Gustav Stresemann: Biografie eines Grenzgängers
 9783666300820, 9783647300825, 9783525300824

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Karl Heinrich Pohl

Gustav Stresemann Biografie eines Grenzgängers

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 18 Abbildungen, 2 Grafiken und 1 Tabelle Umschlagabbildung: Gustav Stresemann mit seiner Ehefrau vor einem Brunnen, um 1925. © akg-images / Imagno Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-30082-5

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG , Theaterstraße 13, 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC , Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Ein Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Autobiografie als Komposition  (21) Gustav Stresemann und seine Physiognomie (35) Ein kranker Mann (54) Der Redner (64)

2. Der Wille zum Aufstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Kulturelles Kapital: Inszenierung als Bildungsbürger (71) Der Lyriker Gustav Stresemann (79) Freundschaften und Männerbünde (86) Der bürgerliche Wertehimmel: »Juden« und Frauen (99)

3. Ökonomisches und soziales Kapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Dichte Beschreibung I: Stresemann und Dresden im Jahre 1903  (113) Der sächsische Syndikus: Die Erfindung des Verbandes Sächsischer Industrieller (131) Der Sozialpolitiker (139) Beruf und Vermögen (150)

4. Politisches Kapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Eine Partei wird neu erfunden: Die Nationalliberalen in Sachsen (165) Am Ziel? Inszenierung als liberaler Wirtschaftsbürger: Die Tagungen der Industrieverbände in Dresden (177)

5. Ein Leben im Umbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Der »Held« an der »Heimatfront« (191) Revolution und »Neuanfang« (205)

6. Politik in Deutschland und Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Inszenierung als Krisenmanager: Die Rede im Reichstag am 17.  April 1923  (219) Die Zerstörung des »linksrepublikanischen Projektes« in  Sachsen (227) Dichte Beschreibung II: Die Politik von Locarno (241) Die Rolle der Wirtschaft und die Stresemann’sche Frankreichpolitik (251) Der Vertrag von Locarno, die IRG und die Rolle Polens (261) Der Verständigungspolitiker und sein Doppelleben: Pabst, Orgesch, Wilhelm und Co. (270) »… und wollte ein Bürger sein«: Liberalismus, Kultur, Nation, Krieg und Demokratie (284)

6 Inhalt 7. Nachleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 8. Schluss: Der »Grenzgänger« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Benutzte Archive (325) Gedruckte Quellen (325) Literatur (328)

Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

Einleitung

Warum sollte man noch eine weitere Biografie über Gustav Stresemann schreiben? Das positive Bild von ihm scheint doch längst, nahezu unzerstörbar, in Stein gemeißelt zu sein. Er ist seit langem in der Walhalla der großen Deutschen angekommen, stellt ein unangreifbares historisches Monument dar. Er scheint bekannt, erforscht und höchst geschätzt zu sein. Was ist dem noch hinzuzufügen? Der Streit, ob er ein unbelehrbarer Monarchist geblieben sei oder sich zum geläuterten Republikaner entwickelt habe, ist längst vergessen.1 Sein ehrliches Engagement für die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik wird in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit kaum noch bezweifelt.2 Man ist sich einig, dass er einen beeindruckenden Weg vom Berliner »Kneipenmilieu« zum deutschen Reichskanzler gegangen ist. Dabei habe er sich ständig weiter entwickelt, sei menschlich gereift, nachdem er durch Höhen und Tiefen (vor allem im Ersten Weltkrieg und in der Revolution von 1918/19) gegangen sei. Auf diese Weise wandelte sich der ehemals eingefleischte Monarchist in vorbildlicher Weise erst zu einem Republikaner aus Vernunft, dann aus Überzeugung und schließlich sogar mit dem Herzen. Er entwickelte sich zum entscheidenden Mitgestalter des neuen demokratischen Staates, in Innen- und Außenpolitik, wurde zum genialen Kopf der Deutschen Volkspartei, die er (fast) zu einer Stütze der Republik formte. Er prägte als einer der wichtigsten Parlamentarier der Zeit die politische Kultur und hat, so die dominierende Meinung, als jüngster Kanzler die Republik im Jahre 1923 in ihrer Existenz gerettet. Die folgenden Jahre bis 1929 (in denen er immer als Außenminister die Republik vertrat) tragen in fast allen wissenschaftlichen und publizistischen Publikationen den Namen »Ära Stresemann«. Aber damit nicht genug. Er leitete auch die Verständigung Deutschlands mit Frankreich ein, integrierte den Weimarer Staat mit dem Pakt von Locarno und dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund als gleichberechtigten Partner in die Gemeinschaft der Völker – und das gegen erheblichen innen- und außenpolitischen Widerstand. Die Verleihung des Friedensnobelpreises im Jahr 1926 war daher geradezu folgerichtig der verdiente Lohn. Sein früher Tod im Jahr 1929 bedeutete nicht nur für Familie und Freunde, sondern auch für die Repu1 Seit dem Jahr 2002 erschienen drei neue Biografien: Wright, Stresemann; Kolb, Stresemann und Birkelund. Vgl. dazu Pohl: New Literature. 2 Vorzügliche Zusammenfassung dieser Position durch Krüger, Zur europäischen Dimension.

8 Einleitung blik und ganz Europa einen schweren Verlust. »Weimars größter Staatsmann« und ein großer Europäer war viel zu früh gestorben3. Die Quellenlage gibt ebenfalls kaum Anlass für neue Studien.4 Materialien, die das gegenwärtige positive Bild ergänzen oder ihm widersprechen könnten, scheinen nicht zu existieren. Angesichts der über 60.000 Blätter allein im Nachlass Stresemanns (und den zusätzlichen Quellen, die durch seinen Sohn Wolfgang Stresemann der Forschung zur Verfügung gestellt wurden), den Unmassen von Akten seiner amtlichen sowie seiner eigenen regen publizistischen Tätigkeit, scheint das wohl auch nicht nötig zu sein.5 Stresemann ist offenbar bis in die letzten Regungen seines Wesens bekannt, sein privates Leben scheint ebenfalls nahezu vollständig ausgeleuchtet zu sein. Warum also eine weitere Biografie? Gibt es neue Befunde, neue Ansätze oder neue Perspektiven? Ja, es gibt sie!6 Das Übermaß an Kenntnissen, die scheinbare Sicherheit im Urteil, die nahe­ zu übereinstimmenden Ergebnisse der Forschung, die einheitlich positive Bewertung von Mensch und Politik, eine solche Konstellation lädt zu einer Dekonstruktion geradezu ein, bietet eine Reihe bisher (noch) nicht genutzter Chancen. Eine neue, kritische Biografie kann auf die bisher erarbeiteten Forschungsergebnisse aufbauen, muss jedoch den scheinbar gradlinigen (und erfolgreichen) Weg des Bierverlegersohns zum Friedensnobelpreisträger nicht noch einmal chronologisch nachzeichnen. Sie kann stattdessen auf einer empirisch gesicherten Basis experimentieren und bislang nicht verfolgte konzeptionell-methodische Ansätze aufnehmen. Sie kann kulturgeschichtliche Methoden verwenden, um das gängige Bild über Stresemann zu bereichern, zu erweitern oder infrage zu stellen. Sie kann konstruktivistische Ansätze und Ideen stärker nutzen, um auf diese Weise das offensichtlich nicht zu erschütternde Bild vom »guten« Stresemann aufzubrechen und zu dekonstruieren. Sie kann darüber hinaus gezielt intensive Interpretationen und dichte Beschreibungen7 verwenden, weitere Tätigkeitsfelder (etwa Wirtschafts- und Sozialpolitik, Kultur) noch intensiver erschließen und andere,

3 So Jonathan Wright als Titel seiner Biografie, Wright, Stresemann. Zur Darstellung Stresemanns als Europäer vgl. u. a.: Duchhardt. 4 Der Nachlass Stresemanns befindet sich seit Mitte der 1950er Jahre im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA) in Berlin. Er ist (fast) komplett verfilmt, leicht erwerbbar und steht der Forschung ohne jede Einschränkung zur Verfügung. 5 Vgl. dazu schon sehr früh Walsdorff, Bibliographie. 6 Vgl. dazu Pohl, Überlegungen zu einer neuen Biographie; ders., A German Bürger und ders., Zur Konstruktion einer neuen Biographie. 7 Mit dem von Clifford Geertz eingeführten Begriff »dichte Beschreibung« meine ich hier entweder eine verdichtete Beobachtung und Darstellung kommunaler Ereignisse in einem sehr begrenzten Zeitraum (Dresden 1903) oder aber eine Komprimierung von Forschungsergebnissen bezogen auf ein konkretes politisches Problemfeld (Politik von Locarno); vgl. Geertz; Kaschuba, S. 252 f.

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neue Quellen(-sorten) einbeziehen, um so eine noch stärkere Verdichtung zu ermöglichen und Dekonstruktionen zu erleichtern.8 Eine neue Biografie kann schließlich auch verschiedene zeitliche Perspektiven für die Interpretation berücksichtigen, um auf diese Weise eine besondere Tiefenschärfe in der Analyse zu erreichen. Sie kann zeitübergreifende Aspekte herauskristallisieren, um so ein gleichzeitiges Vor- und Rückwärts oder aber einen permanenten Stillstand in Stresemanns Leben besser zu erkennen und damit die klassische Chronologie zu überwinden. Sie kann auf diese Weise ein bislang noch weitgehend unbekanntes Bild von Stresemann konstruieren. Zum biografischen »Gegenmodell« Bislang konstruierten die meisten Biografien einen »zielgerichteten« Verlauf im Leben Stresemanns, einen scheinbar geraden Weg mit allerlei Verästelungen, aber doch ein Leben mit einer deutlichen Kontinuität, mit einem auf ein Ende hin ausgerichteten, in sich sinnvollen Ablauf. Den krönenden Abschluss dieses erfolgreichen Lebens stellten die mittleren Jahre der Weimarer Republik dar, die Mutation Stresemanns zum Demokraten, seine erfolgreiche Verständigungspolitik in Europa und schließlich die letzten Jahre bis zu seinem frühen Tod. Diese Biografie verfährt jedoch anders. Sie wählt für das Leben Stresemanns ein neues Modell der Beschreibung, in Anlehnung vor allem an die Überlegungen von Pierre Bourdieu, Niklas Luhmann und Henning Luther. Sie will damit in eine neue Dimension biografischer Konstruktion vorstoßen. »Biografien sind«, so schlägt Niklas Luhmann vor, »eine Kette von Zufällen, die sich zu etwas organisieren, das dann allmählich weniger beweglich wird«.9 Es gibt insofern keine eindimensionale, gradlinige und sinnvolle, durch bewusstes eigenes Zutun entstandene Linie im Leben eines Menschen, die man auf ihren (eigentlichen) Sinn und ihr Ziel hin entschlüsseln und in diesem Sinne konstruieren könnte. Eine mögliche Kontinuität im Leben eines Menschen bestehe, so Luhmann, höchstens »in der Sensibilität für Zufälle«10 – mehr nicht. Folgt man dieser Auffassung so könnte es keinen sinnvollen Pfad in Stresemanns Leben geben. Die Konsequenz aus Luhmanns These hieße, nach einem »roten Faden« gar nicht erst zu suchen. In Stresemanns Leben müssten dann die vielen Facetten und Aspekte im Einzelnen und jeweils für sich analysiert werden, ohne die Chance (aber auch 8 Zum Stand der biografischen Forschung zuletzt Harders; Etzemüller; Lässig, Biography in Modern History und Dieselbe: Die historische Biographie. Interessante Anregungen von Volker Ullrich in Ullrich. 9 Luhmann, Short Cuts, S. 32; vgl. S. 16 »Eine Biographie ist eine Sammlung von Zufällen, das Kontinuierliche besteht in der Sensibilität für Zufälle.« 10 Ebd., S. 16.

10 Einleitung den Wunsch) auf eine sinnvolle Einbindung in ein Ganzes, eben weil es diesen Sinn und dieses Ganze gar nicht gibt. Nur auf diese Weise könne man, so Luhmann, und mit ihm Pierre Bourdieu, der »biographischen Falle«11, der Konstruktion eines scheinbar stringenten und in sich stimmigen Lebensweges entgehen, der bis heute noch fast jede Stresemannbiografie erlegen ist.12 Allerdings kann ein Leben ohne Sinn wohl kaum eine Vorlage für eine Biografie sein. Sie wäre nicht nur schwer lesbar, sondern ein solcher Ansatz widerspräche auch dem narrativen Modell, dem die Geschichtswissenschaft insgesamt und damit jede wissenschaftliche Biografie verpflichtet ist. Ein solches Verfahren wäre vor allem mit der allgemeinen menschlichen Erfahrung von tatsächlich gelebtem Leben nicht kompatibel.13 Diesen scheinbaren Widerspruch gilt es also in der neuen Biografie zu überwinden. Es werden Möglichkeiten gesucht, der »biografischen Falle« zu entgehen und trotzdem eine strukturierte und lesbare Biografie zu schreiben, Stresemanns Leben eine Form zu geben, ohne (nur) die klassische Chronologie zu bemühen und gegenläufige Aspekte und vor allem das Element der Zufälligkeit zu vernachlässigen. Drei verschiedene Ansätze, werden im Folgenden knapp vorgestellt, die jeweils auf eine eigene Art versuchen, den Wunsch nach »Konstruktion« und »Sinn« in einem Leben zugleich mit dem Element der »Unordnung«, des »Zufalls« und der »Sinnlosigkeit« zu verbinden, also auch Kontingenz zu berücksichtigen. Aus diesen drei Ansätzen wird die methodische Grundlage für diese Biografie Stresemanns erarbeitet. Ein erster Ansatz lehnt sich an biologisch-psychologische Überlegungen an, die von einer gewissermaßen »normalen« menschlichen Entwicklung vom Kind hin zum Erwachsenen ausgehen. Der Maßstab und zugleich das Strukturmerkmal für Stresemanns Leben wäre dann der Grad, in dem er diesem Idealtypus des heranwachsenden und schließlich erwachsenen Menschen nahegekommen ist, inwieweit er sich diesem zumindest annähern konnte. Dieser konstruierte Idealtypus ist allerdings nicht als zeitübergreifende Konstante zu verstehen, sondern muss jeweils historisiert werden. Der zweite Ansatz orientiert sich an der sozialen Akzeptanz, richtet sich auf das soziale Feld, in dem jeder Mensch lebt und agiert. Hier dient als Leitlinie, inwieweit Stresemann es erreichte, sich in diesem Feld zu etablieren, sich dort angemessen zu verhalten und zugleich von der Umgebung entsprechend akzeptiert zu werden. Man könnte dann von einer gewissen inneren und äußeren Harmonie im Sinne eines gelungenen Lebens sprechen, wenn beide, Stresemann und seine Umwelt, dieses positive Gefühl teilten. 11 Bourdieu, Die biographische Illusion. 12 Vgl. etwa Kolb, Stresemann, S. 6 ff. 13 Luther, Identität und Fragment.

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Ein dritter Ansatz, eng verbunden mit dem zweiten, besteht darin, den von Stresemann immer wieder unterstrichenen und ihn sein Leben lang beherrschenden Wunsch als Leitlinie und Maßstab zu nehmen, seine soziale kleinbürgerliche Schicht zu verlassen, den Aufstieg zu schaffen, nach »oben« zu kommen und ein ökonomisch, sozial, kulturell und politisch geachteter Bürger in einer bürgerlichen Gesellschaft zu werden. Der Kampf um und die Annäherung an dieses Ziel (das sich bei Stresemann weitgehend an der Gesellschaft des Kaiserreiches orientierte) wäre ein wichtiges Merkmal für die Konstruktion seines Lebens. Einige Bemerkungen zur Kategorie des »erwachsenen Menschen« Grundsätzlich scheint es sinnvoll und möglich, sich bei einer Biografie an den Entwicklungsgängen eines als idealtypisch konstruierten Menschenlebens zu orientieren. Dieses verläuft in der Regel von der Geburt über die Phasen Kindheit, Jugendlichkeit, Erwachsensein bis hin zu Alter und Tod.14 Neben den biologischen Faktoren, die dieses Leben bestimmen, kann man ihm mehr oder weniger genau psychische und soziale Entwicklungen sowie bestimmte Dispositionen zuschreiben, die für die jeweiligen Perioden in der Psychologie, aber auch im jeweiligen allgemeinen gesellschaftlichen Empfinden, als angemessen und spezifisch gelten.15 Es werden dabei also Kategorien verwendet, die einem jeweils akzeptierten Wertekonzept entsprechen, partiell stabil sind, sich aber im Laufe der Zeit ändern können. Von dem Typus »erwachsener Mensch« wird etwa erwartet, dass er, im Vollbesitz der körperlichen und geistigen Kräfte, sein Leben selbstständig nach eigenen Vorstellungen gestaltet, ein relativ stabiles Bild von der Welt besitzt und von der Rolle, die er darin einnehmen könnte. Diese Vorstellung kann dynamisch sein, aber sie schwankt in der Regel nicht mehr beliebig, verändert sich nur noch selten grundsätzlich. Zu einem solchen Zustand gehörte, dass der Mensch sich mit den gegebenen Umständen angemessen auseinandersetzt, sie reflektiert, sich mit ihnen arrangiert und dass er bereit ist, die Umstände anzunehmen oder aber sich gegen sie zu wehren.16 Das Modell geht ferner davon aus, dass die Akzeptanz von Werten und Normen mit einem gewissen Reifegrad nicht mehr beliebig variiert, sondern diese in einem langen Prozess erarbeitet, gefunden und dann als leitend übernommen 14 Vgl. in diesem Zusammenhang die verschiedenen Studien von Erikson, der diesem Aspekt eine besondere Beachtung geschenkt hat. Erikson, Identität; ders., Lebensgeschichte und historischer Augenblick. 15 Vgl. dazu den psychohistorischen Ansatz von Peter Loewenberg: Loewenberg, Decoding the Past. 16 Luther, Identität und Fragment.

12 Einleitung werden. Die Werte und Normen werden daher nur in Ausnahmefällen und nur noch unter besonderen Umständen noch einmal geändert. Zu den idealtypischen Attributen gehören etwa Verantwortungsbewusstsein gegenüber sich selber und der Familie, aber auch gegenüber dem Beruf und der Gesellschaft, sowie die Fähigkeit, einen eigenen Lebensstil finden und nach innen und außen hin behaupten zu können.17 Zu fragen wäre daher, inwieweit Stresemann in seinem Leben diesem Idealtypus nahe gekommen ist und ob ihm das nur partiell oder zeitweilig gelang. Wichtig wäre zu wissen, zu welchem Zeitpunkt oder in welcher Periode, in welchem Bereich (politisch, ökonomisch, kulturell, persönlich usw.) das geschah. Passten diese Perioden zugleich in seinen äußeren (gesundheitlichen, politischen, ökonomischen, familiären) Lebensweg? Vor allem wäre zu untersuchen, welches die ihn begleitenden, tragenden Werte, die – einmal ausgeprägt – kaum noch zu verändernden Dispositionen waren. Gab es grundsätzliche Defizite, vielleicht zeitliche Verschiebungen, Dissonanzen, Rückschritte oder gar absolute Leerstellen?18 Kann man möglicherweise gravierende gesellschaftliche (aber auch persönliche)  Brüche feststellen, die Stresemann zu bewältigen hatte und die in dieses eher auf Kontinuität gebaute Bild vom Menschen nicht recht einzuordnen sind? Einige Bemerkungen zur sozialen Akzeptanz Es gibt zweifellos gesellschaftliche Maßstäbe und Rahmenbedingungen, in die jeder Mensch eingebunden ist. Auf Stresemann und sein Leben bezogen, wäre also zu untersuchen, in wieweit Stresemann den gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Normen und Ansprüchen genügen konnte.19 Entsprach sein Leben dem Ideal einer bürgerlichen Welt des 19. und beginnenden 20.  Jahrhunderts oder aber (und aus welchen Gründen) nicht? Gab es unterschiedliche Normen, die sich im Laufe der Geschichte oder in Stresemanns Leben maßgeblich veränderten? Wie ging Stresemann damit um und gab es deutliche Dissonanzen? Demgegenüber standen die gesellschaftlichen Erwartungen: Was forderte(n) die jeweilige(n) Gesellschaft(en) von ihm, als Aufsteiger, als Familienvater, als Bürger, als Politiker, als Wirtschaftspolitiker und Unternehmer? Inwieweit 17 Erikson, Identität, S. 114 ff. Im Gegensatz zu Erikson wird hier aber kein bindendes Raster gesucht. Es geht vielmehr nur um eine Folie, auf der sich das Leben Stresemanns ausbreitete, die aber in manchem durchaus diffus und unscharf sein kann. 18 Luther, Identität und Fragment, S. 160–182. 19 Zu diesem Kontext vor allem Pierre Bourdieu in seinem Gesamtwerk. Zur Einführung: Schwingel.

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(wann und wann nicht?) erfüllte Stresemann diese Ansprüche?20 Fand er sich in diesem komplexen Feld der von ihm erwarteten flexiblen Rollen zurecht oder sprengte er sie? Welche Folgen hatte das im gesellschaftlichen Kontext und was bedeutet das für Stresemann selber? Konnte er die eigene Lebensweise mit den äußeren Erwartungen in Einklang bringen? In diesem Zusammenhang spielt Stresemanns soziale und kulturelle Platzierung, also der Lebenskontext, dem er entstammte, eine entscheidende Rolle. Damit ist der dritte Ansatz, der erstrebte soziale Aufstieg angesprochen, der in vielem mit dem zweiten verknüpft ist und der in dieser Biografie einen breiten Raum einnimmt.21 Stresemanns Leben wurde vor allem dadurch geprägt, dass er, so die These dieser Biografie, die gesellschaftliche, politische, kulturelle und ökonomische Position, in die er hinein geboren wurde, ablehnte und diese schon sehr früh verlassen wollte. Er schätzte durchaus die Arbeit und die Arbeiter, auch den unteren Mittelstand. Es gab bei ihm insofern keinen Dünkel oder Hochmut. Trotzdem aber ging es ihm darum, das kleinbürgerliche Milieu seiner Familie zu verlassen. Daran arbeitete er seit seiner Schulzeit; das prägte ihn und sein Leben.22 Der gewünschte Milieuwechsel zwang ihn jedoch, in einer ihm unbekannten neuen Umgebung zu agieren, sich in neuen Lebensumständen zu bewegen, die für ihn von seiner frühen Sozialisation her ungewohnt und unbekannt waren, in denen er aber nun (vielleicht?) tief verunsichert sein Leben persönlich, aber zugleich auch sozial verträglich gestalten musste. Für diese besondere Lage bietet sich der Topos des »Grenzgängers« an.23 Sein Leben lang musste Stresemann an seine Grenzen gehen, an Grenzen agieren und zugleich Grenzen überschreiten. Es schien ihm nach relativ kurzer Zeit zwar zu gelingen, in einem neuen, gehobenen Milieu, unter erfolgreichen Politikern, Geschäftsleuten und Bildungsbürgern zu leben. Zu diesem Milieu gehörte er selber aber (noch) nicht ganz, würde wahrscheinlich nie völlig dazu gehören, was er mit scharfer Witterung erkannte. Er fühlte sich insofern fast immer unsicher, wie sehr er sich zeit seines Lebens bemühte, sattelfest (vielleicht auch besonders angepasst?) zu sein.24 Ständig musste er an sich arbeiten, konnte sich nirgendwo »zu Hause« fühlen. Ein in sich stabiles und ruhendes, ungefährdetes Leben zu führen, war für ihn 20 Zur gesamten Problematik der Außenleitung vgl. schon Riesman. 21 Dieser Aspekt spielt in der bisherigen Biografik kaum eine Rolle. Eine Ausnahme bildet die Biografie von Koszyk, Stresemann, der diesen Ansatz jedoch nicht systematisch verfolgt. 22 So zuletzt Birkelund, S. 19 ff. 23 Pohl, Überlegungen zu einer neuen Biographie. 24 Hierfür gibt es eine Fülle von Belegen. So kann man etwa seine Liebe für den Bierkeller (und nicht das elegante Weinrestaurant), den Wunsch, unter »einfachen Leuten« zu sein (Mitgliedschaft im Sängerbund), unter diesem Gesichtspunkt würdigen. Gleiches gilt für die volkstümliche Dichtung und seine Vorliebe für das Volkslied.

14 Einleitung daher nicht einfach; er sah immer die Gefahr, als Außenseiter verlacht oder ausgeschlossen zu werden. Diese Situation machte ihn zugleich stark vom Urteil anderer abhängig. Das war sicherlich kein Leben im Sinne des Idealtypus von Henning Luther.25 Die Frage ist daher, wie Stresemann mit dieser tiefen Unsicherheit umging. Zwar gab es im Kaiserreich und der Weimarer Republik auch andere Aufsteiger, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten. Insofern steht Stresemann paradigmatisch für eine ganze Kohorte von jungen Männern.26 Ähnlich wie ihm ging es z. B. den Aufsteigern aus der Arbeiterklasse, die in der Weimarer Republik plötzlich Minister wurden. Diese konnten sich jedoch, das war ihr Vorteil gegenüber Stresemann, in ihren neuen Positionen in ein festes sozial­ demokratisches Milieu eingebunden fühlen, das ihnen Halt gab. Stresemann hingegen gehörte keinem stabilen sozialmoralischen Milieu an. Zu analysieren wäre allerdings, ob diese Existenz, diese ständige Sensibilität und das dauernde Zweifeln an sich selbst, aber auch an anderen, nur eine Schwäche war oder aber ob sie nicht zugleich eine Stärke sein konnte, ob sie Stresemann vielleicht einen besonders scharfen Blick, nämlich die Sicht »von außen«, verlieh. War sie vielleicht immer beides, Stärke und Schwäche? Bildete der permanente Wunsch, die alte Existenz abzulegen oder zu überwinden, endlich in der neuen Existenz »angekommen« zu sein, vielleicht (trotz der Argumente Luhmanns und Bourdieus) einen »roten Faden« in seinem Leben, einen Anhaltspunkt für seine Biografie? In jedem Fall: Das Ziel, den gesellschaftlichen und ökonomischen Aufstieg zu schaffen und ein geachteter und glücklicher Bürger in einer von ihm als bürgerlich definierten Gesellschaft zu werden, hat sein Leben wohl stärker als jeder andere Faktor bestimmt.27 Er hoffte, dies im privaten Bereich, in der Öffentlichkeit, in seinem ökonomischen und politischen Wirken und auch in seiner Arbeit zu erreichen. Sein ganzes Leben kann man daher unter dem Satz zusammenfassen: »Ein Mann will nach oben und ein geachteter Bürger werden«.28 Dabei ist zugleich von großer Bedeutung, was Stresemann jeweils unter »oben« und »Bürgertum« verstand, welche konkreten Utopien er etwa mit dem Begriff Bürgertum verband, ob es das Bürgertum in der kaiserlichen Gesellschaft oder aber ein liberales Bürgertum in einer parlamentarischen Demokratie war, ob es politisch offen nach »links« oder eher nach »rechts« sein sollte und

25 Luther, Identität und Fragment. 26 Vgl. hierzu etwa Dowe u. a. Beispiele von erfolgreichen Frauenkohorten in dieser Zeit gibt es kaum. 27 Zum Bürgertum im Kaiserreich und in der Weimarer Republik zusammenfassend Lundgreen; ferner A. Schulz, Lebenswelt und Kultur. 28 Ein Teil dieses Satzes wurde bereits von Hans Fallada in einem berühmten Roman aus den 20er Jahren verwendet.

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nicht zuletzt, ob Stresemann im Laufe der Zeit vielleicht in seinen Vorstellungen schwankte.29 In diesem Kontext führen die Theorien von Pierre Bourdieu weiter, die sich u. a. um die Begriffe Habitus, soziales Feld, Kapital und Klasse ranken. Mit Kapital ist bei Bourdieu die Verfügungsgewalt über bestimmte Ressourcen gemeint. Zu diesen gehört als erstes ökonomisches Kapital im Sinne von Verfügungsgewalt über Geld und andere ökonomische Mittel. Es ist zugleich eine wichtige Basis für den Erwerb anderer Kapitalsorten. Hier ist etwa das soziale Kapital zu nennen, also die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Schließlich, und für den Weg Stresemanns besonders wichtig, sind sowohl das kulturelle, also das »Bildungskapital« als auch das »symbolische Kapital«, das die Chance bezeichnet, soziales Prestige und soziale Anerkennung zu gewinnen. Alle Kapitalsorten sind prinzipiell von gleichem Wert und unter bestimmten Umständen untereinander austauschbar. Ökonomisches Kapital kann gegebenenfalls in soziales Kapital und dieses wiederum in kulturelles Kapital transferiert werden. Das ist aber (gerade was kulturelles Kapital angeht) nicht einfach, manchmal unmöglich. Die Bemühungen der jeweiligen (alten) Kapitalbesitzer zielen in der Regel darauf ab, sich abzugrenzen und den Zugang zu der eigenen Gruppe zu erschweren. Der Kampf um die Aufnahme in eines dieser Milieus ist daher langwierig, womöglich schmerzhaft – und das Ziel wird unter Umständen nie erreicht. Damit musste sich Stresemann zeit seines Lebens auseinandersetzen. Erst alle Kapitalsorten zusammen ordnen deren Besitzer ins »soziale Feld« ein. Dieses hat nach Bourdieu gewissermaßen eine »doppelte Existenz«. Es ist zum einen in den Köpfen vorhanden und zum anderen in der Realität. In diesem Kontext ist der Begriff des Habitus von großer Bedeutung. Der Habitus eines Menschen, also ein Ensemble von früh und langfristig erworbenen Dispositionen, beeinflusst seine Wahrnehmungen und strukturiert sie zugleich entscheidend. Er hilft zur Orientierung in der bestehenden konkreten Welt, ist allerdings jeweils durch gewisse Denkschemata geprägt (Normen, ästhetische Maßstäbe, Geschmacksfragen u. ä.). Er »präformiert« dadurch die Handlungen der Menschen in einem bestimmten Sinne.30 Der jeweilige Habitus ist jedoch nicht angeboren, sondern wird durch die Sozialisation ausgebildet, ist dadurch gewissermaßen in »Fleisch und Blut« übergegangen. Er ist »ein Stück verinnerlichter Gesellschaft, deren Strukturen durch Sozialisation einverleibt werden. Er leitet die Akteure zu Praxisstrategien an […]«31. Auf Stresemann und sein Leben bezogen heißt das: Stresemann 29 Zum Bürgertum als kulturelles Phänomen, u. a. Hettling u. Hoffmann. 30 Schmuhl, S. 134 ff.; danach die folgenden Gedanken. 31 Reichardt, S. 73 ff.; danach die folgenden Gedanken.

16 Einleitung wollte sein (kleinbürgerliches) Milieu aus dem er stammte verlassen und in ein neues bürgerliches Milieu eintauchen, musste damit aber auch den entsprechenden Habitus erwerben. Um als gleichwertiger Bürger unter Bürgern bestehen zu können, reichten Vermögen und Besitz sowie politische Geltung, die Stresemann recht bald besitzen sollte, jedoch nicht aus. Nicht nur im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts waren »kulturelles Kapital« und der entsprechende bürgerliche Habitus nötig, um wirklich »dazu« zu gehören, also u. a. der Besitz von Bildung und Wissen, von Geschmack und ästhetischer Urteilskraft, aber auch von formalen Bildungstiteln oder Kunstwerken. Wichtig ist hierbei, wie erwähnt, dass Habitus und internalisiertes kulturelles Kapital, also die auf einem relativ dauer­haften, fest verankerten Ensemble kultivierter Dispositionen basierende Fähigkeit, sich in der »feinen Gesellschaft« angemessen zu bewegen, einen lang andauernden Verinnerlichungsprozess voraussetzen. Gerade hier aber besaß Stresemann erhebliche Defizite. Berücksichtigt man diese Überlegungen passt das Leben Stresemanns statt auf eine gerade Linie eher in ein Feld, in dem Bourdieu in seinen Theorien die Menschen und ihr Leben positioniert.32 Dort finden Zeit, Raum und agierendes Subjekt nahezu gleichwertig Platz. Dieses Feld ist allerdings nicht hermetisch nach außen abgeschlossen, sondern es ist permeabel. Es ruht, oder aber bewegt sich, in einem Umfeld, das seinerseits auf das Feld und die Akteure, die darin soziale Positionen besetzen, zurückwirkt, aber auch von ihm beeinflusst wird, und zwar in allen Bereichen menschlichen Lebens. Stresemanns Leben ist dann, folgt man diesem Bild, in ein Geflecht von Bezügen, Phasen und Entwicklungen auf verschiedenen Ebenen eingebunden. Was bedeuten diese Überlegungen nun für diese Stresemannbiografie? Diese Biografie richtet Stresemanns Leben nicht erneut nach seinem politisch erfolgreichem und in vielem scheinbar geradlinig verlaufenem Leben aus. Sie räumt der kulturellen und zugleich der ökonomischen Komponente einen gleich wichtigen Rang ein, sie reflektiert über seinen Habitus, über dessen mögliche Veränderung und beachtet das soziale Feld, in dem Stresemann jeweils agierte. Sie würdigt zudem parallel verlaufende Lebensaspekte und -bereiche jeweils für sich und stellt sie nicht von vornherein in einen sinnstiftenden Zusammenhang. Sie versucht dem Zufall einen angemessenen Platz einzuräumen. Die Faktoren, die das Leben Stresemanns beeinflusst haben, sollen daher nicht durchgängig an sinnvollen Handlungsabläufen oder politischen (Aufwärts-)Bewegungen abgelesen werden, sondern als latent in den meisten seiner 32 Vgl. dazu nur Bourdieu, Sozialer Raum und »Klassen«.

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Tätigkeiten und Lebensäußerungen wirkende Momente. Es können also Augenblicke sein, in denen Stresemann selber fühlte, am Ziel seiner Wünsche zu sein. Es müssen vor allem nicht immer die bekannten »großen Ereignisse« sein. In solchen (Glücks-)Momenten träfe dann idealtypisch das »Erwachsenwerden« zusammen mit einer inneren Übereinstimmung und Zufriedenheit, sowie der äußeren sozialen Integration und Anerkennung.33 Bestimmte, feststellbare Abfolgen (etwa in Politik und Ökonomie)  können insofern nicht automatisch als notwendige Stufen auf einem geraden Weg nach »oben« interpretiert werden. Genauso bedeutend sind vielmehr auch »absteigende Linien« oder aber scheinbar ziel- und sinnlos verlaufende, nur schwer einzuordnende Ereignisse und Ereignisketten, die quer zu den anderen Dimensionen angesiedelt sind und nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. Die Analyse Stresemanns aus der Perspektive eines Arztes etwa zeigt sein Leben als ein gesundheitliches Auf und Ab, mit einer eindeutigen langfristigen Tendenz zu einem vorhersehbaren frühen Ende.34 Dieser Abstiegstendenz steht der anscheinend unaufhaltsame politische Erfolg gegenüber. Die Konsequenz daraus kann nur lauten: Beides, den immer drohenden Tod, also den gesundheitlichen Abstieg, und die anscheinend unaufhaltsame politische Karriere, also den Aufstieg, gleichermaßen zu würdigen und beide dann (eventuell) miteinander zu verbinden. Die Biografie versucht, diesem Ansatz in Aufbau, Struktur und Stil zu entsprechen. Sie wird unabhängig von den zu untersuchenden Inhalten, durch Quereinschübe, Passagen »dichter Beschreibung«, durch strukturorientierte Kapitel, durch umfangreiche Bild- und Textinterpretationen, ja auch konkrete Quelleninterpretationen geprägt und aufgelockert. Das »geradlinige Bild« wird also so oft wie möglich durch die Art der Darstellung gebrochen, die versucht sich in Stil und Formen dem hier favorisierten biografischen, eben nicht unilinearen Ansatz anzupassen. Bei einer solchen Art von »Collage« steht dann die Interpretation von Stresemanns Gedichten neben seiner Krankengeschichte,

33 Solche sehr ins Persönliche gehende Aspekte sind immer schwer zu beantworten. Im Falle Stresemann gilt dies in besonderem Maße, da als Material für eine solche Analyse vor allem sein eigener Nachlass infrage kommt. Es ist aber nahezu unmöglich, die gesuchten Aspekte aus solchen Quellen heraus zu präparieren, ohne dass der Biograf dabei den Suggestionen des Nachlasses und den Intentionen des Nachlassers erliegt. Daher wird diese Biografie nicht nur die von Stresemann selber (von ihm für die Nachwelt präparierte) Eigendeutung in seinem Nachlass, sondern auch andere Quellen außerhalb seiner Eigendarstellungen analysieren, Quellen, die von der Forschung bisher häufig nicht genutzt wurden. Das Paradebeispiel für eine solche (unnötige) Selbstbeschränkung ist Birkelund, der keinerlei Quellen jenseits des Nachlasses und des Auswärtigen Amtes genutzt hat. 34 Vgl. hierzu vorläufig die knappen Mitteilungen des ihn zuletzt behandelnden Arztes, Zondek, Auf festem Fuße.

18 Einleitung verbindet sich die Analyse seiner Stimme mit der Untersuchung seiner Beziehungskreise. Vor allem: Kultur, Ökonomie und Politik stehen gleichwertig nebeneinander – und sind doch multiperspektivisch miteinander verbunden. 35 Zur inhaltlichen Schwerpunktsetzung Die bisherige Stresemannliteratur konzentriert sich vor allem auf den Politiker, und zwar den Weimarer Politiker: So nimmt etwa in der wegweisenden Biografie von Jonathan Wright die Tätigkeit Stresemanns in Sachsen, zeitlich immerhin fast die Hälfte seiner aktiven beruflichen und politischen Laufbahn, gerade einmal 16 von 666 Seiten ein. Das ist eine deutliche Unverhältnismäßigkeit. Zu fragen ist jedoch, ob zu dieser frühen Zeit wirklich nicht mehr zu sagen ist, ob ein solcher Ansatz tatsächlich dem gesamten Leben Stresemanns (und nicht nur dem nach außen glänzenden kurzen Politikerleben in der Weimarer Republik) gerecht wird. Im Gegensatz zu einer solchen weimarlastigen Konstruktion stellt die »sächsische Periode« jedoch, und das ist ein zentraler Aspekt dieser Biografie, einen immens wichtigen Teil seines Lebens dar, nicht nur, was die zeitliche Dauer angeht, sondern auch wegen der Bedeutung für die Gestaltung seines Lebens und der Ausbildung seiner Grundüberzeugungen in den verschiedensten Bereichen. Zweifel wirft auch die gegenwärtige Deutung Stresemanns als vorbildlich demokratisch-republikanischen Staatsmannes auf, die kaum Ambivalenzen zulässt. Erst war Stresemann Monarchist, dann gewandelter Republikaner. An dieser Erkenntnis wird nicht (mehr) gerüttelt. Warum aber, so wäre zu fragen, gibt es diese Scheu vor der Ambivalenz und warum kein konsequentes Nebeneinander des Ungleichzeitigen, des scheinbar Unvereinbaren? Zweifellos gab es ein Arrangement Stresemanns mit der Weimarer Demokratie. Mehr aber war es nicht, was ihn an Weimar band. Im System des Kaiserreiches hingegen hatte er einen unvergleichlichen Aufstieg erlebt, hatte Erfolge mit seiner Reform­politik gehabt. Er hatte das System geliebt  – und liebte es noch nach der Revolution von 1918/19. Stresemann akzeptierte zwar die Republik, sein Herz aber schlug monarchisch, und zwar sein Leben lang. Er dienerte lieber vor dem Kronprinzen als dass er einer weiteren Stärkung radikal-demokratischer Politik zugestimmt 35 Die Biografie berücksichtigt zugleich verschiedene gesellschaftliche Felder, etwa sein engeres Umfeld, also die ihm nahe stehenden Kreise (Familie und Freunde), das weitere Umfeld, also die allgemeine Sozialgruppe, der er zugehörte (das Kleinbürgertum) oder der er sich zuzuordnen wünschte (das Bürgertum) und sein berufliches Umfeld (Industrie), die Nation und die Politik (die er als Abgeordneter und handelnder Politiker re­ präsentierte) und schließlich die »deutsche Volksgemeinschaft«, die er liebte und nach der er strebte.

Einleitung 

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hätte. Für eine konsequente Demokratisierung von Staat und Gesellschaft hätte er aber ein »brennender Demokrat« sein müssen. Das aber war er bis zu seinem Tode nie. Das ist zu problematisieren. Ähnliche Ambivalenzen wirft Stresemanns unverhohlener Hang zum Militärischen auf. Das Militär stand für Stresemann in seinem Wert immer vor einer funktionierenden Demokratie. Dieser heimlichen Liebe war er auch in Weimar treu, trotz ihrer antidemokratischen Vorstellungen. Stresemann war aber nicht nur ein Politiker, sondern zugleich auch ein Ökonom, ein Lobbyist. Er wurde recht bald ein reicher Mann. Diesen wichtigen Aspekt seines Lebens gilt es ebenfalls angemessen zu berücksichtigen. Er besaß umfangreiches ökonomisches Kapital im Sinne Bourdieus, vor allem in seiner sächsischen Zeit. Zu fragen aber wäre, wie er reich wurde und wie er sich dabei fühlte, was ihm ökonomische Macht bedeutete, wie er damit umging, wozu er sie verwendete und ob er damit vor allem soziales und kulturelles Kapital eintauschen wollte. In der Standardliteratur gibt es auf diese Fragen nur beiläufige Antworten. Die enge, auf die Politik fokussierte Konstruktion gilt es also zu überwinden, zugunsten einer Gleichberechtigung der drei Sphären Ökonomie, Kultur und Politik. Folgt man diesem Ansatz, wird etwa im Bereich der Ökonomie ein raffinierter und erfolgreicher Geschäftsmann sichtbar, der häufig, nicht immer, an den Grenzen der Legalität operierte und Politik und Geschäft glänzend mit­ einander zu verbinden verstand, um auf dieser Basis Bürger unter Bürgern zu werden. Wer den sächsischen Syndikus Stresemann nicht genau analysiert, der wird wenig von dem Weimarer Politiker Stresemann verstehen. Mit dem kulturellen Aspekt des bürgerlichen Lebens setzte sich Stresemann sehr intensiv auseinander, weil er ihm von seiner Herkunft her besonders fremd war. Er bedeutet ihm viel, vielleicht sogar mehr als die politischen und ökonomischen Erfolge. Er versuchte sich daher als Dichter, Schriftsteller und Literaturkenner, bis an sein Lebensende. Nur wer Stresemann hier ernst nimmt, seine literarischen Erzeugnisse genau analysiert, seine Inszenierungen als Bildungsbürger beachtet und als wichtigen Teil seines Selbst- und Weltbildes anerkennt, nur wer seinen Wunsch ernst nimmt, kulturell »dazu« zu gehören, kann die ganze Breite seines Lebens wenigstens ansatzweise ausleuchten. Zum Kulturbürger Stresemann gehört, sein Leben auch unter geschlechtergeschichtlichen Aspekten zu würdigen: Stresemann, ein eher weicher Mann, nicht auf den ersten Blick sympathisch wirkend, anscheinend glücklich verheiratet, Vater in einer Musterfamilie.36 Das war das eine. Zugleich ist aber der Wunsch ständig virulent nach Geborgenheit außerhalb der Familie, ent­weder in der deutschen »Volksgemeinschaft« oder aber in echten »Männergesell­

36 Vgl. dazu nur W. Stresemann, Mein Vater.

20 Einleitung schaften«. Man denke nur an die Burschenschaften, die »Dresdner Liedertafel« oder die Freimaurer. Wenn er aber Männergesellschaften so heiß liebte: Wie musste er sich in der Weimarer Republik fühlen, wenn er als Ungedienter ausgestoßen blieb aus den Kreisen der »Krieger« des Ersten Weltkrieges, an dem er eben nicht aktiv an der Front teilgenommen hatte? Vielleicht speist sich aus dieser unerfüllten Sehnsucht seine starke Affinität zu »rechten« Männern und zum Militär, auch in der Weimarer Republik. Inwieweit prägte das seine Politik? In dieses Ensemble von bürgerlichen Werten gehört u. a. sein Frauenbild. Trotz aller Liberalität im wirtschaftlichen und politischen Bereich: Über 30 Jahre hinweg, und das nahezu kontinuierlich, im Gegensatz zu manch anderer seiner politischen Vorstellungen, favorisierte Stresemann ein Frauenbild, das aus dem Bürgertum des 19. Jahrhunderts stammte und in dem die moderne emanzipierte Frau kaum einen Platz besaß. Auch das ist eine mögliche Konstante in seinem Leben. Noch in der Weimarer Republik reproduzierte er zumindest verbal (alte) bürgerliche Normen und Werte. Sein praktisch gelebtes Frauenbild zeigt hingegen ein deutliches Spannungsverhältnis zwischen Modernität, Reformfreude und tiefstem Konservativismus, ein Spannungs­ verhältnis, das auf anderen Stresemann’schen Wirkungsfeldern ebenfalls prägend war.37 Das Leben Stresemanns ist also viel bunter, vielgestaltiger und vor allem weniger folgerichtig verlaufen, als es bisher beschrieben wurde. Es gibt eine Fülle unbekannter Facetten, die unberücksichtigt geblieben sind, weil sie bislang nicht notwendig waren, um das gängige, einen zielgerichteten Lebenslauf konstruierende Bild zu stützen. Sie sind aber ebenso wichtig, wie die bekannten Seiten Stresemanns. Genau darum aber geht es in dieser Biografie: Sie will dieses scheinbar in sich feste Bild aufbrechen, es dekonstruieren und neue Sicht­weisen hinzufügen.

37 Bezeichnend hierfür sein Brief an seine Parteigenossin Frau Dr. Bünger vom 11.2.1928, PA AA Berlin, NL Stresemann 228, in dem er sich ausführlich zur Frauenbewegung und über die Rolle der Frau in der Gesellschaft äußerte. Vgl. dazu das Unterkapitel: »Der bürgerliche Wertehimmel«.

1. Ein Leben

Autobiografie als Komposition »Meine Eltern heirateten am 20. Oktober 1903. Die Trauung wurde in der Ende des 19.  Jahrhunderts erbauten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche vollzogen. Es folgte ein höchst opulentes Essen im »Englischen Haus« der Restauration A. Huster, Mohrenstraße 49.[…] [Das Hochzeitsmahl] bestand aus fünf Gängen, bei denen man jeweils die Wahl hatte zwischen Geflügelsuppe oder Kraftbrühe, Steinbutt oder Rheinlachs, Rinderfilet oder Hammelrücken, Hummer oder Gänseleberpastete, Fasan oder Rehrücken, und natürlich fehlten das obligatorische Gemüse, Salate und eingelegte Früchte nicht. Das kulinarische Leistungsvermögen unserer Vorfahren muss sehr groß gewesen sein. Denn nun folgten auch noch »Verschiedene Eisspeisen in Figuren«, Käsebrötchen und Chesterkuchen sowie Früchte und Nachtisch. Zu trinken gab es Sherry, Portwein, deutsche und französische Weine aus den Jahrgängen 1891, ’92 und ’93. Auch ein Programm wurde dargeboten […], neben dem Tanz gab es einen Sketch ›Das erste Mittagessen‹ […]«.1

So oder so ähnlich könnte sie inszeniert worden sein, die Hochzeit von Dr. Gustav Stresemann und seiner Frau Käte, geborene Kleefeld, am 20. Oktober 1903 in Berlin. Eine fröhliche Hochzeit mit einem opulenten Mahl und guten Weinen, gefeiert von einer feinen Gesellschaft, mit Tanz und Spiel. Im Mittelpunkt: Gustav S., ein junger, aufstrebender, kluger, geliebter und liebenswerter Mann, und Käte Kleefeld, jetzt Frau Dr. Käte S., eine junge und schöne, zudem eine durchaus vermögende Frau. Beschrieben wird hier das Bild eines gelungenen Festes, aufgezeichnet zur eigenen Erinnerung, aber zugleich zur Erinnerung für die Freunde, die Zeit­ genossen und besonders für die Nachwelt.2 Nichts ist von möglichen Dissonanzen zu spüren, nichts von einem jungen, unsicheren Emporkömmling zu bemerken. Es dominieren gutbürgerliche Gediegenheit und Geselligkeit  – und Freude. Fast scheint Sohn Wolfgang, der die Hochzeit seiner Eltern so liebevoll porträtierte, dabei gewesen zu sein, scheint die Wünsche des Vaters erahnt und in seiner Beschreibung wieder gegeben zu haben.3 Insofern stellt das Bild geradezu die Inkarnation eines schönen Familientraumes dar. 1 W. Stresemann, Zeiten und Klänge, S. 9. 2 Eine knappe Schilderung der Hochzeit befindet sich auch in der Biografie von Franz Miethke (Stresemanns Neffen), Ms. o. D., ohne Seitenangaben, Privatnachlaß Stresemann, PA AA; Miethke hatte an der Hochzeit selber allerdings ebenfalls nicht teilgenommen. 3 Vgl. die ebenfalls in diesem »Insiderstil« geschriebenen Passagen bei Koszyk, Stresemann, S. 19.

22  Ein Leben

Abb. 1: Käte Stresemann (1883–1979) mit dem älteren Sohn Wolfgang (1904–1998)

Wolfgang Stresemann nutzte als Quellen für die Beschreibung allerdings nur mündliche Überlieferungen4, wenige Hinweise von Rudolf Schneider,5 dem alten Vertrauten Stresemanns, sowie ein Einladungsschreiben zur Hochzeit der Eltern. Die Hauptquelle dürften seine Eltern, und hier besonders Vater Gustav, gewesen sein. Vieles bleibt daher offen. Warum fand die Hochzeit in Berlin statt und nicht in Stresemanns neuer Heimat Dresden, wo er sich gerade etabliert hatte? Wer 4 Daher »wäre lebensgeschichtliches Erzählen nie nur ein Abbild des tatsächlichen Geschehens, sondern immer auch ein Vorgang der Sinnproduktion, ein Versuch, dem tatsächlichen Lebensgeschehen einen Sinn hinzuzufügen, indem man es in einer ganz bestimmten Weise erzählt«. Köhler, S. 43. 5 Zu dessen Biographie vgl. S. 90.

Autobiografie als Komposition 

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Abb. 2: Gustav Stresemann im Alter von drei Jahren

waren die Gäste? Wer finanzierte die Feier?6 Wie verstanden sich die beiden Familien, die »Bierverleger« und die vermögenden, zum Protestantismus konvertierten jüdischen Kaufleute? Waren die Geschwister Stresemanns anwesend? Wie mochte sich etwa der alkoholkranke Bruder Richard angesichts der aus­ erlesenen Weine verhalten?7 War tatsächlich alles eitel Freude zwischen den Ehepartnern? War nicht der Ehemann bis vor kurzem, jedenfalls nach eigenen Angaben, unsterblich ver6 Miethke berichtet, dass Stresemanns Schwiegermutter die Hochzeit »ausrichten« ließ. Von Weinen verstand Stresemann allerdings noch Jahrzehnte nach seiner Hochzeit fast nichts. Vgl. seine Schreiben an Freiherrn Ernst von Wolzogen, 14.12.1920, PA AA , NL Stresemann 310 und an Paul Kressmann, 28.1.1922, PA AA , NL Stresemann 316. 7 Miethke schreibt, dass Richard Stresemann bei dieser Hochzeit eine sehr gute und wirkungsvolle Rede auf die Braut hielt. Woher diese Kenntnis kam, ist ungeklärt.

24  Ein Leben liebt gewesen, allerdings nicht in seine Frau, sondern in eine Schulfreundin, die seinen Heiratsantrag aber abgelehnt hatte?8 War die Heirat mit der Schwester eines Bundesbruders also tatsächlich die Liebesheirat, als die sie jetzt und später, hingestellt wurde? Wie fühlte sich eine gerade 20-jährige Braut, deren mangelnde Kochkünste bei einem Sketch bereits während der Hochzeit vor der gesamten Gesellschaft verulkt wurden? Fragen über Fragen, die gewiss nicht alle beantwortet werden können. In jedem Fall tut sich an dieser Stelle eine seltsame Mischung von Dichtung und Wahrheit, von Dichte und Offenheit auf. Zu hoffen ist daher, dass der umfangreiche Stresemann-Nachlass hier weiterhelfen kann. Schauen wir also nach. Nachlässe sind allerdings eine spezielle Quellensorte. Sie mahnen zu erhöhter Vorsicht, denn sie spiegeln niemals das ganze Leben des Protagonisten wider, sondern immer nur einzelne (ausgewählte) Aspekte. Das kann auf Lücken in der Überlieferung beruhen oder aber mit Aktenverlusten zusammenhängen. Zudem erschien oft nicht alles, was der Historiker heute für wichtig erachtet, dem Nachlasser von Bedeutung. Es kann zudem subjektive Gründe geben, denn in der Regel wird in Nachlässen ja nur aufbewahrt, was der Nachlasser von sich überliefern wollte. Meistens findet der Historiker daher nur sehr wenig, was den Protagonisten herabsetzen könnte. Er muss immer damit rechnen, dass wichtige Geschehnisse verschleiert werden. Die Art und Weise, wie das geschieht, verrät dem Forscher womöglich, wie der Nachlasser sich selbst der Nachwelt präsentieren wollte. Nach einer bewussten Komposition sieht der Stresemann-Nachlass allerdings nicht aus.9 Die Überlieferung scheint geradezu unerschöpflich und dicht zu sein. Der Nachlass wirkt akribisch geführt, büro- und geschäftsmäßig geordnet, was nicht verwunderlich ist, da Stresemann zeitweilig drei Privatsekretäre beschäftigte. Alles scheint darin aufbewahrt zu sein, vom Kinderbild bis zu Altersreflexionen, vom Geschäftsbrief bis zum diplomatischen Geheimdokument, von »Bettelbriefen« bis zu Beschwerden bei Behörden. Stresemann wirkt geradezu wie ein umfangreiches offenes Buch, das man nur noch lesen muss, um wirklich alles über ihn zu wissen und alles von ihm zu verstehen.10 8 Zu dieser Freundin, Charlotte Panneke, hielt er noch Jahrzehnte später Kontakt. Der von Stresemann verfasste Prolog zur Eröffnung des Liegnitzer Theaters etwa verdankt der Freundschaft zwischen beiden seine Entstehung. Stresemann war auch Pate eines Kindes seiner Freundin. Hinweise u. a. bei Görlitz, S. 23. Sehr kritische Auseinandersetzung damit bei Franz Miethke, der aus durchsichtigen Gründen (Sympathie gegenüber Käte Stresemann) versucht, diese Beziehung herunterzuspielen. 9 Vgl. dazu Hirsch, Das Stresemannbild, S. 2: »Aber auch wenn man seinen Nachlass mit der Lupe untersucht, bleiben die Aufrichtigkeit seines Wollens und der idealistische Kern seiner Staatskunst unangetastet«. 10 Insofern ist gerade hier die Gefahr erheblich, in die »biographische Falle« (Bourdieus) zu gehen. »Man kann und darf eben nicht von vornherein und ungeprüft die Sinnhaftigkeit einer Existenz unterstellen«, Liebau, S. 84.

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Tatsache ist jedoch, dass dieses scheinbar offene Buch von Stresemann in vielem selber geschrieben worden ist. Er hat in seinem Nachlass eine Komposition seines Lebens hinterlassen, nach seinen Vorstellungen und Wünschen, hat das Bild von einem atemberaubenden Aufstieg in Wirtschaft, Politik und Kultur vermittelt. Eine gewisse Skepsis wird bereits dadurch genährt, dass Stresemann große Teile dieser Papiere niemals geheim halten wollte. Er wusste seit Mitte der 1920er Jahre um seinen nahen Tod, und sein getreuer Sekretär Henry B ­ ernhard hat seinem Wunsch entsprochen, wichtige Papiere bereits kurz danach zu veröffentlichen  – ein außergewöhnlicher Vorgang. Diese Papiere waren also von vornherein für die Nachwelt bestimmt,11 stellten eine kunstvolle Komposition dar. Der Nachlass ist vor allem nicht vollständig. Stresemann hat selber darauf hingewiesen, dass der Politiker keineswegs alles aufschreiben, geschweige denn dokumentieren dürfe, was wichtig sei. So kritisierte er etwa die Wiener Zentralbank, die unangenehme und sie diskriminierende Finanztransaktionen dokumentiert und sogar archiviert hatte, mit der Bemerkung: »Die Herren scheinen auf diesem Gebiete [dem verschleiernden Umgang mit schriftlichen Vermerken] noch Anfänger zu sein.« Er fügte dieser Kritik halb ironisch hinzu: »Bitte diese Bemerkung aber nicht zu den Akten zu nehmen«.12 Ein sortierender und selektiver Umgang mit Quellen ist allerdings im Falle Stresemanns schwer zu belegen, denn das bewusste Nichtdokumentieren oder aber das Weglassen (oder gar Unterdrücken) von schriftlichem Archivgut ist in der Regel kaum nachzuweisen. Aus möglichen weißen Flecken eine bewusste Strategie abzuleiten, ist schwierig. Versuchen wir es trotzdem. Schon auf den ersten Blick fällt das Fehlen großer Quellengruppen auf: Fast der gesamte Bestand von Stresemanns Tätigkeit im Verband Sächsischer Industrieller (VSI), einschließlich seiner Syndikustätigkeit, liegt nur in Rudimenten

11 Der Herausgeber des Nachlasses, Henry Bernhard, bestätigt dies indirekt, in dem er betont, dass allein beim 3. Band das Auswärtige Amt insofern eine Art Vorzensur ausgeübt habe, als die Auswahl der Dokumente den Schwerpunkt auf die Westpolitik Stresemanns legen sollte. Bernhard, S. 530. 12 AV Stresemanns vom 16. Juli 1926, PA AA , NL Stresemann 281. Auch in einer Rede vor dem Preußischen Abgeordnetenhaus führte Stresemann am Beispiel Napoleons aus, was ganz sicher für ihn selber gilt: »Man kann ein Bild napoleonischer Denkungsweise nicht lediglich auf die eigenen Äußerungen des Betroffenen stützen. Sie sind ohne objektive Beweiskraft. Die Großen der Weltgeschichte haben in ihren Geschichtswerken stets die Verteidigung ihrer Politik betrieben […].« in: Stresemann, Napoleon und wir, Vortrag im Preußischen Abgeordnetenhaus, 29.1.1927, abgedruckt in: Stresemann, Reden und Schriften, Bd.  2, hg. von Rochus Freiherr von Rheinbaben, Dresden 1926, S.  329–350, hier: S. 333.

26  Ein Leben vor.13 Die Auswertung des umfangreichen Nachlasses der sächsischen Unternehmerdynastie Niethammer,14 eine (allerdings etwas schmale) Gegenüberlieferung, zeigt jedoch, dass Stresemann in dieser Zeit sehr intensiv korrespondiert hat. Sie zeigt vor allem einen Stresemann, den wir so aus dem Nachlass nicht kennen: Sichtbar wird dort nicht nur eine rastlose, politisch und ökonomisch höchst aktive Person, sondern ein nicht immer sympathischer Mensch.15 Erkennbar werden die Konturen eines überaus ehrgeizigen jungen Managers und Politikers, der keinerlei Mittel scheute, um aufzusteigen.16 Vor allem aber kommt dort ein »Rechthaber« und »Streithammel« zum Vorschein, mit dem man es nur schwer aushalten konnte. Der Mangel an Quellen betrifft jedoch nicht nur den Wirtschaftsmanager und Landespolitiker. Der persönliche Briefwechsel etwa fehlt fast vollständig.17 Einiges davon ist später (im lange sekretierten Privatnachlass) aufgetaucht. Im »offiziellen« Nachlass fehlen hingegen viele (frühe)  Korrespondenzen und familiäre Schriftstücke, diverse studentische Zeugnisse, Unterlagen über die Aktivität in der Burschenschaft, ebenso sucht man vollständige und detaillierte Darstellungen seiner finanziellen Verhältnisse vergebens, kurzum: Es fehlt fast alles, was über den jungen Mann, den späteren Familienvater, den Ehemann, den vermögenden Bürger, vor allem aber über den, schon in der Jugend häufig, kranken Stresemann hätte mehr als nur »offiziell« Auskunft geben können.

13 Die Lücke hat in der Forschung dazu geführt, diese Tätigkeit oftmals zu unterschätzen. Eine Ausnahme stellt die Biografie von Koszyk, Stresemann, dar, der sich ausführlich mit den frühen Lebensabschnitten von Stresemann auseinandergesetzt hat. 14 Der Nachlaß Niethammer befindet sich im SWA Leipzig. 15 Vgl. dazu die bisher noch nicht veröffentlichte Dissertation von Steinberg, erscheint Leipzig 2015, die ich bereits einsehen konnte. 16 Dieser Nachlass wurde bislang noch von keinem Stresemannbiografen genutzt, obwohl er seit mehreren Jahren zur Einsicht bereit liegt. Vgl. das Schreiben Niethammers an Hermann Voith, 3.12.1908, SWA , N 12, 48314: »[…] ist zweifellos ein Mann von hervorragender Befähigung und Energie und grossen Kenntnissen. Damit verbindet sich naturgemäss ein reichliches Selbstbewusstsein und das Streben, Ansehen und Geltung zu gewinnen […].«. Zum Komplex Eschenburg, Stresemann, S. 151 f.: »[…] zugleich war er wegen seiner ehrgeizigen Betriebsamkeit und Agilität, seinem forschen Auftreten und seiner Wendigkeit – um nicht zu sagen Verschlagenheit – auch in der eigenen Fraktion, selbst bei jenen, die ihm richtungsmäßig nahestanden, umstritten […]. Seine Formulierungen bestachen zunächst vielfach, doch bei genauerer Untersuchung oder im Konfliktfall mußte der andere feststellen, dass sich Stresemann für seine eigene Handlungs- und Entscheidungsfreiheit mehr vorbehalten hatte, als ihm jener hatte zubilligen wollen. Das war nicht gerade Täuschung, aber so entstand leicht Enttäuschung, und durch sie wurde Argwohn erweckt«. 17 Ein großer Teil  des privaten Nachlasses, der bislang der Forschung weitgehend entzogen war (J. Wright hat ihn allerdings bereits intensiv ausgewertet), befindet sich nun im PA AA , Berlin, Privatnachlass Stresemann.

Autobiografie als Komposition 

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Der jetzt zugängliche Briefwechsel Stresemanns mit seinem Jugendfreund Kurt Himer, den Kurt Koszyk entdeckt hat, zeigt aber, dass es dazu Quellen gibt, die frühe Lebensspanne also bewusst weggelassen worden sein muss.18 Gleiches gilt für einen Teil der Briefe an seine Frau und weitere private Akten. Sie wurden z. T. erst später der Forschung zugänglich gemacht. Trotzdem aber bleibt die Überlieferung im »privaten Bereich« im Verhältnis zum offiziellen Politiker immer noch lückenhaft.19 Warum aber fehlen diese Quellen? Eine Erklärung wäre, dass Stresemann gedacht haben mochte, private Dinge gehörten nicht in einen Politikernachlass. Dagegen spricht, dass Splitter aus dem Privatleben durchaus vorhanden sind. Wollte Stresemann vielleicht bestimmte Aspekte seiner frühen Jugend bewusst nicht öffentlich machen, andere aber betonen? Welches Bild von sich wollte Stresemann komponieren, das möglicherweise durch die nichtveröffentlichten Quellen hätte getrübt werden können?20 Die Vermutung liegt nahe, und das ist eine der Hauptthesen dieser Darstellung, dass Stresemann das Bild von einer schönen, bildungsbürgerlichen Jugend entwerfen wollte. Er wollte eine geradlinige Biografie. Er wollte das Leben eines gefühlvollen, durch Bildung geprägten jungen Mannes präsentieren, eines bildungshungrigen Jünglings, der allmählich zum Staatsmann heranreifte, dabei aber immer den träumerisch-menschlichen und empfindsamen Charakter seiner Jugend bewahrte. Nicht zufällig hat er daher seiner ersten geplanten Biografie sowie einem späteren Gedichtband aus dem Jahre 1920 den Titel »Traumjörg. Gedichte einer Jugend« gegeben.21 Diese Interpretation von sich selber hat er durch einzelne Hinweise in seinem Nachlass geschickt gestreut, durch eine kluge Positionierung einiger zentraler Quellen noch vertieft. Sie sind von der Nachwelt begierig aufgenommen worden und haben in der Biografik einen großen Nachhall gefunden. Ein Beispiel für diese subtile Technik: Anstelle von vielen Originaldokumenten findet sich im Nachlass vor allem eine, sehr umfangreiche, Quelle, in der Stresemann selber über sich und seine Jugendzeit, seine Empfindungen 18 Durch die neuen Quellen wissen wir zwar jetzt etwas mehr über die frühe Jugend, aber immer noch nichts über die Hochzeit und ihre Hintergründe. Interessant ist, dass dieser Teilnachlass, den Stresemanns Söhne kannten und verwalteten, zu ihren Lebenszeiten der Forschung nicht zur Verfügung gestellt wurde. Erst nach dem Tode wurde er dem Politischen Archiv übergeben. 19 Dies bleibt auch dann gültig, wenn man den privaten Briefwechsel mit seiner Frau seit 1919 berücksichtigt, PA AA Berlin, Privatnachlass Stresemann. 20 Ein unbekannter Autor schrieb anlässlich einer Stresemann-Veranstaltung vom 10. Mai 1931 am 3.  Juni 1931 an den Stresemannfreund Schultze: »Selbst Rochus von Rhein­ baben, der ja viel Material von Stresemann hatte, ist uns Näheres über Stresemanns Jugend schuldig geblieben. Aber das mag wohl daran liegen, dass Stresemann selbst seine Jugendzeit ziemlich geheimnisvoll behandelte«, PA AA , Privatnachlass Stresemann. 21 Schreiben an Stadtrat Schwidetzky, 22.2.1922, PA AA Berlin, NL Stresemann 316.

28  Ein Leben

Abb. 3–6: Der junge Stresemann – vier Ansichten eines jungen Mannes

und Vorstellungen berichtet, also sich selber interpretiert und diese Interpretation dem zukünftigen Interpreten als Leitfaden anbietet. Es handelt sich um seinen frühen Bildungsbericht.22 Jeder Biograf musste auf ihn zugreifen, und das wusste und wollte Stresemann offenbar. Ein Bildungsbericht ist jedoch streng genommen fast ohne Aussagekraft. Nirgendwo während einer langen Schulzeit wird so viel gelogen, so systematisch verdreht, so explizit auf den Empfänger hin komponiert und so oft Rea­ lität und Wunsch vermengt, wie in einem Bildungsbericht. Dort wird in der Regel nur das festgehalten, von dem der Verfasser glaubt, dass es ihm nützlich sein könnte, von dem er vermutet, dass es der Empfänger lesen möchte und vielleicht noch, was er selber sein möchte, also eine Vision von sich selber. Dort steht aber nur selten, was der Verfasser tatsächlich dachte oder die Realität seines bisherigen Lebens.23 22 Abgedruckt auch in: Stuttgarter Rundschau. Monatsschrift für Politik, Wissenschaft und Kultur 2 (1947), S. 19–21. 23 Vgl. demgegenüber die Eigeninterpretation Stresemanns gegenüber seinem ehemaligen Direktor Johannesson 22.3.1922, PA AA , NL Stresemann 316: »Die damals [in der Schulzeit] gewonnenen Eindrücke haben wesentlich meine Entwicklung bestimmt. In dem Lebenslauf, den ich zum Abiturientenexamen eingereicht hatte, habe ich zunächst versucht, gewisse Anschauungen, die mich leiteten, zum Ausdruck zu bringen«. Bei diesem Brief wäre jedoch das Sender- und Empfänger-Verhältnis gebührend zu berücksichtigen.

Autobiografie als Komposition 

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Diesen Eindruck bestätigen die im Bericht prononciert erwähnten schöngeistigen Interessen: Literatur und Lyrik, vor allem aber Geschichte und Religion, und immer wieder Schiller und Goethe. Nahezu selbstverständlich galt das Interesse des Schreibers auch Shakespeare und den großen französischen Schriftstellern. Erwähnt wurde also in diesem Bericht schlichtweg alles, was man als Lehrer von einem jungen an Bildung interessierten Schüler erhoffen durfte. Allein das mahnt zur Skepsis. Sie gilt umso mehr, als zu dieser zentralen Quelle noch einige weitere, ergänzende Überlieferungen zu finden sind, Quellen, die von enthusiasmierten ehemaligen Lehrern oder Mitschülern aus den 1920er Jahren stammen und die Aussagen aus dem Bildungsbericht genau bestätigen und damit zu objektivieren scheinen. In ihrer stark verklärenden Form wollten sie aber vor allem »ihrem« Reichsminister Stresemann zur Ehre gereichen. Diese geradezu hagiografischen Texte wurden zudem von Stresemann noch kurz vor seinem Tode selber durchgesehen und seine »Wünsche und Änderungen in den Texten berücksichtigt«24. Auf diese Weise stabilisier24 Der Schwidetzkysche Text war von Stresemann selber geschrieben worden. Hinzu kommt noch, dass Schwidetzky unbedingt auf das Honorar für diesen Artikel angewiesen war, um das Studium seiner Söhne bezahlen zu können. Er war daher, und schrieb das ausdrücklich, zu jeder Änderung in seinen Aussagen bereit! Vgl. dazu den Brief Schwidetzkys an Stresemann, 15.8.1929, PA AA , NL Stresemann 86.

30  Ein Leben ten sie den von Stresemann gewünschten Gesamteindruck, dienten also seiner Konstruktion.25 Die von Stresemann und seinen Verehrern komponierten Jugenderinnerungen entsprechen daher ganz dem Muster einer bildungsbürgerlichen Karriere im Sinne Goethes, der diese Entwicklung in seinen Bildungsromanen über Wilhelm Meister niedergelegt hatte. Von ihnen war Stresemann so fasziniert, dass er sich später in wissenschaftlichen Abhandlungen mehrfach an ihnen versuchte. Beiden Erinnerungsformen ist jedoch eines gemeinsam: Sie wollen mit einer solchen Stilisierung vor allem die Einheit der Biografie herstellen, und zwar vom erfolgreichen Ende her gesehen. Was aber fehlt in diesem idealen Bildungsbericht? Auffällig ist, dass die ökonomische Situation im Elternaus nur höchst oberflächlich gestreift wird. Die Familienverhältnisse kommen ebenfalls nur kurz und dann geschönt vor. Der älteste Bruder etwa lebte in schwierigsten ökono­ mischen Verhältnissen, »die Schwester Agnes starb mit 17 Jahren, der Bruder Emil gar wenige Monate nach der Geburt, der Bruder Robert im Alter von 22 Jahren, vermutlich durch Selbstmord«26, ein weiterer Bruder war alkoholkrank, davon kein Wort, wohl aber vom Tod der geliebten Mutter – und der tiefen Trauer darüber.27 Weggelassen wird, dass Stresemanns Eltern permanent um ihre wirtschaftliche Existenz kämpften, Tag und Nacht arbeiteten und die Geschäfte trotzdem immer schlechter liefen. Diese Realität hat Stresemann später dann allerdings wissenschaftlich in seiner Dissertation analysiert und dadurch gewissermaßen verarbeitet.28

25 So die einleitenden Worte von Georg Schwidetzky zu seinem Zeitungsartikel: »Kreise um den jungen Stresemann«, Unterhaltungsblatt, 8.10.1929, der kurz nach dem Tode Stresemanns [!] erschien und von daher schon »hagiografischen Charakter« tragen musste. Danach auch das folgende Zitat: »Die Jugend eines Großen zu zeichnen, hat nur bedingten Wert. Nicht alles ist groß schon in den Knaben- und Jünglingsjahren. Der Betrachtung wert aber sind die Keime der Anlagen, die die spätere Größe ausmachen. Ich glaube, sie sind unschwer bei Stresemann zu erkennen«. Ähnliches gilt für den Aufsatz von Prof. Dr. Fritz Johannesson, dem ehemaligen Rektor an Stresemanns Schule, »Aus Stresemanns Schulzeit«, Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, H. 4, Berlin 1930, S.  121–132. Dieser Artikel wurde ebenfalls zum Ruhme Stresemanns nach seinem Tode geschrieben. Er muss daher von der Quellenkritik wie ein Nachruf behandelt werden. 26 Kolb, Stresemann, S. 10. 27 Hierzu Wright, Stresemann, S. 20. Es wäre allerdings zu diskutieren, inwieweit derartige Aspekte in der damaligen Zeit in einen »Bildungsbericht« einfließen sollten. 28 Zur Situation des väterlichen Geschäftes und ähnlich gelagerter Bierverlage vgl. seine kluge und empirisch abgesicherte Dissertation: Die Entwicklung des Berliner Flaschenbiergeschäfts, Berlin, 1901. Im Vorwort heißt es: »Den äusseren Anlaß zu ihrer [der Dissertation] Entstehung gaben die vielfachen Beziehungen, welche der Verfasser mit Angehörigen des Brauer- und Bierverleger-Berufes in Berlin anknüpfen konnte«. ­Koszyk,

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Hatte Stresemann aber als junger Mensch mit den konkreten Lebensrealitäten in einem aufstrebenden Industriestaat wirklich nichts zu tun? Hatte der später mit allen Wassern gewaschene Syndikus des Vereins Sächsischer Industrieller (VSI) wenige Jahre vor seiner Tätigkeit niemals einen Blick für derartige ökonomische Probleme? Hielten sie ihn, so sein Klagen, wirklich nur von seinen viel wichtigeren literarischen Studien ab: »Von allen Tagen in der Woche ist für mich der Sonnabend der unglücklichste, weil ich da mit dem Geschäft zu thun, Geld entgegenzunehmen, Lohn auszuzahlen und allerlei andere Dinge zu besorgen habe.«29 Großes Interesse an der sozialen Realität seines Elternhauses und starkes Verantwortungsgefühl gegenüber der Familie sprechen aus solchen Zeilen nicht gerade. Stresemann lebte schließlich nicht nur von der Tätigkeit seiner E ­ ltern und seiner mithelfenden Geschwister, sondern er nutzte zugleich das soziale Umfeld für seine literarischen Zwecke, indem er etwa in der »Deutschen Gastwirtschaftszeitung« im Jahre 1895 erstmalig seine frühen Gedichte publizierte.30 Im Bildungsbericht hingegen beklagte er vor allem seine Einsamkeit, da es kein richtiges Familienleben gegeben habe, weil seine Geschwister wegen ihres Alters geradezu einer anderen Generation angehört hätten.31 Er habe, da eher schwächlich, zu Hause nicht mitgearbeitet. Er gönnte sich vielmehr, vor allem in den Ferien, ein freies Leben und begann das Reisen: »Diese Reisen führten mich in die schönsten Teile Thüringens, in den Harz und vor allem an das Meer.« Dort gab er sich, so seine Selbstaussage, seinen jugendlichen Selbstfindungsritualen hin, wollte der hässlichen realen Welt entfliehen, als ein Schöngeist, trotz der häuslichen Knappheit mit reichlich väterlichem Geld versehen und finanziell vor den Geschwistern bevorzugt. Er stilisierte sich also bereits hier als der unschuldige bürgerliche »Traumjörg«, mit der Sehnsucht nach Bildung und der Schönheit der Natur im Herzen. Wenn aber seine Schilderungen zutreffen sollten: Was war das für ein Junge, der Geschwister, Vater und Mutter schwer arbeiten ließ und sich selber seinen geistigen Vergnügungen widmete?

Stresemann, S.  34, schreibt allerdings, dass »der 17 jährige Gustav […] dem Vater im Geschäft helfen [musste]. Gustav erhielt auf diese Weise früh Einblick in die Finanzen eines Kleingewerbetreibenden«. Einen Beleg für diese Feststellung gibt Koszyk jedoch nicht an. 29 Brief an Himer, 3.12.1896, PA AA , Privatnachlass Stresemann. Auch dieser knappe Hinweis ist also nicht im Nachlass enthalten. 30 1895 publizierte der junge Stresemann unter dem Pseudonym Gustav Steinert in der »Deutschen Gastwirtschaftszeitung« zwei Gedichte: »Erinnerung« (Nr. 63, 7.8.1895) und »Mein Stern« (Nr. 45, 19.6.1895). 31 Als Stresemann zehn Jahre alt war, waren bereits vier seiner insgesamt sieben Geschwister gestorben.

32  Ein Leben In seinem frühen Schriftwechsel mit Kurt Himer32, der im privaten Nachlass dokumentiert ist, stellt sich Stresemann auf den ersten Blick zwar ebenfalls als ein »Träumer«, dar, scheint also das von ihm selber konstruierte Bild erneut zu bestätigen. Bei näherem Hinschauen erweist er sich hier jedoch als sehr vernünftig und realitätsbezogen, vor allem, wenn es um ihn selber und seine zukünftige Karriere ging. In einem fast zwanzigseitigen Brief, in dem er ausführlich über seine berufliche Zukunft nachdachte, wog er geradezu kaufmännisch-akribisch das Für und Wider seiner Berufswahl ab und legte dar, wie er sich systematisch auf den Beruf des Journalismus vorbereitet habe (Schule, frühe Zeitungsbeiträge, »Berliner Briefe«). Er machte klar, dass er diese Tätigkeit nur zwischenzeitlich be­endet habe, um sich gezielt auf das Abitur vorbereiten zu können. Dieses sei eben »sehr nützlich«. Hier ist nichts von einem »Traumjörg« zu bemerken, sondern es zeigt sich ein kühl sich selber und seine Chancen beurteilender junger Mann, der sehr rational entschied.33 Der unilineare Lebenslauf, der weltfremde Traumjörg und seine bildungsbürgerliche Jugend waren also zum großen Teil Wunschvorstellungen und Konstruktionen, machten Stresemann das Leben offensichtlich leichter – trafen aber in vielem nicht die Realitäten seiner Jugend. Die bewusste Inszenierung seines Lebens kann man ebenfalls gut an dem Zustandekommen einiger zeitgenössischer Biografien erkennen. Auch in ihnen werden die Handschrift Stresemanns und seine Zielsetzungen wieder deutlich. An erster Stelle steht hier die Schrift, die sein Neffe, Franz Miethke, im Jahr 1919 publizierte.34 Bereits im Januar des Jahres 1909 bat Stresemann ihn, im Falle seines baldigen Ablebens, »eine kurze Biografie meines Lebens und Strebens als Volkswirtschaftler, Politiker und als Mensch zu verfassen […]. Daß ich als Mensch nicht Egoist war, weißt Du, betone bitte auch dies.«35 Hierbei fällt auf, dass Stresemann schon mit 31 Jahren über einen baldigen Tod nachdachte, dafür bereits »literarische« Vorbereitungen traf und inhaltliche Vorgaben für seine Biografie machte. Stresemann wollte, dass »meine Kinder mich einmal im Lichte Stresemann’scher Tradition kennen lernen, damit nicht alles in ihnen ausgelöscht wird, was an unseren Anschauungen in Dir [Miethke] und mir lebt«. Welche Traditionen damit gemeint waren, liegt auf der Hand, nämlich die konstruiert liberal-bürgerlichen. Sie wurde durch diesen Auftrag gewissermaßen noch einmal herbeisuggeriert.

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Himer war etwas älter und studierte zu diesem Zeitpunkt bereits. Brief an Himer vom 3.12.1896, Kopie im Privatnachlass Stresemann, PA AA . Miethke, Dr. Gustav Stresemann. Stresemann an Miethke, 30.1.1909, Privatnachlass Stresemann, PA AA; danach auch das folgende Zitat.

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Zu dieser frühen Biografie kam es dann jedoch erst 1919, und Miethke erfüllte nun den Wunsch seines Onkels. Persönliche Nähe und (die finanzielle) Abhängigkeit von Stresemann sorgten dafür, dass die Studie einem Panegyricus glich. Trotzdem aber wurde sie noch eng mit dem Gewürdigten abgesprochen und vor der Publikation von diesem genehmigt.36 Dem Strategen in ihm kam es im Krisenjahr 1919 besonders darauf an, den Schwerpunkt der Biografie auf den Wirtschaftspolitiker zu legen. Das entsprach zwar angesichts seiner umfangreichen politischen Tätigkeit in der Kriegszeit nicht dem tatsächlichen Tätigkeitsfeld, es berücksichtigte aber maßgeblich die politischen Umstände im Erscheinungsjahr 1919. Der Politiker, der »Kriegstreiber«, Kanzlerstürzer und »Annexionist« Stresemann war im Jahre 1919 nicht gefragt. Im Gegenteil, Hinweise auf sein politisches Wirken im Kriege mochten kontraproduktiv sein. Seine Kompetenz als Wirtschaftsexperte war hingegen trotz seiner politischen Irrungen unbestritten, konnte also als positiver, den Augenblick überdauernder Faktor seines Lebens in den Mittelpunkt gerückt werden. Damit mochte er in der Revolutionszeit, in der das Bürgertum vor möglichen Sozialisierungen zitterte, eine positive Wirkung erzielen. In der Biografie kam es mithin darauf an, Stresemann so in Szene zu setzen, dass er künftig politisch wieder tragbar werden konnte.37 Bewusste Zielsetzungen gelten ebenfalls für die Herausgabe der Schriften im Jahre 1926 durch den Vertrauten, den ehemaligen Staatssekretär im Kanzleramt, Rochus Freiherr von Rheinbaben, und dessen im Jahre 1930 veröffentlichte Stresemannbiografie.38 In dieser Zeit gab es nun ein ganz anderes politisches Umfeld, und dementsprechend eine deutlich andere Inszenierung. Stresemann sah sich in diesem Jahr, angesichts des Abschlusses des Locarno-Paktes und des Eintritts Deutschlands in den Völkerbund, als ein international anerkannter und zugleich erfolgreicher Friedenspolitiker. Dementsprechend konnte er nun sehr gut den Menschen, und wegen seiner Erfolge den Politiker, präsentieren, seiner Politik ein sympathisches Gesicht geben. Der Wirtschaftspolitiker und Syndikus war dagegen weniger gefragt. Ziel dieser biografischen Komposition war es daher, sein gesamtes bisheriges Leben und politisches Wirken als eine Einheit darzustellen, die von Anfang an immer den gleichen Zielen gedient hatte, ohne Um- und Abwege (auch

36 Stresemann an Miethke, 25.3.1919, PA AA , NL Stresemann 206. Stresemann wollte auch dafür sorgen, dass das Buch gut ausgestattet wurde. Zudem schlug er vor, »dem Buch das [bekannte] Bild von Michailoff« beizulegen. 37 Genau diesen Zweck erfüllte die Skizze Miethkes, die, als sichtbares äußeres Zeichen, in der Schriftenreihe des Verbands Sächsischer Industrieller erschien. 38 Stresemann. Reden und Schriften. Politik – Geschichte – Literatur, 1897–1926, 2 Bde., Dresden 1926 und: von Rheinbaben, Stresemann. Die Biographie an der er selbst noch mitgewirkt hat, Dresden 1930.

34  Ein Leben nicht im Krieg). Nur die (gewünschte)  konsequente Geradlinigkeit in seiner Politik hätte daher, und das fast zwangsläufig, zum Erfolgsjahr 1926 geführt. Es ging also um »die einheitliche Linie meiner Politik« seit der Jahrhundertwende. Dementsprechend behielt Stresemann sich vor, in dieser Sammlung die wichtigen Stationen seines Lebens vor allem nach diesen Auswahlkriterien zu konstruieren.39 Stresemann verantwortete daher die Gesamtkonzeption beider Bände selber und suchte persönlich, um nur ein Beispiel zu nennen, die zur Veröffentlichung bestimmten Gedichte heraus. Durch sie sollte einerseits der Eindruck eines Romantikers, aber andererseits auch der eines national gesonnenen Bürgers erweckt werden. Das Ansinnen von Rheinbabens, zuerst nur den ersten Band der Reden zu publizieren, der bis zum Jahre 1918 reichen sollte, beunruhigte Stresemann sehr. Er befürchtete, dass dadurch die Stringenz in seinem Leben konterkariert werden könnte. Die Linken würden, so Stresemann, sagen: »Seht hier den Mann des Krieges«, während man auf der Rechten sagen würde: »Während des Krieges warst du mit uns in einer Linie, nach dem Kriege bist du aus oppositionellen Gründen auf die andere Seite gegangen.«40 Der geplante Titel »Stresemann, von London bis Genf«, kam für ihn daher nicht in Frage, denn ein solcher Titel würde »doch den Zeitraum meiner Tätigkeit auf das Ministerleben« einschränken.41 Viel passender schien ihm der selber ausgewählte Titel: »Stresemann, der Staatsmann und die Persönlichkeit«, ein Titel, der nicht nur seine Person genügend hervorhob, sondern zugleich auch seine persönliche Solidität und die Kontinuität seines Lebens betonte. So erhielt dann die Biografie den Untertitel. »Der Mensch und der Staatsmann« und die Ausgabe seiner Reden und Schriften den Untertitel: »Politik – Geschichte – Literatur«. Auf die kulturellen Komponenten seines Lebens, die dieses durchgängig bestimmt hätten, kam es ihm also besonders an.42 Diese wenigen Beispiele deuten an,43 in welchem Maße Stresemann bestrebt war, sein Bild für die Nachwelt mitzubestimmen und die Vorstellungen, die er 39 Stresemann an Rochus Freiherr von Rheinbaben, 17.8.1926, PA AA , NL Stresemann 42; danach auch die folgenden Gedanken und das vorherige und nachfolgende Zitat. 40 Genau dies geschah in der wissenschaftlichen Debatte um Stresemann in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts, vgl. den Abschnitt »Dichte Beschreibung II«. 41 Stresemann an Rochus Freiherr von Rheinbaben, 27.8.1926, PA AA , NL Stresemann 42. 42 Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Briefwechsel mit Miethke bezüglich einer ersten Buchausgabe seiner Reden und politischen Schriften. Hier übernahm Stresemann die letzte Korrektur und Auswahl mit der Bemerkung: »zumal man überlegen muss, inwieweit einzelne Zitate in der Gegenwart aus parteipolitischen und -taktischen Gründen ausgenutzt werden könnten«, Stresemann an Antonie Hoffmann, 28.1.1922, PA AA , NL Stresemann 142. 43 In einem ganz anderen Sinne nahm er schließlich Einfluss auf die Biografie Heinrich Bauers, die kurz nach seinem Tode im Jahre 1930 erschien, wiederum in einem anderen politischen Umfeld (Bauer, Stresemann). Angesichts des drohenden politischen Rechts-

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von sich selber und seiner Politik haben wollte, in die Biografien als objektive Tatsachen einfließen zu lassen. Stresemann war geradezu Mitverfasser dieser frühen Biografien.44 Er kannte neben den groben Linien dieser Werke alle Einzelheiten sehr genau. Darüber hinaus half Stresemann kräftig bei liberalen und bürgerlichen Legendenbildungen mit. Die Aussage etwa, er stamme aus einem (Eltern-)Hause, das die liberale Tradition der Revolution von 1848 bewusst gepflegt habe (die auch in den älteren Biografien kolportiert wurde), war, das hat Kurt Koszyk sorgfältig herausgearbeitet, eindeutig falsch.45 Der von dem jungen Gustav, nach eigener Aussage, verehrte, politisch aktive Großvater Stresemann, der ›aktive Revolutionär von 1848‹, »lag [nämlich] 1848 bereits seit acht Jahren auf dem Alten Friedhof«46. Die Bücher über die Revolution, die Stresemann besaß, wurden von ihm in seinem Nachlass daher zu Unrecht als revolutionärer Familientraditionsüberhang gewürdigt. Hier wurde also ebenfalls eine (gewünschte) bürgerlich-liberale Kontinuitätslinie hergestellt.

Gustav Stresemann und seine Physiognomie Stresemann reizte und reizt bis heute durch sein Aussehen; (kritische) Urteile werden bei seinem Anblick geradezu herausgefordert.47 Zu untersuchen ist daher, welche möglichen Auswirkungen seine Physiognomie auf sein Verhalrucks fürchtete Stresemann wegen der geradezu hagiografischen Tendenzen vor allem negative Rückwirkungen auf sein von ihm selbst entworfenes Bild für die Nachwelt. Er monierte daher: »Man bekommt beim Lesen des Buches direkt Lust, deutschnationaler oder völkischer Journalist zu sein, so schreit dieses Buch nach Herabsetzung und Kritik« (Schreiben an den Generalsekretär Trucksaess, 21.9.1929, PA AA , NL Stresemann 106). Deswegen wirkte er hier dämpfend ein, um wenigstens das Übermaß an Superla­ tiven, mit denen Bauer seine Politik an seinem Lebensende zeichnete, abzumildern. Er legte Wert darauf, als ein liberaler Mann der rechten Mitte, der weder von links noch von rechts vollständig zu vereinnahmen war, zu erscheinen. So auch Schneider, Aus Stresemanns Anfängen, S. 973. 44 Dies betont etwa von Rheinbaben ausdrücklich, nicht zuletzt, um den ökonomischen Erfolg seiner Biografie zu sichern. 45 Vgl. hierzu die gerade in diesem Teil vorzügliche Studie von Koszyk, Stresemann, S. 28 ff. 46 Ebd., S. 29. 47 Vgl. Märker, S. 103–104. Märkers Studie ist bislang die einzige, die eine physiognomische Beurteilung Gustav Stresemanns vorgenommen hat. Kritisch zu berücksichtigen ist allerdings, dass Märker schon früh zum Nationalsozialismus abdriftete und 1934 ein rassentheoretisches Pamphlet »Charakterbilder der Rassen« verfasste, in dem er die Überlegenheit der nordischen Rasse nachweisen wollte. Das rät zur Vorsicht bei der Lektüre seiner Werke. Immerhin erhielt Märker aber im Jahr 1959 für seine Tätigkeit in der VG Wort das große Bundesverdienstkreuz, wurde also rehabilitiert. Ausführlich zu Stresemanns Physiognomie Viscount d’ Abernon, Botschafter der Zeitenwende, Bd. III, S. 19–32. D’ Abernon war ein großer Bewunderer Stresemanns.

