowohl im Gegenstand der Frage selbst (dem ursächlichen Moment), als auch in dem, wovon die Frage ihren Ausgang nimmt (der Wirkung) enthalten ist. a) Wir haben oben erklärt, dass die Frage nach der Relevanz eines bestimmten ursächlichen Moments im Hinblick auf das Eintreten eines Ereignisses, heißt sich vorzustellen, dass die Gesamtheit der Bedingungen, die es hervorgerufen haben, nur in gewisser Hinsicht unverändert bleibt, und dann (auf der Grundlage unseres nomologischen Wissens) festzustellen, ob die fragliche Wirkung ebenso und auf welche Weise sie eingetreten wäre. Aber eine Frage dieser Art fordert immer eine „mehr oder weniger unbestimmte“ Antwort heraus, in erster Linie „weil das Verhalten, welches an Stelle des wirklichen gedacht werden soll, nicht scharf anzugeben ist“197. Dieser Umstand ist nicht immer störend: Wenn zum Beispiel Eltern ein gesundes Kind verhungern lassen, ist es ohne weiteres möglich zu behaupten, dass ihr Verhalten die Ursache für den Tod des Kindes gewesen ist; und damit will man sagen, dass das Kind sicherlich am Leben geblieben wäre, wenn es ceteris paribus eine regelmäßige Ernährung bekommen hätte; unzweifelhaft ist jedoch, dass der Begriff ‚regelmäßige Ernährung‘, angewandt im Hinblick auf die gedachte Abwandlung des konkreten ursächlichen Moments, dessen Tragweite geprüft werden soll, an sich eine ziemlich unbestimmte Notion ist; das hat aber in diesem Fall keine Bedeutung, da jedes bestimmte und konkrete Verhalten, das unter dem Begriff der ‚regelmäßigen Ernährung‘ subsumiert werden kann, bei Nichtveränderung der sonstigen Bedingungen das Überleben des Kindes garantiert hätte. Aber die Dinge liegen nicht immer so: Nehmen wir beispielsweise den Fall eines von Geburt an schwachen und kranken Kindes, das von den Eltern vernach196 Kries 1888, S. 211–212 (Hervorhebung E.M.). 197 Kries 1888, S. 212.
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lässigt wird und schließlich stirbt; hier ist es nicht einfach, eindeutig auf die Frage zu antworten, ob die Vernachlässigung durch die Eltern den Tod des Kindes verursacht hat; denn es ist nicht leicht, ceteris paribus festzustellen, welche Behandlung anstelle der faktisch dagewesenen gedacht werden muss, um ihre tatsächliche kausale Wirkung festzustellen; es kann sein, dass das Kind in jedem Fall gestorben wäre oder dass es auch bei einer viel besseren Behandlung gestorben wäre und nur eine außergewöhnliche Pflege es am Leben erhalten hätte. Zweifel dieser Art entstehen häufig, wenn wir fragen, ob ein vernachlässigendes Verhalten einen Schaden verursacht hat, wobei man sich mehr als einmal „aus praktischen Gründen“198 eine präzisere Antwort wünscht. Diesbezüglich unterstreicht Kries ausdrücklich, dass die Zweifel „oft gar nicht auf mangelnder Kenntnis des concreten Thatbestandes beruh[en]“199, sondern vielmehr auf der Schwierigkeit, die spezifischen Züge des zum tatsächlichen Verhalten alternativen Verhaltens mit Exaktheit festzustellen, das heißt die Züge des ‚nur gedachten‘ Verhaltens, das (bei Gleichbleiben der anderen Bedingungen) nicht zu dem schädigenden Erfolg geführt hätte. b) Eine analoge Unbestimmtheit trifft man auch an, wenn man nicht den Gegenstand einer konkreten kausalen Zurechnung (das ursächliche Moment) isoliert betrachtet, sondern das, wovon sie ausgeht (die Wirkung). Zu fragen, ob eine bestimmte Wirkung unter veränderten Bedingungen ebenso eingetreten wäre, heißt zunächst, nur zwei Hauptfälle zu unterschieden: jenen, in dem die fragliche Wirkung ebenso eingetreten wäre, und jenen, in dem sie nicht eingetreten wäre. Wir wissen aber, dass wir auch unter diesen Umständen nie Bezug nehmen auf den tatsächlichen Erfolg „in seiner vollen concreten Bestimmtheit“, sondern „wir haben dabei eine verallgemeinerte Vorstellung im Auge, welche dem realen Thatbestande entnommen ist“200 und nur das isoliert, was uns von der realen Wirkung interessiert: Nach dem Einfluss eines ursächlichen Moments auf den Tod eines Menschen zu fragen, bedeutet zu fragen, ob bei dessen Nichtvorhandensein der Tod ebenfalls eingetreten wäre, und nicht, ob bei dessen Nichtvorhandensein der Tod auf genau die gleiche Weise eingetreten wäre (an derselben Stelle, in derselben Position usw.)201. Aber wenn man dies alles berücksichtigt, ist leicht erkennbar, dass es „unter Umständen nun […] zweifelhaft werden [kann], wie weit diese Verallgemeinerung zu gehen hat, ob irgend eine Modification des factischen Verlaufs noch als ‚derselbe Erfolg‘
198 Kries 1888, S. 213. 199 Ebd. 200 Ebd. 201 Vgl. oben, Fußnoten 162 und 163.
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bezeichnet werden soll oder nicht“202. Auf diese Weise fügt sich zwischen die beiden oben genannten Hauptfälle eine unendliche Reihe möglicher Variationen des fraglichen Erfolgs ein (oder besser dessen, was uns an dem fraglichen Erfolg interessiert), so dass das Nichtvorhandensein der Kausalbeziehung ohne Unterbrechung in ein Vorhandensein derselben übergehen kann und umgekehrt. Nehmen wir beispielsweise an, dass das Leben eines unheilbar erkrankten Patienten noch verkürzt wird, da ihm ein bestimmtes Medikament nicht verabreicht wurde: Falls das Medikament das Leben des Patienten nur noch um wenige Minuten verlängert hätte, wird niemand die Nichtverabreichung als Todesursache ansehen; je mehr man die vermutliche Überlebenszeit jedoch verlängert, desto mehr gelangt man stufenweise zu jenen Fällen, in denen die fehlende Verabreichung des Medikaments ohne weiteres als Ursache für den Tod bezeichnet werden kann. „Die beiden soeben erörterten Unbestimmtheiten“ – schreibt Kries weiter mit Bezug auf die Probleme einer konkreten kausalen Zurechnung – „wurzeln, wie man sieht, nicht sowohl in den Verursachungsbegriffen, als vielmehr darin, dass das ursächliche Moment und der Erfolg, über deren Zusammenhang etwas ausgesagt werden soll, nicht scharf zu definiren sind. Aber auch die Causalitäts-Begriffe selbst sind zum Theil nicht scharfe, sondern bezeichnen eigentlich Arten des Zusammenhangs, welche nur graduell verschieden sind, zwischen welchen stetige Uebergänge stattfinden können“203. Hier ist insbesondere hervorzuheben, dass die objektive Möglichkeit, die einige allgemeine Bedingungen für das Eintreten eines Ereignisses darstellen, immer einen Wert zwischen 0 und 1 haben muss. In anderen Worten, wir sagen gewöhnlich, dass ein gewisses ursächliches Moment bestimmend für das Eintreten eines Ereignisses gewesen ist, wenn wir (auf der Grundlage unseres nomologischen Wissens) behaupten können, dass seine Abwesenheit oder Modifikation generell das Eintreten des fraglichen Erfolgs näher an die 0 herangebracht hätte, und andersherum, dass ein gewisses ursächliches Moment nicht bestimmend war, wenn seine Abwesenheit oder Modifikation diesen Wert nahe an der 1 gehalten hätte. Aber ein solcher Ansatz impliziert, dass „das eine Verhalten […] in das andere ohne fixirbare Grenze über[geht]“204. Das bedeutet, „dass auch zwischen adäquaten und zufälligen Verursachungen eine scharfe Grenze nicht gezogen werden kann“205, zumindest, wenn man nicht den Begriff der zufälligen Verursachung so eng sehen will, dass er unter den absoluten Zufall 202 Kries 1888, S. 213. 203 Kries 1888, S. 214. 204 Kries 1888, S. 215. 205 Ebd.
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Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung
(natürlich in erkenntnistheoretischem Sinn) fällt, also unter all jene Umstände, in denen ein gewisses ursächliches Moment für unser nomologisches Wissen die generelle Möglichkeit für das Eintreten eines Ereignisses mathematisch unverändert lässt. Das ist der Fall bei den Glücksspielen, bei denen beispielsweise jegliche Art des korrekten Würfelns die generelle Möglichkeit für ein bestimmtes Ergebnis mathematisch unverändert lässt. Aber das ist nicht das Kriterium, das vom „gewöhnlichen Sprachgebrauch“ angewandt wird, der überall dort von zufälliger Verursachung spricht, „wo das ursächliche Moment generell den Erfolg nur in minimalem Masse begünstigt“206, und damit die Unterscheidung zwischen minimalen und maximalen Werten der Begünstigung aufwirft, mit allem, was daraus für die Unmöglichkeit folgt, eine klare Grenze zwischen dem Begriff der zufälligen und der adäquaten Verursachung zu ziehen. Nehmen wir das Beispiel eines Reisenden, der aufgrund eines Zugunglücks gezwungen ist, einige Stunden in einer Stadt zu verweilen, in der er eigentlich nicht vorhatte zu bleiben, und der sich dort mit einer ansteckenden Krankheit infiziert und daran stirbt: Der allgemeine Sprachgebrauch wird ohne zu zögern das Zugunglück als ‚zufällige Verursachung‘ des Todes bezeichnen, da ein Eisenbahnunfall nicht generell geeignet ist, einen Tod dieser Art hervorzurufen; trotzdem lässt sich nicht leugnen, dass Zugunglücke Reisende dazu zwingen können, ihre Pläne zu ändern und sich an gesundheitsschädlichen Orten aufzuhalten, die sie sonst gemieden hätten; es lässt sich also nicht leugnen, dass Zugunglücke die Möglichkeit erhöhen, sich mit einer ansteckenden Krankheit zu infizieren; es ist klar, dass in diesem Fall dieser Anstieg minimal ist und in jedem Fall in eine ‚andere Größenordnung‘ fällt als das, wovon man gewöhnlicherweise bei der adäquaten Verursachung spricht; aber im Prinzip ist nicht gesagt, dass die Dinge immer auf die gleiche Weise ablaufen. Also: „Es ist wohl klar dass der Begriff der zufälligen Verursachung, ausser etwa im Gebiete der Zufallsspiele, gar nirgend in Anwendung kommen würde, wenn man ihn in dem erwähnten mathematisch strengen Sinne nehmen wollte. Legen wir also die Auffassung des allgemeinen Sprachgebrauchs zu Grunde, so ist ersichtlich, dass schon wegen der stetigen Abstufung der Grössenwerthe die beiden in Rede stehenden Begriffe (adäquate und zufällige Verursachung) ohne bestimmte Grenze in einander übergehen“207. Es gibt im Übrigen auch noch einen anderen Grund, aus dem davon abzuraten ist, zu streng zwischen den Begriffen der adäquaten und der zufälligen Verursachung zu unterscheiden. Beide stützen sich von Anfang an (genauso wie auch der Begriff der objektiven Möglichkeit) auf „eine generalisirende Be206 Kries 1888, S. 216. 207 Ebd.
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trachtung des Einzelfalls“208 und seine Entstehungsbedingungen; und ohne diese Betrachtung würden wir schlicht und einfach auf das Prinzip zurückverwiesen, dass jedes tatsächlich eintretende konkrete Ereignis notwendigerweise von der Gesamtheit der zuvor bestehenden Bedingungen hervorgerufen wird, sowie auf den bloß subjektiven und, um es so zu sagen, ‚negativen‘ Begriff der Möglichkeit, der sich aus diesem Prinzip ableitet. „Nun versteht es sich von selbst, dass der concrete Fall, an den die Fragestellung anknüpft, in sehr verschiedener Weise generalisirt werden kann“209. Zunächst könnte uns dies sogar zu dem Gedanken verleiten, dass die Unterscheidung zwischen adäquater und zufälliger Verursachung, da sie vollständig von der Art abhängt, wie der konkrete Kausalzusammenhang generalisiert wird, immer „eine rein willkürliche sei, da der reale Sachverhalt gar nicht bestimmt vorzeichne, auf welchen abstrakten ursächlichen Zusammenhang es behufs dieser Unterscheidung eigentlich ankomme“210. Aber um uns vom Gegenteil zu überzeugen, reicht schon ein Blick auf die Sicherheit, mit der der allgemeine Sprachgebrauch behauptet, dass ein Ereignis eine zufällige Ursache hat oder nicht. Es geht nun darum zu verstehen, „wie dies kommt, und unter welchen Umständen andererseits die Unterscheidung wirklich eine mehr oder weniger willkürliche wird“; und das ist nur dann möglich, „wenn wir die Art und Weise der Generalisirungen, derer wir uns zu bedienen pflegen, etwas genauer ins Auge fassen“211. a) Indem er an die zuvor zum absoluten Zufall (im erkenntnistheoretischen Sinn) gemachten Ausführungen anknüpft, hebt Kries insbesondere hervor, dass die verbreitetste, bestimmteste und „engste“ Art der Generalisierung, der der konkrete Fall unterliegt, jene ist, die uns dazu bringt, von ihren „feinsten unerkennbaren Besonderheiten“ abzusehen: „Wir nennen die Verursachung stets eine zufällige, wenn sich behaupten lässt, dass schon bei der Generalisirung nach Massgabe unserer Erkenntnissfähigkeit, das betreffende Moment den Erfolg nicht generell begünstigt, dass, mit anderen Worten, in Fällen, die hinsichtlich der bedingenden Umstände dem vorliegenden bis zur völligen Ununterscheidbarkeit gleichen, der Erfolg nur verschwindend selten durch das betreffende Moment bewirkt oder sehr annähernd ebenso oft bewirkt wie verhindert wird“212. b) Jede weitere Generalisierung kann dagegen nur dann auf „bestimmte Anhaltspunkte“ zählen, wenn es gute Gründe dafür gibt, dass „der vorliegende Fall