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Abb. 7: Porträt ­Gustav Stresemann von Augustus Edwin John (1878–1961), März 1925, Öl auf Leinwand, ­ Albright Knox Art ­ Gallery, New York

ten im privaten und gesellschaftlichen Kontext und vor allem auf seine politische Karriere hatte. Wie und warum gelang es Stresemann trotz seines auf den ersten Blick nicht einnehmenden Aussehens, als Politiker ein positives Image zu entwickeln und Vertrauen zu erwecken? Welche Rolle spielte dabei die Karikatur?48

48 Die Physiognomie steht damit zwar im Mittelpunkt, ihre Bedeutung für die Ausstrahlung Stresemanns darf jedoch nicht überbetont werden. Stresemann bezauberte (wegen oder trotz seines Aussehens) vor allem im kleinen Kreis und galt dort meist als großer Sympathieträger. Dies traf auch auf den Wahlkämpfer Stresemann zu. Vgl. dazu Starkulla, S. 80.

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Stresemann im Fokus der Physiognomieforschung Die Literatur zu dem Thema Physiognomie ist eher knapp, wissenschaftlich fundierte Studien sind bis heute Mangelware, obwohl die Forschung gerade in der Zeit der Weimarer Republik einen lebhaften Aufschwung nahm – und dies nicht nur in der konservativen oder zum Rassismus tendierenden Wissenschaft.49 Die folgende Darstellung stützt sich aber vor allem auf Mitteilungen von zeitgenössischen Presseorganen und die (immer sehr) subjektiven Urteile der Zeitgenossen. Vielen von ihnen, nicht nur seinen politischen Gegnern, erschien ­Stresemann geradezu als Ebenbild des unsympathischen Deutschen, »nicht gerade [als] Deutschlands sympathischstes Gesicht«50. Er verkörperte offensichtlich das, was man, vor allem im Ausland, als den »hässlichen Deutschen« bezeichnete.51 Beispiele dafür sind etwa ein polnisches und ein französisches Urteil, verfasst also nicht gerade von Sympathisanten Deutschlands. »Ein Zuschauer, der […] die Gelegenheit hat, zum ersten Mal sich Dr. Stresemann anzusehen, einen beleibten Mann mit einem mächtigen Kahlkopf, dem man die Freude am Essen und Trinken und die Abneigung gegen den Sport ansieht, könnte ihn für die Verkörperung dessen halten, was man als deutschen Typus betrachtet«52, gemeint war damit der »Boche«. Und: Untersetzt, stämmig, mit rundem »blanken Schädel und etwas aus dem Kragen quellendem Nacken, ein schwerfälliger Körper auf festen Beinen, so macht Herr Stresemann im ersten Augenblick den Eindruck etwas brutaler Kraft«.53 Kurzum: Stresemann zeigte sich, so diese beiden ausländischen Presseurteile, als ein Mann mit geradezu »kümmerlichen Gaben der Gestalt«.54 Der Nachfolger von Reichskanzler Cuno, einem weltgewandten Reeder und einem der »bestaussehenden Männer« Deutschlands,55 besaß die Gestalt eines 49 Vgl. dazu Hellpach, Deutsche Physiognomik. Vgl. jetzt auch Schmölders, Das Vorurteil im Leibe. 50 Roger, S. 92. 51 Schoenberner, S. 326. Vgl. dazu Jakob, S. 117: »Stresemann sah aus wie die Karikatur eines ›boche‹ aus der ›Assiette au Beurre‹«. Diesem (negativen) Urteil schließt sich, wenn auch gefälliger formuliert, seine große Bewunderin Antonina Vallentin (Vallentin, S. 13) an. 52 Ausschnitt aus der Zeitung »Ezeczpospolita« 21 (1927), »Der Meisterjongleur«, Bericht des Lektorates Polen, 24.8.1927, PA AA , R 27950, Nr. 179. Weiter hieß es dort u. a.: »Dieser anscheinend brutale Mann ist ungewöhnlich gelenkig, vorsichtig und opportunistisch in seinem Vorgehen. Sehr scharfe durchdringende ironisch-zynische Augen dementieren seine Schwerfälligkeit«. 53 Übersetzung aus dem Französischen aus der »Revue d’ Allemagne et des Pays des Langue allemande«, o. D. PA AA , R 27950, Nr. 257. Es handelt sich um eine kenntnisreiche 12-seitige Skizze über Stresemann. 54 Müller-Jabusch, S. 113. 55 Gestalten rings um Hindenburg, S. 26.

38  Ein Leben Pyknikers, mit allen entsprechenden Attributen: rundlich, wohlgenährt, einem breiten fleischigen Gesicht, kurzen Gliedmaßen und hochgezogenen Schultern,56 mit einer starken Oberstirn, kleinen hervorstehenden Augen, starken Lidschwellungen, weiten Nasenflügeln und ausgeprägten Nasenlippenfalten. Die zeitgenössische Psychologie deutete dies als »Furche der Unzufriedenheit«.57 Sein Gesicht wirkte gedunsen und blass, vor allem bedingt durch seine Krankheiten. Die runden Wangen und die sehr vollen Lippen betonten diesen Eindruck. Die stark entwickelte Unterlippe wurde vielfach als Zeichen für »rigorose Selbstbehauptung sowie Neigung zur Unbeherrschtheit und Unduldsamkeit« interpretiert.58 Stresemann ist auf fast allen überlieferten Fotos mit herabhängenden Mundwinkeln zu sehen,59 mit zwei nach unten gezogenen Falten, ein mögliches Zeichen für »Pessimismus, Entmutigung, Resignation, Gehemmtheit, Bedrücktheit durch Kummer und Sorgen«, wie Psychologen dies interpretiert haben.60 Unter diesen Umständen konnten auch die Ohren, wohlgerundet und harmonisch, kaum etwas gut machen. Sie wirkten in ihrer wenig schönen Umgebung geradezu deplatziert.61 Die gewaltige Glatze62 wiederum war ein besonders prägendes, kaum zu übersehendes, für die 1920er Jahre durchaus nicht positiv beurteiltes Element.63 Die Natur scheint es mit Gustav Stresemann wirklich nicht gut gemeint zu haben. Diesen eher negativen Eindruck gewinnt man allerdings nur auf den ersten Blick. Ein genaueres Hinschauen wird der Persönlichkeit Stresemanns deutlich gerechter, wie der Korrespondent einer großen französischen Zeitschrift feststellte. Sowie der intensive Blick sich nämlich »auf Herrn Stresemanns Gesicht richtet, verschwindet dieser Eindruck der Alltäglichkeit. Das ist kein Allerweltgesicht. Ein eigenwilliges Kinn, ein großer, sinnlicher Mund, eine turmhohe Stirn und vor allem zwei tiefliegende, graue, blitzende Augen, klein, geistvoll, wissbegierig, forschend und von erstaunlicher Beweglichkeit, die einen aus­ fragen und einen durchdringen, ohne je ihr eigenes Geheimnis preiszugeben.«64 56 57 58 59 60 61 62 63 64

Spieth, S. 122. Lange, S. 289 und 290. Endres, S. 123. Allein im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin stehen weit über 200 Bilder Stresemanns zur Verfügung. Ich danke dem Archiv für die großzügige Erlaubnis, diesen reichen Fundus intensiv auswerten zu dürfen. Endres, S. 121. Hartenbach, S. 15. Dazu kenntnisreich Degreif, S. 367–372; danach auch die folgenden Gedanken. Vgl. dazu Gosselin. Übersetzung aus dem Französischen aus der »Revue d’ Allemagne et des Pays des Langue allemande«, o. D. PA AA , R 27950, Nr. 257. Ähnlich beobachtet, jedoch verbunden mit einem sehr negativen Gesamturteil, Claud Cockburn: »Er hatte einen wunderbaren Auftritt, bei dem er nicht nur vorgab, dick zu sein – was er war –, sondern auch gutherzig und

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Einen positiven Eindruck vermitteln auch die eher zarten Hände, die nicht zu diesem so grob wirkenden Körper zu passen scheinen. Auf einem Foto, wie es in der Biografie von Rudolf Olden, wohl mit dementsprechender Absicht überliefert ist,65 kann man gut erkennen, warum Marianne Raschig, eine große, allerdings höchst unkritische Bewunderin Stresemanns, zugleich eine anerkannte Expertin, von geradezu »unvergesslichen« Händen gesprochen hat.66 Seine Hand zeige »ein harmonisches M mit geschwungenen, groß angelegten Linien und schönen Zeichnungen«67, wirkt äußerst »sensibel«,68 fast weiblich mit ihren »langen, glatten, knotenlosen, konisch zulaufenden Fingern und […] ovalen Nägeln«.69 Mancher Zeitgenosse glaubte darin sogar eine »Künstlerhand« oder eine »psychische« Hand zu erkennen, was als »Steigerung und Veredelung der Künstlerhand« zu interpretieren sei.70 In jedem Fall, so seine Bewunderer, deute seine Hand auf »großen Idealismus und starke intuitive Begabung, eine sehr segensreiche, ebenso seelisch befruchtende wie geistig wegweisende Wirksamkeit« hin. Bei aller notwendigen Relativierung dieser Aussagen und bei aller notwendigen Skepsis gegenüber solchen Interpretationen71: Es scheint ein deutlicher Gegensatz zwischen den feinen, sensiblen Händen und dem eher etwas plumpen Körper zu bestehen. Ein solcher Gegensatz könnte als äußerer Ausdruck von Spannungen interpretiert werden.

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obendrein ein wenig von Bier benommen. In Wirklichkeit war er so schnell und scharf wie eine Rasierklinge, und als ob das noch nicht ausreichte, schlug er auch noch von hinten mit einem Hammer zu.« (Cockburn, In Time of trouble, An Autobiography, London 1957, S. 97 f., zit. nach: Wright, Stresemann, S. 12). Olden, Stresemann, o. S.; siehe Abbildung 9, S. 40. Raschig. Die Berlinerin galt in der Weimarer Republik als anerkannte Expertin in der Kunst des Handlesens. Sie interpretierte aus Handlinien und -formen einen Spiegel seelischer und physischer Eigenschaften. Neben Stresemann analysierte sie u. a. die Hände renommierter Künstler und Gelehrter wie Gerhart Hauptmann, Albert Einstein, Thomas Mann, Wilhelm Furtwängler, Theodor Heuss, Bertolt Brecht und Alfred Döblin. Raschig, zit. nach: Schmölders, Hitlers Gesicht, S. 128 f. Spieth, S. 228. Endres, S. 140; danach auch die folgenden Gedanken. Ebd., S. 142; danach, S. 142, die folgende Beschreibung. In einer zeitgenössischen Handanalyse (o. D., o. O.) heißt es über Stresemanns Hände: »[…] Gustav Stresemanns Hand weist eine außerordentlich klare Linienführung auf, die schwunghafte Gedankengänge, Überblick, die Gabe der Konzentration, Begeisterungsfähigkeit und Denkschärfe erkennen läßt. Der Daumen in harmonischer Gliederung ein Führerdaumen, verrät Wille und Logik in guter Wechselwirkung. Die Finger gerade gereckt zeigen Lauterkeit der Gesinnung und Gradheit des Charakters, das Liniennetz Übersichtlichkeit, Dispositionsgabe und Konzilianz an. Die großangelegten Linien werden noch durch schöne Zeichnungen auf den oberen […] wie auch auf dem Daumenballen ergänzt. Die Form der Kunstlinie unterhalb des Ringfingers verrät großes Verständnis für künstlerische Dinge und Pflege der Kunst«.

40  Ein Leben

Abb. 8: Gustav Stresemann im Kurpark Bad Wildungen, 1926

Abb. 9: Stresemanns Hände

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Sieht man sich die Fotogalerie Stresemanns an, dann verstärkt sich diese Vermutung, dann verschwimmt das stabile Bild des ersten Momentes. Stresemann wirkt manchmal geradezu fragil, nicht forsch, sondern eher schüchtern. Auf vielen Fotos ist ein Mensch zu sehen, der durch seine Körpersprache massive Abwehr zu signalisieren scheint, der Unmut, Unwohlsein und den Wunsch ausstrahlt, der Belästigungen und Zumutungen, etwa von Fototerminen, am besten nicht ausgesetzt sein möchte.72 »Die linkische Steifheit seiner Bewegungen unterstrich […] den Eindruck eines Mannes, der sich seiner unglücklichen Erscheinung peinlich bewusst ist«, so urteilte ein scharfsichtiger Zeitgenosse aus der Presselandschaft.73 Ein solcher Eindruck entsteht auch, wenn neben ihm auf den Familien-, oder auf den offiziellen Fotos, seine charmante und allseits beliebte Frau zu sehen ist. »Mittelgroß und drahtig […] ist sie eine der elegantesten und bestangezogensten Frauen Berlins«, so urteilte ein Berliner Journalist, der damit wohl die Meinung der Berliner Klatschpresse korrekt wiedergab.74 Nicht zu Unrecht wurde Gustav Stresemann häufig als der »Mann einer der klügsten, ehrgeizigsten und energischsten Frauen Berlins« bezeichnet, einer Frau, »die seinen Weg oft genug erleichtert, seinen Ehrgeiz angestachelt hat«.75 Gemeint war damit, dass Käte Stresemann ihren, manchmal hilflos wirkenden, Gustav, »unermüdlich, unverdrossen unterstützt […] auf gesellschaftlichem Gebiet«.76 Sie verstand es sehr geschickt, »die Schwerfälligkeit ihres Mannes mit Eleganz und Liebenswürdigkeit zu umgeben«.77 Das von Käte Stresemann geführte Haus stellte in der Weimarer Republik zwar den »Mittelpunkt des diplomatischen Korps und der offiziellen Welt der Reichshauptstadt« dar,78 doch der weltläufige Harry Graf Kessler, ein langjähriger Beobachter der Familie und der Berliner Szene, sprach dem Außenminister und seiner Frau dennoch die wahre Eleganz ab. Ihre Abendgesellschaften empfand er eher als »Tulerien-Ball unter Napoleon III«[…]. »sehr viele, meist unelegante Frauen, mit Ketten von falschen und echten Perlen und von schwit72 Vgl. etwa das im NL Stresemann 65 vorliegende Bild zusammen mit Frau Stresemann, Titules­cu u. a., in denen dies im besonderen Maße auffällt. 73 Schoenberner, S. 326. Vgl. dazu Schiffer. Das Urteil von Schiffer ist insofern von hohem Wert, als Schiffer Stresemann nicht nur sehr gut kannte, sondern ihm in sehr kritischer Distanz verbunden war. 74 Gestalten rings um Hindenburg, S.  82. Vgl. dazu Louis P. Lochner, Porträt von Frau Strese­mann, 24.4.1924, PA AA , NL Stresemann 79. 75 Müller-Jabusch, S.113. 76 Gestalten rings um Hindenburg, S. 82. Danach auch das folgende Zitat. Dass Frau Stresemann wegen ihrer Feste (besonders der Faschingsfeste) konservative Kritik massiv auf sich zog, ist sehr gut belegt. Vgl. etwa: Rumpelstilzchen, S. 172 f. 77 Kürenberg, S.159. 78 Am 25. August (o. J.) berichtete Stresemann stolz an seine Frau (PA AA Berlin, Privatnachlass Stresemann), dass er sie das erste Mal »vertreten« habe.

42  Ein Leben

Abb. 10: Gustav Stresemann auf der Konferenz in San Remo 1929

Abb. 11: Stresemann schreibt Ansichtskarten, September 1929, Vitznau. Rechts neben ihm Attaché Wolf

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zenden Männern in schlecht sitzenden Fräcken in schönen alten, traditionellen Räumen«79. In den Augen der Gräfin von Schubert, geborene von Harrach, Gattin von Stresemanns Staatsekretär, Multimillionär und Enkel des Saarindustriellen von Stumm, passten Stresemann und seinesgleichen ebenfalls nicht zur gehobenen (Adels-)Gesellschaft, wie Graf Kessler im März 1926 weiter notierte: »Renata [von Schubert] ist innerlich und äußerlich die schöne, elegante, impertinente Aristokratin geblieben, für die Stresemann, Luther, die Parlamentarier überhaupt noch immer ›Leute‹ sind, ein groteskes Bürgergesindel, das sich gegen alle Ordnung an die Macht gesetzt hat. […] Dabei ist sie die einzige große Dame der Republik, neben der Frau Stresemann, Frau Luther, von Frau Löbe zu schweigen, aussehen wie Tippmamsells im Sonntagsstaat.«80

Instinktiv war sich Stresemann seiner Defizite wohl bewusst  – und litt darunter, wie ein aufmerksamer Beobachter und Eingeweihter, Eugen Schiffer, konstatierte:81 »Auch war er sich des Mangels der Kinderstube wohl bewusst. Ging dieses Bewußtsein bei ihm auch nicht so weit wie bei dem Sozialdemokraten Ignaz Auer, der einmal bemerkte, er würde all sein Wissen darum geben, wenn er genau wüßte, ob man Fisch und Spargel nur mit der Gabel oder auch mit dem Messer essen kann, so klingt es doch wie ein Selbstbekenntnis, wenn er [Stresemann] in dem Nachruf auf Rathenau schreibt, dass dieser Mann, an Reichtum und große Umgebung gewöhnt, zu denen gehört habe, die so wie die Männer des alten Adels eine Sicherheit des Auftretens besaßen, die andere sich erst erwerben mußten.«

Je älter (und kränker) Stresemann wurde, desto mehr wehrte er sich gegen die gesellschaftlichen Aktivitäten, die ihm, jedoch nicht seiner Frau, immer lästiger wurden. Sie erschienen ihm schließlich als reiner Zwang: 79 Grupp, Harry Graf Kessler, S. 231, Zitat nach dem Tagebuch Graf Kesslers. Zu Kessler und Stresemann vgl. auch: Grupp, Harry Graf Kessler als Diplomat, S. 61–78. Quellenkritisch ist hier allerdings die aristokratische Herkunft des Tagebuch schreibenden Grafen zu berücksichtigen. Kessler (1868–1937) wuchs in Frankreich, England und in Deutschland auf, war eine Art Weltbürger, in mehreren Kulturen erzogen, Kunstmäzen, Diplomat, Literat und Tagebuchschreiber. Er besaß und verkörperte damit alle kulturellen Kapitalien, die Stresemann so sehr abgingen. Ganz zweifellos hat er mit einer gewissen Arroganz des »Weltbürgers« auf den aus seiner Sicht biederen Stresemann herabgeschaut. Das allerdings hat die Scharfsichtigkeit seiner Urteile nicht getrübt, sondern wohl eher verstärkt. 80 Harry Graf Kessler, Tagebücher, S. 463 f. (Aufzeichnung vom 3.3.1926). Abseits des Auswärtigen Amtes war von Schuberts Haus in der Berliner Magarethenstraße ein Mittelpunkt der »feineren Gesellschaft« der Reichshauptstadt, wo sich Politiker, Diplomaten, Wirtschaftsführer und andere prominente Persönlichkeiten ein Stelldichein gaben. 81 Schiffer, S. 301.

44  Ein Leben »Wir müssen einen Saisonschluß in Berlin durchführen ›sonst gehe ich drauf’ wie Blücher, dessen Briefe ich hier las, an seine Frau schreibt. Mir bekommt es so gut von all den Festen fern zu sein, daß ich nicht beabsichtige, mich diesem Zwang wieder zu fügen. Mussolini nimmt keine Einladung außer Haus an, Briand ebenfalls nicht, Chamberlain gibt 2 Diners in der Saison, warum soll ich in fünf Jahren tot sein, weil ich jeden Abend dinieren muß? Ich denke nicht daran.«82

Hier wird der Kontrast zu seiner Frau sehr deutlich. Beide besaßen nicht nur verschiedene Interessen und einen unterschiedlichen Gesundheitszustand, sondern sie waren ganz anders belastet. Stresemann wies, sicherlich nicht ganz uneigennützig, seine Frau ausdrücklich auf die Gefahren dieser vielen Aktivitäten hin: »Warum« – so fragte er – » machst Du Dich derartig zum Sklaven der ›Gesellschaft‹? Du solltest ausruhen, denn Du kannst das Tempo dieses Lebens auf die Dauer auch nicht aushalten!«83. Diese Aufforderung war aber, wie zu vermuten, recht erfolglos.84 Die Mahnung könnte wohl eher als ein Hilfeschrei verstanden werden, ihn selber nicht länger mit diesen gesellschaftlichen, ihm höchst unangenehmen Aktivitäten zu quälen.85 In der grundsätzlichen Frage jedoch, ob und inwieweit er die adlige Oberschicht als Vorbild für sich selber akzeptieren und dieser elitären Kultur seinerseits etwas abgewinnen wollte, verhielt er sich durchaus ambivalent.86 Sehr deutlich artikulierte er etwa seine Verachtung gegenüber dem Lebensstil des von ihm in der Politik sonst hoch geschätzten deutschen Botschafters in Paris, von Hoesch: »Hoesch gefällt mir nicht, ich meine persönlich. Der Hausherr ist eingebildeter als der frühere Kaiser von China. Eine Herzlichkeit kann hier gar nicht aufkommen, nur eine Feierlichkeit wie bei Schwabach [befreundeter Bankier]. Er hat 16 (in Worten sechzehn) Diener und Angestellte, darunter 3 Köche. Dabei ist der Mann Junggeselle. Ich möchte nicht noch einmal dort wohnen«.87

82 Stresemann an seine Frau, 21.2.1927 (San Remo), PA AA , Privatnachlass Stresemann. 83 Stresemann an seine Frau, 17.2.1927 (San Remo), PA AA , Privatnachlass Stresemann. 84 Auffällig ist erneut, dass diese Aspekte, die seine Krankheit berühren, im offiziellen Nachlass eher unterrepräsentiert sind. Dies stützt die These von der Komposition des Nachlasses durch Stresemann. 85 Zu Stresemann Gesundheitszustand vgl. das folgende Unterkapitel »Ein kranker Mann«. 86 In diesen Kontext passt die Bemerkung Kesslers, vom 5.2.1926, Tagebuch S. 453: »[…] die Kronprinzessin habe aber abgelehnt, mit Stresemann zusammenzutreffen. Recht undankbar, da Stresemann ihren Mann nach Deutschland zurückgebracht hat«. 87 Stresemann an seine Frau, PA AA , 30.8.1928, Privatnachlass Stresemann.

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Stresemanns Physiognomie als Symbol für Vertrauen Wie wirkte nun ein solcher Mann in der Politik? Wie und warum konnte Stresemann als Wahlkämpfer vor allem in der Weimarer Republik so große Erfolge erzielen? Wie gelang es ihm, populär und sogar volkstümlich zu werden? Diese Fragen sind von umso größerer Bedeutung, als sich die politischgesellschaftliche Landschaft in der Weimarer Republik gegenüber der Kaiserzeit erheblich gewandelt hatte. Das Erscheinungsbild der Politiker erhielt ein neues Gewicht, wobei Bilder eine immer größere Rolle spielten.88 Auch die Politik, allerdings langsamer als etwa Sport und Gesellschaft,89 nutzte nun »Personenbilder als Identifikationsangebote für Wähler«90. Die Gesichter der Politiker, die jetzt verstärkt nach den Kriterien des Aussehens beurteilt wurden,91 erhielten dadurch eine noch größere Bedeutung.92 Stresemann kannte diesen Trend bereits aus seinem Amerikaaufenthalt im Jahre 1912, als er den Wahlkampf von Woodrow Wilson vor Ort verfolgt hatte.93 Im Jahr 1923, in dem Stresemann als Reichskanzler das erste Mal die große politische Bühne betrat, wurde er nun geradezu schlagartig zu einer bekannten öffentlichen Figur und hatte sich fortab in besonderem Maße in einer »Schönheits-, Vertrauens-, Überzeugungskonkurrenz«94 zu bewähren. Das aber gelang ihm glänzend, weil er in kurzer Zeit einen positiven Menschentyp kreieren konnte und dabei aus seinen scheinbaren optischen Nachteilen Vorteile machte. Einen wichtigen Typus im visuellen Tableau der Weimarer Republik stellte der »neue Tatmensch« dar, der mit den Traditionen des Vorkriegsbürgertums gebrochen hatte, von der Vorkriegsperiode deutlich unterscheidbar, sicht- und identifizierbar. Er sollte Sicherheit, Kraft und Härte in unsicheren Zeiten, sollte den radikalen Neuaufbruch verkörpern. Stresemann zählte eher bedingt dazu, weder durch sein Aussehen noch wegen der damit verkörperten Werte. Zudem konnte er nicht auf eine kriegerische Vergangenheit verweisen, wie etwa die von ihm jahrelang hofierten Waldemar Pabst oder Georg Escherich.95 Ein Gegentypus zum »Krieger«, stellte der kultivierte und honorige Bürger dar, der ein Stück deutscher Kontinuität verkörperte. Dieser Typ lag Stre88 Mergel, Parlamentarische Kultur, S. 355; nach ihm auch die folgenden Gedanken. 89 Ebd. 90 Ebd., S. 357. 91 Schmölders, Das Gesicht als Bürgschaft, S. 224. 92 Vgl. hierzu nur die Auseinandersetzung über das Bild von Noske und Ebert in der Badehose, Mühlhausen. 93 Im Jahr 1928 war er dann schließlich der erste Politiker, der einen erfolgreichen »Personality-Wahlkampf« führte (Mergel, Parlamentarische Kultur, S. 358). 94 Brückle, S. 9. 95 Vgl. dazu das Unterkapitel »Der Verständigungspolitiker und sein Doppelleben«.

46  Ein Leben semann schon näher. Ob er allerdings aufgrund seiner politischen Haltung im Weltkrieg ohne weiteres in der Lage war, diesen Typus überall, zumindest im Bürgertum, positiv zu besetzen, schien mehr als fraglich.96 Auch sein Äußeres prädestinierte ihn nur bedingt dafür.97 Einige zeitgenössische Kritiker sahen in ihm eher den »Berliner Bourgeois; eine Schicht, die zwischen Proletarier und sogenannten Gebildeten liegt, aber beiden an Lebensfähigkeit überlegen ist  […].«98 »Seine […] Züge […] hatten etwas ausgesprochen Proletarisches, wenn nicht sogar Vulgäres.«99 Auf Vertrauen bzw. Vertrauenswürdigkeit kam es jedoch entscheidend an.100 Vertrauen konnte wesentlich dazu beitragen, soziales und daraus folgend politisches Kapital zu erwerben oder dieses zu vermehren. Die Bedeutung eines »Vertrauen einflößenden Gesichtes« war umso wichtiger, als Stresemann der Vertreter einer Mittelpartei, der DVP, war. Diese aber wurde von ihren Freunden und erst recht von ihren Gegnern häufig als eine »Drehscheibe« bezeichnet: immer flexibel und wendig, immer offen für alles, niemals auf etwas festgelegt. Ihre Führer waren daher besonders leicht dem Verdacht ausgesetzt, prinzipienlos und damit wenig vertrauenswürdig zu sein. Trotzdem aber gelang es Stresemann im Jahre 1923, zu einer vertrauenswürdigen Figur zu mutieren. Eine erste Erklärung dafür bieten erneut die Aufzeichnungen des Grafen Kessler. Der scharfsinnig-kritische Beobachter der Weimarer Republik, zeigte diese mögliche Metamorphose vom Träger von Misstrauen zum Symbol für Vertrauen sehr anschaulich am Beispiel einer Rede des Zentrumpolitikers Matthias Erzberger vom Juli 1919. Erzberger war von den Deutschnationalen im Reichstag wegen seiner Politik maßlos angegriffen worden und verteidigte sich nun in einer Art und Weise, die aus einem Mann mit einem »Ohrfeigengesicht« einen überzeugenden, Vertrauen einflößenden Sympathieträger machte. Diese Wandlung, so Graf Kesslers Interpretation, beruhte vor allem auf Erzbergers innerer Wahrhaftigkeit, einer Eigenschaft, die alle sonst bei diesem Politiker dominierenden negativen Konnotationen in den Hintergrund rücken ließ:101 »Erzberger mit seiner Spießergestalt, seinem klobigen Dialekt, seinen grammatischen Sprachfehlern, fiel zunächst ganz ab […].

96 Zur Kategorie des Vertrauens und ihrer Verbindung mit der Physiognomie vgl. Schmölders, Das Gesicht als Bürgschaft, S. 213–244. 97 Vgl. dazu Herz, S. 95 f. 98 Roger, S. 95. 99 Schoenberner, S. 326. 100 Frevert, Vertrauen  – eine historische Spurensuche, S.  9; danach auch die folgenden Gedanken. 101 Zit. nach: Schmölders, Hitlers Gesicht, S. 79. Erneut ist hierbei aber quellenkritisch auf eine gewisse aristokratische »Hochnäsigkeit« Kesslers hinzuweisen.

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Ich stand unmittelbar hinter ihm an der Rednerbühne, sah seine schlecht gemachten, platten Stiefel, seine drolligen Hosen, die über Korkenzieherfalten in einem Vollmondhintern münden, seine breiten, untersetzten Bauernschultern, den ganzen fetten, schwitzenden, unsympathischen, kleinstbürgerlichen Kerl in nächster Nähe vor mir: jede ungelenke Bewegung des klobigen Körpers, jeden Farbenwechsel in den dicken prallen Wangen, jeden Schweißtropfen auf der fettigen Stirn. Aber allmählich wuchs aus dieser drolligen, schlecht sprechenden, ungeschickten Gestalt, die furchtbarste Anklage empor, die schlecht gemachten, schlecht gesprochenen Sätze brachten Tatsache auf Tatsache, schlossen sich zu Reihen und Bataillonen zusammen, fielen wie Kolbenschläge auf die Rechte, die ganz blass und in sich zusammengeduckt und immer kleiner und isolierter in ihrer Ecke saß.«

Nicht direkt vergleichbar, wohl aber in Manchem ähnlich, vollzog sich die Wandlung Stresemanns. Im Jahr 1923 wurde aus dem bislang lavierend, schwankend, taktierend und in vielem unsympathisch wahrgenommenen Stresemann der neue Staatsmann Stresemann. Es gelang ihm in diesem Jahr, sich durch sein die Öffentlichkeit überzeugendes Krisenmanagement als ernst zu nehmender Politiker der Republik zu inszenieren und Wahrhaftigkeit und innere Überzeugung auch in Krisenzeiten auszustrahlen. Dieses positive Image genoss er bis zu seinem Tode, sowohl bei dem größten Teil des Bürgertums als auch bei großen Teilen der Sozialdemokratie. Eine wichtige Rolle spielte dabei, wie bei Erzberger, seine Rednergabe, mit der er Vertrauen zu schaffen wusste. Sein Verehrer Heinrich Bauer beschreibt die Wirkung Stresemanns als Redner sehr kenntnisreich: »Woher stammt das Vertrauen zu diesem Mann, woher seine Popularität? Er hat äußerlich an sich nichts an sich, was ihn populär machen könnte. Seine gedrungene Erscheinung mit dem etwas breiten Kopf und Hals haben auf den ersten Blick so gar nichts Gewinnendes an sich. Aber wenn bei seinen großen Reden die Kraft dieses Temperamentes hervorbricht, wenn die ganze Gestalt sich zusammenreißt und aus den Augen jenes suggestive Feuer blitzt, dann scheint ein ganz anderer Mensch dazustehen. Die helle metallisch scharfe Stimme, die im ersten Augenblick den Hörer geradezu abzustoßen vermag, sprüht plötzlich einen ganz neuen erregenden Klang und reißt Tausende von Zuhörern, Freund oder Feind, für ein zwei, drei Stunden widerstandslos in ihren Bann […].«102

Der Redner Stresemann hat offenbar entscheidend zu diesem Vertrauensgewinn beigetragen. Das belegt auch seine berühmte Rede aus dem Krisenjahre 1923, in der er endgültig seinen Einstieg in die aktive Politik des Reiches vorbereitete.103 102 Bauer, Stresemann, S. 236. 103 Vgl. dazu das Unterkapitel »Die Metamorphose zum Staatsmann: die Rede am 17. April 1923«.

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Abb. 12: Buchumschlag des dreibändigen Stresemann-Nachlasses »Vermächtnis«

In dieser von großem Beifall und breiter Akzeptanz begleiteten Parlamentsrede profilierte er sich als ein Politiker, der Vertrauen im In- und Ausland generieren und die politischen Gräben in Deutschland und zwischen Deutschland und den Alliierten überwinden konnte. Durch sie empfahl er sich als der Politiker, der die bis dahin größte Krise der Weimarer Republik würde bewältigen können. Nur wenige Monate nach dieser Rede wurde er dann tatsächlich zum jüngsten Reichskanzler der Weimarer Republik ernannt. Ein neues Stresemannbild war geboren worden. Für Stresemanns Imagewandel war von besonderer Bedeutung, dass die bildliche Darstellung in dieser Zeit selten Fotografien, sondern eher Zeichnungen, aber auch Holzschnitte oder sonst wie verfremdetes fotografisches Material verwendete. »Das Ergebnis war häufig eine ikonische, ›versteinerte‹ Präsentierung von Personen, die diese gewissermaßen entpersönlichte und selbst zu

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Abb. 13: Porträt Gustav Stresemann, o. D.

einem Symbol machte.«104 Sie wirkten dementsprechend vor allem als Typus. Der bürgerliche Rollentypus stellte sich nun in der Regel als »haarlos und ernsten Blicks«105 dar, und gewann genau dadurch, so Thomas Mergel, an Würde und Bedeutung. Unter diesem Aspekt war Stresemann mit seiner Physiognomie also keineswegs chancenlos, wahrscheinlich war er es sogar, der die Wirkungsmächtigkeit dieses Typus (mit)kreiert hatte. Als positiv für diese Wandlung wirkte sich auch Stresemanns Eignung als Objekt für Karikaturisten aus.106 Hier konnte Stresemann alsbald erheblichen Terraingewinn erzielen. Es gibt aus der Zeit zwischen 1923 und 1929 mehrere Hunderte Karikaturen von ihm, die in der Mehrzahl alle Sympathie erkennen lassen. Paradigmatisch für Stresemann und seine Wirkung auf das Publikum können zwei Karikaturen aus dem Jahr 1923 stehen, veröffentlicht in den beiden wichtigsten deutschen Satireorganen, »Ulk« und »Kladderadatsch«.107 Beide 104 Mergel, Parlamentarische Kultur, S. 357; danach die folgenden Gedanken. 105 Ebd., S. 358. 106 Vgl. dazu Pohl, Ein früher Medienpolitiker? 107 Die Satire-Zeitschrift »Ulk« erschien von 1872 bis 1933 als Gratisbeilage des »Berliner Tageblatts« bei dem Verleger Rudolf Mosse. Vom September 1910 bis November 1930 wurde der »Ulk«, der auch separat bezogen werden konnte, zusätzlich der »Berliner

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Abb. 14: Plakat der DVP für die Reichstagswahl, September 1930. Stresemann war ­ bereits im Jahr zuvor verstorben.

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belegen, dass bei aller vorhandenen Kritik, ein äußerst positives Bild von Stresemann und seiner Politik gezeichnet wurde – und zwar von der gesamten Breite des politischen Spektrums!108 Stresemann stand in der Karikatur des »Ulk« als einzelner tapferer, mittelalterlicher Ritter einer teilweise militanten und gewaltbereiten Front der Opposi­ tionsanhänger gegenüber, der er sich erwehren musste. Er wurde auf diese Weise seiner eigenen unterbürgerlichen Lebenswelt enthoben, als stilisierter Ritter »geadelt« und damit in diesem Kontext höchst positiv konnotiert. Er erschien als einzelner ehrenhafter Verteidiger der Republik oder zumindest des Staates. Und diese Position nahm er ein, obwohl er gegenüber seinen Opponenten aus Staatsfeinden, Extremisten und Parteigegnern mit unterlegenen Waffen ausgestattet war. Als ›Seitenhieb‹ auf nationalsozialistische Agitation wurde er in dieser schwachen und potenziell zum Scheitern verurteilten Position als ›Diktator‹ tituliert. Auch in der Karikatur des »Kladderadatsch« wurde »Der Diktator Stresemann« positiv dargestellt. Während beim »Ulk« die Gefahr gesehen wurde, der tapfere Stresemann könne das Gefecht um den Erhalt der Republik verlieren, erschien er im »Kladderadatsch« als Herrscher. Er wirkte geradezu monumental. »Die Mimik des Gesichts ist von einer überlegenen Ruhe erfüllt und die weit geöffneten, stechenden Augen lassen jede Gegenmeinung unerwünscht und nutzlos erscheinen.« Seine physiognomischen Handicaps wurden hier also ins Positive gewendet, dienten seiner, positiv konnotierten, Mission. Der Versuch seiner Gegner, »das ›Monument Stresemann‹ von seinem Sockel zu stoßen«, wirkte dabei geradezu lächerlich. Stresemann stand weit darüber. Auch hier drückte sich also das ihm zugesprochene Vertrauen aus. Stresemann mochte zwar nicht gerade als Demokrat erscheinen, »aber dafür als Hoffnungsträger, dem die Lösung einer langwierigen Staats- und Regierungskrise zugetraut wird«. Fazit: Im Jahr 1923 wurde Stresemann von den wichtigsten Karikaturisten der Republik großes Vertrauen und Achtung wegen seiner Erfolge entgegengebracht. Volks-Zeitung« beigelegt. Beide Zeitungen hatten jeweils eine Viertelmillion starke Leserschaft. Nach der Ära Tucholsky behielt der Ulk, unter Joseph Wiener-Braunsberg, seine frühere linksliberale Linie bei. Der ehemals linksliberale, 1848 gegründete, »Kladderadatsch« wiederum wurde im Jahr 1923 an die Stinnes Gruppe verkauft, einem Partei»freund« Stresemanns. Die Inhalte wurden nun zunehmend rechtsgerichteter, richteten sich massiv gegen die gemäßigten Politiker der Weimarer Republik, in der Regel also auch gegen Stresemann. Bereits seit 1923 wurden Hitler und der Nationalsozialismus positiv gewertet, die Karikaturen zunehmend antisemitisch. Umso beachtlicher ist die positive Darstellung Stresemanns. Dazu: K. Schulz, Kladderadatsch. 108 Hierzu und zum Folgenden: Mortzfeld. Dieser Arbeit verdanke ich die Erkenntnis der Bedeutung der Karikatur für die positive Außenwirkung Gustav Stresemanns. Nach ihm die folgenden Zitate.

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Abb. 15: »Der Diktator«, aus: »Ulk« vom 26.10.1923, Jahrgang 52, Nr. 43, Berlin 1923, Titelseite

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Abb. 16: »Der Diktator Stresemann«, aus: »Kladderadatsch« vom 28.10.1923, Jahrgang 76, Nr. 43, Berlin 1923, Titelseite

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54  Ein Leben Der abgebildete, porträtierte oder karikierte Stresemann spielte also für seine Vertrauenswürdigkeit eine zunehmend größere Rolle. Das wusste er, und deswegen ließ er sich, allen gegenteiligen Äußerungen zum Trotz, gern porträtieren. Mit großem Aufwand verfolgte er die Arbeit seiner Fotografen, begleitete den Weg dieser Aufnahmen in die internationale Presse mit erheblichem Interesse und erkennbarer Eitelkeit.109 Das berühmte Stresemann-Bild nach dem Gemälde von Georg Marschall (mit faksimilierter Unterschrift) etwa, stellte geradezu einen Renner auf dem Bildermarkt dar und zeigte ihn in staatsmännischer Pose. Interessant dabei ist, dass gerade auf diesem Gemälde die physiognomischen Mängel geschickt kaschiert werden konnten.110 Der »retuschierte Stresemann« war also durchaus ein Werbegag und zugleich eine wohlgelungene Inszenierung des Staatsmannes.

Ein kranker Mann Stresemanns Physiognomie zeigt nicht nur einen Pykniker oder einen Mann, der im sozialen Kontext eher gehemmt wirkt, sondern sie offenbart auch einen schwerkranken Mann. Damit rückt eine weitere Dimension in den Vordergrund, deren Bedeutung für Stresemann und seine Politik nicht hoch genug zu bewerten ist. Sie verdient daher einen eigenen Platz, neben sozialer und ökonomischer Lage, politischem Erfolg oder dem Wunsch, ein angesehener Bürger zu werden. Die meisten Fotografien zeigen Stresemann scheinbar robust. Er wirkte auf viele Beobachter zäh, körperlich ausdauernd, sogar elastisch und widerstandsfähig. Tatsächlich aber »machte er doch niemals den Eindruck wirklicher Gesundheit«111. Obwohl er gesünder aussah, als er tatsächlich war, obwohl er sich jede Schonung versagte, systematisch die Anordnungen seiner Ärzte boykottierte, die ihn quälenden Krankheitsanfälle nicht beachtete oder in sehr kurzer Frist zu überwinden suchte und lange Jahre geradezu wie ein Stehaufmännchen wirkte, war er ein körperlich angeschlagener, ein kranker Mann, dem es immer schlechter ging.112 Krankheiten zeichneten ihn zeitlebens. Er litt an ihnen und wurde immer stärker von ihnen beherrscht, auch wenn er sich dagegen stemmte: Die Kurz109 Vgl. etwa sein Schreiben an seine Frau, 13.2.1927, PA AA , Privatnachlass Stresemann. Zu Stresemann in der Karikatur Wright, Stresemann, S. 449 ff. 110 Vgl. etwa die Abbildung dieses Bildes in: DS , 35 Jg., 20.8.1923, S. 268. Hier wurde der neue Reichskanzler vermarktet und zugleich als Staatsmann bekannt gemacht. 111 Schiffer, S. 300; danach auch die folgenden Gedanken. 112 Seine Krankheit, sein jeweiliger Gesundheitszustand und jede Veränderung stellen ein Leitthema in der Privatkorrespondenz mit seiner Frau dar. In fast jedem zweiten der überlieferten Briefe wird dieses Thema behandelt. Bezeichnender Weise fehlen diese wesentlichen Aspekte seines Lebens weitgehend im (offiziellen) Stresemann Nachlass.

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Abb. 17: Gustav Stresemann (Genf 1926)

atmigkeit nahm zu, die Schweißausbrüche häuften sich, Schilddrüsenüberfunktionen führten zur Basedowschen Krankheit, Niereninsuffizienz und häufige schwere grippalen Effekte sowie Herzbeschwerden kamen hinzu.113 Seit 1927, als seine Nierenkrankheit neben der Herzschwäche deutlich voranschritt, veränderte sich sein Aussehen gravierend. Ein befreundeter Journalist notierte: »Eine tödliche Blässe liegt auf dem schwammigen, aufgedunsenen Gesicht, dessen Augen unter wässerigen Falten fast zu verschwinden scheinen; die Adern treten bläulich hervor«.114 Seit dem Jahr 1928 war Stresemann todkrank, sein Leben nur noch auf kurze Zeit begrenzt.115 Ein Leben ohne beständige ärztliche Behandlung war für ihn undenkbar. Undenkbar war aber auch, dass er selber, seine politischen Freunde oder seine politischen Gegner, diesen Faktor berücksichtigt hätten oder gar auf ihn eigegangen wären. Das hing vor allem mit Stresemanns Anspruch zusammen, als Außenseiter, Grenzgänger und Aufsteiger immer besondere Leistungen erbringen zu müssen und dabei auf sich selbst keine Rücksichten nehmen zu 113 Vgl. dazu Kolb, Stresemann, S. 67 f. 114 Kürenberg, S. 161. Kürenberg hat Stresemann häufig journalistisch begleitet. Diese Aussage machte er, nachdem er Stresemann einige Monate nicht mehr gesehen hatte. 115 Zondek, Auf festem Fuße, S. 131.

56  Ein Leben dürfen. Er hatte der Sache und dem Erfolg zu dienen, auch in der eher ungeliebten Weimarer Republik. Zugleich konnte (und wollte) er die vielen nahezu unabweisbaren Anforderungen an ihn, den Außenminister und Parteiführer der DVP, nicht reduzieren. Die Partei lebte praktisch von ihm und seinem Engagement. Vor allem aber: Er liebte diese Herausforderungen. Stresemann zog von Arzt zu Arzt, von Heilbad zu Heilbad,116 war aber niemals in der Lage, sich zu schonen. In welchem Ausmaß er beansprucht wurde, zeigt sein Schreiben vom Dezember 1924, nachdem er zwei Wahlkämpfe innerhalb eines Jahres absolviert hatte: »Ich habe vorläufig alle Versammlungen abgesagt, weil ich mich von dem letzten Wahlkampf erst erholen muss, der noch schwer auf mir lastet. Die Wirkung der letzten 30 Reden zeigt sich auch in einer geradezu physischen Abneigung gegen Versammlungsreden vor großen Kreisen.«117 Lange hielt diese Selbstbeschränkung jedoch nicht, war er doch als Außenminister der Locarnopolitik seit Beginn des Jahres 1925 als Redner in besonderem Maße gefordert. 1928 klagte er »über Neigung zu Kopfschmerzen, Ermüdbarkeit, Druck in der Herzgegend, Schwindelzustände«118. Blutdrucksteigerung, Herzverbreiterung, Verbreiterung der Herzschlagader, sowie häufig auftretende Nierenentzündungen kamen dann als weitere Symptome hinzu. Der ärztliche Direktor des Sanatoriums an der Bühler Höhe, in das der erst 49-Jährige im Juni 1927 eingeliefert wurde, diagnostizierte: »An der Diagnose ›Schrumpfniere‹ gibt es keinen Zweifel. Die Kurven des Eiweißgehaltes und des immer niedrigen spezi­f ischen Harngewichts gleichen den Zeigern der unerbittlich vorrückenden Schicksalsuhr des Todgeweihten.«119 Dies alles hinderte seine politischen Freunde jedoch nicht daran, den Todkranken immer wieder in Reichstags- und Landtagswahlkämpf zu schicken. Immer fühlte er sich in der Pflicht, vielleicht war es aber auch nur die Lust an der politischen Auseinandersetzung, die ihn, gegen jede Vernunft, zum Reden motivierte. Er wusste, dass er bei den ihm aufgebürdeten Verpflichtungen körperlich zusammenbrechen würde, er kannte die Folgen dieser Überbelastung – und mochte sich ihr dann doch nicht entziehen, wie sein Sekretär Bernhard 1928 geradezu erbittert feststellte120: »Der Vortrag des Herrn Dr. Stresemann in 116 Vgl. Hirsch, Patriot und Europäer, S. 96. 117 Stresemann an Superintendenten Schowalter, 20.12.1924, PA AA , NL Stresemann 92. 118 Nicht datiertes Schreiben von Prof. Hermann Zondek an Felix Hirsch, in: ders., Ein Lebensbild, S. 319. 119 Venzmer, S. 402. 120 Henry Bernhard an den Landtagsabgeordneten Burger, Ludwigshafen, der sich über mangelnde rednerische Unterstützung durch Stresemann beschwert hatte, 4.6.1928, PA AA , NL Stresemann 101. Weiter hieß es dort: »Hätte Herr Dr. Stresemann diese Mainzer Rede nicht gehalten, würde nach Auffassung auch der Ärzte die Krankheit nicht diesen Umfang angenommen haben und den Herrn Minister nicht zwingen, die Ruhepause, die jetzt eintreten muss, länger zu bemessen«.

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Mainz, den die Deutsche Volkspartei durch Herrn Dingeldey erzwungen hat, ist nach meiner und der Ärzte Auffassung die Ursache gewesen für die Ernst­ haftigkeit – und wie ich Ihnen nicht vorzuenthalten brauche – Bedrohlichkeit des Charakters der Krankheit des Herrn Ministers.«121 Der geradezu fahrlässige Umgang mit seiner Gesundheit wurde also durch eine Vielzahl von Faktoren bewirkt. Es waren »Pflichtbewusstsein« und »Unvernunft«, Ehrgeiz, Aufstiegswille und Außendruck, Freude an der Politik und sicher auch Ehrgeiz und das Bewusstsein seiner Bedeutung.122 Hinzu kam, dass ihn die gegnerische Presse häufig der Simulation und der Feigheit bezichtigte, wenn er nur wenige Tage wegen einer Krankheit ausfiel. Noch im September des Jahres 1928 unterstellten die Nationalsozialisten dem bereits tod­ kranken Außenminister, es sei »das Selbstmitleid eines feigen Außenpolitikers, der Krankheit markiere, um außenpolitisch nicht mit der Faust auf den Tisch schlagen zu müssen«.123 Solche und ähnliche Vorwürfe mochte der Parteiführer und Außenminister nie auf sich sitzen lassen; auch wenn sie die Realitäten seines Lebens nicht trafen, wie seine Krankheitsgeschichte nur zu gut belegt. Die begann bereits im Krieg. Diese Jahre stellten geradezu eine Orgie von Krankheiten dar, und dies bei einem jungen Mann Mitte der 30er. Es ereigneten sich allein bis zum März 1915 drei Autounfälle124, die beiden letzten ver­bunden mit erheblichen Quetschungen und Blutergüssen an den Beinen, wesentlichen inneren Verletzungen und Hüftgelenksentzündungen.125 Im SomZur Beanspruchung Stresemanns im März 1928 vgl. seinen Brief an StS. Weismann (Preußische Regierung), 17.4.1928, PA AA , NL Stresemann 66: »Ich habe bereits in dieser Woche den Vorabend der Bismarckschen Hochzeit und morgen eine Rede im Industrieund Handelstag, Trauungsfeier und Frühstück bei Bismarck, ferner noch drei Berliner Reden, Zentralvorstand, Bismarckfeier und Kundgebung der Volkspartei. Die nächste Woche ist für Bayern reserviert, und so geht es fast Tag für Tag«. 121 Vgl. dazu das Telegramm Stresemanns an Dingeldey vom 3. Mai 1928, in dem er diesem schwerste Vorwürfe machte und damit drohte, in Zukunft keinerlei Wahlkampfarbeit außerhalb seines eigenen Wahlkreises machen zu wollen, PA AA , NL Stresemann 100. 122 Vgl. dazu die Beschreibung von Bauer, Stresemann, S. 247: »Ich habe nie in meinem Leben eine solche Erschütterung erlebt als an jenem Tage im August 1928 in Oberhof. […] Ein Bild von Lebenskraft und Lebensmut war er einst gewesen, und jetzt erschien ein schwerkranker, totenblasser Mann, mit dem eine entsetzliche Wandlung vorgegangen war […]«. 123 Vgl. das Schreiben Stresemanns an von Schoch, 11.9.1929, PA AA , NL Stresemann 86: »[…] Und der verantwortliche Minister [Stresemann], statt als Mann dem [den gegnerischen Anwürfen] entgegenzutreten, lege sich ins Bett und markiere den Kranken, der um Mitleid bittet«. 124 Brief an Justizrat Dinkgrave, 17.3.1915, PA AA NL Stresemann 146; Schreiben an Fabrikbesitzer Uebel, 1.2.1919, PA AA , NL Stresemann 202. 125 Stresemann an Kommerzienrat Lehmann, 3.5.1913, PA AA, NL Stresemann 121: »[…] dass doch wesentliche innere Verletzungen namentlich in der Hüftgegend stattgefunden haben und dass eine Hüftgelenkentzündung als Folge der inneren Blutungen nicht ausgeschlossen sei«.

58  Ein Leben mer 1916 sprach Stresemann zwar nur »von einer schlechten Nacht«, das aber bedeutete konkret eine mehrwöchige strenge Bettruhe.126 Eine Herzaffektion folgte zu Beginn des Jahres 1918127, dann ein großer Zusammenbruch Ende 1918, physisch und psychisch, der ihn monatelang lahm legte. Es ist wohl nicht zu viel gesagt, dass er nach dem Ende des Kaiserreiches geradezu lebensmüde war. Das alte System mit dem Kaiser gab es nicht mehr, die (Links-)Liberalen stießen ihn aus, seine ökonomische Lage war nicht un­ bedenklich – und die Zukunft sah mehr als düster aus. In diesem Sinne schrieb er seiner Frau von der verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung in Weimar: »Ich bin mit dem Herzen bei den alten Zeiten und es tut mir weh zu sehen, wie sich alles geändert hat«.128 Seinem guten Bekannten Paasche hatte er schon im Dezember 1918 versichert, dass »das Beste unserer Lebenserinnerung hinter uns liegt, daran ist ja leider kein Zweifel«.129 Inwieweit sein schweres Nierenleiden zu Beginn des Jahres 1919 mit dieser großen Depression zusammenhing, ist schwer zu beurteilen. All das hinderte ihn aber nicht, sich wieder voll in neue politischen Aktivitäten, vor allem den Aufbau der DVP, zu stürzen, mit gefährlichen Folgen: Im Wahlkampf in Nordhorn erhielt er während einer Wahlversammlung einen Hammerschlag auf den Kopf und musste verletzt, um sein Leben fürchtend, flüchten.130 In einem anderen Ort wurde auf ihn geschossen, was aber die Öffentlichkeit ziemlich kalt ließ, wie Stresemann etwas indigniert notierte.131 Es folgte im Juni ein schwerer Herzanfall, der ihn bis Mitte August fast lahm legte,132 ihm aber wahrscheinlich das erste Mal deutlich machte, wie krank er wirklich war.133 126 List an Stresemann, 25.8.1916, PA AA NL Stresemann 174 und Antwort Stresemanns, PA AA NL Stresemann 180. 127 Brief an Friedrich Schröder, 30.1.1918, PA AA NL Stresemann 200. 128 Stresemann an seine Frau, 6.2.1919, PA AA , Privatnachlass Stresemann. 129 Stresemann an Paasche, 14.12.1918, PA AA , NL Stresemann 183. 130 Vgl. dazu den Brief an Uebel: »… bin ich erfreulicherweise nicht so weit verletzt, dass ich mir Schaden an meiner Gesundheit zugezogen hätte, da es mir gelang, denjenigen Leuten zu entrinnen, die sicherlich, wenn sie meiner habhaft geworden wären, mich totgeschlagen hätten. Dieser eine Fall der Verrohung ist nur ein Ausschnitt aus der Gesamttendenz unserer Zeit […]«. (1.2.1919, PA AA , NL Stresemann 202). 131 Olden, Stresemann, S.131. Vgl. dazu die Reaktion Stresemanns (Stresemann an Steinbach, 14.11.1921, PA AA , NL Stresemann 187): »Sie haben ganz recht, wenn Sie bemerken, dass der Reichskanzler, die Sozialdemokratie und die öffentliche Meinung sich bei diesem Attentat [auf Stresemann] viel weniger erregt zeigte als bei dem Erzberger Mord. Für die Beurteilung eines Attentats kommt es schließlich doch nicht darauf an, ob die Kugel ihr Ziel erreicht oder verfehlt, denn der Wille der Mörder, die die Schüsse abgaben, war es ja nicht, dass die Kugel nicht treffen sollte […]«. 132 Vgl. die diversen Schreiben des damaligen Privatsekretärs Plagge an nachfragende Freunde und Bekannte Stresemanns, PA AA , NL Stresemann 207. 133 Im Gutachten (7.1.1919) Dr. Arthur Goldschmidts hieß es u. a.: »Ihren bisherigen und mir auch gestern wiederholten Einwand lasse ich keinesfalls gelten. Ich hoffe nunmehr, daß Sie sich zu der von mir vorgeschlagenen Kur entschließen […]«, PA AA , NL Stresemann 316.

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Ende 1919 musste er resigniert konstatieren: »Ich pflege schon jetzt fast regelmäßig eine Pause zwischen meine Vorträge zu legen, weil ich es an allen Gliedern spüre, wenn ich zweimal hintereinander spreche […]. Ich habe seit meinem ersten Anfall die Empfindung, dass ich aufhören muss, diese Dinge zu leicht zu nehmen, und muss daher dem Wunsch meines Arztes folgen.«134 Das Itinerar für das darauf folgende Jahr 1920 belegt, welche Arbeitslast sich der angeschlagene Stresemann trotzdem auferlegte. Schließlich war er es ja fast allein, der die DVP als Partei aufbaute und im politischen Feld stabilisierte.135 Bereits Ende Januar betonte er deshalb, wie müde und abgespannt er sei; ähnliches im März 1922, wo er sich am 31. zu Bett legen musste. Im Mai notierte er erneut schlechtes Befinden, hielt aber trotzdem eine Rede vor 4500 Menschen in Hannover. Am 22. Juni wurde eine Arterienverstopfung notiert. Das Krankentagebuch setzte sich fort. Trotzdem hielt er sich 116 Tage des Jahres auswärts auf, lebte in Zügen und hielt bis zu vier Reden an einem einzigen Tage. In der ersten Hälfte des Jahres 1921 schließlich musste er sich wochenlang vom aktiven politischen Leben zurückhalten. Dabei handelte es sich, so Stresemann abwiegelnd, »nicht um eine chronische Krankheit, sondern nur um die dringende ärztliche Mahnung, dem Körper eine Schonung angedeihen zu lassen«.136 Die Krankheiten zeichneten jedoch nicht nur sein Gesicht und seinen Körper. Seine Persönlichkeit, sein Handeln und sein Leben wurden ebenfalls durch den immer schlechter werdenden Gesundheitszustand beeinflusst. Der Morbus Basedow, eine Autoimmunkrankheit,137 verursachte nämlich nicht nur körperliche Beschwerden, veränderte das Aussehen, wie etwa bei Hals, Augen und Kopf, sondern war zugleich für erhebliche Stimmungsschwanken verantwortlich.138 Neben Herzklopfen, hohem Blutdruck, Muskelschwäche, Schlafstörungen, Kopfschmerzen traten Nervosität, Reizbarkeit, Konzentrationsschwächen und nicht zuletzt erhebliche depressive Schübe. Dabei empfinden derart Erkrankte in der Regel den Wandel ihrer Persönlichkeit zwar durchaus als etwas Fremdes, erleben dabei aber häufig nicht sich selbst, sondern die Umgebung als verändert – und reagieren dementsprechend aggressiv darauf: gereizt, nervös, ungeduldig und ruhelos. Stresemanns innere Spannungen entluden sich daher sowohl in seinem politischen Handeln als auch im täglichen Leben, indem er häufig überreagierte oder sich an Kleinigkeiten festbiss. Seine Furcht vor Anschlägen z. B. war sicherlich berechtigt, wusste er doch, dass (nicht nur) die Organisation Consul und 134 Stresemann an Prof. Dieckmann, 3.12.1919, PA AA , NL Stresemann 208. 135 Tagebuchartige Aufzeichnungen, 3.  Juli bis Ende November 1920, PA AA , NL Stresemann 141. 136 Stresemann an die Fraktion der DVP, 16.6.1921, PA AA , NL Stresemann 233. 137 Vgl. hierzu Meng; Hehrmann; Pfannenstiel. 138 Vgl. dazu Vallentin, S. 14.

60  Ein Leben andere rechte Organisationen nach seinem Leben trachteten.139 Zugleich aber litt er an einer Art Verfolgungswahn: Er sah Attentate, wo es keine gab140, oder vermutete in Polizisten, die zu seinem Schutz abgestellt waren, mögliche Attentäter.141 Dass er permanent Intrigen in seiner eigenen Partei auf der Spur war und intensiv dagegen agitierte, gehörte noch zu den geringsten Auffälligkeiten. Ein derartiges Misstrauen war ja nicht völlig unbegründet.142 Bemerkenswert ist allerdings schon, dass er wichtige innerparteiliche Stellungnahmen manchmal nur höchst indirekt und unter Beachtung aller geheimdienstlichen Vorsichtsmaßnahmen den Empfängern zustellen ließ, und zugleich darum bat, bei einer Antwort ähnlich zu verfahren.143 Noch sichtbarer waren diese Spannungen in den ständigen Kleinkriegen, die er mit einzelnen Personen, Institutionen oder Organisationen austrug. Sei es, dass es um »Verleumdungen« ging, über die er sich mit seinem Intimfeind Kurt Wiedfeldt144 auseinandersetzte und die häufig in einen Rechtsstreit auszuarten drohten, sei es, dass er seinen älteren Sohn Wolfgang in diplomatische Händel einbezog, die sich um die Besetzung des Botschafterpostens in Moskau drehten145, oder dass er, grotesker Weise, glaubte, ihm würde unterstellt, er habe den Mord an Walther Rathenau begrüßt146 – der Feind schien allgegenwärtig zu sein. Es waren vor allem Lappalien, die ihn zum Eingreifen reizten: Ob er sich bei der Direktion der Berliner Straßenbahn beklagte, dass es zur Kaiserzeit bessere Verkehrsverbindungen gegeben habe,147 ob es darum ging, in den Zügen der Reichsbahn wieder Vorhänge einzuführen und in den Schlafwagen Handtücher zur Verfügung zu stellen, wie früher,148 oder ob zu fordern war, dass die Schlaf139 Noch auf der Fahrt zu den Locarnoverhandlungen im Oktober 1925 wurde er vor einem Attentat der Brigade Ehrhardt gewarnt, Wright, Stresemann, S. 333. 140 Vgl. sein Schreiben an Dr. Goetz, 28.12.1925, PA AA , NL Stresemann 264: »[…] dass der gegen mich gerichtete Attentatsplan zweier verhetzter offenbar geistig minderwertiger Menschen vereitelt worden ist […]«. Dieser Plan hatte aber nach Aussage der Polizei gar nicht bestanden. 141 Schreiben Stresemanns an Staatskommissar Weismann, 3.8.1924, PA AA , NL Stresemann 250: »[…] dass die verdächtigen Personen, die mir von verschiedenen Seiten gemeldet wurden, nichts bösartiges im Schilde führten, sondern die Aufgabe hatten, mich gegebenenfalls gegen Anschläge zu schützen«. 142 Zur »Dresdner Intrige« gibt es ein ganzes Aktenkonvolut. Vgl. nur sein Schreiben an OB Blüher, Dresden, 21.7.1920, PA AA , NL Stresemann 219. 143 Stresemann an Geheimrat Kahl, 13.3.1929, PA AA , NL Stresemann 104. 144 Schreiben Stresemanns an RA Samson, 20.1.1925, PA AA , NL Stresemann 278. Vgl. dazu Pohl, Die Finanzkrise bei Krupp. 145 Stresemann an Nadolny, 21.11.1928, PA AA , NL Stresemann 291. 146 Schreiben Stresemanns an Reichsinnenminister Koch, 19.12.1924, PA AA , NL Stresemann 91. 147 Stresemann an die Direktion der Großen Berliner Straßenbahn, 5.9.1922, PA AA , NL Stresemann 316. 148 Stresemann an den Reichsverkehrsminister General Groener, 7.6.1921, PA AA , NL Strese­mann 233.

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wagen in der Mitte des Zuges zu platzieren seien, »weil diese Abteile die ruhigsten [sind] und am wenigsten von den zuckenden Bewegungen des rollenden Zuges merken«149, und nicht zuletzt, wenn er monierte, die Finanzämter würden »die Annahme sächsischer Banknoten außerhalb des Freistaates Sachsen ablehnen150«, Stresemann persönlich musste intervenieren und sich an höchster Stelle beschweren – ein schwer zu ertragender Zeitgenosse. Stresemann litt an sich, an seiner Krankheit, an den Anderen und an der Umgebung. Seine melancholischen Augen151, die aus fast allen Bildern der 1920er Jahre überliefert sind, lassen den psychischen Stress und die Spannungen, unter denen er litt, wohl nur erahnen, ein Stress und eine Verzweiflung, die nur in einer regelmäßigen nervenärztlichen Behandlung bei seinem Logenfreund Dr. Schulmann, sowie einer regelmäßigen Medikation152 wenigstens phasenweise gemindert werden konnten.153 Bald aber konnte er auch seinen vertrauten Arzt nicht mehr ertragen, der sich, so seine Wahrnehmung, wie ein Schatten an ihn kettete – wie er seiner Frau vertraulich mitteilte: »Ich habe diese ständige ärztliche Leibgarde satt […]. Ich kann nicht 8 Wochen an ihn [Schulmann] geschmiedet sein, zumal er mich wie eine Klätte [sic] begleitet, so dass ich mir mein Alleinsein erkämpfen muss […].«154. Stresemann erlebte Gesundheit also bereits von früh an als ein kostbares Gut und zugleich als großes Problem für sich selber.155 Zudem war ihm, je länger er lebte, bewusst, dass seine Lebenszeit eng begrenzt war. Dies hat sicherlich zu seiner Ungeduld, zu starker Reizbarkeit, zu Rastlosigkeit und zu starken Schwankungen in der Beurteilung von alltäglichen Ereignissen und wichtigen politischen Situationen geführt. Eine solche Disposition konnte auch nicht ohne Einfluss auf sein politisches Handeln bleiben, das immer ungeduldiger und fordernder Erfolge herbeizwingen wollte, wie seine Mitarbeiter nur zu gut erkannten.156 149 Stresemann an den Reichsverkehrsminister Groener, 6.10.1922, PA AA, NL Stresemann 252. 150 Stresemann an Reichsfinanzminister Hilferding, 10.9.1929, PA AA , NL Stresemann 86. 151 Vgl. hierzu die bereits erwähnte Analyse von Märker, S. 104, der allerdings zu einem völlig entgegengesetzten Urteil über den Ausdruck der Stresemannschen Augen kommt. 152 Vgl. das Schreiben Stresemanns an Geheimrat Duisberg, 29.9.1922, PA AA , NL Stresemann 316. 153 In dem nicht mikroverfilmten, und daher häufig nicht genutzten, Nachlass Stresemann findet sich eine genaue Auflistung der Quittungen für die Honorare bei Schulmann. Daraus lässt sich eine hohe Besuchsfrequenz bei diesem Nervenarzt schon seit Beginn der 1920er Jahre ableiten. 154 Stresemann an seine Frau, 4.7.1928, PA AA , Privatnachlass Stresemann. 155 Vgl. dazu etwa die Mitteilung an den sächsischen Parteifreund Kaiser über den Gesundheitszustand im Jahre 1926, in dem es ihm noch besonders gut ging, 28.10.1926, PA AA , NL Stresemann 97. 156 von Weizsäcker, S.  80 f: »Er spürte wohl sein Ende kommen und wünschte, vielleicht ihm selbst unbewusst, die ihm vorschwebenden Erfolge, namentlich die RheinlandRäumung durch die Entente-Truppen, schneller unter Dach zu bringen, als politische Ökonomie es vorgeschrieben hätte«.

62  Ein Leben »Ein Wort, ein Tonfall, eine Geste waren oft für den plötzlichen Umschwung von überschwänglicher Freude zum dunkelsten Zweifel, vom absoluten Glauben zum schwärzesten Misstrauen verantwortlich.«157 Welche Bedeutung der Faktor Zeit für Stresemann und seine Politik besaß und in welcher Weise dabei das Bewusstsein mitspielte, nicht mehr viel Zeit verlieren zu dürfen, kann sehr gut am Beispiel seiner Locarnopolitik verdeutlicht werden, einem politischen Ereignis, das in der Regel nicht unter diesem Aspekt analysiert worden ist und bei dem Stresemanns Krankheit scheinbar nicht die geringste Rolle gespielt hat. Gerade hier war der Faktor Zeit jedoch, bedingt durch das Projekt »Sicherheitspakt« selber und infolge der Krankheiten Stresemanns von erheblicher Bedeutung.158 Stresemanns Locarnopolitik, die schließlich in den Verträgen mit Frankreich im Oktober 1925 mündete, schrieb u. a. Frankreichs Ost- und Deutschlands Westgrenze fest. Das wurde durch Italien und Großbritannien garantiert.159 Diese Sicherheitspaktpolitik stellte einen Pfeiler in Stresemanns außenpoliti­ scher Strategie dar. Sie war allerdings innenpolitisch höchst umstritten, ja, ihre politische Realisierung durch eine mögliche Opposition der DNVP, deren Minister ebenfalls und erstmalig in der Regierung Luther I saßen, höchst gefährdet. Angesichts der starken innerpolitischen Opposition von rechts, war die Locarnopolitik, um hier nur auf einen von vielen Aspekten einzugehen, in der Öffentlichkeit nur dann zu vermitteln, wenn relativ rasche und sichtbare Erfolge zu erzielen waren, Erfolge, die auch nach außen hin kommuniziert werden konnten. Eile war also geboten. Diese Tatsache bestärkte den Außenminister darin, diese Politik so lang wie möglich geheim zu halten. Durch das Verschweigen seiner Sicherheitsinitiative suchte er Zeit zu gewinnen, Zeit, um den lästigen Fragen und Vorstellungen des rechten Koalitionspartners DNVP zu entgehen, Zeit aber auch, um den diplomatischen Freiraum ungestört von der kritischen Öffentlichkeit nutzen zu können.160 Er benötigte diese arkane Zeit dringend, um den langwierigen Prozess der diplomatischen Aushandlungen der Öffentlichkeit gegenüber dem Anschein nach »verkürzen« zu können. Statt am 10. Januar 1925 begann die Sicherheitsinitiative für die Öffentlichkeit daher gewissermaßen erst Ende März, als sie schließlich publik wurde. Jeder Tag jedoch, an dem die Sicherheitsinitiative noch nicht bekannt war, stellte ein der Öffentlichkeit abgerungener Tag dar, an dem noch keine Angriffe auf seine Politik geführt werden konnten. Nur unter der Berücksichtigung (auch) dieses Erfolgsdruckes ist daher zu verstehen, mit 157 158 159 160

Vallentin, S. 14. Hierzu und zum Folgenden Pohl, Ein früher Medienpolitiker? Vgl. dazu das Unterkapitel »Dichte Beschreibung II«. Vgl. hierzu das Schreiben des Deutschen Friedenskartells an Stresemann vom 8.5.1925, das dringend Auskunft über den Sicherheitspakt verlangte, BA Koblenz, NL Ludwig Quidde.

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welcher Dynamik und Schnelligkeit das Auswärtige Amt die Verhandlungen zum Sicherheitspakt vorantrieb und binnen weniger Monate ein Vertragswerk erarbeitete, das man als diplomatisches Meisterwerk bezeichnet hat.161 Ein besonderes Dilemma Stresemanns bestand darin, dass er die realen (und beachtlichen) Erfolge, die dann tatsächlich im Vertragswerk festgeschrieben worden waren, nicht allzu deutlich öffentlich benennen konnte.162 Dass mit diesem Vertrag die Westgrenze Polens deutlich destabilisiert worden war und Polen seine Verbündeten faktisch verlor, entsprach zwar den Wünschen der Öffentlichkeit, konnte aber in dieser Schärfe nur intern so deutlich gesagt werden, wollte man damit die Vertragspartner nicht düpieren.163 Ein solcher Erfolg war also praktisch nicht kommunizierbar. Zum anderen aber, und hier spielt der Gesundheitszustand Stresemanns eine entscheidende Rolle, waren auf den konkreten, öffentlich benennbaren und zugleich besonders intensiv diskutierten Feldern, etwa der Räumung der besetzen Gebiete, Erfolge, die die Öffentlichkeit beruhigt hätten, nicht schnell zu erzielen. Die eingeleitete Politik brauchte unendlich viel Zeit, um wirklich zu wirken. Genau diese Zeit aber hatte Stresemann nicht. Einerseits wegen des Druckes der Öffentlichkeit, andererseits wegen seines nahen Todes. Das Problem der »Rückwirkungen von Locarno«, die lange Dauer bis zu einem möglichen Erfolg, machte dem Außenminister daher extrem zu schaffen und hat ihn bis zu seinem Tode bewegt.164 Der permanente Druck Stresemanns auf seine Verhandlungspartner, seine Rastlosigkeit, sein geradezu undiplomatisches Fordern, aber auch seine spätere Resignation, sind daher nicht nur durch die politischen Umstände zu erklären, etwa um die DNVP bei der Stange zu halten und die Öffentlichkeit zufrieden zu stellen. Sie hingen auch nicht nur vom Unwillen seiner Verhandlungspartner ab, sondern waren vor allem mit seiner fortschreitenden Krankheit und dem frühen Erkennen seines baldigen Ablebens und dem damit verbundenen Wunsch 161 Vgl. Krüger, Zur europäischen Dimension. 162 Vgl. dazu von Schubert an die Deutsche Gesandtschaft in Bern, 28.10.1925, PA AA , Gesandtschaft Bern, Rep. Sicherheitsfragen, Bd. 472/3. »Die erforderliche Aufklärung ist von hier aus schon in die Wege geleitet worden, würde aber wesentlich gefördert werden, wenn es gelänge, neutrale Persönlichkeiten, insbesondere Völkerrechtslehrer von Ruf, dazu zu gewinnen, dass sie sich in Presseartikeln über die Bedeutung des Vertragswerks für Deutschland äußern. Das würde namentlich den Vorteil haben, dass dabei der Nutzen des Vertragswerks für Deutschland offener ins rechte Licht gesetzt werden kann, als dies aus nahe liegenden außenpolitischen Gründen von deutscher Seite möglich ist«. 163 Pohl, Deutschland und Polen. 164 Vgl. hierzu seinen Brief an Reichstagspräsident Loebe, 19.9.1929, PA AA , NL Stresemann 86. In diesem Sinne auch Freiherr von Weizsäcker. »[…] namentlich als er, seinem Ende nahe, recht nervös wurde, z. B. in Madrid 1929. Sein Unglück war seine Krankheit.« (von Weizsäcker, S. 80 f.)

64  Ein Leben zu erklären, seine Erfolge noch selber erleben zu können.165 Er benötigte Zeit, und die hatte er nicht mehr. Für Stresemann und seine Politik stellte seine Krankheit also einen kaum zu überschätzenden Faktor dar. Sein scheinbar stabiles Äußeres war zugleich gepaart mit einer großen Zerbrechlichkeit, sein Aussehen durch seine schweren Krankheiten gezeichnet, die ihn psychisch und physisch belasteten und sein Handeln mehr und mehr beeinflussten, ihn manchmal bereits zu Unterbrechungen bei wichtigen Unterredungen führten.166 Er schwankte immer zwischen Schwäche und zugleich Stärke, zwischen Optimismus und Resignation, zwischen Hoffen und Bangen.

Der Redner »Seine [Stresemanns] Rednergabe, viel bewundert, war stark, flüssig, wirkungsvoll, trotz einem wenig günstigen Organ, [wie es auch bei Naumann stören konnte]. Die konkrete Sachdarstellung, die bei Naumann so wunderbar nüchtern und durchsichtig sein konnte, glitt bei ihm [allerdings] zu leicht in das Begeisterungspathos ab und dann in die Vereins-Sentimentalität. Ich [Heuss] erinnere mich noch, wie er bei einer großen Rede im Stuttgarter Auslandsinstitut viele heimatselige Verse des höchst mittelmäßigen Gedichtes eines Auslandsdeutschen frei weg deklamierte und ich nur noch boshaft dachte: wann fängt er das Schluchzen an?«167 »Er war ein wirkungsvoller Redner und erzielte mit seiner stupenden Beherrschung des Worts, dem funkelnden Bilderreichtum seiner Ausdrucksweise und der unheimlichen Flüssigkeit seiner Diktion große Erfolge […]. Dabei war sein Organ nicht einmal besonders wohlklingend, eher spröde und scharf als weich und hatte einen nasalen Unterton. Auch war er nicht frei von Lampenfieber, das sich in den kurzen, abgehackten Anfangssätzen offenbarte. Dann aber riß ihn und riß seine Zuhörer der Strom seiner durch das Spiel seiner feinen Hände unterstrichenen Ausführungen hin, die mit Vorliebe einen Gedanken von verschiedenen Seiten beleuchteten, ihn in ver-

165 Vgl. hierzu zuletzt Blessing, der diesem Aspekt allerdings eine eher geringe Bedeutung beimisst. 166 AV von Schubert, 29.8.1928 über eine Unterredung mit Poincaré: »Bei diesem Abschnitt des Gesprächs sandte Professor Zondeck einen Zettel herein, auf welchem er zum Abbruch der Unterredung mahnte. Hierdurch wurde das Gespräch etwas gestört«, PA AA , NL Stresemann 350. 167 Heuss, Erinnerungen, S. 273 f. Heuss ist Zeit seines Lebens ein erklärter Gegner Strese­ manns gewesen. Auch sein (neuer) Biograf Radkau kann dies nicht vollständig erklären. Er vermutet, dass Stresemanns Agitation gegen eine Reichspräsidentschaft von Gessler (DDP) im Jahre 1925 der letzte Anstoß gewesen sein könnte. Noch der Bundespräsident Heuss nannte »seine Aversion gegen Stresemann eines seiner drei ›negativen Hobbys‹«. (Radkau, S. 145). Insofern ist die gedämpfte Kritik geradezu als ein Lob zu verstehen.

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schiedenen Bildern verkörperten und sich gefällig und gefügig zum schlagkräftigen Witz zuspitzten oder zum wirkungsvollen Pathos steigerten.«168

Zweifellos war Stresemann ein begnadeter, überzeugungsstarker Redner, das musste ihm nicht nur sein Intimfeind Theodor Heuss zugestehen, sondern diese Erkenntnis ist geradezu ein fester Bestandteil deutscher Politik-, Parlamentsund Parteiengeschichte, vor allem, wenn es sich um die Weimarer Republik handelt. Die Rednergabe trug in einem erheblichen Maße zu seiner politischen Bedeutung bei.169 Sie ist zugleich ein immer wiederkehrender Topos in der Strese­mannbiografik und wird nirgendwo infrage gestellt. Antonina Vallentin etwa schwärmte geradezu von dem (jungen) Redner Stresemann: »Er besaß die Gabe, seine Gedanken in lange Sätze von vollendeter Form zu kleiden – seine helle, schmetternde Stimme trug wie auf einem breiten Strom die schönen, gerundeten Worte dahin, die aus dem Herzen selbst dieser ganzen unbeschwerten, fleißigen, bürgerlichen Jugend zu kommen schienen, nicht zu hochtrabend und nicht zu trivial, nicht zu unzugänglich und nicht zu abgegriffen waren.«170

Zum späteren Stresemann fügte sie überschwänglich hinzu171: »Ein Vierteljahrhundert später, als Gustav Stresemann bereits Vorsitzender seiner auseinanderstrebenden Partei war, blieb ihm das Vertrauen in die […] Gabe der Verführung erhalten – denn man erwog lange in der Volkspartei den Beschluss, alle Resolutionen erst vierundzwanzig Stunden nach einer Rede Stresemanns fassen zu lassen – nachdem der unheimliche Einfluss seiner Beredsamkeit sich verflüchtigt hatte und die Mitglieder der Volkspartei ihr seelisches Gleichgewicht wieder gewannen.«

Das mag weit übertrieben und von großer Liebe und noch größerer Verehrung der Autorin getragen sein. Trotzdem aber: Stresemann redete offenbar sehr gut, vor allem redete er sehr gerne, sehr viel, oft sehr lange und immer mit höchstem Engagement. Er war mit seinen Reden sowohl im kleinen Kreis als auch auf großer Bühne höchst erfolgreich, auch wenn er vor jeder Rede Lampenfieber hatte, nervös und angespannt war, ja aufgeregt wirkte wie ein Anfänger.172 168 Schiffer, S. 310. Diese Charakterisierung stammt aus dem Nachruf Schiffers auf Stresemann im Jahre 1929. Insofern dürfte die durchscheinende Bewunderung auch der Situation geschuldet sein. 169 Vgl. etwa »A«, Zwischen Staatsmännern, Reichstagsabgeordneten und Vorbestraften, Berlin o. J., S. 183. 170 Vallentin, S. 10. 171 Ebd., S. 10 f. 172 Vgl. dazu Henry Bernhard, in: Hirsch, Ein Lebensbild, Anhang, S. 276: »Wer wie ich, jahrelang um Stresemann war, und ihn vor Reden erlebt hat, weiß, daß Stresemann vor seinen Reden außerordentlich nervös war«.

66  Ein Leben Wenn aber nach kurzer Zeit das Eis gebrochen war, wusste er selbst ein »ab­ gehärtetes« Publikum, wie etwa das des Reichstages, zu faszinieren und zu überwältigen. Das bestätigen viele Zeitgenossen und nicht nur seine Freunde und Parteigänger.173 Die Zahl seiner Reden ist geradezu Legion. Bereits als junger Mann profilierte er sich in der Schule (er hielt, obwohl nach eigener Darstellung ein Außen­seiter, die Abschlussrede im Gymnasium), in den Burschenschaften (hier vertrat er seine Verbindung regional aber auch auf den nationalen Treffen), den politischen Vereinigungen (schon bei den Nationalsozialen trat er sofort als wichtiger Redner auf), den wirtschaftlichen Verbänden (vor allen bei deren Jahrestagungen), den Freimaurern (hier füllten sich bei seinen wenigen Reden die Säle) und schließlich in der Nationalliberalen und der Deutschen Volkspartei als ein immer und oft gewünschter Redner. Als Festredner war er jederzeit und überall gefragt, besonders, nachdem er Kanzler und Reichsaußenminister geworden war. Er referierte aber nicht nur über Politik, sondern konnte mit seinen Reden, angefangen bei Kultur über Ökonomie bis hin zu philosophischen, historischen und künstlerischen, ja religiösen Themen, überall überzeugen. In den Wahlkämpfen sowohl im Kaiserreich als später in der Weimarer­ Republik trat er manchmal wochen- ja, sogar monatelang zwei bis drei Mal an einem Tag zu einer großen politischen Rede an, vom Vormittag bis in die späte Nacht. Sein Einsatz bei seinem ersten Reichstagswahlkampf im Wahlkreis Annaberg im Jahre 1907 ist geradezu Wahlkampfhistorie. Dabei achtete er, schon in frühen Jahren, kaum auf seine Gesundheit und verausgabte sich immer bis zum Letzten.174 Im Reichstag stellten seine Reden oft einen Höhepunkt in den Debatten dar, das galt schon für das kaiserliche Parlament.175 Selbst der ihm kritisch gegenüberstehende Theodor Wolff musste zugestehen: »[Stresemann] vereinigt als Redner, wie heute kein anderer, den Ton geistiger Ausgeglichenheit mit dem Schwung, den die Massen lieben, und manchmal, wenn eine nicht sehr erneuerungsfrohe Parteiversammlung entzückt ein altes Schlagwort be­ jubelte, konnte es geschehen, dass er vom Applaus weiter getragen wurde und sich noch zu einer Zugabe bewegen ließ. Redekunst ist die Trompete, und jetzt [1923] fällt ihm die Aufgabe zu, Orchesterdirigent zu sein. Wir hoffen, dass er das Land mit gleicher Autorität regieren wird, mit der er einen Saal zu beherrschen versteht.«176

Tondokumente jedoch, an Hand derer man auch heute noch diese Wirkungen nachvollziehen könnte, sind nur sehr wenige überliefert. Es gibt vor allem keine 173 174 175 176

Vgl. dazu Starkulla, S. 79 ff. Vgl. das Unterkapitel »Ein kranker Mann«. In 18 Jahren hat Stresemann insgesamt 128 Reichstagsreden gehalten. Wolff, Eintrag vom 13.8.1923, S. 184.

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Tondokumente von zentralen Reden Stresemanns aus dem Reichstag der Weimarer Republik, wo er offenbar besonders brillierte. Im Folgenden soll der Versuch gemacht werden, anhand von zwei überlieferten Tonaufnahmen (»Ansprache bei der Eröffnung der Kino- und Fotoausstellung in Berlin. 25. September 1925« und »Rede für die DVP anlässlich der Reichstagswahl am 20. Mai 1928.«177) den Redner Stresemann und seine besonderen Eigenarten aus heutiger Perspektive zu analysieren.178 Bei der kurzen Untersuchung geht es um den Versuch, durch eine Sprachund Sprechanalyse dem erfolgreichen Redner Stresemann und seiner Redetechnik näher zu kommen. Dabei darf der zeitliche Abstand nicht außer Acht gelassen werden. Was etwa in den 1920er Jahren als rhetorisch elegant an­mutete, muss unserem heutigen Geschmack keineswegs entsprechen. Ferner ist die schlechte Qualität der Tonaufnahmen zu berücksichtigen, die für die Analysen vorlagen. Nicht zuletzt ist daran zu erinnern, dass jeder Redner und jede Rede nur durch Berücksichtigung verschiedenster Faktoren zu würdigen sind. Mimik, Bewegungsabläufe, Handbewegungen und ähnliches müssten eigentlich immer mitberücksichtigt werden, was in diesem Fall aber unmöglich war. Ansprache bei der Eröffnung der Kino- und Fotoausstellung in Berlin, 25. September 1925 Die Sprechweise Stresemanns wirkt bei dieser Rede sehr ambivalent. Sie ist aggres­siv, selbstbewusst, dominant, aber auch gestresst und sehr eindringlich, zugleich fast emotionslos. Es fällt einem heutigen Zuhörer schwer, dem Gesagten inhaltlich zu folgen; das Zuhören ist sehr anstrengend, die Sprache nicht klar, was aber auch an der Qualität des Tonträgers liegen kann. Auffällig ist der abgehackte Sprechausdruck, der so wirkt, als müsse der Redner etwas dringend erledigen. Mit Merkmalen wie hektisch, kurzatmig, gepresst, gellend, angestrengt oder appellierend, monoton, zugleich aber sachlich, hart und ernst, könnte man die Redeweise beschreiben.179 Die Aussprache ist sehr deutlich. Das »R« wird häufig hart und mit starker Vibration geschlagen, die Konsonanten sind deutlich betont. Dies entspricht 177 Die Reichskanzler der Weimarer Republik in Originalaufnahmen, Deutsches Rundfunkarchiv (DRA). 178 Die folgende Darstellung stützt sich auf die Ergebnisse einer Arbeitsgruppe von acht Studierenden der Sprechwissenschaft und Sprecherziehung unter Anleitung von Dr. Marita Pabst-Weinschenk und ihrer wissenschaftlichen Mitarbeiterin Hanna Seinsche an der Universität Düsseldorf. Sie haben auf meinen Wunsch hin die Sprechweise Stresemanns in einem Seminar analysiert. Ich bin dieser Gruppe zu großem Dank verpflichtet und möchte das hier noch einmal ausdrücklich betonen. 179 Vgl. dazu, etwas überschwänglich Vallentin, S. 10 f.

68  Ein Leben dem Sprechstil der 1920er Jahre, ist also keine besondere Eigenart Stresemanns. Ähnlichkeiten mit anderen politischen Rednern finden sich außer­dem in der Satzmelodie, bei der überwiegend schwungvolle Einstiege und kurze Vokalgriffe gewählt werden. Gleiches gilt für die eher eintönige Modulation, die aber möglicherweise ebenfalls durch die damalige Aufnahmetechnik bedingt ist. Wie bei Stresemann kann man bei den meisten Sprechern eine erhöhte Sprechstimmlage feststellen, möglicherweise ebenfalls eine Folge mangelnder Tontechnik. Alle diese Komponenten bewirken einen ernsten und sachlichen, sowie zugleich einen appellierenden und eindringlichen Eindruck. Der Vokalgriff ist verhältnismäßig kurz, wodurch die Aussprache einerseits etwas hektisch und kurzatmig wirkt, andererseits aber auch dynamische und appellierende Elemente aufweist. Stresemanns Stimme ist insgesamt resonanzarm. Er spricht in einer erhöhten Sprechstimmlage, was für uns heute sehr durchdringend, manchmal geradezu gellend wirkt. Das vermittelt den Eindruck, er sei sehr überzeugt von dem was er sagt, es wirkt aber leicht aggressiv, ja, geradezu kalt. Die zuvor konstatierte Dynamik verliert auf diese Weise an Gewicht, und die Stimme wird insgesamt sehr monoton wahrgenommen. Die Sprecheinsätze wiederum sind hart und die Stimme klingt gepresst mit hohem Kraftaufwand, wodurch sich der angestrengte, ja fast hektische Eindruck verstärkt. Das Sprechtempo ist relativ schnell, was nicht zuletzt an dem kurzen Vokalgriff liegt. Die Lautstärke ist hoch und stellt damit eine weitere Komponente dar, die für den aggressiven Gesamteindruck verantwortlich ist. Es gibt zudem viele Pausen, die in eine eintönige Sprechmelodie eingebettet sind. Es entsteht dadurch fast der Eindruck, Stresemann habe die Ansprache abgelesen. Die eintönige Sprechmelodie unterstreicht in jedem Fall aber den appellierenden und überzeugten Eindruck. Die besondere Dynamik dieser Rede Stresemanns, wird durch die Thematik, Nationalstolz und Verherrlichung der deutschen Leistungen, unterstrichen. Zugleich steht dieser Inhalt jedoch in einem gewissen Widerspruch zu der eher sachlichen, angestrengten und emotionslosen Sprechweise des Redners. Man hätte bei dem Thema eher einen feierlichen und fröhlichen Ton erwartet. Vielleicht war die Rede, so könnte man vermuten, für Stresemann nur eine zu erledigende Aufgabe und keine, die ihm persönlich besonders am Herzen lag. Rede für die DVP anlässlich der Reichstagswahl am 20. Mai 1928 Im Gegensatz zur Rede aus dem Jahr 1925 wirkt Stresemanns Sprechweise drei Jahre später weniger stark, eher bedrückt, matt, pessimistisch, betroffen, nasal, ja geradezu kraftlos und schwach. Man kann kaum glauben, dass es sich um ein und denselben Sprecher handelt. Insgesamt klingt der Redner jetzt zwar sympathischer, der Sprechausdruck ist aber nach wie vor für heutige Hörer nicht be-

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sonders ansprechend. Auch hier gibt es wieder Schwierigkeiten, dem Inhalt zu folgen. Insgesamt überwiegt jedoch der Eindruck einer schwachen und spannungslosen Sprechweise. Die Aussprache zeigt weniger Härte und Betonung bei den Konsonanten als noch im Jahr 1925. Streckenweise ist die Artikulation recht verwaschen, manchmal klingt ein Berliner Dialekt durch (»Beendijung«). Durch diese Komponenten verliert sich die aggressive Gesamtwirkung, die die Rede aus dem Jahre 1925 vermittelt hatte. Sie erzeugen vielmehr erneut den Eindruck von Ermattung und Schwäche. Die einzelnen Laute werden nicht nur mit weniger Kraft gebildet, sondern mit weniger Spannung in der Stimme gehalten. Zum Satzende verliert sich jede Spannung, so dass im Gegensatz zur Rede aus dem Jahre 1925 kein gepresster, sondern ein eher verhauchter Eindruck entsteht. Dadurch wirkt Gustav Stresemann jetzt menschlicher und emotionaler, aber zugleich kraftloser. Die Stimme weist insgesamt mehr Resonanz auf. Die Nasenresonanz bleibt jedoch ungenutzt, wodurch die Stimme leicht hyponasal klingt, wie bei einer verschnupften Nase. Das mag mit dem Krankheitszustand des Redners zusammenhängen, der im Jahr 1928 ja schon deutlich dominierte. Die Sprechstimmlage ist tiefer als im Jahre 1925, aber auch weiterhin ohne großen Stimmumfang. Die stimmliche und prosodische Modulation ähnelt der Rede aus dem Jahre 1925, so dass hier erneut der Eindruck entsteht, die Rede werde abgelesen. Der Stimme mangelt es eindeutig an Kraft und Dynamik; sie wirkt gealtert. Das langsame Sprechtempo verstärkt den eher müden, ja geradezu schlaffen Eindruck. Inhaltlich geht es zwar in dieser Rede um Motivation und den Aufruf, gemeinsam eine neue Zukunft zu errichten, der festgehaltene Sprechausdruck lässt jedoch fast vermuten, Stresemann sei in Gedanken nicht bei der Sache und erledige sich erneut eher einer Pflicht als einer Herzensangelegenheit. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass sich der Redner Stresemann in den Jahren zwischen 1925 und 1928 deutlich veränderte, im Laufe der Zeit kraftloser, ja, kränker wirkt. Eindeutig hinterlässt die fortschreitende Krankheit tiefe Spuren in seinen Reden, unabhängig von ihrem Inhalt. Aus der Sprechanalyse selber erschließt sich einem heutigen Beobachter allerdings nur sehr schwer die gewaltige Ausstrahlung, die der Redner Stresemann auf das zeitgenössische Publikum ausgeübt haben muss.