208 Ebd. 209 Kries 1888, S. 216–217. 210 Kries 1888, S. 217. 211 Ebd. 212 Ebd.
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als Beispiel einer bestimmten Kategorie aufgefasst werden kann“213. Nehmen wir an, dass ein Mann A einem Mann B eine gewisse Menge Arsen verabreicht und dieser stirbt: Zu fragen, ob zwischen der Tat von A und dem Tod von B ein Verhältnis adäquater Verursachung besteht, heißt zu fragen, ob die Verabreichung einer solchen Menge von Arsen geeignet ist, den Tod eines Menschen herbeizuführen oder nicht; auf diese Weise werden jedoch sowohl das konkrete ursächliche Moment als auch der konkrete Erfolg einer Generalisierung unterzogen (man spricht generaliter von der Verabreichung einer gewissen Menge von Arsen an einen Menschen und, entsprechend, vom Tod eines Menschen); trotzdem ist eine solche Generalisierung nicht willkürlich, sondern stützt sich auf den objektiven Sachverhalt, dass die fraglichen biologischen Phänomene im Durchschnitt einen konstanten Verlauf aufweisen214. c) Das schließt aber nicht aus, dass Inhalt und Umfang des allgemeinen Begriffs, unter den sich der Einzelfall objektiv subsumieren lässt, nicht selbstverständlich bestimmt werden können: Es wäre, um bei dem Beispiel zu bleiben, ohne weiteres zulässig, mit einem inhaltsreicheren allgemeinen Begriff (von also geringerem Umfang) zu arbeiten und zu fragen, ob die fragliche Menge Arsen geeignet ist, den Tod eines Alten, eines Kindes, eines Bewohners einer bestimmten Region usw. hervorzurufen215, wobei in all diesen Fällen die Antwort auf die Frage nach einem Verhältnis adäquater Verursachung zwischen der Tat von A und dem Tod von B unterschiedlich ausfallen könnte. Weiterhin ist zu sagen, dass die Anerkennung eines Verhältnisses adäquater Verursachung zwischen einem ursächlichen Moment und einem Erfolg nicht immer bedeutet, dass diese „generelle […] Begünstigung“216 durch einen präzisen Zahlenwert bestimmt werden kann217. d) Wenn es trotz dieser notwendigen Vorsicht viele Fälle gibt, bei denen es ohne zu zögern möglich ist, von adäquater oder zufälliger Verursachung zu sprechen, so liegt das daran, dass in solchen Fällen „die genauen Bestimmungen über Art und Umfang der Generalisirung und die genauere zahlenmässige Gestaltung der zu vergleichenden Möglichkeit zumeist ganz irrelevant sind“218. Nehmen wir an, um noch einmal dasselbe Beispiel zu verwenden, dass die 213 Ebd. 214 Kries greift hier ein Thema auf, das er bereits zuvor in Bezug auf den Begriff der objektiven Möglichkeit erwähnt hat (vgl. oben, Fußnote 135). 215 „Wir können, mit anderen Worten, an einer kleineren oder grösseren Zahl von Bestimmungen des concreten Falles festhalten und nur bezüglich der übrigen allgemeine Bestimmungen zu Grunde legen“ (Kries 1888, S. 218). 216 Ebd. 217 Auch hier kommt Kries auf Fragen zurück, die er bereits in Bezug auf den Begriff der objektiven Möglichkeit angesprochen hatte (vgl. oben, Fußnoten 136 und 137). 218 Kries 1888, S. 218.
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B verabreichte Menge Arsen ausreichend hoch war: In diesem Fall wäre die Verabreichung an einen alten Menschen oder ein Kind noch eher als an einen erwachsenen Mann zweifelsohne „mehr oder weniger geeignet“ gewesen, die tödliche Wirkung hervorzurufen, aber ein „genereller Zusammenhang“ mit der tödlichen Wirkung könnte „überhaupt ganz unbedenklich und ohne Rücksicht auf diese Unbestimmtheit der Betrachtung bejaht werden“219. e) „Dagegen macht sich allerdings die Unbestimmtheit der Abgrenzung zwischen adäquater und zufälliger Verursachung allemal geltend, wenn die Art der Generalisirung für das Ergebniss von entscheidender Bedeutung wird“220. Gewiss ist in vielen Fällen ein ursächliches Moment, das in einem konkreten Kausalzusammenhang eine bestimmte Wirkung erzielt hat, umso mehr adäquat, ihn auch allgemein hervorzurufen, je geringer der Umfang des Begriffes ist, unter den der konkrete Kausalzusammenhang eingeordnet wird: Die Menge Arsen, die B getötet hat, kann in einem Verhältnis adäquater Verursachung zu dem Tod von B stehen, wenn man fragt, ob sie allgemein geeignet war, ein Kind oder einen alten Menschen zu töten, und in einem Verhältnis zufälliger Verursachung zu dem Tod von B stehen, wenn man allgemeiner fragt, ob sie geeignet war, einen Menschen zu töten. Aber dies bestätigt, dass „adäquat und zufällig […] dann auch aus diesem Gesichtspunkte als graduelle Unterschiede“ erscheinen, mit der selbstverständlichen Konsequenz, dass es „auch aus diesem Gesichtspunkte“ nicht immer möglich ist, klar auf die Frage zu antworten, ob in dem konkreten Fall eine adäquate oder eine zufällige Verursachung vorliegt, und zwar nicht wegen mangelnder Kenntnis des konkreten Falls und seiner Dynamik, sondern wegen der „Unbestimmtheit der Frage“, der „Stetigkeit des Uebergangs zwischen den beiden in Anwendung kommenden Begriffen“221.
6. Erkenntnisinteresse und praktische Motivationen: Weber und Kries, Weber vs. Kries Auch wenn er aus einer Vielzahl von Gesichtspunkten auf die Nähe zwischen den Begriffen der zufälligen und der adäquaten Verursachung schließt, hält Kries es für „sehr fehlerhaft“, aus diesem Umstand die „Verkehrtheit“ grundsätzlich jeder Frage nach der Zufälligkeit oder Adäquatheit eines konkreten Kausalzusammenhangs abzuleiten222. Im Gegenteil, es sei einfach, für eine 219 Kries 1888, S. 219. 220 Ebd. 221 Kries 1888, S. 219–220. 222 Kries 1888, S. 220.
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Behandlung der konkreten Kausalzusammenhänge „gänzliche Werth- und Interesselosigkeit“223 zu zeigen, wenn sie systematisch darauf abzielt, diese Art Fragen zu umgehen. Stehen wir vor einem konkreten Kausalzusammenhang, so fragen wir uns, „wie der Gang der Ereignisse gewesen wäre, wenn die Bedingungen sich in gewisser Hinsicht anders verhalten hätten, als es factisch der Fall war; aber es hat offenbar nicht den mindesten Werth, einfach zu constatiren, dass in diesem Falle der Erfolg von dem wirklich eingetretenen in irgend einer Weise verschieden gewesen wäre; die ganze Untersuchung gewinnt erst dann eine Bedeutung, wenn wir auch die Art dieses Unterschiedes ins Auge fassen und fragen, ob irgend ein an dem einen Verlauf uns interessirendes Merkmal auch von dem anderen aufgewiesen werde oder nicht“224. Aber das schließt unmittelbar ein, dass der konkrete Kausalzusammenhang jenem generalisierenden und isolierenden Abstraktionsprozess unterzogen wird, der die Formulierung objektiver Möglichkeitsurteile erlaubt und es also ‚sinnvoll‘ macht – in den Grenzen des Möglichen – nach der Zufälligkeit oder Adäquatheit des betreffenden Zusammenhangs zu fragen: Von der konkreten Wirkung und ihren vielfältigen Bestimmungen werden nur die Charakteristika abstrahiert, die uns interessieren; von dem tatsächlichen Komplex der bedingenden Momente werden nur jene isoliert und frei verändert, von denen man den kausalen Einfluss auf die Eigenschaften des Erfolgs, die uns interessieren, prüfen will; der konkrete Kausalzusammenhang verwandelt sich also in einen Einzelfall eines oder mehrerer abstrakter Kausalzusammenhänge, so dass er von unserem nomologischen Wissen geprüft werden kann, von dem die allgemeinen objektiven Möglichkeitsurteile ein vollwertiger Teil sind (im Vergleich zu denen, sogar jene Urteile, die die notwendige Verbindung oder den notwendigen Ausschluss derselben zwischen einer gewissen Art von Bedingungen und einer gewissen Art von Konsequenzen sichern, nur einen Grenzfall darstellen)225. Wie wir wissen, werden diese Kries’schen Argumentationen von Weber vollständig rezipiert, der sie im zweiten Teil der Kritischen Studien aufgreift und auf die kausale Betrachtung des historischen Geschehens anwendet: „Die Erwägung der kausalen Bedeutung eines historischen Faktums wird zunächst mit der Fragestellung beginnen: ob bei Ausschaltung desselben aus dem Komplex 223 Ebd. 224 Ebd. 225 Mathematisch ausgedrückt sind das die Eins und die Null der ‚dichten Menge‘ der Werte zwischen eins und null. Aber wir wissen, dass es nicht immer möglich ist, der größeren oder kleineren objektiven Möglichkeit, die gewisse Bedingungen für das Eintreten eines bestimmten Ereignisses darstellen, einen präzisen Zahlenwert zuzuerkennen.
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der als mitbedingend in Betracht gezogenen Faktoren oder bei seiner Abänderung in einem bestimmten Sinne der Ablauf der Geschehnisse nach allgemeinen Erfahrungsregeln eine in den für unser Interesse entscheidenden Punkten irgendwie anders gestaltete Richtung hätte einschlagen können, – denn nur darauf, wie jene uns interessierenden ‚Seiten‘ der Erscheinung durch die einzelnen mitbedingenden Momente berührt werden, kommt es uns ja an. Ist freilich auch auf diese wesentlich negative Fragestellung ein entsprechendes ‚objektives Möglichkeitsurteil‘ nicht zu gewinnen, war also – was dasselbe besagt – nach Lage unseres Wissens auch bei Ausschaltung oder Abänderung jenes Faktums der Ablauf in den ‚historisch wichtigen‘, d.h. uns interessierenden, Punkten nach allgemeinen Erfahrungsregeln gerade so, wie er erfolgt ist, ‚zu erwarten‘, dann ist jenes Faktum eben auch in der Tat kausal bedeutungslos und gehört absolut nicht in die Kette hinein, welche der kausale Regressus der Geschichte herstellen will und soll“226. Daher bedeutet für Weber die Aussage, die Schlacht von Marathon sei ein Ereignis, dass vollständig in die von der Geschichtswissenschaft erstellte Kausalkette fällt, in Wirklichkeit, dass ein Sieg der Perser auf der Grundlage der allgemeinen Erfahrungsregeln eine ‚adäquate Ursache‘ für die Veränderung der hellenischen Kultur im 5. Jahrhundert in den historisch bedeutsamen (oder für uns interessanten) Punkten dargestellt hätte; wogegen andersherum die Behauptung, dass die Frage nach der Herkunft der beiden Schüsse, die im März 1848 die Revolution in Berlin auslösten, sehr relativ unter den vom Historiker hergestellten kausalen Regressus fällt, in Wirklichkeit ebenfalls auf der Grundlage der allgemeinen Erfahrungsregeln aussagt, dass in der gegebenen Situation jede andere ‚zufällige Ursache‘ genauso hätte den Konflikt auslösen können. Im weiteren Verlauf von Kries’ Argumentation wird jedoch ausdrücklich die typisch positivistische – nicht von Weber und noch weniger von Rickert geteilte – Ansicht betont, dass, von einem reinen Erkenntnisstandpunkt (das heißt einer rein wissenschaftlichen Perspektive) aus, das, was uns am einzelnen Verlauf der Ereignisse interessiert, immer und in jedem Fall mit dem zusammenfällt, was dieser mit anderen Verläufen derselben Art gemeinsam hat, was uns wiederum erlaubt, bezüglich letzterer zuverlässige Vorhersagen zu machen. „Das Interesse eines concreten Causalzusammenhangs“ – so Kries – besteht „auch ganz überwiegend darin, dass wir aus ihm allgemeine Schlüsse ziehen können, nach welchen wir unsere Erwartungen auch in weiteren ähnlichen Fällen regeln dürfen. Ob dies der Fall, ob die Verursachung eine adäquate ist, wird daher stets gefragt werden müssen. In der That hat die Aufsuchung rein singulärer Causalzusammenhänge zwar ein sehr weites Feld, da eine kleine Dif226 Vgl. KS II, S. 282–283.
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ferenz in der jetzigen Formation der Verhältnisse die grössten Unterschiede betreffs eines zukünftigen Geschehens bedingen kann, ist aber meist ein müssiges Spiel der Phantasie ohne tiefere Bedeutung (man denke an die Anekdoten, die gelegentlich unter der Ueberschrift Kleine Ursachen, grosse Wirkungen verbreitet werden!)“227. Im Übrigen, fährt Kries fort, bedeutet die Frage, wie die Ereignisse verlaufen wären, wenn bestimmte Bedingungen verändert gewesen wären, nicht gezwungenermaßen jeden einzelnen Kausalzusammenhang unter die Begriffe der zufälligen oder der adäquaten Verursachung einzuordnen: im Gegenteil, „die rein […] naturwissenschaftliche Untersuchung“, aber auch die „rein historische“ wird die „Rubricirung […] jedes einzelnen Falles in eine dieser Kategorien […] für durchaus überflüssig erklären“228. Diese letzten Betrachtungen (und insbesondere die Anspielung auf eine ‚rein historische Untersuchung‘, die insgesamt nach dem Modell der Naturwissenschaften und ihrer Erkenntnisziele gedacht ist) zeigen klar, dass Kries in Wirklichkeit sehr weit von der Ansicht entfernt war, dass das rein wissenschaftliche Interesse nicht etwa auf das ‚Allgemeine‘, verstanden als allen gemein, sondern auf das ‚Allgemeine‘, verstanden als aufgrund seiner besonderen Individualität bedeutsam für alle, gerichtet sein könnte229. Nur ein solches Kriterium zur Trennung des Wesentlichen vom Unwesentlichen – eben das historisch-individualisierende – erlaubt in der Tat dem wissenschaftlichen Interesse, den eigentlichen Begriff des historischen Individuums zu konstruieren (in Rickerts Terminologie, die auch Weber aufgreift, ist das das „primäre historische Individuum“, sei es eine einzelne historische Persönlichkeit oder der gesamte Kontext, dessen Teil sie ist, eine Kultur oder die Universalgeschichte), aber auch, sich an seine ‚individuelle Ursache‘ zu wenden, an die Konstellation seiner Entstehungsbedingungen (also an das zusammengesetzte und sehr weite Ganze der „sekundären historischen Individuen“)230. Das heißt im Grunde, 227 Kries 1888, S. 220–221. 228 Kries 1888, S. 221 (1. Hervorhebung E.M.). 229 Vgl. oben, Fußnote 28. 230 Vgl. oben, Fußnote 48, aber auch KS I, S. 257: „Offenbar sind tatsächlich in E. M[eyer]s Ausführungen […] zwei verschiedene Begriffe von ‚historischen Tatsachen‘ ineinander geschoben: einmal solche Bestandteile der Wirklichkeit, welche, man kann sagen: ‚um ihrer selbst willen‘, in ihrer konkreten Eigenart als Objekte unseres Interesses ‚gewertet‘ werden, zum anderen solche, auf welche unser Bedürfnis, jene ‚gewerteten‘ Bestandteile der Wirklichkeit in ihrer historischen Bedingtheit zu verstehen, beim kausalen Regressus als ‚Ursachen‘, als historisch ‚wirksam‘ in E. M[eyer]s Sinn, stößt. Man kann die ersteren historische Individuen, die letzteren historische (Real-)Ursachen nennen und sie mit Rickert als ‚primäre‘ und ‚sekundäre‘ historische Tatsachen scheiden. Eine strikte Beschränkung einer historischen Darstellung auf die historischen ‚Ursachen‘, die ‚sekundären‘ Tatsachen Rickerts, die ‚wirksamen‘ Tatsachen E. M[eyer]s, ist uns natürlich nur
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mit Hilfe unseres unverzichtbaren nomologischen Wissens (des ‚Allgemeinen‘, verstanden als das, was ‚allen gemein‘ ist) aber auch mit dem Bewusstsein, kein „müssiges Spiel der Phantasie“ zu spielen und also keine als „überflüssig“231 angesehene Operation durchzuführen, nach der Adäquatheit einiger „rein singulärer“ Kausalzusammenhänge zu fragen. Und trotzdem erachtet Kries selbst die Frage nach der Adäquatheit einiger „rein singulärer Causalzusammenhänge“ nicht immer für müßig oder überflüssig: Der Wunsch, eine einzelne kausale Zurechnung (oder genauer, gewisser besonderer Aspekte von ihr, die für uns bedeutsam sind) unter die Kategorien der adäquaten oder der zufälligen Verursachung einzuordnen, obwohl dies wenig mit dem Erkenntnisinteresse zu tun hat, kann tief im praktischen und wertenden Leben verwurzelt sein. In seiner Überleitung zur Behandlung des „Begriff[s] des ursächlichen Zusammenhangs im Strafrecht“232, schreibt Kries: „Eine wirkliche Bedeutung gewinnt die Abgrenzung der mehrerwähnten Gegensätze [zwischen adäquater und zufälliger Verursachung] erst dann, wenn sich an die Subsumption des Einzelfalles unter die eine oder die andere Kategorie eine bestimmte praktische Consequenz knüpft, und wenn die Subsumption gerade dadurch erfolgreich wird, dass wir nur zwischen zwei Behandlungsweisen wählen können. Wenn z.B. das Strafrecht so zu Werke geht, dass es einfach in Frage bringt, ob Jemand für einen verletzenden Erfolg haftbar ist oder nicht (wozu es ja seine guten Gründe haben kann), so wird offenbar die Aufgabe entstehen, die Bedingungen für diese Haftbarkeit anzugeben, und es wird über ihr Zutreffen oder Nichtzutreffen in jedem Einzelfalle entschieden werden müssen. Wenn es daher auch hier auf gewisse Verhältnisse des Causalzusammenhangs ankommt, so wird jetzt aus einem Grunde ganz anderer Art eine möglichst genaue Abgrenzung der Kategorien erforderlich sein; es versteht sich dabei aber von selbst, dass diese nicht nach rein logischen, sondern nach Gesichtspunkten der rechtlichen Beurtheilung wird stattfinden müssen“233. Um diese Argumentation bis in ihre Tiefe zu verstehen, muss man – wie wir es gleich tun werden – jene Seiten des Aufsatzes von 1888 analytisch untersuchen, auf denen sich Kries speziell mit der Einwirkung der Begriffe der objektiven Möglichkeit und der adäquaten Verursachung im Strafrecht befasst. Zunächst scheint es mir jedoch wichtig, allgemein hervorzuheben, dass eine solche Betonung der praktisch-wertenden Wurzel jeder im wesentlichen ‚idiomöglich, wenn bereits eindeutig feststeht, um die kausale Erklärung welches historischen Individuums es sich ausschließlich handeln soll“. 231 Vgl. oben, Fußnoten 227 und 228. 232 Kries 1888, S. 222. 233 Kries 1888, S. 221–222 (Hervorhebungen E.M.).
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grafischen‘ Behandlung der konkreten Kausalzusammenhänge Weber nicht indifferent lassen konnte. a) Hierbei darf man nicht vergessen, dass Rickert selbst in den Grenzen bei seinen Überlegungen dazu, wie die historisch-individualisierenden Wissenschaften das Mannigfaltige der Anschauung begrifflich erarbeiten, „die ursprünglichste historische Auffassung als die individualisirende Wirklichkeitsauffassung des praktischen Lebens“234 bezeichnet, oder auch als „den Gesichtspunkt, von dem jeder fühlende, wollende und handelnde, kurz jeder stellungnehmende und also jeder wirkliche Mensch bei seiner Auffassung der Welt geleitet ist“235. Er schreibt weiterhin: „Wer lebt, d.h. sich Zwecke setzt und sie verwirklichen will, kann die Welt niemals nur mit Rücksicht auf das Allgemeine, sondern er muss sie auch mit Rücksicht auf das Besondere ansehen, denn nur so vermag er in der überall individuellen Wirklichkeit sich zu orientiren und zu wirken. Ein Theil der Objekte kommt auch für ihn nur in soweit in Betracht, als sie Exemplare von Gattungsbegriffen sind, andere dagegen werden gerade durch ihre Einzigartigkeit wichtig“236. Von dieser ‚ursprünglichsten historischen Auffassung‘, die immer durch „Werthgesichtspunkte“ geleitet ist237, unterscheidet sich laut Rickert die eigentliche Geschichtswissenschaft aus zwei Gründen: sowohl weil die Objekte, die sie wegen ihrer Einzigartigkeit für wichtig erachtet, dies auch für alle anderen Mitglieder der Gemeinschaft sind, an die der Historiker sich wendet, als auch, weil der Historiker „wohl die Gesichtspunkte der Betrachtung mit dem praktischen Menschen gemein [hat], nicht aber das Wollen und Werthen selbst“238. b) Nun wurde dieses letzte Argument von Rickert (das an der Grundlage der wichtigen Unterscheidung zwischen Wertung und Wertbeziehung steht) zweifelsohne von Weber rezipiert239: Auch für ihn müssen die historischen Kulturwissenschaften in der Lage sein, eine „Wert-Interpretation“ zu schaffen, die sich nicht schlicht und einfach in einem „Werturteil“240 auflöst. Aber während bei Rickert die Autonomie der ‚Wertbeziehung‘ eine Art letzte Bestätigung durch das ehrgeizige theoretische Projekt eines ‚offenen Systems‘ formal-allgemeiner Werte erhält, das den Ergebnissen der historischen Kulturwissenschaften eine absolute „kritische Objektivität“ liefert241, erweist sich dagegen bei Weber diese Autonomie 234 Grenzen 1902, S. 354. 235 Grenzen 1902, S. 353. 236 Grenzen 1902, S. 353–354. 237 Grenzen 1902, S. 354. 238 Grenzen 1902, S. 356. 239 Wie im Übrigen auch das erste: Vgl. den vierten Abschnitt der ersten Studie in diesem Band. 240 KS I, S. 245–246. 241 Grenzen 1902, S. 674ff.
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immer als eine relative Autonomie, die sich nie so stark verhärten kann, dass sie die praktisch-wertenden Wurzeln der historischen Kulturwissenschaften beseitigt und vergessen lässt, dass „transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft […] nicht etwa [ist], daß wir eine bestimmte oder überhaupt irgend eine ‚Kultur‘ wertvoll finden, sondern daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen“242. Auf dieser Grundebene (und trotz jeder einseitigen Interpretation des weberschen Themas der Wertfreiheit) ist Weber immer in gewisser Weise von dem überzeugt geblieben, was er – laut Rickert – nur gegen ihn einwendete, bevor er die pars construens der Grenzen kannte und rezipierte: „Geschichte sei als reine Wissenschaft nicht zu verstehen“243. c) Angesichts einer solchen begrifflichen Grundlage betrachtet Weber mit verständlichem Interesse die Kries’sche Idee, die Theorie der adäquaten Verursachung im Strafrecht zu verwenden, einem Gebiet, das der Schüler von Helmholtz für von den (nach seiner Ansicht) generalisierenden Interessen der Wissenschaft als solcher vollkommen losgelöst hielt, da es dagegen vielmehr geprägt sei von einer Aufmerksamkeit praktischer und wertender Art für einzelne und besondere Aspekte eines konkreten Kausalzusammenhangs. d) Einerseits meint Weber in der Tat – mit Rickert und über Rickert hinaus –, dass auch die Kulturwissenschaften unvermeidlich von einem Wertgesichtspunkt ausgehen und gerade deswegen in der Lage sind, die Individualität des Realen zu thematisieren und nach dessen Entstehungsbedingungen zu fragen, ohne einer unzulässigen Auffassung der Erkenntnis, verstanden als Abbild, auch nur das Geringste zuzugestehen244. Im ersten Teil der Kritischen Studien schreibt Weber folglich: „Wenn wir […] ein konkretes Objekt ‚wertanalysierend‘ behandeln, d.h. in seiner Eigenart derart ‚interpretieren‘, daß uns die möglichen Wertungen seiner ‚suggestiv‘ nahegebracht werden, ein ‚Nacherleben‘, wie man es (freilich sehr inkorrekt) zu nennen pflegt, einer Kulturschöpfung beabsichtigt wird, so ist das […] noch keine ‚historische‘ Arbeit, aber es ist allerdings die ganz unvermeidliche ‚forma formans‘ für das historische ‚Interesse‘ an einem Objekt, für dessen primäre begriffliche Formung als ‚Individuum‘ und für die dadurch 242 M. Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, op. cit., S. 146–214 (im Folgenden: OssE), S. 180. 243 H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, fünfte, verbesserte, um einen Anhang und ein Register vermehrte Auflage, Tübingen, 1929, Vorwort zur dritten und vierten Auflage, Oktober 1921, S. XIV- XXVI, S. XXIV. Aber vgl. Auch den ersten Abschnitt der ersten Studie in diesem Band. 244 Vgl. oben, I.3.