2. Der Wille zum Aufstieg

Kulturelles Kapital: Inszenierung als Bildungsbürger »Gestatten Sie mir bei dieser Gelegenheit darauf hinzuweisen, daß der von Ihnen zitierte Vers nicht, wie Sie schreiben, von Johann Gottlieb Fichte stammt, sondern diesem immer fälschlich zugeschrieben wird. Er ist in Wirklichkeit von einem vaterländischen Dichter namens Albert Matthäi, der diesen Vers vor langen Jahren in der ›Jugend‹ veröffentlicht hat.«1

Ein solcher Kommentar war nach Stresemanns Meinung offenbar typisch für einen Gedankenaustausch zwischen deutschen Bildungsbürgern. In der Tat: Präzises literarisches Wissen stellte im bürgerlichen Lebenszusammenhang genauso wie stilvolle Kleidung, elegante Tischsitten oder guter Geschmack ein Mittel der kulturellen Kompetenz dar. Stresemann setzte sich mit diesem Kommentar daher bewusst von seinem Alltag als Politiker oder Syndikus ab, bewies seine geistige »Weite« und signalisierte diskret, zu der Schicht der »Wissenden« zu gehören. Stresemann war in der Tat ein eifriger Theater- und Operngänger, Mitglied des Ber­liner Bühnenklubs und des dortigen Literarischen Vereins.2 Er nutzte zudem jede Gelegenheit, sich kulturell auf dem Laufenden zu halten.3 Eine besondere Hinwendung zur Klassik (oder gar zur experimentellen Moderne) lässt sich allerdings, wie in seiner eigenen Lyrik, nicht feststellen.4 Bevorzugt hat er häufig die »leichte Kost«. Stresemann führte zudem eine rege Korrespondenz über wissenschaftliche, kulturelle und historische Themen.5 Er war Kulturpolitiker und Mäzen, setzte 1 Stresemann an Käpfer, 23.12.1928, PA AA , NL Stresemann 63. Interessant ist an dem Brief, dass Stresemann offensichtlich den Namen Matthäis selber noch recherchieren musste und ihn erst nachträglich (handschriftlich) ins Konzept eingefügt hat. 2 Schreiben Stresemanns an Paul Kreßmann, 28.1.1922, PA AA , NL Stresemann 316. 3 Stresemann war ein regelmäßiger Besucher des Reichsklubs der DVP, des Clubs von Berlin, »zu dessen Mitgliedern vor allem Industrielle, Geschäftsleute und Bankiers, aber auch Beamte und Akademiker gehörten« und eben des Deutschen Bühnen-Klubs (Wright, Stresemann, S. 570, Anmerkung 31). 4 Vgl. das Schreiben an seine Frau vom 21.9.1922 über »Die Wölfe« von Romain Rolland, PA AA Berlin, Privatnachlass Stresemann. Vgl. dazu seine dezidierte Ablehnung von »Negermusik«, gemeint ist Jazz. 5 Eulenberg, S. 209. Sehr geehrt fühlte Stresemann sich beispielsweise durch den Brief Gerhard Hauptmanns vom 3.9.1927, in dem dieser ihm für seine Osloer Rede beim Empfang des Friedensnobelpreises gratulierte. G. Hauptmann an Stresemann, Marbacher Literaturarchiv, 71.181.

72  Der Wille zum Aufstieg sich für die Ehrung des Dichters Richard Dehmel ein6 und votierte für die Aufnahme eines »wundervollen Gedichtes« des Achtundvierzigers Konrad Kreis in die deutschen Schullehrbücher, mit dem schlagenden Argument, »daß dieses Gedicht auch schon auf Kaiser Wilhelm I. einen tiefen Eindruck gemacht hat«7. Er förderte aber, hier ganz Liberaler, Max Liebermann, obwohl ihm dessen Malstil nicht zusagte. Schließlich disputierte er sogar mit dem Generalobersten von Seeckt, alle politischen Differenzen vergessend, darüber, warum Cäsar »meist nur ein sehr kleines Heer in den Kriegen gegen Pompejus ausheben konnte, während seine Gegner, selbst nach dem Tode von Pompejus, immer neue Heere gegen ihn auf die Beine brachten«.8 Das hier zu Tage tretende Interesse an Literatur und der Wunsch, darüber mit Gleichgesinnten zu kommunizieren, entsprechen den Vorstellungen, die die (frühe) Biografik über Stresemann, den exzellenten Literaturkenner, verbreitet hat. Dort wird Stresemann als jemand konstruiert, für den Kunst und der wissenschaftliche Diskurs eine wichtige Rolle gespielt hätten.9 Seinen frühen Biografen ist zuzugestehen, dass mit Stresemann in der Tat ein Politiker wirkte, der, mit Erfolg, versuchte, neben der Politik auch auf anderen Feldern zu glänzen. Damit stellte er sicher eine Ausnahme unter den Politikern im Kaiserreich und der Weimarer Republik dar.10 Es gab nicht viele Minister, die einen ähnlich weiten Horizont wie Stresemann besaßen. Zu fragen ist allerdings, inwieweit diese, meist auch öffentlich zur Schau gestellten, Interessen zugleich einen funktionalen Wert besaßen. Dienten sie also (auch) der Konstruktion des Bildungsbürgers Gustav Stresemann? Kulturelles Kapital zu erwerben ist schwer. Vor allem das Kapital, das einen lang andauernden Verinnerlichungsprozess voraussetzt. Für Stresemann war es, im Gegensatz etwa zu den von ihm bewunderten Brüdern Flex11 oder Walther Rathenau, wegen seiner Herkunft nicht leicht, diese Defizite rasch zu kompensieren. Es gab jedoch eine Reihe von möglichen Anknüpfungspunkten für einen solchen Versuch, die er geschickt nutzte. Ein erster Schritt war der Erwerb »institutionalisierten kulturellen Kapitals«, manifestiert etwa durch einen höheren Schulabschluss. Stresemann hatte das Abitur allerdings (nur) an dem neuen Typ des Real- nicht aber an dem des klassischen Gymnasiums erlangt. Das war, nicht nur in seinen Augen ein gewisses 6 Vgl. dazu das Unterkapitel »…und wollte ein Bürger sein«. 7 Stresemann an Minister Becker, 12.3.1929, PA AA , NL Stresemann 77. 8 Stresemann an von Seeckt, 27.12.1928, PA AA , NL Stresemann 291. 9 Vgl. Görlitz, S. 238 ff. 10 Politiker und Ökonomen wie etwa Walther Rathenau, die Stresemann in Bildung und kultureller Kompetenz deutlich übertrafen, gab es in Deutschland nicht viele. Vgl. zu Rathenau nur die vorzügliche Edition seiner Werke, Walther Rathenau Gesamtausgabe, seit 1983 ff. 11 Vgl. dazu das Unterkapitel »…und wollte ein Bürger sein«.

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Manko. Er hat daher später alles getan, um seine Schule aufzuwerten: Er unterstützte die Treffen seines Abiturientenjahrganges, nahm Kontakt zu seinen alten Lehrern und dem Direktor Johannesson auf.12 Er zeigte sich zudem als ein eifriger Mäzen, gründete die dortige »Stresemann-Bibliothek« und förderte die Ruderriege des Gymnasiums.13 Allein schon, dass es eine »StresemannBibliothek« gab, erfüllte ihn nicht nur mit Stolz, sondern diente zugleich der Er­ höhung seines kulturellen Kapitals. Ähnlich erging es ihm mit seinem akademischen Titel. Sofern man einen solchen Doktortitel erworben hat, gehört man nahezu automatisch zur wissenschaftlichen »ingroup«, partizipiert an deren kulturellem Kapital. Das gilt ebenfalls für die Mitgliedschaft in einer studentischen Verbindung. Allerdings gelten hier die gleichen Selektionen wie im militärischen Bereich: Auf das »Wo«, »Wie« und »Was« kommt es an. Und da zeigte es sich: Stresemanns fundierte Dissertation über das »Berliner Flaschenbiergeschäft« an der Universität Leipzig, bei dem renommierten Sozialwissenschaftler Karl Bücher verfasst, nährte in den feinen bildungsbürgerlichen Kreisen eher Spott, als dass sie ihm zur Mehrung seiner Reputation verhalf.14 Stresemann wusste schon, warum er lieber ein mehr theoretisches Thema hatte bearbeiten wollen, das ihm mehr Ansehen eingebracht hätte.15 Eine andere Möglichkeit, kulturelles Kapital zu erwerben, bestand darin, sich als Mäzen, Kunst- und Literaturkenner, als Kulturmanager und als Sammler, etwa von Goetheania, zu profilieren.16 Man konnte etwa, möglichst öffentlich sichtbar, die Aufführungen seiner Werke regelmäßig besuchen oder den Dichter Goethe in Reden und Schriften häufig zitieren, wie Stresemann das nur allzu gern tat. Man konnte aber auch bei Bedarf (oder ohne Notwendigkeit) aus dem »Faust« deklamieren, den Stresemann auswendig gekannt haben soll.17 Es gab aber noch wirkungsvollere kulturelle Aktivitäten außer dem Versuch, Goethe in seinen eigenen lyrischen Versuchen nachzuahmen.18 Man konnte z. B. der Goethe-Gesellschaft oder einer der ihr angeschlossenen Institutionen 12 Stresemann an Bäske, o. D., PA AA , NL Stresemann 243. 13 Stresemann an Gade, 29.8.1922, PA AA , NL Stresemann 316 und Schreiben von Dr. Schöne­beck (Leiter des Andreas Realgymnasiums) an Stresemann, 31.5.1927, PA AA , NL Stresemann 54. 14 Koszyk, Stresemann, S. 76 f. 15 Wright, Stresemann, S. 30. 16 So verschenkte Stresemann gern »Goetheana« an die Verwandtschaft (Schreiben Stresemanns an seine Frau, 3.2.1919, PA AA Privatnachlass) oder ließ seinen Sohn GoetheZitate nachschlagen (Stresemann an seine Frau, 11.2.1927 (aus San Remo), PA AA Berlin, Privatnachlass Stresemann. 17 So suchte sich Stresemann aus Goethes Werken immer wieder Material für Zitate, z. B. »Zitat von Goethe: ›Nur wer sich wandelt bleibt mir verwandt‹ […] Gut aufheben« (PA AA , Privatnachlass Stresemann). Vgl. hierzu Wright, Stresemann, S. 491, Anmerkung 1. 18 Vgl. das Unterkapitel »Der Lyriker Gustav Stresemann«.

74  Der Wille zum Aufstieg beitreten. Damit bekundete man nicht nur öffentlich wirksam sein kulturelles Interesse, sondern vermehrte durch die Kontakte zu den anderen Vereinsmitgliedern, zugleich seine Reputation, sein kulturelles und soziales Kapital (Bourdieu).19 Die Pflege der mit Goethes Namen verbundenen Literatur sowie die Unterstützung der Goetheforschung waren wichtige Aufgaben  – und interessierten Stresemann sehr. Wichtig war jedoch zugleich, dass man sich dabei in einem Kreis Gleichgesinnter befand, etwa der (jüdischen) D ­ resdner Bekannten, den Bankiers Arnhold, von Felix Bondi und Leon Nathanson, ehrenwerter Männer, kulturell interessiert und engagiert. In einer solchen Gesellschaft vermischten sich kulturelle, soziale, politische und ökonomische Interessen auf das intensivste. Mit dem Parteifreund, Notar und bekannten Goethesammler Nathanson konnte Stresemann etwa kenntnisreich darüber kommunizieren, wie preisgünstige Goetheania gegenwärtig zu erwerben waren, zugleich aber auch den persönlichen kulturellen Austausch intensivieren. Stresemann ließ etwa den berühmten Sammler20 im Jahre 1921 ganz »en passant« wissen, dass er zwei neue »Goethestücke« erworben habe und gern bereit sei, ihm seine »kleine Sammlung von Goethesachen in Berlin zu zeigen«.21 Damit wurde eine Intimität zwischen beiden hergestellt, die Nathanson wiederum veranlasste, ihm im Gegenzug Jahre später zwei Goethe- und Schillerplaketten aus dem Jahre 1824 zu überreichen (»eine bescheidene Gabe«) und ihn nun seinerseits aufzufordern, seine Dresdner Sammlung zu besichtigen.22 Diese kulturelle Affinität war wiederum politisch nützlich, avancierte Nathanson doch bald zum Verbindungsmann Stresemanns zum »Verband Nationaldeutscher Juden« (VnJ). Auf einer weiteren Ebene konnte Stresemann sich wiederum öffentlichkeitswirksam als Mäzen und Retter deutscher Kunst in Szene setzen und sich zugleich als überzeugter Patriot profilieren, als er im Jahre 1921 versuchte, zusammen mit einigen Freunden, unter tatkräftiger Mithilfe wiederum Nathansons, das Tagebuch Goethes, das die Aufzeichnung für »Wahrheit und Dichtung« enthielt, zu ersteigern, um so einen Verkauf dieses wertvollen Manuskriptes ins Ausland zu verhindern. Im Gegensatz etwa zu dem neureichen Hugo Stinnes, bei dem »ich [Stresemann] leider ein Interesse für literarische Dinge noch nicht in dem Maße bemerkt hätte, daß ich glaubte, mit Erfolg in dieser Angelegenheit

19 Vgl. Hahn. 20 Vgl. dazu die Versteigerung der Sammlung »Leon Nathanson-Dresden« bei der 106. Auktion von Paul Graupe am 19. und 20. April 1933 (!) in Berlin. Vgl. dazu das Vorwort des Kataloges von Arthur Bloesser. 21 Stresemann an Nathanson, 19.10.1921, PA AA , NL Stresemann 225. 22 Schreiben Nathansons vom 24.10.1926 und Antwort Stresemanns vom 3.1.1927, PA AA , NL Stresemann 48.

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an ihn herantreten zu können«23, setzte er sich mit großer Energie, und auch finanziellem Engagement, für den Erwerb ein. Dass die Presse über Stresemanns Bemühungen lebhaft berichtete und ihn als Schützer des deutschen Kulturgutes feierte, verstand sich fast von selber – und war fest einkalkuliert. Ebenso erfolgreich agierte Stresemann in der »Vereinigung der Freunde des Goethehauses zu Weimar«, einem 1910 gegründeten Kreis, dem er von Anfang an angehörte.24 Das Feld der Mitglieder reichte hier wiederum von den Dresdner Bekannten Arnhold, Lingner, von Klemperer und Nathanson, allesamt wie Stresemann dank hoher Zuwendungen lebenslängliche Mitglieder,25 bis zum ehemaligen Reichskanzler Bethmann-Hollweg, den Stresemann im Kriege stürzen sollte, dem Großherzog von Sachsen, dem Direktor der Deutschen Bank, A. von Gwinner sowie der Familie Krupp.26 In dieser Institution profilierte sich Stresemann rasch als tatkräftiger Organisator für die Instandhaltung des Goethehauses. Er selber gab, »weil ich es für kläglich ansehen würde, wenn diese Summe in Deutschland nicht aufzubringen wäre«, sofort eine Garantie in Höhe von 25.000 Mark27, die er allerdings mit Hilfe seiner weitreichenden Beziehungen recht bald wieder zurückziehen konnte. Auf diese Weise konnte er seinen Interessen nachkommen, der Sache dienen und zugleich öffentlich als Förderer der Künste auftreten. Nicht ohne Stolz ließ er durchklingen, dass man ihn »zum lebenslänglichen Mitglied gewählt [habe] als Danksagung für die Sammlungen, die ich für die Unterhaltung des Goethehauses in Weimar veranstaltet habe«.28 Er dürfte sich sehr geehrt gefühlt haben, als das Freie Deutsche Hochstift ihm anlässlich seines Geburtstages im Jahre 1923 in diesem Sinne gratulierte: »Mit Dankbarkeit und Genugtuung wird es gerade in Goethes Geburtsstadt empfunden, daß die Leitung der Geschicke unserer Nation einem Manne anvertraut ist, dessen Empfinden und Wesen in der 23 Stresemann an Kritzler, 7.10.1921, PA AA , NL Stresemann 316. Hier kann man sehr deutlich die Wichtigkeit der verschiedenen Kapitalsorten (Politik versus Kultur) für­ Stresemann erkennen. Dem politisch bereits etablierten Stresemann war ein Engagement auf der kulturellen Ebene zu diesem Zeitpunkt besonders wichtig, weil er dort, und das wusste er selber, die größten »Defizite« besaß. Deshalb ließ er die gleichzeitig statt­ findende, sehr wichtige parlamentarische Sitzung einfach ausfallen. 24 Vgl. dazu: Jahresgabe 1992 des Freundeskreises Goethe-Nationalmuseum e. V.: Aus der Geschichte des Freundeskreises des Goethe-Nationalmuseums, Weimar 1992. Eintrittserklärung Stresemanns vom 14.10.1910, (Vereinigung der Freunde des Goethe Hauses, Briefwechsel 1901–1918). Stresemann gehörte später auch der Gesellschaft der Freunde des Frankfurter Goethe-Museums an, wo er sich ebenfalls als Geldaquisitor einen guten Ruf erwarb (Schreiben an Stresemann, 25.10.1923, PA AA , NL Stresemann 3). 25 Schreiben Stresemanns vom 13.12.1920, PA AA , NL Stresemann 316. 26 Vgl. die Mitgliederlisten im GStA Weimar, 149/206. 27 Stresemann an Kommerzienrat Arnhold und Dr. Richard Fleischer, 13.10. und 4.11.1920, GSA Weimar, 96/4584. 28 Stresemann an Nathanson, 18.4.1921, PA AA , NL Stresemann 316.

76  Der Wille zum Aufstieg geistigen Atmosphäre von Weimar wurzelt. Seit den Tagen des Reichsfreiherrn vom Stein war uns eine solche Verbundenheit von Politik und Kultur nicht mehr beschieden«. Eine wichtigere Danksagung konnte es für Stresemann wohl kaum geben.29 In allen Fällen zeichnete sich das gleiche Muster ab: Mit Rat und Tat setzte sich Stresemann, meist öffentlich sichtbar, für die Erhaltung (klassischer) kultureller Werte ein, nutzte seine Beziehungen, Geld aufzutreiben, um im Gegenzug dafür als Freund und Förderer der Kunst zu erscheinen und sich gesellschaftlich beliebt zu machen. Von großem Interesse ist jedoch auch, ob Stresemann bei anderen, nicht so schnell antizipier- und erlernbaren Formen und Praktiken, seine bildungs­ bürgerliche Kompetenz unter Beweis stellen konnte, ob etwa die Qualität seiner wissenschaftlichen Beiträge, insbesondere zu Goethe, bildungsbürgerlichen Ansprüchen genügten. Für sie hat die ältere Stresemannforschung nicht mit Lob gespart:30. »Aus seiner Verwurzelung im Goetheschen Denken heraus konnte er für einen der letzten Repräsentanten deutscher Humanität gelten […]. Seine Bildung war in vieler Hinsicht umfassend […]«31 – schreibt etwa Walter ­Görlitz in seiner Biografie aus dem Jahre 1947, um fortzufahren: »Ein Mann stand hier […] der wirklich einer der Mittelpunkte nicht nur des politischen, sondern auch des geistigen, gesellschaftlichen und künstlerischen Lebens seiner Zeit war.«32 Gestützt wird diese positive Würdigung dadurch, dass Stresemann mit seinen Aufsätzen sogar in die maßgebliche Goethe-Bibliografie von Hans Pyritz aufgenommen worden ist.33 Zutreffend ist, dass der Laie Stresemann in Teilen ein profundes Wissen besaß. Das kann nicht deutlich genug betont werden. Allerdings hat eine genaue Kennerin Goethes, Lieselotte Kurth, die Stresemanns Arbeiten unter (literatur-)wissenschaftlichen Aspekten kritisch analysiert,34 ein deutlich anderes Urteil als seine Bewunderer gefällt: Stresemanns Aufsatz über »Goethe und Napoleon« etwa, der in der Zeit zwischen 1912 und 1915 entstanden ist, stützte sich, so Kurth, sehr einseitig auf den Schweizer Andreas Fischer. Auffallend ist dabei

29 Ausführungen des Direktors des Frankfurter Goethe-Museums, Prof. Dr. Ernst Beutler, an Stresemann zu dessen 50. Geburtstag, hier zit. nach: Bauer, Stresemann, S. 203 f. 30 Vgl. zum Folgenden Kurth. 31 Görlitz, S. 245 f. 32 In gleichem Sinne 1921 der Parteifreund Dingeldey: »[…] die reiche Fülle der Bildung und des Wissens und die Tiefe des Gemüts […]« (Dingeldey an Stresemann, 12.9.1921, PA AA , NL Stresemann 316). 33 Hans Pyritz, Goethebibliographie, Bd. VII, 2. Auflage Darmstadt 1966, S. 302. Es handelt sich um Stresemanns Beiträge »Goethe und die Freiheitskriege« (S. 225, Nr. 2893) sowie »Goethe und Napoleon« (S. 344, Nr. 4671). Ferner sind in diesem Zusammenhang noch bemerkenswert: »Weimarer Tagebuch« und »Rätsel um Goethe«. 34 Kurth, S. 371 ff.; danach auch die folgendem Gedanken.

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nicht nur, dass die gesamte Fachliteratur kaum zur Kenntnis genommen worden war, sondern dass die Nähe zu Fischer und dessen Argumentation von Stresemann nur, um es vorsichtig auszudrücken, unzureichend betont wurde. Es fällt auf, »daß Fischer stets genau zitiert und jede Entlehnung als solche kennzeichnet, während Stresemann ungenau zitiert und keine Quelle nennt«.35 Insgesamt spricht die Autorin dem kurzen Aufsatz alle Wissenschaftlichkeit ab. Den zweiten Aufsatz veröffentlichte Stresemann in seiner eigenen Zeitschrift »Deutsche Stimmen« im Jahre 1927.36 Er beruhte auf einem Vortrag, den er 1926 an der Heidelberger Universität gehalten hatte. Schon daraus geht hervor, welcher Bedeutung er seinen Ausführungen beimaß und wie wertvoll ihm die Nähe gerade zu dieser Universität war, die ihm 1927 die begehrte Ehren­ doktorwürde verlieh. Kein Zufall dürfte es daher sein, dass er in seinem Nachlass einen Brief Rudolf Goldschmidts aufbewahrte, in dem dieser Vortrag geradezu überschwänglich gerühmt wurde: »Das geistig verwöhnte Publikum Heidelbergs zählt – das war der übereinstimmende Eindruck ihres Vortrages – Ihre Rede zu den großen Ereignissen im kulturellen Leben unserer Stadt für lange Zeit hinaus.«37 Tatsächlich jedoch entsprachen Vortrag und Rede, entgegen dem schmeichelnden Lob Goldschmidts, keineswegs wissenschaftlichen Kriterien. Neben den formalen Mängeln (beschränkte Literaturbasis, Ungenauigkeit beim Zitieren, Nichtnennung von Quellen u. ä.) ließ das Werk die Sorgfalt in der Deutung vermissen. Goethe wurde nur als Steinbruch benutzt, um eigene Vorstellungen Stresemanns zu untermauern. Ein Kritiker monierte bissig: »Es gibt auch im Leben des Olympischen von Weimar Handlungen, die man nicht dadurch bessert, daß man sie mit Stresemannschen Kommentaren ziert«.38 Bei einem dritten Beitrag schließlich handelte es sich um einen Vortrag mit dem Titel: »Rätsel um Goethe«. Diesen hatte Stresemann 1927 im Deutschen Bühnenklub, wo er Ehrenmitglied war, gehalten. Auch hier war das gleiche Grundmuster seiner literarischen Arbeit zu erkennen. Er reproduzierte vor allem die Gedanken aus einer Vorlage, diesmal des zweibändigen Werkes von Else Frucht aus den Jahren 1913 und 1914, über »Goethes Vermächtnis – Eine frohe Botschaft«39, diesmal allerdings unter korrekter Angabe der Vorlage. Das von der Forschung weitgehend nicht akzeptierte Werk vertrat die Ansicht, die Hauptarbeit Goethes in seinen letzten Jahren hätte nicht dem »Faust«,

35 Ebd., S. 372. 36 Hier und im Folgenden orientiere ich mich im Wesentlichen an den Ausführungen von Kurth, S. 375. 37 Rudolf Goldschmidt an Stresemann 30.8.1926, zit. nach: Kurth, S. 375. 38 Kührenberg, S. 162. 39 Else Frucht, Goethes Vermächtnis – Eine frohe Botschaft, München und Leipzig 1913/14, zit. nach: Kurth, S. 377.

78  Der Wille zum Aufstieg sondern einem geheimen Typoskript gegolten. Stresemann hielt es für möglich, »daß ein bisher unbekanntes Manuskript existiert und daß es die Fortsetzung der ›Wanderjahre‹ sein könnte«.40 Zugleich sprach er, und dadurch wurde die Darstellung einem kundigen Publikum geradezu peinlich, in einer lang ausholende Auseinandersetzung Goethes Wanderjahren jegliche Qualität ab.41 Insgesamt stellt sich also eine deutliche Diskrepanz zwischen dem Eigenurteil Stresemanns und den Wahrnehmungen seiner Bewunderer auf der einen und dem Urteil der Forschung auf der anderen Seite heraus. »Tiefes Verständnis für das eigentliche Wesen von Goethes Werk blieb dem Realpolitiker« in jedem Fall versagt.42 Die Kenner sahen in Stresemann eher einen Dilettanten, der sich auf ein Gebiet gewagt hatte, das er nur höchst unzureichend kannte. In Fachkreisen galt er keineswegs »als ein gründlicher Kenner Goethes, der seiner eigenen Forschung neue, nicht unwesentliche Einsichten verdankte und deshalb einen Platz auch in einer kritisch sichtenden Goethe-Bibliographie verdient hätte«.43 Kurzum: Stresemanns Beiträge waren »weder denkwürdig noch erkenntniswichtig und können nicht zum ›Kernbestand‹ an Schriften gezählt werden, die das ›Arbeitsmaterial‹ des Forschers ausmachen.«44 Ob er durch sie also den Habitus eines Bildungsbürgers erwerben konnte, bleibt mehr als fraglich.

40 Kurth, S. 378. 41 Vgl. dazu mit sehr diskreter Kritik, Mandelkow, S 36: Der Roman »markiert die Grenze des ästhetischen Verständnisses dieser seinerzeit neuen, revolutionären Romanform gegenüber, die auch hochgebildete Goethekenner wie der Politiker Gustav Stresemann, der deutsche Außenminister und Hobby-Goethe-Philologe, nicht zu überschreiten vermochten«. 42 Kurth, S. 34: danach die folgenden Gedanken. Hervorzuheben ist allerdings, dass wohl jedermann in Deutschland in den 1920er Jahren wusste, dass Stresemann ein GoetheBewunderer war. Zu seinem 50. Geburtstag sollen in Berlin alle Goetheerinnerungen aus den Berliner Antiquariaten verschwunden ge­wesen sein. Auch Autogramme von­ Goethe, um Stresemann damit beehren zu können, waren offensichtlich nicht mehr aufzutreiben. Insofern war Stresemann als ­Goethefreund und -kenner im kollektiven Bewusstsein der Deutschen in der Weimarer Republik fest verankert. Stresemann hatte erreicht, dass er und Goethe als Pärchen nebeneinander, gewissermaßen auf einer Ebene standen. In diesem Zusammenhang wäre es wohl interessant zu wissen, ob die Quellensammlung aus Stresemanns Nachlass, die gleich nach seinem Tode erschien, nicht vielleicht deswegen »Vermächtnis« genannt worden ist, um damit an Goethe zu erinnern. 43 Kurth, S. 379. 44 Ebd., S. 380.

Der Lyriker Gustav Stresemann 

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Der Lyriker Gustav Stresemann »In fünfviertelstündigen Ausführungen wusste er [Stresemann] uns ein Bild der geistigen und politischen Gedankenwelt der vierziger Jahre [des 19. Jahrhunderts] und des Ausdruckes, den sie in der Lyrik jener Zeit gefunden hatte, vorzuführen, indem er die theoretischen Ausführungen durch Vorträge von Gedichten aus Freiligrath, Herwegh, Dingelstedt u. a. illustrierte. In warmer Weise trat er für die Berechtigung und nationale Bedeutung sowohl jener politischen Bewegung als auch der daraus entspringenden freiheitlich-nationalen Lyrik ein«. 45

Jeder (Bildungs-)Bürger sollte nicht nur ein Goethekenner, sondern wohl auch, zumindest eine Zeit lang, ein Dichter gewesen sein. Diese Vorstellung Gustav Stresemanns ergab sich vor allem aus der deutschen Bürgertumsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, so wie er sie interpretierte. In der eigenen­ Poesie sah Stresemann gewissermaßen den Höhepunkt kultureller bürgerlicher Selbstvergewisserung. Im dichterischen Engagement spiegelte sich für ihn die höchste Stufe von inkorporiertem kulturellem Kapital. Allerdings ist die Dichtkunst ein besonders scharfer Seismograf dafür, Zugehörigkeit zum Bildungsbürgertum zu gewähren oder aber aus ihm ausgeschlossen zu werden. Fast nirgendwo sonst ist der Grat zwischen »gut gemeint, aber nicht gekonnt« und »wirklicher Kunst« so schmal wie in der Poesie. Wie sind nun in diesem Kontext die literarischen Qualitäten der frühen (und späten) Dichtung Stresemanns zu beurteilen? Welche politisch-kulturelle Grundhaltung lässt sich aus seiner Poesie herauszulesen? Welche Hinweise gibt sie auf seine gesellschaftlichen und politischen Standpunkte?46 Die Stresemannsche Gedichtesammlung Stresemann hat schon früh die Bedeutung von schöpferischer Poesie erkannt. Es mangelte ihm nie an Willen und nicht an Selbstbewusstsein, als literarischer Kenner zu gelten. Das zeigte bereits sein Einstand in der Nationalsozialen Partei in Dresden im Jahre 1901. Statt eines Referates über ökonomische Fragen, von denen er nach seiner abgeschlossenen Dissertation viel verstand, beglückte er seine neuen Parteifreunde mit einem längeren Vortrag über »Wesen und Bedeutung der deutschen Tendenzpoesie«, ein sehr anspruchsvolles Vorhaben für 45 Soweit der Literaturkenner Stresemann, in: Die Hilfe, VII . Jg., Nr. 48, 1.12.1901. 46 Damit kann seine poetische Produktion einen Beitrag zu der Beantwortung der Frage leisten, ob und inwieweit sich Gustav Stresemann im Laufe der Zeiten verändert hat und welches die grundlegenden und scheinbar unveränderbaren Werte in seinem Leben darstellten.

80  Der Wille zum Aufstieg einen 23-jährigen Laien.47 Er wollte sich offenbar vor dieser Partei der »Führer«, wie die Nationalsozialen häufig bezeichnet wurden, nicht nur als Wirtschaftler und Politiker, sondern eben auch als Kulturträger präsentieren. Das war kein Zufall. Kunst und Kultur, die Partizipation daran, die Auseinandersetzung darüber genauso wie der Versuch, schriftstellerisch, wissenschaftlich und dichterisch gestaltend mitzuwirken, spielten in Stresemanns Leben eine wichtige Rolle. Seine frühen literarischen Auseinandersetzungen, in denen er und der etwas ältere Kurt Himer sich in seiner Schulzeit mit äußerster Intensität ergingen, belegen das. Seitenlang wurde über Schauspielaufführungen, über Interpretationen von Gedichten und über die Bedeutung der Kultur für das bürgerliche Leben diskutiert.48 Stresemann hat in seiner freien Zeit als 17- und 18-jähriger zudem sorgfältig eine Sammlung (deutscher) Dichter ausgewählt und ein eigens dafür vorgesehenes Gedichtbuch mit »wertvollen Dichtungen« gefüllt.49 Den Kanon der bildungsbürgerlichen Klassik meinte er in diesem fast 300 Seiten umfassenden »Dichter-Album« gesammelt zu haben.50 Dort spiegeln sich seine Vorlieben wider. Das Album belegt zweifellos eine große Belesenheit des jungen Stresemanns, die man nur bewundern kann. Die Auswahl der Gedichte war allerdings höchst konventionell, ja, gerade­ zu konservativ. Sie enthielt zahlreiche Beispiele von heute ganz vergessenen, damals aber modischen Autoren. Auffällig ist, dass so gut wie alle innovativen Autoren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie etwa Storm, Keller, C. F. Meyer und Liliencron, fehlten. Der einzige nichtdeutsche Autor war ein damals beim Publikum beliebter patriotischer Amerikaner, Longfellow, der die indigene Kultur der USA literarisch aufgegriffen hatte. Zu dem konventionellen Repertoire gehörten: Etwas Schiller, aber eher in der bürgerlichen Rezeption der Schillerfeiern als der des Jenaer Schiller, ein wenig späte Romantiker, u. a. Eichendorff, Kerner, Uhland, vor allem aber die GoetheNachfolge, gelungen bei Mörike und sehr epigonal bei Geibel. Dies alles zeigte immerhin politisch eine deutlich liberale Perspektive. Das belegt etwa Platens »St. Just«-Gedicht, Müllers »Freiheit« und auch (allerdings falsch geschrieben) »Freiligrat[h]«. In der gesamten Auswahl schlug jedoch das (post-)romantische Gefühl deutlich stärker durch als die politische Emphase. Das wird umso augenfälliger, wenn man bedenkt, woran Stresemann in seiner Auswahl geradezu ziel­sicher 47 48 49 50

Siehe das Eingangszitat. Die Hilfe, VII . Jg., Nr. 48, 1.12.1901. Vgl. den Briefwechsel Himer-Stresemann, PA AA , Kopie im Privatnachlass Stresemann. Vgl. dazu sein Album im Privatnachlass. Bei der Analyse des Gedichtbandes bin ich dem Kollegen Albert Maier (Universität Kiel) zu großem Dank verpflichtet. Er hat das Album genau gelesen und mir die entscheidenden Anregungen gegeben. Der folgende Text entstammt im Wesentlichen seinen Vorschlägen.

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vorbeigegriffen hatte: Im Album war nichts von den radikalen 48er-Versen Freilig­raths zu finden. Bei Heinrich Heine wie bei Johanna Kinkel fanden vor allem die Produkte der romantischen Liebe ihren Platz, jedoch nichts »Widerborstiges« oder »Freches«. Die Berücksichtigung von Heine scheint eher eine »Pflichtübung« gewesen zu sein, eben genau an der Stelle, die in dem Album gewissermaßen vorgegeben war. Hierin könnte sich eine tiefe Ironie-Abneigung Stresemanns zeigen: Der Ironiker Heine wurde nicht recht wahr- und aufgenommen. Mit Antisemitismus dürfte dies allerdings nichts zu tun haben. Säbelrasselnder Patriotismus sticht ebenfalls nicht hervor, der bei manchen der ausgewählten Autoren durchaus nahegelegen hätte. Dazu neigte der junge Stresemann nicht. Die im Band vertretene Romantik war zu dem Zeitpunkt, da die Gedichte gesammelt wurden, allerdings bereits sentimental geworden, weich und etwas matt, geradezu biedermeierlich beruhigt. Die dennoch durchschimmernde Unruhe blieb gutbürgerlich gebändigt, wie die Gedichte von Gilms »Wie einst im Mai« und »Das Mutterherz«, zeigen. Die Auswahl war bei aller zu erkennenden Belesenheit, die man dem jungen Stresemann zugestehen muss, weder wirklich geschmackssicher noch eigenständig: Viel Geibel und Scheffel, wenig Mörike und Platen. Von einem jungen »Stürmer« und »Dränger« konnte bei Stresemann mit seinen knapp 18 Jahren nicht die Rede sein, eher von einem altväterlichen Liberalen, der fest in den Kunstkategorien des (alten) Kaiserreiches verwurzelt war. Stresemanns Lyrik Neben dem Sammeln von Gedichten hat Stresemann mit eigenen lyrischen Gedichten dilettiert, und zwar als Schüler wie als junger Erwachsener.51 Sogar später als Syndikus und reifer Politiker hat er noch gern gedichtet. Selbstzweifel über seine dichterischen Qualitäten kannte der Poet Stresemann kaum. In nach seiner Ansicht bürgerlichen Geschmacksfragen schien er sich ganz sicher zu sein. Deswegen hat er seine eigenen frühen dichterischen Leistungen auch Jahrzehnte später niemals infrage gestellt. Im Gegenteil, er glaubte selbst 51 »Traumjörg. Gedichte einer Jugend«, Privatdruck im Jahre 1920 (o. O.) veröffentlicht. Auf diesen Privatdruck beziehen sich die folgenden Interpretationen. Hier stütze ich mich auf die Analysen des Kollegen Heinrich Detering (Universität Göttingen), der sich freund­ licherweise zu einer Interpretation wichtiger Gedichte der Stresemann’schen Produktion bereitgefunden hat. Der Text folgt nahezu vollständig seinen Gedanken. Ihm sei noch einmal herzlich gedankt. Gleiches gilt für Hjalmar Schacht, der achtzigjährig im Jahr 1957 eine eigene Gedichtsammlung publizierte. Hjalmar Schacht: Kleine Bekenntnisse aus 80 Jahren. Als Handschrift für Freunde gedruckt anläßlich meines achtzigsten Geburtstages, München 1957.

82  Der Wille zum Aufstieg als Erwachsener, ohne irgendwelche Skrupel, Zeugnis von seinem frühen dichterischen Schaffen vor der Öffentlichkeit ablegen zu können und hat aus diesem Grunde noch 1920 einen größeren Freundeskreis mit einem Privatdruck seiner Gedichte beschenkt. Dort war eine große Anzahl ausgewählter Gedichte vereinigt, die er zwischen den Jahren 1894 und 1905 verfasst hatte.52 Politisch enttäuscht und um neuen Einfluss kämpfend, gesundheitlich angeschlagen und voller Trauer über den Verlust des geliebten Kaiserreiches war es ihm zu diesem Zeitpunkt vielleicht ein besonderes Bedürfnis, sich an seinen (frühen) Gedichten aufzurichten, in ihnen innere Ruhe zu finden und dieses Gefühl seinen Freunden weitergeben zu können. Ganz sicher zeigt sich darin der Wunsch, bildungsbürgerlichen Halt in der Kunst zu finden, als Ersatz für das verlorene politische Ideal, den drohenden sozialistischen Umsturz, die ökonomische Krise und die Wirren der Zeit. Wehmut wegen der »verlorenen Vergangenheit« und Angst vor der Zukunft könnten sich also aus dieser Edition herauslesen lassen. Nicht ohne tieferen Sinn stellte Stresemann die Auswahl seiner Gedichte unter das Motto von Jean Paul: »Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können«. Seine Gedichte sollten ihm dabei offensichtlich helfen. Seine lyrischen Produkte sind jedoch, wie seine »Gedichtsammlung«: epigonal, ohne jugendliche Frische, romantizierend nahezu ohne Eigenständigkeit. Stresemann vermied, um nur einen Aspekt zu nennen, alle schwierigen Formen a la Platen oder Rückert und schrieb vor allem die Gemeinplätze fort, die die Lyrik seit der Romantik kannte: unglückliche Liebe, Trauer (über den Tod der Mutter), viele Naturbilder. Spuren der zeitgenössischen Lyrik, noch dazu gar aus dem modernen Frankreich, sind nicht zu finden. Untersucht man einige der in dieser Anthologie von 1920 veröffentlichten Gedichte exemplarisch, verfestigt sich der Eindruck eines Dilettanten. Der Prolog etwa, der den Band einleitete, anlässlich einer Wohltätigkeitsveranstaltung von dem 16-jährigen jungen Schüler verfasst, entsprach konventioneller Feiertagslyrik. Er war typisch für den epigonalen Stil des späten 19. Jahrhunderts, dem Stresemann ganz offensichtlich nacheiferte. Das gilt auch für die als ›dichterisch‹ empfundenen Archaismen (»der Meldung Amt verwalten« statt ›melden‹; »empfahn« statt ›empfangen‹; »von dorten« statt ›von dort‹). Ebenso typisch für die Verwässerung der Weimarer Klassik war in diesem Prolog die Vermischung von Schillerschem Pathos (»für edlen Zweck«: das Theater als sittliche Erziehungsinstanz) und bürgerlicher Unterhaltungskultur (»der Geist der Unterhaltung«).53

52 Traumjörg. Auch in seinen von v. Rheinbaben herausgegebenen Reden und Schriften, Bd. 2, S. 393 ff., hat er einige seiner Gedichte noch im Jahr 1926 veröffentlicht. 53 Traumjörg, S. 7 f.

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»Prolog anläßlich einer Wohltätigkeitsvorstellung gesprochen am 11. Dezember 1894 Ein Bote komm ich, abgesandt mit Kunde, Es soll sich hier ein frölich [sic] Spiel entfalten. Als Diener in des Unternehmens Bunde, Will ich nach Pflicht der Meldung Amt verwalten: Als Bittender: jedoch mit triftgerm Grunde Erschein ich, denn es kann nur Gunst erhalten, Was harmlos dar sich stellt als wohlgemeint, Mit Glanz und mit Verdiensten vereint. Ungleichen Inhalts zeigt sich stets das Leben, Regiert ein Gleichmaß schon den Gang der Stunden, Ach kein Moment ist so dem Glück ergeben, Daß er nicht auch dem bittren Leid verbunden: Will Freude hier die Brust im Jubeln heben, Hat schlagend dort der Schmerz sich eingefunden, Ein Zeichen nur macht beide offenbar: Gefühl! Und in der Träne wird es klar. An dies Gefühl nun wenden wir uns heute, An das Gefühl des Mitleids in der Brust, Gilt es ja doch dem Wohle armer Leute, Damit auch sie empfahn der Weihnacht Lust. Ein hilflos Greisenpaar gilt es zu trösten, Derweil sie traf des Schicksals schwerer Schlag. Sie, die in Kraft und Rüstigkeit noch sahen Vor kurzem erst der goldnen Hochzeit Tag. Hülfreicher Liebe widmen die Erbauer der Bühne Raum, Von dorten heut der Geist der Unterhaltung sein Panier entfaltet, Wo Ernst und Schmerz in Harmonie heut waltet. Denn unser Ziel soll sein, Euch zu erfreun, Dieweil dem Schmerze Linderung wir verleihn, So knüpfet Freud und Leid ein’ Friedensschluß, Der sich im Bild der Kunst gestalten muß. Doch kann, was Absicht wagend will bereiten, Allein die Nachsicht ganz dem Sinn vermählen, Nicht ernste Regeln will die Spiele leiten, Sie möge nur Geschmack und Geist beseelen. Nicht Meister greifen in der Leyer Saiten, Doch weiß auch Scherz das Würdige zu wählen, Wenns gleich für edlen Zweck an Kunst gebricht, Zu fürchten hat es strenge Richter nicht.

Es ist geradezu unverständlich, wieso Stresemann fast 25 Jahre später diese Jugendsünden veröffentlichte. Offensichtlich konnte er den literarischen Wert

84  Der Wille zum Aufstieg dieser Gedichte nicht einschätzen. Vielleicht wollte er nur die Tatsache betonen, dass er, Stresemann, in diesem frühen Alter bereits gedichtet hatte, wie das für alle Bürgersöhne (und damit auch für ihn) üblich war, wie er annahm. Die Gedichte, die im Zusammenhang mit dem Tode seiner Mutter entstanden waren, haben ebenfalls literarisch wenig Wert. Die Grabschrift auf meine Mutter etwa war in klassi(zisti)schen Distichen, zwar formal fehlerfrei abgefasst, die Motive aber erscheinen, als stammten sie aus den frühen 1840er Jahren. Sie wirkten wie verspätetes biedermeierliches Kunsthandwerk, nicht aber zeitgemäß. Immerhin das Gedicht »In memoriam«, ebenfalls dem Andenken der Mutter gewidmet, war wenigstens formal etwas eigenständiger: Das regelgerechte Sonett wechselte vom ersten zum zweiten Quartett das Metrum. Das konnte zwar handwerklichem Unvermögen geschuldet sein, das anfängliche Metrum wäre schwieriger durchzuhalten gewesen, aber auch dem bewussten Wunsch, dem eigenen Gefühlsausdruck eine gewisse Dynamik zu verleihen. Im Gedicht Träumerei (Ende 1896) war noch deutlicher als in den anderen Gedichten der wehmutsvolle Sehnsuchtston der Spätromantik zu spüren. Auch wenn einzelne Motive geradezu rührend unbeholfen Goethe imitierten (»Welche göttergleiche Lust«), so ist das Ganze doch auf (einen allerdings sehr verflachend imitierten) Eichendorff-Ton gestimmt – »Einen Nachen seh ich blinken«, die geschaute Welt wie die vorgestellte Welt war voll von Bewegungen, die unruhig in die Ferne, in eine jenseitige Welt strebten (»gezogen – ziehn«, »ins Meer dann gleiten«, das Verdämmern und Sinken des Lichts), die emphatische Nähe zur »unsichtbaren Nacht«. Dahinter zeigte sich eine verbürgerlichte Romantik, nur dass das eigentlich Bürgerliche weniger stark hervortrat als ein Rest an Romantik: ein zartes, weiches, sehnsuchtsvolles Gemüt. Einen dichterischen Fortschritt vermag man in der Zeit zwischen 1896 und 1905 kaum zu erkennen. Das frühe Gedicht Sylvester (1896) lässt zumindest eine Ahnung der wirklich zeitgenössischen Lyrik spüren, als, soweit zu sehen ist, einziges aller Gedichte in dem Sammelband. Das erste und das letzte Drittel hatten etwas von Detlev von Liliencrons Impressionismus gelernt, dessen Ansehen damals auf einem Höhepunkt stand. Der Mittelteil vergaß das dann allerdings wieder und ging ins Sentimental-Räsonierende zurück: sinnlich-gegenwärtige Empfindung, heterogene optische und akustische Eindrücke und Körpergefühle, der Verzicht der Blankverse auf Reime, allerdings wieder ihr ganz regeltreu klapperndes Gleichmaß. Bis auf die letzten Verse, da traute sich der junge Stresemann, auch formal etwas von der sinnlichen Erregung spürbar zu machen, von der das Gedicht geredet hatte. Hier zeigte sich, aber nur einmalig, etwas von gebremstem Impressionismus, wie zuvor von der ermatteten, verblassten Romantik. Stresemanns spätere Dichtungen übertreffen seine Bemühungen als Schüler kaum. Das Gedicht »Flatternde Fahnen« aus dem Jahre 1913 ist nur ein zarter und zaghafter Versuch, sich der zeitgenössischen Moderne anzunähern. Es gibt in der ersten Strophe immerhin Ansätze zur impressionistischen Sinnlich-

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keit, der Hinweis auf den Flieger soll Neugier für den technischen Aufbruch signa­lisieren, für den in der umgebenden deutschsprachigen Literatur (am berühmtesten Kafkas »Aeroplane in Brescia«) eben gerade das Flugzeug als »Leit­ symbol« gedient hat. Aber schon in der zweiten Strophe geht es mit dem Motiv der »Wilden Jagd« wieder in gefällige und verbrauchte mythologische Versatzstücke der kaiserzeitlichen Festtagspoesie zurück, der Stresemann Zeit seines Lebens mit besonderer Liebe verbunden war. In der dritten Strophe wiederum bekommt der vorsichtige Vitalismus eine durchschlagende völkische Schlagseite. Das ist im Jahre 1913 allerdings keineswegs untypisch, es lag wohl in der Luft, selbst bei dem bis dahin so liberalen Blut-und-Boden-Verächter Thomas Mann gibt es 1913 solche Töne. Aber der liberale Anspruch der ersten Strophe fällt da wieder weitgehend in sich zu­ sammen. Es gibt ganz deutliche Bezugspunkte zur Verehrung von Heinrich Lersch in Stresemanns eigenen Werken. Hier, wie kaum sonst einmal, wird die Gefahr eines Abgleitens zum »Völkischen« deutlich sichtbar.54 Ein anderes Gedicht, die »Deutsche Kunst«, während des Ersten Weltkrieges verfasst, bewegt sich ebenfalls, jenseits aller ideologischen Fragen, bereits in der Motivwahl und Motivkombination ganz unselbständig in den ausgetretenen Pfaden kaiserlicher Bildungsbürgertradition, von der Stresemann sich offensichtlich nie lösen konnte, sondern ihr bewusst nacheiferte. Formal schlägt er den höchsten Ton an und schreibt Strophen, die an Stanzen erinnern, also an die im Deutschen vor allem von Goethe geadelte Form festlich gehobener Gedankenlyrik, auch wenn sie diese Form nicht streng einhalten. Dass Stresemann den Krieg hier zum Völker-Drama stilisiert, ist dem Zeitgeist geschuldet, dass er aber eben kein anderes Bild findet als das des Dramas und dass er für die weltliterarische Dramentradition außer den obligatorischen Goethe und­ Shakespeare ausgerechnet auch Dante mobilisiert, das ist platte und peinliche Versatzstückarbeit. Vielleicht glaubte Stresemann dem Titel nach, die »Göttliche Komödie« sei ein Bühnenstück? Insgesamt gesehen lassen sich zwar bisweilen Versuche beobachten, Tendenzen der zeitgenössischen impressionistischen Lyrik aufzunehmen, der Anfang des »Herbst«-Gedichts und die ersten beiden Strophen des Sylt-Gedichts­ (»Flatternde Fahnen«) klingen beinahe wie ein Übergang von Theodor Storms Naturgedichten zur Stimmungs- und Klang-Kunst Detlev von Liliencrons oder Richard Dehmels. Aber dann überwiegt doch wieder (und entschieden) eine epigonale Übernahme klassischer Muster in einem ganz konventionellen, bildungsbürgerlichen Sinn. Die dritte Strophe des Gedichtes führt die impressionistischen Versuche des Anfangs doch wieder zurück in den sicheren Hafen der patriotischen Standards und Versatzstücke, wie man sie etwa von Geibel kennt. Das gilt gleichfalls für die Gedichte »Herbst«, »Vineta« und »Einsam«. Es be­ 54 Vgl. dazu das Unterkapitel: »…und wollte ein Bürger sein«.

86  Der Wille zum Aufstieg stätigt sich das Urteil einer handwerklich gut beherrschten, aber epigonalen Wiederholung von Mustern, wie sie um 1900 zum gebildeten guten Ton gehörten, Welten entfernt von in dieser Zeit entstehenden Werken von George, Rilke, Hofmannsthal und der Expressionisten. Zusammenfassend muss man feststellen: Die Interpretation aller dieser, auch späteren Gedichte ergibt das Bild eines ängstlichen, seiner selbst nicht sicheren, bemühten Bildungsbürgers der Jahrhundertwende, der sich verzweifelt und vergebens anstrengt, am kaiserzeitlichen Bildungsbürgertum mit seinem Kulturprotestantismus, seiner inhaltlich schon verblassten Luther- und Goethe-Verehrung festzuhalten, der moderne Änderungen durchaus wahrnimmt, ihnen aber mit zaghafter und ängstlicher Rezeption begegnet. Von diesem Dichter jedenfalls war kein Aufbruch in die Moderne der Weimarer Republik zu erwarten.

Freundschaften und Männerbünde »Ein Familienleben habe ich nie kennengelernt. Meine Eltern hatten tagsüber im Geschäft zu tun, und mit meinen Geschwistern war ich auch umso seltener zusammen, als ich der Jüngste war und zu den Alten, als ich allmählich zum Jüngling heranreifte, alle bereits verheiratet waren, und das mag den Grund dafür abgegeben haben, daß ich mich auch ganz von meinen Altersgenossen absonderte und nur meinen Büchern lebte.«55

Dichtung und Wahrheit liegen bei Gustav Stresemanns Selbstaussagen immer eng beieinander. Fest steht jedenfalls, dass Stresemann in seinem ganzen Leben niemals einer unter vielen war. Insofern war er ein Einzelgänger. Aus jeder Gruppierung, der er angehörte, wuchs er sehr schnell heraus, wurde deren Leiter oder machte sich selber dazu. Einen wirklichen Freundeskreis hat er, und insofern könnte die Aussage zutreffend sein, wohl tatsächlich nicht besessen. In der Schule trug er, obwohl er sich als Außenseiter bezeichnete, die Abiturrede vor; als Burschenschafter avancierte er fast umgehend zu deren Sprecher. Als Journalist leitete er sofort eine Zeitung, obwohl er dazu vor dem Presse­ gesetz wegen seiner Jugendlichkeit noch nicht berechtigt war, und nicht zuletzt als Wirtschafts- und Parteiführer wurde er schon bald mit seinen Organisationen gleichgesetzt.56 Kein anderer Verband wie der VSI und keine andere Partei wie die Deutsche Volks Partei (DVP), mit Ausnahme der Nationalsozialisten, wurden so sehr durch nur eine Person verkörpert. Dabei war Stresemann fast immer der Jüngste: Das jüngste Mitglied des Reichstages, wahrscheinlich 55 Brief an Himer, 3.12.1896, PA AA , Kopie im Privatnachlass Stresemann. 56 Vgl. hierzu Koszyk, Stresemann, S. 56 ff.

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der jüngste bedeutende Syndikus und der jüngste Reichskanzler der Weimarer Republik. Eine solch beanspruchte und schließlich erreichte Rolle spricht dafür, dass Stresemann Dinge immer selber bestimmen wollte. Dadurch verhinderte er allerdings, dass er sich in der Geborgenheit einer Gruppe Gleichgesinnter als einer unter vielen, als Gleichrangiger gewissermaßen »wärmen« konnte. Er war immer ausgesetzt, wollte sich aber offensichtlich bewusst aussetzen. Stresemann übernahm (für andere) die Führungsrolle, blieb dabei allein, musste (und wollte) allein entscheiden. Ein solcher Mensch hat nur selten Freunde. Er kennt allenfalls Partner, Kollegen und nützliche Helfer. Stresemann besaß daher nur einen sehr kleinen Kreis von eng Vertrauten. Dieser bestand anfangs aus eher älteren, väterlichen und später aus jüngeren Männern, bei denen er eine Rolle als Former und Gestalter spielen konnte. Bezeichnend für ihn ist, dass er vor allem solche jungen Menschen förderte, die, wie er selber, strebsam waren, aus einer eher niederen sozialen Schicht stammten und denen er beim Aufstieg helfen konnte. Die Vertrauten Obwohl nur wenige Jahre älter, gehörte der Zittauer Fabrikbesitzer und Selfmademan Otto Moras (1871–1945) in Stresemanns Anfangsjahren zu dessen väterlichen Freunden. Er war ebenfalls (nur) Absolvent eines Realgymnasiums, hatte nach dem Abitur als Arbeiter und Meistergehilfe im Jahre 1899 seine erste Firma gegründet und die Vereinigten Deutschen Textilwerke in Zittau zu einem Imperium ausgebaut, das im Jahre 1924 4.000  Arbeiter und 500  Angestellte beschäftigte.57 Zugleich war Moras maßgeblich beim Aufbau der National­ liberalen Partei, später der DVP in Sachsen beteiligt und von 1918 bis 1928 Vorsitzender des VSI. Moras hatte sehr schnell die Fähigkeiten des jungen Stresemann erkannt. Als dieser noch in Dresden verankert war, diskutierten beide bereits über dessen weitere Zukunft.58 Insofern kann man von einer bewussten Karriereplanung sprechen, die Stresemann später aus Sachsen heraus­f ühren sollte. Auch Gustav Adolf Slesina (1845–1925) förderte Stresemann auf politischem Gebiet.59 Der Annaberger Fabrikant und kommunale Multifunktionär begleitete Stresemanns politischen Aufstieg ebenfalls väterlich. Er ermunterte ihn, 57 Hier und bei den folgenden biografischen Daten stütze ich mich vor allem auf Heß, Otto Moras, S. 69. 58 Moras an Stresemann, 6.12.1917, PA AA , NL Stresemann 114. 59 Hinweis bei Starke, Dresden in der Vorkriegszeit, S. 105; danach auch das Folgende. Holger Starke verdanke ich eine Fülle von Anregungen zum jungen Gustav Stresemann, für die ich ihm besonders dankbar bin.

88  Der Wille zum Aufstieg 1907 im Wahlkreis Annaberg-Schwarzenberg für ein Reichstagsmandat gegen die Sozialdemokraten zu kandidieren und begleitete Stresemann auf Dutzenden von Wahlkampfveranstaltungen. Das schuf eine große Nähe. Slesina und seine Frau waren die einzigen »Fremden«, die als Taufpaten des jungen Joachim Strese­mann im Jahre 1908 zugegen waren. Im Hause Slesina hat sich Stresemann offenbar den Teil an Heimeligkeit, Behaglichkeit und Nestwärme geholt, den er im elterlichen Hause vermisst hatte. Im Nachruf beschrieb er (für den Anlass allerdings ein wenig geschönt und deswegen nur bedingt aussagekräftig) die dortige Atmosphäre so: »Mir ist aber niemals mehr die Empfindung gekommen, in einem deutschen Hause zu sein, als wenn er [Slesina] am Abend erzgebirgische Lieder sang und alle jene stille Behaglichkeit menschlicher Ruhe und Zufriedenheit mit dem, was Gott gesandt hat, in den Liedern von Anton Günther oder in anderen Weisen zum Ausdruck brachte.«60 Hier war sie also zu spüren, die Sehnsucht nach Gefühl und Romantik. Das aber hinderte Stresemann nicht daran, gleichzeitig intensiv an seiner Karriere zu feilen. Daneben haben drei jüngere Mitarbeiter Stresemann durchs Leben begleitet. Franz Miethke stand seinem Onkel so nahe wie kaum ein anderer. Er ist allerdings von ihm auch persönlich so abhängig gewesen wie ebenfalls kein anderer. Seine Mutter, die älteste Schwester Stresemanns, verstarb bereits 1898. Stresemann sorgte dafür, dass der junge Franz in sein Elternhaus in Berlin aufgenommen wurde, wo er, anders als sein Onkel Gustav, bis spät in die Nacht für den Betrieb arbeitete. Nach Aussagen von Franz Miethke hat sich Stresemann sehr um seine Entwicklung und seinen schulischen Werdegang gekümmert. Er führte ihn und seine Verlobte schließlich auch in Dresden in seine Familie ein.61 Bereits 1904 wurde Miethke Volontär beim VSI, wobei er vor allem dem Syndikus Stresemann zuarbeitete. Seit der Reichstagswahl von 1907 war Miethke als Privat­sekretär Stresemanns in dessen Reichstagsbüro in Berlin tätig. Nach Stresemanns Weggang von Dresden machte Miethke im VSI, dank Stresemann, rasch Karriere. Er wurde, als Nichtakademiker, Mitglied der Geschäftsleitung und schließlich stellvertretender Syndikus des VSI. Damit stellte er bis zu Stresemanns Tod so etwas wie seinen verlängerter Arm in Sachsen dar. Er hat Stresemann über alle wichtigen Dinge auf dem Laufenden gehalten. Stresemann wiederum fühlte sich für Miethke fast wie für einen Sohn verantwortlich. So sorgte er dafür, dass er im Ersten Weltkrieg ein Kriegsverdienstkreuz erhielt62, und er bürgte bei finanziellen Schwierigkeiten für ihn.63

60 61 62 63

Nachruf auf Gustav Slesina, in: »Tageblatt und Anzeiger«, 12.6.1925. Vgl. dazu und zum Folgenden, Miethke, Dr. Gustav Stresemann, S. 2 ff. Schreiben Stresemanns an Oberstleutnant Köth, 30.8.1918, PA AA , NL Stresemann 195. Briefwechsel dazu im PA AA , NL Stresemann 63 und 316.

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Stresemann setzte sogar sein Vermögen und sein Renommee für Miethke ein, als dieser wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten in Schwierigkeiten geraten war.64 Der Kreis um Arnhold, März, Moras und Stresemann befreite Miethke in den Jahren 1925 und 1926 aus einer äußerst schwierigen Situation, in die er sich (auch) durch einen luxuriösen Lebenswandel manövriert hatte.65 Stresemann warf dabei seine gesamte Person in die Waagschale, um Miethke zu retten.66 Zudem half er, Miethkes Vertrag beim VSI im Jahre 1928, dem Abtreten von Moras aus dem VSI und kurz vor seinem eigenen Tod, noch bis zum Jahr 1934 zu verlängern.67 Einen treueren Adlatus als Miethke kann man sich daher kaum vorstellen. Eine Freundschaft dürfte aber wohl anders aussehen. Vergleichbar ist das Verhältnis Stresemanns zu seinem engsten persönlichen Mitarbeiter in der Weimarer Republik, zu Henry Bernhard (1896–1969) gewesen.68 Auch Bernhard stammte aus dem Kleinbürgertum,69 absolvierte wie Miethke die Realschule, machte zwischen 1911 und 1914 eine Lehre beim BdI und wurde 1914/15 Assistent in der Geschäftsführung des VSI. Anschließend avancierte er, neben Miethke, zum Privatsekretär Stresemanns. Nach dem Krieg (und dem Erwerb dreier Tapferkeitsauszeichnungen) wechselte er vom BdI zum RdI, bis er im Jahre 1923 endgültig zum Privatsekretär Stresemanns und zu seinem »Schatten« avancierte.70 Bernhard machte sich nach 64 Vgl. hierzu den Aktenbestand NL Stresemann, 344, im PA AA , der sich im Wesentlichen mit diesen Vorgängen befasst. 65 Stresemann an Miethke, 16.9.1925, PA AA NL Stresemann 344: »Ich [Stresemann] habe seinerzeit über Deine Angelegenheit eine sehr wenig erfreuliche Korrespondenz mit Herrn M.[oras] gehabt. Er schrieb mir sehr ägriert und sagte mir, dass nur die Rücksicht auf deine langjährige Tätigkeit im Verband den Vorstand veranlasst hätte, von einer Maßregelung abzusehen – In jedem kaufmännischen Geschäft wäre die sofortige Entlassung die Folge der vorgenommenen Handlungen gewesen.« 66 Vgl. Stresemann an Moras, o. D. (1925), PA AA , NL Stresemann 344: »[…] und ich würde es daher dankbar begrüßen, wenn Du [Moras] die Hand dazu bieten würdest, ihn [Miethke] einmal für die Zukunft auf den richtigen Weg zu führen und andererseits dadurch seine weitere Tätigkeit für den Verband [VSI], gegen die ja sachlich niemals etwas einzuwenden gewesen ist, zu erhalten […] und andererseits würde ich selbstverständlich zur Verfügung stehen, um jede solche Schädigung auszugleichen«. 67 Miethke an Stresemann, 28.11.1928, PA AA , NL Stresemann 344. 68 Zu Bernhard vgl. Personalakte im PA AA . Ferner: Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945, hg. vom Auswärtigen Amt, Bd. 1 A-F, Paderborn u. a. 2000, S. 126 f. und zuletzt: Kitzing. Zur Nähe und Abhängigkeit gerade dieses Personenkreises von Stresemann vgl. das Schreiben von Fritz Rauch, von 1920 bis 1923 Sekretär Stresemanns und dann Direktor der Dresdner Lingner-Werke, an das Amtsgericht Plauen (8.4.1927) im Rahmen des »Plauener Prozesses«, das an »Lobhudeleien« kaum zu übertreffen ist. 69 Er war dritter Sohn des Glasermeisters Carl Franz Henry und absolvierte die Sekundarreife. 70 Daten nach: Lebenslauf (Personalakte Henry Bernhard), GStA Berlin, Logen, 5.2. B 32 Nr. 37.

90  Der Wille zum Aufstieg Stresemanns Tod als Herausgeber des Stresemann’schen »Vermächtnisses« einen Namen. Er und Miethke haben nach Stresemanns Tod alles getan, um das Licht ihres Mentors in besonderer Helligkeit erstrahlen zu lassen. Fazit: Verehrung ja, Freundschaft wohl nicht. Zu Rudolf Schneider ist die Nähe nicht so persönlich und eng gewesen.71 Trotzdem bestand zwischen den beiden fast gleichaltrigen Syndizi, die in ihren wirtschaftspolitischen Vorstellungen und ihrem Antibolschewismus ganz und gar übereinstimmten,72 eine langjährige Partnerschaft, die über das Dienstliche hinausging, aber nicht immer konfliktfrei verlief. Klar war hier, dass »unten« und »oben« eindeutig geregelt blieb. Als Bild dafür mag gelten, dass Stresemann bei den großen Jahrestagungen des VSI immer die Hauptreden hielt, Schneider hingegen für die Damenreden zuständig war. Schneider (1876–1933), in Berlin zum Dr. phil. promoviert, verkehrte als einer der wenigen Bekannten schon sehr früh in Stresemanns Haus und nahm auch an der Hochzeit in Berlin teil. Stresemann schleuste Schneider alsbald in den BdI ein, wo er zwischen 1909 und 1919 als Syndikus tätig war und zugleich Stresemanns verlängerten Arm darstellte. Später bekleidete Schneider Positionen als Geschäftsführer des RdI und als Vorstandsmitglied im VSI. Zuletzt nahm er in verschiedenen Industrie- und Bankfirmen hohe Direktorenposten ein, u. a. in der AG für Industriekredite. Politisch begleitete er Stresemann bereits seit 1908 in der Stadtverordnetenversammlung von Dresden, dann von 1922 bis 1925 als Mitglied des Sächsischen Landtages. Er stellte gerade im Krisenjahr 1923 eine zuverlässige und wichtige (aber doch einseitige) Informationsquelle für den Reichskanzler Stresemann dar. Seit 1924 bis zu seinem Tode 1933 war er Mitglied der Fraktion der DVP im Reichstag, wo sich Stresemann immer auf Schneider verlassen konnte. Hier muss das Fazit ebenfalls heißen: freundschaftliche Nähe vielleicht, Freundschaft, nein.73 Schließlich ist noch ein Familienmitglied hervorzuheben, Kurt von Kleefeld, Stresemanns Leipziger Bundesbruder und Schwager. Der ältere Bruder Käte Kleefelds74 stammte aus einer zum Protestantismus konvertierten, relativ wohlhabenden jüdischen Familie. Der früh verstorbene Vater war wohl im Braunkohlenbergbau tätig gewesen und die Mutter die Tochter eines vermögen71 Vgl. dazu Schneider, Aus Stresemanns Anfängen. 72 Vgl. dazu Schneiders Rede vor dem Sächsischen Landtag, 5. Sitzung, 15.12.1922, S. 90–95; 31. Sitzung, 13.4.1923, S. 764–770 und 62. Sitzung, 23.10.1923, S. 1783–1785. 73 In diesem Zusammenhang ist noch Fritz Rauch zu erwähnen, der Stresemann von Januar 1920 bis zum Juli 1923 als Privatsekretär diente und sein volles Vertrauen genoss. Stresemann verschafft dem Ex-Oberleutnant in den 1920er Jahren eine hoch dotierte Stelle im sächsischen Lingner-Konzern. Vgl. hierzu u. a. Rauch an Stresemann, 8.4.1927, PA AA Berlin, NL Stresemann 38. 74 Dazu Koszyk, Stresemann, S. 80 ff.; danach die folgenden Gedanken.

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den jüdischen Pferdehändlers. Kurt Kleefeld besaß eine Fülle von Eigenschaften, die Stresemann selber abgingen: Charme, eine gewisse Leichtigkeit (auch in finanziellen Dingen) und gesellschaftlich perfekte Umgangsformen. Er war mindestens so karrierebewusst wie Stresemann. Im Kaiserreich hatte er es zum Landrat und im Jahre 1918 noch zur Nobilitierung gebracht. Ihn vermittelte Stresemann ebenfalls noch vor dem Kriege zum Hansa Bund, so dass er neben Miethke und Schneider einen weiteren Vertrauten in der Verbändelandschaft besaß. Im Frühjahr 1914 schließlich, wiederum durch indirekte Empfehlung Stresemanns, wurde Kleefeld Kammerpräsident bei Christian Kraft Fürst zu Hohenlohe-Öhringen. Diese Position nahm er dann auch in der Weimarer Republik bis zum Jahre 1932 ein. Kleefeld war Stresemann sein ganzes Leben lang, nicht immer allerdings in Harmonie, verbunden. Sein Eintritt etwa in die DDP und nicht in die DVP Stresemanns im Jahre 1919, sowie sein vernichtendes Urteil über dessen Politik im Ersten Weltkrieg, gehören in dieses Spannungsfeld.75 Gleiches gilt für finanzielle Unregelmäßigkeiten Kleefelds, die ebenfalls auf Stresemann zurückfielen.76 Allerdings erwiesen sich Kleefelds weitreichende Beziehungen zum Adel mehr noch als seine zeitweilige Mitgliedschaft im Vorstand des CdI, in der DDP und seine engen Kontakte zur Finanzwelt (Schacht) für Stresemann als sehr nützlich. Die Männerbünde Stresemann besaß also kaum Freunde. Stellten dann vielleicht die diversen Männerbünde, Vereine und geselligen Gruppierungen eine Art Ersatz dar, hat er in ihnen Freunde, die gewünschte Gemeinschaft gefunden, oder dienten sie vor allem seiner Karriere? Also wieder keine Freundschaften, sondern nur nützliche Beziehungen? Vereine besaßen im späten Kaiserreich für einen »Bürgertumsaspiranten« wie Stresemann eine höchst karrierefördernde Funktion. Sie verfolgten meist nicht nur die in ihrer Satzung festgelegten (relativ engen) Ziele, sondern waren zugleich immer auch Institutionen, die der Konstituierung eines bestimmten Milieus dienten. Wer bei ihnen Mitglied war, gehörte diesem Milieu an, wer nicht, blieb meist ausgeschlossen. Aus diesem Grunde gab es für fast alle Vereine Inklusions- und Exklusionsmechanismen, die schleusenähnlichen Charakter besaßen und dafür sorgten, wer Mitglied werden durfte und welche Voraussetzungen man für eine Mitgliedschaft zu erfüllen hatte. 75 Vgl. dazu Eintrag Stresemann in sein Tagebuch, 15.11.1918, PA AA , NL Stresemann 362. Dazu Kolb, Stresemann, S. 57 ff. 76 Schreiben Stresemanns an Graf Garnier-Turawa, 2.5.1926, PA AA , NL Stresemann 281.

92  Der Wille zum Aufstieg Man kann das Bürgertum insofern geradezu als ein gesellschaftliches Ensemble definieren, das sich vor allem durch seine Vereinsstruktur konstituierte. Wer Bürger sein wollte, musste einem gewissen Kreis von Vereinen angehören, in diesen akzeptiert werden, die dortigen Regeln beherrschen und respektieren, sonst blieb er ausgeschlossen. Am Beispiel seiner Bemühungen in Dresden kann man sehr gut nachverfolgen, wie strategisch und mit welchem großen Erfolg Stresemann dieses Feld bearbeitete.77 Auffällig, aber zugleich zeittypisch war, dass es sich bei den von Stresemann gewählten Vereinen in erster Linie um bürgerliche Vereinigungen und Männergesellschaften handelte. Sieht man von den politischen und beruflichen Kreisen und Institutionen ab, denen Stresemann von Dienst wegen angehören musste, so hat er im privaten Bereich genau diese Vereinigungen bevorzugt. Burschenschaften oder Logen, genauso wie Gesangs- und Theater-, aber auch semipolitische Vereine wie der Alldeutsche Verband oder der Deutsche Schulschiffsverein in der Gesellschaft des Kaiserreiches schienen ihm besonders geeignet zu sein. Zwei Männerbünde waren für die Karriereleiter von Stresemann von erheblicher Bedeutung und markierten zugleich wichtige Abschnitte in seinem Leben: Mit dem Eintritt in die Burschenschaft steht Stresemanns universitäre Zeit und mit seinem Eintritt in die Loge »Friedrich der Große« das Krisenjahr 1923 im Mittelpunkt, der Zeitpunkt also, an dem Stresemann das erste Mal Verantwortung als Reichskanzler und Außenminister für das Deutsche Reich übernahm. Die Burschenschaft Neogermania Stresemann trat im Sommersemester 1897 als Mitglied Nr. 265 der Neogermania in Berlin bei,78 einer Reformburschenschaft, die dem Allgemeinen Deutschen Burschenbund (ADB) angehörte. Hier machte er rasch Karriere, wurde im Sommersemester 1898 Chargierter, zuerst Schriftführer, dann erster Sprecher. Nach seinem Studienwechsel war er in der Reformburschenschaft Suevia in Leipzig ebenfalls drei Semester lang Sprecher.79 77 Vgl. das Unterkapitel »Dichte Beschreibung I«. 78 Grumbach, S. 55. 79 Früh, S.  13. Ferner: Engst, vor allem S.  63–76, Die Ära Stresemann (1899–1902). Dort, S. 75 f., Stresemanns Lied auf die Burschenschaft, dessen erste Strophe folgendermaßen lautete: »Und wenn ich einst sterben werde, Ihr lieben Brüder, seid mir hold, Gebt mir mit in die dunkle Erde Mein Band, das hehre Schwarz, Rot, Gold«. Vgl. zu diesem Komplex Koszyk, Stresemann, S. 67–77, mit höchst instruktiven Einzelheiten.

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Die Neogermania war eine eher gemäßigte Männergesellschaft, in der neben aller Bundesbrüderlichkeit relative Offenheit herrschte. Extremer Nationalismus und Chauvinismus, aber auch die Ausgrenzung von Minderheiten, etwa von jüdischen Deutschen, die es bei den Neogermanen als Mitglieder gab, standen nicht im Mittelpunkt, obwohl gerade darum in Stresemanns aktiver Zeit heftig gerungen wurde.80 Mensuren schlagen, Stresemann glänzte sein Leben lang durch deutlich sichtbare Zeichen dieser Rituale, und ausgedehntes Kneipen gehörten zum alltäglichen Geschäft und wirkten in hohem Maße gemeinschaftsstiftend. Stresemann gab jedoch später zu, »daß die Vertilgung von möglichst viel Bier [heutzutage] nicht mehr als sichtbares Zeichen der Mannbarkeit angesehen« werden kann.81 Zu diesem Zeitpunkt war er allerdings bereits 15 Jahre älter, erfolgreicher Manager und Politiker und Deutschland befand sich im Krieg, wo die »Vernichtung von Gerste« womöglich anderen Zwecken vorbehalten blieb. In den fünf Jahren zwischen 1897 und 1902, als er das Ehrenband der Burschenschaft Arminia-Dresden erhielt, war er, neben seinem Studium und der Anfertigung seiner Dissertation, zugleich ein burschenschaftlicher Multifunktionär. Bereits im Sommer 1898 wurde er Erster Sprecher der Neogermania, im gleichen Jahr übernahm er faktisch die Schriftleitung der »Allgemeinen Deutschen-Universitäts-Zeitung« mit allen sich daraus ergebenden Pflichten. Zugleich machte er sich für die positive Bewertung der Revolution von 1848 stark und forderte dies auch von den Burschenschaften. Nach seinem Wechsel an die Universität Leipzig im Wintersemester 1898/99 wurde er dort erneut Sprecher und sofort Schriftleiter der »Burschenschaftlichen Blätter«, in denen er selbst rege publizierte.82 Er hielt die Hauptreden auf dem XVI. Bundestag des ADB in Jena und auf dem außerordentlichen Bundestag in Berlin. Und selbst in Dresden, nun beruflich voll eingespannt, gründete er eine Ortsgruppe des ADB, betätigte sich als Fuxmajor und war zugleich noch Aktivist auf dem ADB Bundestag in Frankenhausen. Die Burschenschaften stellten sich für Stresemann (auch) als eine große Börse dar, in der er viele wichtige Kontakte und Beziehungen anbahnen konnte. In beruflicher, politischer und persönlicher Weise hat er erheblich von diesem Markt profitiert und alle Möglichkeiten wahrgenommen, ihn zur Akkumulation und Transformation von kulturellem und sozialem Kapital zu nutzen. Nicht zuletzt lernte er hier gesellschaftliche Formen und dementsprechendes Verhalten, konnte in einer kleinen Gruppe wirken und von dieser aus ersten gesellschaftlichen Einfluss nehmen. Die Burschenschaften stellten also gewissermaßen eine Vorstufe zum Erwerb des bürgerlichen Habitus dar. 80 Vgl. dazu Grumbach, S. 81. Stresemann soll danach verhindert haben, dass sich der Antisemitismus in den Burschenschaften durchsetzen konnte. 81 Zitat nach Koszyk, Stresemann, S. 71. 82 Vgl. dazu Miethke, Daten- und Quellensammlung, S. 5, PA AA, Privatnachlass Stresemann.

94  Der Wille zum Aufstieg Zugleich wurde Stresemann mit männerbündischen Wertvorstellungen vertraut, übernahm sie zumindest partiell und akzeptierte sie als Leitlinien für seine Zukunft: »Die hierarchische, quasimilitärische Organisationsstruktur«, die er im Militär nicht erfahren durfte, »die Dramatisierung der Männerrolle, der Vorgang der Entindividualisierung des einzelnen, Frauenfeindlichkeit sowie männerkultische Denk- und Verhaltensweisen«, waren Faktoren, die ihren Einfluss auf den jungen Stresemann sicherlich nicht verfehlten.83 Es fällt allerdings auf, dass die Hyperaktivität, die Stresemanns gesamtes Leben kennzeichnen sollte, ihm trotz dieser Bindungen Zeit für vieles andere ließ und ihn dementsprechend gegen zu großen Einfluss burschenschaftlichen Denkens immunisierte. Er belegte Vorlesungen in Literatur, Geschichte, Philosophie und Volkswirtschaft84 und promovierte mit einer durchaus interessanten Arbeit, engagierte sich politisch bei den Nationalsozialen, gründete mit seinen Bundesbrüdern, u. a. Max Maurenbrecher, eine »Liberale Vereinigung«85, beeindruckt von Friedrich Naumann und dessen Ideen86, und dichtete auch weiterhin. Diese Breite der Tätigkeiten, der Aufstieg in den Burschenschaften und das offene Auge für Politik, Wirtschaft und Kultur waren eine besondere Leistung. Besonders verblüfft die Verschiedenartigkeit und Vielzahl der Interessen. Dem jungen Aufsteiger fiel dabei nie etwas von selber zu, sondern er musste sich in bester bürgerlicher Manier seine Erfolge immer hart erarbeiten. Insofern kann er geradezu als ein Muster für bürgerliche Tugenden gelten. Trotz dieser Erfolge, und obwohl er wichtige Stationen einer bürgerlichen Karriere durchlief, vermochte die burschenschaftliche Zeit den Reifeprozess in bürgerlicher Sozialisation auf kultureller Ebene aber wohl (noch) nicht vollständig nachzuholen. Die Sozialisierungsinstitutionen Universität und Verbindungen warfen zwar bereits so viel kulturelles und soziales Kapital ab, dass Stresemann für den atemberaubenden ökonomischen und politischen Aufstieg vorläufig gerüstet schien. Sie konnten jedoch, über den konkreten sozialen und materiellen Erfolg hinweg, nicht allen Facetten der Akkumulation von kulturellem Kapital genügen. Darin aber stand Stresemann für viele Aufsteiger im Kaiserreich. Freimaurer Stresemanns Mitgliedschaft bei den Freimaurern hat Anlass zu heftigsten Attacken auf ihn gegeben. Die Hugenberg-Presse etwa unterstellte ihm bei seiner Genfer Rede im Herbst 1926, anlässlich des deutschen Eintritts in den Völ83 Blazek, S. 202. 84 Vgl. PA AA Berlin, NL Stresemann 124. 85 Findeisen. 86 Vgl. dazu Starke, Dresden in der Vorkriegszeit, S. 88 f.

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kerbund, seine Hand in ganz bestimmter Gestik gehalten zu haben, die auf freimaurerische Geheimzeichen hindeute. Damit habe Stresemann den freimaurerischen Vertretern der ehemaligen Siegerstaaten geheime Zeichen der Verständigung gemacht, um Deutschland auf diese Weise zu hintergehen.87 Mit einer solchen Verschwörungstheorie hatte Stresemanns Mitgliedschaft in der Loge »Friedrich der Große« jedoch nichts zu tun. Mit ihr schloss sich vielmehr der Kreis der Vereinigungen und Institutionen, in denen man, wie Stresemann dachte, Mitglied sein musste, um das gewünschte »symbolische Kapital« (Bourdieu) und den erstrebten bürgerlichen Habitus zu gewinnen. Die Freimaurerlogen stellten eine der ältesten (und vornehmsten) Formen der bürgerlichen Geselligkeit dar. Sie »waren eine der Vision der bürgerlichen Gesellschaft eigentümliche Geselligkeitsform, gleichsam ein Modell der Bürgergesellschaft«.88 War Stresemann in eine Loge eingetreten und wurde dort akzeptiert, dann war er auch im »Bürgertum« angekommen. So mochte er hoffen. Die Logen wollten, wie die Burschenschaften, »eine Erziehungsanstalt zur Humanität für Männer sein«.89 Sie stellten geschützte und geheime Räume zwar außerhalb der Bürgergesellschaft dar, aber doch mit dem Ziel, dort eine wahre und intensive Bürgergesellschaft zu leben. Zugleich pflegten sie den Kult einer veredelten Männlichkeit und mit Ende des 19.  Jahrhunderts, in wachsendem Maße, auch des Nationalismus. Bürgertugenden, Männlichkeit und Nation bildeten in den Logen eine Trias. Das waren Werte, denen sich Stresemann mit Freude anschließen konnte.90 Stresemann tat allerdings mit dem Eintritt in eine Loge im Verband der Großen National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln« einen Schritt in eine altpreußisch-christliche Loge, die eine dezidiert christliche Grundlage vertrat und damit das allgemeine Humanitätsprinzip der Logen deutlich einschränkte.91 Mehr noch: Ein Jahr vor seinem Eintritt hatten die drei altpreußischen Logen sogar den Deutschen Großlogenverband verlassen und waren auf eine »rein deutschpatriotische Linie« eingeschwenkt.92 Während Stresemann bei der Wahl der studentischen Verbindung die reformerische Richtung gewählt hatte, suchte er in dieser Phase seines Lebens offenbar ganz bewusst eine ausgeprägt konservative Richtung aus.93 Hier war er ein na87 Vgl. dazu Bauer, Stresemann, S. 212. Bauer legt der Mitgliedschaft Stresemanns bei den Freimaurern zu Recht eine erhebliche Bedeutung bei. Vgl. hierzu die umfangreiche Dokumentation in: PA AA Berlin, NL Stresemann 57, Juli 1927. 88 Hoffmann, S. 16. 89 Ebd., S. 20; danach auch die folgenden Gedanken. 90 Vgl. das Aufnahmegesuch Stresemanns, 10.5.1923, GStA Berlin, Logen, 5.2.B 32, Nr. 79. 91 Vgl. hierzu Endler u. Schwarze, S. 121–163. 92 Ebd., S. 137. 93 Ein Aufnahmegesuch in eine reaktionäre Loge aus dem »Wetzlarer Ring« mit ihrer dezidiert antisemitischen, antihumanitären und »völkischen« Ausrichtung kam für ihn allerdings von vornherein nicht in Frage.

96  Der Wille zum Aufstieg hezu einsamer »humanitärer Freimaurer in einer christlichen Loge«94 und stand damit (gewollt) am rechten Rand des Bürgertums.95 Dementsprechend wurde er zukünftig massiv mit reaktionären, antirepublikanischen und anti­semitischen Strömungen konfrontiert96 und musste sich mehrfach beim Großmeister dagegen verwahren, »daß in der Weise, in der es schon geschehen ist, völkisches Denken nach außen und innen so gepredigt wird, daß der Eindruck entstand, als befände man sich in einer Wahlversammlung der Deutschvölkischen Freiheitspartei«.97 Es ergaben sich zudem immer wieder Reibungen mit anderen, vor allem antisemitischen und den Völkischen nahestehenden Mitgliedern.98 Auch die antienglische Spitze der Logen war nicht zu übersehen. Deutlich wurde schon längst vor dem Jahre 1933, dass die christlichen Logen nicht in der Lage waren, sich vom Nationalsozialismus zu distanzieren, und diesem dann eher willig folgten. Das aber schreckte Stresemann offensichtlich nicht. Die Mitgliedschaft war ihm anscheinend diesen Preis wert. Man kann sein Engagement und seine Anstrengungen daher nur sinnvoll einordnen, wenn man einerseits seine Suche nach »Verbürgerlichung« berücksichtigt und andererseits seinen Eintritt in die Loge als Versuch versteht, Konservative und Liberale in einer deutschen »Volksgemeinschaft« zu versöhnen. Hinzu kommt, dass der liberale »Linke« im Kaiserreich in der Weimarer Republik eher zum liberalen politischen »Rechten« wurde, wenn er seinen (kaiserlichen) Wertehimmel beibehalten wollte. Auffällig ist in jedem Fall, in welche Nähe er sich zur politischen Rechten begab, auch wenn er ihre allzu aggressiven Positionen bekämpfte. Der Eintritt Stresemanns in die im Jahre 1912 gegründete Loge »Friedrich der Große« erfolgte daher mit großem Bedacht und war keineswegs ein Zufall.99 Allein schon das Datum des Aufnahmeantrages ist voller Symbolik, denn 94 Bernhard, Ein Beitrag, S. 7. 95 Wenn das seinen grundsätzlichen Vorstellungen entsprach wird umso verständlicher, warum er nie einem Verein länger beigetreten ist, der die Bindung des Bürgertums zur politischen Linken zum Ziele hatte. Daran änderten auch sein taktisches Zugehen auf Sozialdemokraten und Gewerkschaften, seine Bekanntschaft mit einzelnen »vernünftigen« Sozialdemokraten und die Mitgliedschaft im Dresdner Mieterverein wenig. 96 Vgl. hierzu die Auseinandersetzung um die Johannisrede von Rechtsanwalt Rosbach, die unter anderem in den Vorwurf mündete, dass »Artfremde« immer mehr Einfluss in der Gesellschaft gewinnen würden, ein Vorwurf, der eindeutig auf Stresemann und die Familie seiner Frau abzielte. Unterlagen dazu im GStA Berlin, Logen, 5.1.4. Nr. 3772, Blätter 47–60. 97 Stresemann an Habicht, 24.6.1924, GStA Berlin, Logen, 5.1.4 Nr.  1377. Vgl. dazu den Schriftwechsel im PA AA , NL Stresemann 10. 98 Stresemann forderte sogar seinen Mitarbeiter Miethke am 13.12.1925 auf, eine Gegenschrift gegen die völkischen Antisemiten zur Verteidigung der Logen zu schreiben, PA AA , NL Stresemann 33. 99 Dies wird in der Literatur häufig betont, scheint aber eine Interpretation zu sein, die der Stresemann’schen Inszenierung erlegen ist. Vgl. Koner, S. 176 f. »[…] daß Bruder Stresemann durch seinen Beitritt zu einer Loge eines christlich-altpreußischen Systems keines‑

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der 10. Mai 1923 war Stresemanns 45. Geburtstag. Auch die äußeren Umstände gaben dem Datum Gewicht: Der DVP-Politiker stand vor höheren politischen Aufgaben in der Reichspolitik. Sein Eintritt korrespondierte gewissermaßen mit seinen politischen Erfolgen. Man kann geradezu von einer konzertierten Aktion auf dem langen Weg in das »Herz des Bürgertums« sprechen.100. Das Aufnahmeverfahren verlief jedoch nicht reibungslos, trotz der Unterstützung, die Stresemann durch den Nationalgroßmeister Habicht erhielt. Am 7. Juni stimmten, ungewöhnlicher Weise, drei Logenbrüder gegen seinen Eintritt, mit der Begründung, dass das Aufnahmegesuch sehr »ungewöhnlich gehandhabt worden«, Frau Stresemann jüdischer Abstammung und schließlich Stresemann »eine fragwürdige politische Figur« sei.101 In der Kritik hieß es weiter »Seine Frau ist Jüdin. Wenn nun Herr S. weiß, daß wir keine Juden aufnehmen, auch nicht getaufte, und trotz seiner jüdischen Gattin, für die er, wo immer es auch sei, einzutreten hätte, Aufnahme in unseren Bund sucht, so würde dies auf eine Eigentümlichkeit seines Charakters hinweisen, mit der er nicht zu uns kommen dürfte. Ich bitte zu berücksichtigen, daß wir schließlich seine Frau Schwester zu nennen hätten! Verträgt sich dies mit unserem christlichen System? Außerdem laufen wir Gefahr, daß aus der jüdischen Verwandtschaft seiner Frau Aufnahmegesuche, sei es von getauften Juden, bei uns eingehen, und dann stehen wir vor neuen Verlegenheiten.«102

Insbesondere die »jüdische Argumentation« des Logenbruders musste Strese­ mann zeigen, in welcher Gesellschaft er sich bewegte und welche Gratwanderung sein Eintritt in die Loge für ihn bedeutete.

falls einer bestimmten Richtung beitreten oder diese als verbindlich ansehen wollte. Er wollte dem Freimaurerbunde als solchem beitreten und hatte von der Unterschiedlichkeit der christlich-altpreußischen und humanistischen Systeme kaum Kenntnis«. Das trifft so sicherlich nicht zu. 100 Zur frühen Beschäftigung Stresemanns mit der Freimauerei vgl. seine Rezension in der »Allgemeinen Deutschen Universitäts-Zeitung«, 1900. Abgedruckt in: Rheinbaben, Stresemann, Reden und Schriften, Bd. 1, S. 318–323. Aus freimaurerischer Sicht: Maciey und Bernhard, Ein Beitrag. Bernhard wertet den Entschluss zum Eintritt Stresemanns gerade in diese Loge als rein zufällig; der Termin ist für ihn ohne Bedeutung, ebd., S. 6 f. Seit seiner Jugend hatte Stresemann sich bereits intensiv mit der Freimaurerei beschäftigt und seine politischen Freunde in Sachsen gehörten z. T. schon länger verschiedenen Logen an. Vgl. das Schreiben von Rechnungsrat Anders (NL) an Niethammer vom 3.7.1918, SWA Leipzig, NL Niethammer 494/1. 101 Schreiben Erich Klemms, 9.6.1923 an Habicht, GStA Berlin, Logen 5.2. B 32 Nr. 79; danach auch das folgende Zitat. Zur Großen National-Mutterloge vgl. den Bestand BA Berlin R 58, 7671, Akte der Großen National-Mutterloge 1915–1935. 102 Weiter hieß es dort: »In den Kreisen, die die Freimaurerei befehden, gilt Herr S. als fragwürdige politische Figur. Er gilt als ›junger Mann‹ der jüdischen Hochfinanz und der jüdischen Industriebarone. Seine Aufnahme in den Bund wäre für die Gegner der Freimaurerei Wasser auf die Mühle und niemand in deren Reihen könnten wir von der Aufrichtigkeit unseres reinen Deutschtums und unserer vaterländischen Gesinnung überzeugen.« Ferner wurde auch der »Personenkult« um Stresemann bemängelt.