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erst sinnvoll mögliche kausale Arbeit der Geschichte“245. e) Aber andererseits ist Weber auch überzeugt, dass der Wertgesichtspunkt, der als Prinzip der Auswahl für gewisse Züge des Wirklichen dient, die „durch ihre Einzigartigkeit wichtig“246 sind, im Verlauf der Erkenntnis einem Prozess der Objektivierung unterstehen muss, der sich nicht darin erschöpft zu verhindern, dass die aufmerksame ‚Wertanalyse‘ der fraglichen Phänomene ein Werturteil formuliert oder suggeriert. Die „schlichte Arbeit kausalen Verständnisses der historischen Wirklichkeit“ erweist sich gewiss nur ausgehend von der genannten Wertanalyse als „sinnvoll“, muss aber dann autonom und entzaubert auf eigene Rechnung vorgehen247. Negativ gesehen bedeutet das, in keiner Weise der typisch emanatistischen Versuchung nachzugeben (die in vielfältiger Gestalt immer in den historischen Kulturwissenschaften lauern), „‘das Wichtiger-Scheinende die Ursache des minder Wichtigen zu nennen‘“248, sondern sich dagegen der Tatsache bewusst zu sein, dass das unaufhaltsame Prinzip der Verursachung in der Lage ist, jede stabile, dem Entwicklungsprozess von der Wertbeziehung angelegte Fessel zu sprengen und abzuwandeln. Positiv gesehen bedeutet das dagegen, dass die Zurechnungsarbeit der Geschichte jede mögliche empirische Quelle zur Bewertung ihrer eigenen Behauptungen innerhalb der Grenzen suchen muss, die erlaubt sind, wenn man es in jedem Fall mit qualitativen und konkreten Kausalzusammenhängen zu tun hat. Auch von diesem Standpunkt aus verwundert es also nicht, dass Weber die Kries’sche Theorie der adäquaten Verursachung mit großem Interesse betrachtete, welche ihm sehr nah an den komplexen Problematiken jeder Form qualitativer und konkreter 245 KS I, S. 262–263. 246 Vgl. oben, Fußnote 236. 247 „Die kulturwissenschaftliche Erkenntnis in unserem Sinn ist also insofern an ‚subjektive‘ Voraussetzungen gebunden, als sie sich nur um diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit kümmert, welche irgend eine – noch so indirekte – Beziehung zu Vorgängen haben, denen wir Kulturbedeutung beilegen. Sie ist trotzdem natürlich rein kausale Erkenntnis genau in dem gleichen Sinn wie die Erkenntnis bedeutsamer individueller Naturvorgänge, welche qualitativen Charakter haben. […] Wem die schlichte Arbeit kausalen Verständnisses der historischen Wirklichkeit subaltern erscheint, der mag sie meiden, – sie durch irgend eine ‚Teleologie‘ zu ersetzen, ist unmöglich. ‚Zweck‘ ist für unsere Betrachtung die Vorstellung eines Erfolges, welche Ursache einer Handlung wird; wie jede Ursache, welche zu einem bedeutungsvollen Erfolg beiträgt oder beitragen kann, so berücksichtigen wir auch diese“ (OssE, S. 182–183). 248 M. Weber, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie (1903–1906), in Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, op. cit., S. 1–145, S. 18. Der von Weber wiedergegebene Satz stammt aus Wilhelm Roscher, Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides (1842). Es handelt sich, sagt Weber, um einen „Satz, dessen emanatistische Provenienz ihm an der Stirn geschrieben steht“ (ebd.).
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Ursächlichkeit zu sein schien (so sehr, dass sie auch im Hinblick auf das juristische Interesse für den Einzelfall angewendet werden kann), aber gleichzeitig fest verwurzelt in einer Hume‘schen und antimetaphysischen Interpretation des Ursachenbegriffs, da sie sich auf die Bestimmung der Gleichmäßigkeit der Erfahrung und also auf den geschickten Gebrauch der isolierenden und generalisierenden Abstraktion stützt. Dies vorangestellt, können wir zu dem Aufsatz von Kries zurückkehren, um genauer zu untersuchen, wie er das Problem des Kausalzusammenhangs im Strafrecht angeht, indem er ihn im Licht des Begriffs der objektiven Möglichkeit und jenen daraus abgeleiteten der adäquaten und der zufälligen Verursachung betrachtet.
V. Der Begriff des ursächlichen Zusammenhangs im Strafrecht Wie bereits am Rande der kritischen Behandlung des Begriffs der ‚Hauptursache‘ angedeutet249, geht Kries von der Anschauung (die von der aktuelleren juristischen Forschung geteilt werde, wie er sagt) aus, „dass für die Verantwortlichkeit“ im Sinne des Strafrechts „zwei völlig verschiedene und scharf zu trennende Voraussetzungen erforderlich sind, Schuld und Verursachung“250: Die Verantwortlichkeit allein auf die Verursachung zu reduzieren, würde in der Tat bedeuten, zum Beispiel auf die absurde Konsequenz zu kommen, dass ein Arzt, der mit dem vollen Einverständnis eines aufgeklärten Patienten eine schwierige und riskante Operation versucht, in deren Folge der Patient stirbt, entweder strafrechtlich verantwortlich für den Tod des Patienten ist, oder ihn nicht verursacht hat. Ausgehend davon befasst sich Kries mit dem Problem des Kausalzusammenhangs im Strafrecht, indem er vor allem einen Bezug zu dem einfachsten und verbreitetsten Begriff der Verursachung herstellt, nachdem „der Erfolg ohne das schuldhafte Verhalten nicht eingetreten wäre“251. Schon hierbei gibt es jedoch zwei Aspekte, die zu klären sind. a) An erster Stelle, wenn man die Kausalität eines schuldhaften Verhaltens in Betracht zieht, ist es völlig gleich, ob und auf welche Weise dieses Verhalten „eine Wirkung im physikalischen Sinne“252 hervorgerufen hat: Wer nicht handelt, wie er handeln sollte, ist verantwortlich für die verletzenden Erfolge, die aus seinem Tun entstehen und 249 Vgl. oben, Fußnote 193. 250 Kries 1888, S. 222. 251 Ebd. 252 Ebd.
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Ursächlichkeit zu sein schien (so sehr, dass sie auch im Hinblick auf das juristische Interesse für den Einzelfall angewendet werden kann), aber gleichzeitig fest verwurzelt in einer Hume‘schen und antimetaphysischen Interpretation des Ursachenbegriffs, da sie sich auf die Bestimmung der Gleichmäßigkeit der Erfahrung und also auf den geschickten Gebrauch der isolierenden und generalisierenden Abstraktion stützt. Dies vorangestellt, können wir zu dem Aufsatz von Kries zurückkehren, um genauer zu untersuchen, wie er das Problem des Kausalzusammenhangs im Strafrecht angeht, indem er ihn im Licht des Begriffs der objektiven Möglichkeit und jenen daraus abgeleiteten der adäquaten und der zufälligen Verursachung betrachtet.
V. Der Begriff des ursächlichen Zusammenhangs im Strafrecht Wie bereits am Rande der kritischen Behandlung des Begriffs der ‚Hauptursache‘ angedeutet249, geht Kries von der Anschauung (die von der aktuelleren juristischen Forschung geteilt werde, wie er sagt) aus, „dass für die Verantwortlichkeit“ im Sinne des Strafrechts „zwei völlig verschiedene und scharf zu trennende Voraussetzungen erforderlich sind, Schuld und Verursachung“250: Die Verantwortlichkeit allein auf die Verursachung zu reduzieren, würde in der Tat bedeuten, zum Beispiel auf die absurde Konsequenz zu kommen, dass ein Arzt, der mit dem vollen Einverständnis eines aufgeklärten Patienten eine schwierige und riskante Operation versucht, in deren Folge der Patient stirbt, entweder strafrechtlich verantwortlich für den Tod des Patienten ist, oder ihn nicht verursacht hat. Ausgehend davon befasst sich Kries mit dem Problem des Kausalzusammenhangs im Strafrecht, indem er vor allem einen Bezug zu dem einfachsten und verbreitetsten Begriff der Verursachung herstellt, nachdem „der Erfolg ohne das schuldhafte Verhalten nicht eingetreten wäre“251. Schon hierbei gibt es jedoch zwei Aspekte, die zu klären sind. a) An erster Stelle, wenn man die Kausalität eines schuldhaften Verhaltens in Betracht zieht, ist es völlig gleich, ob und auf welche Weise dieses Verhalten „eine Wirkung im physikalischen Sinne“252 hervorgerufen hat: Wer nicht handelt, wie er handeln sollte, ist verantwortlich für die verletzenden Erfolge, die aus seinem Tun entstehen und 249 Vgl. oben, Fußnote 193. 250 Kries 1888, S. 222. 251 Ebd. 252 Ebd.
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Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung
sonst nicht entstanden wären, und es hat keine Bedeutung, ob das unrechtmäßige Verhalten in einem Tun oder einem Unterlassen besteht, das heißt in dem direkten Ausüben der eigenen Muskelkraft, im Aktivieren anderer Kräfte (man denke an den Mörder, der den Abzug der Pistole betätigt, aber auch an den Anstifter) oder darin, dass man Kräften freien Lauf lässt, die hätten unter Kontrolle gehalten werden müssen (der Fall des nicht ausgeführten Handgriffs des Weichenstellers, der ein Zugunglück hervorruft). In anderen Worten: „Wenn ein rechtswidriges Verhalten X in dem Sinne Ursache eines verletzenden Erfolges geworden ist, dass derselbe nicht eingetreten wäre, falls an Stelle jenes Verhaltens das normale X‘ bestanden hätte, so ist Verantwortlichkeit zu statuiren, und es ist hinsichtlich der Verursachung irrelevant , ob X eine Handlung und X‘ eine Unterlassung ist oder umgekehrt“253. b) Kries fährt fort: „Ferner muss betont werden, dass gerade die Frage nach der Verursachung im strafrechtlichen Sinne nicht umhin kann, jedes Mal von einer gewissen Verallgemeinerung des in concreto eingetretenen Erfolgs auszugehen“254. Nehmen wir zum Beispiel an, dass sich in dem Komplex der ursächlichen Bedingungen für den Tod von B eine schuldhafte Handlung von A findet. Zu behaupten, dass A trotzdem nicht verantwortlich für den Tod von B ist, bedeutet zu sagen, dass B ohne die Handlung von A ebenfalls tot wäre, und nicht, dass B ohne die Handlung von A auf genau dieselbe Weise gestorben wäre (an derselben Stelle, im selben Moment, in derselben Position usw.). „Hier ist aber ‚der Tod des B‘ schon eine Allgemeinvorstellung, die wir uns aus dem concreten Ereignis abstrahirt haben; und wir sagen, dass er gleichwohl eingetreten wäre, auch wenn wir zugeben müssen, dass von dem, was in concreto stattgefunden hat, vielleicht nicht der kleinste Theil genau ebenso ohne die Handlung von A sich abgespielt hätte“255. Schließlich setzt für Kries wie für Weber die kausale Frage im Bereich des Strafrechts immer voraus, dass von dem konkreten Ereignis ein wesentlicher Zug isoliert wird, nämlich jener, der es erlaubt, das Geschehene unter eine juristische Norm zu subsumieren. Nur mittels dieser Abstraktion lässt sich behaupten, dass das Vorhandensein einer schuldhaften Handlung unter den ursächlichen Momenten eines schädigenden Erfolgs allein keine Haftbarkeit 253 Kries 1888, S. 223. Die Straftat durch Unterlassen ist also kein prinzipielles Problem, sondern es ist nur ein spezifische Problem festzustellen, unter welchen besonderen Umständen die Verbote des Strafrechts sich in Gebote verwandeln, die zu einem bestimmten Tun verpflichten. Diesbezüglich äußert Kries sein volles Einverständnis mit der Position des Wiener Strafrechtlers Franz von Liszt (Cousin des berühmten Komponisten), der Professor in Berlin und Autor des mehrfach aufgelegten Lehrbuch des deutsches Strafrecht (1871) war. 254 Kries 1888, S. 223. 255 Ebd.
Der Begriff des ursächlichen Zusammenhangs im Strafrecht
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begründet, wenn sich beweisen lässt, „dass ohne jene Handlung der Erfolg in wesentlich gleicher Weise stattgefunden hätte“256. In diesem Rahmen ist es jedoch unverzichtbar von Fall zu Fall zu fragen, „ob ein gewisser Vorgang X‘, der unter gewissen veränderten Bedingungen eingetreten wäre, noch als der gleiche verletzenden Erfolg wie der factisch eingetretene Vorgang X zu erachten sei“257. Auf diese Frage lässt sich meistens eine sichere Antwort geben. Das schließt aber nicht aus, dass „in manchen Gebieten diejenigen Fälle, in welchen die Haftbarkeit zu bejahen, und diejenigen, in welchen sie zu verneinen ist, ganz continuirlich in einander übergehen“258, denn es ist unmöglich, präzise die Grenze festzulegen, ab der das Ereignis, das eingetreten wäre, und jenes, das faktisch eingetreten ist, nicht mehr im Wesentlichen übereinstimmen. Man muss sich aus diesem Gesichtspunkt nur das bereits zuvor betrachtete Beispiel in Erinnerung rufen, bei dem ein tödlich erkrankter Patient ein Medikament nicht erhält. Der Arzt oder Pfleger, der diese Unterlassung begeht, kann sicher nicht als für den Tod des Patienten verantwortlich angesehen werden, wenn der Tod in jedem Fall innerhalb weniger Minuten eingetreten wäre. Aber wie soll man präzise die Länge der dem Patienten genommenen Lebenszeit festlegen, ab der sich diese Nichtverantwortung in ihr Gegenteil verkehrt? Jenseits dieser vorangestellten Klärungen bleibt ein weiteres Problem offen, das für Kries mit Abstand das wichtigste ist. Er schreibt: „Die Formel, von der wir ausgingen, und welche die Verantwortung an Schuld und Verursachung knüpfte, [bedarf ] einer weiteren Vervollständigung“259. Das impliziert ein Hinausgehen über den einfachsten und verbreitetsten Begriff der Verursachung, der nur zwei Alternativen kennt: dass eine schädliche Wirkung die notwendige Konsequenz eines schuldhaften Verhaltens ist oder dass sie mit Sicherheit auch ohne das genannte Verhalten (in den für uns wesentlichen Zügen) genauso eingetreten wäre260. a) Schon aufgrund des „allgemeinen Rechtsgefühls“ ist es in der Tat möglich, ohne Zögern zu behaupten, „dass der Urheber einer 256 Kries 1888, S. 224 (Hervorhebung E.M.). Dies ist natürlich überhaupt nicht das Gleiche, wie die Behauptung, dass der konkrete Erfolg genau derselbe gewesen wäre. 257 Ebd. 258 Ebd. 259 Ebd. 260 Gerade aufgrund dieser binären Alternative macht „die v. Buri‘sche Lehre“ (vgl. oben, Fußnote 193) – die zwar „die concrete Causalität in strenger und befriedigender Weise behandelte“ – laut Kries den Fehler, dass sie im rechtlichen Bereich „die abstracten ursächlichen Zusammenhänge fast ganz ausser Acht“ lässt, in einem Bereich also, in dem man es immer mit der Komplexität des Einzelfalls und selten mit den „Bedingungen einer gewissen Art A“, an die „sich ein Erfolg B stets mit Nothwendigkeit knüpfte“, zu tun hat (Kries 1888, S. 401).
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Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung
schuldhaften Handlung stets nur für die adäquaten, nicht aber für die zufälligen Folgen derselben verantwortlich gemacht werden kann“261. So wie ein Sturz auf der Straße kann auch eine leichte Körperverletzung ganz zufällig zum Tod eines Menschen führen: Aber das allgemeine Rechtsgefühl wird dem Urheber einer solchen Körperverletzung nicht die Verantwortung für die Tötung anlasten262. b) Und es ist hierbei durchaus möglich, den „tiefen Grund dieser Beurtheilungsweise“263 auszumachen. In der Tat, so wie die Eigenschaften eines Gegenstandes nicht durch eine einfache Erhebung der Wirkungen, die er in einem konkreten Einzelfall hervorruft, sondern nur durch eine aufmerksame Untersuchung der Wirkungen, die er unter den verschiedensten Bedingungen hervorruft, vollständig wiedergegeben werden, kann sich auch die rechtliche Beurteilung einer schuldhaften Handlung nicht nur auf die Kenntnis dessen stützen, was sie im untersuchten Einzelfall verursacht hat. „Wenn wir erwägen, welche Wirkung ein schuldhaften Verhalten in anderen ähnlichen Fällen ergeben würde, welche Erfolge hervorzubringen es generell geeignet ist, so ist das [daher] nicht ein müssiges oder störendes Spiel unserer Phantasie, sondern vielmehr die Anwendung höchst wichtiger und werthvoller Kenntnisse“264. Natürlich heißt das nicht, das fragliche schuldhafte Verhalten zu jeder Art willkürlich gedachter Bedingungen, sondern zu gewissen, relativ konstanten Bedingungen des menschlichen und sozialen Lebens in Beziehung zu setzen, um allgemein das zu bestimmen, was auf ein solches Verhalten objektiv folgen kann. Laut Kries ist „dem gebildeten Rechtsgefühl“ eben diese „verallgemeinernde Betrachtung eigenthümlich“, an der sich auch Bewertung und Urteil orientieren. Nur wer juristisch ungebildet ist, gründet in der Tat seine Beurteilungen auf die konkrete Verursachung des Einzelfalls und riskiert dabei in jedem Moment, sich sogar gegen jene zu wenden, die vollkommen schuldfrei eine verletzende Wirkung verursacht haben. Wer dagegen über eine angemessene juristische Bildung verfügt, „verlangt, dass das schuldhafte Verhalten nach derjenigen Bedeutung beurtheilt werde, welche es allgemein im Zusammenhange der socialen Erscheinungen besitzt, […] verlangt die Prüfung, in welchen generellen ursächlichen Beziehungen dasselbe steht“265. c) 261 Kries 1888, S. 224. 262 Analog dazu wird in dem zuvor genannten Beispiel (vgl. oben, Fußnote 170ff.) niemand meinen, dass der sich der Trunkenheit schuldig gemachte Kutscher, der – weil er sich im Weg irrte – zufällig den Tod eines vom Blitz getroffenen Passagiers verursachte, für diesen Tod verantwortlich gemacht werden kann. Die Situation wäre jedoch eine andere, wenn der Tod durch ein sich Überschlagen des Wagens verursacht worden wäre. 263 Kries 1888, S. 225. 264 Ebd. 265 Kries 1888, S. 225–226.
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Zusammenfassend lässt sich also sagen: „Erst wenn sich ergiebt, dass [das schuldhafte Verhalten] im vorliegenden Falle eine ihm allgemein zukommende Eigenschaft bestätigt hat, erscheint es gerechtfertigt, den Handelnden für den vorliegenden Erfolg haftbar zu machen. Dagegen ist dies, selbst wenn die betreffende Handlung eine schuldhafte war, dennoch unzulässig, sofern die Schuldhaftigkeit nur mit Beziehung auf ganz andere verletzende Erfolge besteht, dagegen kein allgemeiner ursächlicher Zusammenhang sich zwischen der Handlung und verletzenden Erfolgen von der Art des vorliegenden […] statuiren lässt. Den Urheber einer an sich leichten Körperverletzung werden wir daher für den Tod des Verletzten, wenn er durch ganz besondere Ausnahmsverhältnisse bedingt wurde, ebenso wenig verantwortlich machen wollen, wie denjenigen, der durch eine ganz unschuldige Handlung Jemandes Tod verursachte“266. d) Auch wenn er die Frage nach dem tatsächlichen Einfluss dieses Beurteilungskriteriums auf die praktische Rechtsprechung auslässt, so unterstreicht Kries doch, „dass dasselbe in unserem gegenwärtig geltenden Strafrecht unverkennbar zum Ausdruck kommt“267. Man denke nur daran, dass das Gesetz beispielsweise explizit die Todesfolge als möglichen Erschwerungsgrund für die Straftatbestände der Vernachlässigung Schutzbefohlener, der Brandstiftung, Körperverletzung, Giftfreisetzung usw. vorsieht, das heißt für eine Art von Straftaten, die im Allgemeinen eine gewisse objektive Möglichkeit für den Tod des Opfers beinhalten und daher adäquate Ursachen für den Tod sein können. Andersherum hat der Gesetzgeber für Delikte wie Diebstahl oder Betrug diesen Erschwerungsgrund nicht vorgesehen. Das bedeutet nicht, dass in außergewöhnlichen Umständen auch diese zufällig den Tod des Opfers verursachen können, sondern es bedeutet vielmehr, dass gerade der zufällige Charakter dieser Verursachung es nicht erlaubt, den Tod des Opfers der Verantwortlichkeit des Handelnden zuzuschreiben (wenn der Bestohlene auf dem Weg zur Polizei stürzt und sich das Genick bricht, kann der Dieb nicht der Tötung beschuldigt werden). e) Auch eine Reihe von Theorien zur rechtlichen Verantwortung, die zunächst von dem angenommenen Kriterium abzuweichen scheinen, können in Wirklichkeit auf den Ausschluss der Haftbarkeit in den Fällen der zufälligen Verursachung zurückgeführt werden. Kries zieht hier insbesondere die These von Carl Ludwig von Bar heran, nach der der Urheber einer Handlung nur als verantwortlich für die ‚nahen‘, und nicht für die ‚entfernten‘ Folgen seiner Tat anzusehen ist268. Diesbezüglich bemerkt 266 Kries 1888, S. 226. 267 Ebd. 268 C.L. von Bar, Die Grundlagen des Strafrecht, Tübingen, 1869, S. 63ff. Carl Ludwig von Bar (1836–1913) war Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an den Universitäten
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Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung
Kries zu allererst, dass der allgemeine Sprachgebrauch, aber auch die juristische Literatur häufig von einer ‚entfernten Möglichkeit‘ sprechen, dabei jedoch in Wirklichkeit an eine ‚geringe Möglichkeit‘ denken: Man sagt beispielsweise, dass eine Entscheidung eine entfernte Möglichkeit hat zu schaden, was so viel bedeutet wie, dass man es für ziemlich unwahrscheinlich hält, dass aus dieser Entscheidung schädigende Konsequenzen folgen können. Auf der anderen Seite ist es völlig klar, dass die Bestimmung der Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Ereignis eintritt oder nicht, allein nichts mit dem zeitlich (näheren oder weiter entfernten) Moment zu tun hat, in dem es eventuell eintritt. Woher kommt dann aber diese Gleichsetzung? Bei genauer Betrachtung leitet sie sich von dem Umstand ab, dass unsere immer nur teilweise Kenntnis der Gesamtheit der Bedingungen für ein zukünftiges Ereignis dazu führt, dass wir allgemein in der Lage sind, der objektiven Möglichkeit, dass ein zeitlich naheliegendes Ereignis ausgehend von gewissen vorliegenden Bedingungen eintritt, größere Werte zuzuschreiben, während dagegen diese Werte umso geringer werden, je weiter das fragliche Ereignis zeitlich entfernt ist, denn es ist offenkundig, dass die vielfältigen Konsequenzen, die aus nicht präzise bekannten Bedingungen entstehen können, umso mehr werden, je länger der berücksichtigte Zeitraum ist. Dieser Umstand ist leicht verständlich, wenn man daran denkt, dass es tatsächlich nur wenige Situationen gibt, in denen wir heute etwas tun und dann auch mit nur relativer Sicherheit einen bestimmten Erfolg nach mehreren Jahren erwarten können. Das bedeutet jedoch, „dass im Allgemeinen ein gegenwärtiges Verhalten die Möglichkeit sehr entfernter Ereignisse nur sehr wenig verändert, dass im Allgemeinen die sehr entfernten Folgen nicht adäquate sind“269. Die zeitlich entfernte Möglichkeit ist also im Allgemeinen eine geringe Möglichkeit, und das erklärt die Gewohnheit, von einer ‚entfernten Möglichkeit‘ anstelle einer ‚geringen Möglichkeit‘ zu sprechen. Das schließt aber nicht aus, dass die rechtliche Beurteilung einer schuldhaften Handlung sich nicht (zumindest nicht überwiegend) auf die zeitliche Nähe oder Entfernung ihrer schädlichen Wirkung stützen darf, sondern auf die (größere oder kleinere) Möglichkeit, die die Tat hatte, den Erfolg hervorzurufen, also auf ihre Beziehung adäquater oder zufälliger Verursachung zu der fraglichen Wirkung. Im gegenteiligen Fall – bemerkt Kries und stellt sich eine spezifische Situation ohne den gewohnten Parallelismus von entfernten und zufälligen Konsequenzen vor – müsste man beispielsweise zugeben, dass ein von Rostock, Breslau und Göttingen, sowie von 1890–1893 Reichstagsabgeordneter für die Deutsche Freisinnige Partei (die dem Linksliberalismus zuzuordnen war). Außerdem war er Mitglied des internationalen Ständigen Schiedshofs in Den Haag. 269 Kries 1888, S. 227–228, Fußnote (letzte Hervorhebung E.M.).
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Mann, der mithilfe eines präzisen Zeitzünders eine Bombe mit einer Verzögerung von einem Jahr zündet, weniger strafbar ist als wenn er einfachere Mittel angewendet hättet und die Bombe wenige Sekunden nach der Zündung explodiert wäre. Nachdem er feststellt, „dass für die strafrechtliche Haftbarkeit neben der Schuldhaftigkeit und der concreten Verursachung eines verletzenden Erfolges auch noch das Bestehen eines gewissen generellen ursächlichen Zusammenhangs erforderlich ist, welcher die vorliegende Verursachung als eine adäquate erscheinen lässt“, ist es für Kries außerdem wichtig, „diese letztgenannte Bedingung möglichst genau zu fixiren“270. Hierzu hält er es für am einfachsten und zugleich „dem unmittelbaren Rechtsgefühl vollkommen entsprechend“, zu fragen, „ob das stattgefundene schuldhafte Verhalten unter den thatsächlich bestehenden allgemeinen Verhältnissen der menschlichen Gesellschaft generell geeignet erscheine, verletzende Erfolge von der Art des vorliegenden herbeizuführen“271. Das heißt, das fragliche Verhalten „rein psychologisch“ zu betrachten (also als „ein gewisses Verhalten des Willens“, das natürlich bestimmte Kognitionen voraussetzt) und es in seiner vollen Konkretheit beizubehalten, und dagegen alle anderen ursächlichen Momente des verletzenden Erfolgs, der faktisch eingetreten ist, durch oben genannte „verallgemeinerte Bedingungen“ zu ersetzen272. Natürlich kann aber die Betrachtung eines willentlichen Verhaltens in seiner vollen psychologischen Konkretheit nicht von der Kenntnis einiger, dem Handelnden selbst ‚externer‘ Bedingungen absehen: Der Willensakt mit dem der Mörder auf den Abzug drückt, ist wirklich ein solcher, wenn der Mörder es tut, wenn er das Opfer vor sich sieht und die Waffe auf es gerichtet ist. Und daraus ist zu folgern, dass, „wenn der Handelnde aufgrund richtiger Vorstellungen und Kenntnisse einen gewissen Erfolg seines Verhaltens erwartete und derselbe dann in der erwarteten Weise auch wirklich eintrat, dies stets als eine adäquate Verursachung zu betrachten sein wird. Denn hier liegt ein psychologischer Thatbestand vor, der mit dem verletzenden Erfolge ganz durchgängig und regelmässig verknüpft sein muss“273. Wenn in der Mehrheit der untersuchten Fälle aus dem Strafrecht der Kausalzusammenhang zwischen der Handlung und dem verletzenden Erfolg als etwas ganz Unmittelbares erscheint (man denke beispielsweise an Diebstahl, Beleidigung und alle Delikte, bei denen der Handelnde direkt die Wirkung seiner Handlung wahrnehmen kann), und wenn in den fraglichen Fällen der Straftatsbegriff schlicht und ein270 Kries 1888, S. 228. 271 Ebd. 272 Ebd. 273 Kries 1888, S. 229.