98  Der Wille zum Aufstieg Tatsächlich führte Stresemann der Loge alsbald neue Mitglieder zu, darunter, wie von den Kritikern befürchtet, auch zum Protestantismus konvertierte jüdische. Zu ihnen gehörten u. a. Staatssekretär Rochus Freiherr von Rheinbaben, Stresemanns Fraktionsvertrauter Otto Most, sein Privatsekretär Henry Bernhard und schließlich sein Nervenarzt Oskar Schulmann. Die weitere Befürchtung des Kritikers, dass Stresemann sich nicht wirklich engagieren würde, war ebenfalls nicht aus der Luft gegriffen: Bereits Ende August 1923 teilte Stresemann mit, dass er infolge seines Amtsantrittes als Reichskanzler kaum noch Zeit für die Logenarbeit haben würde.103 Er hat dann den Sitzungen der Loge bis 1929 nur noch dreimal beigewohnt.104 Allerdings war die Bedeutung der Prominenz des neuen Logenbruders für die Loge nicht zu übersehen. Der neue Bruder war insofern seinen Preis wert. Zum einen als Geldbeschaffer105 und Türöffner zu Ministerien oder dem Reichspräsidenten,106 zum anderen als Postenbeschaffer107 oder Redner. Wohnten in der Regel 50–70 Brüder den regelmäßigen Sitzungen bei, so waren es, wenn Stresemann (allerdings sehr selten) auftrat, drei bis vier Mal so viele. Stresemanns Aufstieg innerhalb der Loge verlief, trotz dieser Hindernisse, das ist nun nichts Besonderes mehr, außergewöhnlich schnell: Er wurde bereits nach kurzer Zeit in den II. Grad, – »unter Befreiung von der vorgeschriebenen Beförderungsfrist«108 – wenig später in den III. und am 7. April 1927 in den IV. Erkenntnisgrad befördert. Außerdem erhielt er im Januar desselben Jahres die Ehrenmitgliedschaft der Mutterloge und wurde Ehrenmitglied der Loge »Aufwärts zum Licht« in Frankfurt am Main. Der Eintritt in die Loge stellte gewissermaßen den Abschluss und zugleich den Höhepunkt eines von Stresemann selber gewünschten und zum Teil bewusst inszenierten, scheinbar geradlinigen Weges dar, der vom Interesse an den Logen über verschiedene Zwischenschritte letztlich zum Höhepunkt, dem Eintritt im Jahre 1923 führte. Sein Sekretär Bernhard hat diese Legende systematisch verbreitet, eine Legende, die vom jugendlichen Stürmer und Dränger­ Stresemann, über den von Lehrern beeinflussten Schüler zum aktiven Logenbruder führte. Der Höhepunkt auf diesem Wege und zugleich das Meisterstück einer solchen Konstruktion mochte dann ein Abendessen unter Männern darstellen, bei 103 Stresemann an Habicht, 27.8.1923, GStA Berlin, Logen, 5.2. B 32 Nr. 79. 104 Eine Anwesenheit Stresemanns ist in den Sitzungen vom 24.1.1924, 19.3.1925 und 27.4.1927, dem Tag seiner Beförderung in den IV. Grad, verzeichnet. 105 RM Marx an Stresemann, 7.4.1926 wg. einer Beihilfe an eine Loge in Kreuznach, PA AA , NL Stresemann 279. 106 Schreiben Stresemanns an Reichspräsident von Hindenburg, 12.8.1927, PA AA , NL Strese­mann 58. 107 Stresemann an Habicht, 11.4.1928, PA AA , NL Stresemann 66. 108 Habicht an Stresemann, o. D., PA AA , NL Stresemann 8.

Der bürgerliche Wertehimmel: »Juden« und Frauen 

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dem Stresemann alle seine Getreuen um sich versammelt hatte, den Freundeskreis »Gustav Stresemann«. Dazu gehörten seine nächsten Mitarbeiter aus dem Auswärtigen Amt und der Regierung (Koepke, Curtius, Redlhammer, Rheinbaben), sein greiser Parteifreund Kahl, sein alter Kollege aus der Syndikuszeit (Max Hoffman), die »besseren Teile« seiner Familie (Sohn Wolfgang, die Schwäger von Winterfeldt und von Kleefeld; Sohn Joachim wird auffallend häufig nicht genannt), sein Arzt Dr. Schulmann, sein Anwalt Dr. Kunz, die Logenbrüder (Wronker-Flatow und Habicht) und schließlich der getreue Bernhard.109 So stellte sich Stresemann, kurz vor seinem Tod, wohl den gewünschten sozialen Kontext vor: ein Kreis von guten Bekannten, nach seinen Vorstellungen bürgerlich geprägt. In diesem Kreis konnte er einerseits dominieren und als Gastgeber glänzen und sich zugleich aber auch in der Geborgenheit seiner nächsten Mitarbeiter sicher fühlen. Und nicht zuletzt: Hier versammelte sich ein Kreis gebildeter Menschen, in denen alle Facetten Stresemannscher Fähigkeiten, vom Politiker über den Ökonomen bis zum Kunst- und Literaturkenner gefragt waren. Hier mochte er sich als Bürger unter Bürgern fühlen.

Der bürgerliche Wertehimmel: »Juden« und Frauen Stresemann und die »Juden« »Jüdische Führer waren an der revolutionären Bewegung in Deutschland ebenso beteiligt, wie in der bolschewistischen Umwälzung in Russland, Ungarn und Bayern. In den Tagen der letzten Märzereignisse wurde an jeder Straßenecke des Berliner Westens der Bolschewismus von jüdischen Persönlichkeiten galizischen Ursprungs gepredigt. Eine Erregung ohnegleichen herrschte namentlich in den westlichen Vororten darüber, dass man Bürgern Einquartierung in die Häuser legt, während diese galizischen Einwanderer es verstehen durch das von ihnen eingeführte System der Bestechung sich ihrerseits Wohnungsgelegenheit zu verschaffen. Mit dieser galizischen Einwanderung sind die unangenehmsten Verbrechertypen mit nach der Reichshauptstadt gekommen, die Fälschung von Geld, von Zinsscheinen der Kriegsanleihen, Schiebungen und Schleichhandel in den gemeinsten Formen haben ihren Einzug in Berlin gehalten.«110

Diese Ausführungen stammen nicht etwa aus einem antisemitischen oder völkischen Pamphlet, sie stammen vielmehr von Gustav Stresemann. Sie sind  – 109 Einladungsliste zum Abendessen am 10.5.1927, PA AA , NL Stresemann 286. 110 Stresemann an Generaldirektor Berckemeyer, 3.4.1920, PA AA , NL Stresemann 213. Vgl. dazu das Schreiben von Rauch an Nathanson, 12.1.1920, PA AA , NL Stresemann 220: »Herr Stresemann lässt Ihnen gleichzeitig mitteilen, dass der Hauptsitz des PogromAntisemitismus sich bekanntlich in München befindet […][etwa] Levine-Nissen«.

100  Der Wille zum Aufstieg nicht nur  – aus heutiger Perspektive schwer nachvollziehbar und scheinen seinen ausgeprägten Antisemitismus deutlich zu belegen. Wenn man sie jedoch in den Zeitkontext stellt und Stresemanns bürgerlichen Wertehorizont berücksichtigt, sind sie zwar immer noch schwer verständlich, können aber differenzierter gedeutet werden.111 Stresemann fühlte sich Zeit seines Lebens als Liberaler, Bürger, Christ und vor allem als deutscher Patriot.112 Der bürgerliche Wertehimmel, sowie das bedingungslose Bekenntnis zur deutschen Nation, zu ihrer Kultur und zu ihrem von Bismarck gegründeten, durch den Protestantismus geprägten Nationalstaat waren Grundaxiome in seinem Werthimmel. »Die nationale Gesinnung [bildete für ihn] die Grundlage des Staates und nur wer diese Grundlage anerkannte galt ihm als vollgültiger Staatsbürger. […] Die Ausschlusskriterien waren [allerdings] nicht starr und daher nicht eindeutig. Sie waren nicht einfach rassischer, religiöser oder ideologischer Art. Patriotische Juden, Katholiken und Sozialdemokraten konnten durchaus dazu gehören.«113 Stresemann bekämpfte Katholiken, wenn er sie als antiaufklärerisch und illiberal erlebte, nicht aber, weil sie Katholiken und keine Protestanten waren. Katholische Bürger wurden von ihm akzeptiert, wenn sie sich an seinem Wertekatalog orientierten und dem antinationalen »Ultramontanismus« abschworen. Insofern hatte er keinerlei Schwierigkeiten etwa mit Reichskanzler Marx gut zusammenzuarbeiten. Auch viele seiner Unternehmerkollegen entstammten dem katholischen Bürgertum, vor allem aus dem Ruhrgebiet.114 Allerdings sprach ihm zugleich der liberale, aggressiv antikatholische Wahlslogan aus dem Baden der Vorkriegszeit mitten aus der Seele, »Wer nicht will, dass unser schönes Baden durch Klöster verdüstert werde, wer nicht will, dass schleichende Jesuiten unser Familienleben vergiften, der wähle den furchtlosen Streiter für Ge­ wissensfreiheit und echte vaterländische Gesinnung […]«115, (womit dort ein liberaler Bildungsbürger gemeint war). Stresemann bekämpfte auch die Konservativen, selbst wenn sie Protestanten waren und den Nationalstaat, so wie er, befürworteten, sich aber nicht den liberalen Tugenden verbunden fühlten und den Aufschwung des Bürgertums hemmten. Das zeigte seine Politik in Sachsen. Prinzipiell war er aber gegenüber dem politisch rechten Sektor deutlich toleranter als gegenüber dem linken. Das

111 Vgl. zum Thema vor allem die Darstellung von Wright, Stresemann, S.  145–147 und Wright u. Pulzer. 112 Vgl. sein Schreiben an den Centralverein Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, 28.1.1920, PA AA , NL Stresemann 220. 113 Wright, Stresemann, S. 67. 114 Vgl. hierzu vor allem den Briefwechsel mit Ludwig Stollwerck, RWWA Köln. 115 Wahlkampfplakat aus dem Wahlkampf 1907 in Baden, GLA Karlsruhe, 159, Nr.  87, RT-Wahl 1907.

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galt besonders, wenn es sich um den militärischen Bereich oder um nationale Ideologien handelte. Stresemann war immer ein entschiedener Feind der Sozialisten. Sie würdigten, so sein Urteil, die Rolle des Individuums nicht ausreichend, stellten das Kollektiv über den Einzelnen, ordneten die Freiheit der Gleichheit unter, bekämpften die Religion und stellten den Internationalismus vor die deutsche Nation.116 Hinzu kam erschwerend, dass sie die von ihm favorisierte Volksgemeinschaft mit ihren Klassenkampfideen unterliefen. Trotzdem war er aber bereit, anders als etwa die Konservativen, mit ihnen zu kooperieren, wenn es die Umstände verlangten und sie sich als »vernünftig« herausstellten. Stresemann war und blieb allerdings Zeit seines Lebens ein erbitterter­ Gegner von Kommunismus und Pazifismus. Die »Rote Fahne« über Berlin war seine Schreckensvision. Über die pazifistische Illusion eines Weltfriedens konnte er nur den Kopf schütteln. Den Pazifisten sprach er wie den Kommunisten vor allem die Vaterlandsliebe ab. Sie verkannten seiner Ansicht nach die Bedeutung des Kampfes um die internationale Stellung Deutschlands und unterminierten ihn mit ihrer Weltfremdheit, was besonders im Ersten Weltkrieg sichtbar zu werden schien.117 Diese Abneigung galt selbst dann, wenn die Pazifisten in weiten Bereichen liberale Werte akzeptierten. Stresemann scheute sich daher nicht, Politiker wie Friedrich W. Foerster und die Gruppierung um die Zeitschrift »Die Menschheit«, als »Geschmeiß« und »Schweinehunde« zu bezeichnen,118 pflegte aber zugleich mit dem Pazifisten und erklärten Linken Hellmut von Gerlach ein durchaus friedliches Verhältnis.119 Bei seinem Kampf gegen einzelne Pazifisten machte er auch vor nahen Bekannten und engen Geschäftsfreunden nicht halt. So zettelte er etwa wegen der Kritik des Dresdner Bankiers Georg Arnhold an seiner Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg einen wüsten Streit an.120 Diese (liberale)  Grundeinstellung Stresemanns gilt es zu berücksichtigen, wenn man sich mit seiner Haltung zu jüdischen Deutschen beschäftigt.121 Die Anbindung seines Urteils an die Werte von Bürgerlichkeit und Nation ist in diesem Fall umso wichtiger, als sich Stresemann in seiner Kritik gegenüber jüdischen Deutschen, wie gegenüber allen anderen politischen Gegnern, keinerlei 116 Vgl. hierzu sein Schreiben an Hugo Meyer, 31.12.1918, PA AA , NL Stresemann 182. In gleichem Sinne das Schreiben an Justizrat Benfey III, Osnabrück, 16.1.1919, PA AA , NL Stresemann 202. Dort massive Kritik an der sozialdemokratischen Personalpolitik, bei der »fast nur Atheisten und jüdische Kreise bei der Besetzung von hervorragenden Stellen berücksichtigt« würden. 117 Pohl, Hellmut von Gerlach. 118 Stresemann an Jarres, 19.8.1925, PAA AA , NL Stresemann 275. 119 Pohl, Hellmut von Gerlach. 120 Vgl. dazu das Unterkapitel »Der ›Held‹ an der Heimatfront«. 121 Vgl. zu dieser Problematik Wright, Stresemann, S. 145 ff.

102  Der Wille zum Aufstieg Zurückhaltung auferlegte, manche vernichtende Stereotypen benutzte und vor rabiaten, antisemitisch klingenden Äußerungen nicht zurückschreckte. Man kann auch in diesem Fall unterstellen, dass Stresemann nicht grundsätzlich in den deutschen Juden den Feind sah, sondern nur in denjenigen, die seinen bürgerlichen Vorstellungen deutlich widersprachen und die sich nicht »lernwillig« zeigten. Im Vergleich zur Kritik an linken Sozialdemokraten, Kommunisten und Pazifisten blieben Stresemanns Urteile gegenüber jüdischen Deutschen noch geradezu zahm. Es wäre daher verkürzt, seine sehr kritischen Äußerungen allein aus einer antisemitischen Perspektive, und auf dem Hintergrund der Geschichte Deutschlands im Nationalsozialismus zu interpretieren. Antisemitismus, eine im Kontext von Nationalismus, Sozialdarwinismus und Rassismus begründete Judenfeindlichkeit, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts stärker in Deutschland und vor allem in Sachsen auftrat, also eine biologische und rassistische Ausgrenzung der jüdischen Deutschen, war Stresemann eher fremd, wenngleich er antisemitische Stereotype gebrauchte.122 Jüdische Deutsche, die sich als nicht genügend national und bürgerlich darstellten oder, und damit wurde der Politiker Stresemann getroffen, ein anderes Verständnis von Liberalität besaßen, erschienen ihm hingegen als erbitterte Feinde. Bei einer Auseinandersetzung um diese Werte waren ihm die billigsten Klischees nicht zu schade. Diese Einstellung war charakteristisch für den Bürger, den Ökonomen, den Parteiführer und schließlich auch den Politiker Stresemann. Er war mit einer getauften deutschen Jüdin, aus bürgerlichen Verhältnissen stammend, verheiratet, die aber unter »rassischen Gesichtspunkten« Jüdin blieb, und so von Antisemiten angefeindet wurde. Dagegen hat sich Stresemann vehement verwehrt. Die »Jüdischkeit« seiner Frau stellte aber für ihn keine eigene Größe dar, obwohl er als taktierender Politiker schon einmal bei Bedarf damit kokettierte, eine Jüdin geheiratet zu haben, um so seine Offenheit den Juden gegenüber zu demonstrieren.123 Zugleich stellte er aber gegenüber dem DNVP-Vorsitzenden Hergt klar, dass »die Behauptung, er sei mit einer Jüdin verheiratet […] ›unwahr‹«124 122 Vgl. dazu Rauch an Brocke, 20.7.1920, PA AA , NL Stresemann 219: »Sie wissen, dass wir [DVP] nicht rassenfeindlich sind, sondern dass wir lediglich die Zersetzungsbestrebungen ablehnen, wie sie insbesondere durch die Richtung des Berliner Tageblatts und der Frankfurter Zeitung vertreten werden, gleichgültig, ob sie von christlicher oder von jüdischer Seite stammen«. 123 Vgl. dazu sein Schreiben an den Centralverein Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV), 28.1.1920, PA AA , NL Stresemann 220. Auf der anderen Seite unternahm er aber nichts dagegen, dass seine Parteifreunde in Sachsen ihn auf die Beschuldigung hin, seine Familie habe jüdischen Einschlag, mit dem Argument verteidigten, dass irgendeine Groß- oder Urgroßmutter »einmal jüdischen Einschlag gehabt habe, aber die Frau Stresemanns keine Jüdin sein«. (Syndikus Maschner an Miethke, 14.7.1922, PA AA , NL Stresemann 248). 124 Wright, Stresemann, S. 146.

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sei. Hier variierte sein Umgang mit der Problematik, blieb immer von taktischen Erwägungen bestimmt. Zu seinem privaten Bekanntenkreis zählten eine Reihe in Kultur, Politik und Wirtschaft prominenter jüdischer Bürger, etwa die Bankiers Arnhold, von Schwabach und Warburg, der Industrielle Carl Duisberg, der Reeder Albert Ballin oder die Rechtsanwälte Nathanson und Kaiser. Besonders sein kultureller Bekanntenkreis bestand zum größten Teil aus konvertierten jüdischen Deutschen. Alle diese Freunde empfanden sich, wie Stresemann selber, aber in erster Linie als Bürger und deutsche Patrioten. Seit seiner Studentenzeit hatte Stresemann sich für die Gleichberechtigung jüdischer Bürger eingesetzt, in der Reformburschenschaft gegen den Anti­ semitismus in den Verbindungen Position bezogen und gegen erheblichen Widerstand durchgesetzt, dass dort auch Juden Mitglieder werden konnten.125 In seiner Loge hatte er alle Anfeindungen wegen der jüdischen Abstammung seiner Frau bekämpft und sich persönlich eine Fülle von Angriffen seiner politischen Gegner gefallen lassen müssen, ohne von seiner Frau abzurücken. In all diesen Organisationen hatte es sich aber immer nur um bürgerliche Juden gehandelt. Stresemann wiederum hat die Nähe zu national-patriotischen und bürgerlichen Juden geradezu gesucht. Legt man die Perspektive der Bürgertumsforschung an, ist das nicht sehr verwunderlich, denn die jüdischen Deutschen waren im beginnenden 20. Jahrhundert besonders zahlreich im gehobenen Bürgertum vertreten, und zwar sowohl im Bildungs- wie auch im Wirtschaftsbürgertum. Für Stresemann waren diese Kontakte daher eine Selbstverständlichkeit: als Politiker, der mit ihnen in den Kommunen zusammenarbeitete, als Wirtschaftsbürger, der bereits seit langem mit ihnen Geschäfte machte und schließlich als Bildungsbürger, der er gern sein wollte.126 Die sächsischen Nationalliberalen haben sich unter seiner Ägide daher immer gegen die Antisemiten abgegrenzt127  – und dafür z. B. einen erheblichen Fonds »zur Bekämpfung antisemitischer Kandidaten«128 eingeworben. Die offen antisemitische Reformpartei in Sachsen wurde von ihnen aufs schärfste bekämpft. Eine solche Haltung stellte für Stresemann allerdings keinen Grund dar, etwa dem antisemitischen, aber bürgerlichen Alldeutschen Verband fern zu bleiben.

125 Vgl. dazu Hambrock, S. 136. 126 Insofern trifft das Argument Barkais, in der DVP »sei die Aversion gegen Juden nicht überwunden« (Barkai, S. 172), nicht ganz zu. Richtig ist allerdings die dort gekennzeichnete Aversion »gegen fremdstämmige Personen«. 127 Vgl. dazu Sächsische Nationale Blätter, Nr. 10, 4.3.1911, S. 65. 128 Stresemann an Friedberg, 29.1.1913, PA AA , NL Stresemann 123. Dass der Parteitaktiker diesen Fonds auch für andere Zwecke verwendete, versteht sich.

104  Der Wille zum Aufstieg In ernsthafte Schwierigkeiten mit seinen jüdischen Partnern kam Stresemann erstmals, als er und die Nationalliberalen dem Zentrumsantrag für die sog. »Judenzählung« im Ersten Weltkrieg zustimmten129, einem Ereignis, das in der neueren Literatur als eine negative Wende in der deutschen Politik im Verhältnis zu den Juden bezeichnet wird.130 Diese »Nachweisung der beim Heere befindlichen wehrpflichtigen Juden« war eine statistische Erhebung, um den Anteil der Juden am Militär festzustellen. Eine solche Zählung sah auf den ersten Blick wie eine Reaktion auf den nicht nur im deutschen Offizierskorps verbreiteten Antisemitismus aus. Sie schien sich gegen die Unterstellung zu richten, Juden seien »Drückeberger«, die sich dem Dienst an der Front entziehen würden oder sich häufig davon befreien ließen. Da aber nur eine begrenzt Bevölkerungsgruppe statistisch untersucht wurde, verschärfte die Zählung indirekt deren Ausgrenzung. Da half es nichts, dass sich bei der Veröffentlichung der Zählung (allerdings erst nach dem Krieg) herausstellte, ein überproportional hoher Anteil deutscher Juden habe sich an der Front befunden. Alle Beteuerungen Stresemanns, dass er »mit seiner Abstimmung antisemitische Tendenzen nicht verfolgt habe, denen er sowohl wie die Partei selbst auf das entschiedenste abhold sei«, hinterließen bei seinen jüdischen Freunden nur einen schalen Beigeschmack.131 Sie kritisierten vor allem, dass er, der auf organisatorischem und statistischem Gebiet höchst erfahren war, hätte wissen müs-

129 Vgl. Justizrat Meyer an Stresemann, 18.1.1917, PA AA , NL Stresemann 157: »Bei allen Bemühen, objektiv zu bleiben, kann ich ihre Konzession gegenüber den Pöbelinstinkten des Antisemitismus nicht verstehen […]. Ich glaube, dass eine feste männliche Haltung gegenüber den Antisemiten Ihrer Partei, den Epigonen Benningsen’s wohl anstehen und Ihnen mehr Freunde erwerben würde, als die schwächliche und ausweichende Berechnung, ob der jüdische Prozentsatz an den unvermeidlichen Kriegsübeln nicht zu hoch sei«. Ferner: Cassirer an Stresemann, 23.10.1916, PA AA , NL Stresemann 155: »So haben Sie durch Ihre Unterstützung des Antrages eine Untersuchung gefördert, die durch ihre Oberflächlichkeit ohne jede Beweiskraft nach der einen oder anderen Seite bleiben muß«. 130 Vgl. dazu nur Sieg; Rosenthal sowie Ullrich, Fünfzehntes Bild. Allerdings ließ Stresemann antisemitische Ausfälle seines guten Bekannten, des Admirals von Capelle, völlig unkommentiert, was in seiner Korrespondenz nicht unbedingt die Regel ist. »Ich persönlich hasse den einzelnen Juden keineswegs« – so Capelle – »ich habe vielmehr in meinem Leben eine ganze Reihe von Juden kennengelernt, die hinsichtlich ihres Fühlens und Denkens weit höher wie viele Christen standen und die man in jeder Beziehung achten müsste, aber ich bin andererseits zu der Erkenntnis gekommen, dass die allgemeinen Rasseeigenschaften dieses Volksstammes das reine Deutschtum allmählich zersetzen und seine Widerstandskraft vermindern. Ich würde es daher außerordentlich bedauern, wenn unsere gewohnte Humanitätsduselei dazu führen sollte, unter Hinweis auf berechtigte Einzelfälle den Juden in ihrer Allgemeinheit den Eintritt in unser Heer und unsere Marine zuzubilligen«. (von Capelle an Stresemann, 15.2.1915, PA AA , NL Stresemann 145). 131 Stresemann an Schiffer, 10.11.1916, PA AA , NL Stresemann 155.

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sen, welche (negativen) Folgen eine solche Zählung für das deutsche Judentum haben würde.132 Stresemanns enge Verbundenheit zum jüdischen Bürgertum zeigte sich auch in der Weimarer Republik. Sein bürgerlich geprägtes Weltbild erklärt, warum er nach der Revolution von 1918/19 besonders intensiv mit dem Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens133 (CV) und dem Verband nationaldeutscher Juden kooperierte134, andere deutsche Juden aber massiv ablehnte und bekämpfte. Die neue DVP und diese jüdischen Verbände vertraten gemeinsam ein eher (konservativ-)liberales Weltbild, in das in der Regel weder die Revolution noch ihre Verteidiger (SPD, DDP) passten, wohl aber Stresemann mit seinem Weltbild hingehörte.135 Hinzu kam, dass Stresemann gerade auf die DDP, die ihm eine Mitarbeit schlichtweg abgeschlagen hatte, besonders schlecht zu sprechen war.136 Vor allem, aber nicht nur, in diesem Zusammenhang ist daher die Polemik Stresemanns gegen die Linksliberalen und deren »jüdische Führung«, gegen die linke »Judenpresse« und gegen die »sozialistischen« und »revolutionären« Juden zu sehen.137 Die tiefe Enttäuschung über den »Abfall« seiner früheren Freunde macht die antisemitischen Ausfälle vielleicht verständlich und könnte erklären, warum Stresemann gerade in dieser Zeit derartige Einstellungen ausformte.138 Ihr antisemitischer Charakter wird dadurch jedoch nicht entschärft, auch wenn die aus seiner Sicht feindliche Führungsgruppe zum großen Teil  aus jüdischen Deutschen bestand. »Jüdischkeit« bot sich in diesem Fall für Stresemann offensichtlich als gängiges und plakatives Feindbild an. Da es der DDP zudem gelungen war, sich finanziell zu konsolidieren – »anscheinend steht ihr das ganze jüdische Bankkapital zur Verfügung«139 – während die DVP dagegen »arm« war, potenzierte sich dieses Feindbild noch. Festzuhalten aber bleibt: Trotz aller Erregtheit, hier äußerte er sich höchst antisemitisch. Die Berliner Presse, mit ihrem Hang zur »zersetzenden Kritik«140 traf ihn, der vom Zusammenbruch des Kaiserreiches noch tief erschüttert war, ins Mark: 132 Dr. Cassirer (Kabel und Gummiwerke) an Stresemann, 23.10.1916, PA AA , NL Stresemann 155. 133 Vgl. dazu Barkai. 134 Hierzu im Einzelnen Hambrock, S. 333 ff. 135 Es gab aber auch im CV Mitglieder, die der DDP nahe standen. Stresemann hat allerdings den platten Antisemitismus von Stinnes immer bekämpft, öffentlich und auch in Partei und Fraktion. 136 Vgl. dazu das Unterkapitel »Revolution und Neuanfang«. 137 Allerdings, dass Stresemann »die Juden« bemühte, um sich politisch auseinanderzu­ setzen, unterschied ihn nicht von reinen Antisemiten. 138 Vgl. dazu Richter, Die Deutsche Volkspartei, S. 37 ff.; danach die folgenden Gedanken. 139 Stresemann an Senator Biermann, 27.12.1918, PA AA , NL Stresemann 182. 140 Stresemann an Generaldirektor Berckemeyer, 3.4.1920, PA AA , NL Stresemann 213; danach auch das folgende Zitat.

106  Der Wille zum Aufstieg »Nichts ist ihnen mehr heilig, alles zerren sie in den Schmutz. […] Mit der Lauge ihres Hohnes und Spottes überschütten sie alles, was dem Deutschen in der Erinnerung an die Vergangenheit hehr und heilig geblieben ist.« Damit meinte Stresemann vor allem das »Berliner Tageblatt, »das Sprachrohr des deutschen Judentums«. Ihm gab er die Schuld daran, dass sich die Gegensätze im deutschen Bürgertum immer mehr verschärften.141 Gleiches galt für die Blätter »Ulk«, »Die Weltbühne« und die »Zukunft«, die seinen aus ihrer Sicht konservativen Wertehimmel ebenfalls ablehnten und persönlich nicht zimperlich mit ihm umgingen: »Herr Stresemann ist ein gewandter Politiker in des Wortes nicht erquicklicher Bedeutung. Ein spumöser Rhetor. Sonst nichts. Sein Programm ist die Programmlosigkeit. Seine zentrale Idee die Ideenlosigkeit. Er ist bereit zu jedem Mischmasch.«142 In dieser Kritik, die ihn und die Anhänger des alten Deutschland tief verletzen musste, sah Stresemann zugleich die eigentlichen Wurzeln des immer stärker aufflammenden Antisemitismus. »Das Berliner Tageblatt« – so Stresemann – »ist der größte Feind eines deutschen nationalen Judentums.«143 Diese Juden hatten, so seine Argumentation, am Antisemitismus in Deutschland einen erheblichen Anteil – auch das war ein gängiges antisemitisches Stereotyp. Ein weiteres Motiv war der sich ausbreitende Atheismus, den Stresemann als bekennender Christ144, bei der politischen Linken und vor allem der Sozialdemokratie festzustellen glaubte. Die für ihn schwer zu ertragende (scheinbare) Benachteiligung von Christen in der sozialdemokratischen Personalpolitik war aus seiner Perspektive vor allem durch das »starke jüdische Element« bedingt, das die Ausschaltung bürgerlich-christlicher Elemente zu verantworten habe – erneut eine klar antisemitische Argumentation.145 Massiv richtete sich seine Kritik gegen die atheistischen Tendenzen in den durch jüdische Minister geleiteten Preußischen und Bayerischen Ministerien (Hänisch, Hoffmann). Dass die gegen »die« Juden gerichteten Anwürfe nicht nur einem Antisemitismus Vorschub leisteten, sondern klassisches antisemitisches Vokabular darstellten, ist kaum zu bestreiten. Trotz aller Erklärungsversuche tut man sich daher schwer, hier nicht die Wurzeln eines tief sitzenden Antisemitismus zu entdecken.146 Die Ähnlichkeit mit der späteren national­ sozialistischen Argumentation ist frappierend. 141 Stresemann an den CV, o. D., PA AA , NL Stresemann 220. 142 Carl von Ossietzky im Jahre 1920 über Stresemann, zit. Nach: Otto, Der junge Mann von Ludendorff. 143 Stresemann an den CV, o. D., PA AA , NL Stresemann 220. 144 Stresemann an den CV, 28.1.1920, PA AA , NL Stresemann 220. Dieser Aspekt seiner Biografie bleibt in dieser Studie leider weitgehend unberücksichtigt. 145 Vgl. das Schreiben Stresemanns an Justizrat Benfey, 16.1.1919, PA AA, NL Stresemann 202. 146 In diesen Kontext gehört, dass in den Stresemann’schen »Deutschen Stimmen« Texte mit wildem Antisemitismus veröffentlich wurden, etwa von Kienitz, Nationaldeutsche Juden, in: ebd., 1924 (35), S. 369–376, wobei sich die Schriftleitung nicht davon distanzierte.

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Dass sich Stresemann mit dieser Kritik auf einen speziellen Teil  der deutschen Juden beschränkte, nämlich auf die »Pressejuden«, die Deutschland und deutsche Werte herabzerrten und auf die »fremden« Ostjuden, die seiner Meinung nach das deutsche bürgerliche Milieu, und damit das bürgerliche Judentum kulturell herabzogen, war ebenfalls nicht ungewöhnlich. Das entsprach dem Vokabular der meisten Antisemiten. Insofern schloss er sich einer stereotypen Argumentation an, die von Deutschnationalen und Völkischen benutzt wurde und zumindest missverständlich klingen musste. Letztlich ging es Stresemann aber um die bürgerliche Gesinnung und um die Ablehnung der Revolution und ihrer Folgen. Gerade hierbei war jedoch, so Stresemann »[…] eine verhältnismäßig erhebliche Anzahl von Angehörigen des Judentums im In- und Auslande an revolutionären Bestrebungen und Ausschreitungen führend beteiligt gewesen.«147 Auch aus diesem Grunde griff Stresemann in einer schwer erträglichen, keine niederen Stereotypen auslassenden aggressiven Sprache dieses aus seiner Sicht zerstörerische Judentum massiv an.148 Sein Sekretär Rauch, der in Stresemanns Namen sprach, ging sogar so weit zu betonen: »Im Interesse des deutschen Judentums selbst bekämpfen wir das neuerdings stärker und stärker aus dem Ausland hereinflutende Judentum als eine kulturelle und moralische Gefahr, die zu beseitigen gerade das führende deutsche Judentum das größte Interesse hat. Kurzgefasst: Wir lehnen also Antisemi­ tismus in jeder Form ab, kämpfen aber gegen Einwanderung Landfremder, uns kulturell unterlegener Elemente«.149 Elemente rassistischer Überhebung lassen sich hier beim besten Willen nicht verleugnen. Diese Kritik stimmte jedoch zugleich, wenn auch vorsichtiger formuliert, mit der seiner bürgerlichen jüdischen Freunde vom CV und dem VnJ überein, von denen Stresemann sich in erster Linie eine sinnvolle Bekämpfung des wachsenden Antisemitismus und zugleich eine Unterstützung seines »bürgerlichen Kurses« versprach. Sein enger Bekannter Nathanson bestätigte die Befürchtungen Stresemanns, wenn er schrieb:150 »Ich muss Ihnen gestehen, dass diese Frage [Ostjudenfrage] eine nicht nur für die deutschen Juden, sondern für das ganze deutsche Volk hochbedeutsame Frage ist, die unter Umständen auch Einfluss auf die internationale Stellung des Reiches haben kann. Ich halte es für dringend notwendig, dass diese Frage gelöst [!, K. H. Pohl] wird – natürlich in dem Sinne, dass die Einwanderung nach Möglichkeit unterbunden und die bisher unerwünschten Gäste so rasch als möglich wieder abgeschoben werden«. 147 Entschließung des Geschäftsführenden Ausschusses der DVP vom 28.1.1920, PA AA , NL Stresemann 220. 148 Vgl. dazu das Eingangszitat. 149 Rauch an Theodor Gerson, 17.4.1920, PA AA , NL Stresemann 213. 150 Nathanson an Stresemann, 16.4.1920, PA AA , NL Stresemann 213.

108  Der Wille zum Aufstieg Wegen dieser Seelenverwandtschaft suchte Stresemann daher verstärkt die Kooperation mit den jüdischen bürgerlichen Vereinen. Zum VnJ, zahlenmäßig eine eher begrenzte Vereinigung151, hielt er über Leon Nathanson engen Kontakt und im Dresdner Centralverein spielten seine Geschäftspartner aus der Arnholdfamilie eine gewisse Rolle.152 Gerade die Mitgliederstruktur des Centralvereins, dem etwa ein Viertel aller in Deutschland lebenden Juden angehörten153, ermutigte ihn zu einer solchen Kooperation, war ihr Kern doch klar im mittleren oder gehobenen Bürgertum zu verorten. Diese Kooperation mit den jüdischen Organisationen, die Nähe zu vielen jüdischen Kollegen und Partnern sowie die familiäre Bindung können jedoch die Tatsache nicht verdecken, dass Stresemann durch seine antisemitischen Ausfälle und durch seine mangelnde Abgrenzung zum deutschnationalen und völkischen Antisemitismus, diesem den Boden (mit-)bereitet hat. Viele Argumentationsfiguren und die meisten der von ihm verwendeten Klischees gehörten zum radikalen antisemitischen Grundwortschatz. Insofern hat Stresemann derartige Einstellungen (mit) hoffähig gemacht, obwohl seine Urteile von vielen national denkenden Juden geteilt wurden. Stresemanns Frauenbild »Wenn die Natur bei Schaffung der Welt die Zweigeschlechtlichkeit von der Pflanze bis zum Menschen eingeführt hat, so kann der Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts nicht einfach die Natur oder den göttlichen Willen in das Gegenteil verkehren. Die Frau wird umso stärker wirken können, je mehr sie sich beschränkt auf das, was der Frau eigentümlich ist, auf die Gebiete, wo ihr Instinkt, ihre Neigungen und ihr Verstand besonders wirken können; sie soll jedoch nicht Gebiete für sich in Anspruch nehmen, auf denen ihr Wirken ebenso wenig durchführbar für den fraulichen Charakter ist, wie auf anderen Gebieten, in denen die Frau vorherrscht, Aufgaben des Mannes liegen können.«154

In zwei zentralen Schreiben aus den Jahren 1924 und 1928 hat sich der Bürger und Liberale Stresemann ausführlich zur »Frauenfrage« geäußert.155 Weil diese Korrespondenz mit zwei herausragenden Vertreterinnen der DVP geführt 151 Hambrock, S. 100 ff. 152 Höppner u. Jahn, S.  20. Zudem bat er die führenden Mitglieder dieser bürgerlich-­ jüdischen Vereine immer wieder zu persönlichen Besprechungen im engen Kreise zu sich. Vgl. etwa die Einladung an führende Vertreter des VnJ am 26.9.1921, PA AA , NL Stresemann 231. 153 Barkai, S. 370. 154 Stresemann an Martha Schwarz, 10.11.1924, PA AA , NL Stresemann 91. 155 Schreiben von Martha Schwarz an Stresemann, 30.10.1924 und Antwort Stresemanns vom 10.11.1924, beide in: PA AA , NL Stresemann 91.

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wurde, ist anzunehmen, dass diese Antworten nicht nur seine persönliche, sondern auch die offizielle Stellung der Partei wiedergaben. Das verstärkt die Bedeutung der Ausführungen. Martha Schwarz, die sich in einem an Stresemann gerichteten Schreiben über dessen Verhalten in der »Frauenfrage« kritisch ausließ, war eine langjährige Parteiaktivistin, Vorstand in der Friedenauer Ortsgruppe der DVP (Berlin) und Vorsitzende des dortigen Frauenausschusses. Sie verstand sich, wie sie selber betonte, keineswegs als Frauenrechtlerin, wohl aber als Vertreterin von Fraueninteressen.156 Sie repräsentierte gewissermaßen die Parteibasis, die sich speziell von Stresemann nicht genügend unterstützt fühlte. Die 1882 geborene Doris Hertwig-Bünger wiederum gehörte zu den führenden Persönlichkeiten der DVP. Sie war 1908 als erste Frau in Marburg zum Dr. phil. promoviert worden und später als Studienrätin im Mädchenreformgymnasium in Dresden tätig. Die DVP vertrat sie zwischen 1920 und 1926 als Mitglied des Sächsischen Landtages, zudem in der Dritten und Vierten Wahlperiode (1924–1930) als Mitglied des Reichstags. Verheiratet war sie mit Wilhelm Bünger, von 1924 bis 1927 Justizminister, 1928 Kultusminister und in den Jahren 1929 und 1930 Ministerpräsident in Sachsen.157 Ihr antwortete Stresemann mit seiner sehr persönlichen Meinung, die aber offenbar von der Parteilinie kaum abwich. Bünger hatte ebenfalls kritisiert, dass die DVP die Belange der Frauen nicht gebührend berücksichtige. Der »Bürger Stresemann« offenbarte in diesen Schreiben ein Frauenbild, das, so scheint es, noch weitgehend aus dem 19. Jahrhundert stammte. Auch wenn er nicht direkt glaubte, dass die Frau immer und überall ins Haus und an den Herd gehörte, stand er doch eindeutig auf dem Standpunkt, »dass die Familie die Grundlage des Staates und Volkes sein muss und die Familie bedingt, dass die Berufsarbeit in erster Linie dem Manne obliegen muss.«158 Zudem forderte er geradezu ultimativ: »Unser [der DVP] Streben muss sein, in Deutschland zu Verhältnissen zu gelangen, die die Frau nicht zwingen, Berufe zu ergreifen, die ihrer Wesensart widersprechen.« Als besonders abschreckendes Beispiel für eine Forderung nach totaler Emanzipation in der Berufswelt nannte Stresemann den Beruf des Feuerwehrmannes, eine Tätigkeit, die ihm geradezu »als eine Perversion vorkäme, die ich auf das Entschiedenste zurückweise«. Das waren Überzeugungen, die den Positionen vieler Konservativen und Katholiken deutlich näher standen, als etwa denen der Sozialdemokratie. 156 Schwarz an Stresemann, 30.10.1924, PA AA , NL Stresemann 91. 157 Daten nach Jahrbuch des BDF. Handbuch der kommunal-sozialen Frauenarbeit, Leipzig und Berlin 1929, Stadtarchiv Dresden (Stadtbund/Akte 5/Bl. 12 und ebd., 13.28) und Thieme. 158 Brief an die DVP, 3. Wahlkreis, Berlin Wilmersdorf als Antwort auf das Schreiben von Schwarz, 10.11.1924, PA AA , NL Stresemann 91.

110  Der Wille zum Aufstieg Stresemann unterschied grundsätzlich verschiedene Sphären, denen die Geschlechter zuzuordnen seien. Frauen hatten sich auf die private Sphäre zu beschränken, im Haus zu wirken, die Kinder zu erziehen und ein kulturvolles Ambiente zu schaffen, kurzum: der Familie und dem Gatten den (bildungs-) bürgerlichen Boden zu bereiten. Dem Mann war es wiederum, ganz klassisch, vorbehalten, nach außen tätig zu werden, Geld zu verdienen, Geschäfte zu tätigen – und eben Politik zu betreiben. Entsprechend dieser Vorstellungen traten Stresemann und die Nationalliberalen im Kaiserreich nicht gerade dadurch hervor, dass sie mit besonderer Intensität den Einfluss von Frauen auf die Politik oder gar das Frauenwahlrecht eingefordert hätten. In der Weimarer Republik war dieses Recht zwar nun Faktum, und Frauen, auch Mitglieder der DVP, in den Reichstag gewählt worden, als einen besonderen Fortschritt empfand das Stresemann jedoch kaum. Vor allem lehnte er jede Aktivität ab, die die strukturelle Benachteiligung von Frauen in Politik und Wirtschaft beheben und deren Mitwirkungschancen hätte erhöhen können. Wenn Stresemann den Frauenvertreterinnen mitteilte: »Ich kenne keine Frau, die an der Spitze eines großen Finanzinstitutes steht, ich kenne keine Frau, die Leiterin einer großen Fabrik ist, und keine, die an der Spitze einer großen industriellen oder landwirtschaftlichen Organisation steht«,159 um daraus dann messerscharf zu folgern, dass ihnen der Sachverstand fehle und sie daher weder in der Politik noch in der Wirtschaft eine große Rolle spielen könnten, dann glaubte er damit sicherlich, dem Wertekanon seiner Partei zu entsprechen, den Realitäten jedoch wurde er damit nicht gerecht. Wer, wenn nicht Stresemann, wusste, was Netzwerke bedeuteten, die man sich in Männerbünden aufbaute, in denen Frauen nicht zugelassen waren? Wer, wenn nicht er, wusste, dass diese Seilschaften alle Außenseiter, aber vor allem Frauen, bei dem Versuch Einhalt geboten, in wichtige Machtzirkel einzudringen und wer, wenn nicht er, hatte erhebliche Erfahrungen darin, Frauen bewusst auszugrenzen, von wichtigen politischen und ökonomischen Machtstellen fernzuhalten und sie auf die ihnen »wesensgemäßen« Tätigkeiten zu beschränken? In diesen Briefen tat Stresemann seine offizielle Meinung kund, von der er wohl glauben mochte, sie im praktischen Leben vorzuleben. Tatsächlich verwirklicht aber hat er diese Vorstellungen in seiner Ehe nur zu einem geringen Teil. Beide Eheleute galten zwar als ein glückliches, modernes Paar, so zumindest die Version, wie sie besonders von den Kindern verbreitet wurde. Zweifellos verstand es Käte Stresemann, einen bürgerlichen Haushalt zu führen, und Zeit ihres Lebens eine exzellente Gastgeberin abzugeben. An der Erziehung der Kinder hatte sie ebenfalls den größten Anteil, allein schon wegen der ständigen Abwesenheit ihres Mannes. Insofern entsprach die Ehe durchaus den von Stresemann geforderten bürgerlichen Klischees. 159 Brief an Bünger, 11.8.1928, PA AA , NL Stresemann 288.

Der bürgerliche Wertehimmel: »Juden« und Frauen 

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Abb. 18: Gustav Stresemann mit seiner Ehefrau vor einem Brunnen, um 1925

Die Stresemannbiografin Antonina Vallentin war jedenfalls von dieser Beziehung und der Frauenrolle von Käte Stresemann geradezu hingerissen160: »Käthe [sic] Stresemann wurde ihrem Mann zum Schutz vor der Außenwelt. Sie brachte in die Ehe den praktischen Sinn mit, der ihm vollkommen fehlte. Sie, die wie ein verwöhntes Luxusgeschöpf aussah, mit der Eleganz und Gepflegtheit, deren Selbstverständlichkeit so kostspielig erscheint, war eine sparsame, umsichtige Hausfrau, die mit den nicht allzu reichlichen Mitteln, über die der junge Abgeordnete verfügte, ihm ein behagliches Heim einzurichten verstand«.

Das aber stellte nur die eine Seite Kätes und der Familie Stresemann dar. Betrachtet man dieses Foto von Stresemann und seiner Frau, dann ergibt sich ein ganz anderes Bild – und das nicht nur optisch. Oben und unten, bedeutend oder unbedeutend, diese Problematik stellte sich in der Familie deutlich anders. Im Berliner Leben war Käte Stresemann in jeder Hinsicht emanzipiert. Ihre Rolle, mit und ohne Ehemann, füllte nicht nur die Klatschspalten der Boulevardpresse in den 1920er Jahren nahezu täglich, sondern sie zeigte ihre Fähigkeiten, den gesellschaftlichen Teil  der Aufgaben eines Außenministers wahrzunehmen, den ihr Mann offenbar nicht erfüllen konnte. Sie war es, die zu 160 Vallentin, S. 23.

112  Der Wille zum Aufstieg repräsentieren verstand, die die politischen Zirkel diskret betreute. Sie übernahm die Rolle – und zwar auch nach außen hin – die er nicht einnahm. Kolportiert wurde von ihr jedoch das Bild einer etwas leichtsinnigen jungen Frau, die nicht gut mit Geld umgehen konnte und von ihrem erwachsenen Mann in diesen Dingen an die Hand genommen werden musste. Dieses Bild aber stimmt nur partiell und entstammt vor allem dem Stresemann-Nachlass oder den Mitteilungen der den Vater verehrenden Söhne. Stresemann selber vertiefte diese Legende, wenn er seine Frau, wie im Jahr 1919, ermahnte, sparsam zu wirtschaften und auf ihre Ausgaben zu achten, so als ob sie dies nicht von selber könnte.161 Käte Stresemann war es schließlich, die in die Ehe ein beträchtliches Kapital einbrachte und anfangs der wohlhabendere Partner war, selbst wenn sich das recht bald änderte. In schwierigen Zeiten hat sie ganz offensichtlich ihren Mann erheblich unterstützt. Sie war es, die kurz nach dem Kriege, als ihr Ehemann sich in einer schweren Krise befand, bei befreundeten Bankiers und Industriellen antichambrierte, um »ihrem Gustav« einen ertragreichen Beruf zu verschaffen.162 Hinzu kommt ein anderer Aspekt. Offensichtlich hat Stresemann seit seiner Heirat mit der damals 20-jährigen Käte Kleefeld die entsprechende, von ihm favorisierte Männerrolle nie wirklich ganz ausfüllen können. Man kann geradezu von einer Flucht aus dieser Rolle sprechen. Das hing nicht nur mit seiner politischen und beruflichen Überbeanspruchung, sondern vor allem mit seinen gesellschaftlichen Aktivitäten und persönlichen Neigungen zusammen. In seiner knappen Freizeit waren es Männerbünde, »rechte« Krieger oder Logen, denen er sich zuwandte. Alles das aber waren Vereinigungen, in denen Frauen nicht zugelassen, Männer unter sich waren. Seine Verehrung des Militärs und der nationalen Kämpfer zielte ebenfalls in diese Richtung. Ein liebender Vater, der sich in jeder freien Minute um die Kinder kümmerte, ein zugewandter Ehemann, der nichts als das traute Heim im Kopf hatte und eine auf die Familie und seine Ehefrau fixierte väterliche Führungsfigur hätte deutlich anders ausgesehen. Stresemann Verhältnis zu Juden sowie zu Frauen war, so kann zusammenfassend gesagt werden, geprägt von einer immensen Ambivalenz. Wie er sich im konkreten Umgang mit seiner Frau und mit befreundeten Juden verhielt, passte selten zu vielen seiner theoretisch geäußerten Ansichten. Einerseits war er hier stark von konservativen (bis antisemitischen) Werten geprägt, die er für seine Integration ins Bürgertum für unabdinglich hielt, andererseits aber verhielt er sich auch hier strategisch, um bestimmte Ziele zu erreichen. Klare Positionen hätten deutlich anders ausgesehen. 161 Stresemann an seine Frau, 12.2.1919, PA AA , Privatnachlass Stresemann. 162 Hinweis von Simone Lässig, der ich dafür zu großem Dank verpflichtet bin.

3. Ökonomisches und soziales Kapital

Dichte Beschreibung I: Stresemann und Dresden im Jahre 1903 Im Jahr 1903 stand endgültig fest, dass die sächsische Residenzstadt keine Zwischenstation für Stresemann bleiben würde. Sein Engagement als Syndikus des VSI, seine politische Profilierung als innovativer, aufmüpfiger Nationalliberaler (und nicht als Nationalsozialer) und schließlich die Hochzeit mit Käte Kleefeld bestimmten in den nächsten Jahren sein Leben in einer Stadt, die aufgrund ihrer überschaubaren Größe und ihrer Beschaulichkeit ein geradezu optimales Lernumfeld für den Neubürger und den späteren Reichskanzler und Reichsaußenminister darstellte. Zu lernen gab es für Gustav Stresemann viel. Obwohl er eine akademische Bildung und den Doktortitel besaß, über ein großes rhetorisches Talent verfügte, begabt und klug, von Arbeits- und Lernwillen besessen war und vor allem von unbändigem Ehrgeiz getrieben wurde, kam es jetzt darauf an, für das weitere Leben eine erste »Stabilisierungsphase« einzubauen. Wenn er ein Bürger in Dresden werden wollte, musste er sich in diesem Sinne (auch) vor Ort öffentlich profilieren. Es galt also, sich politisch zu positionieren (bei den Nationalliberalen), die ökonomische Basis zu stabilisieren und weiter auszubauen (beim VSI) und schließlich, kulturelles Kapital zu akkumulieren, also gesellschaftlichen Anschluss zu finden, sich in der guten Dresdner Gesellschaft angemessen zu bewegen und wichtige Kontakte zu knüpfen, kurzum: alles zu tun, um ein angesehener (Bildungs-)Bürger zu werden und den dementsprechenden Habitus zu erwerben. Für Stresemann, der von Haus aus mit den Codes der gehobenen bürgerlichen Schichten nur unzureichend vertraut war, bedeutet gerade dies eine gewaltige Anstrengung. Der Eintritt und die Integration in das gesellschaftlichen Leben fand in Dresden, wie überall im Reich, vor allem über die Mitgliedschaft in den (richtigen) Vereinen (in Dresden waren im Jahr 1906 über 1000 registriert1), die Teilnahme an (relevanten) kleineren Gesellschaften, im Besuch von Theateraufführungen und Bällen, aber auch in der politischen Mitwirkung in der Kommune statt. Die 1 Vgl. dazu Kolditz, Politische Vereine und Parteien, S.  50 ff.; danach die folgenden Gedanken.

114  Ökonomisches und soziales Kapital Stadt Dresden erleichterte diese Aufgaben insofern, als hier die »gute Gesellschaft« (noch) überschaubar war und die großen eleganten Salons, wie sie etwa in Berlin anzutreffen waren, noch fehlten. Ein Novize wie Stresemann fiel hier nicht sofort (negativ) auf.2 Auch wenn die »Dresdner Neuesten Nachrichten« (DNN) am Ende des Jahres für das Reich insgesamt resümierten, dass der innen- und außenpolitische Verlauf des Jahres »ruhig und wenig bedeutsam« gewesen sei,3 kann man diesem Urteil für Dresden und Sachsen nur bedingt folgen. Dresden erlebte ein ereignisreiches Jahr, das die Residenzstadt, zumindest zeitweilig, aus ihrem scheinbaren Dornröschenschlaf riss.4 Und: Stresemann war schon bald fast überall involviert. Politisch war das Jahr weichenstellend, fanden doch zugleich Kommunal-, Land- und Reichstagswahlen statt. Das bot Anlass zu heftigen Auseinandersetzungen und führte zu hitzigen Diskussionen vor allem über das sächsische Landtags- und das kommunale Dresdner Wahlrecht. 1903 gilt darüber hinaus als Geburtsjahr des »Roten Königreiches«, errangen die Sozialdemokraten am 22. Juni 1903 doch 22 der 23 sächsischen Reichstagsmandate. Seit 1902 stabilisierte sich die allgemeine wirtschaftliche Lage, wovon Sachsen ebenfalls profitierte. Dieser Aufschwung förderte den Aufbau industrieller Verbände. Das war eine große Chance für den jungen Syndikus. Zugleich aber blieb die soziale Frage virulent. Das zeigten die zahlreichen Streiks und Protestaktionen im gesamten Königreich. Der große Streik der Textilarbeiterinnen im sächsischen Crimmitschau (und ihre Aussperrung durch die Unter­nehmer) stellten hier nur die Spitze eines Eisberges dar.5 Auch in Dresden kam es zu Arbeitsniederlegungen und Protestaktionen. Hier konnte und musste Stresemann ebenfalls Stellung beziehen. Und nicht zuletzt bewegte sich das gesellschaftliche und kulturelle Leben. Im Mittelpunkt standen hier die Wechsel im Wettiner Herrscherhaus von Albert, über Georg zu Friedrich August III. und nicht zuletzt der Skandal um die »Flucht« der Prinzessin Luise von Toskana nach Italien. Aber auch große Ausstellungen, wie etwa die erste deutsche Städteausstellung sowie zahlreiche Kongresse und Versammlungen prägten die Stadt. Musik und Theater, Literatur und Malerei (»Die Brücke«), Reformbewegungen in Architektur und im Hygie2 Dass dies nicht immer gelang, belegt das Urteil des Freiherrn von Würzburg im Kontext der Auseinandersetzungen im Flottenverein, der Stresemann 1907 als einen »schlecht erzogenen, manierenlosen Mann« bezeichnet hatte. (Zitat nach T. Wagner, S. 59). 3 Dresdner Neueste Nachrichten (DNN), Nr. 1, 1.1.1904. 4 Wolf Graf von Baudissin karikierte im Vorwort zu seinem lustigen Vademecum »Dresden und die Dresdner« aus dem Jahr 1907 die Stadt als ein verträumtes und verschlafenes »Dresden-Dornröschen«, das auf keinen Fall mit den anderen deutschen oder gar europäischen Großstädten zu vergleichen sei. (Schlicht (= Wolf Graf von Baudissin), S. 1–17. 5 Zum Streik in Crimmitschau vgl. nur Lassotta u. a. und Crimmitschau 1903–1928.

Stresemann und Dresden im Jahre 1903 

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newesen, aber auch in Bildung und Wissenschaft kennzeichneten das Jahr.6 Überall war das Engagement eines guten Bürgers gefordert – und fast überall konnte sich der junge Stresemann einbringen. Zur Politik Politik in der Kommune Dresden

Der Beginn des 20.  Jahrhunderts war in Dresden, wie überall im Deutschen Reich, durch einen gewaltigen kommunalen Transformationsprozess geprägt.7 Dazu gehörte ein deutlicher Bevölkerungszuwachs: Neun Vororte wurden eingemeindet, wodurch die Bevölkerung der Stadt binnen Kurzem um fast 20 Prozent auf knapp 500.000 Einwohner stieg. Das hatte einen erheblichen Einfluss auf den Wohnungsmarkt, die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung sowie auf die Wirtschaftskraft der Kommune. Vor allem aber wurde dadurch die politische Bedeutung der Sozialdemokratie erhöht. Politisch bestimmten bis zur Jahrhundertwende, wie fast überall im Reich, nicht Parteien, sondern Bürger- und Bezirksvereine die »Kommunalpolitik«. Sie dominierten die Wahl der Stadtverordneten.8 In Dresden hatte der antisemitische Hausbesitzerverein, der etwa 4.000 Mitglieder zählte, das Sagen, eine für das Deutsche Reich eher ungewöhnliche Konstellation. Er bestimmte, in Kooperation mit den Konservativen und verschiedenen Bürgervereinen, eine die Interessen der selbständigen Handwerksmeister bevorzugende Politik. Oberbürgermeister Beutler, ein Konservativer, kooperierte eng mit ihnen und den Konservativen und bemühte sich zugleich, die Sozialdemokraten von der kommunalen Macht fern zu halten. Die Liberalen spielten, anders als sonst im Deutschen Reich, kaum eine Rolle.9 Zwei Faktoren bedrohten jedoch das scheinbar stabile Machtgefüge. Zum einen war es der Ansturm der Sozialdemokratie, die gestärkt durch ihre Wahlerfolge bei den Reichstagswahlen und motiviert durch die neuen Mitglieder aus den eingemeindeten Stadtteilen, erstmalig zu den Kommunalwahlen antrat und nach wenigen Jahren, trotz des sie stark benachteiligenden Wahlrechtes, re­üssierte. Zum anderen war es der Aufstieg der »neuen« Nationalliberalen, der politische Zeichen setzte und die alten politischen Hierarchien ins Wanken brachte. Hieran war Gustav Stresemann bereits maßgeblich beteiligt. 6 Moser. 7 Vgl. dazu ganz allgemein Lehnert, Sozialliberalismus in Europa. Zu Dresden: Starke, Dresden im Kaiserreich; Starke, Stadtgefüge und Pohl, Nationalliberalismus und Kommunalpolitik. 8 Ein reformerisch-konservativer Wahlaufruf aus dem Jahre 1904 wurde beispielsweise von nahezu 50 Vereinen verschiedener Färbung unterstützt (DNN, 16.11.1904, Nr. 113, S. 13). 9 Vgl. dazu Pohl, Kommunen, Liberalismus und Wahlrechtsfragen.

116  Ökonomisches und soziales Kapital Zugleich vollzog sich ein Wechsel in der politischen Kultur. Entgegen den alten kommunalen Traditionen einer städtischen »Sachpolitik«, die sich bis dahin als unpolitisch verstand und praktisch keinen kommunalen Wahlkampf kannte, wurde im Jahr 1903 erstmals Kommunalpolitik betrieben.10 Es gab »eine äußerst scharfe und regsame Agitation« und eine hohe Wahlbeteiligung.11 Der Preußische Gesandte im Königreich Sachsen berichtete überrascht nach Berlin, dass die »herrschende antisemitische Reformpartei mit ihrer Basis im Kleinbürgertum […] [nun] von zwei Seiten stark bedrängt werde: einerseits vom ›Handelsjudentum und den Großbazaren‹ (gemeint waren die National­ liberalen) und andererseits von den ›sozialdemokratischen Konsumvereinen‹«.12 So etwas hatten der Gesandte, aber auch die Honoratioren der Stadt, noch nicht erlebt. Die reformerische Mehrheit im Dresdner Stadtparlament erkannte die Gefahr zwar rechtzeitig und reagierte augenblicklich mit einer Veränderung des Wahlrechtes. Damit gelang es jedoch nur sehr partiell, die »sozialdemokratische Gefahr« zu bannen, wie der Bayerische Gesandte Montgelas bemerkte: »Diese Rechnung ist nicht aufgegangen. Oberbürgermeister Beutler, der im Dresdner Rathaus ebenso selbstherrlich schaltet wie Hofrath Mehnert [konservativ] in der II. Kammer des Ständehauses, steht vor einem großen Mißerfolg, seine getreue Mehrheit vor dem Ende ihrer Herrlichkeit.«13 Trotz der Wahlrechts­ verschlechterung zogen 1906 erstmals sechs Sozialdemokraten in das Stadtverordnetengremium ein. Zur gleichen Zeit begann auch der liberale Sturm auf das Rathaus.14 Ziel der Natio­nalliberalen, die im Jahre 1903 ihre erste politische Garnitur aufboten (u. a. Gustav Stresemann, Paul Wilhelm Vogel und Rudolf Heinze), war es, diejenigen Kreise der Stadt, »die durch ihren Bildungsgang und ihre Stellung besonders berufen sind, der Stadt tüchtige Verwalter und Berater zu sein [also sie und ihre Anhänger], verstärkt in die kommunalen Entscheidungsgremien zu bringen. […] Es [sei] ein schwerer Schaden nicht nur für die Dresdner Bürger, sondern weiter für ganz Deutschland, wenn in einer deutschen Großstadt wie Dresden der gesunde Fortschritt gehemmt und statt des sozialen Friedens die

10 1914 triumphierten, ganz unliberal, die »Sächsischen Nationalen Blätter« (10.1.1914, Nr. 2): »Dresden hat den Vorzug eines politisierten Stadtparlamentes. Selbst jene Kreise erblicken darin neuerdings einen Vorzug, die früher von solcher Politisierung nichts wissen wollten.« 11 Wahlaufruf der Bezirks/Bürgervereine 1904, in: Dresdner-Stadtverordneten-Wahlen 1875–1917, 3 Bde., Stadtarchiv Dresden. 12 Manuskript eines unveröffentlichten Vortrages von Holger Starke in Dresden (o. J.), den mir der Verfasser dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt hat. Zitat, dort, S. 2. 13 Bericht des Bayerischen Gesandten Montgelas, 2.12.1905, HStA München, MA 98679. 14 Vgl. dazu auch Starke, Dresden im Kaiserreich, S. 199 ff.

Stresemann und Dresden im Jahre 1903 

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rücksichtslose Alleinherrschaft einer wirtschaftlichen Partei, der Reformpartei, begründet« würde.15 In die Kommunalpolitik Dresdens kam also Bewegung, und Gustav Stresemann, der 1906 selber in die Stadtverordnetenversammlung einzog, war dabei bereits ein wichtiger Akteur. Er profilierte sich damit als wahrer Liberaler, der vor Ort als Bürger seinen politischen Pflichten genügte. Damit war er nicht nur kommunalpolitisch in Dresden angekommen, mehrte sein soziales und poli­ tisches Kapital, sondern er begann auch, zusammen mit seinen politischen und wirtschaftlichen Freunden eine Veränderung der politischen Verhältnisse in der Stadt einzuleiten. Setzte sich die Versammlung der Stadtverordneten im Jahre 1905 noch aus 36 Reformern (Antisemiten), 20 Konservativen, aber nur drei Nationalliberalen, einigen Unabhängigen und noch keinem Sozialdemokraten zusammen, so saßen im Jahre 1909 dem Block der 20 Konservativen, sieben Hausbesitzer und 13 Reformer (Antisemiten) bereits 27 Liberale aller Schattierungen und 15 Sozialdemokraten gegenüber.16 Die Saat des liberalen Flügels um Stresemann (und der Sozialdemokraten) war also binnen kurzem aufgegangen. Sozialpolitik in Dresden: Das Beispiel Wohnungspolitik

Der Kampf um einen Kurswechsel in Dresden, der auf politischer Ebene zwischen Reformpartei und Liberalen/Sozialdemokraten u. a. um eine »soziale Öffnung« und eine (gemäßigte) Partizipation der Sozialdemokratie tobte, setze sich auf sozioökonomischer Ebene fort. Beispielhaft dafür können die Auseinandersetzungen zwischen den Haus- und Grundbesitzern auf der einen und den Mietern auf der anderen Seite stehen, und zwar mit den gleichen Kombattanten. Auf der einen Seite also Liberale (und Sozialdemokraten) auf der anderen Seite Konservative und Reformer, deren Hauptwahlklientel die Hausbesitzer stellten.17 Seit der Jahrhundertwende verzeichnete, ähnlich wie die Liberalen und die Sozialdemokraten, die Interessenvertretung der Mieter, der Dresdner Miet­ bewohner-Verein, ebenfalls einen beträchtlichen Zulauf, und zwar nicht nur aus bürgerlichen, sondern auch aus sozialdemokratischen Kreisen.18 Der Verein (1908 etwa 5.300 Mitglieder) verurteilte vor allem die Steuerpolitik des Rates, 15 Aufruf der Nationalliberalen Partei, o. O., o. J. Stadtarchiv Dresden, PA Alldeutscher Verband, Bd. 26, S. 291. Davon, dass allein drei Syndizi des VSI zur Wahl antraten, wurde allerdings nichts erwähnt. 16 Nationalliberales Vereinsblatt, 4. Jg. 1909, Nr. 124, 15.12.1909, S. 243 und Sächsische Nationale Blätter, 1. Jg. 1910, Nr. 16, 15.1.1910, S. 365. Vgl. Starke, Dresden im Kaiserreich, S. 205. 17 Vgl. hierzu Starke, Dresden im Kaiserreich, S. 195. 18 Vgl. Dresdner Bürgerzeitung [Organ der Dresdener Hausbesitzer], Jg. 25 (1902), Nr. 12, 19.3.1902.

118  Ökonomisches und soziales Kapital die die Hausbesitzer massiv bevorteilte.19 In den letzten Jahren waren z. B. die Grundabgaben drastisch gesenkt, zugleich aber, um den städtischen Etat auszubalancieren, die Abgaben auf eingeführte Lebensmittel deutlich erhöht worden, was die Unterschichten besonders hart traf.20 Aufgrund dieser einseitigen Interessenpolitik war die Verabschiedung von Bebauungsplänen immer wieder ver- und die Stadtentwicklung behindert worden. Dem wollte der Mietbewohner-Verein entgegenwirken, indem er u. a. eine Mietzinsherabsetzung, eine Revidierung unfairer Mietverträge sowie eine generelle Stabilisierung der Mieten einklagte.21 Ähnliche Zielsetzungen verfolgte der »Verein Reichs-Wohnungsgesetz«, der sich 1904 in »Deutscher Verein für Wohnungsreform« umbenannte, reichsweit agierte und in Dresden viele Anhänger besaß.22 Er forderte ebenfalls eine Reform des Wohnungsbaus. Die Ziele beider Vereine stellten für die Hausbesitzer jedoch nicht das einzige Ärgernis dar. Genauso schlimm empfanden sie es, dass Sozialdemokraten und Bürger dort gleichberechtigt zusammenarbeiteten23 (Stresemann war als »einfaches« Mitglied eingeschrieben)24 und dass dem Vorstand dieses »gemischten« Vereins neben Beamten und Lehrern die führenden Nationalliberalen Heinze, Greiert und Schulze angehörten. Auf den Kommunalwahllisten standen zudem Vertreter des Mietbewohner-Vereins (später einschließlich von Sozialdemo­ kraten) und der Nationalliberalen, wobei es beiden sogar gelang, den bis dahin unumschränkt herrschenden Vertreter der Hausbesitzer, Hartwig, aus der gemeinsamen Liste zu verdrängen.25 In diesem Verhalten sahen die Dresdner Reformer einen Bruch im Kampf gegen den Sozialismus und eine Aufkündigung des Konzeptes einer staatstreuen »Bürgergesellschaft«, wie es bisher gemeinsam bestanden hatte: Die Unterscheidung zwischen »Reichsfreunden« und »Reichsfeinden« schien sich damit in ihren Augen zu verflüssigen. Dass die Nationalliberalen im Mietbewohner-Verein ganz andere Ziele verfolgten als die Sozialdemokraten, interessierte sie wenig. Für die National­ 19 Vgl. hierzu Kolditz, Politische Vereine und Parteien, S. 56. 20 Starke, Vortragspapier, S, 1; danach auch die folgenden Gedanken. 21 Mitteilungen des Allgemeinen Mietbewohnervereins 1901, zit. Nach: Dresdner Bürgerzeitung, Jg. 24, 1901, Nr. 20, S. 208. Vgl. das Programm des Allgemeinen Mietbewohnervereins, in: DNN, Nr. 60, 8.11.1893, S. 6. 22 Unterlagen hierzu in: Sächsische Landesbibliothek, Bericht des Vereins Reichs-Wohnungsgesetz, Frankfurt 1903 und Bericht des Deutschen Vereins für Wohnungsreform, Frankfurt, Jg. 1904–1906, 1908–1910. 23 Vgl. dazu Dresdner Bürgerzeitung, Jg. 25, (1902), Nr. 22, 28.5.1902, S. 332: »Für mich und für jeden gerade denkenden, staats-u und königstreuen Mann gilt es als eine Schande, mit Sozialdemokraten derart [wie Heinze] zu verkehren« [Hervorhebung im Original]. 24 Dresdner Bürgerzeitung, Jg. 26 (1903), Nr. 19, 6.5.1903, S. 286; danach auch das folgende Zitat. 25 Dresdner Bürgerzeitung, Jg. 24 (1901), Nr. 45, 6.11.1901, S. 522 f.

Stresemann und Dresden im Jahre 1903 

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liberalen war die »Schaffung gesunder und billiger Kleinwohnungen auf genossenschaftlichem Wege […] [nämlich] besonders geeignet, Gegensätze auszugleichen, sowie Zufriedenheit und häusliches Behagen in die weitesten Kreise zu tragen«26 – kurzum, es ging ihnen in erster Linie um eine Pazifizierung der Arbeiterschaft und nicht um ihre gleichberechtigte Teilhabe. Trotzdem wurden aber Ansätze einer Kooperation sichtbar. Es zeigten sich erste Möglichkeiten, den scheinbar unüberbrückbaren Graben zwischen »links« und »rechts« zu überwinden. Daran änderten selbst die scharfen antirevisionistischen Resolutionen des Dresdner Parteitages der SPD aus dem gleichen Jahr wenig. Kommunalpolitik und politische Ideologie auf Reichsebene waren offensichtlich verschiedene Dinge. Allein dieser Hauch von Annäherung (eine Politik die Stresemann die nächsten 25 Jahre intensiv verfolgte) machte die National­ liberalen in den Augen der Reformpartei jedoch schon verdächtig und verschärfte die Gegensätze innerhalb der Dresdner Kommune.27 Von politisch ruhigen Zeiten in der Stadt konnte also keine Rede sein. Zur ökonomischen und sozialen Situation

Die Entspannung der Wirtschaftslage in Sachsen schlug im Laufe des Jahres 1903 auch auf Dresden durch.28 Die Bauindustrie kam wieder in Schwung, was allerdings den Mangel an bezahlbarem Wohnraum kaum beseitigte, da der Boom vor allem auf privaten Bauspekulationen beruhte.29 Dies war ein weiterer Grund für den starken Zulauf beim Mietbewohner-Verein. Bei den Aktiengesellschaften und der Großindustrie zeigte sich ebenfalls ein Aufschwung. 1903 entstand die »Sachsenwerk« Licht- und Kraft AG (1,5 Millionen Mark Aktienkapital), wobei das Bankhaus Gebrüder Arnhold maßgeblich beteiligt 26 Kommerzienrat Marwitz (Dresden), Wie stellen sich die sächsischen Industriellen zur Arbeiterwohnungsfrage?, in: Sächsische Industrie Jg. 9 (1912/13), Nr.  1, S.  5. Vgl. das Schreiben des VSI an den Rat der Stadt, 13.2.1911, Stadtarchiv Dresden, Stadtverordneten Kanzlei, B 115. 27 1910 berichteten die »Sächsischen Nationalen Blätter« (nationalliberal) über diese Tendenzen folgendermaßen (Nr. 16, 1. Jg. 15.1.1910, S. 366) »Wohl liegen zwischen liberalen und sozialdemokratischen Anschauungen eine tiefe, breite Kluft, aber es wird heute von keinem Einsichtsvollen mehr die Richtigkeit des Grundsatzes bestritten, dass die parlamentarischen Körperschaften ihre sozialdemokratischen Mitglieder zur Arbeit heranziehen, dass sie ihnen die Möglichkeit bieten sollen, ihre Mandate in vollem Umfange auszunützen. Auf diesem Standpunkt der Gerechtigkeit und der Vernunft hat sich auch die liberale Gruppe unseres Stadtverordnetenkollegiums in anerkennenswerter Weise einmütig gestellt […]«. 28 Bericht der Handelskammer Dresden über das Jahr 1903, II. Teil: Berichte über die Lage der einzelnen Zweige von Handel und Gewerbe, Dresden 1904, S. 1. 29 Vgl. dazu auch: Dresdens Entwicklung in den Jahren 1903 bis 1909. Festschrift des Rates der Königlichen Haupt- und Residenzstadt zur Einweihung des neuen Rathauses am 1. Oktober 1910, Dresden 1910, S. 50 ff.

120  Ökonomisches und soziales Kapital war.30 Nutznießer dieser Aktion wurde zwar noch nicht im Jahre 1903, aber bereits wenige Zeit später auch Gustav Stresemann, der als Aufsichtsrat und Aktionär der Sachsenwerke von diesem Erfolg finanziell erheblich profitieren sollte. Im Kontext des wirtschaftlichen Aufschwungs sind auch die zahlreichen (32) Streikbewegungen und Aussperrungen (drei) zu sehen.31 Dem Streik der Bauarbeiter begegneten die Arbeitgeber durch mehrfache Aussperrungen, wodurch die Konflikte im Sommer schließlich soweit eskalierten, dass es in der bis dahin eher ruhigen Stadt zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Streikenden kam.32 Dabei zeigten sich zwei Entwicklungen, die den jungen Stresemann maßgeblich beeinflussten. Zum einen, dass die in den Freien Gewerkschaften organisierten Arbeiter bereit und stark genug waren, den Arbeitskampf offensiv aufzunehmen. Zum anderen, dass sie sich zugleich willens zeigten, die Auseinandersetzungen durch kommunale Schlichtungen zu beenden. Die große Bewegung der Crimmitschauer Textilarbeiterinnen, die ihren Anfang am 2. August 1903 nahm und in deren Verlauf es zur Aussperrung der rund 7.600  Textil­ arbeiterinnen kam, bestärkte beide Seiten in dem Bemühen, zukünftig statt Streik und Aussperrung möglichst die Verhandlungsebene zu wählen. Dies­ bezügliche Versuche des Nationalliberalen Victor Böhmert scheiterten zu Beginn des Jahrhunderts allerdings noch.33 Auch aus diesem Grunde versuchten die Nationalliberalen daher, mehr und mehr sozialliberale Elemente – gegen den Willen der Reformer – in die städtische Politik einzubringen und ökonomische Konflikte wenn möglich unterhalb der Ebene von Streik und Aussperrung zu regeln. Ein Beispiel dafür war der Versuch des Stadtverordneten Heinze (nationalliberal) für die städtischen Arbeiter einen Mindestlohn einzuführen, um deren Not zu lindern und zugleich den Einfluss der Organisationen der sozialistischen Arbeiterbewegung zu reduzieren. Damit folgten die Dresdner Nationalliberalen dem allgemeinen Trend des deutschen kommunalen Liberalismus.34 In diesem Kontext ist auch die Sozialpolitik des »Vereins gegen Armennoth und Bettelei« zu sehen. Dieses Kind des Nationalliberalen Victor Böhmert beruhte auf den Grundsätzen des »Elberfelder Systems« der Sozialhilfe.35 Die Hilfe 30 Vgl. DNN, Nr. 8., 8.1.1903 und ebd., Nr. 27, 28.1.1903. 31 Statistisches Jahrbuch Dresden für das Jahr 1903, S. 161. 32 Vgl. dazu DNN Nr. 73, 14.3.1903 und ebd., Nr. 92, 2.4.1903. 33 In diesem Kontext ist auch die Gründung der Streikschutzgesellschaft des VSI zu verorten, bei der Stresemann eine entscheidende Rolle spielte. Vgl. das Unterkapitel »Der Sozialpolitiker« 34 DNN, Nr. 3, 3.1.1903, Beilage: »Die neue Dresdner Arbeiterordnung«. Vgl. dazu u. a. Pohl, »Einig«. 35 Zum Elberfelder System Reulecke, Geschichte der Urbanisierung und ders., Die Stadt als Dienstleistungszentrum.

Stresemann und Dresden im Jahre 1903 

121

wurde hier so interpretiert, dass »Arbeitsfähige nicht mehr alimentiert [wurden], sondern Hilfe zur Selbsthilfe erhielten«.36 Auch auf diese Weise sollten beide Ziele nationalliberaler Sozialpolitik verwirklicht werden, einerseits soziale Hilfe individuell gegen Leistung zu vergeben und andererseits die Arbeiter gegen die Sozialdemokratie zu immunisieren und damit kollektive Vereinigungen un­ nötig zu machen. Ähnliche Ziele verfolgte der 1888 (ebenfalls von Böhmert) gegründete Verein »Volkswohl«, eine Dresdener Besonderheit.37 Sein Ziel war es, eine »klassenlose« Gesellschaft, eine (bürgerliche) Volksgemeinschaft zu befördern. Die Mitglieder sollten »für das Wohl ihrer Nebenmenschen überhaupt, ohne Unterschied des Berufes, Geschlechtes, Standes und Alters, oder der konfessionellen, politischen und nationalen Richtung« sorgen.38 Etwa zwei Drittel der Mitglieder des Vereins (etwa 4.000) waren Arbeiter oder finanziell Minderbemittelte, ein Drittel stammte aus dem Bürgertum.39 Sozialintegrative Einrichtungen wurden also von den Arbeitern durchaus angenommen, trotz der Dominanz der sozialistischen Arbeiterbewegung. Betriebliche Sozialpolitik in Dresden: Die Beispiele Arnhold und Ernemann

Vielen Dresdner Arbeitgebern, wie etwa den Gebrüdern Arnhold oder Ernemann, reichten diese Bemühungen jedoch nicht aus. Sie suchten »ihre« Angestellten, Privatbeamten und Arbeiter durch zusätzliche Sozialmaßnahmen materiell zu fördern und zugleich an die eigenen Betriebe zu binden. Auch auf diese Weise sollten sie gegen das Wirken der Freien Gewerkschaften und der Sozialdemokratie immunisiert werden. Zugehen auf die Mitarbeiter (zur Not auf ihre Organisationen) auf der einen Seite, vor allem aber Kampf gegen die Freien Gewerkschaften auf der anderen Seite, das waren die Mittel, die sich im Jahr 1903 in Dresden als wichtige Elemente eines »sozialen Friedens« herauskristallisierten. In diesem Klima machte Stresemann wichtige sozialpolitische Erfahrungen, die er sehr bald (nicht nur) in die Politik der sächsischen Nationalliberalen einbrachte. Das Bankhaus Gebr. Arnhold40 hatte sich um die Jahrhundertwende zur bedeutendsten Privatbank in Dresden entwickelt »und war bis 1914 sogar die größte private Bank in Sachsen«.41 Parallel zur ökonomischen Entwicklung ent36 Kranich, Victor Böhmert, S. 111; danach die folgenden Gedanken. 37 Entstehung und Entwickelung des Vereins Volkswohl von 1888–1900, Dresden, o. J. Stadtarchiv Dresden. Der Verein hatte im Jahr 1900 bereits 6.207 Mitglieder und nahm fast 20.000 Mark an Mitgliedsbeiträgen ein. 38 Ebd., S. 1; danach auch das folgende Zitat. 39 Ebd., S. 4. 40 Vgl. Lässig, Zwischen Markt und Kultur?; Dieselbe: Kultur und Kommerz und Dieselbe: Jüdische Privatbanken in Dresden. Ferner: I. Köhler. 41 Simmich, S. 24; danach auch die folgenden Gedanken.

122  Ökonomisches und soziales Kapital warfen die Brüder eine soziale Konzeption, mit deren Hilfe sie ihre Mitarbeiter in den Betrieb einbinden wollten, den im Jahr 1901 gegründeten Pensions­ verein. Er bot den Mitarbeitern relativ hohe Betriebsrenten, allerdings gebunden an Wohlverhalten und langjährige Bindung an die Firma. »Die Arnolds verknüpften die patriarchalische Fürsorge des liberalen vermögenden Wirtschaftsbürgertums mit den modernen Bismarck’schen Sozialprinzipien, um die Versorgungslücke der Angestellten zu schließen.«42 Ein solches Prinzip funktionierte umso besser, als es in dem Arnhold’schen Familienbetrieb kaum Arbeiter gab, relativ hohe Löhne gezahlt und damit die Agitation der Sozialdemokraten erschwert wurde. Angesichts der Zugkraft ihres Modells gelang es rasch, weitere Firmen für den Beitritt zur Versicherung zu gewinnen.43 Vor allem trat der Verband Sächsischer Industrieller (VSI) in Dresden der Arnhold’schen Versicherung bei. Offensichtlich bestärkte Stresemann der Kontakt zu den Bankiers, reichsweit eine besondere Versicherung für Privatbeamte anzustreben.44 Wäre dieses Vorhaben gescheitert, so hätte Stresemann den VSI wahrscheinlich komplett in den Arnhold’schen Pensionsverein überführt. Auch das soziale Modell der Firma Ernemann hatte großen Einfluss auf Stresemann.45 Zum einen fällt dort die Fülle von Wohlfahrtseinrichtungen auf.46 Neben einer Kantine, die subventioniertes Essen für alle abgab, erhielt jeder Arbeiter, der ununterbrochen in der Fabrik tätig war, eine Prämie, nach fünf Jahren drei Tage Sommerurlaub (und nach weiteren Jahren entsprechend weitere Tage), und wurde zugleich der Segnungen der »Heinrich-Ernemann-Stiftung« teilhaftig. Allerdings konnte er diese nur dann genießen, wenn er nicht an einem Streik teilgenommen hatte. Ähnliche Restriktionen galten für die Mitgliedschaft im »Spar- und Unterstützungsverein«, der sich als nationaler Arbeiterverein verstand und Sozialdemokraten und Freigewerkschafter von vornherein ausschloss.47 Hier verzinste die Firma Ernemann eingezahlte Gelder ihrer Arbeiter überdurchschnittlich hoch (im Jahre 1911 mit 5 Prozent), mit dem Ziel, die bürgerlichen Tugenden der Arbeiter zu stärken, die Verbindung zur Firma so gut wie unauflösbar zu machen und die Arbeiter gegen die Sozialdemokraten zu immunisieren. Zum anderen entwickelte die Firma Ernemann seit der Jahrhundertwende das Modell einer Mitbeteiligung der Beamten und Arbeiter am Gewinn der 42 Ebd., S. 26. 43 Dazu gehörten u. a. Frankfurter Bürgerbräu, Schloßbrauerei Kiel, Bautzener Tuchfabrik und Automat AG , später Hartwig & Vogel. 44 Vgl. dazu diese Arbeit, »Der Sozialpolitiker«. 45 Lindner; Starke, Bilderbuchkarrieren?, S. 20. Starke streift den Sozialpolitiker Ernemann allerdings nur am Rande. Vgl. dazu ders., Heinrich Ernemann. 46 Vgl. hierzu Böhmert; danach die folgenden Gedanken. 47 Paragraf 4 der Satzungen, ebd., S. 304

Stresemann und Dresden im Jahre 1903 

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Firma, ein Engagement, für das im Jahr 1912 immerhin 50.000 Mark ausgesetzt wurden. Allerdings behielt sie sich vor, »demjenigen, der für unsere Bestrebungen nicht das erwartete Interesse oder Verständnis zeigt, den eventuell zugedachten Gewinnanteil einstweilen zurückzustellen oder den Interesse­losen in eine niedrigere Gewinnbeteiligungsklasse zu stellen oder ihn von der Gewinnbeteiligung auszuschließen«.48 Kulturelles und geselliges Vereinsleben Das kulturelle und gesellige Vereinsleben war dem jungen Stresemann am wenigsten vertraut. Hier kam es nicht nur auf Willensstärke, Fleiß und Klugheit an, sondern es waren zusätzlich besondere Fähigkeiten notwendig, um »die feinen Unterschiede« (Bourdieu) zu erkennen und mit ihnen souverän umzugehen. Erst die Beherrschung dieses kulturellen Feldes aber, also der entsprechende Habitus, machte aus einem Mitglied der Mittelschicht einen »Bürger«. Daher wurde Stresemann hier besonders gefordert, zeigte sich aber sehr aktiv und lernfähig. Seine gezielten Aktivitäten, über das Vereinsleben in den »inneren Zirkel« der Stadt einzudringen, stellen geradezu ein Musterbeispiel für den Erwerb politischen, sozialen und vor allem kulturellen Kapitals dar. Sie vermitteln zugleich, wie bürgerliches Leben im Dresden des Jahres 1903 funktionierte und organisiert war. Das Beispiel Musik

Dresden war um die Jahrhundertwende eine Stadt mit reichem kulturellem Leben.49 In der Musik, die für Stresemann eine besondere Rolle spielen sollte, dominierte die Hofoper unter ihrem Generalmusikdirektor Ernst Edler von Schuch, der zu den berühmtesten Dirigenten seiner Zeit gehörte – und es dominierte Richard Wagner. Mindestens einmal in der Woche wurden Opern von ihm, dem ehemaligen Revolutionär und Bürger der Stadt, aufgeführt, eine Musik, die Stresemann im Übrigen weder 1903 noch später besonders liebte. Das zweite Musikzentrum war die Dresdner Philharmonie, das Gewerbehausorchester. Das Programm dort bestand vor allem aus den Klassikern der deutschen Musik, aus Mozart, Brahms, Beethoven und in dieser Tradition stehenden neuen, heute fast vergessenen Komponisten. Chöre und Musikvereine (um die Jahrhundertwende mehr als fünfzig) spielten in Dresden ebenfalls eine große Rolle. Die »Dresdner Liedertafel«, 1839 gegründet, mit ständigem Sitz ebenfalls im Gewerbehaus »zählte zu den bedeu48 Ebd., S. 302 f. Erklärung der Direktion der Ernemannwerke aus dem Jahre 1913. 49 Christmann und John; danach die folgenden Gedanken.