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Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung
fach mit jenem der Verursachung eines verletzenden Erfolgs durch eine gewisse Handlung übereinzustimmen scheint, so liegt dies in Wirklichkeit daran, dass in diesen Bereichen des Strafrechts fast immer eine Beziehung adäquater Verursachung im Spiel ist. In seinen Überlegungen zum kausalen Einfluss menschlicher Handlungen, die immer im Mittelpunkt der Interessen sowohl der Rechtspflege als auch der Geschichte stehen274, behauptet Kries, dass – unter den allgemeinen, tatsächlich bestehenden Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens – die Kausalbeziehung zwischen der Vorstellung einer Wirkung, die sich ein willentliches Verhalten zum Ziel setzt (indem es gewisse Kognitionen voraussetzt), und ihrem wirklichen Eintreten sich typischerweise als eine Beziehung adäquater Verursachung gestaltet. Auch das ist ganz offensichtlich ein Punkt von besonderer Relevanz für Weber. Man denke nur daran, dass er – in seinen Ausführungen im ersten Teil der Kritischen Studien darüber, dass wir „mit dem höchsten Grad empirischen ‚Freiheitsgefühls‘ dagegen […] umgekehrt gerade diejenigen Handlungen [begleiten], welche wir rational, d.h. unter Abwesenheit physischen und psychischen ‚Zwanges‘, leidenschaftlicher ‚Affekte‘ und ‚zufälliger‘ Trübungen der Klarheit des Urteils vollzogen zu haben uns bewußt sind, in denen wir einen klar bewußten ‚Zweck‘ durch seine, nach Maßgabe unserer Kenntnis, d.h. nach Erfahrungsregeln, adäquatesten ‚Mittel‘ verfolgen“ – schreibt: „Hätte es aber die Geschichte nur mit solchem, in diesem Sinne ‚freien‘, d.h. rationalen Handeln zu tun, so wäre ihre Aufgabe unendlich erleichtert: aus den angewendeten Mitteln wäre ja der Zweck, das ‚Motiv‘, die ‚Maxime‘ des Handelnden eindeutig erschließbar und alle Irrationalitäten, welche das, im vegetativen Sinne des mehrdeutigen Wortes, ‚Persönliche‘ des Handelns ausmachen, wären ausgeschaltet. Da alles streng teleologisch verlaufende Handeln eine Anwendung von Erfahrungsregeln ist, welche die geeigneten ‚Mittel‘ zum Zwecke angeben, so wäre die Geschichte gar nichts als die Anwendung jener Regeln“275; und sofort ergänzt: „Daß das Handeln des Menschen nicht so rein rational deutbar ist, daß nicht nur irrationale ‚Vorurteile‘, Denkfehler und Irrtümer über Tatsachen, sondern auch ‚Temperament‘, ‚Stimmungen‘ und ‚Affekte‘ seine ‚Freiheit‘ trüben, daß also auch sein Handeln – in sehr verschiedenem Maße – an der empirischen ‚Sinnlosigkeit‘ des ‚Naturgeschehens‘ teil hat, dies gerade bedingt die Unmöglichkeit rein pragmatischer Historik“276. 274 Vgl. oben, Fußnote 16. 275 KS I, S. 226–227. 276 KS I, S. 227. Ich beschränke mich darauf, hier nur anzudeuten, dass – bei einer Prüfung aus diesem Gesichtspunkt – die Kausalitätstheorie, die Weber in Soziologische Grund-
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Greift man Kries’ Gedankenfaden wieder auf, muss man auch erwähnen, dass er das Vorhandensein von Umständen unterstreicht, in denen die (oben erläuterte) rein psychologische Betrachtung des schuldhaften Verhaltens problematisch erscheint und die es daher angemessen scheinen lassen, die gesamte Frage vollkommen anders zu stellen. Stellen wir uns vor – sagt Kries –, dass jemand in dem guten Glauben, es sei leer, ein Haus in Brand steckt, es sich aber doch ein Bewohner im Haus befindet, der bei dem Brand stirbt. Auf der Grundlage dessen, was wir zuvor gesagt haben, müssen wir fragen, welche objektive Möglichkeit, den Tod eines Menschen zu verursachen, allgemein in der Handlung dessen enthalten ist, der in dem Glauben, ein Haus sei leer, dasselbe anzündet. Nun ist es nicht ausgeschlossen, dass ein gewisser Wert (wenn auch kein hoher) der fraglichen objektiven Möglichkeit uns auch in diesem Fall das Bestehen einer adäquaten kausalen Zurechenbarkeit annehmen lässt. Aber andere Gründe lassen uns zu dem Schluss kommen, dass wir die gesamte Herangehensweise an das Problem als „eine verkehrte oder wenigstens praktisch unverwendbare“ einschätzen müssten277: Bei der Überprüfung der Beweise ist es in der Tat nicht möglich, auf die im psychologischen Sinn zu verstehenden Teile des schuldhaften Verhaltens zurückzugreifen (in unserem Fall die Annahme des Brandstifters, dass sich niemand im Haus befunden habe), die zwar in gewisser Weise als Entschuldigung dienen können, aber nicht unmittelbar zugänglich und beweisbar sind, da sie nicht auf objektive physische Prozesse zurückgehen. Um diese Schwierigkeit zu umgehen – die nicht so sehr zusammenhängt mit der „rechtlichen Beurtheilung“ der schuldhaften Handlung in begriffe formuliert (und die sich um das komplexe Problem der Beziehung zwischen ‚sinnhaft adäquater‘ und ‚kausal adäquater Erklärung‘ dreht) sich als weniger abweichend von jener in den Kritischen Studien (und den anderen methodologischen Schriften vom Beginn des Jahrhunderts) erweisen könnte, als es zum Beispiel S. Turner vertritt (siehe: Weber on Action, in „American Sociological Review“, 48, 1983, S. 506–519; außerdem vgl. auch S. Turner – R. Factor, Objective Possibility and Adequate Causation in Weber’s Methodological Writings, in „Sogiological Review“, 29, 1981, S. 5–29). Hierzu siehe G. Nollmann, Max Webers Vergleich von Rechts- und Sozialwissenschaft. Die Entwicklung seiner Kausalitätstheorie und deren Konsequenzen für Kausalaussagen in der Sozialforschung, in „Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie“, 92 (2006), 1, S. 93–111, der eine komplexe Rekonstruktion von Webers Kausalitätstheorie vorschlägt und sie „als Entwicklung“ interpretiert (ebd., S. 93) und genauer als „sukzessive Verschiebung“ einer Position, die vor allem (aber nicht ausschließlich) gerichtet ist auf die Betonung des beobachtenden Charakters der kausalen Behauptungen, die das menschliche Verhalten betreffen, zu einer Position, die dagegen darauf gerichtet ist, den Akzent auf den Umstand zu legen, dass solche Behauptungen immer durch die „Kombination von Beobachter- und Teilnehmerperspektive“ charakterisiert sind (ebd. S. 94). 277 Kries 1888, S. 230.
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se und per se, als vielmehr mit der „praktische[n] Handhabung der Gesetze“ und der „Beweisbarkeit dieser oder jener Umstände“278 – könnte es sich als günstiger erweisen, die schuldhafte Handlung nicht in ihrer psychologischen Konkretheit zu betrachten, sondern nur in ihrem äußeren Vorgang, indem man sie als eine mehr oder weniger adäquate physische Leistung zur Hervorrufung eines verletzenden Erfolgs thematisiert. Kries meint jedoch, dass diese Option viel größere Probleme impliziere als jene, die er zu lösen meint, wie beispielsweise, ob es „für die Entscheidung über die Haftbarkeit […] doch nicht ausreichen würde zu fragen, ob der so abgegrenzte Theil der äusseren Vorgänge generell geeignet sei, gewisse verletzende Erfolge hervorzubringen“279. Nehmen wir an, dass ein Pfleger, die Anweisungen des Arztes nicht beachtend, einem Patienten ein Medikament gibt, das er ihm nicht mehr geben durfte; damit macht er sich sicherlich eines unüberlegten und nachlässigen Verhaltens schuldig; wenn aber diese Nachlässigkeit zum Tod des Patienten führt, weil jemand unbeobachtet ein Gift in das Medikament gemischt hat, kann der Pfleger sicher nicht für den Tod verantwortlich gemacht werden; und doch, betrachtet man allein den äußeren Vorgang, steht seine Handlung (die Verabreichung eines Giftes) in einem Verhältnis adäquater Verursachung zu dem Tod; nur die Betrachtung einer inneren Seite der schuldhaften Handlung (die Unkenntnis, dass das Medikament vergiftet war) erlaubt, in Übereinstimmung mit unserem unmittelbaren Rechtsgefühl anzuerkennen, dass zwischen der Handlung und dem Tod des Patienten nur ein zufälliger Kausalzusammenhang besteht. So dass in diesem Fall, wie auch in dem des Brandstifters, die rechtlichen Beurteilung der „generelle[n] Schädlichkeit der Handlung“ sich auf deren „psychologischen Sinn […]“ gründet280. Der Fall des Pflegers unterscheidet sich jedoch von dem zuvor genannten, weil „der die Zurechnung ausschließende psychologische Thatbestand, die Unkenntniss des in die Arznei gethanen Giftes, hier von vornherein präsumirt werden kann und für das Gegentheil ein Beweis erforderlich scheint, während dort die Behauptung des exculpirenden Irrtums seitens des Brandstifters im Allgemeinen unglaubwürdig sein wird“281. Aber dieser Unterschied und die Probleme, die er aufwirft, liegen auf der Ebene der Beweisführung und der Rechtsprechung, und können daher nicht in Zweifel ziehen, dass eine angemessene rechtliche Beurteilung einer schuldhaften Handlung und der verletzenden Wirkungen, die sie generell geeignet ist hervorzurufen, die fragliche Handlung nicht nur in ihrem äußeren Vorgang be278 Kries 1888, S. 232. 279 Kries 1888, S. 231. 280 Kries 1888, S. 232. 281 Ebd.
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trachten muss, sondern auch und überwiegend in ihrer vollen psychologischen und motivationalen Konkretheit. An dieser Notwendigkeit, Probleme im Zusammenhang mit der praktischen Anwendung der Gesetze nicht auf die Kriterien zur rechtlichen Beurteilung einer schuldhaften Handlung zu übertragen, muss laut Kries streng festgehalten werden, auch wenn man bedenkt, dass das vorgeschlagene Beurteilungsprinzip das Vorhandensein einer ganzen Reihe von Fällen impliziert, für die Folgendes gilt: „Wo [...] hier eine Grenze zwischen den eine Haftbarkeit begründenden und den sie ausschliessenden Verhältnissen zu ziehen sei, dafür liefern weder die Postulate unseres Rechtsgefühls noch die Natur des Gegenstandes einen bestimmten Anhalt“282. Ruft man sich in der Tat in Erinnerung, was wir zuvor über die allgemeine Unmöglichkeit gesagt haben, den Begriff der adäquaten und den der zufälligen Verursachung klar zu begrenzen283, ist sofort offensichtlich, dass diese Unmöglichkeit weiter besteht, auch wenn diese Begriffe in dem spezifischen Bereich des Strafrechts angewendet werden. a) Zunächst einmal ist anzumerken, dass, wer bei einer rechtlichen Beurteilung zu Recht das Problem der objektiven Möglichkeit (oder der Begünstigung) aufwirft, die eine schuldhafte Handlung, betrachtet in ihrer psychologischen Konkretheit, allgemein für das Eintreten einer verletzenden Wirkung aufweist, nie präzise festlegen kann, welches die „Grösse“ oder der „Grad“284 der fraglichen Möglichkeit ist, der die Anerkennung der Haftbarkeit vom Ausschluss derselben abgrenzt. Es ist aber so, dass „durch eine rein quantitative Variirung das Urtheil über die Haftbarkeit sich ändert“285. Wenn der Mann A dem Mann B eine im Allgemeinen nicht tödliche Verletzung zufügt, die aber aufgrund einer Reihe besonderer Umstände dennoch den Tod von B verursacht, ist unsere Bereitschaft, A der Tötung verantwortlich zu machen umso größer, je größer die objektive Möglichkeit ist, dass die Art der Wunde (Schramme, Schlag, Messerstich usw.) ceteris paribus den Tod eines Menschen verursacht. Aber, wenn es sich zum Beispiel um einen Schlag handelt, gibt es bekanntermaßen eine Reihe sehr zweifelhafter Fälle, bei denen uns nicht einmal unser unmittelbares Rechtsgefühl helfen kann. Das liegt daran, dass wir nicht wissen, wie wir einen „bestimmten Zahlenwerth […]“286 zwischen 0 und 1 bestimmen sollen, der die Grenze zwischen adäquater und zufälliger Verursachung bildet, die die
282 Kries 1888, S. 235. 283 Vgl. oben, IV.5 (insbesondere den dritten und vierten Absatz). 284 Kries 1888, S. 233. 285 Kries 1888, S. 234. 286 Kries 1888, S. 237.