124  Ökonomisches und soziales Kapital tendsten Männerchören Sachsens«50. Außer Laien sangen hier ebenfalls viele namhafte Opernsänger. Die Liedertafel war insofern ein besonders geeigneter Ort, an dem ein Dresdner Bürger nicht nur Interesse für Musik bekunden, sondern, bei einiger musikalischer Begabung, diese auch aktiv (mit-)gestalten konnte. Der »singende« Bürger konnte, so Dietmar Klenke, für eine bürgerliche Existenz einen wichtigen Faktor darstellen.51 Die darin liegende Chance erkannte Stresemann und ergriff sie sofort. Er wusste offenbar instinktiv, dass sich hier eine exzellente Einstiegsmöglichkeit in die Dresdner bürgerliche Gesellschaft bot. Schon kurz nach seiner Ankunft in Dresden, wurde er daher Mitglied in der »Dresdner Liedertafel«. An diesem Beispiel lässt sich zugleich verdeutlichen, dass Stresemann zwar am Singen interessiert war und gern und mit viel Gefühl sang, diese Mitgliedschaft aber ebenfalls dafür instrumentalisierte, sich als kulturell aktiver Bürger präsentieren zu können – und zwar bis an sein Lebensende. Denn: Aus den wenigen in seinem Nachlass überlieferten Erinnerungen an die frühe Dresdner Zeit, aber auch aus den Ehrungen, die Stresemann von der »Dresdner Liedertafel« noch in den 1920er Jahren erhielt, scheint eine enge und lang andauernde, hoch emotionale Verbundenheit zur »Dresdner Liedertafel« hervorzugehen. Weil Stresemann es für eine Grundausstattung eines deutschen Bürgers hielt, Mitglied in einem Gesangsverein zu sein, hat er sein Engagement besonders betont. Hier, im Gesangsverein, erscheint er in den (meist von ihm selber) überlieferten Quellen als ein Mann, der als zweiter Tenor zufrieden war, in der Gemeinschaft Gleichgesinnter, einer Art verkleinerter »Volksgemeinschaft«, eine eher bescheidene Rolle zu spielen. Hier fühlte er sich offenbar besonders wohl, schien ein ständiger Gast gewesen zu sein.52 Das bestärkt das Bild von einem gefühlvollen Menschen, der sich besonders im Kreis des klein- und mittleren Bürgertums (wo allerdings auch der Ober­ bürgermeister zu Gast war) im gemeinsamen Gesang zu Hause fühlte, ein Kreis, in dem man eher Bier als Sekt trank. Analysiert man die soziale Schichtung der Liedertafel, kann man erkennen, dass sich das Bürgertum dort in der Tat ein Stelldichein gab. Die Mitglieder­ listen zeigen zudem, dass Künstler und Intellektuelle überproportional stark vertreten waren. Hier schien Stresemann am richtigen Ort zu sein.53

50 Ebd., S. 139. 51 Vgl. dazu Klenke. 52 Vgl. dazu BZ am Mittag, 10.1.1927: »Stresemann über Deutschlands geistige Wiedergeburt. Der 2. Tenor über das deutsche Lied«. 53 Diese und alle anderen Tabellen sind nach dem »Schüren-Modell« erstellt. Das Modell arbeitet auf der Basis von Berufsbezeichnungen und hat sich im Bielefelder SFB 177 »Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums im internationalen Vergleich«, der von 1985–1997 gefördert wurde, bestens bewährt.

Stresemann und Dresden im Jahre 1903 

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Verteilung auf die Klassen 1 2

Klassen

3 4 5 6 7 8 0

50

100

150

200

250

300

Anzahl der Mitglieder in der jeweiligen Klasse 1 = untere Unterschicht 2 = mittlere Unterschicht 3 = obere Unterschicht

4 = untere Mittelschicht 5 = obere Mittelschicht 6 = Oberschicht

7= Beruf unbekannt 8 = Hausbesitzer ohne Berufsangaben

Grafik 1: Soziale Schichtung der Liedertafel auf der Basis der Mitgliederlisten seit 1902

Durch die im Stresemann-Nachlass überlieferten Quellen wird ferner suggeriert, dass es dem Vielbeschäftigten ein tiefes Bedürfnis war, dort gern, intensiv und vor allem häufig zu singen und dabei zugleich in diese kameradschaftliche Atmosphäre einzutauchen. Der Nachlass vermittelt den Eindruck, dass Stresemann diese bürgerliche Sozialisierungsinstitution seit der Jahrhundertwende in aller Intensität und mit großem persönlichem Engagement durchlief, und dass er der Nachwelt davon auch Kenntnis geben wollte. Dazu passt, dass er im Jahre 1927, anlässlich seiner 25-jährigen Zugehörigkeit zur »Dresdner Liedertafel«, zu deren Ehrenmitglied ernannt wurde. Die Tatsachen sprechen jedoch eine ganz andere Sprache. Zum einen ist definitiv nachweisbar, dass der junge Syndikus in seiner Dresdner Zeit, wie später auch, kaum Zeit für solche Aktivitäten hatte; er war schließlich wegen seiner rastlosen Tätigkeit sogar nur seltener »Gast« in seiner eigenen Familie. Zum anderen berichtet sein Neffe Miethke schon über frühzeitige sehr enge Kontakte Bei der Codierung der Berufsbezeichnungen in acht Kategorien wird die soziale Schichtung bereits berücksichtigt. Ein dreistelliger Code wird jeder einzelnen Berufsbezeichnung zugeordnet, wobei die erste Zahl die Schichtzugehörigkeit, die zweite die Stellung im Beruf und die dritte der Wirtschaftssektor bzw. das Arbeitsmilieu angibt. Dieses Modell hat gerade bei der Schichtung städtischer Gesellschaften seine Vorzüge bewiesen. Vgl. dazu Schüren.

126  Ökonomisches und soziales Kapital zum Intendanten des Schauspielhauses und der Oper, Graf Seebach, wo Stresemann sehr häufig in der ihm vom »Odol-König« Lingner zur Verfügung gestellten Loge gesessen haben soll, anstatt aktiv in der Liedertafel mitzuwirken. Konkret lässt sich zudem nachweisen, dass Stresemann zwar 1902 Mitglied in der Liedertafel geworden war,54 dort auch ein gutes Jahr als Aktiver geführt wurde, dann aber nur noch als außerordentliches Mitglied firmierte.55 Wahrscheinlich hat er nicht öfter als ein halbes Dutzend Mal aktiv mitgesungen. Davon, dass er später die Liedertafel als Gast besucht hätte, ist ebenfalls nichts überliefert. Die Fakten belegen also eher eine gewünschte und (vielleicht) inszenierte als eine tat­sächliche und aktive Nähe zur »Dresdner Liedertafel«. Der Schulterschluss mit dieser Gruppe diente (wieder einmal) der Selbststilisierung. Das Beispiel nationale Vereine: Der »Alldeutsche Verband«

In der Fülle der Dresdener Vereinslandschaft spielten die nationalen Vereine eine große Rolle.56 Der »Verein für das Deutschtum im Ausland«, der »Deutsche Flottenverein«, der »Deutsche Schulschiffverein« oder der »Alldeutsche Verband« dominierten zeitweise im politischen und gesellschaftlichen Leben der Stadt, auch wenn es sich um nationale Vereinigungen handelte, deren Hauptsitz nicht in Dresden, sondern meist in Berlin lag. Diese Vereine passten gut zum Dresdner Bürgertum (und zu Stresemann). Dieses verortete sich um die Jahrhundertwende vor allem national, vaterlandsund königstreu, sowie politisch eher konservativ, trotz der politischen Bewegung, die nun auch die kommunale Politik erreichte. »In den zwei Jahrzehnten vor Ausbruch des Weltkrieges dominierte im öffentlichen Leben Dresdens ein deutsch-nationales, konservativ-monarchisches Klima.«57 Wer sich als Bürger in der Stadt positionieren wollte, musste daher ebenfalls an dieser Seite des gesellschaftlichen Lebens teilnehmen, wollte er die »richtigen« Leute kennen­ lernen und nicht als »Linker« abgestempelt werden. Mitgliedschaften in verschiedenen nationalen Vereinen waren hierbei sehr hilfreich. Den Zielen des »Deutschen Flottenvereins«, 1898 unter der Schirmherrschaft des Prinzen Heinrich von Preußen gegründet, und mit einer Million Mitgliedern reichsweit einer der zahlenmäßig stärksten Verbände, stimmte Stresemann weitgehend zu.58 Als Lobbyist der exportorientierten verarbeitenden Industrie 54 Erinnerungsblätter, anläßlich des 75 jährigen Bestehens der Dresdner Liedertafel, Dresden 1914. 55 Vgl. dazu Dresdner Liedertafel. Mitgliederverzeichnis, Mai 1904, Dresden o. J., Landesbibliothek Dresden, H. Sax G 939 b. 56 Kolditz, Politische Vereine und Parteien, S. 50 ff.; danach die folgenden Gedanken. Allgemein zum ADV, Hering. 57 Kolditz, Politische Vereine und Parteien, S. 53. 58 Hierzu und zum Folgenden T. Wagner, S. 43 ff.

Stresemann und Dresden im Jahre 1903 

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formulierte er schon 1905 vor der Generalversammlung des VSI das »Interesse der sächsischen Volkswirtschaft an der Verstärkung der deutschen Flotte«. Die zweitgrößte Handelsflotte der Welt sei auf einen solchen Schutz angewiesen, so seine Argumentation. »Deshalb reagierte Stresemann mit Unverständnis auf jene politischen Kräfte, die den forcierten Ausbau der Flotte nicht für notwendig erachteten.«59 Bei den späteren internen Auseinandersetzungen des Vereins wurde er dementsprechend zum Wortführer des rechten Flügels. Jenseits dieses sachlichen Interesses konnte er aber durch diese Aktivitäten enge Kontakte zum königlichen Hof pflegen, kam insofern dem monarchischen Zentrum in Dresden sehr nahe. Es ist daher kein Zufall, dass Stresemann rasch Mitglied im Flottenverein wurde.60 Gleiches Interesse an der Sache und zugleich Gewinn an sozialem Kapital gilt für die 1900 gegründete »Sächsische Vereinigung des Deutschen Schulschiffvereins«, wo Stresemann im Vorstand den Schriftführerposten bekleidete.61 Auch hier war er mit dem Herzen dabei, spendete für den Verein62 und nutzte zugleich, dass es hier erneut einen monarchischen Protektor gab, den Groß­herzog von Oldenburg. Als wichtiger Kristallisationspunkt des rechten Bürgertums entpuppte sich aber vor allem der »Alldeutsche Verband« (ADV), dem der »Konservative Verein«, der »Nationalliberale Reichsverein« und der »Reformverein Dresdens« politisch sehr nahe standen.63 Eine Annäherung war deshalb für einen Neubürger wie Stresemann sehr sinnvoll, obwohl er mit dem ADV nicht alle politischen Ziele, vor allem nicht dessen ausgeprägten Antisemitismus und das Anti-Slawentum, teilte. In seinen nationalistischen Vorstellungen fand sich Stresemann jedoch im Kreise der Alldeutschen lange Zeit gut aufgehoben. Die Bedeutung des Dresdener ADV, der 1903 bereits 500 Mitglieder zählte, wird dadurch illustriert, dass dort zeitweise (1907) vier Reichstagsabgeordnete vertreten waren, darunter Gustav Stresemann. Etliche Landtagsabgeordnete der Ordnungsparteien (Grumbt, Knobloch oder Kretzschmar), sowie die städtische Prominenz (Heinze, May und Oehler, an der Spitze Oberbürgermeister Beutler), aber auch Industrielle wie Karl Lingner oder Paul Wilhelm Vogel, waren lang59 Ebd., S. 45. 60 Das genaue Eintrittsdatum ist nicht bekannt. 1906 wurde Stresemann als Mitglied des Landesausschusses aktenkundig, Jahresbericht Deutscher Flottenverein, Landesverband für das Königreich Sachsen, Dresden, Landesbibliothek Dresden, Hist. Sax. 058. qm. 61 Stadtarchiv Dresden, Hauptkanzlei 2.3.1, 379/07 D. R. Versammlung des deutschen Schulschiffvereins 1907. 62 Stresemann wurde in den Jahren 1910 und 1914 zu denjenigen Personen gezählt, die eine besondere Stiftung getätigt bzw. einen außerordentlichen Beitrag geleistet hatten. 63 Vgl. dazu den Jahresbericht des ADV, 28.2.1905, Stadtarchiv Dresden, Alldeutscher Verband, Bd. 50. Zum Dresdner ADV vgl. Kolditz, Rolle und Wirksamkeit. Siehe auch ders., Ortsgruppe.

128  Ökonomisches und soziales Kapital jährige Mitglieder im ADV.64 Nicht zuletzt wegen dieser gesellschaftlichen Bedeutung war Stresemann dem ADV schon sehr früh beigetreten.65 Der ADV unterstützte durch vielfältige Aktivitäten (Versammlungen, Vorträge, Resolutionen und Aufrufe) eine nationalistische Außenpolitik und versuchte innenpolitisch mit ausländerfeindlichen und antisemitischen Parolen zu überzeugen. Jedes außenpolitische Nachgeben wurde lautstark von ihm kritisiert, jede militärische Drohgebärde unterstützt. Dem stimmte Stresemann in vielem zu. Im Innern galten vor allem Sozialdemokraten, sowie Linksliberale, Katholiken und Juden als Feinde, die der Entwicklung Deutschlands zur Weltmacht entgegenstanden. Analysiert man die Mitgliederlisten des Dresdener ADV stellt sich heraus, dass dort – im Gegensatz zur Liedertafel – vor allem das gehobene Bürgertum dominierte.

Verteilung der Mitglieder auf Klassen 1 2

Klassen

3 4 5 6 7 8 0

50

100

150

200

250

300

350

400

Anzahl der Mitglieder in der jeweiligen Klasse 1 = untere Unterschicht 2 = mittlere Unterschicht 3 = obere Unterschicht

4 = untere Mittelschicht 5 = obere Mittelschicht 6 = Oberschicht

7= Beruf unbekannt 8 = Hausbesitzer ohne Berufsangaben

Grafik 2: Soziale Schichtung des ADV auf der Basis der Mitgliederlisten seit 1903

64 Vgl. Mitgliederverzeichnis des ADV 1905, Stadtarchiv Dresden, Alldeutscher Verband, Bd. 88. 65 Vgl. Mitgliederverzeichnis des ADV 1905, Stadtarchiv Dresden, Alldeutscher Verband, Bd. 88; Stresemann an Hopf, 20.6.1905.

Stresemann und Dresden im Jahre 1903 

129

Neben den dominierenden konservativen und politisch reaktionären Kräften waren aber auch Mitglieder wie Stresemann, die einen eher linken Liberalismus vertraten, keine Ausnahme. Obwohl sich der ADV antisemitisch gab, war (mindestens) ein Bürger jüdischen Glaubens seit dem Jahr 1902 Mitglied, der Bankier und Vorsitzende der Dresdner Börse, Max Arnhold, eine doch überraschende Tatsache.66 Diese Variante alldeutscher Politik erleichterte es Stresemann zweifellos, dem Verband anzugehören und das von ihm vermittelte politische und gesellschaftliche Kapital für sich zu nutzen. Dass die Beziehungen Stresemanns zu den Alldeutschen im Laufe der Zeit jedoch nicht ohne Probleme blieben, sollte sich vor allem im Weltkrieg zeigen. Stresemanns Dresdener Beziehungsnetz67 Wie und wo kann man den jungen Stresemann nun im Jahr 1903 sozial, kulturell und politisch verorten? Welche sozialen Netze hatte er aufgebaut und welche persönlichen Beziehungen hatten sich daraus ergeben, Beziehungen, die vor allem seinem Aufstieg auf politischer, ökonomischer und kultureller Ebene dienen konnten? Eine Analyse seiner Mitgliedschaften in den Dresdner Vereinen, Verbänden und Organisationen zeigt das Bild eines aufstrebenden jungen Mannes, der insgesamt gar nicht besser vernetzt sein konnte. Stresemann war politisch in der Mitte, bis weit nach rechts, aber zugleich ansatzweise (so im »Deutschen Verein für Wohnungsreform«) bis deutlich links von seiner eigenen Partei im Vereinsleben integriert. Als national gesinnter Mann war er überall in die entsprechenden Verbände eingetreten und politisch hatte er sich nach seiner Trennung von den Nationalsozialen als ein Mann der Mitte profiliert, der aber gut mit den Konservativen und sogar mit Sozialdemokraten kooperieren konnte. Seinen bürgerlichen politischen »Pflichten« genügte er zudem voll durch sein kommunales politisches Engagement. 66 Vgl. dazu Kolditz, Ortsgruppe, S.  98. »Der im Gesamtverband nach der Jahrhundertwende stärker betonte Antisemitismus ließ sich, von Kontakten und Verbindungen zum Deutschbund und zum antisemitischen Dresdner Reformverein abgesehen, für die OG Dresden des ADV bis zum Jahr 1906 kaum nachweisen. Zwar wurde häufig Deutschtum verherrlicht, aber keiner der zahlreichen Vorträge in diesen elf Jahren hatte direkt den Antisemitismus zum Inhalt«. 67 In der ›Stresemannschen Netzwerkanalyse‹ sind alle Personen (mehrere Hundert) erfasst, zu denen Stresemann in seiner Dresdner Zeit in den etwa 30 Vereinen, bei denen er Mitglied war, Kontakte hatte. Daraus ergeben sich ein nahezu lückenloses Bild seiner politischen, ökonomischen und kulturellen Einbindung in die Dresdner (und sächsische) Gesellschaft und ein Beziehungsgeflecht, das seinesgleichen sucht. Die Netzwerkanalyse findet sich unter: www.v-r.de/gustav_stresemann.

130  Ökonomisches und soziales Kapital Seine wirtschaftlichen Aktivitäten innerhalb und außerhalb der Stadt waren exorbitant und werden am Beispiel des VSI noch näher ausgeführt. Es stellt sich bei der Fülle dieser Aktivitäten viel eher die Frage, wie Stresemann alle diese Anforderungen bedienen konnte, von seinen beruflichen und familiären Verpflichtungen einmal ganz abgesehen – und welchen Preis er dafür zahlen musste. Zudem profilierte er sich als liberaler Wohltäter in den verschiedensten Vereinen, empfahl sich als Mann der Kultur und der Kulturförderung, eine wahre bürgerliche Einstellung. Wie weit er direkt am kulturellen Leben der Stadt teilnahm, ist nur schwer zu eruieren. Seine Bekanntschaft mit Graf von Seebach lässt jedoch vermuten, dass er hier sehr aktiv war. Sein von seinem Neffen Miethke angelegtes Itinerar belegt dies ebenfalls eindrucksvoll. Gliedert man das Beziehungsgeflecht nach den Bereichen Wirtschaft, Politik, Wohltätigkeit, Kultur und »Sonstiges«, dann war Stresemann bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges in mindestens 27 verschiedenen Organisationen tätig, wobei der Bereich Wirtschaft (14 Organisationen), wie erwartet, besonders stark vertreten war. Aber auch überall sonst war er gut vernetzt. Die Möglichkeiten, die ihm diese Mitgliedschaften boten, auf den verschiedensten Ebenen wirksam zu werden, liegen auf der Hand. Das aber war nur die eine, sehr wichtige Seite der Medaille. Die andere bestand darin, dass sich in diesen Organisationen und Vereinen meist die gleichen Männer trafen. Man sah sich, man kannte sich bereits aus anderen Zusammenhängen, man sprach miteinander und man ging aufeinander zu. Man tat sich einen Gefallen, tätigte Geschäfte oder tauschte sich über die verschiedensten Gebiete aus. Über Parteigrenzen hinaus bildete sich hier ein Kreis, der nicht nur das gehobene Bürgertum, sondern zugleich eine Elite der Stadt und des Landes verkörperte. Stresemann gehörte eindeutig dazu. Wer waren nun die wichtigsten Mitglieder dieses »Stresemannkreises«? Nimmt man die Anzahl der Organisationen, in denen diese Mitglieder gemeinsam mit Stresemann saßen, als Maßstab, dann bildeten die Industriellen und Bankiers den engeren Kreis seiner Bekanntschaften. Allein in zehn Organisationen waren, um ein Extrembeispiel zu nennen, der Industrielle Lingner und Stresemann gemeinsam vertreten. Beide liefen sich mithin fast täglich über den Weg, was eine entsprechende Nähe zur Folge haben musste. Da war es kein Zufall, dass Stresemanns Privatsekretär Rauch zum Direktor bei Lingner avancierte. Aber auch die Berührungsmöglichkeiten mit den Bankiers Arnhold, Palmié, von Klemperer und Millington-Hermann waren enorm. Dass sich daraus geschäftliche Beziehungen entwickelten zeigt besonders gut das Beispiel der Bankiers Arnhold, die ihren guten Bekannten Stresemann wahrscheinlich in erster Linie aufgrund der sozialen Kontakte und des Wissens um seine Beziehungen und seine Bedeutung in Dresden und Sachsen, als Aufsichtsrat und (kleinen)

Der sächsische Syndikus 

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Teilhaber ins Sachsenwerk holten. Ähnliches gilt für Heinrich Ernemann, der etwas später auf Stresemann zukam. Die Vernetzung, und das überrascht ein wenig, im rechten politischen Lager war ebenfalls hoch. Mit dem Geheimen Hofrat Mehnert, seinem schärfsten politischen Gegner, Kopf der Konservativen und »Oberagrarier«, traf sich Stresemann in sieben Organisationen, mit dem Vorsitzenden des ADV, Hopf, noch sechsmal. Und schließlich war der Kontakt zur Stadt und zur Regierung kaum noch zu übertreffen: Oberbürgermeister Beutler war in sieben Organisationen vertreten, in denen auch Stresemann eine Rolle spielte. Da konnte es dann kaum schlechte Beziehungen geben. Die Minister Rüger und Beck traf Stresemann ebenfalls in je vier bis sechs verschiedenen Organisationen. Kurzum: Es gab kaum eine soziale Gruppierung (außer denen der sozialistischen Arbeiterbewegung) in der Stresemann nicht vernetzt war. Ohne Zweifel war Stresemann damit seinem Ziel, sich ins »soziale Feld« (Bourdieu) des Bürgertums zu integrieren, sehr nahe gekommen. Zugleich kann man davon ausgehen, dass er im Sinne Henning Luthers damit begann, sich ein stabiles Bild von der Welt zu formen (nämlich das einer bürgerlichen Gesellschaft wie in Dresden und Sachsen) und dass ihm schließlich durchaus klar wurde, welche Rolle, er darin einnehmen konnte.

Der sächsische Syndikus: Die Erfindung des Verbandes Sächsischer Industrieller »So sehen wir, dass diese Ideen des Verbandes sich immer weiter durchgesetzt haben, die Ideen, die wir damals damit ausdrückten, dass wir sagten, die bestbegründete Eingabe nützt uns nichts, wenn nicht auch eine Macht dahinter steht, sie durchzusetzen. Man kann es bedauern, dass es so in unseren ganzen gesetzgeberischen Verhältnissen gekommen ist, aber wir müssen doch mit den Tatsachen rechnen, wie sie sind. Mehr und mehr drängen sich die einzelnen Interessen an denjenigen heran, der Gesetzgeber sein soll, und wir müssen und werden dankbar sein, wenn überhaupt die mittlere Linie der Gesetzgebung gewahrt wird. Damit sie sich aber nicht verzerre, dazu ist es notwendig, dass die Industrie für alle ihre Stände ihre Forderungen erhebt genauso wie andere Stände.«68

Sachsen war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die wirtschaftlich am weitesten entwickelte Region in Mitteleuropa.69 Dominiert wurde die dortige Industrie von der Textilbranche, dem Metall- und Maschinenbau, dem poly68 Hervorhebung im Original. Stresemann bei der Feier des zehnjährigen Bestehens des VSI, 11.3.1912, Protokoll, S. 51 f. (Veröffentlichungen des VSI, Nr. 15). 69 Hierzu Pohl, Sachsen, Stresemann und die Nationalliberale Partei, S. 198 ff.; dort weitere Literaturhinweise; ders., Wirtschaft und Wirtschaftsbürgertum.

132  Ökonomisches und soziales Kapital grafischen Gewerbe sowie dem Verlagswesen. Auffällig ist, dass 1907 noch zwei Drittel aller Betriebe allein und ohne Gehilfen geführt wurden und die übrigen meist nur maximal fünf Mitarbeiter beschäftigten. Großbetriebe, vor allem in der Textilbranche, blieben die Ausnahme. Mit dieser Wirtschaftsstruktur unterschied sich das Land deutlich von den anderen deutschen Industriezentren. Trotz der starken Industrialisierung dominierten in Sachsen jedoch politisch die Konservativen. Deren unumschränkter Führer, der Geheime Hofrat Paul Mehnert, galt um die Jahrhundertwende als die beherrschende Figur der sächsischen Landespolitik.70 Die sächsischen, zu dieser Zeit eher konservativ ausgerichteten Liberalen, durch ein politisches Kartell eng an die Konserva­ tiven gebunden, stützten seine Politik lange Zeit, verloren aber immer mehr an Bedeutung. Angesichts der Wirtschaftsstruktur des Landes, bei der nur knapp 14 Prozent der Bevölkerung von der Landwirtschaft abhingen, hingegen fast 72 Prozent ihr Auskommen in Handel, Industrie und Gewerbe fanden, war diese konservative Dominanz sehr ungewöhnlich71. Das erkannte auch das bayerische Konsulat in Dresden: »Es ist sicherlich ein merkwürdiger Zustand, dass die sächsischen Industriellen in ihrer großen Mehrzahl ihre Vertretung im Landtage einer speziell landwirtschaftlich gesonnenen Mehrheit bisher überlassen haben.« Dieses Phänomen hing u. a. damit zusammen, dass sich die sächsische Konservative Partei bis weit in die 1890er Jahre hinein, stärker als etwa in Preußen, den industriellen Problemen geöffnet und in den 1890er Jahren (begrenzt) auch um die Belange der sächsischen verarbeitenden Industrie gekümmert hatte. »Sächsischer Konservativismus war bürgerlicher als der in Preußen. In der Hauptsache war dies eine Konsequenz aus der Industrialisierung und der Verstädterung Sachsens.«72 Dieser Umstand half den Konservativen zumindest zeitweise, »die sterile agrarische Engstirnigkeit abzulegen«, verhinderte aber zugleich einen notwendigen Strukturwandel. Nicht zuletzt wegen der rückständigen Wirtschaftsverfassung holten die anderen Regionen des Reiches den industriellen Vorreiter Sachsen immer stärker ein. Die Wirtschaftskrise der Jahre 1901/02 nahm daher dort, anders als im Reich, geradezu bedrohliche Formen an.73 Die Zahl der Konkurse in Dresden und Chemnitz übertraf die aller anderen vergleichbaren Großstädte des

70 Berichte des Königlich Bayrischen Gesandten in Dresden vom 15. und 23.5.1907, HStA München, MA 2872. 71 Bericht des Königlich Bayrischen Konsulats in Dresden über die Gestaltung von Handel und Gewerbe in Sachsen im Jahre 1903, HStA München, MH 12732. 72 Retallack, Die ›liberalen‹ Konservativen?, S. 134; nach ihm die folgenden Gedanken und das Zitat, S. 134. 73 Zur detaillierten Beschreibung der Krise vgl. den umfangreichen Bericht (101 Seiten) des Königlich Bayrischen Generalkonsuls aus dem Jahr 1907, HStA München, MH 12736.

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Reiches.74 Der Bankenkrach des Jahres 1901, der die Dresdner Kreditanstalt für Industrie und Handel und die Leipziger Bank, ein sehr renommiertes regionales Bankhaus, ruinierte, signalisierte diese Anfälligkeit ebenfalls sehr deutlich.75 Hinzu kam die wachsende »rote Gefahr«, die die Lage für die Industrie noch kritischer machte. Nach dem großen Wahlerfolg der Sozialdemokraten im Sommer 1903, kam es im August 1903 zum größten Streik in der deutschen Geschichte, zum Kampf der Crimmitschauer Textilarbeiterinnen um den Zehnstundentag und eine zehnprozentige Lohnerhöhung.76 Der Streik musste zwar im Januar 1904 von den Gewerkschaften erfolglos abgebrochen werden, er zeigte aber vielen Industriellen, dass sie neue Formen finden mussten, um der anstehenden Probleme Herr zu werden. Die Sachsen beherrschenden Konservativen standen der neuen Zeit jedoch nahezu verständnislos gegenüber und wussten der Situation nur mit den alten Rezepten, mit einseitigem Druck und staatlicher Repression, zu begegnen.77 Die sächsische verarbeitende Industrie konnte und wollte aber eine konservative Politik nicht länger tolerieren, die einerseits auf Konfrontation mit den Arbeitern setzte und andererseits die Kompromisslinie mit der Industrie mehr und mehr verlassen hatte. Die intensive Agitation für die Handelsverträge, von denen die exportorientierte Industrie Sachsens nichts Gutes zu erwarten hatte, sowie die konservative Handschrift bei der Gestaltung des Gesetzes über die Ergänzungssteuer, »das ausschließlich die Industrie neu belastetet, die Landwirtschaft dagegen nicht mit heranzog«,78 bestärkte sie in dieser Ansicht. Es war also kein Zufall, dass sich der »Verband Sächsischer Industrieller« (VSI) gerade zu Beginn des 20.  Jahrhunderts etablierte. Es bedurfte offenbar nur noch einer Initialzündung, einer dynamischen, umtriebigen Persönlichkeit, die die Lage erkannte, das Vertrauen der sächsischen Industriellen besaß, konstruktive Pläne entwickelte, die Fäden zog und sich an die Spitze ihrer Bedürfnisse setzte. Diese Persönlichkeit war Gustav Stresemann, der sich bereits als Assistent beim »Verband der Schokoladefabrikanten« in Dresden in kurzer Zeit einen Namen gemacht hatte.

74 Ritter, Wahlrecht, S. 51 f. und Bericht des Bayrischen Konsuls in Dresden über die Lage von Handel und Gewerbe im Konsulatsbezirk Dresden 1903, HStA München, MH 12732. 75 Wixforth, S. 333 ff. 76 Zeise u. Rüdiger, S. 411 ff; Friedrich Geyer, Der Kampf um den Zehnstundentag in Crimmitschau, in: Die Neue Zeit 22 (1903/04), S. 567–577. 77 Vgl. hierzu die weiterführende Studie von Lässig, Wahlrechtskampf und Wahlrechtsreform, die insbesondere die Rolle der politischen Kultur hervorhebt, die einem Wandel bei den Konservativen entgegenstand. 78 Bericht des Königlich Bayrischen Konsulats in Dresden über die Generalversammlung des VSI, 15.12.1903, HStA München, MH 12732. Weiter hieß es dort: »Besonders eklatant war das Übergewicht landwirtschaftlicher Elemente in den Kammern bei der Schaffung des Gesetzes über die Ergänzungssteuer zu Tage getreten«.

134  Ökonomisches und soziales Kapital Nur selten kann man die Rolle der Persönlichkeit in einem solchen Prozess so scharf herausarbeiten, wie in diesem konkreten Fall. Dabei werden die gezielte Verbandsbildung, die bewusst vorangetriebene gegenseitige Durchdringung von Wirtschaft und Politik und eine massive Industriepolitik höchst transparent, bilden einen zusammenhängenden Komplex. Der neue VSI scheint geradezu ein Kind Stresemanns, seine »Erfindung« und er selber sein unumschränkter »Herrscher« zu sein. Und in der Tat: Die Geschichte eines jungen Mannes, der sich aus kleinen Anfängen, ohne Beziehungen, allein aus eigener Tüchtigkeit, in kurzer Zeit nach oben gearbeitet hat – von Stresemann und seiner Familie häufig kolportiert –, hat viel für sich – und ist auch nicht völlig aus der Luft gegriffen. 79 Bei aller Wertschätzung für seine Persönlichkeit und seine immense Schaffenskraft ist es jedoch unwahrscheinlich, dass der junge, unerfahrene Stresemann im Alleingang und ohne Unterstützung, in wenigen Jahren einen der mächtigsten deutschen Wirtschaftsverbände formen und ganz allein die politischen Verhältnisse in Sachsen verändern konnte. Das ehrfürchtige Staunen über den raschen Aufstieg Stresemanns und der von ihm gegründeten Organisationen darf daher die besonders positiven Umstände und die (Mit-)Arbeit vieler Helfer, die diesen Aufstieg begünstigten, nicht verdecken. Wichtig war vor allem der Zeitpunkt, zu dem Stresemann agierte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts befand sich die Entwicklung in Sachsen noch im Fluss, war relativ leicht zu gestalten. Wäre Stresemann einige Jahre eher nach Sachsen gekommen, hätte er eine vergleichbare Wirksamkeit kaum entfalten können. Das Geschäft der Mehrheit der Fabrikanten lief in den 1890er Jahren nämlich glänzend.80 Es bestand kein Grund für einen Wandel. Wäre Stresemann hingegen einige Jahre später nach Sachsen gezogen, wäre eine Organisation der Industrie wahrscheinlich auch ohne sein Zutun bereits erfolgt, seine Entfaltungsmöglichkeiten dementsprechend begrenzter gewesen. So aber war er der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Nicht ohne Grund klagten daher die sächsischen Konservativen, dass bei der Verbandsgründung zu Beginn des neuen Jahrhunderts »eine redegewandte und eine rücksichtslos auftretende linksliberale Gruppe [damit war vor allem Stresemann gemeint] sehr bald die Führung an sich«81 gerissen und die »besonnenen Elemente« eingeschüchtert habe. Weiter monierten sie: »Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Verband Sächsischer Industrieller durch die Aufgabe seiner politischen Neutralität sich in schroffen Widerspruch zu der ihm 79 Hierzu und zum Folgenden vor allem Starke, Dresden in der Vorkriegszeit, und ders., Dresden im Kaiserreich, dessen Gedanken ich hier weitgehend aufnehme. 80 Warren, S. 6; Pohl, Der Verein Sächsischer Industrieller, S. 145 f.; ders., Sachsen, Stresemann und die Nationalliberale Partei, S. 198 ff. 81 Das Vaterland. Wochenblatt für Sächsische Politik. Organ des Konservativen Landesvereins 17 (1905), Nr. 36, 9.9.1905, S. 429; danach auch die folgenden Zitate.

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innewohnenden zweifellos guten Grund-Idee gesetzt hat.« Genau das war das Werk Stresemanns und seiner Mitstreiter. Als Stresemann im zarten Alter von knapp 23 Jahren, am 25.  März 1901, seine erste Arbeitsstelle als Assistent beim »Verband Deutscher Schokoladefabrikanten« in Dresden antrat, war dieser Erfolg jedoch noch nicht absehbar, besaß er als Neuling doch kaum Einfluss.82 Er traf jedoch sehr schnell auf eine Reihe von Kollegen, die seine Begabung erkannten. Da im Haus der Kaufmannschaft, seinem neuen, bescheidenen Arbeitsplatz, auch die Handels- und Gewerbekammer Dresden sowie mehrere Branchenverbände residierten, lernte Stresemann rasch die Menschen kennen, die für die Wirtschaftsorganisation in Sachsen von entscheidender Bedeutung waren – und die er alsbald von sich und seiner Arbeit überzeugte. Gemeinsam mit ihnen stellte Stresemann die Weichen für die neue Verbandsentwicklung. Im Vorstand des seit 1898 dem »Bund der Industriellen« (BdI) angehörigen »Verbandes der Schokoladefabrikanten« saßen die Fabrikanten Heinrich Vogel der Ältere und Otto Rüger, die in Personalunion zugleich Funktionäre im Bezirksverein des BdI, im »Sächsischen Export-Verein« bzw. bei der Handelskammer Dresden waren.83 Hier traf Stresemann auch deren Präsidenten Adolph Collenbusch, der später eine führende Rolle in der Dresdner Ortsgruppe (gegründet 1907) des VSI spielte. Zu nennen wäre vor allem aber Handelskammersekretär Paul Schulze, stellvertretender Vorsitzender des »Nationalliberalen Reichs-Vereins« und pro forma sogar Stresemanns Vorgesetzter.84 Bereits nach kurzer Zeit agierten beide Syndizi nicht nur auf gleicher Augenhöhe, sondern revolutionierten gemeinsam die Verbandslandschaft und aktivierten die vor sich her dümpelnden Nationalliberalen. Schulze erkannte sehr früh die überragenden Fähigkeiten Stresemanns. Deshalb bezog er ihn bei allen wichtigen Entscheidungen mit ein. Dies gilt für den Kampf gegen das Zuckerkartell, für die Kartellpolitik der nationalliberalen Landtagsfraktion, die sächsische Steuerreformvorlage oder beim Bemühen um die Sammlung der sächsischen Industrie. Schulze war es offenbar auch, der sich bereits mit der Idee der Gründung einer sächsischen Industriellenorganisation beschäftigt hatte. Bald zog jedoch der »Lehrling« Stresemann an dem Meister 82 Zur Bedeutung der Dresdner Schokoladenindustrie vgl. Erdmann Graack, Die Dresdner Schokoladenindustrie, in: Der Arbeiterfreund (1908), S. 371–388. 83 Diese Gedanken eng angelehnt an Starke, Dresden in der Vorkriegszeit, S. 89 f. Nach ihm auch viele der folgenden Gedanken. Zu den personellen Verflechtungen zwischen VSI und Exportverein (Fabrikant B. Lehmann etc.) vgl. Festschrift anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des Exportvereins im Königreich Sachsen, Dresden 1910. 84 Zur Biografie: Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Ferner: Sächsische Industrie, 2. Jg. Nr. 17, 10.6.1906: »Handelskammer-Syndikus Paul Schulze gestorben«. Der frühe Tod Schulzes optimierte im Übrigen die Handlungsmöglichkeiten Stresemann erheblich.

136  Ökonomisches und soziales Kapital vorbei und übernahm dessen Ideen. Das spricht für die Tatkraft des jungen Stresemann, für seine dominante Persönlichkeit, für eine gewisse Chuzpe, aber vielleicht auch für sein Charisma. Der VSI erlebte unter seinem neuen Syndikus einen rasanten Aufschwung: Bereits nach einem Jahr, im Dezember 1903, umfasste der Verband mehr als 600 Fabriken mit über 100.000 Beschäftigten. Binnen zehn Jahren gewann er 5.000 sächsische Unternehmer hinzu, die mehr als eine halbe Million Arbeiter beschäftigten. Damit vertrat der VSI 1912 fast drei Viertel aller sächsischen Gewerbe- und Industriebetriebe. Stresemann wurde auf diese Weise zum Sprecher eines der größten regionalen Wirtschaftsverbände im deutschen Reich, eine Tatsache, die durch seine leitenden Positionen als stellvertretender Vorsitzender des BdI und Mitbegründer des Hansa-Bundes für Gewerbe, Handel und Industrie noch gefestigt wurde.85 Zudem besaß der VSI eine reichsweite Ausstrahlung. Das Modell eines Industrie-Verbandes, der sich im öffentlichen Leben deutlich positionierte, auf Regierungen, Parlamente und Presse erheblichen Einfluss nahm, »wurde das Vorbild für ähnliche Verbände in Thüringen, Schlesien und Württemberg«.86 Stresemann kann somit geradezu als Prototyp für den liberalen »Wirtschaftspolitiker« im Kaiserreich stehen.87 Trotz dieser erfolgreichen Entwicklung bewegte sich der VSI jedoch lange Zeit in einem Feld großer Spannungen, die seine Existenz gefährdeten. Einerseits bestand der tiefe und lange Jahre andauernde Konflikt mit der organisierten Arbeiterbewegung, der sich zeitweilig extrem verschärfte. Andererseits ließ sich der Graben zu den großen Textilfabriken, die die sozialliberale Politik des Verbandes nicht mittragen wollten, nicht leicht zuschütten. Nicht zuletzt war es der politische Konflikt mit den dominanten Konservativen, der immer wieder aufflammte und auf politischer Ebene entschärft werden musste.88 Stresemann gelang es jedoch dank geschmeidiger Verbandspolitik nach und nach, auch den eher konservativen Flügel der sächsischen Industriebetriebe in seine Interessenpolitik einzubinden, was er später als eine besondere Leistung hervorhob.89 85 Vgl. H.-P. Ullmann, Interessenverbände. Vgl. dazu das Unterkapitel »Am Ziel?«. 86 Schiffer, S. 296. 87 Bezeichnend ist, dass Stresemann rasch dafür sorgte, dass der VSI die »Dresdner Zeitung« erwarb und so ein weiteres Presseorgan besaß. Bericht der Preußischen Gesandtschaft vom 1.7.1905, PA AA , R 3226. Zur Thematik Pohl, Ein früher Medienpolitiker?, S. 146–166. 88 Pohl, Der Verein Sächsischer Industrieller, sowie ders., Zum Aufschwung der sächsischen Liberalen, S. 147. 89 Stresemann an Vogel, 13.10.1916, PA AA , NL Stresemann 155: »[…] ich glaube daran mitgewirkt zu haben, daß die weitesten Kreise der sächsischen Industrie und des sächsischen Gewerbes, namentlich solche, die früher der konservativen Partei nahestanden, sich unserer Partei angeschlossen haben. Deutlich habe ich in all den Jahren dagegen anzukämpfen gehabt, daß ein starker konservativer Zug durch die sächsische Industrie

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Es war kein Zufall, dass die Nationalliberalen dabei eine erhebliche Rolle spielten, denn mit Stresemann hatte ein Akteur sächsischen Boden betreten, der auf beiden Ebenen, Politik und Wirtschaft, mit neuen Ideen aufwartete und sich bald zum Führer von Industrie und Nationalliberalen aufschwang und beide miteinander zu einer schlagkräftigen Einheit verband. Aus dem doppelten Ursprung des VSI, seiner wirtschaftlichen und seiner politischen Entstehung, speiste sich sein neuer, sehr erfolgreicher Lobbyismus. Stresemann bezeichnete diese Art von Lobbyismus sehr zutreffend als neue »Industriepolitik«90: »Die Industrie muß aus sich heraus Persönlichkeiten in die Parlamente entsenden, welche auf Grund ihrer praktischen Erfahrungen, auf Grund ihrer sachlichen Kenntnisse in der Lage sind, der Industrie in denjenigen Fraktionen, denen sie angehören, die gebührende Stellung zu verschaffen und einseitigen Maßnahmen auf dem Gebiete der Gesetzgebung vorzubeugen[…]. Der Verband Sächsischer Industrieller hat wohl als erster unter den industriellen Organisationen mit dem Prinzip gebrochen, lediglich durch Eingaben an die Behörden seine Ziele erreichen zu wollen. Er ist von dem Grundsatz ausgegangen, daß auch die bestbegründete Eingabe dann wirkungslos ist, wenn hinter ihr, in den gesetzgebenden Körperschaften, nicht Persönlichkeiten stehen, welche bereit sind, diese Ideen auch tatkräftig zu vertreten[…].«

Mit dieser Konzeption konnte Stresemann nicht nur in Sachsen erhebliche Erfolge erringen, sondern »sein« VSI, sowie der von ihm ebenfalls dominierte »Bund deutscher Industrieller« (BdI), konnten sich in der internen Auseinandersetzung mit dem »Centralverband deutscher Industrieller« (CdI) stark positionieren und die Interessen der exportorientierten Industrie schlagkräftig vertreten. Vor allem aber ragt der sozialpolitisch gemäßigte Kurs des VSI heraus. Er wurde sowohl von Stresemann initiiert und angeschoben, als auch durch eine Reihe von sächsischen Spezifika befördert. Zum einen war es die bereits genannte wirtschaftliche Struktur. Die Dominanz der Kleinbetriebe, bei denen der »Herr-im-Hause-Standpunkt« nicht so stark ausgeprägt war, wie bei vielen Ruhrgebiets- und Textilindustriellen, machte sozialpolitische Innovationen deutlich leichter durchsetzbar. Zum anderen war es der mäßigende Einfluss, den der hohe gewerkschaftliche Organisationsgrad auf Seiten der Arbeiter ausübte. Er konterkarierte den verbalen Extremismus der sächsischen Reichstagsabgeordneten sehr deutlich. Mächtige Gewerkschaften wirken in der Regel imging, der nicht leicht niederzukämpfen war«. Dass diese Integrationsleistung den VSI in einigen wichtigen Fragen an einer klaren »Politik« hinderte und ständige Kompromisse erforderte, sollte sich noch zeigen. Vgl. Stresemanns Schreiben an Hoffmann, 26.11.1919, PA AA , NL Stresemann 114 und an Stache, 31.10.1913, PA AA , NL Stresemann 122. 90 Stresemann, Industriepolitik, Berlin 1908 (Veröffentlichungen des VSI 9), insbesondere S. 21 ff.

138  Ökonomisches und soziales Kapital mer und langfristig als »Streikvermeidungsvereine« und haben meist nur wenig Interesse an exzessiven Arbeitskämpfen.91 Das galt gerade für das Sachsen der »Nachcrimmitschauer-Zeit«. Die Arbeitskosten spielten in der exportorientierten sächsischen Industrie ebenfalls eine geringere Rolle als bei den Großbetrieben in anderen Regionen; das mochte eine Einigung bei Lohnforderungen und sozialen Wünschen der Arbeiter z. T. erleichtern. Nicht zuletzt aus dieser Tatsache resultierten allerdings die Spannungen zwischen der lohnintensiveren sächsischen Textilindustrie und der mehrheitlich verarbeitenden Industrie, mit ihren im Schnitt weniger lohnintensiven Betrieben. Hinzu kam die gemeinsame Zielsetzung von Arbeiterschaft und Industrie, die agrarisch-konservativ dominierte Politik bekämpfen zu wollen, um so den allgemeinen industriellen Interessen besser Geltung zu verschaffen. Nicht zuletzt aber waren es das soziale Engagement an der Spitze des VSI und bei führenden Dresdner Industriellen, eine neue Einstellung gegenüber den Arbeitern, wie sie von dem alten Anhänger Friedrich Naumanns, der Stresemann lange Zeit gewesen war, aber auch von der Integrationsfigur des Dresdner Nationalliberalismus, Victor Böhmert, vertreten wurde, das diesen Kurs stützte. Kurzum: Es überwog die Einsicht, dass in einem so hochindustrialisierten Land wie Sachsen auf Dauer nicht gegen die Arbeiter und die Freien Gewerkschaften agiert werden könne.92 Damit war in Sachsen von Stresemann und seinen Mitstreitern ein Verband gegründet worden, der ökonomische Schlagkraft mit politischer Zielsetzung verband. Er drang in Sachsen als »pressure group« direkt in die Parteienlandschaft ein, um auf diese Weise politische Macht auszuüben. Er vertrat neben genuinen Interessen der exportorientierten Industrie zugleich eine soziale Konzeption, die ihn deutlich von anderen wirtschaftlichen Interessenverbänden im Reich unterschied. Sein Ziel war es, die Arbeiterschaft mit dem bestehenden Staat zu versöhnen und sie in eine deutsche Volksgemeinschaft zu integrieren. Der VSI war daher bereit, gegebenenfalls mit den Freien Gewerkschaften partiell zusammenzuarbeiten. Das machte ihn zu einer sozialpolitisch aufgeschlossenen Interessenvertretung – aber zugleich zu einem Feindbild der konservativen Eliten.

91 Vgl. dazu Tenfelde, S. 26 f. 92 Vgl. dazu die Ausführungen Stresemanns auf der 8.  Hauptversammlung des VSI am 15.2.1910, zit. nach: Sächsische Nationale Blätter 1 (1910), Nr. 21, 19.2.1910, S. 486. Erwähnenswert ist, dass der VSI dem Reichsverband gegen die Sozialdemokratie keine organisatorische und finanzielle Unterstützung gewährte (Sächsische Industrie 7, 1910, Nr. 4, S. 52). Allerdings traten einige Industrielle als Personen dem Verband bei, so etwa Niethammer, Schreiben Niethammers, 29.9.1911, SWA , N 12/R397.

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Der Sozialpolitiker Stresemanns sozialpolitische Leistungen sind in der bisherigen Biografik deutlich unterschätzt worden.93 Er hat nicht nur in Sachsen, sondern auch im deutschen Reich, und zwar bereits vor 1914, Wegweisendes geleistet. Sein Wirken hat, was bis heute eher unbekannt geblieben ist, tiefe (sozialpolitische) Spuren in der deutschen Geschichte hinterlassen, Spuren, die deutlich nachhaltiger gewesen sind als seine späteren außenpolitischen Erfolge. Vor allem aber entsprach diese Sozialpolitik in hohem Maße seinen Vorstellungen von einer bürgerlichen Welt und den Aufgaben eines Bürgers. Ein guter Bürger, das hatte Gustav Stresemann verinnerlicht, sorgt nicht nur für sich selber, ihm geht es nicht nur um seinen persönlichen Erfolg, er engagiert sich nicht nur für die große und die kleine Politik. Ein guter Bürger in seinem Sinne bildet sich nicht nur kulturell weiter und präsentiert dies in der Öffentlichkeit, sondern ein guter Bürger sorgt vor allem für andere, für die Familie, für die Freunde, für die Arbeiter in seinen Betrieben und für das soziale Wohl in der (deutschen) Gesellschaft. Er lehnt Kollektivismus ab und vertritt das Ideal einer Gesellschaft gleicher Bürger, die in der Lage sind, sich selber zu helfen. Der Sozialstaat, in Stresemanns Vorstellung durch die »Volksgemeinschaft« verwirklicht, und die staatlichen Organe sollten (auch) darauf hinwirken, dass die (sozialen) Grundrechte nicht nur formal gewährt, sondern praktisch umgesetzt werden konnten. Insofern habe er Hilfe zur Selbsthilfe zu fördern. Daher unterstützte Stresemann die Sicherung aller Bürger im Falle von Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit und Alter, sofern dies alles unverschuldet zustande gekommen oder notwendig war. Er trat zugleich für die Regelung von Mietrecht (wie im »Mieter-Verein«) im Sinne sozialer Gerechtigkeit ein. Grundvoraussetzung für diese Politik war die anerkannte besondere Verantwortung des Staates (und der Unternehmer) für die Wohlfahrt der Bürger und dazu, noch stärker, der Wunsch, die Arbeiterschaft zu integrieren, sie zu pazifizieren und zugleich den Mittelstand parteipolitisch für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Gerade in diesem letzten Bereich ist Stresemann besonders erfolgreich gewesen. Inwieweit diese hervorstechende »soziale Ader« durch seine Herkunft bedingt war, ist schwer zu beurteilen. Das Engagement für Sozialpolitik und Arbeiterinteressen durchzieht jedenfalls sein ganzes politisches und berufliches 93 Vgl. hierzu Pohl, Sozialpolitik im Kaiserreich. Auf diesen Aufsatz stützen sich viele der folgenden Überlegungen. Dort weitere Literaturhinweise. Wright, Stresemann, S. 66, betont, dass Stresemann als Reichstagsredner lange Zeit den Ruf besessen habe, in erster Linie ein Sozialpolitiker gewesen zu sein. Bei Koszyk, Stresemann, S. 103 ff., wird der Sozialpolitiker Stresemann ausführlich gewürdigt. Hier zeigt sich erneut, dass die Biografie Koszyks in der Forschung bislang deutlich unterschätzt wurde.

140  Ökonomisches und soziales Kapital Leben. So nahm Stresemann, um nur ein Beispiel zu nennen, bereits im Jahr 1903, gerade Syndikus des VSI geworden, öffentlich für die streikenden Arbeiterinnen im großen Textilarbeiterstreik von Crimmitschau Partei, ein Verhalten, das ihm keineswegs den Beifall der mächtigen Textilindustriellen-Lobby einbrachte.94 Seine zeitweilige Neigung hin zum »National-Sozialen Verein« und zum »Mieter-Verein« ist ebenfalls in diesem Kontext zu verorten. Unternehmer, Freie Gewerkschaften und Tarifvertrag Das geordnete, vertraglich abgesicherte und von gegenseitiger Akzeptanz getragene Verhältnis von Gewerkschaften und Unternehmern sowie das Instrument des Tarifvertrages sind zentrale Elemente des Sozialstaates, wie wir ihn heute kennen. Er ist jedoch unvollendet, wenn damit nicht zugleich eine prinzipielle Anerkennung der Arbeiterorganisationen und ihrer Rechtsfähigkeit als Tarifpartner verbunden ist.95 Diese Anerkennung der Gewerkschaften war im deutschen Kaiserreich jedoch die Ausnahme, und das Instrumentarium des Tarifvertrages ist bis zur Revolution von 1918/19 in den meisten Bereichen der Wirtschaft, insbesondere in der Schwerindustrie, weitgehend unterentwickelt geblieben, wenngleich es branchenspezifische oder regionale Unterschiede gab.96 Das hing nicht zuletzt damit zusammen, dass sowohl bei den Freien Gewerkschaften als auch bei den Unternehmern die friedliche tarifvertragliche Regelung bis weit ins 20. Jahrhundert noch höchst umstritten war. Sie galt keinesfalls überall als »Königsweg der Konfliktlösung«. Im Sachsen Stresemanns war jedoch wieder einmal alles anders. Stresemann und das sächsische organisierte Unternehmertum schlugen hier bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine den Gewerkschaften gegenüber (relativ) freundliche und den Tarifvertrag bejahende Politik ein. Mitverantwortlich für diesen Kurs war (paradoxer Weise)  die schlechte Situation der Liberalen im Königreich, die um die Jahrhundertwende politisch geradezu marginalisiert worden waren und zudem fast jeglichen Einfluss auf die Arbeiterschaft verloren hatten. Das wollte Stresemann ändern. »Seit langen Jahren«, so erkannte er recht bald, »haben die liberalen Parteien einen Fehler gemacht, sie haben sich nicht genügend um die Arbeiter gekümmert, mit diesen hat man die Fühlung verloren.«97 Mit dem Begriff »kümmern« war bei ihm und seinen Parteifreunden anfangs allerdings nicht an eine gleich94 Vgl. Lassotta u. a.; Crimmitschau 1903–1928, S. 114. 95 Schönhoven, Gewerkschaften, S. 86. 96 Ebd., S. 89 ff.; Tenfelde u. Volkmann, S. 287 ff.; P. Ullmann, Tarifverträge, S. 97 ff. 97 Stresemann bei einer Wahlrede in Wurzen, 20.9.1907, in: Nationalliberales Vereinsblatt, Jg. 2, 1907, Nr. 13, S. 131; auch abgedruckt in: Gustav Stresemann, Wirtschaftspolitische Zeitfragen, 2. Aufl. Dresden 1911, S. 47–60.

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berechtigte Kooperation mit den Freien Gewerkschaften gedacht, sondern vor allem an eine patriarchalische »Fürsorge« für die Arbeiter, unter Ausschaltung von Gewerkschaften und Sozialdemokratie, eine Fürsorge, die im Arnhold’schen und Ernemann’schen Modell in Dresden vorbildlich praktiziert wurde. Diese Strategie führte jedoch bald zu erheblichen Konfrontationen mit der Sozialdemokratie und den Freien Gewerkschaften. Das Bemühen etwa, die Arbeiter »aufzuklären«, ihr Nationalbewusstsein zu stärken und sie an ihre Firmen, und auf diese Weise an die Nationalliberale Partei zu binden, gelang nur selten. Der Versuch, die Attraktivität der konfessionellen (evangelischen) oder nationalen Arbeitervereine zu erhöhen, scheiterte ebenfalls weitgehend. Auch die Anstrengung, die Sozialisten konkret auszugrenzen, zeigte wenig Resonanz.98 Beim Aufbau des zentralen Dresdner Arbeitsnachweises etwa wurde allen organisierten Arbeitern außer den Sozialisten eine gleichberechtigte Mitwirkung zugestanden; erreicht wurde durch diesen Ausschluss der Sozialisten jedoch gar nichts.99 Sehr schnell, und darin war Stresemann einer Vielzahl seiner Zeitgenossen voraus, erkannte er, dass mit einer solchen Politik die bestehenden Verhältnisse im »Roten Königreich« nicht zu ändern waren. Die Sozialdemokraten blieben, ob das den Liberalen ins Konzept passte oder nicht, die bei weitem stärkste politische Gruppierung, auch wenn sich dies bei den Landtagswahlen wegen des Zensuswahlrechtes nicht niederschlug. Die Freien Gewerkschaften wiederum besaßen, trotz aller Bemühungen Stresemanns, christliche und nationale Arbeitervereine zu fördern, nahezu unumschränkt die Meinungsführerschaft unter den Arbeitern. Die realistische Konsequenz war daher, die Sozialisten und vor allem ihre starken Gewerkschaften trotz aller Abneigung und Bedenken, als Ansprechpartner anzuerkennen. Die wirtschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen sollten zwar weiterhin mit aller Kraft und mit allen Mitteln weitergeführt werden. Unabhängig davon aber begann Stresemann mit seinen Mitstreitern, die Position der Freien Gewerkschaften als gleichberechtigter Partner zu respektieren und mit ihnen zu verhandeln. Aus diesem Grunde lehnten Liberale und sächsische Unternehmer zwar nicht die Konfrontation, wohl aber eine rechtliche und politische Diskriminierung der Freien Gewerkschaften ab, wie es die Unternehmer in Preußen forderten. Die Stärke der (frei-) 98 So wurde im Jahre 1911 versucht, die neu gegründeten Evangelischen Arbeitervereine zu stärken. Sie wurden gegründet, so Stresemann, »zur Belebung der nationalen Idee und des evangelischen Bewusstseins, sie fühlen sich zusammengeführt durch die grundlegenden Ideen des Nationalen und des Evangeliums gegen die Sozialdemokratie«. Vortrag Stresemanns auf der Jahreshauptversammlung des Landesverbandes der evangelisch-nationalen Arbeitervereine im Königreich Sachsen, 10.3.1912, PA AA , NL Stresemann 128, S. 68 ff. 99 Vgl. dazu Pohl, Nationalliberalismus und Kommunalpolitik; dort weitere Literatur­ hinweise.

142  Ökonomisches und soziales Kapital gewerkschaftlichen Organisationen und die Einsicht ihres Nutzens auch für die Arbeit­geber,100 und nicht etwa ein sozialer Idealismus waren also die Wurzeln für Stresemanns Sozialliberalismus. Welche Erfolge hatte nun diese Komponente des »soziale Liberalismus« in Sachsen? Stresemann und sein VSI setzten nach und nach, und zwar mit immer größerer Beschleunigung, das Tarifvertragswesen durch. Nirgendwo in Deutschland, außer in Bayern und hier besonders im Großraum München, reüssierte diese Form der Problemlösungsstrategie so stark wie im Königreich Sachsen.101 Da Tarifverträge erst seit 1910 systematisch erfasst wurden, sind präzise Werte allerdings erst seit dieser Zeit verfügbar. Wurden in Sachsen z. B. 1910 die Arbeitsverhältnisse erst in 7.330 Betrieben mit etwa 87.000 Beschäftigten durch einen Tarifvertrag geregelt, waren es zwei Jahre später schon 15.444 Betriebe mit 170.760 Beschäftigten.102 Im Reich wurden vor dem Ersten Weltkrieg durchschnittlich nur etwa 15 Prozent aller Arbeiter tarifvertraglich eingebunden, in Sachsen waren es dagegen schon etwa 25 Prozent – mit eindeutig steigender Tendenz. Und das trotz der Großbetriebe der Textilindustrie, die sich dem sozialpolitischen Kurs Stresemanns massiv entgegenstemmten. Zweifellos wies diese Sozialpolitik den Weg in die Zukunft. Der VSI und der »Deutsche Industrieschutzverband« »Gleiches Recht für beide, Schaffung großer Arbeitgeberverbände wie unseres Industrieschutzverbandes, seitens des Staates kein Dreinreden, aber unbedingter Schutz gegen den unerträglichen Terrorismus (Bravo) [der Gewerkschaften]. Und dann Kampf oder Verständigung der Organisationen untereinander. Denn das, meine Herren, halte ich nicht für einen Nachteil, sondern für einen Vorteil unseres Industrieschutzverbandes, daß die Zahl der Streiks, die er beigelegt hat, beinahe ebenso groß ist wie die Zahl der Streiks, die er unterstützt. Denn wer dem Arbeitgeber unterstellt, daß er den Streik wolle, der muß keine Ahnung von den industriellen Verhältnissen haben […]. Und wenn wir oft in geschickt geführten Verhandlungen beide Teile dahin geführt haben, sich zu verständigen, dann haben wir ein gutes Stück sozialer Arbeit, gleichzeitig aber auch eine gute Vertretung von richtig verstandenen Arbeitgeberinteressen geleistet (Sehr richtig!).«103

100 Vgl. dazu die Ausführungen des nationalliberalen Abgeordneten Kaiser im Sächsischen Landtag, 29.1.1914, in: Sächsische Industrie 10 (1913/14), Nr. 10, S. 148. 101 In München waren etwa zwei Drittel aller Beschäftigten (Männer und Frauen!) tarifvertraglich abgesichert, vgl. dazu Pohl, Münchener Arbeiterbewegung, S. 270. 102 Diese und die folgenden Zahlen nach Adam, S. 246 ff. 103 Rede Stresemanns zum 10-jährigen Bestehen des VSI, in: Festschrift zur Feier des 10 jährigen Bestehens des VSI, Dresden 1912, S. 62 f.

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Die Politik des dem VSI angegliederten wichtigen Unterverbandes, des »Deutschen Industrieschutzverbandes« (DIV) ist ein weiteres überzeugendes Beispiel für diesen neuen sozialpolitischen Kurs Stresemanns und des VSI.104 An diesem Verband, der sich im Auftrag des VSI primär mit der zentralen Frage von Streiks und Aussperrungen befasste, lässt sich erneut zeigen, welche Politik Stresemann und sein Verband einschlagen wollten, wie weit ihre Zugeständnisse an den sozialen Frieden, an SPD und Freie Gewerkschaften in der Praxis tatsächlich gingen, welche Konfliktregelungen gewünscht wurden – und welche nicht. Der Textilarbeiterinnenstreik in Crimmitschau führte auch in diesem Fall zu einer direkten Rückwirkung, nämlich in einem ersten Schritt zu einer Verstärkung der Organisationsbemühungen unter den deutschen Unternehmern. Diese hatten sich beim Streik unterorganisiert und den hoch organisierten Gewerkschaften unterlegen gefühlt. Die Gründung der »Hauptstelle Deutscher Arbeitgeberverbände« (HDA, einer »Tochter« des CdI) und parallel dazu des »Vereins Deutscher Arbeitgeberverbände« (VdA, eines Ablegers des BdI), waren insofern eine direkte Konsequenz des Crimmitschauer Arbeitskampfes. Beide Organisationen verfolgten das Ziel, den Arbeitern fortab gleichwertige Arbeitgeberorganisationen entgegenzustellen.105 Der von Stresemann geführte VSI konnte, angesichts der Aktivitäten der Crimmitschauer Textilindustrie, bei diesen Organisationsbemühungen nicht abseits stehen. Er betrachtete jedoch die aggressiven, deutlich gewerkschaftsfeindlichen Zielsetzungen des HDA mit großer Skepsis. Die dort verfolgte Politik der Konfrontation widersprach seinem grundsätzlichen Ansatz einer notwendigen Kooperation. Der VSI kreierte daher schon ab 1906 eine eigene sächsische Arbeitgeberinstitution, die seinen Bedürfnissen am nächsten kam.106 Der satzungsgemäße Zweck dieser später in DIV umbenannten Organisation bestand darin, »Arbeitseinstellungen in den Betrieben ihrer Mitglieder möglichst zu verhindern […] und die Folgen von unvermeidbaren Arbeitseinstellungen zu mildern, in dem sie ihren Mitgliedern die dadurch entstandenen Verluste nach Maßgabe dieser Satzungen ersetzen will.«107 Dahinter verbarg sich der Wunsch, allein durch die Existenz dieses mächtigen Vereins, Streiks gar nicht erst entstehen zu lassen. Der Verband sollte dazu dienen, Tarifverträge 104 Die folgenden Ausführungen stützen sich vor allem auf Pohl, Sachsen, Stresemann und der Verein Sächsischer Industrieller. 105 Ebd., S. 424 ff. 106 Außerhalb dieser neuen Arbeitgeber-Organisation des VSI blieb, wie nicht anders zu erwarten, die gesamte sächsische Textilindustrie, die zwar wirtschaftspolitisch weiterhin vom VSI vertreten werden wollte, sich in dieser Frage aber lieber der härteren Gangart des HDA anvertraute. 107 6 Jahre Streikentschädigungsgesellschaft. Entstehung, Entwicklung und Tätigkeit des Deutschen Industrieschutzverbandes im Spiegel der Akten und der Statistik des Verbandes, in: Festschrift zur Feier des 10jährigen Bestehens des VSI, Dresden 1912, S. 125.

144  Ökonomisches und soziales Kapital abzuschließen, um auf diese Weise die Schädigungen und Belastungen der Unternehmen möglichst gering zu halten. Aussperrungen waren ihm jedenfalls verpönt, wodurch er sehr rasch in scharfen Gegensatz zum VdA geriet.108 Allerdings blieb ein Gedanke im Ideenhaushalt des DIV ein absolutes Tabu, »das sind die Fälle, wo es sich nicht um die Lohnverhältnisse des Einzelnen, sondern wo es sich um die Macht im Betriebe handelt, und wo wir eine Verhandlung deswegen nicht kennen, weil wir uns sagen, daß die Industrie zugrunde geht, wenn die Macht im Betrieb nicht mehr bei dem ist, der an seiner Spitze steht«.109

Mitbestimmung der Arbeiter an den Betrieben war für den DIV und Stresemann also eine Zielsetzung, die außerhalb ihrer Vorstellungswelt lag. Das galt auch noch für Stresemanns Haltung in der Weimarer Republik. In eine ähnliche Richtung zielte die Haltung von DIV und VSI in der Frage der Berechtigung der gewerkschaftlichen Betätigung. Hier strebten sie eine strikte Begrenzung an. Einerseits sprachen sie sich mit Schärfe gegen den gewerkschaftlichen »Terrorismus« während der Streiks aus, der in Sachsen und im Reich gegenüber arbeitswilligen Kollegen ausgeübt würde. Andererseits ließen sich aber VSI und DIV zu keinem Zeitpunkt dazu bewegen, dieses Problem etwa mit Ausnahmegesetzen regeln zu wollen.110 Auch hier blieb der VSI seinem Grundsatz treu, nicht durch Rechtsauseinandersetzungen, sondern durch einen offenen Kampf unter Ausnutzung der bestehenden Rechtslage seine Interessen am besten durchzusetzen. Welche konkreten Erfolge erzielte nun dieses Modell des Stresemann’schen »sozialen Liberalismus«?111 Erstens: Die Zahl der Streiks verminderte sich in Sachsen in gravierendem Maße. Die eingeleitete »Sozialpartnerschaft« mit dem Ziel der Streikvermeidung funktionierte nahezu perfekt. Die Zahl der Regelung der Konflikte vor dem Ausbruch eines Arbeitskampfes, schnellte massiv empor. Konnten 1906 beispielsweise erst etwa sechs Prozent aller Konflikte im Vorfeld friedlich bereinigt werden, waren es im Jahre 1911 schon mehr als die Hälfte. Die friedliche Lösung überwog also bereits die der unfriedlichen, eine Tendenz, von der im Reich insgesamt noch keine Rede sein konnte. Die Schärfe der Auseinandersetzungen wuchs allerdings deutlich, das gilt für das Reich und Sachsen. Zweitens: Der Erfolg der geschmeidigen und bis zu einem gewissen Grad moderaten Politik gegenüber den Arbeitern und ihren Bewegungen, lässt sich bei der äußerst sparsamen Anwendung des schärfsten Instruments der Arbeitgeber, der Aussperrung erkennen. Der DIV kritisierte nicht nur den Dach­verband we108 Vgl. ebd., S. 137 ff. 109 Ausführungen Stresemanns zum 10 jährigen Bestehen des VSI, S. 63. 110 Vgl. die Ausführungen des Königlich Bayrischen Konsulats zu Dresden über das Jahr 1907, HStA München, MH 12736, S. 33 ff. 111 Daten nach Pohl, Sachsen, Stresemann und der Verein Sächsischer Industrieller, S. 426 ff.

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gen dessen radikaler Aussperrungspolitik, sondern verließ ihn genau aus diesem Grunde. Er war es leid, hohe Beiträge für Kampfmaßnahmen der Unternehmer gegen die Arbeiter zu entrichten, die er missbilligte und die er in Sachsen kaum anwendete. Hier war Stresemanns Handschrift ganz deutlich zu spüren. Fazit: Die Politik der von Stresemann geführten sächsischen Unternehmer bestand in einer partiellen Anerkennung und einer begrenzten Zusammenarbeit mit den Freien Gewerkschaften sowie im allgemeinen Ausbau eines Tarif­vertragssystems. Das geschah vor allem aus Einsicht in die politische und ökonomische Notwendigkeit. Um den sozialen Frieden weitgehend zu wahren, das politische, gesellschaftliche und ökonomische System zu stabilisieren, (unnötige) Streiks möglichst zu verhindern und die Schädigung der Unternehmen gering zu halten. Der VSI löste sich damit bereits in der Vorkriegszeit von einigen starren Positionen der deutschen Konservativen und der Industriellen der rheinisch-westfälischen Großindustrie; er schwenkte auf einen mittleren Kurs ein, der den Interessen der Mehrheit der sächsischen Industriebetriebe entgegenkam, ihn aber immer noch befähigte, zugleich die Interessen der sächsischen Textilindustrie wahrzunehmen. Vor allem aber ermöglichte ihm ein solcher Kurs, die Kontakte zur (sozialdemokratischen) Arbeiterbewegung zu halten und möglicherweise noch zu vertiefen. Und: Stresemann war der Ideengeber dieser Politik. Eine solche Politik barg ein erhebliches Problemlösungspotential. Es diente der Stabilisierung des wilhelminischen Systems, indem es das Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitern grundsätzlich zu entkrampfen versuchte. Die fundamentale Kluft zwischen Kapital und Arbeit konnte diese Politik jedoch noch nicht über­brücken. Immerhin wurde aber das Terrain für den Königsweg der Konfliktlösung vorbereitet, die Verhandlungen zwischen sich gegenseitig respektierenden Organisationen über den flächendeckenden Tarifvertrag.112 Einer allzu euphorischen Interpretation ist allerdings entgegenzuhalten, dass Stresemann die Politik der Freien Gewerkschaften jederzeit und immer massiv bekämpfte. Bei aller Elastizität und Flexibilität in der praktischen Politik, fasste er die Freien Gewerkschaften genauso wie die Sozialdemokraten als »Todfeinde« auf, die keinesfalls volle Rechte erhalten sollten. Seine Bemühungen gingen immer und in erster Linie dahin, die »Roten« zu schwächen, wo immer es möglich war. Genau das hat seine Politik im Jahre 1923 gegen die Linksregierung in Sachsen gezeigt.113 Ansätzen von modernen Konfliktlösungsstrategien in den sozialen Fragen standen bei Stresemann also immer Positionen gegenüber, die diese so weit wie möglich zu begrenzen versuchten. Allerdings schien es möglich, dass diejenigen 112 Vgl. hierzu Schönhoven, Arbeitskonflikte. 113 Vgl. dazu das Unterkapitel »Die Zerstörung des ›linksrepublikanischen Projektes‹ in Sachsen«.

146  Ökonomisches und soziales Kapital Überlegungen, die auf Kooperation setzten, an Stärke gewinnen würden. Insofern fiel es Stresemann nach der Revolution von 1918 zwar schwer, den neuen Staat zu akzeptieren, dem Kaiser abzuschwören und die Revolution gutzuheißen, in der Frage der Anerkennung des Sozialstaates, wie ihn die Revolution dann hervorbrachte, musste er sich jedoch nicht völlig verbiegen. Die Entstehung der deutschen Angestelltenversicherung Versuchen wir an dieser Stelle Stresemanns Bemühungen im sozialpolitischen Bereich in den Kontext deutscher und europäischer Überlegungen zu stellen und dabei zugleich die Diskussion um die heutige Sozialpolitik mit zu integrieren. Stresemann und seine Politik aus einer solchen Vogelperspektive zu analysieren, lohnt sich ebenfalls. Untersucht man die Vorgeschichte und die spätere Realisierung des weg­ weisenden Angestelltenversicherungsgesetzes aus dem Jahre 1911, so ist der Beitrag Stresemanns dabei kaum zu überschätzen. Das hat Michael Prinz zu Recht betont.114 Der spätere Ehrenvorsitz im Angestelltenverband ist nur ein äußeres Zeichen für die Anerkennung seiner Leistungen. Mit dieser Gesetzgebung hat Stresemann wahrscheinlich eine der größten sozialpolitischen Innovationen zu Beginn des 20. Jahrhunderts (mit) angestoßen, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart reichen.115 Ein mögliches Motiv für Stresemanns starkes Engagement für den neuen Mittelstand ist sicherlich seine eigene Sozialisation gewesen. Das selbst erlebte Ringen des alten Mittelstandes um seine Existenz, die Hochschätzung der unabhängigen Arbeit und die klare Abgrenzung gegen die Sozialdemokratie, kann die Solidarität mit dem alten und neuen Mittelstand sicherlich (mit) erklären. Er teilte ihr Leistungsethos, stützte ihr Selbstverständnis, schätzte ihr kulturelles Streben und war schon aus diesen Gründen bereit, ihren Status zu schützen. 114 Vgl. hierzu Prinz, Gustav Stresemann. Dem Aufsatz von Prinz verdanke ich entscheidende Anregungen und wichtige Literaturhinweise. Vgl. ferner ders., Arbeiterbewegung. Ferner: Bichler. 115 Gustav Stresemann, Die Stellung der Industrie zur Frage der Pensions-Versicherung der Privatangestellten. Vortrag gehalten in der Generalversammlung des BdI am 15. Oktober 1906, in: ders., Wirtschaftspolitische Zeitfragen, S. 47–60; ders., Zur Pensionsversicherung der Privatbeamten. Referat gehalten am 21.  April 1907 in Dresden vor der Privatbeamten-Versammlung, Dresden, Dresden o. J. [1907]; ders., Staatliche Pensions­ versicherung der Privatangestellten, in: Nationalliberale Blätter 19 (1907), S. 102 f.; ders., Die Pensionsversicherung der Privatbeamten, Rede gehalten auf dem Allgemeinen Vertretertag der nationalliberalen Partei zu Wiesbaden am 6. Oktober 1907, in: Wirtschaftspolitische Zeitfragen, S.  71–101. Literatur zur besonderen Rolle Stresemanns: H.-P. Ullmann, Der Bund der Industriellen, S.  215 ff. und P. Ullmann, Tarifverträge, S. 184 ff., sowie Prinz, Gustav Stresemann, und Bichler.

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Neben dieser persönlichen Komponente spielten aber, wie immer, Pragmatismus und strategische Flexibilität eine erhebliche Rolle. Mit Hilfe des neuen Gesetzes sollte der Privatbeamtenschaft, ein großes Wählerpotential der Liberalen, ein Tribut dafür gezollt werden, »daß sie stets zur nationalen Sache gehalten und unsere Schlachten für die nationalen Ideen mit geschlagen hat«116. Aus Stresemanns Sicht stellte diese ständig wachsende Gruppe ein wichtiges Bollwerk gegen den Hauptfeind, die Sozialdemokratie, und vielleicht die wichtigste Klientel der Liberalen dar.117 Sie war es, die seiner Meinung nach das gesellschaftliche System des Kaiserreiches entscheidend mittrug – und dementsprechend gefördert werden musste. Es sei, so Stresemann auf dem Vertretertag der Nationalliberalen »[…] ein Ruhmestitel der deutschen Privatbeamtenschaft, daß sie bisher diesen Einflüsterungen [der Sozialdemokratie] nicht in nennenswertem Umfang Gehör geschenkt hat, und daß die große gewaltige Sozialdemokratie in ihrer Organisation für die Privatbeamten ganze 6.700 Mitglieder zählt gegenüber den 800.000 der übrigen Verbände«. Der seit der Jahrhundertwende immer mehr abbröckelnde kulturelle, soziale und ökonomische Status der Angestellten sollte mithin durch die neue Versicherung stabilisiert, die Gruppe gegenüber der Sozialdemokratie immunisiert werden. In diesem Kontext kritisierte Stresemann, wie schon in der Frage der Tarif­ verträge, vor allem diejenigen Industriellen, die die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt hätten und die Chancen, die die neue Versicherung bot, verspielen wollten: »Ich halte es geradezu für einen Kardinalfehler, die Industrie gewissermaßen aufhetzen zu wollen zu einem Arbeitgeberstandpunkt kat exochen, ihr zu sagen, du musst dich in Gegensatz stellen zu allen Arbeitnehmerbestrebungen, anstatt […] darauf hinzuweisen, dass wir gemeinsame Interessen haben mit Millionen von Volksschichten, die sich nur im falschen Lager befinden, wenn sie sich missbrauchen lassen, gegen die Industrie zu wirken.«118

Voraussetzung für den Erfolg bei der Durchsetzung der Sonderversicherung war, wie bei der Politik des Ausgleichs mit den Freien Gewerkschaften, dass Stresemanns Karriere genau zu diesem Zeitpunkt einen Höhepunkt erreicht hatte. Der VSI stellte auch hier wieder die Speerspitze seiner industriellen Bundesgenossen, genauso wie der von ihm mitgesteuerte BdI. Politisch konnte er 116 Stresemann, Die Pensionsversicherung der Privatbeamten, Rede gehalten auf dem Allgemeinen Vertretertag der nationalliberalen Partei zu Wiesbaden am 6. Oktober 1907, in: Wirtschaftspolitische Zeitfragen, S. 84. 117 Als Ideengeber für Stresemanns Modell diente wahrscheinlich der Pensionsverein der Bankiers Max und Georg Arnhold in Dresden. Vgl. dazu diese Arbeit, S. 121 ff. 118 Stresemann, Industrie und Hansabund, in: Jahresberichte des BdI für das Geschäftsjahr 1908/1909 (Zweiter Teil), Berlin 1910, S. 34–53, hier: S. 39.

148  Ökonomisches und soziales Kapital wiederum die Nationalliberalen von seinem Kurs mehrheitlich überzeugen. Dass er die Angestelltenbewegung für die Sonderkasse gewann, versteht sich schon fast von selbst.119 Das allein aber reichte, wie schon bei seiner Politik in Sachsen, nicht aus. Hinzu kam, dass er mit seinem Ziel den »Zeitgeist« traf. Hier ist vor allem die besondere Rolle der Beamten im deutschen Kaiserreich von Bedeutung, die als Vorbild im kollektiven Bewusstsein von (bürgerlicher) Gesellschaft und Wirtschaft eine im internationalen Vergleich überragende Rolle spielten.120 Stresemann gelang es, dem von ihm propagierten Konstrukt »neuer Mittelstand«  – und damit folge ich der Argumentation von Michael Prinz  – einen positiven Sinn zu unterlegen. Zwar betonte auch er die Gefahr eines Abwanderns dieser wichtigen Gesellschaftsschicht zur Sozialdemokratie. Er wies ferner darauf hin, dass diese Gruppe den sozialen Abstieg nicht verdient habe und von der Gesellschaft gestützt werden müsse. Zugleich aber bot er jedoch eine positive Sinnstiftung an, die er öffentlich wirksam propagierte, und die die Gegner der Versicherung letztlich überzeugte. Es gelang ihm, die positiven Leistungen dieser höchst heterogenen Gruppe für die Gesellschaft zu verdeutlichen und deren allgemeine gesellschaftliche Bedeutung darzulegen. Man müsse für diese Gruppe eintreten, nicht (nur) um der sozialen Gerechtigkeit willen, sondern vor allem weil sie das Rückgrat der deutschen Wirtschaft und ihres Aufschwungs darstelle. Sie sei der Motor deutscher Leistungen im internationalen Wettbewerb: »Deshalb, glaube ich, hat auch die deutsche Industrie, hat der deutsche Handel ein vitales Interesse daran, für diese seine Privatbeamten und Helfer zu sorgen, dass ihre Berufsfreudigkeit gehoben werde, und nicht in ihrer Arbeitskraft eine Lücke eintrete.« Durch keinerlei Unsicherheit, so der Tenor der Argumentation, dürften die Kräfte der Privatbeamten für das Gemeinwohl verschleudert werden. Im Gegenteil: Ihre soziale Absicherung nütze nicht nur ihnen selber, sondern vor allem der deutschen Wirtschaft. Sie sei ein Garant des bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystems.121 Dieser Appell hatte schließlich nicht nur Erfolg im Gesetzgebungsprozess, sondern zugleich wurde damit auch die neue staatstragende Gruppe konstruiert, die gefördert werden sollte. Mit der Versicherung gelang es erstmalig, die in sich hetero­gene Schicht der Angestellten als eine besondere »Klasse« ins Leben zu 119 Prinz, Gustav Stresemann, S. 123 ff., hat die Aktivitäten Stresemanns, sein politisches Gespür und sein schnelles und kluges Agieren ausführlich dargestellt und vor allem die Schwierigkeiten hervorgehoben, die politisch zu überwinden waren. Ihm folge ich in meinen Überlegungen. Vgl. dazu auch Wright, Stresemann, S. 47 f., der besonders die Sammlung der Kräfte gegen Konservative und Schwerindustrie betont. 120 Kocka, Unternehmensverwaltung, S 148 ff. 121 Vgl. Stresemanns Ausführungen in: Die Stellung der Industrie zur Frage der PensionsVersicherung der Privatangestellten, in: ders., Wirtschaftspolitische Zeitfragen, S.  57: Durch die Versicherung würde eine »Erhöhung der Berufsfreudigkeit, Herbeischaffung eines besseren Menschenmaterials usw.« erreicht.

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rufen, und zwar in scharfer Abgrenzung gegen die Sozialdemokratie. Die Schicht der Angestellten, wie wir sie heute kennen, gibt es insofern erst seit 1911. Die sozialen Wohltaten bildeten den Kitt zur Konstruktion und zugleich zur inneren Stabilisierung dieses gesellschaftlichen Ensembles. Damit erhielt das, was im Gegensatz dazu einen »Arbeiter« ausmachte, nun scharfe und neue Konturen.122 Auch wenn das Gesetz, das die Altersversorgung der damals etwa anderthalb Millionen Angestellten, im zeitgenössischen Jargon »Privatbeamten«, neu regelte vielleicht nicht ganz die Bedeutung der Bismarck’schen Sozialversicherungsgesetzgebung und in unseren Tagen der Rentenreform in der Bundes­ republik Deutschland aus dem Jahre 1957 erreicht, kann es durchaus im gleichen Atemzug mit ihnen genannt werden. Es »brach mit grundlegenden Prinzipien der bisherigen Sozialversicherung«123 und stellt in jedem Fall einen zentralen Aspekt deutscher, von Stresemann initiierter, Sozialpolitik dar. Drei Elemente dieser neuen Versicherung sprengten im Besonderen den Rahmen der damaligen sozialen Systeme124: Erstens: Das Ziel dieser Versicherung, die nahezu alle Angestellten umfasste, bestand darin, den Empfänger im Alter finanziell so gut auszustatten, dass er dann über die Mittel verfügte, seinen bisherigen Status weitgehend beizubehalten. Es handelte sich also nicht mehr in erster Linie um eine Hilfe für wirtschaftlich und sozial Schwache, sondern um die Wahrung der Kontinuität der materiellen Ressourcen auch nach dem Eintritt ins Rentenalter. Das war neu für den deutschen Sozialstaat, entsprach aber bürgerlich-liberalen, also Stresemann’schen, Vorstellungen und grenzte zugleich den so Versicherten deutlich gegenüber der Sozialversicherung der Arbeiter ab. Die Eigenbeiträge der Versicherten waren allerdings deutlich höher. Zweitens: Das Gesetz garantierte nicht nur dem Pensionär, sondern auch seinen Familienangehörigen eine ansprechende Versorgung, und zwar schon ab dem 65. Lebensjahr. Die gezahlten Leistungen waren zudem unabhängig davon, ob und inwieweit die Familienangehörigen arbeitsfähig waren oder nicht. Das stellte eine erhebliche Erweiterung des bis dahin geltenden Versicherungsschutzes dar und schützte die bürgerliche Familie insgesamt. Drittens: Der Invaliditätsbegriff wurde neu definiert und erheblich erweitert. Eine mögliche Invalidität zwang den Invaliden fortab nicht mehr in den Wettbewerb auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Er konnte sich vielmehr allein auf 122 Stolz konnte Stresemann einem seiner wichtigsten innerparteilichen Gegner erklären: »Dafür [für das Gesetz] stimmten sämtliche Konservativen, Freikonservativen, das Zentrum, die Polen, die Nationalliberalen und die Sozialdemokraten. Es hat noch niemals ein Gesetz gegeben, über das innerhalb der bürgerlichen Parteien eine solche Einmütigkeit herrschte, wie über die Pensionsversicherung der Privatbeamten«, Stresemann an Konsul Mühlberg, 5.6.1914, PA AA , NL Stresemann 138. 123 Bichler, S. 230. 124 Das Folgende nach Prinz, Gustav Stresemann, S. 140 ff.

150  Ökonomisches und soziales Kapital sein bisheriges Tätigkeitsfeld beschränken. Einem sozialen Abstieg war damit, anders als bei den Arbeitern, weitgehend vorgebeugt, der alte Status bei Invalidität gesichert. Insgesamt kann man daher von einem Erfolg der politischen Strategie Stresemanns sprechen, wie Gerhard A. Ritter konstatiert: »Die Angestelltenversicherung hat ihr politisches Ziel, das Sonderbewußtsein der ja keineswegs einheitlichen Schicht der Angestellten gegenüber der Arbeiterschaft zu fördern und damit ihre politische Organisation durch sozialistische Verbände zu erschweren, zumindest bis zum Ende der Weimarer Republik teilweise erfüllt.«125

Dass damit besonders liberale Parteiinteressen auf Kosten eines einheitlichen Versicherungssystems bedient wurden, muss nicht weiter hervorgehoben werden, stellte aber einen wichtigen Pfeiler in Stresemanns politischer Konzeption dar.

Beruf und Vermögen »Ich habe von meiner frühesten Jugend an, und zwar schon seit meiner Studentenzeit, mir eine Sparkasse angelegt, in dem ich bei drei Versicherungsgesellschaften Versicherungen abschloß: eine für 10.000 M, eine für 37.000 M und die letzte für 100.000 Mark. Die beiden ersten Versicherungen sollten mit meinem 45. Jahr an mich ausgezahlt werden. Ich habe von dem, was mir zur Verfügung stand, jedes Vierteljahr meine Beiträge zu der Gesellschaft geleistet. Als ich 45 Jahre alt war, waren wir mitten in der Inflation und ich habe keinen Pfennig von diesem Geld erhalten. Ein industrieller Verband, den ich begründet und in die Höhe gebracht habe, hat mir nach 15jähriger Tätigkeit eine Summe von insgesamt 150.000 M als Anerkennung für meine Tätigkeit in gewissen Jahresraten zur Verfügung gestellt. Auch mit dieser Summe geriet ich in die Inflationszeit hinein, und der Betrag, der mir ein verhältnismäßig sorgenfreies Dasein gesichert hätte, ist fast völlig verloren gegangen. Mein Schwiegervater hat in seinem Testament bestimmt, daß sein Vermögen nur in Staatspapieren und ersten Hypotheken angelegt werden sollte. Die Staatspapiere und mündelsicheren Papiere, die meine Frau besaß, sind wertlos geworden. Das Einzige, was ihr geblieben ist, ist die Aufwertung ihrer Hypothek. An der Aufbringung der Kriegsanleihe habe ich mich ebenfalls beteiligt, weil ich als Führer der Nationalliberalen Partei den Anderen ein Beispiel geben wollte. Als ich selbst nicht mehr Kriegsanleihen zeichnen konnte, habe ich mir von einem bekannten Industriellen das nötige Geld dazu geliehen. Welches Schicksal diese Kriegsanleihe gehabt hat, wird Ihnen bekannt sein. Für meine Frau bestand die Möglichkeit, wieder zu einem Vermögen zu kommen, als ihr Onkel starb, der mehrere Grundstücke in Hamburg besaß. Die Verwandten

125 Ritter, Soziale Sicherheit, S. 144 f.

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meiner Frau drängten als Miterben auf den Verkauf der Grundstücke, der Verkauf erfolgte in der Inflationszeit, die Zahlung nach dem Verkauf. Meine Frau erhielt von der größeren Erbschaft, die sie hätte machen können, den Betrag von 10,80 M. Ich bin heute nach einer mühseligen Arbeit von mehr als einem Vierteljahrhundert so gut wie vermögenslos.«126

Das Thema »Geld« und »Vermögen« ist im Leben Stresemanns bislang weitgehend im Dunkeln geblieben.127 Das hängt sicherlich damit zusammen, dass bei fast allen Menschen, und so auch bei Stresemann, eine große Scheu besteht, finanzielle Belange an die Öffentlichkeit zu bringen. Trotzdem darf man davon ausgehen, dass ein Wirtschaftsfachmann wie er, der höchste ökonomische Sachkompetenz besaß, schwerlich nur Opfer ökonomischer Verhältnisse gewesen ist, wie er es in diesem Brief darstellte.128 Untersuchen wir also seine finanziellen Verhältnisse.129 Als der junge Doktor Stresemann, der »Traumjörg«, am 25.  März 1901 in Dresden seinen Dienst beim »Verband Deutscher Schokoladefabrikanten« antrat, besaß er weder Vermögen, ein großes Gehalt noch ein anständiges Büro. Er besaß nur sein patentiertes kulturelles (seinen Doktortitel) und sein soziales Kapital, das »Verbindungsnetz«, das ihm zu diesem Posten verholfen hatte.130 1.000 Mark Honorar im Jahr zu Beginn seiner Tätigkeit waren weniger als etwa ein Volksschullehrer oder ein sehr qualifizierter Facharbeiter zur gleichen Zeit in Dresden verdienten. Für einen Arbeiter war das Einkommen allerdings nie krisensicher und vor allem, nach »oben« kaum verbesserbar.131 126 Stresemann an Henriette Conitz, 2.11.1928, PA AA , NL Stresemann 72. Diese Darstellung hat Stresemann immer wieder verbreitet, auch gegenüber dem Finanzamt BerlinMitte (Schreiben Stresemanns an das Finanzamt Berlin-Mitte, 24.6.1926, PA AA , NL Stresemann 39). Vgl. das Schreiben Stresemanns an Franz Miethke, 16.9.1925, als Antwort auf die ständigen Unterstützungswünsche seines Neffen (PA AA , NL Stresemann 344). Allerdings, und das mahnt zur Vorsicht bei der Interpretation, machte Stresemann diese Aussage gegenüber einer Frau, die sich bei ihm über den Verlust ihres Vermögens und ihrer finanziellen Rücklagen während der Inflation beklagte. 127 Hans W. Gatzke hat sich schon 1956 eines Teilproblems, der Tätigkeit Stresemanns bei der Evaporator AG (kritisch) angenommen. Vgl. Gatzke, Stresemann und Litwin, S. 76–90. 128 In dem Schreiben an das Finanzamt Berlin-Mitte vom 24.6.1926 wies Stresemann darauf hin, dass sein Kapitalvermögen in den Jahren 1923/24 zurückgegangen sei. Er behielt sich eine weitere Aufklärung vor. PA AA , NL Stresemann 39. 129 Vgl. hierzu Pohl, Nation – Politik – Ökonomie, insbesondere S. 65 ff. Dort weitere Belege und Literaturhinweise. 130 Vgl. dazu Starke, Dresden in der Vorkriegszeit, S. 88. 131 Inwieweit dieser mehrfach überlieferte Anfangsbetrag tatsächlich zutrifft, konnte nicht überprüft werden. Möglicherweise ist dieses niedrige Gehalt in den Bereich der Legendenbildung einzuordnen, um Stresemanns Aufstieg umso dramatischer erscheinen zu lassen.

152  Ökonomisches und soziales Kapital Stresemann hingegen stand erst am Anfang eines enormen (auch finanziellen) Aufstiegs.132 1902 war er bereits »Doppelverdiener«, weil er zum Geschäftsführer der Dresdner Unterorganisation des BdI bestellt wurde.133 Von Anfang an erhielt er zudem erhebliche Zuwendungen für Reden, publizistische sowie weitere beratende Tätigkeiten.134 Ab 1906 bezog er zusätzlich ein Jahresgehalt von 3.000 Mark als Herausgeber des VSI-Verbandsorganes »Sächsische Industrie«.135 Im selben Jahr erhielt er eine Vergütung für den von ihm initiierten Aufbau der sächsischen Streikentschädigungsgesellschaft.136 Ein Jahr später wurde er in den Reichstag gewählt, mit entsprechenden Diäten. Die Aufwandsentschädigung für seine Tätigkeiten als Stadtverordneter seit 1906 fiel dagegen kaum ins Gewicht. Seit 1910 erhielt der 32-jährige Stresemann als Beirat im Hansa-Bund eine jährliche Entschädigung von 10.000 Mark.137 Der BdI wiederum tat alles, damit »Herr Dr. Stresemann sich auf seinem neuen Posten [als Vorstandsmitglied] auch wirklich wohl fühlt und mit Freudigkeit arbeiten kann«. Es sei daher wichtig, dass »der Bund die für Herrn Dr. Stresemann notwendigen Summen aufbringt«138 – und die wurden im Laufe der Jahre immer größer. Gleiches gilt für den VSI, der ihm nach seinem Ausscheiden am Ende des Krieges, wie von Stresemann beschrieben, eine Ehrenpension in Höhe von zwei Fünfteln seines letzten Einkommens gewährte.139 Von großem finanziellem Nutzen war Stresemanns Engagement als geschäftsführendes Präsidialmitglied des noch vor dem Krieg gegründeten »DeutschAmerikanischen Wirtschaftsverbandes«140, für das er allerdings sein Einkom132 Vgl. dazu im Einzelnen W. Stresemann, Mein Vater, S. 45. Wie weit die weiteren detaillierten Darstellungen zutreffen oder im Nachhinein von Gustav Stresemann seinem Lebensweg »angepasst« wurden, muss offen bleiben. 133 Vgl. hierzu Starke, Dresden in der Vorkriegszeit, S. 102 f. 134 Hier ist eine Reihe von Tätigkeiten zu erwähnen, die nach heutigen Vorstellungen durchaus den Geruch der Vorteilsnahme haben könnten. Vgl. dazu Starke, Dresden in der Vorkriegszeit, S. 103. 135 Albert Uhlig an Stresemann, 16.12.1905, PA AA , NL Stresemann 115. Vgl. dazu Stresemanns Darstellung, warum ein angemessenes Honorar für ihn notwendig sei: (»[…] dass der kleine Verband deutscher Cigarettenfabrikanten seinem Syndicus für die Mehrarbeiten anlässlich der Bekämpfung der Cigarettensteuer eine Extravergütung von mehr als 6000. – Mark gewährt hat«), Stresemann an Franke-Augustin, 18.9.1906, PA AA , NL Stresemann 114. 136 Stresemann an Franke-Augustin, 19.9.1906, PA AA , NL Stresemann 115. 137 Schreiben Stresemanns an Uebel, 16.9.1914, PA AA , NL Stresemann 119. 138 Schreiben von Albert Hirth an Moras, 2.4.1912, PA AA , NL Stresemann 114. 139 Schreiben des VSI an Stresemann, 3.12.1917, PA AA , NL Stresemann 114. Diese Tat­ sache wird in dem Schreiben an Henriette Conitz (2.11.1928) von Stresemann ein wenig »uminterpretiert«. 140 Uebel seinerseits – der hierbei eine gewisse Rolle spielte – war Vorsitzender des VSI von 1905 bis 1912, Stresemann durch verschiedene Vereinsmitgliedschaften gut bekannt und ließ sich zudem beim Kauf und Verkauf von Aktien des Sachsenwerkes von Stresemann beraten.

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men beim Hansa-Bund aufgeben musste. Neben einem jährlichen Honorar von 15.000 Mark und der Erstattung des Verdienstausfalles beim Hansa-Bund besaß er nun einen funktionierenden Büroapparat und ein eigenes Privatsekretariat.141 Diese Stellung sicherte ihm nicht nur politisches und soziales Kapital, sondern half ihm, die schwierigen Nachkriegsjahre finanziell einigermaßen unbeschadet zu überstehen. Sein Salär konnte sich sehen lassen: 35.000 Mark jährliches Gehalt und ein besonderer Fonds in Höhe von 25.000 Mark.142 Nach der Revolution 1918 musste Stresemann allerdings nicht nur ein physisches, psychisches und politisches, sondern auch ein ökonomisches Tief überwinden. Ende des Jahres klagte er seiner Frau: »Da der Wert des Geldes immer mehr sinkt und dabei meine Einnahmen in diesem Jahr [1919] erheblich geringer sein werden, als im Vorjahr (Verband der Industriellen fällt aus, Tantiemen werden geringer) und andererseits die Steuern ins Ungemessene wachsen, müssen wir uns sehr einschränken und alle unwichtigen Ausgaben sperren. Es können Zeiten kommen, in denen wir jeden Hundertmarkschein zweimal um­ drehen, ehe wir ihn ausgeben.«143 Eine Woche später betonte er: »Finanziell wird es immer schlimmer. Die Anleihen werten nur noch 90 %. Wenn nicht bald Besserung kommt, gehen wir dem Ruin entgegen. […] Wir gehen also lausigen Zeiten entgegen. Ich bemühe mich um eine neue Stellung, aber sie muß 25–40 Mille bringen. Man kann das nicht überstürzen, damit man etwas Gutes findet. Die neue Zusammensetzung der Fraktion hat mir übrigens wertvolle Beziehungen gebracht, von denen ich sehr viel für die Zukunft erhoffe«.144 Hier zeigten sich geradezu paradigmatisch die Konvertibilität der verschiedenen Bourdieu’schen Kapitalsorten, und die Meisterschaft, mit der Stresemann auf dieser Klaviatur spielte.145 Stresemanns Schwierigkeiten wurden durch die im Zuge der von ihm übernommenen Verwaltung des väterlichen Erbes noch verstärkt. Zwar nahm ihm 141 Vgl. hierzu nur Hirsch, Stresemann, Ballin und die Vereinigten Staaten. Vgl. auch Stresemann an Uebel, 16.9.1914, PA AA , NL Stresemann 119 und Bassermann an Stresemann, 31.12.1916, PA AA , NL Stresemann 134, der darauf hinwies, dass die Gegner Stresemanns aus der Verbindung zu Ballin Kapital schlagen würden. 142 Stresemann an das Finanzamt Berlin-Mitte, 24.6.1926, PA AA , NL Stresemann 39. 143 Stresemann an seine Frau, 5.2.1919, PA AA , Privatnachlass Stresemann. Vgl. das Schreiben vom 21.2.1919, ebd., in dem Stresemann darüber klagte, dass die Miete in Berlin auf 9.000 Mark gestiegen sei: »Wir werden in den sauren Apfel beißen müssen, sonst sitzen wir auf der Straße«. 144 Stresemann an seine Frau, 12.2.1919, PA AA , Privatnachlass Stresemann. Hierbei ist zu bedenken, dass die Erhöhung der Steuern auf 6.000 Mark voraussetzte, dass es dementsprechende Werte gab, die versteuert werden mussten. 145 In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass Stresemann selbst in dieser Krisenzeit sein Aktienvermögen nicht blind verkaufte, sondern – dem Rat seiner Bank, der Gebr. Arnhold folgend – weder Polyphon- noch Sachsenwerk Aktien zu den »jetzigen schlechten Kursen« verkaufte. (Gebr. Arnhold an Stresemann, 26.11.1918, PA AA , NL Stresemann 316 und Antwort Stresemanns vom 29.11.1918, ebd.).

154  Ökonomisches und soziales Kapital sein Privatsekretär Franz Miethke die meiste organisatorische Arbeit ab, die aufgelaufenen Schulden musste er jedoch allein tragen, denn das väterliche Haus war mit hohen Hypotheken belastet.146 Immerhin konnte Stresemann 1916 seine Darlehnsforderung von 15.000 Mark an seinen Kollegen Greiert abtreten und den Gegenwert in bar kassieren.147 Wahrscheinlich übernahm er auch die Schulden seines alkoholkranken Bruders Richard.148 Für seinen Neffen Franz Miethke sprang er ebenfalls mit Bürgschaften ein.149 Zudem kostete ihn sein staatspolitisches Engagement im Kriege erhebliche Geldsummen. Er investierte große Teile seines eigenen Vermögens in Kriegsanleihen und lieh sich 1916 – wie im Schreiben erwähnt – noch von seinem Bekannten Uebel 25.000 Mark, die er zusätzlich investierte und von denen er nach dem verlorenen Krieg fast nichts wieder sah.150 Die Lage sah in der Tat nicht gut aus. Aus seiner Tätigkeit als Syndikus, aber auch durch gezielte Strategie, in Dresden soziales Kapital zu akkumulieren, ergab sich allerdings fast zwangsläufig, dass Stresemann im Laufe der Zeit sowohl Aktienbesitzer als auch vielbeschäftigtes Mitglied in verschiedenen industriellen Vorständen oder Aufsichtsräten wurde.151 Bereits aus seiner Tätigkeit im »Verband Deutscher Schokoladefabrikanten« rührten seine Beziehungen zur Genthiner Zuckerfabrik und zur renommierten Firma Stollwerck in Köln. In der Genthiner Fabrik arbeitete er 146 Bereits im Jahre 1909 hatte Miethke einen Anteil an dem Haus von 1.000 Mark (Erklärung vom 12.1.1909, PA AA , NL Stresemann 344) an Stresemann abgetreten und dann im August 1926 seinen restlichen Anteil (PA AA , NL Stresemann 344, Schreiben Stresemanns an Miethke vom 26.8.1926). Stresemann wollte verhindern, dass »fremde Leute Einfluß auf die Hausangelegenheiten nehmen könnten« (ebd.). 147 Schreiben o. D., PA AA , Privatnachlass Stresemann. Als »Gegenleistung« setzte sich Stresemann 1918 für den Kollegen ein, als dieser wegen seiner Tätigkeit als Syndikus in der Zigarettenindustrie massiv unter Beschuss geriet. Stresemann war es, der Greiert die Position als Syndikus im Verband Deutscher Schokoladefabrikanten durch Intervention bei Ludwig Stollwerck verschaffte (Stresemann an Stollwerck, 16.7.1918, PA AA , NL Stresemann 196). Vgl. das Schreiben Stresemanns an Ministerialdirektor Müller vom 2.2.1918, PA AA , NL Stresemann 199. Dort stellte er Greiert geradezu einen »Persilschein« aus. 148 Vgl. hierzu die Unterlagen im PA AA Berlin, NL Stresemann 125, 126, 129 und 130. Hinweise auch bei Starke, Dresden in der Vorkriegszeit, S. 105. Wie weit die Legende stimmt, Stresemann habe sich dafür von einem Freund Geld geliehen, bleibt unklar. Vgl. dazu Findeisen, Rede zum 35. Todestag Stresemanns, 7.11.1964, S. 3, PA AA , Privatnachlass Stresemann. 149 Schreiben des Bankhauses Gebr. Arnhold an Stresemann, 30.9.1929, PA AA , NL Stresemann 343. Vgl. dazu das Unterkapitel »Freundschaften und Männerbünde«. 150 Schreiben Stresemanns an Uebel, 12.10.1916, PA AA , NL Stresemann 155. 151 Vorwürfe vor allem während seiner Zeit als Kanzler und Außenminister von der politischen Rechten und der extremen politischen Linken. Aber schon in Sachsen polemisierten vor allem die Reformer. Vgl. Zeitungsauschnittsammlung, Bundesarchiv Berlin, Nationalliberale, Ind. 6765.

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zuerst selber in der Geschäftsführung mit und gelangte in den Aufsichtsrat. Dabei erwarb (und erhielt) er eine Reihe von Aktien, die er im Laufe der Zeit ständig vermehrte.152 Wie im Fall Genthien verhielt es sich mit der Schokoladenfirma Sarotti, mit deren Generaldirektor Hoffmann er seit seiner Tätigkeit als Syndikus sehr gut bekannt war. Die Geschicke der Firma bestimmte er über zwanzig Jahre als Aktionär und Mitglied des Aufsichtsrates mit, gehörte allerdings nie dem engeren Verwaltungsrat an153. Wie hoch sein Aktienbesitz war, der von Bankier Arnhold verwaltet wurde, konnte nicht ermittelt werden.154 Stresemann erhielt immerhin im Jahre 1920/21 für seine Tätigkeit im Aufsichtsrat Tantiemen in Höhe von 50.561,13 Mark. Zugleich wurde eine Dividende von 40 Prozent gezahlt. 1922 schied er im Streit wegen der Geschäftsgebaren des Vorstandes aus dem Aufsichtsrat aus.155 Der Austritt schmerzte ihn umso mehr, als er damit keinen weiteren Einfluss auf die Parteispendengestaltung der Firma nehmen konnte. Diese hatte, um nur ein Beispiel zu nennen, den Wahlkampf der DVP bei den Berliner Stadtverordnetenwahlen im Jahre 1921 mit 200.000 Mark unterstützt.156 Bei Kriegsende besaß Stresemann Aktien bei den Firmen Polyphon, Sachsenwerk, Dux Automobil-Werke, Evaporator, Ernemann, Sarotti, Böhmisches Brauhaus, Genthien, Krause und Baumann sowie Ventzky.157 Zudem war er im Laufe der Jahre (bis 1923) Mitglied im Aufsichtsrat der Firmen Sachsenwerk Licht und Kraft AG (u. a. zusammen mit den Bankiers Arnhold und seinem Schwager Kurt von Kleefeld),158 der Vereinsversicherungsbank Düsseldorf (u. a. zusammen mit Adolf Kirdorf, Wilhelm Merton, August Thyssen und Louis Hagen)159, der bereits erwähnten Zuckerraffinerie Genthin (u. a. zusammen mit Wilhelm Vogel und Max Rüger)160, der Firma Krause und Baumann 152 Vgl. dazu die Notiz im PA AA , NL Stresemann 124; dort ist von fünf Aktien im Wert von 6.400 Mark die Rede (März 1920). 1922 notierte Stresemann, dass er Genussscheine zu 125 % erhalten habe (PA AA , Privatnachlass Stresemann, 1.8.1922). 153 Am 30.10.1917 teilte er Ludwig Stollwerck mit, dass er in den Aufsichtsrat von Sarotti eintreten würde (RWWA Köln, 208, 220, Fasz. 1) »Herr Hoffmann [Sarotti], mit dem ich seit Jahren befreundet bin, teilte mir heute mit, dass sein Aufsichtsrat meine Wahl in Aussicht genommen hat. Hoffentlich sehen Sie darin keinen ›unfreundlichen Akt‹. Ich werde Gebrüder Stollwerck keine Konkurrenz machen«. 154 Vgl. hierzu die Aufforderung Stresemanns an »Gebrüder Arnhold«, die in seinem Besitz befindlichen Aktien für die Generalversammlung der Gesellschaft anzumelden, 17.10.1921, PA AA , NL Stresemann 113. Für die Abstimmung am 24.10.1924 erhielt Stresemann als Aktionär sechs Stimmkarten, ebd. 155 Schreiben vom 20.2.1922, PA AA , NL Stresemann 116. 156 Stresemann an die Sarotti AG , 4.2.1921, PA AA , NL Stresemann 113. 157 Aktennotiz Stresemanns vom 10.3.1920, PA AA , NL Stresemann 113. 158 Handbuch der Deutschen Aktiengesellschaften, 1919/20, Bd. I. 159 Handbuch der Deutschen Aktiengesellschaften, 1909/10, Bd. II. 160 Handbuch der Deutschen Aktiengesellschaften, 1909/10, Bd. II.

156  Ökonomisches und soziales Kapital (mit Hofrat Hartmann), der Deutschen Reformversicherungsbank AG Berlin (als Vorsitzender der Aktionärsvertreter, u. a. zusammen mit Arnhold),161 der »Freia« Bremen Berliner Versicherungs AG (bei der er eine seiner Versicherungen abgeschlossen hatte, u. a. zusammen mit Staatsminister Viktor von Podbielski), dem Böhmischen Brauhaus (u. a. zusammen mit Dr. Riesser und Kammerherr Levetzov-Markov)162, der Dresdner Chromo- und Kunstdruck Papierfabrik (u. a. zusammen mit Hofrat Wilhelm Hartmann und dem langjährigen VSI Vorsitzenden B. Lehmann)163, der Kriegskreditbank für das Königreich Sachsen (u. a. zusammen mit den Dresdner Bankiers Arnhold, Georg Marwitz, Richard Mattersdorf sowie Oberbürgermeister Gustav Beutler)164, der DUX Automobil Werke AG (erneut zusammen mit Bankier Adolf Arnhold)165 dem Lüneburger Eisenwerk (zum Litwin Konzern gehörig), der Ernemann-Werke seines sozialpolitischen Vorbildes (u. a. zusammen mit Franz Minkwitz und Paul Millington-Hermann)166, der Maschinenfabrik A. Ventzky AG und schließlich der Polyphonwerke AG (u. a. zusammen mit seinem Parteifreund Paasche und Bankier Hans Arnhold).167 Mit seinem Eintritt in die Reichsregierung im Jahre 1923 legte Stresemann alle diese Mandate nieder.168 Das von ihm erarbeitete und sorgsam gepflegte soziale Kapital hatte, neben der großen Leistungsfähigkeit Stresemanns, diesen rasanten Aufstieg ermöglicht. In der Reformbank und in den Genthiner Werken saß Stresemann beispielsweise auf Wunsch des Gesamtvorstandes des VSI bzw. der Schokolade­fabrikanten.169 Seine starke Stellung als Vorsitzender der Reformversicherungsbank hing damit zusammen, dass das ganze sächsische Geschäft der Gesellschaft »auf der Generalagentur Dresden und dem Verband Sächsischer Industrieller« beruhte, die das Unternehmen massiv unterstützten, und wo Stresemann das entscheidende Wort sprach.170 Dank dieses Potentials gelang es ihm, das Unternehmen 1913 mit der »Freya« zu fusionieren, in deren Aufsichtsrat er auf diese Weise gelangte. Das wiederum erhöhte sein Renommee 161 Vgl. das Protokoll der Aktionärssitzung der Deutschen Reformversicherungsbank, 9.3.1913, PA AA , NL Stresemann 121. 162 Handbuch der Deutschen Aktiengesellschaften, 1916/17, Bd. II. 163 Handbuch der Deutschen Aktiengesellschaften, 1919/20, Bd. I. 164 Mitgliederverzeichnis des AR , des Vorstandes und der Kreditausschüsse (aufgestellt nach dem Stande am 12. Dezember 1914), in: Stadtarchiv Dresden, Hauptkanzlei Akte 403/14, Kriegskreditbank für das Königreich Sachsen. 165 Handbuch der Deutschen Aktiengesellschaften, 1921/22, Bd. II. 166 Handbuch der Deutschen Aktiengesellschaften, 1919/20, Bd. I. 167 Handbuch der Deutschen Aktiengesellschaften, 1919/20, Bd. I. 168 AV Stresemanns vom 4.3.1924, PA AA , NL Stresemann 91. 169 Vgl. das Schreiben Stresemanns an Kommerzienrat Lehmann, o. D., PA AA , NL Stresemann 122. 170 Ausführungen Stresemanns auf der Sitzung von Aktionären der Deutschen Reformversicherungsbank am 19.6.1913, PA AA , NL Stresemann 121; danach auch das Folgende.

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als durchsetzungsfähiger Wirtschaftsorganisator. Stresemanns kurzes Gastspiel bei der »Transozean« beruhte wiederum auf einer »Entsendung« durch den BdI.171 Seine Tätigkeit als Syndikus öffnete Stresemann zugleich die Türen zu vielen industriellen Unternehmungen Deutschlands und begünstigte seine Karriere.172 An zwei Beispielen aus seiner frühen Dresdner Zeit lässt sich das Zusammenspiel von Politik, Gesellschaft, Beziehungen, Kontakten und kulturellen Verkehrskreisen im besonderen Maße nachweisen: bei der Kooperation mit seinen sozialpolitischen Lehrmeistern Arnhold und Ernemann. Diese Beispiele sind umso bemerkenswerter, als Stresemann hier nicht in erster Linie seine Beziehungen als Syndikus einsetzte, sondern als Persönlichkeit und als politischer »Türöffner« schon so bedeutend war, dass ihm der Sprung in die entsprechenden Unternehmen auch ohne direkte Patronage gelang. Wer in ihn investierte, investierte offensichtlich in die Zukunft. Zweifellos war er bereits zu dieser Zeit ein geachteter Spieler auf dem »ökonomischen Feld«. Das Sachsenwerk Niedersedlitz – Licht und Kraft AG – produzierte in erster Linie Elektroerzeugnisse, u. a. Motoren, Kühlschränke und Straßenbahnen. Von Anfang an war die deutsche Armee ein wichtiger Auftraggeber. Im Ersten Weltkrieg erlebte das Werk dann einen deutlichen Aufschwung. Georg Arnhold drängte schon sehr früh darauf, Stresemann nach dem Tode von Max Arnhold in den Aufsichtsrat zu berufen.173 Von 1909 bis 1922 saß Stresemann als Mitglied im Aufsichtsrat und schied dann aus formalen Gründen aus.174 Seit 1909 besaß er eine Vorzugsaktie im Wert von 1.000 Mark sowie eine zusätzliche Stammaktie. 1909 nahm er erstmalig als Aktionär an einer Generalversammlung des Aufsichtsrates teil.175 Im Kapitaleinsatz lässt sich der Aufstieg Stresemanns gut dokumentieren: Sein Portefeuille entwickelte sich bis zum Jahre 1918 auf einen Aktienbesitz im Werte von 66.000 Mark. Damit hielt Stresemann gut ein Prozent des Aktien-

171 Schreiben Stresemanns an MD Hammann, 16.8.1916, PA AA , NL Stresemann 164. 172 Wie dieses Zusammenspiel verlief, kann man sehr gut an dem Versuch erkennen, in den Aufsichtsrat der Sächsischen Waggonfabrik Werdau gewählt zu werden (vgl. den Brief Stresemanns an Konsul Weissenberger, 12.9.1916, PA AA , NL Stresemann 163). 173 Details dazu befinden sich in den (Privat-)Papieren der Familie Arnhold in New York, die der Forschung gegenwärtig nicht zur Verfügung stehen. Freundliche Mitteilung von Simone Lässig. 174 HStA Dresden, Sachsenwerke 11646, Nr. A 81, 1903–1930, Nr. 81. 175 Obwohl es nicht unwahrscheinlich erscheint, konnten keine Belege gefunden werden, dass Stresemann bei der Sanierung des Werkes geholfen hat und dadurch mit Aktien belohnt worden ist. Vgl. demgegenüber Starke, Dresden in der Vorkriegszeit, S. 77, der dies explizit feststellt. Zu den Konflikten, denen Stresemann als Aktionär und gleichzeitiges Mitglied im Aufsichtsrat ausgesetzt war, vgl. den Briefwechsel Bankhaus ArnholdStresemann, 26. und 29.11.1918, PA AA , NL Stresemann 316.

158  Ökonomisches und soziales Kapital kapitals.176 Auch finanziell stellte sich dieses Engagement als sehr lukrativ dar. Allein seine Tantiemen im Jahre 1919 beliefen sich auf 11.256,03 Mark. Hinzu kam eine jährliche Vergütung von 2.500 Mark für den Sitz im Aufsichtsrat.177 Auf politischer Ebene kennzeichnet ein Geben und Nehmen die Beziehung, obwohl politische Einflussnahmen naturgemäß nur zurückhaltend dokumentiert werden. Im Jahre 1917 bat das Werk Stresemann immerhin, seinen politischen Einfluss bei der Modifizierung der Kriegssteuer geltend zu machen. 1919 wurde seine Mitarbeit gesucht, um mögliche Streikbestrebungen zu unterbinden.178 Inwieweit Stresemann eine Rolle dabei spielte, dass die Stadt Annaberg an das Sachsenwerk einen Auftrag erteilte, muss offen bleiben.179 Bei der Mitgliedschaft im »Industrieschutzverband«, von ihm lanciert, profitierten beide Seiten. »Stresemanns Verband« wurde, in einer sehr kritischen Phase, gestärkt und durch den Beitritt des Sachsenwerkes deutlich stabilisiert.180 Das Sachsenwerk seinerseits profitierte von dem günstigen Angebot des Ablegers des VSI.181 Diffiziler ist es, den Einfluss des Sachsenwerkes auf politische Entscheidungen Stresemanns festzustellen. Immerhin gehörte das Sachsenwerk aber zu den regelmäßigen Spendern für die Parteikasse der Nationalliberalen und der DVP. Seit 1921 verpflichtet sich die Firma für fünf Jahre zu einer jährlichen Unterstützung von 10.000 Mark. Im November 1922 betrug die gespendete Summe allein schon 25.000 Mark.182 Seit 1923, dem Jahr der »Abwehr« des »Sachsenputsches«, wurde diese Summe sogar noch auf 50.000 Mark erhöht. Diese Zahlungen dürften Stresemann in seiner Politik gegenüber der Regierung Zeigner sicherlich bestärkt haben. Ein anderes Beispiel stellen die Beziehungen zur Firma Ernemann dar. Sie zählte um die Jahrhundertwende zu den größten Firmen der Branche in Sachsen. 1923 beschäftigte Ernemann bereits 3.000 Angestellte und Arbeiter. Im 176 HStA Dresden, Sachsenwerke 11646, Nr. A 81, 1903–1930, Nr. 93. 177 HStA Dresden, Sachsenwerke 11646, Nr. A 81, 1903–1930, Nr. 93, S. 390. 1920 hatten sich diese Tantiemen bereits verdreifacht. Stresemann erhielt 33.977,49 Mark. Es hatte sich mithin gelohnt, die Aktien zu behalten (HStA Dresden, Sachsenwerke 11646, Nr. A 81, 1903–1930, Nr. 93, S. 508). 178 HStA Dresden, Sachsenwerke 11646, Nr. A 81, 1903–1930, Nr. 37. 179 HStA Dresden, Sachsenwerke 11646, Nr. A 81, 1903–1930, Nr. 84. 180 Vgl. das Schreiben Stresemanns an Georg Rüger, 21.5.1907 (PA AA , NL Stresemann 115), in dem er betonte: »Ich hoffe jedoch, daß es uns gelingt, Herrn Max Arnhold und Herrn Kommerzienrat Pfund […] für den Vorstand zu gewinnen und daß wir dann intensiv arbeiten werden«. 181 HStA Dresden, Sachsenwerke 11646, Nr.  A 81, 1903–1930, Nr.  103, Industrieschutz­ verband Direktion, 1908–1919. 182 HStA Dresden, Sachsenwerke 11646, Nr. A 81, 1903–1930, Nr. 45. Auch 1928 bedankte sich Stresemann für die Wahlkampfunterstützung. HStA Dresden, Sachsenwerke 11646, Nr. A 81, 1903–1930, Nr. 55.

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Jahre 1917 wurde Stresemann in den Aufsichtsrat berufen, dem er bis zu seiner Ernennung zum Reichskanzler angehörte.183 Für seine Tätigkeit, von der im Einzelnen nur wenig bekannt ist, erhielt er eine Vergütung von jährlich etwa 3.000 Mark.184 Es ist klar, dass Ernemann vom politischen Kapital des Fraktionsvorsitzenden der Nationalliberalen profitieren wollte, da gerade seine Firma in hohem Maße von Kriegsproduktion abhing. Der Stresemannpartner Litwin konnte im August 1918 auf diesem Feld denn auch erste Erfolge melden. Es sei ihm gelungen, so Litwin, die Behörden dafür zu gewinnen, »sämtliche Aufträge für die Ernemann-Werke zu sichern […] [Sie] versprachen mir positiv, nur durch diese Firma ihre Aufträge an Films zu erteilen und auch sämtliche Transaktionen in dieser Richtung nur durch diese Firma vorzunehmen«.185 Ernemann war ebenfalls als Sympathisant der Nationalliberalen ausgewiesen. Industrielle wie er waren es vor allem, die in der Weimarer Republik Stresemanns Politik gegenüber dem »sozialistischen Sachsen« mitbestimmten. Sie wiesen im Jahr 1923, also im Jahr seiner Kanzlerschaft, immer wieder eindringlich auf die Gefahren hin, die von der sozialistisch-kommunistischen Regierung Erich Zeigner in Sachsen ausgingen und das »freie sächsische Unternehmertum« bedrohten  – und ermahnten Stresemann, etwas dagegen zu unternehmen.186 In einem etwas anderen Licht stellt sich Stresemanns Beziehung zur Deutschen Evaporator AG und deren Generaldirektor, Paul Litwin, dar.187 Die Basis dieser für Stresemann sehr fruchtbaren Kooperation waren enge persönliche Beziehungen zwischen beiden. Der Unternehmer, 1866 in Russland geboren, ursprünglich russischer Staatsbürger, übersiedelte 1912 nach Deutschland. Da es Stresemann gelang, seine Einbürgerung zu ermöglichen, machte er sich Litwin gewogen und konnte zugleich vermeiden, mit einer Firma im Kriege zusammenzuarbeiten, deren Hauptaktionär und Generaldirektor Angehöriger eines Feindstaates war.188 Stresemann kooperierte auch weiterhin mit Litwin und half

183 Geschäftsbericht der Ernemann AG für das Jahr 1923, Betriebsarchiv Carl Zeiss, Jena. 184 Geschäftsbericht der Ernemann AG für das Jahr 1920, Betriebsarchiv Carl Zeiss, Jena. 185 Paul Litwin an Stresemann, 10.8.1918, PA AA , NL Stresemann 196. Zum gesamten Komplex »Litwin« sehr detailliert und kenntnisreich Gatzke, Stresemann und Litwin, S. 76 ff. 186 Vgl. das Unterkapitel »Die Zerstörung des ›linksrepublikanischen Projektes‹ in Sachsen«. 187 Vgl. dazu den sogenannten »Plauener Prozess«. Er begann am 23.11.1926, wurde dann bis zum März 1927 vertagt. Das Urteil wurde am 11.3.1927 verkündet. Der Prozess wird außer (partiell) im Nachlass Stresemann auch durch die regionale und überregionale Presse sowie die Gerichtsakten dokumentiert (StA Chemnitz, Bestand 30096, Landgericht Plauen, Nr. 187). 188 Friedrichs an Stresemann, 11.10.1916, PA AA , NL Stresemann 155; Stresemann an Zimmermann, 3.11.1916, ebd.

160  Ökonomisches und soziales Kapital ihm beispielsweise, das Eiserne Kreuz am weiß-schwarzen Bande zu erlangen189 sowie die militärische Karriere seines Sohnes zu fördern.190 Zugleich besuchte Stresemann den Generaldirektor mehrfach auf dessen Gut Schwante und verbrachte im Jahre 1919 einen langen Sommerurlaub mit der ganzen Familie auf seinem Anwesen in Mörschwil in der Schweiz.191 Die Nähe zu Litwin war so eng, dass Stresemann der Bayerischen Vereinsbank ein posi­ tives Leumundszeugnis ausstellte und Litwin als für die »Führung auch größerer industrieller Unternehmungen« besonders qualifiziert und als völlig vertrauenswürdig bezeichnete.192 Parteipolitisch stand man sich ebenfalls nahe: Bereits 14 Tage nach Gründung der DVP trat Litwin der Partei bei und wurde alsbald deren großer Mäzen, unterstützte vor allem die stets defizitäre Stresemann’sche Zeitschrift »Deutsche Stimmen«. Darüber hinaus erhielt Stresemann von Litwin im Jahre 1920 einen, bis heute nicht genau geklärten, Zugriff auf ein ominöses Sonderkonto »S. Gustav«, das die Evaporator angelegt hatte. Hierbei handelte es sich u. a. um 5.000 Pfund Devisen, die in der Inflationszeit von besonderer Bedeutung waren – und Stresemann Handlungsfreiheit gewährten.193 Worin bestanden nun die gemeinsamen ökonomischen Interessen? Litwin »hatte sich in den neunziger Jahren eine angesehene und wohlhabende Stellung im russischen Kupfer- und Goldbergbau erworben«,194 wurde Leiter eines Bergwerkes, Kaufmann der I. Gilde195 und trat zu Beginn des 20. Jahrhunderts in verschiedene industrielle Aufsichtsräte ein.196 1912 gründete er die Evaporator GmbH in Deutschland. Sie befasste sich anfangs vor allem mit Wärme­ technik und -wirtschaft (Ofenanlagen usw.)197, spezialisierte sich im Krieg aber darauf, deutsche Industrieerzeugnisse in die Ukraine aus- und im Gegenzug Getreide und andere Landesprodukte nach Deutschland einzuführen.198

189 Schreiben Stresemanns an Litwin vom 13.8.1915 und Antwort vom 15.8.1915, PA AA , NL Stresemann 195. Stresemann intervenierte deshalb u. a. bei Payer, Deutelmoser und Oberstleutnant Bauer, Stresemann an Litwin, 10.8.1918, PA AA , NL Stresemann 195. 190 Gatzke, Stresemann und Litwin, S.  80. Litwin wiederum kümmerte sich um Stresemanns Neffen Kurt Plagge, indem er ihn zu seinem Privatsekretär machte (ebd., S. 84, Anmerkung 54). Man kann also durchaus von Geben und Nehmen sprechen. 191 W. Stresemann, Zeiten und Klänge, S. 35. 192 Stresemann an seinen Parteifreund Bankdirektor Diedrich (Bayerische Vereinsbank), 22.12.1921, PA AA , NL Stresemann 113. 193 Vgl. dazu Gatzke, Stresemann und Litwin, S. 84. 194 Ebd., S. 79. 195 Abschrift Litwins von einem Schreiben des Gouverneurs von Jenissei (8.2.1908) an das Büro Stresemann, 13.3.1925, PA AA , NL Stresemann 22. 196 Vgl. dazu Prozeßbericht Vogtländischer Anzeiger und Tageblatt, Nr. 79, vom 3.4.1927. 197 Vgl. hierzu und zum Folgenden Gatzke, Stresemann und Litwin, S. 79 ff. 198 Vogländischer Anzeiger und Tageblatt, Drittes Blatt, Nr. 74, 29.3.1927.

Beruf und Vermögen 

161

Mit Beginn des Ersten Weltkrieges wurde Stresemann dort Mitglied im Aufsichtsrat, seit 1921 stellvertretender Vorsitzender.199 Er besaß anfangs eine Kommanditeinlage von 20.000 Mark.200 Diese erhöhte sich im Laufe des Krieges auf 58.000 Mark. Neben Geheimrat Friedrichs, Vorsitzender des BdI und väterlicher Förderer Stresemanns, gehörten Hjalmar Schacht201 (Aufsichtsratsvorsitzender der Firma von Anfang an bis zu seinem Ausscheiden im Jahre 1923) und Dr. Schweighoffer (Präsidialmitglied des CdI) dem Aufsichtsrat an. Litwin besaß etwa 80 Prozent des Aktienkapitals; Stresemann, Friedrichs, Schacht und Schweighoffer teilten sich den Rest.202 Litwin wurde 1917 wegen seiner Russlandkenntnisse vom Reich beauftragt, die Ukraine-Ausfuhr-Gesellschaft zu organisieren.203 In dieser Funktion arbeitete er zugleich als Lobbyist für Stresemanns Firma Ernemann, schanzte ihr wichtige Aufträge zu und war auch noch in Sachen Evaporator höchst erfolgreich. Die gemeinsame Evaporator-Gesellschaft profitierte, wie Stresemann erfreut bemerkte, jedenfalls erheblich von seiner Tätigkeit204: »Ich ersehe aus ihrem Brief zu meiner Freude, daß die Entwicklung der Evaporator-Gesellschaft sich weiter in aufsteigender Linie bewegt.«205 Man darf also vermuten, dass in den weiteren Verhandlungen Litwins die Evaporator-Gesellschaft häufig zum Zuge kam – und von seinem politischen Auftrag profitierte. Die Vermischung von Geschäft und Politik verstärkte sich dann bei den deutsch-sowjetischen Verhandlungen, die Ende August 1918 mit der Paraphierung der Ergänzungsverträge im Rahmen der Verhandlungen von Brest-­ Litowsk über weitere politische, militärische und wirtschaftliche Fragen abgeschlossen wurden. Hierbei war Litwin dank seiner guten Kontakte zur neuen Regierung ein gefragter Fachmann. Stresemann wiederum war als Lobbyist und zugleich als eine wichtige parlamentarische Größe in diese Verhandlungen involviert.206 Ein Kreis um Stresemann, Litwin, Prittwitz, Nadolny und Graf Kessler vertrat dabei die ökonomischen Ziele des Reiches.207 Gleichzeitig ging

199 Stresemann an die Deutsche Evaporator AG , 24.8.1921, PA AA , NL Stresemann 113. 200 Vogtländischer Anzeiger und Tageblatt, Nr.77 vom 1.4.1927, S. 9. 201 In allen Biografien, sowie in den Memoiren Schachts, wird von dieser  – umfang­ reichen – Tätigkeit kaum etwas berichtet. Zu Stresemann und Schacht vgl. auch H. Müller, Die Zentralbank, S. 27 S. f. 202 Aussage Litwins während des Prozesses in Plauen, Vogtländischer Anzeiger und Tage­ blatt, Nr. 77 vom 1. April 1927, Drittes Blatt. 203 Berliner Tageblatt, Nr. 154, 1.4.1927, S. 3. Aussage Litwins im Plauener Prozeß. 204 Litwin an Stresemann, 10.8.1917, PA AA , NL Stresemann 196. 205 Stresemann an Litwin, 13.8.1917, PA AA , NL Stresemann 114. 206 Vgl. dazu Grupp, Harry Graf Kessler 1868–1937, S.  176 ff. Danach die folgenden Gedanken. 207 Vgl. dazu das Schreiben Stresemanns an Kessler, 16.8.1918, Schiller-National Museum und Deutsches Literaturarchiv Marbach, Kessler, 78.461, 1733.

162  Ökonomisches und soziales Kapital es aber immer auch um Privatinteressen, wobei die Tätigkeitsfelder Litwins als »Geschäftsführer der Deutschen Ausfuhr GmbH« nur schwer zu eruieren sind.208 Stresemann wusste jedoch sehr genau um die Problematik seiner dreifachen Rolle als Politiker, Syndikus eines Industrieverbandes und als Miteigentümer einer involvierten Firma.209 Stresemann rückte infolge der engen Beziehungen nach und nach in die Aufsichtsräte verschiedener Litwin’scher Unternehmungen auf. Genannt seien nur Hager & Weidemann, Bergisch Gladbach, die Hoffmann’sche Schokoladen AG, bei der Litwin fünfzigprozentiger Mitinhaber war, die Lüneburger Eisenwerke, eine weitere Konzernfirma der Deutschen Evaporator sowie Kellmann & Detsinni, ein Unternehmen, an dem wiederum Litwins Schwiegersohn beteiligt war.210 Ob Stresemann in den anderen Werken Litwins, etwa in der Kommanditgesellschaft Paul Litwin, den Niederbayerischen Quarzwerken oder einem weiteren Werk (Altrandsberg bei Cham) engagiert war, ist bislang ungeklärt.211 Litwin selber besaß zu dieser Zeit nicht nur fast ein Dutzend eigener Firmen, sondern saß zugleich in mehreren Dutzend bedeutender Firmen im Aufsichtsrat.212 Überall nutzte er, wie er später betonte, den Rat seiner Aufsichtsratskollegen Schacht, Schweighoffer und vor allem von Stresemann. Die enge Verbindung zwischen Litwin, Stresemann und Hoffmann, dem Vorsitzenden des »Verbandes Deutscher Schokoladefabrikanten« zeigte sich vor allem bei der Neugründung seiner Schokoladenfabrik. Nachdem Hoffmann die Aktienmehrheit in seiner alten Firma Sarotti verloren hatte, gelang es ihm mit Hilfe Litwins, eine neue Firma zu gründen, in die Stresemann ebenfalls involviert war: »Ich [Stresemann] bedauere nur, daß ich wegen der Parität zwischen den beiden Besitzergruppen, die bis aufs I-Tüpfelchen ausgeklügelt ist, nicht selbst in der Lage bin, Aktionär sein zu können, da die Ehe zwischen Herrn Hoffmann und Ihnen [Litwin] doch durch mich zustande gekommen ist 208 Vgl. dazu u. a. Gatzke, Zu den deutsch russischen Beziehungen. 209 Vgl. das Schreiben Stresemanns an Harry Graf Kessler, 16.8.1918, Schiller-National­ museum und Deutsches Literaturarchiv, Marbach, NL Graf Kessler 78461, 1733. Dort heißt es u. a. »Herr L. [Litwin] übergab mir einige Depeschen, die von der russischen Botschaft in Berlin nach Moskau gesandt worden sind. In diesen Depeschen spiele ich eine zu große Rolle. L. läßt gewissermaßen durch mich Erklärungen der Badediener abgeben und behandelt die ihm gegebenen Mitteilungen in einer Art, die mir wenig wünschenswert erscheint, zumal ich gegenüber dem Abgeordneten Erzberger bei den Verhandlungen der Mehrheitsparteien mit den Polen die Ansicht vertreten habe, daß das Parlament sich in schwebende Verhandlungen nicht einmischen will. Es kann auch durch die Form zu leicht der Eindruck erweckt werden, als wenn ich gewissermaßen für die russischen Interessen arbeite, obwohl unsere ganze Aktion selbstverständlich nur vom deutschen Standpunkt aus ausgegangen ist«. 210 Vgl. dazu Vogtländischer Anzeiger und Tageblatt, Nr. 78, vom 2.4.1927. 211 Vgl. dazu Vogtländischer Anzeiger und Tageblatt, Nr. 77, vom 1.4.1927, Drittes Blatt. 212 Vgl. ebd. Danach auch der folgende Gedanke.

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und es auch ein seltsames Gefühl ist, im Aufsichtsrat einer Gesellschaft zu sein, wenn man an dieser gar nicht beteiligt ist.«213 Die Litwinschen Firmen reüssierten besonders seit Ende des Jahres 1918, da sie sich nun von der Produktion weitgehend ab- und verstärkt dem Handel zuwandten. So gliederte sich die Evaporator Gesellschaft nach Kriegsende eine Reparaturabteilung für Eisenbahn-Waggons an, die sich mit Kauf und Verkauf von Schrott befasste.214 An dieser neuen Produkt- und Handels AG von Litwin war Stresemann als Aktionär beteiligt. Zugleich blieb aber die »alte«­ Evaporator-Gesellschaft für Stresemann eine wahre Goldgrube. Der Gewinn des Unternehmens betrug allein für das Jahr 1919/20 19¾ Millionen Mark, mit einer dementsprechenden Ausschüttung für die Kommanditisten.215 An Aufsichtsratstantiemen flossen Stresemann im Jahr 1922 über 60.000 Mark zu, wovon der kleinere Teil (5.000 Mark) eine feste Tantieme, der Rest jedoch der Anteil am Reingewinn darstellte.216 Wegen der Attraktivität des Unternehmens bat Stresemann Litwin im August 1921 zudem, als es darum ging, die Aktien der Deutschen Evaporator an der Berliner Börse zu platzieren, ihm »außerhalb der Einführung der Aktien einen Posten von 50 bis 100 Stück direkt ab[zu]geben […], damit ich mit meinem Kauf nicht in die voraussichtlich eintretende Haussebewegung der ersten Tage hineingerate«.217 Ähnliches gilt für den Erwerb von Aktien der der Evaporator angeschlossenen Quarzwerke, bei denen Stresemann, auf Anraten Litwins, für 300.000 Mark Aktien erwarb.218 Stresemann besaß also zu Beginn der 1920er Jahre ein erhebliches Aktienportefeuille, das ihn von den Schwankungen der Währung weitgehend unabhängig machte. Ferner war Stresemann in hohem Maße persönlich am Erfolg der Evaporator-Gesellschaft interessiert. Dies muss bei allen Interventionen zu Gunsten dieser Firma berücksichtigt werden. Und nicht zuletzt schreckte er beim Kauf von Aktien vor »Insidergeschäften« nicht zurück. Einige Geschäfte waren in der Tat deutlich anrüchig: Die Evaporator AG war z. B. im Jahre 1920 in den Schrotthandel eingestiegen und hatte von der italienischen Regierung 12.000 Tonnen italienischer Beutemunition zur Ausfuhr ins Ausland preisgünstig gekauft.219 Die Lieferung nach dem tschechischen Werk konnte jedoch nicht fristgerecht erfolgen. Deswegen wandte sich Stresemann 213 Stresemann an Litwin, 21.6.1922, PA AA , NL Stresemann 116. 214 Vgl. dazu Vogtländischer Anzeiger und Tageblatt, Nr. 77, vom 1.4.1927, Drittes Blatt. 215 Vgl. dazu Vogtländischer Anzeiger und Tageblatt, Nr. 80, vom 3.4.1927, ausweislich der Akten des Finanzamtes Wilmersdorf. 216 Vgl. dazu das Schreiben der Evaporator-Gesellschaft an Stresemann, 26.5.1922, PA AA , NL Stresemann 116. 217 Stresemann an Litwin, o. D., PA AA , NL Stresemann 113. 218 Stresemann an Litwin, 24.6.1922, PA AA , NL Stresemann 116. 219 Alles Folgende nach: StA Chemnitz, Bestand 30096, Landgericht Plauen, Nr. 187, S. 7 ff.

164  Ökonomisches und soziales Kapital an den Reichswirtschaftsminister, seinen Parteifreund Scholz, und bat ihn um Hilfe220 Auffällig war dabei die »persönliche Note«, in der dieses Hilfeschreiben, das im Übrigen abgelehnt wurde, abgefasst worden war. Zweifellos lag hier eine versuchte Einflussnahme vor. Hinzu kam der Verdacht, dass es sich bei diesem Material nicht um reinen Schrott, sondern um wiederverwendbares Kriegsmaterial gehandelt habe. Dieser Verdacht konnte niemals völlig ausgeräumt werden. Auffällig war in jedem Fall, dass Partien, die für 800 Mark als Schrott aufgekauft worden waren, vom tschechischen Käufer für 1.700 Mark abgenommen wurden, eine Gewinnspanne, die selbst für die Jahre nach dem Kriege außergewöhnlich hoch war.221 Stresemann war also ein sehr wendiger, anpassungsfähiger und auf sein finanzielles Wohl bedachter Wirtschaftsbürger, der zeitweise hart am Rande der Legalität operierte und seine jeweiligen Rollen (Politiker, Geschäftsmann, Lobbyist) nicht immer sorgfältig voneinander trennte. Ganz sicher besaß er auf ökonomischem Gebiet erhebliche Fähigkeiten. Sie passen nicht in das Bild eines »unschuldigen« Traumjörgs, sondern streifen durchaus die Niederungen der gerissenen Spekulationsgeschäfte. Obwohl Stresemann nicht zum reichsten Personenkreis in der Weimarer Republik gehörte, treffen seine Aussagen aus dem Jahre 1928, er habe keinerlei Vermögenswerte und sei durch seine Verluste während der Inflation ein »armer Mann« geworden, so sicherlich nicht zu. Fazit bleibt: Stresemann war im Laufe der Zeit ein kluger und erfolgreicher Wirtschaftsbürger geworden. Insofern war er, wenigstens zum Teil, bei seinem großen Ziel angekommen.

220 StA Chemnitz, Bestand 30096, Landgericht Plauen, Nr. 187, S. 11. Danach, S. 12, auch das folgende Zitat. 221 Berliner Tageblatt, Nr. 163, 6.4.1927, S. 3. Aussagen des Zeugen Knoll, die vor Gericht unwidersprochen blieben.

4. Politisches Kapital

Eine Partei wird neu erfunden: Die Nationalliberalen in Sachsen Der Aufstieg der Nationalliberalen »Wir haben uns dagegen erklärt, dass man für die Reichstagswahlen eine deutsche Arbeitgeberpartei schüfe […]. Wir stehen in der Welt der Tatsachen und nicht in der Welt der Illusionen. Wir haben mit dem allgemeinen Reichstagswahlrecht zu rechnen, das die Stimmen zählt: und wenn wir die Stimmen der deutschen Arbeitgeber und Industriellen zählen, so ist die Summe verschwindend gering gegenüber der Stimmenzahl anderer Erwerbsstände, so dass ein lediglich von der Industrie aufgestellter Kandidat keinen einzigen Wahlkreis im deutschen Reich finden würde […], wo es ihm gelänge […] in die Volksvertretung zu kommen […]. Wir aber in Sachsen haben einen anderen Weg eingeschlagen, und ich darf sagen, nicht ohne Erfolg.«1

Um die Jahrhundertwende war der junge Stresemann noch auf der Suche nach einer politischen Heimat. Die Konservativen mit ihrer gegen die moderne Industriegesellschaft gerichteten, rückwärtsgewandten Ideologie und die Sozialdemokraten mit ihrem klassenkämpferischen Gestus und ihrem Kollektivismus kamen für ihn nicht infrage. Als junger Erwachsener begeisterte ihn Friedrich Naumann. Die von ihm vertretene Kombination aus Nationalbewusstsein, ja überhöhtem Nationalismus, und sozialem Engagement entsprach seinen Ideen von einer alle Schichten integrierenden deutschen Volksgemeinschaft. Er suchte in dieser Partei »die ganz große Harmonie, eine coincidentia oppositorum, wie sie mehr der spirituellen als der politischen Sphäre angehört: die Versöhnung der Religion, dann der Nation mit der sozialen Leidenschaft, des liberalen Freiheitsdranges mit der Bindung an Staat und Volk, ja die Versöhnung von Militarismus und Menschlichkeit, von Kaisertum und Demokratie miteinander.«2 Stresemann trat daher sofort dem kleinen Nationalsozialen Verein in Dresden bei. Er machte dort, wie überall, rasch Karriere und wurde stellvertretender Vorsitzender.3 Realist der er war, erkannte er nach den Reichstagswahlen von 1903 jedoch sehr schnell, dass diese Partei kaum politische Resonanz besaß 1 Ausführungen Stresemanns auf der 7. Hauptversammlung des VSI, 16.2.1909, in: Säch­ sische Industrie 5 (1909), S. 148. Vgl. insgesamt zur Modernisierungsproblematik in Sachsen, Lässig u. Pohl, Sachsen im Kaiserreich. 2 Radkau, S. 34. 3 Starke, Dresden in der Vorkriegszeit, S. 91; W. Stresemann, Mein Vater, S. 56 f.

166  Politisches Kapital und diese auch in Zukunft nicht besitzen würde. Mit ihr würde er daher seine liberalen Ideen nicht umsetzen können, trotz der persönlichen Verehrung für Friedrich Naumann.4 Rasch wechselte er daher zu den Nationalliberalen, den voraussichtlich stärkeren liberalen Bataillonen.5 Ihnen blieb er bis zu seinem Lebensende treu. Die sächsische Nationalliberale Partei gab allerdings zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein höchst bescheidenes Bild ab.6 Sie war politisch unbedeutend und stark durch die Liaison mit den Konservativen geprägt, und das trotz des Reformers Victor Böhmert.7 »Linke« konservative und »rechte« nationalliberale Politik waren zu dieser Zeit kaum zu unterscheiden.8 Allerdings rumorte es im nationalen Reichsverein (nationalliberal) um die Jahrhundertwende bereits heftig. Jungliberale und linker Parteiflügel drängten auf einen Kurswechsel. Sie erwarteten, dass »der nationalliberalen Partei […] in Sachsen und insbesondere in Dresden eine ganz andere Stellung [gebührt], als sie [gegenwärtig] einnimmt«. Dieser Wunsch sollte sich bald erfüllen. Stresemann wollte ebenfalls Änderungen. Die sächsischen Nationalliberalen sollten  – nach seinen Vorstellungen  – zu einer Partei des Bürgertums umgeformt, zu einem bedeutenden Machtfaktor und zugleich zu einer neuen, einer eher linken Partei der Mitte werden. Mit ihrer Hilfe wollte er das sächsische politische System sukzessive umformen, wollte (etwas) mehr Parlamentarismus, (etwas) mehr Partizipation und (zumindest partiell) etwas mehr soziale Gerechtigkeit im Land durchsetzen. Vor allem aber ging es ihn um mehr Einfluss für das Wirtschaftsbürgertum und damit um Distanzierung vom Kurs der Agrarier. Die konkrete Umsetzung dieses von Stresemann »erfundenen« und in Sachsen erfolgreich praktizierten, liberalen Weges in die Moderne stellt ein frühes Meisterstück seiner Politikkunst dar. Stresemann gelang es als erstes, seine Ideen innerparteilich in einer Art Revolution durchzusetzen, bei der der linke über den konservativen Flügel siegte. Zugleich versuchte er jedoch, eine Totalkonfrontation mit den Konservativen zu 4 Vgl. dazu Pohl, Hellmut von Gerlach, S. 102 ff. Wahrscheinlich gab es aber auch politische Differenzen, da Naumann – nach Stresemanns Ansicht – zu stark an den Grundsätzen der freihändlerischen Handelspolitik festhielt, was Stresemann in seiner Tätigkeit beim VSI empfindlich eingeengt hätte. Vgl. Kolb, Stresemann, S. 28. 5 Doppelmitgliedschaften in beiden Parteien waren zu dieser Zeit nichts Ungewöhnliches. 6 Zur Parteienlandschaft in Dresden knapp, Kolditz, Politische Vereine und Parteien, S. 54–58. 7 Vgl. den Jahresbericht des Nationalliberalen Deutschen Reichsvereins zu Dresden 1903/04, Sächsische Landesbibliothek, H. SaxG, 364, 60; danach auch das folgende Zitat. Ferner: Bericht in den DNN, 26.5.1904, Nr. 140 »Der Nationalliberale Reichsverein zu Dresden veröffentlicht soeben seinen Jahresbericht […]«. Böhmert entpuppte sich dort, neben Stresemann u. a. als einer der wichtigsten Redner. Zu Böhmert und seiner Rolle in Dresden vgl. Kranich, Evangelisch-Lutherische Landeskirche, S. 111–113. 8 Bericht des Bayerischen Gesandten Montgelas, 2.3.1904, HStA München, MA 98760.

Die Nationalliberalen in Sachsen 

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vermeiden und die Sozialdemokraten in sein Politikmodell einzubinden. Da das politische System Sachsens durch starke Verkrustung und ein bürgerfeindliches Milieu gekennzeichnet war,9 schienen ihm Veränderungen nur bei sehr behutsamer Ausbalancierung der verschiedensten Faktoren möglich. Vor diffizileren Aufgaben hat Gustav Stresemann selbst in seiner Zeit als Weimarer Kanzler, Außenminister und Parteiführer nicht gestanden. Wie war nun die politische Ausgangslage? Wie war es um die sächsischen Liberalen bestellt? Was wollte und konnte Stresemann erreichen?10 Erst seit dem Jahr 1882 gab es mit dem »Nationalliberalen Verein für das Königreich Sachsen« überhaupt eine Organisation, die diesen Namen verdiente.11 Sie hatte allerdings noch kein Sekretariat, Werbung für die Partei wurde nicht veranstaltet, diese war nicht einmal erwünscht. Zudem besaß der Verein im Jahr 1895 gerade einmal 1.430 Mitglieder, in Dresden sogar nur etwa 100. Nachdem die Konservativen um die Jahrhundertwende, im Zuge einer Wahlrechtsänderung, eine Zweidrittelmehrheit in der Zweiten Kammer des Landtages errungen hatten und die Sozialdemokraten dort herauskatapultiert worden waren, versank die Landtagsfraktion zudem in Bedeutungslosigkeit, und verhielt sich dementsprechend. Da sich die Liberalen als eine Vertretung von Honoratioren, Bildungs- und Wirtschaftsbürgern verstanden, in der Arbeiter und Agrarier keine entscheidende Rolle spielen sollten, dominierte im Verein (der sich noch nicht als politische »Partei« verstand) das Politikverständnis klassisch liberaler Honoratiorenpolitik. Das bedeutete: keine Massenpolitik und kein politischer Massenmarkt, kein öffentlicher Diskurs mit dem politischen Gegner, sondern Durchsetzung von Sachlichkeit, von überlegenem Fachwissen in einem unpolitischen kleinen und intimen Diskussionsprozess – gewissermaßen eine vergrößerte Kommunalpolitik.12 Das Volk an der Politik zu beteiligen, wurde geradezu als schädlich angesehen. Genau dieses Politikverständnis wollte Stresemann ändern.13 9 Seinen politischen Erfolg in Sachsen verdankte Stresemann erneut, wie schon bei der Gründung des VSI, sicherlich sich selber, seiner Dynamik, seinem Geschick, seinem unbeirrbaren Willen und seiner Zähigkeit, seinem unstillbaren Aufstiegswillen, aber vor allem seinem Fleiß. Darüber hinaus trug aber in diesem Fall erneut eine Vielzahl von ihm freundlich gesinnten Personen zu dem Erfolg bei. Der Erfolg beruhte also wiederum auf einem Geflecht verschiedenster Bedingungen und Voraussetzungen. 10 Insgesamt zum System, Goldt. Zur hier verfolgten Problematik finden sich dort jedoch kaum weiterführende Hinweise. 11 National-liberaler Verein für das Königreich Sachsen (Hg.), Mitglieder-Verzeichnis […] 1888, nebst einem Rückblick auf die Geschichte der Partei in Sachsen […], Leipzig o. J. 12 Kühne, Historische Wahlforschung, und Pohl, Kommunen. 13 Genau das aber war das Manko der Konservativen. »Die konservativen Führer sind Leute alten Schlages, denen jede demagogische Bearbeitung der Wählerschaft zuwider ist, die wie Mehnert und Hänel in einer Zeit ihre politische Reife erlangten, wo die Sozialdemokraten bei den Landtagswahlen keine Rolle spielten […]«. Preußische Gesandtschaft in Dresden an von Bethmann Hollweg, 25.4.1910, PA AA , R 3296 (Sachsen).

168  Politisches Kapital Der konkrete Vorgang der Umformung der Partei, der daraus resultierende Wandel in den Zielsetzungen, der Formenwandel ihrer Politik, sowie ihr Bruch mit den Konservativen lassen sich, wie bei der Gründung des VSI oder dem Umschwung in der Kommunalpolitik, genau bestimmen. Es waren die Landtagsnachwahlen 1903/1904 in Dresden.14 Sie stellten die Initialzündung für die zukünftige »Stresemannisierung« der Partei dar und sind zugleich ein Musterbeispiel für seine erfolgreiche politische Strategie.15 Sein Agieren in dieser Zeit zeigt bereits alle Facetten, die den raffinierten Parteipolitiker der Weimarer Republik später auszeichnen sollten. Schauplatz der Handlung war der Landtagswahlkreis Dresden-Altstadt, eine Hochburg der Konservativen. Trotz fester Abmachungen, den konservativen Kandidaten vorbehaltlos zu unterstützen, konstituierte sich dort im September 1903 scheinbar aus dem Nichts ein »Unabhängiger Ausschuss«, der im Wesentlichen aus Sympathisanten und Mitgliedern der Nationalliberalen, und zwar der Stresemann’schen Richtung, bestand. Dieser Ausschuss ignorierte alle bisherigen Abmachungen und setzte sich in einem Überraschungscoup für die Wahl von Stresemanns Kollegen, Paul Schulze, ein. In einem aufwändigen, für Dresden ganz neuen Wahlkampf, siegte Schulze daraufhin mit großer Mehrheit über einen konsternierten Konservativen, Osterloh, der sich vergeblich auf Recht und Verträge berief.16 Der Sieg der Stresemann’schen Richtung wirkte auf die Nationalliberalen wie ein Fanal. Die politische Richtungsänderung, eine Mitgliederexplosion und damit die sächsische »Ära Stresemann« bahnten sich an. 1914 schilderte Stresemann diese Vorgänge sehr diskret: »[Ich] bin in den nationalliberalen Reichsverein eingetreten und es ist mir dort gelungen, innerhalb zweier Jahre die Kartellstimmung und die Neigung zu den Konservativen zu überwinden und in eine selbständige nationalliberale Politik einzutreten.«17 Die Konservativen wiederum klagten: »Die neuen nationalliberalen Führer drängen nach links und manche Anzeichen sprechen dafür, dass radikale Elemente an der Arbeit sind, dem Liberalismus eine Oppositionsstellung [gegenüber den Konservativen] aufzunötigen.«18 Das »Vaterland«, das Organ der Konservativen konstatierte verschnupft: 14 Vgl. dazu Pohl, Die Nationalliberalen in Sachsen, S. 202 f. 15 Detaillierte Berichterstattung zu den Vorgängen bei den Nationalliberalen seit dem Jahre 1903 in: Bericht des Preußischen Gesandten in Dresden an das AA , 13.3.1905, PA AA , R 3268 (Sachsen). 16 Vgl. dazu nur die Wahlanzeige in den DNN, Nr. 272, 30.9.1903, S. 15. 17 Stresemann an Schier, 26.5.1914, PA AA , NL Stresemann 138. 18 Das Vaterland, Jg. 17 (1905), S. 211 (Landesbibliothek Dresden). Stresemann und Schulze versorgten zudem den VSI mit »schwarzen Listen«, in denen alle Abgeordneten angegriffen wurden, die nicht bereit waren, »die berechtigten Interessen der Industrie« zu unterstützen (Wahlaufruf des VSI, in: Das Vaterland 17 (1905), S. 365 ff.).

Die Nationalliberalen in Sachsen 

169

Wenn »der aus Preußen berufene Einpeitscher dieser Partei [der neuen National­ liberalen] Dr. Stechemann [sic] […] sagte, seine Partei müsse aus der bisherigen vornehmen Zurückhaltung heraustreten, so ist zu bemerken, dass allerdings leider zugegeben werden muss, die alte auf eine ruhmvolle Vergangenheit zurückblickende, Schulter an Schulter mit den anderen nationalen Parteien gegen Freisinn und Sozialdemokratie kämpfende vornehme nationalliberale Partei ist in Sachsen im Aussterben begriffen, seitdem Schulze, Stechemann [sic] und Genossen dort das große Wort führen«.19

Selbst der sonst sehr zurückhaltende Preußische Gesandte notierte 1909: »Die hiesigen Nationalliberalen sind in der letzten Zeit bedauerlich nach links gerückt. Ihre gegen die Konservativen gerichteten Wahlaufrufe ähnelten nach Fassung und Inhalt verzweifelt den sozialdemokratischen Elaboraten.«20 Fazit: Der Coup Stresemanns war vollständig gelungen, aus dem konservativen »Verein« war eine nach links rückende Nationalliberale »Partei« geworden.21 Parallel dazu zeichnete sich auch organisatorisch eine kleine Revolution ab. Innerhalb weniger Jahre wurden ein funktionierender Landesverband und ein Parteiapparat, mit Sekretariat und Parteipresse, installiert und Sponsoren angeworben, nicht zuletzt aus Stresemanns VSI. Die Nationalliberalen zogen fortab alle Register eines modernen Wahlkampfes: Die Presse wurde massiv als Agitationsinstrument genutzt, einschließlich des Aufbaus eines eigenen Presseimperiums und das Sponsoring durch die Industrie klappte bereits im Jahr 1905 vorzüglich.22 Beim Landtagswahlkampf 1909 stellte dann allein der VSI für die Städte Leipzig, Dresden und Chemnitz 60.000 Mark zur Verfügung.23 Ein ausgeklügeltes »Schleppernetz« von 2.800 Helfern brachte in Dresden bei der Wahl im Jahre 1912 noch den letzten liberalen Sympathisanten an die Wahlurne.24 Für diese Aktion stellte wiederum der neugegründete bürgerliche Dresdner Auto19 Das Vaterland 17 (1905), S. 167. 20 Preußische Gesandtschaft Dresden (Hohenlohe)  an Bethmann Hollweg, 2.12.1909, PA AA , R 3296 (Sachsen). 21 Vgl. hierzu auch die Darstellung im (konservativen) Das Vaterland 17 (1905), Nr. 36, 5.9. S. 429–430, hier: S. 429: »Gegen den zweifellos bestehenden Willen einzelner, welche die goldene Mittelstraße zu gehen vorhatten, riß eine redegewandte und rücksichtslos auftretende linksliberale Gruppe sehr bald die Führung an sich. Die besonnenen Elemente, die gewöhnlich das Reden denen gönnen, die selbst nichts machen können, wurden eingeschüchtert. Schließlich hörte man mehr auf das schnell fertige, mit selbstgefälliger Sicherheit und Redegewandtheit vorgetragene Wort unerfahrener linksliberaler Jugend, als auf das reife Wissen erfahrener sächsischer Industrieller«. 22 AV Stresemann o. D., PA AA , NL Stresemann 120. 23 Pohl, Die Nationalliberalen in Sachsen, S. 203. 1912 war allerdings einer dieser »Bettelbriefe« den Sozialdemokraten zugespielt worden, die damit Stresemann im Wahlkampf 1912 massiv attackierten. Vgl. Schmeitzner, S. 66, Anmerkung 204. 24 Selbst der Frauen erinnerten sich nun die Nationalliberalen. Vgl. DNN, 16.1.1912, Nr. 13, S. 10: »An die Dresdner Frauen […] Frauenspende«.

170  Politisches Kapital mobilklub, auf speziellen Wunsch Stresemanns, 120 seiner Fahrzeuge kostenlos zur Verfügung.25 Über 400.000 Flugblätter wurden verteilt und sogar eine nationalliberale Rednerschule gegründet.26 Einen solchen liberalen Wahlkampf hatte das Königreich bis dahin noch nie gesehen.27 Die »Dresdner Woche« notierte: »Mit einer Erbitterung, die ihresgleichen sucht, ist gekämpft worden, mit Reklametiteln, die man sonst nur vom Hörensagen vom Lande der unbegrenzten Möglichkeiten, von Dollarika her kennt.«28 Mit der politischen Neuorientierung und organisatorischen Etablierung verbreiterte sich zugleich die politische Basis der Partei. Hier gelang eine Sammlung aller bürgerlichen und nationalen Vereine zu einem schlagkräftigen Bündnis. Von vornehmer Zurückhaltung gegenüber »Massenpolitik« war dabei nichts mehr zu bemerken. Das »Freund-Feind- Denken« wurde bei Bedarf dem Erfolg untergeordnet. Vom Alldeutschen Verband über verschiedene Burschenschaften, Bürger- und Bezirksvereine, den Flottenverein, die Anwaltsvereine, den Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband, verschiedene evangelische und nationale Arbeitervereine, den (kleinen) Reichsverband gegen die Sozialdemokratie bis zum Wahlverein der Privatbeamten  – die sächsischen Liberalen zeigten sich fähig, mit Hilfe des bürgerlich-nationalen Vereinswesens eine Massenbasis zu mobilisieren, die alles Vorangegangene in den Schatten stellte.29 25 Ausführungen in: Sächsische Nationale Blätter 1912, Nr. 4, 27.1.1912, S. 21. »Der Kampf um Dresden-Altstadt«. Vgl. dazu auch das Schreiben des VSI an Conrad Niethammer, 16.12.1912, SWA , N 12, 487/15. Hier mit der Bitte, Stresemann sein Auto für Schlepperdienste zur Verfügung zu stellen. 26 Sächsische Nationale Blätter, Jg. 1913, Nr. 11. 27 Vgl. hierzu den Bericht der »Sächsischen Nationalen Blätter« (Jg.1912, Nr.  4, S.  21 f.) über den Reichstagswahlkampf in Dresden im Jahre 1912 für Stresemanns Parteifreund Heinze. Dort wird von 1.700 Schleppern, einem Wagenpark von 120 Autos und vor allem von den »braven Dresdner Studenten« berichtet, »die willig in der harten Januarkälte die Posten der Stimmzettelverteiler vor den Wahllokalen übernahmen und an deren Charakterfestigkeit alle Einflüsterungs- und Einschüchterungsversuche der Sozialdemokraten wirkungsvoll abprallen mußten«. 28 Dresdner Woche, Wochenschrift für Dresdner Leben, Verkehr, Gerichtswesen, 4 (1912), Nr. 3, 18.1.1912. 29 Kontrovers wird allerdings diskutiert, inwieweit die Initiativen zur Stützung Stresemanns von »oben« kamen oder von »unten«, von der Basis. Für den konkreten »Fall Stresemann« lässt sich nachweisen, dass die jeweilige Verbandsführung der verschiedenen Unterstützervereine auf Initiative der nationalliberalen Führung (Stresemann) mobilisiert und dadurch eine relativ träge Anhängerschaft aktiviert wurde. Der Weg verlief also von »oben« nach »unten«. Das Beispiel des Flottenvereins belegt allerdings, dass die Manipulationsstrategie der Nationalliberalen gegebenenfalls auch gegen eine konservative Führungsschicht gerichtet war und insofern eine Bewegung von »unten« nach »oben« darstellte. Zudem ließen sich die alldeutschen Mitglieder beim Wahlkampf von 1909 nicht mehr von »oben« manipulieren, trotz des Drucks der alldeutschen Mitglieder um Stresemann und der Drohung er und weitere hervorragende Reichstagsmitglieder der Nationalliberalen Partei würden unter diesen Umständen den Verband verlassen.

Die Nationalliberalen in Sachsen 

171

Dass hierbei das Stresemann’sche Beziehungsnetz von unschätzbarem Wert war, versteht sich. Der augenfällige Wandel in Politik und Politikverständnis kennzeichnete nicht zuletzt die Mitgliederpopulation des politischen Liberalismus, die von 1.530 Mitgliedern im Jahre 1895 über 6.500 (1906) auf über 20.000 Mitglieder im Jahre 1911 anschwoll.30 Tab. 1: Mitgliederzahl der Nationalliberalen Partei in Sachsen und Dresden vor dem Ersten Weltkrieg Jahr

Sachsen

Dresden

1888

838

111

1895

1.530

98

1905

5.000

600

1906

6.500

700

1907

11.850

1.750

1908

10.500

1.877

1909

14.250

1.900

1910

19.950

2.000

1911

20.765

1912

20.720

1913

21.162

Die neue liberale Partei besaß nun auch ein erkennbar verändertes soziales Profil. Um die Jahrhundertwende hatten gerade einmal drei Prozent der Mitglieder zur Unterschicht gehört, und zwar nur zur oberen Unterschicht, das waren also gerade einmal eine Handvoll Mitglieder. Demgegenüber zählten etwa 35 Prozent zur unteren Mittelschicht und gut 16 Prozent zur oberen Mittelschicht. Zur Oberschicht gehörten jedoch 45 Prozent also fast die Hälfte aller Mitglieder (insgesamt 615 Personen).31 Das kennzeichnete eine enge Honoratiorenpartei. Zehn Jahre später stammten mehr als zehn Prozent der Mitglieder aus der Unterschicht, über vierzig Prozent aus der unteren Mittelschicht, weniger als zwanzig Prozent aus der oberen Mittelschicht und nur noch knapp dreißig Pro30 Tabelle nach Pohl, Politischer Liberalismus, S. 111. 31 Daten nach Pohl, Politischer Liberalismus, S. 106.

172  Politisches Kapital zent aus der Oberschicht. Es hatte sich also der Anteil der Kleinbürger binnen zehn Jahren mehr als verdreifacht und sogar der ein oder andere Arbeiter hatte nun den Weg in die liberale Partei gefunden. Zugleich aber verdoppelte sich der Anteil der Fabrikanten und die Anzahl der Besitzbürger insgesamt hatte deutlich zugenommen.32 Damit wurde (auch) vom sozialen Profil her das Wirtschaftsbürgertum zur dominierenden Kraft in der Partei. Der erste Schritt auf dem langen Weg zu einer bürgerlich dominierten, wirtschaftsorientierten liberalen »Volks«partei war damit getan. Ein solch rasanter Strukturwandel des politischen Liberalismus ist zu dieser Zeit aus keinem anderen Land des Deutschen Reiches bekannt geworden. Der Motor für diesen Wandel war Gustav Stresemann, der die Reform der Partei (zusammen mit seinen Dresdner Freunden) mit aller Radikalität betrieb, und schließlich durchsetzte. Der frühe Politikwandel nach Stresemanns Vorstellungen lässt sich besonders gut an seinem Reichstagswahlkampf im Jahr 1907 im Wahlkreis Annaberg zeigen. Sein Freund Slesina hatte ihn nach seinem spektakulären Auftreten beim Nationalliberalen Parteitag in Goslar als Kandidaten gewonnen, obwohl er den Wahlkreis bis dahin kaum kannte. Unabhängig von den Emanzipationsbestrebungen der Liberalen gegenüber den Konservativen und nur höchst widerwillig akzeptiert, ging Stresemann sofort eine enge Kooperation mit ihnen, aber auch mit den Linksliberalen, ein. Er war bereit, dem Erfolg über den sozialdemokratischen Gegner alles unterzuordnen. In dem knappen Zeitraum zwischen dem 21.  Dezember 1906 und der ersten Wahl am 21.  Januar 1907 sind allein 39 Wahlreden Stresemanns (und das über die Weihnachts- und Neujahrszeit!) nachweisbar, in denen er (immer begleitet von seinem Freund Slesina als Versammlungsvorsitzendem) die liberalen Themen variierte und höchst wirkungsvoll vertrat. Dabei erreichte er mehrere Male mehr als 1.000 Zuhörer.33 Der Amtshauptmann von Annaberg berichtete zudem sehr anschaulich über die Persönlichkeit des Wahlkämpfers Gustav Stresemann.34 Er betonte, dass Stresemann vor allem durch seine überlegene Persönlichkeit, sein gründliches Wissen und seine überzeugende Redegabe aufgefallen sei. Hervorgehoben wurde seine Volkstümlichkeit, die dann später in der Wahlbewegung von 1912 sogar zu einem speziellen »Stresemannlied« führte. Deren erste Strophe lautete:35

32 Schichtung auf der Basis des Modells von Schüren. Grundlage: Mitgliedschaft in der Stadt Dresden. Vgl. zur Methode, diese Arbeit, S. 124 f., Anmerkung 53. 33 StA Chemnitz, AHS Annaberg, Annaberg, Nr.  49. Miethke spricht in seiner Chronik (S. 25) von 65 Orten, in den Stresemann zu den Wählern gesprochen habe. 34 StA Chemnitz, AHS Annaberg, Annaberg, Nr. 49. 35 Bei der Form und dem Inhalt des Liedes ist es nicht unwahrscheinlich, dass Stresemann selber der Verfasser war.

Die Nationalliberalen in Sachsen 

173

»Es grüßen den Führer die Seinen all, Zusammengeschmiedet in Kampf und Qual Wohin er uns führet, wie folgen vereint Durch Arbeit und Opfer dem Führer und Freund! Uns alle umfasst ja ein einiges Band Das teure, das deutsche, das heilige Land!

Der Erfolg des Wahlkampfes sprach für sich: In der Stichwahl zu Beginn des Jahres 1907, und nach weiteren 14 Reden, konnte Stresemann den Sozialdemokraten Grenz mit einer Mehrheit von über 2.500 Stimmen in die Schranken weisen. Stresemann wurde damit jüngster Reichstagsabgeordneter in Berlin. Der Boden war damit bereitet, auf dem sich nun eine unpolitische Vereinigung, die sich programmatisch als »Verein zur Stützung aller staatstragenden Kräfte«36 gegen die Sozialdemokratie verstanden hatte, zu einer Programmpartei entwickelte, die ihr diffuses Selbstverständnis ablegte und mehr und mehr durch genaue, vor allem auch machtpolitische Vorstellungen geprägt wurde. Statt Honoratiorenpolitik im Kreise ausgewählter Bürger zu betreiben, ließen sich die Liberalen Sachsens nun auf Massenpolitik ein. Damit war eine der Haupthürden genommen, die sie bisher im Konkurrenzkampf mit den Sozialdemokraten behindert hatte. Vor allem aber, und das war neu, konnte die Partei nun das Gewicht der Industrie gegenüber der Landwirtschaft stärken. Fortab arbeiteten VSI und Nationalliberale Hand in Hand.37 Die Nationalliberalen entwickelten sich so zu einer Partei der Industrie, und das in einem Ausmaß wie nirgendwo sonst in einem Land des deutschen Kaiserreiches. Allerdings gaben nicht die Scharfmacher der sächsischen Textilindustrie den Ton an, sondern eine eher moderate, die Stresemann’sche Richtung. Die Neuorientierung zeigte sich auch am wirtschaftspolitischen Programm, das vom VSI aufgesetzt und von seinem Syndikus, Gustav Stresemann, in der Nationalliberalen Partei durchgesetzt wurde. Der Syndikus des VSI, eines im Prinzip unpolitischen Wirtschaftsverbandes, setzte dessen Politik in einer formal davon unabhängigen Partei durch und machte es zum Programm der Fraktion, der Stresemann selbst wiederum nicht angehörte; das war schon etwas Besonderes.

36 National-liberaler Verein, Mitgliederverzeichnis 1888, S. 5. 37 Vgl. die Eingabe des VSI an den Rat der Stadt Dresden, 8.9.1903, Stadtarchiv Dresden, Wahl- und Listenamt I – 3, Nr. 8.

174  Politisches Kapital Die sächsische Wahlrechtsreform Entscheidend für die Tragfähigkeit des »Stresemann’schen Politikprojektes« war die geplante Veränderung des sächsischen Wahlrechtes.38 Hier musste sich zeigen, was von den Liberalen als politisch gewünscht und möglich angesehen wurde, und ob der Weg zu einer Volksgemeinschaft, die alle Schichten umfassen sollte, tatsächlich gangbar war. Ausgangspunkt für diese Reformen war das bisherige »ungerechte Wahlrecht«. Das hatte den Konservativen zwar eine komfortable Zweidrittelmehrheit gesichert, die Sozialdemokratie hingegen, von der Masse der (nicht wahlberechtigten) Anhänger her der größte politische Faktor, aus der Zweiten Kammer ausgeschlossen. Die Partei hatte zwar 1903 22 der 23 Reichstagswahlkreise erobert, war jedoch im Landesparlament nicht mehr vertreten. Das Ziel der neuen Liberalen Stresemanns bestand nun darin, durch eine gemäßigte Wahlrechtsänderung die Macht der Konservativen zu brechen und zugleich den Sozialdemokraten entgegenzukommen, sich also einer partiellen Demokratisierung des Wahlrechtes nicht vollständig zu verweigern.39 Ein Wahlrecht, in dem 80 Prozent der Wähler, meist Sozialdemokraten, im Parlament nicht vertreten waren, bot der starken Sozialdemokratie zu viele Agitationsmöglichkeiten und konnte schließlich sogar staatsgefährdend werden. Das bestehende Wahlsystem, und darin unterschied sich Stresemann deutlich von seinen preußischen Parteifreunden, war also seiner Meinung nach nicht mehr haltbar: »Die Geschichte vieler Staaten«, zeige, so führte er nach der Reform mit unmiss­ verständlicher Deutlichkeit aus, »daß gewaltsame Umwälzungen am besten dann vermieden wurden, wenn die herrschenden Klassen im gegebenen Augenblicke bereit waren, berechtigten Konzessionen zuzustimmen. Eine solche berechtigte Konzession war das Pluralwahlrecht in Sachsen, das uns vor sozialdemokratischer Überflutung schützt, gleichzeitig aber die Sozialdemokraten zwingt, praktische Arbeit zu leisten, anstatt sich vor dem Lande lediglich als Märtyrerin der von der Gesetzgebung aus­ geschlossenen sozialdemokratischen Arbeiterschaft hinzustellen.«40

Das Ziel der Reform war also der politische Ausgleich, der Wunsch, ein Ventil für die Sozialdemokratie zu finden und diese zugleich in die Politik einzubinden, ohne jedoch ein demokratisches Wahlrecht zu installieren. Dieses hätte 38 Sehr klare Aussagen zu dieser Problematik aus sozialdemokratischer Sicht auch bei Albert Südekum, Was man aus Sachsen lernen kann (o. D.), BA Koblenz, NL Südekum 83 und bei Edmund Fischer, Der Kurs der Politik in Sachsen, Sozialistische Monatshefte 1911, Bd. 3, S. 1148–1153. 39 Ein solches Zugeständnis ist umso bemerkenswerter als in der Regel eine Öffnung des Wahlrechtes den Liberalen mit ihrer schmalen Klientel schadet. 40 Sächsische Industrie 7, 25.12.1910, S. 85.

Die Nationalliberalen in Sachsen 

175

nicht nur liberaler Ideologie widersprochen, sondern auch die Sozialdemokratie zur Mehrheitsfraktion gemacht. Dem wollte Stresemann unter allen Umständen einen Riegel vorschieben.41 Ein Pluralwahlsystem schien für diese Zwecke besonders geeignet zu sein.42 Es entsprach zugleich den Vorstellungen des VSI, der eine starke Vertretung für sich selber wünschte.43 Die Stresemann’schen Wünsche sollten sich mit der von den Liberalen (und den Sozialdemokraten) forcierten Einführung des neuen Pluralwahlrechts weitgehend erfüllen. Mit ihm wurde das direkte Wahlrecht wieder eingeführt und die Geheimhaltung der Wahl, gegen den Widerstand der Konservativen, bewahrt. Das führte zu einem höheren Politisierungsgrad im Lande. Durch die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechtes, konnten nun sogar, neben konservativen und bürgerlichen Wählerschichten, auch einzelne Arbeiter Pluralstimmen erwerben. Damit spekulierten die Nationalliberalen auf eine Spaltung der Arbeiterschaft mit Hilfe einer sozialen Differenzierung: »Dadurch, dass das Mehrstimmenrecht die Differenzierung deutlich macht, wirkt es auch im Sinne dieser Differenzierung. Kein Arbeiter, der zwei oder drei Stimmen abzugeben hat, wird, wenn er nicht Parteifanatiker ist, in dieser höheren Bewertung seiner Stimme ein Unrecht sehen. Im Gegenteil! Die allermeisten werden eine soziale Unterscheidung, die ihrem eigenen Schätzungsgefühl entspricht, durchaus in Ordnung finden«44

Zugleich zementierte das neue Wahlrecht jedoch den Minderheitenstatus der Sozialdemokratie, gleichwohl auf einem höheren Niveau. Es sprach insofern allen demokratischen Regeln Hohn. Der Kreis der Wahlberechtigten blieb nach 41 Zweifellos fühlten sich Stresemanns Nationalliberale, schon aus egoistischen Gründen, als Sieger in dieser Reform, wie der Bayerische Gesandte notierte: »Die Nationalliberalen haben bei den jüngsten Landtagswahlen sehr gut abgeschnitten, besser als es der eigentlichen Stärke der Partei entspricht. Sie sind mit einem gewissen Triumphatorgefühl in das sächsische Landeshaus eingezogen und fühlen sich ganz als ›führende‹ Partei. Die ganze Sächsische Regierungsmaschinerie von oben bis unten ist aber noch überwiegend auf eine langjährige Ära conservativer Majoritäten gestimmt, man trägt der neuen parlamentarischen Lage, teils unbewusst, teil bewusst nicht Rechnung. Auch die conservative Fraktion des Landtages gefällt sich noch zu Teilen in der Rolle des gewollten und legitimen Herrn« (Bericht der Bayrischen Gesandtschaft vom 27.2.1910, HStA München, Bayerische Gesandtschaft Dresden 968). 42 Vgl. dazu den Bericht (mit umfangreichen Recherchen des statistischen Landesamtes) vom 29.8.1904 in Bezug auf Preußen, Gesandtschaft Dresden an das Königliche Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten, PA AA , R 3295 (Sachsen). 43 Vgl. dazu Langhammer, Max: Die Vertretung der Industrie in den sächsischen Ständekammern, Dresden 1904; ferner: Eingabe des VSI an die Zweite Ständekammer des König­reichs Sachsen, betr. Vertretung der Industrie in der Ersten Ständekammer des Königreichs Sachsen, Februar 1910, in: Anlage zum Bericht über die Generalversammlung des VSI, Dresden 1910, S. 134–150. 44 Nationalliberales Vereinsblatt 4, 1907, S. 227.

176  Politisches Kapital wie vor erheblich eingeschränkt und die Pluralstimmen waren höchst ungerecht verteilt. Deswegen ist die Wahlrechtsreform in der Forschung massiv kritisiert worden.45 Analysiert man jedoch die Wirkungen auf das politische Kräftefeld in Sachsen und vor allem im Kontext der Wahlrechtsentwicklungen im Kaiserreich insgesamt, wird man das Urteil differenzieren müssen, vor allem aus liberaler Sicht.46 Einmal ermöglichte die Reform den Einzug der Sozialdemokraten in den Landtag. Die Partei, bis dahin faktisch ausgeschlossen, konnte aus dem Stand etwa ein Drittel aller Mandate erringen. Des Weiteren büßten die Konservativen, deren Mandate nahezu halbiert wurden, ihre beherrschende Stellung ein. Sie mussten hinnehmen, dass ihre wichtigsten Machtpositionen geschleift wurden. Das (fast) reaktionärste Parlament im Reich verlor damit seinen Charak­ter als Erfüllungsgehilfe der Konservativen. Es wurde fortab zum Ort lebendiger Auseinandersetzungen, in der die drei nahezu gleich starken großen Gruppen politisch miteinander rangen. Dass es die Liberalen waren, die als einzige mit den beiden Flügelparteien zu kooperieren vermochten, passte dabei gut in das Stresemann’sche Konzept. Dank dieser neuen Strategie veränderte sich in den folgenden Jahren die parlamentarische Stellung des Liberalismus in Sachsen deutlich. Die durch das neue Wahlrecht bedingte Politisierung der Wahlen und der beginnende Massenwahlkampf führten den Nationalliberalen nicht nur viele neue Mitglieder und Wähler zu, sondern hatten eine erhebliche Vergrößerung der Zahl ihrer Mandate zur Folge. Schon 1907 zogen statt bis dahin 23 nun 31 Nationalliberale in die Zweite Kammer ein. Stresemann, der einem Doppelmandat, das ihm angetragen wurde,47 prinzipiell nicht abgeneigt war, ein Landtagsmandat aber wegen seines jugendlichen Alters und seiner preußischen Staatsangehörigkeit nicht annehmen konnte, war allerdings weder 1907 noch in Zukunft direkt im Landtag dabei. In der Zweiten Kammer des sächsischen Landtages spielte nun vor allem der VSI, anders als noch zehn Jahre zuvor, eine bestimmende Rolle: Im Jahre 1907 hatte er bereits 25 seiner Mitglieder ins sächsische Parlament »delegiert«, etwa ein Drittel aller Abgeordneten. 21 von ihnen waren Mitglieder der nationalliberalen Fraktion. Nicht zu Unrecht kann man daher von der Fraktion dieser Partei als einer Filiale des VSI sprechen: Erfolge oder Misserfolge der Nationalliberalen sind insofern immer zugleich als solche des VSI zu interpretieren. 45 Ritter, Wahlrecht, S. 84 ff. und Ritter u. Niehuss, S. 167. Interessant ist allerdings, dass im Jahre 2014 das Pluralwahlrecht (hier für Eltern) von der Sozialdemokratie (Ministerin Schwesig) als ernsthafte Alternative zum demokratischen Wahlrecht erneut ins Gespräch gebracht worden ist. 46 Sehr abgewogene Würdigung der Wahlrechtsreform durch Lässig, Wahlrechtskampf und Wahlreform. 47 Starke, Dresden in der Vorkriegszeit, S. 91 f.

Die Tagungen der Industrieverbände in Dresden 

177

Nach der dramatischen Wahlniederlage der Konservativen war der politische Liberalismus Stresemanns nun in der Lage, in einem durch ihn veränderten politischen Umfeld praktische (Interessen-)Politik zu betreiben – und um die liberale Mittelpartei drehte sich fast alles.48 Eine Umstrukturierung der Ersten Kammer, dies ist gegenüber diesem Erfolgsbericht festzuhalten, gelang bis zur Revolution von 1918 allerdings nicht. Zweifellos genoss Stresemann den steilen Aufstieg zur beherrschenden Figur der Nationalliberalen in Sachsen (und dann auch im Kaiserreich) sowie zum mächtigsten Syndikus des Königreiches. Er hatte sich den Erfolg hart erarbeitet und fühlte sich ihm verpflichtet. Dabei blieb aber immer (noch) unsicher, inwieweit er sich trotz dieser politischen und ökonomischen Leistungen zugleich als Bürger positionieren, mehr und mehr bürgerliche Werte und Normen aneignen konnte. In jedem Fall schien er nun seinen Platz auf dem sozialen Feld des sächsischen Bürgertums (fast) gefunden zu haben.