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Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung
Zurechenbarkeit der Tötung bestätigt oder nicht287. b) Die Idee der (auch nur „willkürliche[n]“288) Festsetzung eines Zahlenwerts, der klar zwischen dem Bereich der adäquaten Verursachung und der Haftbarkeit und dem Bereich der zufälligen Verursachung und des Haftungsausschlusses unterscheidet, erweist sich im Übrigen als schwer nachvollziehbar, denn „es ist ferner auch hier zu berücksichtigen, dass wir in der Regel die äusseren von dem schuldhaften Verhalten ganz unabhängigen Umstände eines concreten Falles in verschiedener Weise generalisiren können, und dass der Grad des Zusammenhangs zwischen dem schuldhaften Verhalten und gewissen Erfolgen sich nicht selten hiernach verschieden herausstellt“289. Um bei dem Beispiel von eben zu bleiben: Eine leichte Verletzung, die B zugefügt wurde, kann dann eine größere objektive Möglichkeit der Wundinfektion und des Todes als üblich beinhalten, wenn B in sehr dürftigen und hygienisch gefährlichen Verhältnissen lebt: Es ist daher offensichtlich, dass, wenn A B eine leichte Verletzung beibringt, und B stirbt, dieselbe Handlung von A als adäquate oder als zufällige Ursache für den Tod angesehen werden kann, den sie faktisch hervorgerufen hat, (und A der Tötung verantwortlich gemacht werden kann oder nicht), je nachdem, ob die generalisierende Betrachtung des fraglichen Kausalzusammenhangs von den besonderen Lebensumständen von B abstrahiert oder nicht. „Wie weit hier die Generalisirung zu gehen hat, von welchen Umständen des Einzelfalles man absehen darf, von welchen nicht, lässt sich in keiner Weise angeben. Nur darüber besteht kein Zweifel, dass die Haftbarkeit auszuschliessen ist in denjenigen Fällen, welche wir als die Typen zufälliger Verursachung kennen lernten. Auch wenn wir uns ein Urtheil über die Zurechenbarkeit eines Erfolgs bilden wollen, abstrahiren wir vor Allem vom absoluten Zufall, generalisiren also den Einzelfall bezüglich der feinsten Besonderheiten seiner Gestaltung, welche sich der Erkenntniss und Angabe vollständig entziehen. Der concrete Fall wird hier 287 Kries erkennt an, dass es sich im Hinblick auf die praktische Rechtsprechung als angezeigt erweisen kann, den Begriff der zufälligen Verursachung relativ eng zu fassen, und auch sehr kleine Größen der Begünstigung eines verletzenden Erfolgs als ausreichend für die Begründung einer Zurechnung anzusehen und so die Zahl der Zweifelsfälle drastisch zu reduzieren. Und trotzdem gestattet dies nicht, die Frage nach der Adäquatheit des fraglichen Kausalzusammenhangs als theoretisch unhaltbar oder als in unserem unmittelbaren Rechtsgefühl grundlos zu betrachten. Auch eine strengere Anwendung des Gesetzes ist gezwungen, die Unterscheidung zwischen den zwei Formen des Kausalzusammenhangs zu machen (und sich mit den aus der fehlenden klaren Trennung zwischen diesen beiden Formen entstehenden Problemen zu befassen), wenn sie nicht zu vollkommen unhaltbaren Konsequenzen kommen und auch in den typischsten Fällen zufälliger Verursachung von Verantwortung sprechen will. 288 Kries 1888, S. 236. 289 Kries 1888, S. 234.
Der Begriff des ursächlichen Zusammenhangs im Strafrecht
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mit solchen zusammengefasst, welche ihm nicht nur in Bezug auf das Verhalten des Schuldigen, sondern auch betreffs der ganzen sonstigen Sachlage bis zur Ununterscheidbarkeit gleichen. Wo schon diese engste Generalisirung eine Begünstigung des verletzenden Erfolgs durch das schuldhafte Verhalten nicht ergiebt, da kann in keinem Sinne ein allgemeiner ursächlicher Zusammenhang statuirt werden, und die Zurechnung des Erfolgs erscheint unzulässig. Auch weitere Generalisirungen aber können nicht ohne Weiteres für bedeutungslos erklärt werden“290. Einerseits ist Kries also überzeugt, dass bei der rechtlichen Beurteilung und übereinstimmend mit unserem Rechtsgefühl „haftbar […] für einen verletzenden Erfolg derjenige [ist], der ihn durch ein schuldhaftes Verhalten adäquat verursacht hat“, aber andererseits erkennt er an, dass bei der praktischen Anwendung der Gesetze für jeden Einzelfall „durch eine solche Formel eine Fixirung der Grenze [zwischen Haftbarkeit und Haftungsausschluss] noch nicht in befriedigender Weise gegeben ist“291. Trotzdem beinhaltet die freimütige Anerkennung der Tatsache, dass aufgrund des vorgeschlagenen Prinzips der rechtlichen Beurteilung „die Aufgabe einer präcisen Normirung der Zurechenbarkeit, welche in keinem concreten Falle Bedenken aufkommen lässt, sich als eine durchaus unlösbare herausstellt“, laut Kries nicht ein „Scheitern“ des genannten Prinzips292. Hierfür gibt es zwei Gründe. Einerseits führt die Übernahme von aus theoretischer Sicht weniger haltbaren und unserem unmittelbaren Rechtsgefühl weniger entsprechenden Prinzipien der rechtlichen Beurteilung in der Praxis nicht „zu besseren Resultaten“, denn die fraglichen „Schwierigkeiten“ sind „in der logischen Methodik des Strafrechts und in der Natur der Gegenstände“ notwendig gegeben293. Anderersetis braucht „das erörterte Princip doch für die Praxis nicht so ungünstige Ergebnisse zu liefern […], als man vielleicht auf den ersten Blick meinen sollte. Wo eine ganz scharfe Formulirung der Natur der Sache nach unmöglich ist, also vom Gesetze nicht gegeben werden kann, da wird es trotzdem eine ganz wohl lösbare Aufgabe der Praxis sein, eine gewisse Gleichartigkeit des Verfahrens einzuhalten. Dieselbe wird in hohem Grade erleichtert sein, wenn die obersten Gerichtshöfe durch eine Reihe von autoritativen Entscheidungen eine grössere Zahl von Präcedenzfällen geschaffen haben, welche für die Behandlung weiterer Fälle 290 Kries 1888, S. 234–235. 291 Kries 1888, S. 236. 292 Kries 1888, S. 237. 293 Kries 1888, S. 237–238. Vgl. hierzu Literarische Bemerkungen (das vierte und letzte Kapitel von Kries’ Aufsatz) und insbesondere die Schlussbemerkungen (Kries 1888, S. 422– 428).
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Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung
einen Anhalt gewähren. Dass auf diese Weise, sobald nur die Aufgabe klar erkannt ist, ein ganz befriedigendes und von entschiedenen Inconsequenzen freies Verfahren sich herstellen kann, scheint mir kaum zweifelhaft. Jedenfalls würde man dahin gelangen können, dass die Fälle, deren Entscheidung aus den hier erörterten Gründen schwierig und unsicher erscheint, seltene Ausnahmen bilden“294. Abschließend ist daran zu erinnern, dass Weber im zweiten Teil der Kritischen Studien, in dem er eine Kritik Gustav Radbruchs an Kries aufgreift295, betont, dass im Bereich des modernen Rechts (aber nicht jeden Rechts) das Problem der strafrechtlichen Verantwortung nicht nur in der Frage nach der adäquaten kausalen Zurechenbarkeit (verletzender) Erfolge zu (schuldhaften) Handlungen besteht, die – mit den erforderlichen Änderungen – das ist, was die Geschichte untersuchen kann, „solange sie empirische Wissenschaft bleiben will“296. Sondern es tritt eine weitere Frage hinzu: „ob und wann die objektive, rein kausale, Zurechnung des Erfolges zu der [kriminellen] Hand294 Kries 1888, S. 238. Kries vergleicht auch seine Lehre von der strafrechtlichen Haftbarkeit mit jener des bereits zitierten Bar (vgl. oben, Fußnote 268), um zu zeigen, dass auch in diesem Fall die von ihm vertretene theoretische Position den wahren Kern in der theoretischen Position des anderen verdeutlicht und rechtfertigt. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen ‚Hauptursache‘ und ‚Bedingungen‘ eines Ereignisses (eine für Kries unzulässige Unterscheidung), vertritt Bar, dass, um von Haftbarkeit zu sprechen, zwei Voraussetzungen erfüllt sein müssen: einerseits eine von der Regel des Lebens abweichende Handlung und andererseits ein schädigender Erfolg, der der Regel des Lebens gemäß durch diese Handlung hervorgerufen wird (und nicht durch das Eintreten eines anderen, von der Regel des Lebens abweichenden Ereignisses). Aber Kries kritisiert, dass in dieser Formulierung die Notionen ‚von der Regel des Lebens abweichend‘ und ‚der Regel des Lebens gemäß‘ missverständlich verwendet werden. Im ersten Fall beziehen sie sich nämlich auf die Voraussetzung der Schuld, ohne die keine strafrechtliche Haftbarkeit besteht. Im zweiten Fall dagegen bedeuten sie soviel wie ‚üblich‘ und ‚nicht üblich‘, ‚gewöhnlich‘ und ‚ungewöhnlich‘, und nehmen also Bezug auf die Instanz der adäquaten Verursachung des schädigenden Erfolgs, die ebenfalls erforderlich ist, um von strafrechtlicher Verantwortlichkeit sprechen zu können. Aber die in diesem zweiten Sinne verstandenen Notionen ‚der Regel des Lebens gemäß‘ und ‚von der Regel des Lebens abweichend‘ einander gegenüberzustellen bedeutet nur, die Schwierigkeit, auf die in gewissen Fällen die Unterscheidung zwischen adäquater und zufälliger Verursachung, welche ein „quantitative[r] Unterschied einer grösseren oder kleineren relativen Häufigkeit“ ist, trifft und treffen muss, hinter einem qualitativen Unterschied zu verbergen (Kries 1888, S. 240, Fußnote). 295 Laut Radbruch beruht der Irrtum von Kries und anderen Autoren darauf, „dass sie voraussetzen, die Reaktion des Rechts richte sich wider die Tat, nicht wider den Täter“ (G. Radbruch, Die Lehre von der adäquaten Verursachung (1902), in Ders., Gesamtausgabe, hrsg. von A. Kaufmann, Heidelberg, 1995, Band 7, Strafrecht I, S. 17–74, hier S. 57). 296 KS II, S. 271, Fußnote.
Der Begriff des ursächlichen Zusammenhangs im Strafrecht
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lung eines Individuums auch zu deren Qualifizierung als seiner subjektiven ‚Schuld‘ ausreichend sei. […] Denn es ist a priori möglich und tatsächlich häufig, heute regelmäßig, der Fall, daß der ausdrücklich ausgesprochene oder durch Interpretation zu ermittelnde Sinn der Rechtsnormen dahin geht, daß das Vorhandensein einer ‚Schuld‘ im Sinne des betreffenden Rechtssatzes in erster Linie von gewissen subjektiven Tatbeständen auf Seite des Handelnden (Absicht, subjektiv bedingtes ‚Voraussehenkönnen‘ des Erfolges u. dgl.) abhängen solle, und dadurch kann die Bedeutung der kategorialen Unterschiede der kausalen Verknüpfungsweise erheblich alteriert werden“297. Aber Weber unterstreicht auch, dass Radbruch selbst „in den Fällen der sog. Erfolgsdelikte“, „der Haftung wegen ‚abstrakter Einwirkungsmöglichkeit‘“ und allgemein „überall da, wo lediglich die ‚objektive‘ Kausalität in Frage kommt […] die Geltung der Kriesschen Lehre“ zugibt; und ergänzt: „In gleicher logischer Lage mit jenen Fällen befindet sich aber eben die Geschichte“298.
297 KS II, S. 270–271. 298 KS II, S. 271, Fußnote.
Abkürzungsverzeichnis
Grenzen 1902 = H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, erste Auflage, Tübingen – Leipzig, 1902. Grenzen 1929 = H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, fünfte, verbesserte, um einen Anhang und ein Register vermehrte Auflage, Tübingen, 1929. Kries 1888 = J. von Kries, Ueber den Begriff der objectiven Möglichkeit und einige Anwendungen desselben, in „Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie“, XII (1888), S. 179–240 (2. Heft), S. 287–323 (3. Heft) und S. 393–428 (4. Heft). KS I = M. Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik (1906), in ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, 1988, pp. 215–290, I. Zur Auseinandersetzung mit Eduard Meyer, S. 215–265. KS II = M. Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik (1906), in ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, 1988, pp. 215–290, II. Obiektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung, S. 266–290. MWG = Max Weber Gesamtausgabe, im Auftrag der Kommission für Sozialund Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von H. Baier, G. Hübinger, M. R. Lepsius, W. J. Mommsen, W. Schluchter, J. Winckelmann, Tübingen, 1984ff. OssE = M. Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, 1988, S. 146–214. PEGK = M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904–1905), in Id., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen, 1988, S. 17–206. QMUH = H. Rickert, Les quatre modes de l’„Universel“ dans l’histoire, in „Revue de Synthèse Historique“, II, 2 (Nr. 5), April 1901, S. 121–140. RuK = M. Weber, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie (1903–1906), in ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, 1988, S. 1–145. VAAG = H. Rickert, Die vier Arten des Allgemeinen in der Geschichte, in Grenzen 1929. S. 737–754.