Am Ziel? Inszenierung als liberaler Wirtschaftsbürger: Die Tagungen der Industrieverbände in Dresden Angesichts seiner großen politischen und ökonomischen Erfolge in Sachsen bleibt zu fragen, in welcher Weise sich der »Bürger« Stresemann damit vervollkommnete und an zusätzlichem kulturellem Kapital gewann. Wie also stand es um seine Akzeptanz als anerkannter (Kultur-)Bürger im Königreich Sachsen? Folie und zugleich Maßstab für die Beantwortung dieser Frage können die alljährlichen Tagungen der verschiedenen Industrieverbände in Dresden sein. Dort präsentierten sich der regionale VSI und der reichsweit operierende BdI, beide durch den Syndikus Dr. Gustav Stresemann geprägt, nach innen und außen und demonstrierten ihre Bedeutung. Die Tagungen waren daher ein besonders geeigneter Ort für Stresemann, seinen bürgerlichen Habitus öffentlich und erfolgreich zu inszenieren. Bei diesen Tagungen ging es zwar in erster Linie um die Präsentation ökonomischer Macht, um wirtschaftliche Entscheidungen und um wichtige Weichenstellungen in der Verbandspolitik, zugleich aber immer auch um die Selbstdarstellung nach innen und außen, um die Inszenierung und Positionierung im sächsischen gesellschaftlichen und politischen Feld. Um die Bedeutung dieser Veranstaltungen einzuordnen, ist es notwendig, die geballte ökonomische (und indirekt politische) Macht dieser Verbände und 48 Pohl, Politischer Liberalismus, S. 110; danach auch die folgenden Gedanken. Es ist allerdings zu betonen, dass sich die starren politischen Strukturen in Sachsen erst allmählich auflösten. So gelang es den Nationalliberalen beispielsweise nicht, ein neues Volksschulgesetz durchzubringen.

178  Politisches Kapital zugleich die Bedeutung Stresemanns und seiner Anhänger innerhalb dieser Organisationen zu skizzieren. Der VSI war die wichtigste industrielle »pressure group« in Sachsen und einer der herausragenden regionalen Industrieverbände im Kaiserreich. Und wie wurde er geführt? Vor dem Krieg bestand seine Geschäftsführung aus dem Syndikus Dr. Gustav Stresemann sowie seinen beiden ihm ergebenen Mitarbeitern Johannes März und B. E. Westenberger.49 Der Vorstand des Verbandes setzte sich fast nur aus Stresemann nahestehenden sächsischen Industriellen zusammen: Bernhard Lehmann (Maschinenfabrik, Dresden), Ernst S. Clauss (Baumwollspinnerei, Flöha), Otto Moras (Mechanische Weberei, Zittau), Friedrich Uebel (Baumwollspinnerei und -weberei, Plauen) oder Georg Zöphel. Genau dieser Zöphel war, wie auch Kurt Grützner (ebenfalls im Vorstand des VSI vertreten), Vorsitzender des dem VIS angegliederten Industrieschutzverbandes und ein persönlicher Zögling Stresemanns. Fazit: Stresemann war zweifellos der ungekrönte König dieses Verbandes. Der BdI, eine Gegengründung zum CdI, verstand sich vor allem als eine reichsweite Interessenvertretung der deutschen Fertigindustrie. Dabei profi­ lierte sich der 1895 gegründete und 1907 reorganisierte Verband dadurch, dass er die Gegensätze zum Lager der Rohstoffproduzenten, die besonders vom CdI vertreten wurden, betonte. Der Lobbyist der sächsischen Fertigindustrie,­ Gustav Stresemann, war hier genau am richtigen Platze. Dank seiner tatkräftigen Mithilfe mauserte sich der BdI bis zu Beginn des Krieges zu einer Organisation, die dem CdI durchaus die Stirn bieten konnte, massiv industrielle Interessenpolitik vertrat und vor allem stark in den (Länder-)Parlamenten vertreten war. Und wie wurde dieser Verband geführt? Der Vorstand des BdI war ebenfalls wie der VSI durchsetzt von Stresemannfreunden.50 Im siebenköpfigen Präsidium dominierten (wie im Gesamtvorstand), Albert Hirth (Spezialmaschinenbau, Bad Cannstatt); (erneut) Ernst S.  Clauss und schließlich Max Hoffmann (Sarotti Schokoladen- und Kakao-Industrie), der alte Gönner aus der Zeit, als Stresemann Syndikus des Verbandes der deutschen Schokoladeindustrie in Dresden gewesen war. Die Geschäftsführung des BdI lag in den Händen des »Stresemann Protegès Rudolf Schneider«.51 Stresemann selber war fak49 Alle weiteren Einzelheiten nach Materialien über den VSI u.a im Stadtmuseum Löbau, V 26173 CS . 50 Zur Rolle Stresemanns im 1911 reorganisierten BdI vgl. H.-P. Ullmann, Der Bund der Industriellen, S.  71 ff. Ferner: ders., Interessenverbände in Deutschland, S.  79 ff. und Hohberg. 51 H.-P. Ullmann, Der Bund der Industriellen, S. 73. Ullmann konstruiert hier eine Gegnerschaft zwischen Stresemann und Schneider, der selbst gern die Geschäftsführung übernommen hätte. Trotz dieser möglichen zeitweiligen Verstimmungen blieben beide jedoch immer freundschaftlich verbunden.

Die Tagungen der Industrieverbände in Dresden 

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tisch, wenn auch nicht einziger, so doch der entscheidende Vorstand des BdI.52 Kurzum: Der BdI war wie der VSI »sein« Verband. Ähnlich lagen die Verhältnisse beim Hansa-Bund, der bei den Dresdner Tagungen allerdings keine so bedeutende Rolle spielte. Er verstand sich als eine Interessenvertretung von Fertigindustrie, Groß- und Kleinhandel, Handwerk und Angestellten mit dem Ziel, »das Bündnis zwischen Großindustrie und Junkertum zu zerschlagen, den Einfluss des letzteren zurückzudrängen und den des liberalen ›erwerbstätigen Bürgertums‹ auf den politischen Entscheidungsprozess zu verstärken«.53 Der Geschäftsführer der Stresemann’schen (Mit-) Gründung war sein Schwager, Kurt von Kleefeld.54 Allein schon damit war Stresemanns Einfluss weitgehend gesichert. Er selber begleitete seit dem Jahr 1912 die Politik des Hansa-Bundes durch seine Stellung als Beiratsmitglied der Geschäftsführung.55 Zur Inszenierung dieser Tagungen Die letzten Treffen des VSI vor dem Kriege, vor allem in den Jahren 1912 und 1914, sowie die vom VSI organisierte XV. Ordentliche Generalversammlung des BdI, die im Rahmen der Dresdener Internationalen Hygieneausstellung im Jahre 1911 stattfand, können beispielhaft für die Inszenierung der Macht, aber zugleich auch der inszenierten Bürgerlichkeit von Stresemann stehen.56 In diesen Jahren präsentierten sich die Verbände in ihrer politischen und ökonomischen Bedeutung bewusst der (sächsischen) Öffentlichkeit. Dabei vermischten sich die Ebenen von Politik und Wirtschaft mit der gesellschaftlichen, wurden die Verbände auch zu Kulturträgern. Hier musste sich zeigen, wie weit sie, und damit zugleich Gustav Stresemann, in das gesellschaftliche System Sachsens hineingewachsen waren, es mitbestimmten und sich dabei womöglich als Trendsetter positionierten. Stresemann gab bereits bei der 7.  Ordentlichen Versammlung des VSI im Jahre 1909 die Richtung an, die die Veranstaltungen in Zukunft prägen sollten: 52 Wright, Stresemann, S. 46. 53 Mielke, S. 9. 54 Ebd., S. 196. Der Einfluss Stresemanns auf alle diese Verbände wird aus einem Schreiben deutlich, in dem es um steuerliche Fragen geht: »Ich habe bei diesen Steuerkämpfen die Erklärungen des Hansa-Bundes im Wesentlichen verfasst, ebenso wie diejenige des Bundes der Industriellen […].«(Stresemann an Lehmann, 9.7.1913, PA AA , NL Stresemann 13). 55 Mielke, S. 195. 56 Ausführliche Berichte über die 10. und 12. Hauptversammlung des VSI (1.und 12.3.1912 und 9.  und 10.3.1914) jeweils in besonderen Hauptversammlungsnummern der Sächsischen Industrie (von Gustav Stresemann herausgegeben), 8.  Jg., Nr.  13, 10.4.1912, S. ­193–208 und 10. Jg. Nr. 12., 20.3.1914, S. 177–197.

180  Politisches Kapital Er wollte sie als eine Mischung aus Wirtschaft, Politik und Kultur, mit einem bewussten Schwerpunkt auf der Außendarstellung inszenieren. Das gesamte soziale Feld wurde damit gleichermaßen bedient. Stresemann selber präsentierte sich auf diesen Tagungen (und damit auch »seine« Verbände) zum einen als lockerer Redner, als Entertainer, wirtschaftlicher Fachmann sowie sächsischer und Reichspolitiker und zum anderen als Kulturvertreter, als Dichter.57 Bei der Tagung im Jahre 1909 fasste er den Sinn der Veranstaltung folgendermaßen zusammen: »Man brachte den Damen ein donnerndes Hoch, Das hat uns erbaut und gefallen; Als Letzte des Abends gedenke ich noch Den Herren, dem Redner vor allen. Wir ehren und schätzen die Industrie Als volkswirtschaftliche Kenner. Ich fordere die Damen zum letzten Toast: Es leben unsere Männer«.

Man gab sich bei dieser Veranstaltung also bürgerlich jovial, seiner Stärke bewusst, propagierte ein Weltbild, in dem die Industrie der Motor des Fortschritts war und die Damen ihre Männer zu bewundern hatten. So stellte sich Stresemann also eine bürgerliche Idylle vor. Die Generalversammlung des BdI in Dresden im Jahre 1911 stand ebenfalls im Zeichen dieser Inszenierung. Der Rat der Stadt Dresden, dessen Oberbürgermeister Beutler Stresemann in vielerlei Hinsicht, vor allem kommunalpolitisch, verpflichtet war, gab für den BdI bereits am Vorabend des Beginns einen großartigen Empfang im neuen Rathaus. Für die opulente Ausrichtung des Empfanges sorgte nicht zuletzt das Geschenk des VSI für den Bürgermeister aus dem Jahre 1910, ein repräsentatives Essgeschirr.58 Das war sichtbares kulturelles Kapital mit dem sich der VSI schmücken konnte und das hier nun adäquat in soziales Kapital umgewandelt wurde. Im Mittelpunkt dieser festlichen Tagung, bei der die Fülle der Ehrengäste kaum untergebracht werden konnte, stand Gustav Stresemann, der dieses Heimspiel bis zum letzten Tropfen auskostete.59 57 Zit. nach: DNN, Nr. 47, 18.2.1909, S. 3. 58 Im Einzelnen vgl. dazu den Bericht der DNN, Nr. 242, 5.9.1911, S. 3: Der Bürgermeister »führte aus, wie hoch sich die Stadt Dresden durch den Besuch des Bundes geehrt fühle, dem er herzlichst für sein Kommen danke. Dresden habe ja an die Industriellen noch einen besonderen Dank abzustatten. Die dem Bund in copore angehörenden Mitglieder des Verbandes Sächsischer Industrieller hätten der Stadtgemeinde Dresden bei der vor einem Jahr erfolgten Rathauseinweihung das schöne Tafelsilber zum Geschenk gemacht, mit dem man heute gespeist habe«. Dieses Zusammenspiel hatte wiederum nur einer organisiert, Gustav Stresemann, Stadtverordneter und Syndikus. 59 AV im Stadtarchiv Dresden (Johannes März), R 3.1 DR U 34/11; Liste der Ehrengäste.

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Da die Tagung zugleich mit der Internationalen Hygieneausstellung in Dresden zusammenfiel, betonten VSI und Stresemann zugleich die soziale Tätigkeit ihres Verbandes. Publikumswirksam stellte der VSI im Rahmen der Ausstellung sein Projekt »Kleinwohnungsbau« vor, das bei einem Rundgang von den Mitgliedern des BdI entsprechend gewürdigt wurde.60 Mit dieser Initiative zeigte der Verband nicht nur sozialpolitisches Engagement, sondern setzte zugleich auch Zeichen im Kampf gegen die Sozialdemokratie, indem er seine eigenen Vorstellungen für »gesundes« Arbeiterwohnen den kollektivistischen Ideen der Sozialdemokratie entgegenstellte. Dass diese Initiative besonders vom »Odol-König« und »Hygiene-Papst« Karl August Lingner gefördert wurde, Besitzer der Lingnerwerke, deren späterer Direktor der ehemalige Stresemannsekretär, Rauch, war, kann schon nicht mehr überraschen. Dass zur gleichen Zeit die Metallindustriellen in Sachsen den größten Teil  ihrer Arbeiter aussperrten, passte allerdings weniger in das selbstgefertigte Bild sozialer Harmonie.61 1912 setzte sich die Inszenierung der Versammlungen, mit Stresemann als Mittelpunkt, noch deutlicher fort. Eröffnet wurde die 10. Hauptversammlung des VSI im Zentraltheater, einem der größten Theater der Stadt. Es hatte aus diesem Anlass sogar seine öffentliche Vorstellung ausfallen lassen, eine be­sondere Geste gegenüber dem VSI und Stresemann. Kein Zufall war es, dass Stresemann diesen, für einen besonders festlichen Rahmen sorgenden, Ort gewählt hatte. Dort konnten die 900 geladenen Gäste aus Wirtschaft, Politik und Kultur gespannt dem Festprolog lauschen, der, es versteht sich fast von selber, Stresemann zum Autor hatte. Stresemann besetzte damit nicht nur das politische und ökonomische, sondern zugleich auch das kulturelle Feld. Die erste Strophe seines Gedichtes zeigt bereits den bekannten Stresemann’schen Duktus, für den er dann überschwänglich gefeiert wurde  – und zwar sowohl wegen seines Inhalts als auch wegen der dichterischen Qualität: »Ich nahe Euch, in dieser Feierstunde Mit hochgemutem, frohbewegten Sinn, Glückwünsche bringend Eurem großen Bunde, In dessen Mitte ich erschienen bin Für kurze Zeit, denn nicht ziemt mir das Ruhen Und ohne Urlaub fließt mein Leben hin, Die Tätigkeit, die jedes Werk vollendet Industrie ist’s die an Euch sich wendet.«

60 L. F. Karl Schmid (Bearbeiter), Die Kleinwohnungsbauten des Verbandes Sächs. Industrieller auf dem Gelände der Internationalen Hygieneausstellung Dresden 1911, in: Stadtarchiv Dresden, NL Robert Wuttke, Nr. IV 28; danach auch das folgende Zitat. 61 Bericht der DNN, Nr. 240, 3.9.1911, S. 3.

182  Politisches Kapital Geradezu selbstverständlich war, dass in diesem Fall nicht Stresemann selber, sondern ein schönes Mitglied des Königlichen Schauspielhauses, Fräulein Diacono, die dilettantischen Verse im Zentraltheater vortrug oder wie es im Protokoll hieß »zu Gehör brachte«. Genau das symbolisierte aus Stresemanns Sicht die gelungene Verbindung von Macht und Ästhetik. Um das Protokoll weiter zu zitieren: »Klar und deutlich ist die Sprache dieser Verse, die wie alles an diesem Abend, auf das feierliche des Anlasses gestimmt sind. Die Stimme der Industrie spricht zur Versammlung; sie spricht von rastloser Arbeit, von der großen Arbeitssymphonie, die nah und fern das schöne Sachsenland erfüllt.«62 Der weitere, durch Politik und Ökonomie bestimmte Verlauf der Veranstaltung entsprach ebenfalls den Stresemann’schen Vorgaben. Nach der Begrüßung der zahlreichen Ehrengäste folgte am zweiten Tag die Mitgliederversammlung. Hier hielt der, nicht anders zu erwarten, omnipotente Syndikus Stresemann das Hauptreferat über das Thema: »10 Jahre Verband Sächsischer Industrieller«. Dabei brauchte er nur die Geschichte seines eigenen Erfolges darzustellen, »­ blumig und mitreißend«, wie das Protokoll feststellte. Lang andauernde Beifallskundgebungen verstanden sich bei dieser Erfolgsgeschichte ebenfalls von selber. Mit dieser Rede konnte sich Stresemann als unumschränkter Herrscher des VSI darstellen, und der Verband lag ihm zu Füßen. Symbolisiert wurde seine besondere Stellung nicht zuletzt dadurch, dass ihm in einem feierlichen Akt »eine große Bronzestatue, die Nachbildung des Reiterdenkmals des Colleoni in Venedig mit Sockel überreicht wurde«.63 In der Tat, wie Colleoni Herrscher in Venedig war, herrschte Stresemann im VSI, in Dresden und in Sachsen. Eine gewisse Ironie, die in diesem Geschenk lag, dürfte wohl nicht beabsichtigt gewesen sein. Colleoni hatte es in Venedig nämlich nur mit Hilfe seines Vermögens durchgesetzt, ihm an zentraler Stelle ein Denkmal zu setzen, da die Stadt Personenkult prinzipiell ablehnte. Daran aber hatte der Verband wahrscheinlich nicht gedacht, wenn er selber Kult um seinen Syndikus trieb. Im Jahre 1914 tagte der VSI wieder im Dresdener Zentraltheater, ein Beleg dafür, dass die Erhöhung einer Verbandssitzung durch ein kulturelles Ambiente eine bewusste Strategie darstellte und kein Zufall war. »Und so bot denn auch« – so berichtete die »Sächsische Industrie«, Stresemanns Organ  – »der weite architektonisch vollendete Theatersaal mit seinen Rängen ein farben­frohes bunt­ bewegtes Bild; besonders die wahrhaft prächtigen Toiletten der Damen mit ihren leuchtenden Farben fesselten das Auge und es ergab sich« – von Strese62 Festschrift zur Feier des zehnjährigen Bestehens des VSI, Dresden, am 11. und 12. März 1912, Dresden 1912, S.  24. Verfasser dieser hymnischen Beschreibung war mit großer Sicherheit Stresemann selber, der zudem alle Manuskripte über die Tagung persönlich redigierte. 63 Festschrift 1912, S. 74.

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mann so gewünscht – »jene glückliche Mischung von Feierlichkeit und Frohsinn, die derartigen Festen ihre Harmonie verleihen«.64 Diesmal aber, das stellte den absoluten Höhepunkt in der Geschichte des VSI und zugleich Stresemanns dar, war der sächsische König mit Gefolge eigens zu Stresemanns Festrede erschienen, um sich dessen Ausführungen über: »Die sächsische Industrie und der Weltmarkt« anzuhören, ein Thema, dass die sächsische Region deutlich verließ und möglicherweise schon auf größere Ambitionen Stresemanns hinwies. Dem Vortragenden Stresemann gewährte der König dann, vor 1.100 geladenen Gästen (einschließlich der Frau Stresemanns) für jedermann deutlich sichtbar, die Gunst eines längeren Gespräches.65 Eine solche Ehrung hatte bis dahin noch kein Syndikus in Sachsen erfahren. Insofern verstand der gesamte Verband die Anwesenheit des Königs als hohe Anerkennung für sich und zugleich als Würdigung der Leistung Stresemanns, dem es gelungen war, den von der agrarischen Lobby massiv beeinflussten Monarchen zum Besuch dieser Tagung zu bewegen. Insofern besaß der Besuch eine hohe ymbolische Bedeutung für den Stimmungswechsel im politischen Kräfte­feld Sachsens. Die Industrie begann den Agrariern den Rang abzulaufen und dies nicht nur bei den Wahlen zur Zweiten Kammer. Aber nicht nur der König, sondern vor allem die Wissenschaft dankte mit stehenden Ovationen dem Syndikus Stresemann, betonte seine großen Erfolge, aber zugleich auch sein menschlich warmes Wesen. Vom Leiter des Kieler Weltwirtschaftsarchivs, Prof. Dr. Harms, wurde Stresemann, wie schon bei der Tagung des BdI im Jahre 1911, als großer Wirtschaftsführer, Politiker und menschliches Vorbild dargestellt: »Der Redner [Harms] gedachte dann weiter […] insbesondere der Persönlichkeit Dr. Stresemanns, der nicht nur die Organisation des Verbandes Sächsischer Industrieller geschaffen, sondern darüber hinaus eine bedeutsame Tätigkeit in der Öffentlichkeit ausgeübt habe. Die Auffassung Dr. Stresemanns von seinen Aufgaben und seiner Stellung habe er oft seinen Schülern als Vorbild hingestellt.«66 Prof. Dr. Harms, als Vertreter der Wissenschaft und aus der Sicht Stresemanns damit höchster Repräsentant von kulturellem Kapital, bezeichnete in 64 Sächsische Industrie (Hauptversammlungsnummer),10. Jg., Nr. 12, 20.3.1914, S. 1. 65 Protokoll, S. 189: »Alsdann unterhielt sich seine Majestät der König mit Herrn Dr. Strese­ mann noch längere Zeit über den Inhalt des Vortrages«. Vgl. dazu: 25 Jahre Arbeit im Dienste der Sächsischen Industrie und der Sächsischen Wirtschaft durch den Verband Sächsischer Industrieller, 1902–1927, o. O, o. J. (SAW, F 879), S. 68: »War es doch eine Anerkennung dieser bedeutenden Stellung, die der Verband in Sachsen sich errungen hatte, dass im Jahre 1914 auf der Hauptversammlung des Verbandes König Friedrich August in Begleitung seiner Staatsminister erschien und dort mit großem Interesse dem glänzenden Vortrag lauschte, den Dr. Stresemann über das Thema ›Die sächsische Industrie auf dem Weltmarkt‹ hielt«. 66 Protokoll (Sächsische Industrie), S. 192.

184  Politisches Kapital aller Öffentlichkeit also nicht nur Stresemanns politische und wirtschaftspolitische Leistung als großartig, sondern wies auch darauf hin, dass es Stresemann zu verdanken sei, dass ein so einzigartiges Vertrauensverhältnis zwischen dem VSI und seiner Geschäftsführung bestünde, ein Vertrauensverhältnis, das es so nicht häufig in Deutschland gäbe. Hier erhielt Stresemann das Lob, nach dem er sich so sehnte, die Anerkennung »versöhnend« zu wirken, durch seine Tätigkeit Klassengrenzen zu überspringen, den Weg zur erstrebten Volksgemeinschaft zu ebnen, und vor allem ein Vorbild für die Gesellschaft des Kaiserreiches zu sein. Zweifellos war dies ein erster Höhepunkt in der Karriere Gustav Stresemanns. Die Anerkennung durch den höchsten Repräsentanten des sächsischen Staates, das Lob aus der Wissenschaft und die geradezu unverbrüchliche Zu­ neigung seines VSI, mehr schien nicht erreichbar, der Bürger Stresemann endgültig etabliert zu sein. Angesichts dessen lohnt sich ein Blick hinter die Kulissen. Denn, so natürlich diese Kette von Erfolgen auf den ersten Blick wirkt, so verdient diese Ehrungen erscheinen mögen; sie kamen nicht von ungefähr und von selbst. Jedes Jahr musste Stresemann das Seinige dazu beitragen, um eine solch erhebende Inszenierung zu verwirklichen. Beim VSI gab es kaum Probleme. Er war Stresemann gewogen und er tat nahezu alles, worum Stresemann ihn bat. Nicht zuletzt gewährte er ihm bei seinem Ausscheiden während des Weltkrieges einen lebenslangen Ehrensold, eine wirklich herausragende Geste. Die schönen Räumlichkeiten des Theaters, die für den kulturellen Rahmen unbedingt nötig waren, konnte er wiederum durch seine langjährigen Be­ ziehungen zum Intendanten und sein kulturelles Engagement in Dresden requirieren. So war es der Kooperation zwischen Oberbürgermeister Beutler und Stresemann und seinen Parteifreunden im städtischen Rat zu verdanken, dass das Schauspielhaus gegen erheblichen Widerstand vor allem der Sozialdemokratie überhaupt gebaut worden war und 1913 eingeweiht werden konnte.67 Dass die Kulturszene unter diesen Umständen gern bereit war, diese Dankesschuld abzutragen, war daher fast selbstverständlich. Auf diese Weise stand Stresemann immer ein Ambiente zur Verfügung, das ihn und den VSI kulturell erhöhte. Aber auch für die Inszenierung im Theater selber hatte Stresemann vorgesorgt. Die endlos Beifall klatschenden Damen auf den Rängen, ein kontinuierliches Phänomen während nahezu aller Tagungen, hatte er sich durch seinen Kollegen Schneider gewogen gemacht. Diesem fiel bei jeder der erfolgreichen Tagungen die Aufgabe zu, durch launige Damenreden diese zu beglücken und für eine geeignete positive Atmosphäre zu sorgen.

67 Starke, Dresden in der Vorkriegszeit, S. 98.

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Oberbürgermeister Beutler seinerseits hatte schließlich längst erkannt, was er an Stresemann besaß.68 Seit 1908 erschien er regelmäßig zu den Versammlungen des VSI und ließ es an Zuvorkommenheit niemals fehlen, anders noch als in den Jahren zuvor. Und schließlich die Presseberichterstattung: Sie war ebenfalls im Sinne Stresemanns organisiert worden, insofern musste er sich keine großen Gedanken deswegen machen: Entweder wurden die Zeitungen von ihm und seinem Verband kontrolliert, wie etwa die »Sächsische Industrie«, die »Dresdner Zeitung« oder das »Leipziger Tageblatt«69, oder aber sie waren ihm generell freundlich gesonnen, wie die »Dresdner Neuesten Nachrichten«. Hier zeigte sich, dass Stresemann bereits in diesen frühen Jahren ein zielbewusst agierender Medienpolitiker war, Kontakte pflegte und, wenn immer möglich, die Interessen der Presse vertrat  – mit entsprechenden Erfolgen.70 Und was die sächsischen Sozialisten in ihren Zeitungen schrieben war Stresemann und seinen Freunden ohnehin gleichgültig. Es wurde von dem Kreis der Besucher, aber auch dem Dresdner Bürgertum kaum beachtet. Fazit: Eine positive Außendarstellung der Veranstaltungen war immer gesichert. Schließlich war die Ehrung durch den Wirtschaftswissenschaftler Harms besonders wichtig. Es war daher kein Zufall, dass Stresemann und seine Dresdner Freunde um Prof. Dr. Wuttke, mit dem Weltwirtschaftsarchiv von Harms schon lange in Kontakt standen, den Aufbau in Kiel unterstützt und den Gelehrten über den grünen Klee gelobt hatten. Mitglieder in der »Gesellschaft zur Förderung des Harmschen Instituts für Seeverkehr und Weltwirtschaft an der Universität Kiel« waren neben Prinz Heinrich von Preußen zugleich eine Reihe von Stresemannfreunden und Mitglieder des VSI.71 Der so von der Dresdner Wirtschaft hofierte konnte daher gar nicht anders, als seinerseits Stresemann auf diese Weise seinen Dank abzutragen.

68 Stresemann hatte Beutler mit »sanftem Druck« 1908 darauf hingewiesen, dass der VSI sehr verstimmt wäre, wenn ihn der OB nicht angemessen behandeln würde. Schreiben Stresemanns an Beutler, 7.1.1908 und Antwort Beutlers vom 9.1.1908, also nur zwei Tage später, Stadtarchiv Dresden, Hauptkanzlei 2.3.1, VSI Ortsgruppe DD 444/07 D. R. Im Jahre 1913 setzte der VSI sogar durch, dass er gutachterlich zu allen Problemen befragt wurde, die die Dresdner Industrie betrafen, (Beschluss des Rates vom 25.2.1913), Stadtarchiv Dresden, Hauptkanzlei 2.3.1, VSI Ortsgruppe DD 444/07 D. R. 69 Hier besaß Stresemann persönlich sogar einige Anteile am Aktienkapital, Stresemann an Niethammer, 19.10.1917, SWA , NL Niethammer, Mappe 493, 12. 70 Vgl. zu dieser Thematik, Pohl, Ein früher Medienpolitiker?, S. 150 f. 71 Vgl. das Verzeichnis der der Mitglieder 1916, Kiel 1916, in: Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr.

186  Politisches Kapital Die Tagungen in Dresden: Ende oder Anfang einer großen Karriere? Angesichts dieser Erfolge konnte Stresemann rundherum zufrieden, ja glücklich, sein. Er schien alles erreicht zu haben, was er sich je gewünscht hatte, war wohlhabend, politisch wirksam, angesehen, gesellschaftlich anerkannt. Er hätte ein in sich ruhender Bürger sein und seine Stellung als regionale Größe weiterhin ausbauen können. Er schien bei sich selbst angekommen zu sein – und hätte insofern mit sich im Reinen sein können. Drei Dinge standen dem jedoch entgegen: Sein unbändiger Aufstiegswille, seine Grenzgängerexistenz und vor allem seine Situation als Politiker.72 Auf politischer Ebene sah die Lage nämlich deutlich anders aus, als es die Festakte des VSI vermuten lassen.73 Im sächsischen Landtag errangen Stresemanns Nationalliberale zwar Erfolg auf Erfolg, bei den Reichstagswahlen von 1912 hatten seine eigenen politischen Ambitionen jedoch einen empfindlichen Dämpfer erhalten. Sein bis dahin unaufhaltsamer politischer Aufstieg schien auf einmal abrupt gebremst.74 Stresemann hatte trotz größter Anstrengungen und trotz eines noch aufwändigeren Wahlkampfes als im Jahre 1907 sein Reichstagsmandat im Wahlkreis Annaberg an die Sozialdemokratie verloren, und dies bereits im ersten Wahlgang. Dabei erlitt er ein finanzielles Desaster.75 Und nicht nur das. Auch innerparteilich geriet er ins Abseits. Er verlor im wichtigen »Geschäftsführenden Ausschuss« der Nationalliberalen Partei Sitz und Stimme, nicht zuletzt wegen seiner »politischen Umtriebigkeit« und weil ihm der rechte Parteiflügel einen Denkzettel verpassen wollte. Was ihn in Sachsen erfolgreich gemacht hatte, wurde ihm bei seinen politischen und ökonomischen Gegnern in Berlin und im CdI nun zum Fallstrick. Der Sozialliberale und junge Mann Bassermanns wurde politisch abgestraft.

72 Im Jahr 1912 trafen Stresemann zugleich Schicksalsschläge aus seiner (alten) Familie. Vgl. sein Tagebucheintrag vom 15.4.1912 (zit. nach: Kolb, Stresemann, S. 11): »Vollkommener Zusammenbruch der Streubelschen [Schwager Stresemanns] Ehe, Schicksal von Arthur Streubel, Richard [Stresemanns Bruder] noch ohne Stellung  – trübe Familienbilder, soweit das Auge zu schauen vermag«. Wenige Monate später starb Richard wegen Alkoholmissbrauchs. 73 Hier folge ich weitgehend der Argumentation von Kolb, Stresemann, S. 37 f.; nach ihm die folgendem Gedanken. 74 Vgl. dazu auch Wright, Stresemann, S. 60 ff. 75 Vgl. hierzu den Aufruf »national gesinnter Frauen«, PA AA , NL Stresemann 86, Januar 1912: »Wir erzgebirgischen, national gesinnten Frauen, empfinden tief mit unseren Männern den großen Verlust dieses ausgezeichneten Mannes […]. Wir bitten alle, Frauen und Jungfrauen, die mit uns empfinden, einen Beitrag zu spenden zugunsten einer Dr. Stresemann Stiftung, die unserm bisherigen verehrten Abgeordneten zur freien Verfügung für eine Stiftung im Wahlkreis überwiesen wird« (im Auftrage: Clara Slesina).

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Stresemanns Förderer, Ernst Bassermann, der starke Mann der National­ liberalen, war bereits seit 1893 Mitglied und ab 1898 Vorsitzender der Nationalliberalen Reichstagsfraktion. 1905 wurde er Vorsitzender der Partei. Noch vor dem Kriege avancierte Stresemann zu seinem »jungen Mann«, nicht zuletzt, weil er seine politischen Vorstellungen weitgehend teilte. Beide Politiker verfolgten eine mittlere Linie, waren aber deswegen ständig der Gefahr ausgesetzt, zwischen den verschiedenen (ökonomischen) Interessengruppen innerhalb der Partei zerrieben zu werden, wie sich nun zeigte.76 In seinem Tagebuch vom 6. April 1912 hat Stresemann diese Situation in aller Deutlichkeit niedergeschrieben: »Das neue Jahr bisher ein Unglücksjahr. Der Niederlage bei den Reichstagswahlen folgt ganz unerwartet meine Nichtwiederwahl als Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses. Ich erhalte nur 39 von 112 Stimmen. Berliner Tageblatt berichtet über Verhandlungen: ›Niederlage Bassermanns und Stresemanns!‹ BZ am Mittag nennt mich in bezug auf Bassermann: den ›getreuen Pylades dieses umherirrenden Orestes‹«.77 Sein innerparteilicher Gegner Fuhrmann notierte am 24. März 1912, in derselben Sache geradezu hämisch78: »Ich glaube, es gab sehr viele auch außerhalb des Centralvorstandes in der Partei, die Stresemann diese Erbse gönnten, seine Vielgeschäftigkeit und seine Eitelkeit hat ihm mehr Gegner geschaffen als er selbst weiß. Bassermann hat mir mehr als einmal im Reichstage gesagt, noch zu der Zeit, als Stresemann Abgeordneter war, dass er sich mit seinem Vielgeschrei um seine ganze politische Entwicklung bringe.«

Einerseits war Stresemann also in Sachsen politisch, ökonomisch und kulturell etabliert und gesichert. Wenn er (nur) auf der Suche danach gewesen war, ein Bürger in einer Landeshauptstadt zu werden, konnte er das nirgends so gut erreichen wie dort. In Dresden war er mittlerweile eine der großen Figuren der Stadt, schien den bürgerlichen Habitus zu beherrschen und endlich »angekommen« zu sein. Als geachteter Bürger unter Bürgern stand er anscheinend sicher auf dem bürgerlichen »sozialen Feld«. Andererseits hätte das politisch eine Stagnation bedeutet. Ein Verweilen in Dresden schien keine geeignete Antwort auf die Herausforderungen der Reichspolitik zu sein. Wenn er sich zu Höherem, zum endgültigen Verlassen seines engeren Milieus und der doch begrenzten Landespolitik berufen fühlte, musste er (vollständig) nach Berlin wechseln. Ein

76 Vgl. Kolb, Stresemann, S. 32: »In dem fast doppelt so alten Ernst Bassermann, dem Partei- und Fraktionsvorsitzenden, fand Stresemann einen väterlichen Freund und Lehrer auf dem Feld der Politik«. Nach dem Tode Bassermanns im Jahre 1917 war Stresemann daher geradezu dessen geborener Nachfolger. Eine moderne Biografie Bassermanns steht noch aus. 77 Zit. nach: Kolb, Stresemann, S. 37 f. 78 AV Stresemann (zu AV Fuhrmann), 24.3.1912, PA AA , NL Stresemann 136.

188  Politisches Kapital weiteres Doppelleben wie bisher, das zeigte der politische Misserfolg des Jahres 1912, machte auf Dauer wenig Sinn. Nur mit ständiger Präsenz in Berlin konnte er ein höheres Maß an politischer Wirksamkeit erzielen. Der Preis dafür war allerdings hoch. Seine Position als (fast) integrierter Bürger in Dresden musste er aufgeben, um sie in Berlin (fast) wieder neu zu erwerben. Er musste in einem ganz anderen Umfeld agieren. Der »Grenzgänger«, der in Sachsen fast schon »zu Hause« war, würde dort wieder ein »Außenseiter« werden, verbunden mit allen Problemen, die dieser Status ihm bereiten würde. Allerdings nur dort konnte er einen noch höheren Status gewinnen. Warum also tat Stresemann sich diesen Wechsel trotzdem an? Vielleicht spielt hier die Psychologie des ständigen Außenseiters und Grenzgängers eine entscheidende Rolle. Es waren nicht nur die neuen und größeren Aufgaben, die Stresemann riefen, es war nicht nur sein unstillbarer Ehrgeiz, der ihn als »underdog« auszeichnete, sondern der Wechsel in die Hauptstadt reizte ihn, weil er geradezu der geborene Grenzgänger war  – und diesen Status, obwohl er ihn zugleich hasste, nicht missen, ihn nicht loslassen konnte. Der Wechsel hatte also möglicherweise viel mit Psychologie und seinem gestörten Selbstwert zu tun, der ihn zwischen Unsicherheit und Euphorie hin und her schwanken ließ. Er wechselte vielleicht deswegen nach Berlin, um weiterhin ein »Grenzgänger« bleiben, davon profitieren, darunter aber auch leiden zu können. Dafür, dass Sachsen nicht seine letzte Station sein würde, sprachen, neben der politischen Notwendigkeit nach der Niederlage bei den Reichstagwahlen, vor allem aber einige ganz praktische Faktoren. Seine Frau etwa hatte sich in Dresden niemals besonders wohl gefühlt, sondern immer die Rückkehr nach Berlin betrieben. Stresemann selber war in Sachsen preußischer Staatsbürger geblieben und hatte sogar im »Preußischen Hilfsverein« in Dresden aktiv mitgearbeitet.79 Dies waren nicht gerade Zeichen dafür, dass er die Sesshaftigkeit anstrebte. Zudem mochte er glauben, dass ihn die Reichspartei trotz der momentanen Abstrafung brauchen würde. Als Provinzler, ohne Reichstagsmandat konnte er politisch aber nur wenig bewirken. Das mochte ihm durch den Wahlausgang 1912 klar geworden sein. Ein liberaler Parteiführer und reichsweit wirkender Syndikus gehörte nach Berlin, wo er ja schon seit 1910 einen Wohn79 Der 1900 in Dresden gegründete Verein unterstützte Not leidende preußische Staatsangehörige. Es handelte sich um eine relativ große Organisation (1909: 575 Mitglieder), mit vielen namhaften Mitgliedern und Spendern (Preußischer Gesandter, Fabrikbesitzer, Kommerzienräte). Stresemann ist diesem Verein nach 1903 beigetreten (Jahresberichte des Preußischen Hilfsvereins zu Dresden, 1913–1915, Hist. Sax. G. 0364,007. F). Vgl. HStA Dresden, Amtsgericht Dresden, Vereinsregister, Bd.  1395, Nr.  261. Vorsitzender des Vereins im Jahre 1903 war der Arzt Dr. Ritter, mit dem Stresemann wegen diverser Geschäfte über die Dresdner liberale Presse gut bekannt war und ständig in Ver­bindung stand.

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sitz besaß.80 Und nicht zuletzt: Nur von Berlin aus konnte er einen möglichen Rechtsschwenk der Nationalliberalen verhindern. Die endgültigen Weichen für dieses Wagnis wurden also bereits vor dem Kriege gestellt, zu dem Zeitpunkt, als er in Sachsen einen ersten Höhepunkt seiner Karriere erlebte. Politisch musste er sich nun entscheiden, und vielleicht half ihm dabei seine Amerikareise im Jahre 1912, durch die er sein Weltbild erweitert hatte. Er verzichtete fortab auf das Bewährte und Bekannte und setzte sich neue Ziele, ging neue Wagnisse ein, wurde erneut zum »Grenzgänger«. Der Abschied von Dresden fiel ihm umso leichter, als das sächsische Haus bestellt schien. In Dresden würde bald ein nationalliberaler Oberbürgermeister (Blüher) gewählt werden, dem er vertrauen konnte. Der VSI reüssierte auch ohne ihn, denn seine Vertrauten würden sein Werk weiterführen (und er es nach wie vor begleiten), der BdI musste sowieso in Berlin präsent sein. Er war also dort genau richtig am Platze. Nicht zuletzt konnte er sich in Berlin auf die noch bessere Förderung durch seinen väterlichen Beschützer Bassermann verlassen – und vielleicht bald wieder in der Reichspolitik reüssieren.

80 Kolb, Stresemann, S. 122.

5. Ein Leben im Umbruch

Der »Held« an der »Heimatfront« »Ich glaube mich mit Ihnen in Übereinstimmung zu finden, dass die nationalliberale Partei eine Partei der Mitte bleiben muss, die schon wegen ihrer Stellung in den breiten Massen der Wählerschaft das liberale Grundprinzip nicht aufgeben darf, die aber andererseits zuverlässig national sein muss. Von zwei Seiten werden mir [Stresemann] nach dieser Richtung hin Schwierigkeiten gemacht. Einmal sind gewisse Kreise der Schwerindustrie […] so konservativ gesinnt, dass sie eigentlich auf dem rechten Flügel der Konservativen stehen, und auf der anderen Seite gibt es eine sehr einflussreiche Gruppe in unserer Partei, die von pazifistisch-demokratischen Ideen derart infiziert ist, dass man zu der alten Tradition der Partei kaum noch Berührungspunkte findet«.1

Nation und Nationalismus Die in diesem Schreiben indirekt angedeuteten Auseinandersetzungen über Kriegsziele und politische Reformen beschäftigten Stresemann (nicht nur) im Krieg fast täglich, sondern sie bewegten auch die Nationalliberalen und die deutsche Politik insgesamt.2 Stresemanns Urteil hatte insofern große Bedeutung, als er bei Kriegsbeginn bereits wieder einen solchen Status gewonnen hatte, dass seine Meinung nicht nur in der eigenen Partei, sondern im ganzen Reich wieder gehört und vor allem respektiert wurde. Noch im Jahr 1912 schien Stresemann allerdings, schon vor seiner »eigentlichen«, der Weimarer Karriere, am Ende zu sein.3 Er gab jedoch nicht auf, sondern kämpfte weiter, wobei Sachsen ihm in Berlin den nötigen Rückhalt lieferte.4 Dieser Rückhalt, sein Ehrgeiz und seine zähe Aufsteigermentalität bildeten die Grundlage dafür, dass er auch ohne Reichstagsmandat weiterhin politisch und wirtschaftspolitisch agieren konnte. Er war jung und konnte (und musste diesmal) warten, obwohl ihm das schwer fiel. Bei den Nachwahlen zum 1 Stresemann an Senator Biermann, 15.10.1917, PA AA , NL Stresemann 175. 2 Vgl. zum Folgenden Pohl, Nation – Politik – Ökonomie. Dort auch weiterführende Literatur- und Quellenhinweise. 3 Vgl. dazu seinen Brief an Bassermann, 2.3.1912, PA AA , NL Stresemann 136. 4 Vgl. dazu den Artikel in: Dresdner Woche, Wochenschrift für Dresdner Leben, Verkehr, Gerichtswesen, 4 (1912), Nr. 3, 18.1.1912.

192  Ein Leben im Umbruch Reichstag ergab sich dann aber, nach mehreren gescheiterten Versuchen, bereits im Jahre 1914 die Chance, wieder in den Reichstag einzuziehen. Danach ging es wieder steil bergauf. Im Reichstag wurde er nicht nur Bassermanns »junger Mann«, sondern wegen dessen häufiger Abwesenheit von Berlin übernahm er schnell die Koordination der nationalliberalen Parlamentsarbeit. Nach Bassermanns Tode am 23. September 1917 wurde er geradezu selbstverständlich zur wohl wichtigsten Figur der Partei: stellvertretender Vorsitzender des Zentralvorstands der NLP und zugleich Vorsitzender der nationalliberalen Reichstagsfraktion. Der Krieg ermöglichte ihm also den raschen Aufstieg in der Reichspolitik und machte ihn zugleich zu einem der wichtigsten deutschen Parlamentarier. Er war insofern ein politischer »Kriegsgewinnler«.5 Stresemann verstand die Nationalliberalen als die Partei des deutschen Nationalstaates, als dessen eigentlichen Träger. Nation und Nationalliberal waren für ihn gewissermaßen Synonyme. Dabei ging er von einer besonderen Rolle Deutschlands in der Welt aus. Er hoffte, wie die meisten Nationalliberalen, durch eine machtvolle Außenpolitik Deutschland einen größeren »Platz an der Sonne« verschaffen zu können. Die »geradezu vorbehaltlose Identifikation mit der Idee vom nationalen Machtstaat im Weltmaßstab«6 stellte für Stresemann also ein Kontinuum dar. Sie wurde von ihm nie grundsätzlich in Frage gestellt.7 Daher unterstützte er die Politik des Reichskanzlers von Bülow, den er Zeit seines Lebens hoch verehrte und den er, nach dem von ihm mitbewirkten Sturz Bethmann Hollwegs im Juli 1917, gern wieder als Reichskanzler gesehen hätte. In der grundsätzlichen Identifikation mit dem Staat traf Stresemann sich, trotz aller sonstigen Differenzen, mit den Konservativen und vor allem mit den Nationalsozialen. Um die außenpolitischen Ziele zu verwirklichen, bedurfte es, so Stresemann, einer starken Schlachtflotte. Hier argumentierte er in erster Linie als Politiker und weniger als sächsischer Syndikus, denn die von ihm vertretenen Wirtschaftszweige profitierten anfangs relativ wenig vom Flottenbau. Für ihn überwog das Argument, dass Deutschland nur durch eine starke Flotte Großbritannien Paroli bieten könne, der Nation, die wegen der konkurrierenden Interessen den internationalen Aufstieg der deutschen Nation am stärksten zu behindern schien. Die Flotte sollte den deutschen Handel und die (notwendigerweise) zu erwerbenden (neuen) Kolonien schützen. Diese These propagierte Stresemann vor allem in Zusammenarbeit mit den nationalen Verbänden. Im Flottenverein galt er daher lange Zeit als maritimer Hardliner. 5 Im Folgenden steht vor allem der Politiker Stresemann im Mittelpunkt. Es geht nicht in erster Linie darum, wie er den Krieg persönlich erlebte, wie er das tägliche Leben bewältigte oder im Freundeskreis agierte, sondern vor allem darum, in welche Richtung er die Nationalliberale Partei führte. 6 T. Wagner, S. 47, 7 Langewiesche, S. 219.

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Obwohl das deutsch-englische Verhältnis durch starke Konkurrenz geprägt war, wünschte sich Stresemann jedoch lange Zeit eine friedliche Lösung. Die These, dass beide Nationen ökonomisch so eng miteinander verbunden seien, dass es bei einem möglichen Krieg nur Verlierer geben würde, vertrat Stresemann 1910 im Reichstag mit großer Überzeugung, und traf damit die Realität nach Ende des Ersten Weltkrieges ziemlich genau.8 Angesichts der Verschärfung der politischen Spannungen überwog bei ihm im Laufe der Jahre aber doch die Überzeugung von einem unüberbrückbaren Gegensatz. Immerhin zeigte sich bei diesen punktuellen Überlegungen aus dem Jahre 1910, dass er bereits vor dem Ersten Weltkrieg (und als sächsischer »Regionalpolitiker«) in weiten weltwirtschaftlichen Kategorien dachte, Kategorien, die seine Außenpolitik in der Weimarer Republik dann entscheidend (mit)prägen sollten. In Stresemanns Weltbild gehörte ferner eine offensive Kolonialpolitik. Diese erschien ihm und vielen seiner Parteifreunde nicht nur aus machtpolitischen und ideologischen, sondern auch aus wirtschaftlichen und kulturellen Gründen notwendig. Selbst wenn die Kolonien kurzfristig Kostgänger des Reiches seien, müsse man nach ihnen streben. Langfristig würden sie zu einem Trumpf im internationalen Machtpoker werden. Wenn Deutschland sich nicht kolonial engagiere, so seine Argumentation, würden ihm »die Wachstumsmärkte jenseits des europäischen Kontinents verschlossen bleiben.«9 »Wenn ganze Länder und Erdteile verteilt werden, müssen auch wir unsere Rechte wahren, sonst stehen wir am Rande des Abgrundes. Wenn wir uns nicht aufraffen, werden wir für immer unseren Platz an der Sonne einbüßen.«10 In diesem Sinne sind die gegen die Sozialdemokratie gerichteten Aus­ führungen zur Kolonialpolitik aus dem Jahre 1908 zu deuten, in denen er höhnte: Wäre Christoph Kolumbus ein Sozialdemokrat gewesen, »dann hätte er die Indianer, die dort lebten, um Erlaubnis gebeten, sich das Land einmal ansehen zu dürfen, vielleicht ein paar Karten aufzunehmen, um sie in Madrid zu zeigen, im Übrigen aber schleunigst wieder nach Hause zu fahren. Weil ihm ja nicht einfallen durfte, da Gebietsrechte zu erwerben, wo ein anderer Stamm schon angesiedelt war«.11 Die darin offenbarte Arroganz und der erklärte Rassismus waren Stresemann und den meisten Nationalliberalen offenbar gleichgültig. Deutschland sollte expandieren und die »Deutsche Kultur« unter allen Umständen in die ganze Welt, also auch in die Kolonien, exportiert werden. Der bürgerlich-liberale Wertehimmel, so die Argumentation, verdiene es, genauso wie die deut8 Gedanken nach T. Wagner, S. 103; danach auch das Folgende. 9 Ebd., S. 127. 10 Rede auf dem Bismarckkommers in Gera, 30.3.1912, S. 10, PA AA , NL Stresemann 303, zit. nach: T. Wagner, S. 127. 11 Zit. nach: Koszyk, Stresemann, S. 85 ff.

194  Ein Leben im Umbruch schen Industriegüter, überall verbreitet zu werden. »Deutsche Weltpolitik« sollte daher immer zugleich »Deutsche Kulturpolitik« sein. Der Wunsch nach nationaler Größe wurde bei Stresemann im Laufe der Jahre jedoch immer stärker von sozialdarwinistischen Vorstellungen infiziert. Bei den sich zuspitzenden (ökonomischen) Interessenkonflikten in der Welt könne es, so Stresemann, auf Dauer entweder nur Gewinner oder aber nur Verlierer geben.12 Daraus folgte für ihn, dass sich Deutschland auf diesem Schlachtfeld nicht nur mit aller Energie, sondern auch mit allen Mitteln behaupten müsse. Einen Krieg in Kauf zu nehmen, war bei ihm und vielen National­ liberalen daher durchaus eine Option.13 Die von den Nationalliberalen immer stärker wahrgenommene Gefährdung der deutschen Nation, das Gefühl, bei der wirtschaftlichen Eroberung der Welt gebremst, politisch ausgegrenzt oder gar eingekreist zu werden, hat den Entschluss, 1914 den Krieg zu wagen, daher nicht gehemmt. Die Mehrheit der Nationalliberalen arbeitete allerdings nicht bewusst auf ihn hin. Stresemann etwa wurde völlig überrascht.14 Nichts an seinen politischen Äußerungen im Jahr 1914 lässt darauf schließen, dass er mit einem baldigen Krieg rechnete, sonst hätte er zu dieser Zeit wohl kaum eine zweite Reise in die USA geplant.15 Berücksichtigt man das nationalliberale Ensemble von Ideen, das Konglomerat von verschiedenen Wünschen und die faktischen Interessenlagen, dann ist allerdings nur zu verständlich, dass die Nationalliberale Partei den Burgfrieden, den der Kaiser im August 1914 verkündete, nahezu vorbehaltlos bejahte: »Dass der gesamte deutsche Liberalismus die pathetische Sehnsucht nach der Ein12 Vgl. T. Wagner, S. 92. 13 Stresemann an Bassermann, PA AA , NL Stresemann 135: » Der »Hannoversche Courier« hat neulich in ganz ähnlicher Weise davon gesprochen, dass die heutige Zeit derjenigen unter Friedrich II ähnelte, wo das preußische Heer quantitativ und qualitativ außerordentlich vermehrt wurde, man aber in ganz Europa die Überzeugung hatte, dass es niemals losschlagen würde, sodass infolgedessen auch die Aufwendungen ohne praktischen Nutzen blieben. […] haben die geringsten Andeutungen [von mir] in diese Richtung eine so spontane Zustimmung gefunden, dass man wirklich sagen kann: Hier geht das ganze Volk mit uns, wenn wir diesen Gesichtspunkt energisch vertreten«. 14 Vgl. dazu seine Tagebucheinträge, PA AA , Privatnachlass Stresemann. Dazu Kolb, Stresemann, S. 42. 15 Vgl. Kolb, Stresemann, S.  42. Insgesamt wirkte Stresemann auf seine Dresdner Umwelt bei Kriegsbeginn aber keinesfalls euphorisch. Vgl. den Brief Niethammers an Anders (beide NLP), 1.9.1914, SWA , N 12, 490/1. »[…] ich habe mit Stresemann, Zöphel und Clauss in Bellevue gegessen und muss gestehen, dass mir in der jetzigen Lage die Gesellschaft recht wenig angenehm war. Stresemanns und vor allem Zöphels überlegene kritische und begeisterungsunfähige Art wirkten auf mich verstimmend […]. Wenn man sich jetzt nicht rückhaltlos an unseren Erfolgen freuen will und kann, nun, dann wird man wohl niemals einen besseren Grund dazu finden, und es ist doch schrecklich arm, sich überhaupt über nichts wirklich begeistern zu können. Die Siege der letzten Tage sind meiner Meinung nach einfach überwältigend«.

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heit der Nation teilte, die keine Parteien, nur noch Vaterlandsverteidiger kenne, kann nicht verwundern. Wer das Nationale stets als obersten Leitwert politischen Handelns verfochten hatte, konnte sich dem Einheitsverlangen, das ausbrach, als der Krieg begann, nicht entziehen.«16 Mit Kleinigkeiten, wie der Kriegsschuldfrage, mochten sich Stresemann und die Nationalliberalen daher nicht weiter aufhalten. Stresemann wusste eine klare Antwort: »Der innere Grund [für den Krieg] lag sicherlich in Englands Bestreben, eine starke Mächtekoalition gegen uns auf die Beine zu bringen, um uns niederzuzwingen. Dem sind wir zuvorgekommen, da wir nach der Mordtat von Sarajevo keinen Zweifel an unserer Geneigtheit zum sofortigen Losschlagen ließen. Man wird dagegen Einspruch nicht erheben können, wenn man sich vor Augen hält, dass jedes weitere Jahr uns die Möglichkeit eines Sieges verringert oder vielleicht in zwei Jahren unmöglich gemacht hätte.«17

Krieg und Gesellschaft Der Krieg forderte nicht nur auf dem Schlachtfeld ungeheure Opfer. Auch seine sozialen und ökonomischen Folgen waren in Deutschland gewaltig, in ihrem Umfang ebenfalls, wie der Kriegsausgang, schwer vorhersehbar. Es kamen damit erhebliche Probleme auf die Nationalliberalen und Stresemann zu, Probleme, die seine Entscheidungen (mit)beeinflussten. Seine Politik und sein politisches Management im Krieg sind nur daher zu erklären, wenn man die (ökonomische und soziale) Situation des Bürgertums (mit)berücksichtigt. Der im August 1914 beginnende Krieg zerstörte das bisherige internationale Handelssystem fast vollständig, ein System, das zum Anstieg des Wohlstandes in (nahezu) allen am Krieg beteiligten Ländern beigetragen hatte.18 Der von den Alliierten verhängte Wirtschaftskrieg traf dabei das Deutsche Reich mit besonderer Härte. Das hätte Stresemann dank seiner volkswirtschaftlichen Kenntnisse zumindest ahnen können. Dieser Aspekt hat ihn aber in seiner Meinungsbildung über die Notwendigkeit des Krieges nur am Rande berührt. Wegen der Handelsblockade durch Großbritannien blieb das Reich während des Krieges von den internationalen Handelsströmen nahezu ausgeschlossen. Das bedeutete aus der Sicht vieler Unternehmer hohe Einbußen. In Frie16 Langewiesche, S. 228. 17 Stresemann an Senator Biermann, 9.6.1915, PA AA , NL Stresemann 147. Stresemann erkannte klar, dass, wenn Deutschland den Krieg gewinnen wollte, ein sofortiges Losschlagen notwendig sein würde, da die Entente im Lauf der nächsten Jahre militärisch immer stärker geworden wäre. Auch dies dürfte ein wichtiger Grund dafür gewesen sein, den Krieg nicht nur hinzunehmen, sondern ihn genau zu diesem Zeitpunkt zu wollen. 18 Berghahn, S. 112; danach auch die folgenden Gedanken.

196  Ein Leben im Umbruch denszeiten hätten viele von ihnen durchaus, wie in den letzten Jahren vor dem Krieg, mehr profitieren können. Entgegen landläufiger Meinung war also für viele Wirtschaftszweige der Krieg kein besonders gutes Geschäft. Das galt lange Zeit auch für große Teile der sächsischen verarbeitenden Industrie.19 Auf diesem Feld hatte Stresemann daher sehr viel »Aufklärungsarbeit« zu leisten, um den VSI (sowie den BdI) bei der Stange zu halten. Das Bruttosozialprodukt im Reich ging binnen kurzem um fast zwei Drittel, das individuelle Realeinkommen im Durchschnitt um mehr als ein Drittel zurück. Die meisten gesellschaftlichen Gruppen in Deutschland gehörten daher, ökonomisch gesehen, zu den Verlierern des Krieges. Die verschiedenen Klassen und Schichten litten jedoch in unterschiedlichem Maße.20 Dies gilt auch für das bürgerliche Lager. Die ökonomische Schere etwa zwischen Teilen des Wirtschafts- und des Bildungsbürgertums driftete gewaltig auseinander. Hier bestand höchste Gefahr für die Einheit der Partei. Der Parteiführer Stresemann stand also vor einer Herkulesaufgabe. Einige Wirtschaftsbürger, die in der Kriegsindustrie tätig waren, verzeichneten einen rasanten ökonomischen Aufschwung und maximale Gewinne,21 andere, wie Stresemann selber, die ein breites Beziehungsnetz be­saßen, gut informiert waren und geschickt spekulierten, konnten durch kluge Investitionen ebenfalls wohlhabend werden. Ihnen ermöglichte der Krieg nicht nur ein sorgenfreies, sondern teils sogar ein Luxusleben, das Stresemann und seine Familie allerdings nicht führten. Die Scheidelinie zwischen arm und reich war trotz der von Stresemann propagierten Ideologie einer deutschen Volksgemeinschaft, sehr deutlich sichtbar. Die Konsumgüterindustrie und die sie tragenden Wirtschaftsbürger, eine in Sachsen reichlich vertretene nationalliberale Klientel, erlebten vielfach einen rapiden Abschwung. Viele Betriebe kämpften schon sehr bald um die nackte Existenz.22 »Weite Bereiche der Konsumgütererzeugung, insbesondere die Textilproduktion und der Wohnungsbau, brachen förmlich ein.«23 Hier war der Wirtschaftspolitiker Stresemann erneut gefordert. Ähnliche Einbrüche erfuhren das Handwerk und fast der gesamte »alte Mittelstand«. Die Folgen lassen sich durchaus unter dem Begriff »Proletarisierung des Mittelstandes« zusammenfassen.24 Das betraf die Nationalliberalen massiv.

19 Vgl. dazu Kolditz, Erster Weltkrieg. 20 Salewski, S. 169. 21 In Dresden galt das etwa für den Lingner Konzern oder die Betriebe der metallverarbeitenden Industrie, sofern sie Heeresaufträge erhielten. 22 Folgendes nach Wehler, S. 74 ff. 23 Ebd., S. 74. 24 So Kocka, Klassengesellschaft im Krieg, S. 65, in seinem immer noch sehr lesenswerten Buch.

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Im Bildungsbürgertum wiederum »hinterließ der Krieg verheerende Spuren«.25 Die höheren Beamten, ein wichtiger Träger nationalliberaler Politik, mussten hinnehmen, dass ihr Realeinkommen im Laufe des Krieges praktisch halbiert wurde. Sie gehörten zu den ökonomischen Hauptverlierern des Krieges. Nicht so scharf waren die Verluste bei den mittleren und unteren Beamten. Bei ihnen sanken die Einkünfte um über ein Drittel. Deutlich wird damit, warum gerade diese Schichten bis zum bitteren Ende auf einem Siegfrieden beharrten. Nur ein solcher Frieden konnte sie, so ihre zutreffende Vermutung, für alle ihre Verluste entschädigen. Gerade weil sie schwer um ihre ökonomisch Existenz kämpften, waren sie nicht bereit, einen politischen Reformkurs zu stützen, der neben der bereits eintretenden ökonomischen möglicherweise noch eine politische Nivellierung herbeiführen mochte. Damit musste Stresemann rechnen. Die Furcht vor einem Statusverlust siegte bei diesen Gruppen lange Zeit über politischen Realismus und politische Vernunft. Stresemann ließ sich offensichtlich von dieser Sichtweise lange Zeit beeinflussen. Nationalliberale Politik im Krieg Stresemanns außenpolitisch aggressiven Vorstellungen waren zugleich gepaart mit innenpolitisch eher moderaten Ansichten. Für das Reich wünschte er sich – wie schon in Sachsen  – eine alle Schichten und Klassen umfassende Volksgemeinschaft, d. h. mehr Partizipation für alle Bürger, auch – wenngleich möglichst eingeschränkt – für die Arbeiter. Die soziale Einheit der Nation bildete für ihn, so Thomas Wagner, geradezu »die Voraussetzung für ihren weltpolitischen Erfolg«.26 Diese Harmonie sollte sowohl durch eine Integration der Arbeiterschaft als auch durch erhöhten Wohlstand für alle erreicht werden.27 Es müsse, so Stresemann, jetzt und zukünftig vor allem darum gehen, die sozialdemokratisch beeinflusste Arbeiterschaft in die Nation einzubinden, und ihr, wenn auch nicht ein demokratisches Wahlrecht, so doch andere Zugeständnisse anzubieten. Geeignete Mittel konnten, wie in Sachsen, ein modifiziertes Pluralwahlsystem in Preußen oder aber die faktische Anerkennung der Freien Gewerkschaften sein. Wie die Mehrheit seiner Parteifreunde, forderte Stresemann aber bis weit ins Jahr 1918 keine vollständige Parlamentarisierung und Demokratisierung des Reiches. Ihm ging es vor allem um die Stärkung und soziale Absicherung der Mittelschichten, die wichtigste Wählerbasis der Nationalliberalen.28 25 26 27 28

Wehler, S. 76. T. Wagner, S. 93. Langewiesche, S. 220. Zur Sozialpolitik Stresemanns vgl. das Unterkapitel »Der Sozialpolitiker«.

198  Ein Leben im Umbruch Im Krieg entspannen sich in der Partei alsbald scharfe Konflikte. Zum einen um die deutschen Kriegsziele und den Friedensschluss (also um die außenpolitischen Vorstellungen) und zum anderen um die Frage von inneren Reformen (also das Problem einer innenpolitischen Demokratisierung), konkret um die Abschaffung des Preußischen Dreiklassenwahlrechtes. Die vom Kaiser, aber ebenfalls von den Nationalliberalen gewünschte nationale Einheitsfront hielt daher nicht sehr lange. Stresemann musste ständig versuchen, die in der Partei vorhandenen scharfen Gegensätze aufzufangen, zwischen den Parteiflügeln zu moderieren und eine gemeinsame nationalliberale Position nach außen zu vertreten.29 Diese Aufgabe war insofern nicht einfach, als Stresemann in der Frage der Kriegsziele zu den Falken gehörte, bei der Frage der Reformen jedoch eher den Tauben zuzurechnen war. Stresemann war einer der schärfsten »Einpeitscher« in der Kriegszieldebatte, einer der wildesten Annexionisten, eine Haltung, die ihm in seiner Karriere in der Weimarer Republik noch große Schwierigkeiten bereiten sollte. Mit seinen ausufernden Kriegszielen schloss er sich mit voller Überzeugung den Forderungen der preußischen Nationalliberalen, des CdI, eigentlich nicht gerade sein geborener Bundesgenosse, und der Alldeutschen an. Zugleich gelang es ihm, und das war durchaus eine taktische Meisterleistung, den BdI auf diesen Kurs einzuschwören.30 Stresemann forderte, nicht zuletzt wegen der wirtschaftlichen Interessen, die er als Syndikus des VSI und Präsidiumsmitglied des BdI vertrat, ein Deutschland, das als Weltmacht so stark sein müsse, dass es sich gleichberechtigt gegenüber Großbritannien, dem Hauptfeind, behaupten könne. »Der dauernde Friede kann nur ein Frieden sein, der uns stark macht, dass die ganze weltpolitische Konstellation, die jetzt gegen uns anstürmt, in Zukunft den Waffengang gegen uns nicht noch einmal wagt. In diesem Sinne erstrebt das deutsche Volk eine Sicherung der deutschen Grenzen und ihre Ausdehnung.«31 Zu den Eckpunkten dieser euphemistisch »Sicherung der deutschen Grenzen« genannten Forderungen, gehörten u. a. neues Siedlungsland im Osten und Westen, ein von Deutschland beherrschtes Belgien, ein ökonomisch abhängiges Frankreich und Calais als ein deutsches Gibraltar gegen England. Diese Zugewinne sollten durch eine Kriegsentschädigung abgerundet werden, die die Gegner würden zahlen müssen. Im Jahre 1915 dachte Stresemann dabei an eine Größenordnung von etwa 50 Milliarden Reichsmark.32 Den Ideen seines 29 Zu der Schwierigkeit, die Partei auf einen einheitlichen Kurs festzulegen vgl. seinen Brief an Frau Bassermann, 18.7.1917, PA AA , NL Stresemann 133. 30 Vgl. dazu den Aufruf des BdI, Deutsche Industrie, Nr. 15, August 1914. 31 Stresemann, Deutschland Siegeswille, in: Leipziger Illustrierte Zeitung 1916. 32 Vgl. sein Schreiben an Ludwig Stollwerck, 28.6.1915 »[… ] sehr instruktiven Aufsatz der New York Times mit dem Verlangen, einer von uns zu leistenden Kriegsentschädigung von 150 Milliarden Mark. Bei uns erschrecken die Menschen schon, wenn man nur von

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Förderers Albert Ballin33, Geld bereits im Kriege durch eine Kriegssteuer abzuschöpfen, um dadurch den deutschen Schuldenberg abzubauen, mochte er nicht folgen.34 Dabei dachte er wohl vor allem an die politische Klientel der Nationalliberalen, die bereits ohne erhöhte Steuern stark gebeutelt wurde. Solche überbordende Kriegsziele waren jedoch nur mit einem Siegfrieden durchzusetzen. Das wusste Stresemann nur zu gut. Er war davon bis zum Herbst des Jahres 1918 fest überzeugt. Er glaubte zudem, die besetzen Gebiete, wie bereits jetzt im Krieg, auch nach dem Sieg zu Gunsten Deutschlands ausplündern zu können, um so das Reich ökonomisch zu stabilisieren.35 Dabei ließ er Überzeugungen anklingen, die 25 Jahre später in einer ganz anderen Dimension und mit einer ganz anderen Zielsetzung vom nationalsozialistischen Deutschland umgesetzt wurden.36 In jedem Fall gehörte Stresemann mit diesen Vorstellungen zum rechten Flügel seiner Partei.37 Bis weit in das Jahr 1917 hinein teilten allerdings die meisten Deutschen, mit Ausnahme großer Teile der sozialdemokratischen Arbeiterschaft, diese Überzeugung. Auffällig ist jedoch, dass die Mehrheit der Nationalliberalen, und mit ihnen Gustav Stresemann, auch nach 1917, als die Aussichten auf ein rasches Ende des Krieges deutlich geschwunden waren, weiterhin an diesen exorbitanten Zielen hingen und nach wie vor von einem Siegfrieden träumten. Angesichts solcher Vorstellungen war der in dieser Frage eher zögerliche Reichskanzler Bethmann Hollweg geradezu Stresemanns geborener Gegner.38 »Dass Bethmann-Hollweg aus vielen und guten Gründen in der Frage des­ U-Boot-Kriegs zögerlich verfuhr, in der Kriegszielfrage öffentliche Festlegungen

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dem dritten Teil der Summe als von derjenigen spricht, was unsere Feinde uns zu leisten haben müssen, wenn wir in der Lage sind, Ihnen die Friedensbedingungen aufzuerlegen.« (RWWA , 208, Nr. 63, Fasz. 5). Den 1857 geborenen und 1918 durch Suizid verstorbenen Hamburger Generaldirektor der Hamburg-Amerika-Linie, der damals weltgrößten Schifffahrtsgesellschaft der Welt, hatte Stresemann über den Hansa-Bund kennen gelernt. Seit 1912 arbeiteten beide eng zusammen. Ballin gründete zusammen mit Stresemann im gleichen Jahr den DeutschAmerikanischen Wirtschaftsverband und machte den Syndikus des VSI zu dessen Geschäftsführer. Vgl. Wright, Stresemann, S. 70. Vgl. das Schreiben Ballins an Stresemann, 10.6.1917, PA AA , NL Stresemann 171. Vgl. den Brief an Bassermann, 28.12.1916, PA AA , NL Stresemann 134: »Die Beute aus Rumänien lässt schon jetzt erwarten, dass wir mindestens diejenigen Mengen Getreide aus Rumänien erhalten, die uns Rumänien im Frieden gegen Bezahlung lieferte«. Zu diesen Zielen nationalsozialistischer Besatzungspolitik vgl. Aly. Für seine Söhne ließ er sich von Stollwerck, ganz im Sinne seiner nationalistischen Vorstellungen, vaterländische Sammelalben zustellen, was der Zeit entsprach, aber auch Stresemanns Überzeugungen noch einmal verdeutlicht (Stollwerck an Frau Dr. [!, K. H. Pohl] Stresemann, 19.6.1916, RWWA , 208 – 64-3). Stresemann unterstellte Bethmann Hollweg, verantwortlich für die deutsche Niederlage in der Marokkokrise zu sein. Insofern stellte die negative Beurteilung von Bethmann Hollweg geradezu ein Kontinuum für ihn dar. Vgl. auch T. Wagner, S. 120.

200  Ein Leben im Umbruch unter allen Umständen vermeiden wollte und eine Verständigung mit England nicht ausschloss, machte ihn zum Lieblingsfeind der Nationalliberalen.«39 Stresemann tat daher alles, um seinen Sturz zu fördern. Dabei kooperierte er mit innenpolitischen Gegnern, wie etwa mit Matthias Erzberger von der Zentrumspartei, den, anders als Stresemann, nicht die mangelnde Kriegs-, sondern die zögerliche Friedenspolitik des Kanzlers störte. Die Oberste Heeresleitung (OHL) und der Kronprinz wurden ebenfalls in diese Fronde eingebunden, mit dem für Stresemann positiven Ergebnis, dass Bethmann Hollweg im Juli 1917 schließlich seinen Rücktritt erklären musste. Dass der Kanzler zu leicht geneigt war, den Sozialdemokraten auf innenpolitischem Feld Zugeständnisse zu machen, war ein weiterer Grund für dieses Verhalten: »Was ich [Stresemann] ihm vorwerfe, ist die bedingungslose Hingabe des gleichen Wahlrechtes [an die Sozialdemokratie]. Dieser Entschluss der preußischen Krone war von so geschichtlicher Tragweite, dass man dafür weitgehendste Konzession der Sozialdemokratie hätte eintauschen können und müssen.«40 Genau dies aber hatte der Kanzler nicht getan und er musste daher, so Stresemann, so schnell wie möglich gehen. Die Radikalität der Stresemann’schen Kriegszielforderungen verunsicherte jedoch nicht nur einen Teil  seiner Partei, sondern auch viele seiner alten Bekannten, wie sich am Beispiel der Dresdner Bankiersfamilie Arnhold gut zeigen lässt. Bei den Aufsichtsratssitzungen des Sachsenwerkes (bei denen Strese­ mann als Aktionär und Mitglied des Aufsichtsrates meistens anwesend war) wurde, besonders nach dem offiziellen Teil  der Sitzungen, häufig über Krieg und Kriegsziele diskutiert. Die Gegensätze prallten dort häufig scharf aufein­ ander, nicht zuletzt weil Georg Arnhold, im Gegensatz zu Stresemann, ein ausgesprochener Pazifist und in pazifistischen Organisationen vor dem Kriege häufig aufgetreten war. Bei einer dieser Sitzungen kritisierte Georg Arnhold Stresemanns Kriegszielvorstellungen als geradezu »verbrecherisch«.41 Stresemann hatte in der Diskussion betont, dass der Krieg nicht eher beendet sein dürfe, »als bis die schwarzweiss-rote Flagge über den Zinnen von Calais wehe« und dass Deutschland dieses Pfand, wenn es denn erobert worden sei, nicht wieder herausgeben dürfe42, eine für Stresemann zu dieser Zeit typische Aussage. Der Pazifist Georg Arnhold war davon offenbar schockiert, und ließ Stresemann dies deutlich wissen. Stresemann wiederum bezeichnete Arnhold daraufhin mit großem Genuss als einen »Kriegsgewinnler«, der am Krieg nicht schlecht verdiene. Dieser emp39 Kolb, Stresemann, S. 50. 40 Stresemann an Thimme, 19.1.1918, BA Koblenz, NL Thimme 23. 41 Stresemann an Kommerzienrat Hoesch, 7.9.1916, PA AA , NL Stresemann 164. In dieser Akte auch die weitere hier zitierte Korrespondenz. 42 Stresemann an Hans Arnhold, 7.9.1916, ebd.

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fand es wiederum als »eine förmliche Ironie des Schicksals […], dass ich, als ausgesprochener Pazifist, an der Herstellung von Munition, wenn zwar indirekt, auch noch Geld verdienen muss. Schon hieraus geht hervor, wie schwer es meiner Gesinnungstreue ankommt, zu dem Kreis derer zu gehören, welchen der Krieg finanzielle Vorteile zugeführt hat […]. Ich kann Sie [Stresemann] auch weiter versichern, dass, wenn es in meiner Macht läge, den Krieg heute zu beenden, ich nicht allein das Verdiente, sondern noch recht viel dazu hergeben würde.«43 Es zeigten sich hier die scharfen Gegensätze zwischen »Tauben« und »Falken« nicht nur innerhalb der Nationalliberalen Partei, sondern auch in der sächsischen Industrie. Vorwürfe und Gegenvorwürfe häuften sich.44 Aus einem einzigen kritischen, nicht einmal ehrverletzenden Satz Arnholds, entwickelte sich ein völlig absurder Konflikt, bei dem Stresemann nicht gerade glänzend dastand, ja, wie ein echter Querulant wirkte.45 Trotz einer formalen Versöhnung konnte die Kluft zwischen den beiden Kontrahenten lange Zeit nicht überwunden werden. Sehr gut lässt sich hier das Zusammenwirken von Ideologie, starker Sensi­ bilität und Reizbarkeit sowie ein Mangel an Souveränität bei Stresemann erkennen. Durch diesen Konflikt wurden, und das war für ihn ein schwerer Schlag, mühsam aufgebautes soziales und ökonomisches Kapital und das vertrauensvolle Verhältnis zu der mächtigen Bankiersfamilie schwer belastet. Es dauerte Jahre, bis Stresemann und Georg Arnhold wieder miteinander kommunizierten.46 Der Streit zeigt, wie wenig flexibel Stresemann, entgegen seiner sonstigen Art, in dieser Frage war, so dass er »Sache« und »Personen« kaum noch trennen konnte. In der Frage der inneren Reformen, und damit stand Stresemann gegen seine innerparteilichen Verbündeten in der Kriegszielfrage, aber zusammen mit Georg Arnhold, setzte er sich, wie erwähnt, intensiv für Veränderungen ein. Da die Sozialdemokraten durch die Bewilligung der Kriegskredite bewiesen hätten, dass sie voll zu Kaiser und Reich stünden, seien ihnen nicht länger Patriotismus und Vaterlandsliebe abzusprechen. Um dies zu belohnen und zu fördern, müssten ihnen mehr politische Rechte zugebilligt werden. Eine Verfassungsreform in 43 Georg Arnhold an Stresemann, 11.10.1916 PA AA , NL Stresemann 164. 44 Georg Arnhold an Stresemann, 11.10.1916, ebd. 45 Stresemann versuchte etwa eine Reihe von Industriellen für sich und seine Thesen zu instrumentalisieren. Fast alle von ihnen versuchten jedoch, sich dieser Instrumentalisierung mehr oder weniger offensichtlich zu entziehen. Briefwechsel in: PA AA , NL Stresemann 164. 46 Immerhin wandte sich Georg Arnhold im Jahre 1924 aber wieder an Stresemann und bot ihm seine guten Dienste an. In Amerika, wohin es ihn zog, glaubte er, in den politischen Kreisen, die Stresemann immer noch nicht recht trauten, die aber ihm, dem Pazifisten, nahe standen, für Stresemanns Politik werben zu können. Zugleich bat er um verschiedene Einführungsschreiben »für diese oder jene Stelle«. Der Frieden schien also wieder hergestellt zu sein (Georg Arnhold an Stresemann, 8.9.1924, PA AA , NL Stresemann 268).

202  Ein Leben im Umbruch Preußen, teilweise aber auch im ganzen Reich, wo der Legislative mehr Rechte zuzugestehen seien, wäre damit allerdings zwingend verbunden gewesen. Allein schon diese das bestehende politische System keineswegs sprengenden Forderungen, machten Stresemann zum nationalliberalen »Linken«, zum erklärten Gegner der Parteirechten. Stresemanns Reformwille speiste sich aus verschiedenen Quellen. Zum einen war es der Wille, die Sozialdemokratie für ihr Verhalten im Kriege gewissermaßen zu belohnen, um sie dadurch bei der Stange zu halten. Die »vernünftigen« Sozialdemokraten sollten gestärkt, noch näher an den deutschen Staat herangeführt, die Fehler der »Sozialistengesetze« nicht noch einmal wiederholt werden. Zum anderen waren es die positiven sächsischen Erfahrungen, die Stresemann hier einbrachte. Auch jetzt wieder wollte er notwendige Zugeständnisse machen, um Schlimmeres zu verhindern, nämlich die Einführung eines demokratischen Wahlrechtes in Preußen. Hinzu kam der Druck der sich verändernden Kriegslage. Hatte Stresemann lange Zeit die Reformen auf die Nachkriegszeit verschieben wollen, machte die innenpolitische Lage ab 1917 ein Handeln noch im Kriege notwendig. Die Sozialdemokraten mussten, so erkannte er, schleunigst beruhigt werden: »Wenn die Frage des Wahlrechts auf die Zeit nach dem Kriege verschoben wird, dann wird das Wahlrecht weit radikaler, als wie es sich jetzt gestalten lässt. Ich hoffte damals noch darauf, ein vernünftiges Pluralwahlrecht nach sächsischem Muster durchzusetzen […]. Dann wären wir um das gleiche Wahlrecht herumgekommen.«47 Die Stärkung der deutschen Volksgemeinschaft unter Einschluss der »vernünftigen« Sozialdemokraten war aber zugleich ein Teil  einer mittelfristigen Strategie. Zum einen würden dadurch zukünftige Friedensverhandlungen erleichtert. Zum anderen könne man, wenn der Frieden nicht alle Wünsche erfüllen würde, die Parteien mit in die Verantwortung ziehen und drittens »scheint es notwendig, die Sozialdemokratie für die Zeit nach dem Frieden zur Mitarbeit heranzuziehen, damit sie die großen Steuervorlagen mitmacht und sich in der Sozialpolitik einer rein negativen Kritik enthält. Meiner Meinung nach drohen sonst dem Reich und der Krone Gefahren, die noch gar nicht zu übersehen sind.«48 Stresemann ahnte ganz offensichtlich, was, selbst nach einem gewonnenen Krieg, an sozialen Herausforderungen und an finanziellen Kraftanstrengungen 47 Stresemann an Waldemar Feder, 26.7.1918, PA AA , NL Stresemann 196. Vgl. dazu das Schreiben Stresemanns an Kommerzienrat Bauer, 30.9.1918, PA AA , NL Stresemann 194: »Stoßen wir jetzt die Sozialdemokratie zurück, dann übernehmen wir auch die Verantwortung für eine etwaige Revolution, und die ist nicht zu tragen«. 48 Stresemann an Oberbürgermeister Blüher, Dresden, 3.5.1917, PA AA , NL Stresemann 192. Hier spricht Stresemann, diesmal ganz Realist, von einer Million Toten und 100 Milliarden Schulden, die der Krieg dem Reich hinterlassen werde.

Der »Held« an der »Heimatfront« 

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auf das Reich zukommen würde. Mit diesen Analysen zeigte er sich als ein politischer Realist, der schon frühzeitig bereit war, das innenpolitisch (unbedingt) Notwendige hinzunehmen, wenn nicht gar aktiv zu fördern. Mit dieser Ziel­ setzung scheiterte Stresemann jedoch. Resignierend stellte er im Januar 1918 fest: »Ich war ein Gegner des gleichen Wahlrechtes und halte es auch heute noch nicht für das ideale Wahlrecht, als das es seine fanatischen Befürworter hinstellen wollen. Aber wir befinden uns jetzt nicht mehr im luftleeren Raum, in dem wir irgendwelche Theorien über die Schaffung eines unbedingt gerechten Wahlrechtes nachgehen könnten. Zurzeit ist das gleiche Wahlrecht für Preußen eine Staatsnotwendigkeit und notwendig zur Erhaltung und Stärkung der Monarchie«.49

Hier zeigte sich Stresemann also als kluger Realist. Umso weniger ist Stresemanns höchst unflexible Position in der Außenpolitik und der Frage der Kriegsziele zu verstehen. Es stellt sich die Frage, wieso ein so kluger Wirtschaftspolitiker wie Stresemann, ein führender Politiker mit den besten politischen Beziehungen, ein Kenner Amerikas, ein Förderer von inneren Reformen, die Zeichen der Zeit nicht erkannte und es an Realismus in der Beurteilung der Chancen Deutschlands so völlig fehlen ließ.50 Hier spielte wohl ein ganzes Bündel von Ursachen eine Rolle: Die ausufernden außenpolitischen Ziele Stresemanns waren z. B. für einen Nationalliberalen nicht ungewöhnlich. Die meisten Nationalliberalen glaubten, nur so für die bisherigen Lasten des Krieges ausreichend entschädigt werden und ihren sozialen Status nach Beendigung des Krieges wieder erhalten zu können. Zwei Drittel der nationalliberalen Angeordneten und die überwältigende Mehrheit des Parteivorstandes billigten das Konzept von Bassermann und Stresemann, durch einen Siegfrieden einen dauernden Frieden schaffen zu können. Sie alle gingen davon aus, dass der »Weltkrieg zugleich der gigantischste Wirtschaftskrieg aller Zeiten« sei, der unter allen Umständen siegreich zu Ende geführt werden müsse, weil sonst Deutschland der Untergang drohe.51 Stresemann mochte sich offenbar nichts anderes vorstellen, als dass in diesem »Überlebenskampf« Deutschland siegen würde. Die Vorstellung, dass Deutschland für den »Opfergang« des Krieges aus­ reichend entschädigt werden müsse, war jedoch nicht nur liberales Gedan49 Stresemann an Thimme, 19.1.1918, BA Koblenz, NL Thimme 23. 50 Bei einer kritischen Analyse ist hinzuzufügen, dass die gegenwärtige Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg, im Gegensatz zu der bislang in Deutschland lange Zeit vorherrschenden Mehrheitsmeinung, diese deutschen Kriegsziele durchaus nicht mehr als besonders exorbitant beurteilt, sondern ihr Ausmaß im Vergleich zu den allgemeinen Zielen aller beteiligten Großmächte erheblich relativiert. Vgl. jetzt in diesem Sinne Clark. 51 Ausführungen Stresemanns vor dem Alldeutschen Verband in Dresden, 3.6.1915, Stadtarchiv Dresden, PA , Alldeutscher Verband 48, Presseberichterstattung vom 5.6.

204  Ein Leben im Umbruch kengut, sondern sie reichte bis weit in die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften hinein. Stresemann und seine Partei befanden sich damit zugleich in Gesellschaft von Friedrich Naumann, dessen Mitteleuropa-Pläne ebenfalls weit über die Grenzen des bisherigen Deutschland hinaus griffen oder von Max­ Weber, der gleichfalls ein »größeres Deutschland« forderte.52 Kurzum: Diese Ziele waren deutsches Allgemeingut und machten viele blind für die Realitäten. Hinzu kam aber vor allem Stresemanns Optimismus, der durch nichts zu trüben war. Er glaubte bis zum September 1918 an einen deutschen Sieg, glaubte den Militärs, als deren Freund und Vertrauter er sich verstand – wollte es glauben. In seinem Tagebuch bezeichnete er etwa ein längeres Gespräch mit Ludendorff und Hindenburg als einen der bewegendsten Momente in seinem Leben und die beiden Heerführer als hervorragende Persönlichkeiten, deren Urteil er voll vertraue.53 Hier zeigte sich erneut seine absolute Blindheit gegenüber den Vorstellungen des Militärs.54 Wer ihm in seinem Optimismus widersprach (Kanzler Bethmann Hollweg oder aber die Gegner des uneingeschränkten U-Bootkrieges), zählte zu den Flaumachern und Schwächlingen und musste bekämpft werden.55 Emotionen überwogen hier die kühle Analyse. Gerade in der Frage des U-Bootkrieges, bei der die Verärgerung der Vereinigten Staaten immens war und die Gefahr ihres Kriegseintritts auf der Hand lag (die Bedeutung eines solchen Kriegseintritts hätte der Ökonom Stresemann unbedingt erkennen müssen), zeigte sich diese Blindheit.56 Die berechtigten Einwände seiner guten Bekannten Albert Ballin 52 Vgl. dazu jetzt Radkau, S. 102 ff. 53 PA AA Berlin, Privatnachlass Stresemann, Tagebuch, 15.6.1917 »habe gestern im Gespräch mit Hindenburg und Ludendorff historische Stunden erlebt«. 54 Vgl. dazu Eschenburg, Stresemann, S. 157: »Zur militärischen Führung hatte Stresemann ein geradezu kindliches Vertrauen. Er handelte und redete in ihrem Geist. Man nannte ihn ›den jungen Mann von Ludendorff‹ –, und so gab er sich auch. Dabei bestanden zwischen ihm und Ludendorff, an den er sich geradezu herandrängte, ohne dass dieser entsprechend reagierte, nur lockere persönliche Beziehungen, um so engere allerdings zu dessen nächster Umgebung«. 55 Vgl. dazu den Brief Stresemanns an Justizrat Dinkgraeve, 17.3.1915, PA AA Berlin, NL Stresemann147: »Das Volk will durchhalten, die Männer mit den empfindlichen Nerven sitzen aber an hohen und höchsten Stellen und glauben noch heute, nachdem unsere seit 25 Jahren geübte Politik der Liebenswürdigkeiten vollkommen bankrott gemacht hat, noch einmal mit einer solchen Politik etwas zu erreichen, obwohl doch jeder aus diesem Krieg etwas lernen sollte«. Vgl. dazu seinen Brief an Bassermann, 28.12.1916, PA AA , NL Stresemann 134: »Der Abend klang aus in einem einmütigen Bekenntnis zu der Führung des rücksichtslosen U Bootkrieges. Unsere Sache marschiert. Ich bin überzeugt, dass wir alles einsetzen müssen für äußerste Energie der Kriegführung. Dann werden sich unsere Wünsche daraus von selbst ergeben«. 56 Auch sein ökonomisches Engagement basierte auf diesem Optimismus. Versierter Ökonom, der er war, investierte er lange Jahre erhebliche Gelder in Kriegsanleihen. Vgl. dazu PA AA , NL Stresemann 194.

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und Ludwig Stollwerck, beides ausgewiesene Amerikakenner, schlug er jedoch glatt in den Wind.57 Daher setzten sich Stresemann und die Nationalliberalen, im Gegensatz zu den meisten Fortschrittlichen, dem Zentrum und den Sozialdemokraten bis ins weit ins Jahr 1918 hinein nicht für einen Frieden ohne Annexionen ein. Bassermann und Stresemann waren sich bereits zu Beginn des Jahres 1915 sicher, mit »Bethmann und Wahnschaffe […] niemals ein Weltreich« schaffen zu können.58 Dabei blieben sie.59 Dass ein Mann wie Stresemann, der allen Ernstes »den Einsatz einer Giftbombe und den Tod einer halben Million Londoner Einwohner in Kauf nehmen [würde] […], wenn dadurch der Frieden erreicht und das Leben einer halben Million Deutscher bewahrt würde«60, wie er am 1. Februar 1917 im Hauptausschuss des Deutschen Reichstages ausführte, knapp zehn Jahre später den Friedensnobelpreis erhalten würde, war zu diesem Zeitpunkt nur schwer vorhersehbar. Ganz ausloten wird man jedoch die Blindheit bei der Mehrheit der Nationalliberalen und bei Stresemann kaum. Hält man sich jedoch diese Siegeszu­ versicht bis in den Herbst des Jahres 1918 hinein vor Augen, musste die vollständige Niederlage Deutschlands ihn und seine nationalliberalen Freunde mit besonderer Härte treffen.