Namensverzeichnis
Wenn ein Name auf drei oder mehr fortlaufend nummerierten Seiten auftritt, ist die Angabe des Zitats in der Fußnote gelöscht. Accarino, B., 107 Fn. Agevall, O., 107 Fn., 142 Fn. Albrecht, A., 84 Fn. Anderson, A., 156 Fn., 157 Fn. Arcangeli, B., 27 Fn. Aristoteles, 30 Fn. Aron, R., 107 Fn. Artaxerxes I., 150 Fn., 151 Artaxerxes II., 150 Fn., 151 Augustus (Octavian, G.I.C.), 38, 39 Avenarius, R., 10, 64 u. Fn., 160 Bacon, F., 30 Fn. Baer, K.E. von, 97 u. Fn. Bar, C.L. von, 213 u. Fn., 222 Fn. Baron, H., 112 Fn. Benedek, L.A. von, 82 Fn. Bernheim, E., 65 Fn. Berr, H., 10, 24, 27 Fn., 28 Fn., 30, 32, 33 u. Fn. Beschorner, T., 107 Fn. Bianco, F., 24 Fn., 107 Fn. Biard, A., 27 Fn. Binding, K., 191 Fn. Birkmeyer, K. von, 190 Fn. Bismarck, O. von, 81 Fn., 82 Fn., 87 Fn., 89, 140 Bloch, M., 28 Fn. Bodei, R., 13 Fn., 186 Fn. Bonito Oliva, R., 105 Fn. Boring, E.G., 132 Bortkiewicz, L.J. von, 159 Fn. Bouman, P.J., 143 Fn. Browning, C., 125 Fn. Bruun, H.H., 107 Fn., 108 Fn., 148 Fn. Burckhardt, J., 16 Fn. Burger, T., 107 Fn. Buri, M. von, 193 Fn., 211 Fn.
Cacciatore, G., 15 Fn., 19, 80 Fn., 106 Fn. Cahan, D., 155 Fn. Calvin, J., 102 Cantillo, G., 105 Fn., 106 Fn. Cassirer, E., 45 Fn. Catarzi, M., 34 Fn., 54 Fn., 64 Fn., 77 Fn., 103 Fn., 106 Fn. Cavalli, A., 26 Fn., 53 Fn., 54 Fn., 142 u. Fn. Cäsar, G.I., 50 u. Fn., 124 u. Fn., 153, 154 u. Fn., 184 Fn. Colli, G., 106 Comte, A., 23 Fn., 62 Fn., 163 u. Fn. Corselli, M., 107 Fn. Cotroneo, G., 28 Fn. Craig, G., 81 Fn., 82 Fn. Croce, B., 27 Fn., 77 Fn., 117 Dante Alighieri, 11 Fn. D’Antuono, E., 157 Fn. D’Attore, A., 13 Fn. Dazzi, N., 132 Fn. De Ruggiero, G., 30 Fn. Dewalque, A., 104 Fn. Diesener, G., 81 Fn. Di Giorgi, P.L., 18 Fn. Dilthey, W., 13, 16 Fn., 106 Fn., 112, 113, 117, 120 Fn., 132 u. Fn., 142 Fn. Di Marco, G.A., 71 Fn., 111 Fn., 112 Fn., 186 Fn. Donise, A., 106 Fn. Donzelli, M., 28 Fn. Droysen, J.G., 65 Fn., 121 Duns Scotus, J., 94 Fn. Dutoit, E., 79 Fn. Ebbinghaus, H., 155 Eger, T., 107 Fn.
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Namensverzeichnis
Eliaeson, S., 107 Fn. Eliot, T.S., 11 Elisabeth I., 154 Emerson, R.W., 11 u. Fn. Erdmann, B., 41 Fn. Esra, 150 Fn. Factor, R., 217 Fn. Farges, J., 104 Fn. Friedrich der Grosse, 162 Fn., 163 Fn. Friedrich Wilhelm I., 130 Friedrich Wilhelm IV., 123, 147 Feest, U., 142 Fn. Fekete, É., 26 Fn. Ferrarotti, F., 12 Fn. Ferruzzi, F., 132 Fn. Fioretti, G., 159, 160 Fn. Fischer, H.K., 9 Fn. Fischer, K., 109 Freud, S., 157 u. Fn. Fried, J., 113 Fn. George, S., 113 Fn. Giugliano, A., 15 Fn., 16 Fn., 19, 81 Fn., 106 Fn., 112 Fn. Giustino Vitolo, A., 30 Fn., 31 Fn. Goethe, J.W., 24 Fn., 57, 87–89, 97, 158 Gothein, E., 16 Fn., 81 Fn. Gottl-Ottlilienfeld, F. von, 117, 120 Fn. Gottstein, A., 157 Fn. Grote, L.R.R., 157 u. Fn. Guetti, C., 106 Fn. Haeckel, E.H., 97 u. Fn. Halphen, L., 33 Fn. Hegel, G.W.F., 18 Fn., 26 Fn., 72 u. Fn., 112, 113, 153 Fn. Heidegger, M., 106 Fn. Heidelberger, M., 142 Fn., 158, 159 u. Fn. Helmholtz, H. von, 118, 155–157, 161, 207 Hempel, C.G., 124 Fn. Hennis, W., 13 u. Fn. Henrich, D., 14 Fn., 107 Fn. Hering, K.E., 156 u. Fn.
Hertz, H., 91 u. Fn. Heubner, J.O.L., 157 Fn. Hoffmann, P., 157 u. Fn. Humboldt, W. von, 12, 114 Hume, D., 16, 161, 180, 209 Jaspers, K., 11–13, 17 u. Fn., 18, 106 Fn. Kant, I., 12, 25 Fn., 28 u. Fn., 30 u. Fn., 75 Fn., 103 u. Fn., 107 Fn., 109, 113, 116, 122, 139 Fn., 146, 158 Karádi, É., 26 Fn. Keynes, J.M., 159, 160 Fn. Kippenberg, H.G., 14 Fn., 151 Fn. Knies, K., 11 Fn., 14 Fn., 21, 23 Fn., 24, 77 Fn., 84, 100, 105, 109 u. Fn., 110, 112, 117–120, 125, 129 Fn., 131, 132, 208 Fn. Kries, J. von, 10, 11 u. Fn., 51, 110, 116 u. Fn., 140–145, 147–153, 155–161, 163–205, 207–223 Krijnen, C., 104 Fn. Kyros II., 150 Fn., 151 Lacombe, P., 29 Fn. Lamprecht, K., 16 Fn., 29 u. Fn., 62 Fn., 80–82, 90, 121 u. Fn., 125, 154 Land, E., 156 Fn. Laplace, P.-S. de, 158 Lask, E., 26 Fn. Lasson. G., 72 Fn. Launay, M de, 104 Fn. Lepsius, M.R., 109 Fn., 159 Fn. Lexis, W., 159 Fn. Liepmann, M., 142 Lipps, T., 117 Liszt, F. von, 210 Fn. Loos, F., 107 Fn. Lorenz, S., 157 Fn. Lotze, R., 171 Fn. Ludwig, K., 155 Lukács, G., 26 Fn. Luther, M., 76 Fn., 87 Fn., 102 Machiavelli, N., 74, 75, 78 Mannheim, K., 84 Fn.
Namensverzeichnis
Marx, K., 112 Massimilla, E., 94 Fn., 105 Fn., 113 Fn., 116 Fn., 129 Fn., 132 Fn., 148 Fn. Mazzarella, E., 15 Fn. Meinecke, F., 121 u. Fn. Menger, C., 117 Merkel, A., 142 Merz-Benz, P.-U., 107 Fn., 143 Fn. Meyer, E., 9 Fn., 129 Fn., 130 Fn., 140, 150, 151, 163 Fn., 171 Fn. Milgram, S., 125 Fn. Mill, J.S., 142 Fn., 161, 162 Fn., 179, 182 Fn., 191 u. Fn. Misch, G., 25 Fn., 55 Fn. Mommsen, W.J., 18 Fn., 104 Fn., 109 Fn., 112 Fn., 159 Fn. Montale, E., 11 Fn. Montesquieu, C.L. de Secondat, Baron de la Brede et de, 49 Montinari, M., 106 Moretto, G., 106 Fn. Morgenbrod, B., 18 Fn., 104 Fn., 112 Fn. Morrone, G., 171 Fn. Much, H., 157 Fn. Münsterberg, H., 28 Fn., 77 Fn., 94 Fn., 117, 129 Fn., 132 u. Fn. Murray, S.J., 156 Fn. Napoleon I., 57, 88, 89, 97, 123, 153 Nero, C.C.A.G., 50, 125, 154 Neumann, M., 159 Fn. Niemeier, J., 14 Fn., 151 Fn. Nietzsche, F., 106 Fn., 112, 131 u. Fn. Nollmann, G., 9 Fn., 217 Fn. Nusser, K.-H., 107 Fn., 143 Fn. Nutzinger, G., 107 Fn. Oakes, G., 107 Fn., 144 Fn. Ortega y Gasset, J., 42 Fn. Ortner, N., 157 Fn. Oser, B.M., 157 Fn. Ostwald, W., 91 u. Fn. Philipp II., 154 Peisistratos, 136 Platania, M., 27 Fn. Pluet-Despatin, J., 28 Fn.
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Pocar, E., 12 Fn. Popa, M., 30 Fn. Rachfahl, F., 9 Fn. Radbruch, G., 110, 116, 142, 222 u. Fn., 223 Raimondi, E., 11 Fn. Ranke, H. von, 76 Ranke, L. von, 76 u. Fn., 80 Rickert, H., 10, 11 u. Fn., 17 Fn., 21–42, 44–66, 68–80, 82–84, 86–92, 94–99, 101 Fn., 103–116, 118, 120–122, 124–131, 133–137, 139 u. Fn., 141–149, 151–154, 159 Fn., 162 u. Fn., 180, 182–184, 203, 204 u. Fn., 206, 207 u. Fn. Riehl, A., 40 Fn. Ringer, F., 107 Fn., 142 Fn. Ritschl, O., 94 u. Fn. Rizzo, F., 28 Fn. Roscher, W., 11 Fn., 14 Fn., 21, 23 Fn., 24, 77 Fn., 84, 100, 105, 109 u. Fn., 110, 112, 117, 119–121, 129 Fn., 131, 132, 208 Fn. Rosenzweig, F., 157 u. Fn. Rossi, P., 26 Fn., 107 Fn., 142 Fn., 144 Fn., 152 Fn., 159 Fn. Rudhard, B., 109 Fn., 159 Fn. Rümelin, G., 142 Runciman, W.G., 107 Fn. Ruoppo, A.P., 26 Fn. Russo Krauss, C., 64 Fn. Salz, A., 112, 113 Fn. Scheler, M., 42 Fn. Schelting, A. von, 107 Fn. Schilm, P., 14 Fn., 151 Fn. Schlieben, B.,113 Fn. Schluchter, W., 12 Fn., 14 Fn., 18 Fn., 104 Fn., 107 Fn., 112 Fn. Schmoller, G., 117 Schnädelbach, H., 153 Fn. Schneider, O., 113 Fn. Schön, M., 109 Fn., 159 Fn. Schopenhauer, A., 129 Fn. Schulmeyer, K., 113 Fn. Schultze, M., 156
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Namensverzeichnis
Shakespeare, W., 11 u. Fn. Signore, M., 24 Fn., 106 Fn., 107 Fn. Sigwart, C. von, 42 Fn., 75, 171 Fn. Simmel, G., 24 Fn., 117, 140 Fn., 143 Fn. Solon, 136 Spinosa, D., 77 Fn. Stumpf, C., 159 Fn. Taine, H., 79 Tessitore, F., 12, 13 Fn., 14 Fn., 76 Fn., 81 Fn., 105 Fn., 113, 114 Fn., 157 Fn. Tijsseling, A.S., 156 Fn., 157 Fn. Titchener, E.B., 132 u. Fn. Troeltsch, E., 23 Fn., 24 Fn., 47 Fn., 106 Fn., 112 u. Fn. Turner, R.S., 155 Fn., 217 Fn. Veca, S., 159 Fn., 186 Fn. Voermanek, C., 105 Fn., 113 Fn. Volkelt, J., 42 Fn. Volkmann, A.W., 155 Voltaire (Arouet, F.-M.), 89 Wagner, G., 107 Fn., 144 Fn. Waismann, F., 159 u. Fn. Weber, A., 84 Fn.
Weber, Marianne, 10 Fn., 108, 109 Fn. Weber, Max, 9–18, 21–27, 35, 39, 42 Fn., 47–49, 51–55, 64 Fn., 68–72, 77 Fn., 79 u. Fn., 80 Fn., 83–85, 90 Fn., 98–101, 103–121, 124–126, 128–131, 133–135, 137–153, 158–160, 162, 163 Fn., 165, 168–171, 173–175, 177, 178, 180, 182–184, 186 Fn., 187, 191 Fn., 201–204, 206–208, 210, 216 u. Fn., 217 Fn., 222, 223 Weniger, E., 16 Fn. Winckelmann, J., 53 Fn., 109 Fn. Windelband, Wilhelm, 23 Fn., 25, 26 u. Fn., 28, 29 Fn., 33, 120 Fn., 139 Fn., 142 Fn., 147 Fn., 171 Fn. Wittgenstein L., 159 u. Fn. Wöhler, S., 107 Fn., 108 u. Fn., 143 Fn. Wolff, C., 130 Wundt, W., 117, 131–133, 137–139 Xenopol, A.D., 29–31, 34 Fn., 35 Fn. Young, T., 156 u. Fn. Ziegler, K., 158 Fn. Zipprian, H., 107 Fn., 144 Fn.