Revolution und »Neuanfang« Stresemann hat das Kaiserreich geliebt. Er hatte das Königreich Sachsen als ein Land erlebt, in dem er eine glänzende Karriere machen konnte, in dem er politische und ökonomische Macht errang, in dem er es finanziell zu etwas gebracht hatte und in dem er als Bürger angekommen zu sein schien. Hier konnte er ganz offensichtlich die eigene Lebensweise mit den äußeren Erwartungen – ganz im Sinne Henning Luthers – in Einklang bringen. »Für mich« – so Stresemann – »war die Zeit des kaiserlichen Deutschlands die Zeit höchster Erhebung und Freude«.61 Insofern besaß er gegenüber dem Reich mehr als eine positive 57 Dies wird im Briefwechsel mit Ludwig Stollwerck deutlich, in dem dieser (und auch Ballin) Stresemann immer wieder darauf hinwiesen, welche negativen Folgen der wahrscheinliche Kriegseintritt der USA für Deutschland haben würde (RWWA , 208, 174, Fasz. 8), u. a. Stresemann an Stollwerck, 18.1.1917, mit Anlagen. 58 Stresemann an Uebel, 16.1.1915, PA AA , NL Stresemann 145. 59 Vgl. Stresemanns Brief an Bassermann, 14.7.1917, PA AA , NL Stresemann 133: »[…] dass das Rücktrittsgesuch des Reichskanzlers genehmigt worden ist. Ich hoffe Ihnen damit eine Freude gemacht zu haben, denn im Laufe dieses Weltkrieges haben Sie mir wiederholt dargelegt, wie sehr Deutschland unter diesem Manne leidet. Deshalb glaube ich auch in Ihrem Sinne gehandelt zu haben, wenn ich bei diesem Sturz eine aktive Rolle spielte«. 60 Zit. nach: Wright, Stresemann, S. 87. 61 Brief an Paul Boehm, 6.1.1919, PA AA , NL Stresemann 182.

206  Ein Leben im Umbruch Grundstimmung – trotz all seiner, auch von ihm wahrgenommenen, Restriktionen, Defiziten und Schattenseiten. Das politische System hätte er gern modifiziert, fand es aber im Prinzip sinnvoll und vor allem entwicklungsfähig. Zwar hatte eine Bindung des Kabinetts an das Berliner Parlament, also eine Aufwertung des Parlamentes im Kaiserreich – wie von Stresemann gewünscht – niemals zur Diskussion gestanden; auch die Macht des Adels, die nicht auf bürgerlich-liberalen Leistungskriterien beruhte, schien kaum zu brechen zu sein. Die Ersten Kammern der Länder blieben offenbar unerschütterlich Refugien des Adels, der vom Steuersystem und im Militärwesen bevorzugt wurde, und die staatliche Bürokratie und das Zugangswesen zur höheren politischen Posten schienen nach wie vor blockiert, Bürger dabei benachteiligt, von Sozialdemokraten nicht zu reden. Das waren für Stresemann nicht zu leugnende, ihn störende Elemente des alten Systems. Ihnen stand aber eine Fülle von positiven Aspekten gegenüber. Er hatte Sachsen als ein Land erlebt, in dem er als Aufsteiger politisch etwas bewirken konnte, in dem er sowohl in der Politik wie in der Wirtschaft Erfolg hatte. Als Syndikus wusste er zu schätzen, dass dort die kapitalistische Ordnung niemals in Frage gestellt, sondern vom Staat und seinen Organen gegen alle Angriffe der Sozialdemokraten geschützt wurde. Die restriktiven Wahlrechte im Land und in den Kommunen bevorzugten seine Partei und hielten die Sozialdemokraten von der Macht fern. Damit war Stresemann sehr einverstanden, freiwillig hätte er daran nur ungern etwas geändert. Zudem hatten das Reich und der sächsische Staat immer auf die »nationale Karte« gesetzt, hatten Heer und Marine gefördert, immer ein »größeres Deutschland« gewollt. Das waren auch Stresemanns Ziele gewesen. Selbst einer Bevorzugung der Stellung des Militärs, dem Stresemann im Krieg blind vertraute, war er nicht grundsätzlich abgeneigt. Gegen eine konstitutionelle Monarchie (und den Kaiser) hatte er ohnehin nichts einzuwenden. Die Liste der Übereinstimmungen ließe sich beliebig verlängern. Insofern stand Stresemann Sachsen und dem Kaiserreich zwar durchaus ambivalent, aber insgesamt mit großem Wohlwollen gegenüber.62 Mit all seiner Kraft hatte er daher das kaiserliche Deutschland zur ökono­ mischen und politischen Weltmacht führen wollen, war mit all seinen Emotionen, und viel Geld, für einen deutschen Erfolg im Weltkrieg eingetreten. Er hatte ein größeres und (noch) mächtigeres Reich für unbedingt notwendig gehalten, was ihn aber nie daran gehindert hatte, besonders im Krieg verstärkt, einen »gemäßigten« Reformbedarf anzumahnen. Daher war er bereit gewesen, 62 Ebd., […] ob nicht bald eine Zeit kommen wird, in der das Volk nach den jetzigen trostlosen Zuständen selbst in seiner überwiegenden Mehrheit die Monarchie zurückrufen wird. […] und ich bedauere auf das Tiefste, dass der äußeren Niederlage der Niederbruch des monarchischen Gedankens gefolgt ist«.

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sich, vor allem an dessen Ende, in Fragen der Wahlrechtsreform auf die Sozialdemokraten zuzubewegen: »Wir haben hier [in Berlin] die Empfindung« – so führte er im Ende September 1918 aus-, »dass wir auf einem Pulverfass sitzen. Wenn das Herrenhaus in dieser Woche das gleiche Wahlrecht ablehnt, dann würde […] mit einem Streik der Munitionsarbeiter zu rechnen sein, der sich über ganz Deutschland ausbreiten könnte und zum Zusammenbruch führen würde[…]. Es kommt jetzt darauf an, durch Konzessionen die Löschmannschaften [gemeint sind die Sozialdemokraten] bei guter Laune zu erhalten, damit der Brand gelöscht wird. Sonst könnte vieles zugrunde gehen, an dessen Vernichtung wir nie geglaubt haben.«63

Mit dieser Forderung kam er jedoch zu spät. Die Liebe und der Glaube an das kaiserliche System hatten (zu) lange seine Urteilskraft beeinträchtigt, um die innenpolitische Situation im Jahr 1918 noch realistisch einschätzen zu können. Vielleicht überwältigte sein unerschütterlicher Optimismus seinen sonst so stark ausgeprägten Realitätssinn. Umso härter musste ihn daher die Revolution treffen, die (fast) alles das, was er liebte, hinwegfegen wollte. Der kluge Politiker Stresemann hatte trotz aller seiner Kenntnisse und Er­ fahrungen, mit seinem durch großen Hoffnungen getrübtem Blick, zugleich belastet von schlimmen Befürchtungen, die Möglichkeit einer totalen Kriegs­ niederlage, aber auch einer rasanten revolutionären Entwicklung in Deutschland Ende des Jahres 1918 falsch eingeschätzt. Aus diesem Grund musste er zuerst einmal der politischen Entwicklung hinterherlaufen, obwohl er, das ist das Paradoxe, die Gefahr einer Revolution durchaus erkannt hatte. Er kam mit dieser Einsicht jedoch zu spät und konnte nicht mehr aktiv eingreifen. Die Folge war, dass er plötzlich im Abseits stand. Er war mit seiner Politik auf der ganzen Linie gescheitert. Der Krieg war vollständig verloren, und an eine nur moderate Veränderung des politischen Systems, das den Nationalliberalen, wie im Vorkriegssachsen, eine Schlüsselrolle verschafft hätte, war nicht mehr zu denken. Das geliebte Kaiserreich war am Ende, nicht zu restituieren, der Monarch war geflohen. Auf das alte System folgte nun die von Stresemann ungeliebte Republik mit einer Schlüsselrolle für die von ihm immer bekämpfte Sozialdemokratie  – und einem wahrscheinlichen Schattendasein für die Nationalliberalen. Es waren jedoch nicht nur Stresemann und sein Weltbild, die von der Entwicklung betroffen wurden. Genauso stark fiel ins Gewicht, dass er als Politiker und Wirtschaftsführer zur Disposition zu stehen schien. Für die Linken war er

63 Stresemann an Kommerzienrat Bauer, 30.9.1918, PA AA , NL Stresemann 194. Weiter hieß es dort: »Stoßen wir jetzt die Sozialdemokratie zurück, dann übernehmen wir auch die Verantwortung für eine etwaige Revolution, und die ist nicht zu tragen«.

208  Ein Leben im Umbruch wegen seiner extremen Kriegszielforderungen eine Persona non grata geworden, trotz seines sozialpolitischen Engagements und des Eintretens für moderate Reformen. Als überzeugter Freund der parlamentarischen Demokratie konnte er jedoch ebenfalls nicht gelten, und zur Abschaffung der Monarchie konnte und wollte er sich nicht bekennen. Aber auch in der Nationalliberalen Partei war er, nicht zuletzt wegen seiner langjährigen Mittlerfunktion, nirgendwo noch gut gelitten. Als Reformer war er den einen nicht weit genug gegangen und hatte es mit den anderen, besonders der Schwerindustrie und ihren konservativen Helfershelfern genau wegen dieses Reformeifers verdorben. Die Situation 1918/19 war daher persönlich für ihn höchst kritisch. Eines war er zu diesem Zeitpunkt gewiss nicht: Ein weithin geachteter Bürger, der von seiner Umwelt akzeptiert wurde und der mit sich selbst und seinem Leben im Reinen sein konnte. Das war allerdings nur die eine Seite der Medaille, die im Revolutionsjahr 1918 anscheinend alles andere zu überlagern schien und Stresemann in eine zeitweilige Depression verfallen ließ. Die andere Seite sah deutlich positiver aus. Sie ermöglichte Stresemann, dem Flexiblen, sehr schnell eine Anpassung an die Zeitumstände und einen Wiederaufstieg. Gerade seine Erfahrungen in Sachsen sollten ihn alsbald befähigen, in der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik eine zentrale Rolle zu spielen, nachdem die Revolution ihren Schwung verloren und sich der neue Staat zwar als eine sozial angehauchte, tatsächlich aber bürgerliche demokratische Republik etabliert hatte. Hier half ihm, dass er aus dem Kaiserreich mitbrachte, was ein Politiker im Weimarer Staat gut gebrauchen konnte. Bereits in Sachsen hatte sich insofern der spätere »Zwangsrepublikaner« Stresemann herausgebildet, der zwar im Innersten dem undemokratischen Kaiserreich und vielen seiner Strukturen nachtrauerte, der aber doch so flexibel war, die Neuerungen der Demokratie wenigstens (partiell) zu akzeptieren und an sein Weltbild anzupassen. Unter schweren Bedenken, und oft nach einigen reaktionären Rückfällen, war er daher, anders als viele Konservative und rechte Nationalliberale, nach einiger Zeit bereit und fähig, den neuen Staat auf seine Brauchbarkeit hin wenigstens einmal zu testen und ihn als politischen Rahmen zu nutzen. Stresemann verabscheute, anders als die Konservativen, den neuen Staat nie so stark, dass er sich mit ihm nicht hätte arrangieren können. Auf eine der Weimarer ähnliche Verfassung hatte er schon immer gehofft und bereits im Kaiserreich wenigstens tendenziell darauf hingearbeitet, selbst wenn er die Macht der Sozialdemokratie und der Freien Gewerkschaften gern stärker eingegrenzt, das Wahlrecht nicht auf allen Ebenen demokratisiert und die sozialstaatlichen Elemente gern geringer gehalten hätte. Aber nach kurzer Zeit war klar, dass das ökonomische System nicht grundlegend verändert werden würde und die Sozialisten den Staat nicht vollständig würden beherrschen können. Das war für ihn schon einmal sehr beruhigend.

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Einen Machtzuwachs des Parlamentes hatte Stresemann immer angestrebt, vor allem, wenn im Parlament Liberale stark vertreten waren. Gegen die Garantie liberaler Grundrechte hatte er ebenfalls nichts einwenden und Minister hatte er schon immer werden wollen, im Kaiserreich allerdings keine Chancen gehabt. Vom »Parteitechnischen« waren die sächsischen Liberalen schon lange vor dem Kriege auf parlamentarischem Weimarer Niveau angekommen. Daher war Stresemann, anders als etwa die Konservativen, besonders befähigt, in der neuen parlamentarischen Demokratie angemessen zu agieren, Altes mit Neuem zu verbinden, auf die Sozialdemokraten zuzugehen und gleichzeitig die Ver­ bindung zu den Konservativen zu halten. Insofern war er für die neue Zeit bestens gerüstet. Den Konservativen stand er noch in Weimar in den Fragen der »nationalen Ehre« nahe, hatte er doch wie sie im Kriege das »größere Deutschland« gefordert, den Versailler Friedensschluss als unannehmbare Katastrophe empfunden. Was die Staatsraison und die Verfassung anging, gab es durchaus Gemeinsamkeiten. Das machte eine zukünftige Kooperation mit ihnen nicht unmöglich, obwohl er das »antimoderne« Verhalten, das Unverständnis für die Arbeiterbewegung und die Industriegesellschaft und die elitären und rückwärtsgewandten politischen Vorstellungen kritisierte. Dazu war er viel zu sehr »Aufsteiger«, wusste, was es bedeutete, von der Elite ausgegrenzt zu werden, nicht dazuzugehören. Die Sozialdemokraten wiederum achtete er (wenn auch zähneknirschend) als (meist verlässliche) Partner, etwa wenn es galt, die Stellung des industriellen Deutschlands zu verbessern, sich gegenüber überzogenen Interessen der Agrarier durchzusetzen und die Rechte der Städte gegenüber dem Land zu wahren. Die gemäßigten (und aus seiner Sicht sehr zögerlichen) Sozialdemokraten waren ihm zugleich die besten Garanten gegen eine drohende Sozialisierung. In der Bildungs- und Kulturpolitik gab es gleichfalls Übereinstimmungen und bereits im sächsischen Parlament kurz vor dem Kriege erprobte Bündnisse. Mit der Sozialdemokratie ging es ihm wie später mit der Republik insgesamt. Er nahm sie als (leider) gegeben hin. Sozialistische Experimente jedoch, die die Unabhängigkeit des Kapitals und das wirtschaftliche System infrage gestellt hätten, wurden mit unerbittlicher Härte bekämpft. Wie gelang nun die scheinbar unmögliche »Wiedergeburt« Stresemanns in der Weimarer Republik? Vier Aspekte sollen in diesem Kontext etwas näher untersucht werden, wobei ich der Argumentation von Eberhard Kolb weitgehend folge64: Erstens: Welche Rolle spielte Stresemann bei der geplanten Vereinigung der liberalen Parteien zu einer neuen liberalen Partei, bzw. welche Rolle spielte er beim Scheitern dieser Versuche? Zweitens: Wie konnte sich Stresemann so rasch von der, auch 64 Kolb, Stresemann, S. 57 ff.

210  Ein Leben im Umbruch persönlichen, Niederlage erholen und nach wenigen Monaten zum unumstrittenen Parteiführer einer neuen (alten) liberalen Partei, der Deutschen Volkspartei (DVP), werden? Drittens: Wie ist sein Verhältnis zur parlamentarischen Weimarer Demokratie in dieser frühen Zeit zu beurteilen (Stichwort u. a. KappPutsch) und schließlich viertens, ganz knapp: Wie entwickelten sich Stresemanns Verbindungen zu den industriellen Verbänden?65 Die liberalen Parteien Der Versuch, die beiden liberalen Parteien, die Deutsche Volkspartei/DVP und die Deutsche Demokratische Partei/DDP zu vereinigen lag im November 1918 geradezu in der Luft.66 Über Kriegsziele konnte sich beide Parteien nicht mehr streiten, die Zeit war vorbei, das Thema abgeschlossen. Ein demokratisches Wahlrecht überall im Reich war nicht mehr zu verhindern, darüber musste man nicht mehr diskutieren. Wollte der Liberalismus angesichts der neuen Lage (besonders wegen der Stärke der Sozialdemokratie und angesichts des neuen, demokratischen Wahlrechtes) nur einiges politisches Gewicht behalten, musste er fortab möglichst mit einer Stimme sprechen. Das schien theoretisch klar, war praktisch aber schwer zu verwirklichen. Offen war z. B., in welche Richtung die Politik der neuen Liberalen im Einzelnen gehen würde (»links« oder »rechts«?), wer ihre Führer sein würden (»Demokraten oder Nationalliberale«?) und welche Rolle der belastete Stresemann darin spielen konnte (»aktiv oder ausgeschlossen«?). Stresemanns Zukunft in einer neuen liberalen Partei war von Anfang an gefährdet. Mitte November des Jahres 1918 hatte sich eine bis dahin kaum hervorgetretene Gruppe von Linksliberalen um Theodor Wolff vom »Berliner Tage­blatt« zum Kern einer neuen liberalen Partei erklärt, der DDP 67. Von dieser Gruppe wurden politische Ziele vertreten, die sich fundamental von denen Stresemanns unterschieden. Die Differenzen wurden noch dadurch verschärft, dass zwischen Wolff und Stresemann erhebliche persönliche Animositäten herrschten.68 Das ließ angesichts der unterschiedlichen politischen Grundauffassungen kaum Raum für sachliche Kompromisse.

65 Das Verhalten Stresemanns zum Versailler Vertrag und zur Außenpolitik generell bleibt an dieser Stelle ausgespart. 66 Vgl. dazu Wright, Stresemann, S. 125. Alle Einzelheiten souverän dargestellt von Richter, Die Deutsche Volkspartei, S. 31 ff. Vgl. auch ders., Von der Nationalliberalen Partei. 67 Die Einzelheiten und Phasen der verschiedenen Verhandlungen werden hier nicht weiter dargestellt. Die Studien von Wright und Kolb, sowie die Edition der Sitzungen Führungsgremien der DVP geben darüber genügend Informationen. 68 Kolb u. Richter, Nationalliberalismus, Erster Halbband 1918–1925, S. 13.

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Die Ablehnung, die ihm von der Führung der neuen DDP zuteil wurde, kommentierte Stresemann daher mit Verbitterung und mit antisemitischen Ausfällen: »Wer [wie ich] an der Quelle gesessen hat und die Gesinnung derjenigen Herren kennt, die sich Demokraten nennen, der weiß, daß der nationale Gedanke bei ihnen nicht gut aufgehoben ist und daß die Hintermänner der Partei, um es kurz auszudrücken, eine Herrschaft des mobilen Kapitals unter Führung des Judentums in Deutschland anstreben.«69 Der Politiker und Syndikus Stresemann lehnte also die neue Führung der DDP mit einer deutlich antisemitischen Argumentation strikt ab. Trotzdem erklärte er sich aber bereit, persönlich kürzer treten zu wollen, wenn in der neuen Partei die Positionen der alten Nationalliberalen Partei angemessen vertreten würden: »Ich möchte dies tun [meine Wünsche hintan stellen], um mein Versprechen zu erfüllen, obwohl es eine nationalliberale Partei wohl nicht mehr geben wird und obwohl ich bei der Vereinigung der Nationalliberalen Partei mit der Demokratischen Volkspartei voraussichtlich als Person geopfert werde, um denjenigen Vertretern des linken Flügels Platz zu machen, die nicht wie ich dadurch belastet sind, dass sie an den deutschen Sieg geglaubt haben. Alle diese Parteitätigkeit bedeutet ja aber nichts gegenüber der Zukunft unseres Vaterlandes.«70

Die Führung der neuen DDP war jedoch zu keinen Kompromissen bereit, sondern erhob schärfsten Widerspruch gegen die Übernahme alter, belasteter nationalliberaler Führer, womit besonders Gustav Stresemann gemeint war. Hinzu kamen persönliche Kränkungen in diesem Einigungsprozess, etwa als Kurt von Kleefeld, Mitverhandlungsführer der DDP, Stresemann als meinen »arme[n] unglückliche[n] irregeleitete[n] Schwager« bezeichnete.71 Sein alter Widersacher, Robert von Friedberg wiederum, der jede Modifizierung des politischen Systems während des Krieges abgelehnt, gleichfalls aber annexionistische Kriegsziele wie Stresemann vertreten hatte, stand nun mit an der Spitze der neuen DDP und gerierte sich dort als unbelasteter Erneuerer und Freund der parlamentarischen Demokratie.72 Das musste Stresemann erbittern. Es war jedoch nicht Stresemann allein, der sich in der neuen DDP nicht wiederfinden konnte. Einem großen Teil nationalliberaler Parteimitglieder ging 69 Stresemann an Kommerzienrat Stollwerck, 11.12.1918, RWWA , 208–175–2. Diese antisemitische Spitze auch bei Stinnes (Stinnes an Stresemann, 12.12.1918, PA AA , NL Stresemann 183) »Schließlich möchte ich noch betonen, dass ein Zusammengehen mit dem Freisinn auch deswegen hier [im Ruhrgebiet] auf Widerstand stößt, weil im Freisinn fast ausschließlich Juden die Wortführer sind und wir hier nicht gewillt sind, uns unter die Botmäßigkeit dieser Leute zu geben«. 70 Stresemann an Vogel (Saarbrücken), 3.12.1918, PA AA , NL Stresemann 180. 71 Eintrag Stresemanns in sein Tagebuch, 15.11.1918, PA AA , NL Stresemann 362. 72 Vgl. dazu Kolb, Stresemann, S. 61.

212  Ein Leben im Umbruch es ähnlich. Für sie wollte sich die neue DDP viel zu weit links von der Mitte positionieren. »Nicht wenige Nationalliberale lehnten die programmatischen Kundgebungen der sich in der zweiten Novemberhälfte organisierenden DDP ebenso entschieden ab wie deren Führungsgruppe und wollten dort nicht ihre politische Heimat finden.«73 Für sie war Stresemann nach wie vor der richtige Mann. Der wiederum blieb, und das mit realitätsnahem Blick, »von der fundamentalen Kontinuität der Grundlagen des Wählerverhaltens überzeugt«.74 Dieser abstrakten Erkenntnis dann konkret eine politisch wirksame Gestalt zu verleihen, war jedoch schwierig. Gegen eine Mitwirkung Stresemanns in der DDP sprach jedoch vor allem, dass er seine alten politischen Positionen weiterhin öffentlich vertrat, und diese auch angesichts der neuen Lage nicht ändern wollte.75 Aus seinem lange Zeit (und immer noch dominierenden) sehr skeptischen Verhältnis zur neuen Demokratie machte er selbst nach der Revolution kein Hehl. Demokrat war er (noch lange) nicht, wollte es nicht einmal sein: »[…] daß ich für meine Person es ablehnen würde, auch nur 24 Stunden in einer Partei zu bleiben, die von mir etwa forderte, dass ich mich grundsätzlich als Republikaner bekennen solle. Ich war Monarchist, bin Monarchist und bleibe Monarchist. Auf demselben Standpunkt steht wohl die Mehrheit unserer Anhänger. Würde von denjenigen, die die Partei vertreten, ein anderer Standpunkt, nämlich der des Bekenntnisses zu einer republikanischen Grundauffassung gefordert, so würde ich lieber für alle Zeiten aus dem öffentlichen Leben ausscheiden, als eine derartige Gesinnungslosigkeit zu begehen, mich dazu zu bekennen.«76

Das waren deutliche Worte, die einen Eintritt Stresemanns in die DDP praktisch unmöglich machten, selbst wenn man davon ausgehen muss, dass es keinen Text von Stresemann gibt, der sich nicht (auch) am Adressaten orientierte. Deutsche Volkspartei Die negative Einstellung zur DDP, die Trauer um das vergangene Kaiserreich, die (vorläufige) Ablehnung der neuen Verhältnisse und vor allem seine physi­ 73 Kolb u. Richter, Nationalliberalismus, Erster Halbband 1918–1925, S. 10. 74 Wright, Eine politische Karriere, S. 107; ferner: Stresemann an Boehm, 15.2.1918, PA AA , NL Stresemann 557. 75 Hier greift das Modell von Henning Luther sehr genau, nämlich dass bei einem erwachsenen und »ausgereiften« Menschen die grundsätzlichen Vorstellungen vom Leben zwar dynamisch sein können, aber grundsätzlich nicht mehr beliebig zu verändern sind – oder nur, wie bei Stresemann in dieser Periode, unter erheblichen inneren Spannungen. 76 Stresemann an die Deutsche Volkspartei, Frankfurt am Main, 14.2.1919 [aus Weimar, wo gerade die Nationalversammlung tagte], PA AA , NL Stresemann 203.

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sche, psychische und ökonomische Krise bedeuteten jedoch keineswegs den Verzicht auf weitere politische Tätigkeit. Im Gegenteil: Stresemanns Wirken konzentrierte sich, sobald er wieder einigermaßen bei Kräften war, »ganz auf die verzweifelte Anstrengung, seine politische Basis zu erhalten«.77 Und diese Basis sollte die neue DVP darstellen. Berücksichtigt man die Vorgeschichte und die Tatsache, dass Stresemann von der DDP praktisch ausgeschlossen worden war, kann keine Rede davon sein, dass die Gründung der DVP »von Stresemann planmäßig ins Werk gesetzt worden [sei], weil er sich eine Plattform zur Be­ friedigung seines persönlichen Ehrgeiz schaffen wollte«.78 Nachdem sich herausgestellt hatte, dass eine Vielzahl nationalliberaler Organisationen und viele Einzelmitglieder der neuen DDP nicht folgen wollten, setzte sich Stresemann, jetzt wieder ganz der alte Politikmanager, rasch an die Spitze dieser Unzufriedenen. »Der am 15. Dezember in Berlin in schwacher Besetzung tagende Zentralvorstand [der Nationalliberalen Partei] beschloß mit knapper Mehrheit (33:28) Stimmen) einen von Stresemann inaugurierten Antrag, die Organisation der Nationalliberalen Partei aufrechtzuerhalten, wenn auch unter dem neuen Namen und dem Programm der Deutschen Volkspartei.«79 Mit der Gründung der DVP, deren Aufstieg untrennbar mit Gustav Stresemann, seinem Engagement, seinem politischen Instinkt, seiner Redekunst und schließlich vor allem seinem Charisma verbunden ist, trat allerdings die paradoxe Situation ein, dass Stresemann, der bislang, außer in der Kriegszieldiskussion, eher am linken Rande der Nationalliberalen gestanden hatte, an der Spitze einer Partei stand, die in der Mehrzahl von deren (ehemaligem) rechten politischen Flügel getragen wurde. »Bei der parteimäßigen Neuformierung des Liberalismus in den November- und Dezemberwochen 1918 entstand somit«  – so zutreffend Eberhard Kolb – »eine ›Schieflage‹, die sich als nicht mehr korrigierbar erwies und negative Konsequenzen für die Weimarer Innenpolitik zeitigte«.80 Die Weimarer Republik Die Akzeptanz der neuen Republik fiel Stresemann schwer. Das zeigte sich schon, als er und seine nationalliberalen Kollegen Heinze und Richter am 27. Januar 1919 ein Telegramm an den (ehemaligen) Kaiser zu dessen Geburtstag verschickten. Darin betonten die Absender u. a. ihr Bekenntnis zum monarchischen Staat, kritisierten die würdelose Abkehr vom monarchischen Gedanken 77 Wright, Eine politische Karriere, S. 101. 78 Kolb u. Richter, Nationalliberalismus, Erster Halbband 1918–1925, S. 29. 79 Kolb, Stresemann, S. 62. 80 Ebd., S. 63

214  Ein Leben im Umbruch und dankten dem Kaiser für die Arbeit, »die Eure Majestät getreu dem Ausspruch ›Kaisertum ist Dienst am deutschen Volke‹ geleistet haben.«81 Zwar versuchte Stresemann, nachdem die Kritik über diesen Alleingang aus den eigenen Reihen sehr scharf wurde, die Aussagen zu relativieren. Er erklärte, das Telegramm »sollte zum Ausdruck bringen, dass die Partei wohl an dem monarchischen Gedanken festhält und zwar in dem Sinne, dass sie die monarchische Staatsform theoretisch als die beste Staatsform betrachtet, so wie es die alte nationalliberale Partei ein ganzes Menschenalter hindurch getan hat, dass sie sich aber praktisch auf den Boden der gegebenen Tatsachen stellt«,82 eine sehr gedrechselte Interpretation, die nur sehr Gutwillige zu überzeugen vermochte. Der Taktiker Stresemann hatte sich hier vertan, der überzeugte Monarchist Stresemann sich jedoch nicht verbogen. Er zeigte sich hier wenig flexibel, weder politisch »glatt«, noch als skrupelloser »Wendehals«. Darin unterschied er sich von vielen anderen Nationalliberalen, die ihm zwar in den meisten Ansichten zustimmten, diese aber nicht mehr öffentlich äußerten.83 Stresemann hingegen hing lange Zeit, auch öffentlich sichtbar, an dem Alten und war nicht bereit und in der Lage, sein Wertesystem rasch neu zu justieren.84 Noch deutlicher wurde die ablehnende Haltung gegenüber der Republik ein Jahr später, als ihr Schicksal beim Kapp-Putsch von 1920 auf Messers Schneide stand. Dabei war Stresemanns Verhalten mehr als undurchsichtig. Die Putschisten, General Walther von Lüttwitz, Erich Ludendorff und Wolfgang Kapp, sowie die Marinebrigade des Hauptmanns Ehrhardt als Speerspitze des Unternehmens, wollten die meisten Errungenschaften der Revolution wieder rückgängig machen und eine rückwärtsgewandte Staatsform installieren. Der Putsch brachte die noch instabile Republik an den Rand eines Bürgerkrieges, die (sozialdemokratischen) Mitglieder der Reichsregierung gerieten in Lebensgefahr und mussten aus Berlin fliehen. Erst der von den Gewerkschaften ausgerufene Generalstreik bereitete dem Putsch ein Ende. 81 Telegramm im PA AA , NL Stresemann 202. 82 Stresemann an Boehm, 30.1.1919, PA AA , NL Stresemann 202. 83 Vgl. dazu die scharfe Kritik von Boehm an Stresemann, 30.1.1919, PA AA , NL Stresemann 202. 84 Vgl. sein Schreiben an Boehm, 3.2.1919, PA AA , NL Stresemann 557: »[…] daß von einem Abrücken von unserer monarchischen Grundauffassung keine Rede sein könnte, wenn wir nicht alles aufgeben wollten, was wir 50 Jahre hindurch an erster Stelle verfochten haben. Wir erleben ja jetzt in Deutschland, so wie wir einen Byzantismus dem Kaiserreich gegenüber zu beklagen hatten, einen Byzantismus der Republik gegenüber, und viele bekennen sich laut als Republikaner, die früher ihre monarchische Auffassung nicht laut genug verkünden konnten. Das erscheint würdelos, um nicht den Eindruck erwecken zu wollen, als wechsle man diese seine Auffassung von einem Tag zum andern, um die neuen Götter der Macht anzubeten, erschien uns eine solche Kundgebung wünschenswert«.

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Stresemann und die DVP waren in den Kapp-Putsch nicht direkt involviert, bzw. wahrscheinlich waren sie es nicht.85 Sie nahmen aber zu ihm eine mehr als dubiose Haltung ein und können keineswegs als Verteidiger der Republik gelten.86 In einem möglicherweise von Stresemann selber verfassten Aufruf der DVP 87 wurde die sozialdemokratisch geführte Regierung sogar beschuldigt, den Zusammenbruch selber verursacht zu haben. Im gleichen Atemzug akzeptierte die Partei die Existenz der »neuen Regierung« (damit waren die KappPutschisten gemeint) nahezu ohne Vorbehalte. Diese Haltung zeigte erneut, wo Stresemann zu dieser Zeit politisch stand, wen er als Gegner und wen er als Mitkämpfer verstand. »Allen späteren Interpretationsversuchen und Akzentverschiebungen zum Trotz setzte sich die DVP damit nicht nur in diametralen Gegensatz zur DDP, sondern auch zur rechtmäßigen Reichsregierung.«88 Das war mehr als das berühmte Akzeptieren der Tatsachen, was Stresemann so oft zum Vorwurf gemacht werden sollte. Daraus spricht nicht nur keine Liebe zur Republik, nicht nur eine sehr einseitige Optik, sondern vor allem die deutliche Ablehnung der neuen Staatsform.89 Stresemanns Agieren als »kluge Politik« zu bezeichnen, geht daher deutlich zu weit. Allerdings profitierte die DVP, rein parteitaktisch gesehen, bei den darauf folgenden Wahlen von diesem zwielichtigen Verhalten.90 Sie wendete sich nämlich im Wahlkampf nicht etwa gegen die Putschisten, sondern machte sich vielmehr, im Anschluss an den abgewehrten Putsch, zu einer Fürsprecherin für alle diejenigen, die den Generalstreik, der die Republik gerettet hatte, verurteilten (also nicht den Putsch!). Dementsprechend forderte die Partei in erster Linie einen scharfen Einsatz gegen »links«, also gegen die Retter der Republik, und dieser Forderung schlossen sich, wie die Wahlen zeigten, nicht wenige Wähler an. Beurteilt man dieses Verhalten aus der Sicht der neuen Demokratie, wird man es eindeutig negativ bewerten müssen. »Bei allen Verhandlungen und Aktionen der Partei […] war von einem bejahenden Eintreten zu den verfassungsmäßigen Grundlagen des Weimarer Staates nichts zu spüren – von aktiver Verteidigung ganz zu schweigen.« 91 Eine Distanzierung von den Mördern von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht hätte in jedem Fall anders aussehen müssen.92 Dazu aber schien Stresemann (noch) nicht in der Lage zu sein. Im 85 Zur Problematik Kapp-Putsch und Stresemann vgl. Vor allem Gietinger, Der Konterrevolutionär, S. 177 ff. 86 Kolb, Stresemann, S. 70. 87 Vgl. dazu und zum Folgenden Wright, Stresemann, S. 161 ff. 88 Richter, Die Deutsche Volkspartei, S. 94. 89 Vgl. dazu Eschenburg, Stresemann, S. 164 f. 90 Erger, Der Kapp-Lüttwitz-Putsch, S. 222. 91 Richter, Die Deutsche Volkspartei, S. 104. 92 Vgl. dazu diese Arbeit, S. 270 ff.

216  Ein Leben im Umbruch Übrigen hat er das auch später nicht nachgeholt. Offenbar verdunkelte seine Kommunistenphobie, von der er bis zu seinem Lebensende befallen war, seine Optik. Das zeigte sich später auch in seinem Verhalten gegenüber der sächsischen Regierung Zeigner im Jahre 1923. Diese ideelle und (möglicherweise konkrete)  Kooperation war aber längst noch nicht alles an Gemeinsamkeiten zwischen den Putschisten und Stresemann. Was tatsächlich zwischen ihnen und Stresemann im Einzelnen besprochen wurde, wie weit Stresemann sogar in deren Putschpläne eingeweiht war, dürfte heute kaum noch zu eruieren sein.93 In den schriftlichen Ausarbeitungen Stresemanns ist dazu, aus gutem Grunde, nichts zu lesen. Aber bereits das, was bekannt wurde, konnte Stresemann nur schwer erklären. Die industriellen Verbände Eine seiner größten Niederlagen erlitt Stresemann jedoch nicht als Politiker, sondern als Wirtschaftsbürger. Frustration ist noch der geringste Ausdruck für seine Empörung darüber, wie schlecht er sich von seinen alten Freunden im BdI anlässlich der Neugründung des Reichsverbandes der deutschen Industrie (RdI) behandelt fühlte und wie sehr ihn der praktische Rauswurf aus seinen alten Funktionen kränkte.94 In seinen bitterbösen Ausführungen an seinen Gönner Hoffmann, die er gewissermaßen als Schlusspunkt seiner Tätigkeit in den deutschen industriellen Verbänden verstand, machte er aus seiner Enttäuschung kein Hehl: »In meinem Leben schließe ich die Periode meiner Tätigkeit für den Bund ab« – so Stresemann scheinbar gefasst –, »mit dem Bewußtsein erfüllter Pflicht und dieses Bewußtsein, das mir niemand nehmen kann, genügt mir.« Von dieser inneren Ruhe und dieser Genügsamkeit konnte jedoch keine Rede sein.95 Stresemann traf es tief, dass es seinen Freunden im BdI nicht gelang (oder dass es von ihnen nicht intensiv genug versucht worden war), ihn in eine führende Position im neugegründeten RdI, der Vereinigung aller industriellen Verbände, zu entsenden. Offensichtlich war der BdI nicht bereit, den zentralen Feind des CdI, der Stresemann nun einmal war, genügend zu unterstützen. Der Verband hatte sich nach der Revolution damit weitgehend der Schwerindustrie

93 Vgl. dazu Gietinger, Der Konterrevolutionär, S. 200 f. 94 Dazu und zum Folgenden (auch die Zitate)  sein Schreiben an Hoffmann, 26.11.1919, PA AA , NL Stresemann 114. 95 Vgl. sein Schreiben an Theodor Boehm, 23.6.1921, PA AA , NL Stresemann 233: »[…] wie sehr ich durch die Art und Weise gekränkt war, in der der Bund der Industriellen bei seinem Übergang zum Reichsverband ohne von mir Abschied zu nehmen auf meine Mitarbeit verzichtete […].«

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und ihren Interessenvertretern untergeordnet96, obwohl Stresemann die Interessen des Bundes immer massiv, geschickt und erfolgreich vertreten hatte. Stresemann war im Kriege zwar viele Kompromisse eingegangen und hatte die Kooperation mit dem CdI gesucht, etwa im Kriegsausschuss der deutschen Industrie. Das aber hatte mit den besonderen Bedingungen des Krieges zu tun, die diese Einheit gefordert hatten. Generell war er jedoch immer auf die Eigenständigkeit des BdI und auf dessen Privilegien bedacht gewesen. Das alles nutzte jedoch nichts. Er musste, nicht zuletzt wegen seiner politischen Isolierung, das Kapitel Industrielobbyismus beenden – was mit erheblichen finanziellen Nachteilen verbunden war. Er hatte damit ein wichtiges ökonomisches Standbein verloren. Diese persönliche Niederlage hing auch damit zusammen, dass seine politischen Anstrengungen bei der Gründung der DVP, angesichts seines angeschlagenen Gesundheitszustandes, seine ganze Kraft gekostet hatten. Deswegen konnte er im industriellen Bereich nicht so präsent sein, wie er es gewollt hätte und wie es wohl erforderlich gewesen wäre, um erfolgreich für sich und die Unabhängigkeit des BdI zu kämpfen. Das aber wirkte sich nun höchst negativ aus.97 »[…] daß ich in jener Zeit im schwersten politischen Kampf lag um die Deutsche Volkspartei, die unter schwierigsten Verhältnissen im Wahlkampf stand und eben erst an die parlamentarische Arbeit ging, mit meinen Kräften zu unter­stützen. Die Lebensfähigkeit der Partei hing von meiner Tätigkeit ab; ich hielt es für meine Pflicht, ihr in dieser Zeit meine Kraft voll zu widmen.« Stresemanns Rolle als Industriesyndikus war damit zu Ende. Er war im Hauptberuf Politiker geworden. Auch das stellte für ihn ein wichtiges Ergebnis der Revolution von 1918/19 dar. Wie weit er sich jedoch an der Politik der neuen Republik beteiligen, ob er in permanenter Opposition verharren würde, was ihm, der politisch gestalten wollte, nicht lag oder ob er allmählich ein Träger republikanischer Politik also ein Bürger in einem demokratischen Staat werden würde, war zu diesem Zeitpunkt weitgehend offen. Alles schien möglich zu sein, auch dass er einen neuen Anlauf machen würde, um seine alten Ziele zu verwirklichen.

96 Vgl. das Schreiben Stresemanns an Otto Moras, 19.5.1919, PA AA , NL Stresemann 114: »Die ganze Art und Weise, wie sich der Bund der Industriellen in dieser Sache verhalten hat, stellt nach meiner Auffassung nicht eine Niederlage meiner Person, sondern nur eine Niederlage des Bundes der Industriellen dar«. Dieses Urteil traf sicherlich nicht ganz zu. Stresemann fühlte sich in der Tat sehr verletzt und verbittert, wegen dieser auch sehr persönlichen Niederlage. 97 Schreiben an Hoffmann, 26.11.1919, PA AA , NL Stresemann 114.

6. Politik in Deutschland und Europa

Inszenierung als Krisenmanager: Die Rede im Reichstag am 17. April 1923 Stresemanns Rede vom 17. April 1923 stellte einen ersten Höhepunkt in seiner Nachkriegsgeschichte dar, nimmt einen zentralen Platz im Kanon seiner Reichstagsreden ein und überzeugt vor allem durch ihre gelungene Rhetorik. Mit ihr wurde der »neue« Stresemann geboren: Aus dem Gegner, dem Zweifler, dem Skeptiker und dem Mitläufer schien nun ein wichtiger (Mit-)träger der Republik geworden zu sein. Stresemanns Ausführungen sind im Kontext der Ruhrkrise, der deutschen Reparationszahlungen, dem Einmarsch der Franzosen und Belgier in das Ruhrgebiet und dem passiven Widerstand in den besetzten Gebieten zu verorten. Nach der Pariser Konferenz im Januar 1923 waren die Verhandlungen über die deutschen Reparationen und die interalliierten Schulden weitgehend zum Stillstand gekommen. Die Aufforderungen der britischen Regierung, den Alliierten ein konkretes Angebot für einen Zahlungsplan zu machen, wurden von der deutschen Seite weitgehend ignoriert. Die Regierung des parteilosen Reichskanzlers Wilhelm Cuno (einer Koalition aus DVP, DDP und Zentrum) äußerte lediglich den Wunsch nach Verhandlungen, obwohl die SPD, die Gewerkschaften und Teile der bürgerlichen Parteien zu konkreten Aktionen drängten. Stresemann vermutete, dass die USA und Großbritannien aktiv werden würden, sobald sich die wirtschaftlichen Auswirkungen der Ruhrbesetzung auch für sie negativ bemerkbar machten. In den USA war man sogar geneigt, zur Lösung der europäischen Krise beizutragen; das Angebot von US -Außenminister Hughes hatte in diesem Sinne neue Perspektiven eröffnet. Es war jedoch Eile geboten, denn der Zusammenbruch der deutschen Währung kündigte sich unmittelbar an. In diesem Falle drohte die Einführung einer französischen Konkurrenzwährung im Rheinland1 und damit die Gefahr einer Herauslösung aus dem Reich.2 Da der passive Widerstand nicht ewig durchzuhalten war, musste ein noch längeres Hinausschieben die Situation dramatisch verschlechtern. Mit

1 Vgl. zu diesem Komplex kenntnisreich Blessing, S. 102 ff.; dort weitere Hinweise. 2 Wie weit Stresemann in dieser Zeit überhaupt noch Vertrauen in die Wirkung des passiven Widerstandes setzte, ist unklar. An Stimmen, die ihn vor einem baldigen Zusammenbruch warnten, mangelte es jedenfalls nicht.

220  Politik in Deutschland und Europa dieser Auffassung stand Stresemann zwar im Gegensatz zur Reichsregierung, näherte sich aber der SPD an. Eine Chance zur Lösung der Ruhrkrise und des Reparationsproblems boten die Vorschläge des ehemaligen französischen Wiederaufbauministers Loucheur.3 Sie liefen auf einen reduzierten Zahlungsmodus hinaus, dem Deutschland aus Stresemanns Sicht mit einem eigenen Angebot entsprechen konnte. Nach Maßgabe der geforderten Reparationsleistungen schien es sogar möglich, zumindest mit Frankreich zu einem Ausgleich zu kommen. Wollte die Reichsregierung nicht von einer britisch-französischen Einigung über das Rheinland und das Ruhrgebiet übergangen und vor vollendete Tatsachen gestellt werden, musste sie also sofort tätig werden. Da die Regierung jedoch tatenlos verharrte, ergriff Stresemann im April 1923 die Initiative, um eine Neuaufnahme der Verhandlungen in der Reparationsfrage anzustoßen und öffentlich Lösungsmöglichkeiten zu diskutieren. Stresemann bekleidete kein Amt in der Regierungskoalition, hatte jedoch wegen der Regierungsbeteiligung der DVP Loyalität gegenüber der Koalition und der Regierung zu wahren. Er war vor allem nicht autorisiert, den Alliierten ein Angebot zu machen. Die größte Möglichkeit der öffentlichen Einflussnahme bestand für ihn daher nur im Medium der parlamentarischen Rede.4 Die Rede besaß aber nicht nur große politische Brisanz, sondern zugleich eine hohe Bedeutung für ihn selber. Mit ihr meldete sich ein Mann zu Wort, dessen Verhältnis zur Republik lange Zeit ungeklärt schien, der sich aber mit dieser Rede Vertrauen erwerben wollte, um in Zukunft als überzeugender und das Gemeinwohl im Auge behaltender Politiker akzeptiert zu werden.5 Da eine Parlamentsrede vor dem Zeitalter der modernen Massenmedien eine sehr hohe öffentlichkeitsvermittelnde Funktion besaß, die sie im Kanon der politischen Medien geradezu konkurrenzlos machte, konnte Stresemann mit einem gelungenen Auftritt, ausgestattet mit der Autorität der Institution »Parlament«, eine maximale Wirkung und zugleich eine Fülle von Adressaten erreichen. Das wusste der »Öffentlichkeitspolitiker« Stresemann sehr genau, und er nutzte diese Chance.6 3 Vgl. hierzu Maxelon, S. 132. 4 Parlamentarische Reden stellten eine Kommunikationsform mit besonderer Bedeutung, aber auch mit besonderen Eigenschaften dar. Sie waren bedeutend wegen der Gesetzgebungsfunktion, die vom Parlament (und damit ihren Rednern) ausging. Wegen der Eingebundenheit in das parlamentarische System unterlag eine jede parlamentarische Rede zugleich aber immer einer dem Parlament immanenten, teilweise ritualisierten Form. Ihr hatten sich die Repräsentanten aller politischen Parteien zu fügen, ohne dabei bestimmte Grenzen überschreiten zu dürfen. Die Form der Rede, die Anpassung an die parlamentarischen Regeln, aber auch ihre mögliche Durchbrechung waren daher von größter Bedeutung. 5 Als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses und als Parteiführer der DVP besaß Stresemann allerdings bereits erhebliches Ansehen in und außerhalb Deutschlands. 6 Vgl. dazu Pohl, Ein früher Medienpolitiker?, S. 196 ff.

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Stresemann wagte sich mit dieser Rede erstmals aus der Deckung des Parlamentariers und Parteivorsitzenden und deutete größere politische Ambitionen an. Das führte dazu, dass die Rede in besonderem Maße durch Taktik geprägt wurde: Er musste mit ihr den Interessen der verschiedensten Adressaten (nicht zuletzt seiner eigenen Partei) gerecht werden und hatte zugleich im In- und Ausland möglichst positiv zu wirken. Er musste neue Perspektiven anbieten, um so den »neuen«, auch international akzeptierten, Stresemann überzeugend vorzustellen und hatte doch die Kontinuität seiner Anschauungen zu wahren, um innenpolitisch glaubwürdig zu bleiben. Stresemann hielt seine große Rede, wie andere, frei und ohne Manuskript.7 Sie war aber trotzdem keineswegs spontan, sondern wegen ihrer besonderen Bedeutung auf das sorgfältigste komponiert – und tatsächlich sehr erfolgreich. Die Stenografen des Reichstages vermerkten »stürmische[n] Beifall und Händeklatschen, selbst auf den Tribünen«.8 Die Ausführungen wurden zudem von vielen deutschen Tageszeitungen fast vollständig wiedergegeben. Stresemann selber hielt sie für so wichtig, dass er sie gleich zweimal in seinen »Deutschen Stimmen« veröffentlichte.9 Im Reichsanzeiger wurde ebenfalls eine (nur geringfügig gekürzte) Version abgedruckt.10 Zudem findet diese Rede in der biografischen Literatur große Beachtung.11 Die innenpolitische Funktion dieser Rede bestand darin, sich als Staatsmann der Weimarer Republik, als Träger dieser neuen Staatsform zu präsentieren. Es galt Gemeinsamkeit auf breiter Ebene herzustellen, innenpolitische Gräben zu überwinden und zugleich die Nation auf eine (nämlich seine) politische Linie zu einigen. Diese Aufgabe erfüllte die Rede offenbar glänzend. Sie wurde sehr häufig von Beifall, Lachen und Äußerungen der Zustimmung unterbrochen und erntete, trotz ihres brisanten Themas, trotz des aufgewühlten politischen Klimas und der Zerstrittenheit des Parlaments nur ein einziges Mal (protokollierte) Missbilligung, und zwar von Seiten des Kommunisten Ledebour.12 Gegen dessen Kritik hatte Stresemann sicherlich nichts einzuwenden. 7 Vossische Zeitung, 18.4.1923, S. 1: »Stresemann über Lösungsmöglichkeiten. Ein Weg.« 8 Verhandlungen des Reichstages. Stenographische Berichte des Reichstages, Band 359, 335 Sitzung, 17.4.1923, S. 10573–10580. Im Folgenden werden nur die Band- und Seitenzahlen genannt. 9 Deutsche Stimmen (DS) 8, 20.4.1923, S. 135 ff. und DS 10, 20.5.1923, S. 175 ff. 10 Deutscher Reichsanzeiger (DRA), 18.4.1923, abends; beinahe ungekürzt ist der Abdruck in der Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung, 18.4.1923, S. 1 und 2. 11 Berg, Stresemann und die Vereinigten Staaten, S. 127; W. Stresemann, Mein Vater, S. 220; Zimmermann, Deutsche Außenpolitik, S.  172 und Baechler, Stresemann 1878–1929, S. 333 nehmen auf die Rede unterschiedlich Bezug. Gleiches gilt für Cornebise und, eher knapp, Wright, Stresemann, S. 212 f. Diese Rede ist, im Gegensatz zu der Reichstagsrede vom 7.3.1923, in der Sammlung von Reichstagsreden Stresemanns bei Zwoch nicht abgedruckt. Zwoch, Gustav Stresemann, Reichstagsreden, S. 134 ff. 12 Bd. 359, S. 10579.

222  Politik in Deutschland und Europa Die positiven Rückmeldungen hingegen waren überwältigend. Die Rede wurde etwa achtzigmal von Beifallskundgebungen begleitet, so dass Stresemann für diese Unterbrechungen schon (scherzhaft) nach zusätzlicher Redezeit verlangte.13 Etwa 25-mal wurden positive Bekundungen des »gesamten Hauses« verzeichnet, etwa ähnlich viele jeweils von der Mitte und rechts, aber immerhin auch fünfmal kam dezidierter und deutlicher Beifall von Seiten der oppositionellen Sozialdemokratie. Mehr Zustimmung konnte er, der von der politischen Rechten nun in die Mitte tendierte, der der politischen Linken aber nach wie vor ein Dorn im Auge war, in dieser aufgewühlten Zeit schwerlich erreichen. Mit der Rede öffnete er sich und seine Politik innenpolitisch also ein wenig nach links, so dass in Zukunft eine Kooperation mit der Sozialdemokratie möglich schien, die Weichen für eine innenpolitische Versöhnung gestellt wurden. Das hatte große politische Bedeutung für die weitere innenpolitische Konstellation der Weimarer Republik. Wie eng begrenzt allerdings Stresemanns Bereitschaft war, linke Positionen tatsächlich aufzunehmen, zeigte sein Verhalten gegenüber Sachsen und Thüringen wenige Monate später. Die protokollierte Zustimmung der politischen Rechten war wiederum erstaunlich, gab Stresemann doch, wenngleich sehr diskret, in politischen Grundsatzfragen einige alte Positionen auf. Das belegt ein Beispiel aus der Außenpolitik. Sein Verhältnis zum Völkerbund war bis zu diesem Zeitpunkt immer ablehnend gewesen. Am 17. April jedoch geschah, wenn auch verschleiert, geradezu Sensationelles: Sein »en passant« eingestreuter Hinweis, dass er sich bezüglich des Völkerbundes und seiner internationalen Garantien den Darlegungen des vorherigen Redners, nämlich Gothein (DDP) anschlösse, signalisierte, dass er einen Wechsel in der Beurteilung vornahm, obwohl er selber den Völkerbund nicht mit eigenen Worten positiv konnotierte. Die Taktik, sich an ein vorher gefälltes positives Urteil anzuhängen, ohne es selber zu wiederholen, war offensichtlich genau das richtige Instrument, um sich außenpolitisch alles offen zu halten, ja sogar einen gewissen Neuanfang anzudeuten und trotzdem innenpolitisch bei der politischen Mitte und der politischen Rechten nicht anzuecken.14 Die Annäherung war zudem so geschickt verpackt, dass sie selbst von den Sozialdemokraten nicht bemerkt wurde, die im Gegensatz zu den Demokraten, hier keinen Beifall spendeten.15 Auch die politische Rechte nahm von dieser diskreten Liebeserklärung an den Völkerbund keinerlei Notiz. Innenpolitisch noch viel brisanter war allerdings Stresemanns erste indirekte Anerkennung des Staates von Weimar. Als er am Schluss seiner Rede darauf 13 Bd. 359, S. 10577. Dass Stresemann seine Redezeit häufig überschritt und dafür gemahnt wurde, sei hier nur kurz erwähnt. 14 Ähnlich verfuhr Stresemann dann später als Außenminister bei schwierigen Themen, in denen er seine Ansichten verändern musste. 15 Bd. 359, S. 10579.

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hinwies, »mit aller Entschiedenheit den Staat, wie er ist, zu stützen, […] uns um ihn zu scharen und ihn zu verteidigen«16, machte er sich erstmalig vor dem Parlament für die Weimarer Demokratie stark. Außenpolitisch konnte er mit diesem Bekenntnis als legitimer Vertreter der Republik gelten, innenpolitisch baute er sich damit eine Brücke zur politischen Linken. Damit war der Weg bereitet, Reichskanzler auf der Basis einer großen Koalition werden zu können. Dieses Zugeständnis war erneut höchst geschickt verpackt. Mit großer Raffinesse setzte Stresemann diesen Satz an das Ende seiner Rede, als das Publikum schon zum Beifall ausgeholt hatte, um die gesamte Rede zu würdigen, und damit auf den kleinen Exkurs nicht mehr besonders achtete. Zudem hatte er diese Aussage so in den Kontext der Notwendigkeit einer generellen Rettung Deutschlands gehüllt, dass dieser Aspekt den entscheidenden Passus nahezu verdeckte. Schließlich verwies er noch auf den deutschnationalen Führer Dr. Helfferich und dessen ähnliche Ausführungen. Damit tat Stresemann so, als ob er nur dessen Worte wiederholte. Dieser Schachzug wahrte die Nähe zur DNVP und ließ die Aussage gewissermaßen als selbstverständlich erscheinen, obwohl sie das keineswegs war. Aus außenpolitischer Perspektive stellten die Ausführungen Stresemanns einen großen Wurf dar. Die Wirkung wurde noch dadurch verstärkt, dass die zentrale Rede des parteilosen Außenministers vom Vortage sehr blass gewirkt hatte. Rosenberg hatte dabei wenig Geschick bewiesen, sich »in die Psychologie des Auslandes« hineinzuversetzen.17 Das Kabinett sah sich daher herber Kritik ausgesetzt. Trotzdem eröffnete Stresemann, nun bereits ganz ausgleichender Staatsmann, den Hauptteil seiner Rede mit der Äußerung, seine Partei stehe voll hinter den »programmatischen Erklärungen« des Reichsaußenminister, die es so aber gar nicht gegeben hatte.18 Stresemann definierte seine neue Politik als die Fähigkeit, »in jeder internationalen Situation […] für Deutschland handelnd eingreifen zu können«.19 Worin »ein Handeln« konkret bestehe, das ergebe jeweils die Situation.20 Das war schön zu hören, konnte alles und nichts bedeuten. Zugleich verband er, dies als Verhandlungsgrundlage nach außen, ein deutsches Angebot an die Alliierten mit einer unabhängigen, fairen Leistungsprüfung, der dann eine Anleihe folgen sollte. Das ergäbe die Möglichkeit einer sachlichen Diskussion, die »den Sachverständigen über die Endsumme das Wort lässt, aber eine bestimmte Grundlage schon heute findet.«21 16 17 18 19 20 21

Bd. 359, S. 10580. Bd. 359, S. 10539. Bd. 359, S. 10573. Bd. 359, S. 10573. Bd. 359, S. 10573. Bd. 359, S. 10573.

224  Politik in Deutschland und Europa Stresemann rahmte also seinen Vorschlag mit Formulierungen ein, die einen inhaltlichen Bezug zum Vorredner herstellten. Darin bestand die koalitionsund innenpolitische Kunst. Formal wurde damit der Eindruck erweckt, als führe er nur genauer aus, was ohnehin bereits Gedanke des Außenministers gewesen war.22 Anstatt ihn direkt zu kritisieren, holte er sich gewissermaßen die Erlaubnis ein, etwas »hinzuzufügen«23 zu dürfen, und nahm ihn zugleich mit in sein Boot.24 Es gelang ihm damit auf der sprachlichen Ebene, Rosenberg nicht zu desavouieren. Auf der sachlich-inhaltlichen Ebene aber überging ihn Stresemann einfach und entwickelte viel weiter gehende Perspektiven. Er versuchte also, zu einem Zeitpunkt, da die Diplomatie fast zum Erliegen gekommen war, mit seiner Rede einen neuen Kommunikationskanal zu den Entscheidungs­ trägern des Auslandes herzustellen und damit als normaler Parlamentarier Einfluss auf die Außenpolitik des Reiches zu nehmen. Seine Vorschläge stellten allerdings ein Angebot dar, das vom Ausland nicht (direkt) beantwortet werden konnte. Stresemann nutzte jedoch die Möglichkeiten, die das Medium dem Redner an Freiheit bot, nicht nur konsequent aus, sondern ging mit seinen Vorschlägen weit über den generell zugebilligten Freiraum einer Parlamentsrede hinaus. Er begann damit, den Bereich ihrer ritualisierten Form zu stören.25 Bereits aus dieser Tatsache kann man die Bedeutung dieser Rede herausfiltern, die, um neue Inhalte durchzusetzen, klassische Parlamentsformen durchbrach. Die Form und der Ton der Rede verdeutlichten zugleich den Wandel vom »alten« zum »neuen« Stresemann. Vergleicht man sie mit seiner letzten Rede vom 7. März, die ebenfalls ganz im Zeichen der durch den Einmarsch Frankreichs in das Ruhrgebiet verschärften außenpolitischen Situation gestanden hatte,26 fällt sofort auf, dass dort vor allem Vorwürfe dominierten. Vorwürfe stellen jedoch immer eine massive negative Bewertung von Kontrahenten und ihrer Position dar. Sie fordern meist Widerspruch und einen Gegenvorwurf heraus, überlagern die Sachebene und sind in der Regel nicht geeignet, eine lösungsorientierte Diskussion zu ermöglichen. Um Gräben zu überwinden und eine Kooperation anzustreben, sind sie denkbar ungeeignet.27 Mit seiner Rede vom 17. April 1923 verhielt es sich jedoch ganz anders. In ihr war die Zahl der Sprechhandlungen mit Vorwurfscharakter an die Adresse der Siegermächte deutlich geringer. Bei näherer Betrachtung zeigt sich zudem, dass sich auch die Inhalte der noch verbliebenen Vorwürfe gewandelt hatten. Die schlichte und geradezu unüberwindbare Hürden aufbauende Form der Anklage 22 23 24 25 26 27

Bd. 359, S. 10573: »Ich sehe das als das Entscheidende in seiner Rede an […]«. Bd. 359, S. 10574. Bd. 359, S. 10573. Vgl. zu diesem Komplex Mergel, Parlamentarische Kultur, S. 231 ff. Bd. 358; 312. Sitzung, 7.3.1923, S. 9975 ff. Groeben u. a., S. 355.

Inszenierung als Krisenmanager 

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an die französische Regierung, eine imperialistische Gewaltpolitik zu betreiben, wurde nun in einer derart offenen Art nicht mehr verwendet. Das Thema erschien jetzt vielmehr in die Form sorgenvoller Bedenken gekleidet, abgeschwächt oder wiederum nur als Frage formuliert.28 Stresemann tat nun so, als wolle der Gegner Verhandlungen, und setzte ihn damit unter Handlungsdruck. Die von ihm gewählte Form der Präsupposition war taktisch so angelegt, dass der Beschuldigte den Vorwurf (hier, »imperialistische Politik« zu betreiben) selbst bewahrheitet hätte, wenn er die Sachvorschläge nicht aufgriff. Stresemann versuchte somit geschmeidig und geradezu elegant, seine französischen Adressaten dazu zu drängen, die Reparationsverhandlungen mit deutscher Beteiligung wieder aufzunehmen. Mehr war in einer Rede im Reichstag und in seiner politischen Position nicht möglich. Zudem verlieh die (scheinbare)  Bereitschaft, deutsche Verfehlungen einzu­ gestehen und sachlich Lösungsvorschläge für Probleme zu unterbreiten, die formell zunächst Sache der Alliierten waren, der Rede einen bisher nicht erreichten scheinbar freimütigen, geradezu aufrichtigen Akzent. Der Ton war, gemessen an den politischen Umständen, sogar einfühlsam und höflich, da Stresemann auch die Situation der ehemaligen Kriegsgegner scheinbar unvoreingenommen beschrieb.29 Insgesamt wirkte die Rede daher konstruktiv und dynamisch, zugleich aber ungewöhnlich gemäßigt und positiv.30 Sie stand im Einklang mit der sach­ bezogenen Themenstruktur und spiegelte auf der formalen Ebene den grundsätzlichen Willen, einen offenen und sogar selbstkritischen, auf Konfliktlösung hin gerichteten, Dialog anzubahnen. Für den Ton der Rede musste Stresemann seinen Nationalismus, seine Verbitterung und seinen Zorn auf die Alliierten zumindest vorübergehend deutlich zurückgestellt haben. Stresemann entwickelte damit eine Strategie, die er im Reichstag bis zum Ende seiner parlamentarischen Arbeit stets wiederholen sollte: »Will man durch außenpolitische Verhandlungen zu einem Ergebnis gelangen, […] dann muß man sich doch […] die Frage vorlegen, wie die Psychologie des Auslandes beschaffen ist und durch welche Maßnahmen man das Ziel erreicht, das man sich gesteckt hat.«31 Man habe, so seine Argumentation, Möglichkeiten, Ziele und Voraussetzungen und Handlungszwänge des potentiellen Verhandlungspart28 Bd. 359, S.  10579: »Was uns bedenklich macht, […] ich möchte beinahe sagen […]«; S. 10574 »[…] Zerstörung der deutschen Einheit […]?« 29 Bd. 359, S. 10574, bezogen auf Frankreich, »Wir können das ruhig zugeben: so liegen die Dinge«. 30 In weiten Teilen der französischen und britischen Presse wurde der Ton der Rede mit Überraschung ebenso wahrgenommen, vgl. den Pressespiegel der Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung, (SHVZ), Do, 19.4.1923, S. 2; Die Rote Fahne, Do., 19.4.1923, S. 2, »Stresemann willkommen in der Ententepresse«. 31 DS 10, 20.5.1923, Gustav Stresemann, Politische Umschau, S. 168.

226  Politik in Deutschland und Europa ners als dessen innere Gesetzmäßigkeiten zu akzeptieren. »Die Psychologie des Auslands« beachten hieß, sich in verschiedene Mächte hineinzuversetzen, ihre Erwartungen zu bedienen und ihre gegensätzlichen Standpunkte positiv zusammenzuführen, ohne auch nur einen Verdacht bösen Willens aufkeimen zu lassen. Hierbei entpuppte sich der »Grenzgänger« Stresemann in den nächsten Jahren als ein wahrer Meister. Mit der Rede gelang es Stresemann, nach innen einigend zu wirken, äußere Politik aktiv zu gestalten, und darüber hinaus sich selber in die deutsche Regierungspolitik einzubringen. In der Öffentlichkeit des In- und Auslandes baute sich mit ihr das Bild eines kommenden deutschen Politikers auf. Aus Stresemann wurde nun sehr bald »der« Stresemann, mit allen Konsequenzen für seinen Ruhm. Insofern stand die Rede am Anfang einer Entwicklung, deren Ergebnis das Bild Stresemanns als »Verständigungspolitiker« in der Öffentlichkeit prägte. Dazu trugen vor allem die innenpolitischen Annäherungen an die Republik bei. Sein Aufruf, »den Staat, wie er ist, zu stützen«, stellte allerdings nicht zwingend eine Hinwendung zur Republik aus einem Wandel der inneren Haltung dar, sondern war in erster Linie das Ergebnis einer partiellen Identifikation und eines revisionistischen Kalküls – und nicht zuletzt seiner persönlichen Karriereplanung. Es lässt sich aus der Rede nicht entnehmen, welche Zielsetzungen er tatsächlich verfolgte, ob sich diese gegenüber früher verändert hatten oder gleich geblieben waren. Die Fähigkeit, durch neue sprachliche Mittel, durch neue Argumentationsmuster und durch Einfühlen in die Positionen der Gegner größeren politischen Spielraum zu gewinnen, sagt nichts darüber aus, wie denn ein solcher Spielraum schließlich einmal genutzt werden sollte. Die große taktische Flexibilität Stresemanns lässt vielmehr den Verdacht bestehen, dass trotz aller scheinbaren Veränderungen die Kontinuität die Diskontinuität deutlich überlagert haben dürfte. Trotzdem aber kann man diese Rede als einen Meilenstein in der Entwicklung Stresemanns hin zu einem »Republikaner aus Vernunft«32 interpretieren. Das unnachgiebige Beharren auf vermeintlichen Rechtspositionen wurde aufgegeben. Die trotzige Haltung der Nachkriegszeit wich einer positiven Kontaktfähigkeit, für die Stresemann seit dem 17. April 1923 vor dem Reichstag warb. Er hatte erkannt und ausgesprochen, dass es ohne Verhandlungen für Deutschland keine Chancen gab, politisch wieder Bedeutung zu erlangen und seine Probleme zu lösen.33 32 So Turner, Republikaner aus Vernunft. 33 Der mit knapp 45 Jahren noch geradezu jugendliche Stresemann, verströmte zugleich unverbrauchte Dynamik aus und hauchte so dem von ihm vertretenden »Typus« Bürger neues Leben ein. Wie weit ihm das gelang, zeigt die Fülle der Karikaturen, in denen Strese­mann im Jahr 1923 als »starker Mann« von Weimar gekennzeichnet wurde. Der neue, aktive Bürgertyp besaß nun eine Glatze und einen ernsten Blick – und wirkte kraftvoll. Vgl. auch das Unterkapitel »Gustav Stresemann und seine Physiognomie«.

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Unabhängig von den nach wie vor bestehenden verschiedenen Urteilsmöglichkeiten über die Motive Stresemanns, ist daher nicht zu verkennen, dass der noch immer junge Stresemann sich hier als ein Realpolitiker darstellte, der innen- und außenpolitisch mit großem Geschick agierte und in der Tat bald zum Hoffnungsträger der Republik heranwuchs. Mit dieser Rede schien Stresemann endlich in Weimar angekommen zu sein.

Die Zerstörung des »linksrepublikanischen Projektes« in Sachsen »Es gehörte ein starker Optimismus dazu, in diesem Augenblick [August 1923] auf die Kapitänsbrücke des Reichsschiffes zu treten. Ich kenne sehr viele, die da glauben, daß das Schiff im Sturm untergehen wird. Trotzdem wäre es verantwortungslos gewesen, dem Rufe nicht zu folgen, und trotz aller Gefahren von außen und innen glaube ich, daß Deutschland nicht untergeht, wenn es sich nicht aufgibt.«34 »Das Regierungsschiff muss hindurchfahren zwischen der Scylla des Faschismus und der Charybdis des Kommunismus. Beide Bewegungen sind untereinander verwandt. Hitlers Gewalt in den Volksversammlungen beruht darauf, Mißstände zu zeigen […]. Die ostgalizische Einwanderung, die den Antisemitismus bei uns emporpeitschte, dient ihm zur Erzielung des Beifalls einer urteilslosen Masse, vor der er die Juden für alles verantwortlich macht […]. Aus denselben Quellen zieht der Kommunismus seine Kraft. Er ist aus dem deutschen Erdreich nicht gewachsen, war fremder Import, den Rußland umso freigebiger entsandte, je weniger es andere Exportgüter besaß […].«35

Als Stresemann am 13.  August 1923 von Reichspräsident Ebert zum Reichskanzler ernannt wurde, hatte er einen politischen Höhepunkt seiner Karriere in der Weimarer Republik erreicht, auch wenn seine Regierung bereits nach kurzer Zeit, am 23. November, das Vertrauen des Reichstages wieder verlor. In dieser kurzen Zeit konnte er beweisen, dass er nicht nur ein erfolgreicher Syndikus, ein kluger Provinzpolitiker, ein wichtiger Parteipolitiker und ein exzellenter Redner, sondern die starke Persönlichkeit war, als die er sich immer gefühlt hatte. Die wenigen Monate seiner Kanzlerschaft haben Stresemann daher für den Rest seines Lebens geprägt und zugleich sein Bild in der historischen Forschung und der deutschen Erinnerungskultur geformt.36 Das hängt auch damit zusammen, dass das Jahr 1923 im kollektiven Gedächtnis der Deutschen geradezu als »Schicksalsjahr« verankert ist:37 Der Bestand des 34 Stresemann an die Burschenschaft Suevia, 20.8.1923, PA AA , NL Stresemann 264. 35 Stresemann in: DS 35 (1923), S. 48. 36 Vgl. Pohl, Die Zerstörung des ›linksrepublikanischen Projektes‹. Dort weitere Literaturhinweise. 37 Winkler, Deutsche Geschichte, S. 434 ff.

228  Politik in Deutschland und Europa neuen demokratischen Staates schien gefährdet, das Experiment der parlamentarischen Demokratie und die Errungenschaften der Revolution von 1918/19 standen, stärker noch als beim Kapp-Putsch, auf der Kippe und die Kräfte der demokratischen Mitte schienen paralysiert zu sein. Auch das Militär zeigte sich erneut unwillig, bei der Rettung der parlamentarischen Demokratie mitzuwirken.38 Die Hyperinflation schien das Land endgültig in die ökonomische Katastrophe zu führen, sie traumatisierte große Teile der Bevölkerung und raubte wichtigen, zumeist bürgerlichen Schichten den Willen, sich für diese Republik noch länger zu engagieren. Nicht zuletzt schien der Kampf um die Ruhr verloren. Außenpolitisch wirkte das Deutsche Reich handlungsunfähig, ein Opfer Frankreichs. Die »nationale Ehre«, schon durch den Versailler Vertrag tief getroffen, schien endgültig verloren gegangen zu sein. Dann jedoch trat die Wende zum Guten ein39. Und diese positive Wende verkörpert in der Geschichtswissenschaft und in der deutschen Erinnerungskultur Gustav Stresemann, der sich bereits im April für höhere politische Aufgaben empfohlen hatte. 1923 ging sein Stern endgültig auf. In diesem Jahr schien er, anders als noch in den Jahren 1919 und 1920, auf der richtigen Seite zu stehen. Damit schien er sich endgültig als großer republikanischer Staatsmann zu profilieren. Bevor es allerdings dazu kam, dass er auf eine solch positive Art in die Geschichte einging, zum Helden des Jahres 1923 avancierte und zu »dem« Stresemann wurde, als der er heute gilt, hätte fast ein kleines und höchst privates Problem, nämlich der »Fall Litwin«, verhindert, dass er Kanzler werden und sich als solcher beweisen konnte. Hier zeigte sich erneut, welche scheinbaren Kleinigkeiten Stresemanns politische Karriere begleitet haben, sie förderten oder, wie in diesem Fall, gefährdeten, wie eng die verschiedensten Aspekte seines Lebens zusammenhingen, wie nahe »vorwärts« mit »rückwärts« verbunden war und nicht zuletzt, wie stark der Zufall im Sinne Luhmanns in seinem Leben eine Rolle spielte. Stresemann hatte, wie erwähnt, im Krieg eng mit dem Unternehmer Paul Litwin zusammengearbeitet und dabei eine Fülle von nicht immer durchsichtigen Geschäften getätigt, nicht selten zum eigenen Vorteil. Diese Kooperation setzte sich in der Weimarer Republik fort, über die direkten Beziehungen in der Evaporator-Gesellschaft hinaus, wo beide regelmäßig als Geschäftspartner aufeinander trafen. Litwin war zudem ein wichtiger Mäzen für die immer in Geldnöten steckende Stresemann’sche Zeitschrift »Deutsche Stimmen« und ein 38 So zusammenfassend Longerich, S.  131–158 und Kolb, Die Weimarer Republik, S.  53. Populär­w issenschaftlich: Pleticha, S. 41. 39 Diese klassische Interpretation gilt nahezu für die gesamte Weimar- und StresemannLiteratur. Vgl. nur Peukert, S.191; Elze u. Repgen, S. 553 oder schon Turner, Republikaner aus Vernunft. Eine davon abweichende Interpretation bieten einige amerikanische Historiker. So bereits vor zwanzig Jahren Feldman, Bayern und Sachsen; Jones, German Liberalism oder Lapp, Revolution from the Right. Vgl. ferner Eley, S. 165–184.

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finanzieller Gönner der DVP.40 Man kannte sich, war sich eng verbunden, und man half einander. Wegen ihres bisweilen dubiosen Geschäftsgebarens wurden Litwin und Stresemann allerdings bereits in den ersten Jahren der Weimarer Republik mehrfach öffentlich kritisiert, Stresemanns Verbindungen zu dem mit allen Wassern gewaschenen Geschäftsmann heftig angegriffen.41 Im Jahr 1923 eskalierte diese Kritik jedoch, und die Vergangenheit holte Stresemann plötzlich und unerwartet ein. Litwin wurde im Juli im Zusammenhang mit der Evaporator-Gesellschaft, wo Stresemann stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender war (Hjalmar Schacht saß dem Aufsichtsrat vor), überraschend wegen Devisenvergehens von der Preußischen Staatsanwaltschaft angeklagt und aufgrund angenommener Verdunkelungsgefahr sofort verhaftet. Diese Tatsache wurde in der Öffentlichkeit genüsslich ausgebreitet, breit diskutiert und mit großer Wirkung skandalisiert.42 Ganz offensichtlich sollte der Fall Litwin (auch) als Exempel für die Verurteilung von ausländischem, jüdischem Schiebertum herhalten, obwohl Litwin deutscher Staatsbürger (von Stresemann lanciert!) und Vater von sieben Kindern war, die alle in Deutschland wohnten und dort Steuern zahlten. Zudem lebte Litwin schon seit Jahren in Deutschland, war also kein eingewanderter Neureicher aus dem Osten.43 Als »Typ« aber bot er sich dennoch für eine solche Strafaktion an: »Litwins unbekümmerte, temperamentvolle Art, die bei manchem Anstoß erweckt und ihm viele Feinde gemacht haben wird, ließ ihn für diese Rolle [als Sündenbock herzuhalten] persönlich geeignet erscheinen«, zumal in einem so kritischen Jahr wie 1923. Dass er Jude war, erheblichen Reichtum besaß und aus »dem Osten« stammte bediente viele negative Klischees und heizte die Stimmung, besonders bei der politischen Rechten, noch zusätzlich an.44 Die Aktion gegen Litwin richtete sich aber vor allem gegen Stresemann. »Es läßt sich […] nicht verkennen, daß man in Litwin Ihren [Stresemanns] Parteigänger und in der Evaporator auch den Aufsichtsrat und besonders seinen stellvertretenden Vorsitzenden [Stresemann] hofft treffen zu können«. Es bestand daher die Gefahr, wie der Anwalt der Evaporator, Frankfurter, weiter vermutete, »daß man ihn [Litwin] abschlachten will und damit auch die politische 40 Vgl. das Schreiben Stresemanns an Litwin, 10.7.1921, PA AA , NL Stresemann 215. 41 Zur Thematik: Klein. 42 Vgl. hierzu vor allem Gatzke, Stresemann und Litwin, S. 84 ff.; danach die folgenden Gedanken. Gatzke hat sich als Erster mit diesem Komplex beschäftigt. Viele der folgenden Überlegungen stützen sich auf seine Forschungen. Ferner: Frankfurter an Stresemann, 15.7.1923, PA AA , NL Stresemann 117. 43 Frankfurter an Stresemann, 15.7.1923, PA AA , NL Stresemann 177; danach die folgenden Zitate. 44 Hier sei an den Fall des Sozialdemokraten Parvus-Helphand erinnert, der in ähnlicher Weise, wegen ähnlicher Vergehen und vergleichbarer Verhaltensweise, angeklagt und nicht zuletzt aus antisemitischen Motiven öffentlich verunglimpft wurde. Vgl. dazu Scharlau.

230  Politik in Deutschland und Europa Auswirkung unwiderruflich gestalten will, ehe von irgendeiner Seite nennenswerte Hilfe kommt«. Es war damit höchste Gefahr im Verzuge, Stresemanns noch nicht einmal begonnene Karriere als Kanzler schien gefährdet, sein Ruf als Geschäftsmann und ehrbarer Bürger ruiniert, sein gediegener Habitus möglicherweise bereits wieder verloren. Zur Abwehr dieser Gefahren verfielen Stresemann sowie der ebenso involvierte Schacht in geradezu hektische Tätigkeit, um die gefährlichen Auswirkungen der Verhaftung Litwins schnell und vor allem geräuschlos abzuwehren. Zwischen dem 8. und 15. Juli trafen sich Schacht, Stresemann und Litwin zu langen Krisengesprächen, um eine gemeinsame Abwehrstrategie zu entwickeln. Alle drei einigten sich schließlich darauf, eine Teilschuld zuzugeben und anzuerkennen, dass in der Tat Devisenvergehen vorgekommen seien, dass dies aber wegen der Kompliziertheit der Materie ohne Absicht geschehen und zudem im Umfang nur minimal gewesen sei.45 Alle weitere Schuld wiesen sie unisono von sich. Flankierend versuchten sowohl Schacht als auch Stresemann über ihre politischen Beziehungen, das Verfahren gegen Litwin (und damit indirekt gegen sich selber) zu kanalisieren. Die Interventionen beim preußischen Staatssekretär Weismann und beim Reichswirtschaftsminister Becker, hier war insbesondere Schacht aktiv, taten dann das Ihrige, um den Skandal zu unterdrücken. Dabei erwies sich vor allem die Preußische Staatsregierung als sehr »kooperativ«. Die Evaporator-Gesellschaft konnte Stresemann daher schon nach kurzer Zeit erfreut für seine Interventionen danken, die maßgeblich zur Entlastung Litwins (und damit von ihm selber) beigetragen hatten. Zur Bereinigung der Sache war zudem ein Schuldiger in der Evaporator-Gesellschaft gefunden worden, der fristlos entlassen wurde. Damit schien die Sache vom Tisch, die politische Karriere Stresemanns und zugleich seine persönliche Integrität gerettet zu sein. Auffällig ist jedoch, dass Stresemann gerade zu diesem Zeitpunkt sein Testament beim Amtsgericht hinterlegen wollte und den Parteifreund und ausgezeichneten Juristen Kempkes um Rat bat. Er sei sich, so begründete er seine Anfrage, nicht schlüssig, wie und welche Vermögenswerte zu deklarieren seien und fügte scherzhaft hinzu: »Bitte geben Sie doch recht bald darüber Nachricht, damit ich nicht noch wegen Stempelhinterziehung eingelocht werde.«46 Der Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen, dass Stresemann in dieser kritischen Phase seine Finanzen so deklarieren wollte, dass er bei einer Ausweitung der Untersuchungen gegen Litwin nicht gefährdet werden konnte. Damit war der Fall »Stresemann-Litwin« jedoch noch nicht ausgestanden. Wenige Jahre später musste sich Stresemann erneut des Vorwurfs der Korrup45 Gatzke, Stresemann und Litwin, S.  85; danach auch die folgenden Gedanken und das Zitat. 46 Stresemann an Kempkes, 21.7.1923, PA AA , NL Stresemann 260.

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tion erwehren. Der deutschnationale Rechtsanwalt Müller hatte Stresemann als korrupt bezeichnet und Stresemann ihn deswegen vor Gericht gebracht. Strese­ mann ging aus dem daraus folgenden »Plauener Prozess« im Jahre 1927 zwar als Sieger, aber nicht unbedingt als vollständig rehabilitiert hervor.47 Mit dem am 11.  März 1927 verkündeten Urteil wurde er immerhin von dem Vorwurf der Korruption freigesprochen und sein Gegner zu einer Geldstrafe verurteilt, eine Reihe von gegen ihn erhobenen Vorwürfen konnte jedoch nicht entkräftet werden, was aber nicht justiziabel war.48 Ein Geruch von Korruption hing Stresemann damit weiter an. Nun zurück zur Situation im Jahr 1923 und zum Staatsmann Stresemann. Die Ausgangsbasis für Stresemanns Politik der Konsolidierung der Republik war gut und schlecht zugleich. Die Große Koalition, eine solche Konstellation hatte Stresemann ja schon in seiner Rede im April als möglich angedeutet, konnte bei Regierungsantritt (scheinbar) auf eine breite Mehrheit im Parlament zählen. Ein erheblicher Teil der Sozialdemokraten und der DVP, Stresemanns eigener Partei, nahmen allerdings bereits an dieser zentralen Abstimmung bewusst nicht teil. Das zeigte, wie stark die zentrifugalen Kräfte in der Koalition schon von Beginn an wirkten. Trotzdem aber nutzte Stresemann diese brüchige Basis, um die anstehenden schwierigen Probleme in gewohnter Tatkraft, wie im April des Jahres angekündigt, anzugehen. Drei große Probleme standen auf der Agenda, zu deren Bewältigung Stresemann mit seiner Politik entscheidend beitrug: Ruhrbesetzung und Reichseinheit, Hyperinflation sowie Aufstände von »rechts« (Bayern) und solche von »links« (Sachsen und Thüringen). Der Einmarsch der Franzosen in das Ruhrgebiet hatte anfangs zu einer breiten Solidarisierung der deutschen Bevölkerung geführt. Die Einheit der Nation musste, so die allgemeine Überzeugung, bewahrt und der Widerstand gestärkt, unter allen Umständen fortgesetzt werden. Stresemann hatte jedoch, wie er bereits im April durchblicken ließ, erkannt, dass es zwingend notwendig war, den Ruhrkampf abzubrechen, um das Reich nicht vollständig in den Ruin zu treiben. Es gab zu einer solchen Politik nach seiner Ansicht keine vernünftigen Alternativen, auch wenn er sich persönlich eine andere Lösung gewünscht hätte. Wie es ihm gelang, diese nach deutschnationaler Lesart die politische »Ehre« verletzende Entscheidung politisch ohne große Schwierigkeiten umzusetzen, war hohe politische Kunst.49 Stresemann durchbrach damit die Konfrontation mit den französischen und belgischen »Ruhrbesetzern« und ließ sich auf Verhandlungen ein, die schließlich zu einer allmählichen Lösung des Konfliktes führten. Das 47 Materialien dazu: StA Chemnitz, Bestand 30096, Landgericht Plauen, Nr. 187. 48 Vgl. Klein, S. 254 f. 49 Kolb, Stresemann, S. 81.

232  Politik in Deutschland und Europa war mutig, klug, weitsichtig und schließlich erfolgreich, brachte ihm allerdings innenpolitisch die massive Feindschaft (nicht nur) der politischen Rechten ein. Aufgrund der Verschlechterung der politischen und ökonomischen Lage, traditioneller Preußenfeindschaft, frankophoner Mentalitäten, aus Eigeninteresse und nicht zuletzt wegen des französischen Drucks konnten sich jedoch viele Menschen in den besetzten Gebieten eine zumindest zeitlich befristete »Ablösung« einzelner Landesteile, zumindest von Preußen, vorstellen.50 Die Einheit des Reiches war dadurch also unmittelbar gefährdet. Großindustrielle, wie der DVP-Parteifreund Stresemanns, Hugo Stinnes,51 oder der Oberbürgermeister von Köln, Konrad Adenauer,52 waren an Überlegungen beteiligt, die in eine solche Richtung abzielten. Hier gelang es Stresemann ebenfalls, durch den Erfolg seiner Annäherungspolitik an die Alliierten, die Gefahr zu bannen und die Reichseinheit zu bewahren. Die Hyperinflation, nicht die Nachkriegsinflation, die in erster Linie ein Produkt der verantwortungslosen Finanzierung des Krieges war (wie Stresemann nur zu gut wusste), war wiederum eng mit dem Problem der Ruhrbesetzung verbunden. Infolge des passiven Widerstandes brach nicht nur ein beträchtlicher Teil der Steuereinnahmen weg, sondern die staatliche Unterstützung des Widerstandes ließ die öffentlichen Ausgaben (ohne Deckung) rapide ansteigen: Aus der Inflation wurde die Hyperinflation. Dies war ein wesentlicher, diesmal ökonomischer Grund, den unbezahlbaren Ruhrkampf so schnell wie möglich zu beenden (26. September 1923) und eine neue Währung einzuführen (November 1923). Das waren nicht nur sehr riskante, sondern erneut mutige Entscheidungen, mit denen sich Stresemann großer öffentlicher Kritik aussetzte. Allerdings konnte er auf die Kompetenz der Fachleute, etwa auf die seines Geschäftsfreundes Hjalmar Schacht, bauen.53 Der Kampf gegen die Republik – dies ein weiterer Problemkreis – wurde besonders von Bayern aus betrieben. Seit der von Stresemann sehr begrüßten Niederschlagung der Münchner Räterepublik, regierten dort immer Kabinette, die von der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und der Bayerischen Volkspartei (BVP) dominiert wurden und den Rechtsradikalismus sowie eine Trennung Bayerns vom Reich förderten. Sie favorisierten ganz offen einen anderen, einen autoritären Staat. Diesen Bewegungen stand Stresemann nicht völlig ohne Sympathien gegenüber. Als jedoch der Konflikt zwischen Bayern und dem Reich mit dem Hitler-­ Ludendorff-Putsch (9. November) einen Höhepunkt erreichte, war die Reichseinheit konkret gefährdet. Die politischen Einflussmöglichkeiten Stresemanns 50 Wright, Stresemann, S. 231 ff. 51 Hallgarten, S. 67 f. 52 Vgl. die Besprechung im Kölner Rathaus, 26.11.1923, ADAP, Serie A, Bd.  IX , Göttingen 1991, S. 51 f. 53 Vgl. hierzu Kopper, S. 41 ff.

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schienen allerdings gering zu sein, da auf die Reichswehr erneut kein Verlass war. Die von Stresemann betriebene, durch das Militär durchgeführte Absetzung der sozialistisch-kommunistischen Linksregierung in Sachsen wirkte in diesem Kontext aber »beruhigend« auf die bayerischen Separatisten. Sie nahm ihnen den Wind aus den Segeln, weil eine »kommunistische Umsturzgefahr« damit gebannt zu sein schien. Noch im gleichen Jahr trat daraufhin eine allmähliche Entspannung der Lage in Bayern und dem Reich ein. Wenn man so will, opferten Stresemann und seine Regierung die linke sächsische Regierung, um auf diese Weise die Zustände in Bayern zu beruhigen. Was also wäre an Stresemanns erfolgreicher Politik zu kritisieren? Hatte er nicht die Republik gerettet, die Krise(n) gemeistert? Die positive Beurteilung der Stresemann’schen Politik muss jedoch wegen seines Verhaltens gegenüber Sachsen, seiner politischen Heimat,54 deutlich eingeschränkt, ja, partiell sogar infrage gestellt werden.55 Das Sachsen des Jahres 1923 steht nämlich für ein sozialistisches Experiment, das die Demokratie in Weimar stabilisieren, die Revolution von 1918/19 weiter treiben und vor allem Staat und (linke) Arbeiterschaft miteinander versöhnen wollte. Ziel war es, die demokratisch-parlamentarische Demokratie noch stärker mit sozialem Inhalt zu füllen und weiter zu festigen.56 Stresemann hat jedoch das politisch vorwärtsweisende sächsische Experiment bewusst zerstört. Er veranlasste in Zusammenarbeit mit dem Kabinett und vor allem mit dem Reichswehrminister und der Reichswehrführung den Einmarsch der Reichswehr in Sachsen und Thüringen. Er ließ die rechtmäßige amtierende sächsische Regierung Zeigner ab- und einen Reichskommissar einsetzen. Dass über diese Aktion die Große Koalition auseinanderbrach, seine Regierung ohne Mehrheit im Reichstag blieb, war noch das kleinste der daraus resultierenden Übel. Worum ging es in diesem Projekt, das Ministerpräsident Zeigner mit einer knappen parlamentarischen Mehrheit (49 von 96 Abgeordneten) in einer Koali54 Zuletzt Keller, und im Inhalt weniger konsistent, Wißuwa u. a. Aus DDR-Sicht beachtenswert: Czok. Einen vorzüglichen Literaturbericht über Sachsen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert bietet: Retallack, Society and Politics. Kritisch bereits 1957 Thimme, Gustav Stresemann, S. 59 f. 55 Vgl. dazu Pohl, Die Zerstörung des ›linksrepublikanischen Projektes‹. Ferner Karsten Rudolph mit seiner wegweisenden Studie, Rudolph, Die sächsische Sozialdemokratie. Der Studie von Rudolph sind hier wichtige Gedankengänge zur sozialdemokratischen Politik nach dem Ersten Weltkrieg entnommen. Vgl. Lehnert, Die Weimarer Republik, S.  110–115 (»Zweierlei Maß: Sonderweg Bayerns, Exekution Sachsens«), ferner Szejnmann, Vom Traum, S. 46, sowie ders.: Nazism in Central Germany. Ferner Rudloff, Erich Zeigner; Schmeitzner und Grebing u. a. Aus kommunistischer Sicht, mit einer Fülle von beachtenswerten Details: Krusch. 56 Hinweise darauf bei Lapp, Remembering the Year 1923. Vgl. auch denselben, Revolution from the Right. Aus der Sicht Stresemanns, Wright, Stresemann, S. 241 ff.

234  Politik in Deutschland und Europa tion von Kommunisten und Sozialdemokraten in Sachsen verwirklichen wollte und auf das die Regierung Stresemann so allergisch reagierte?57 Auf dem politisch und sozial besonders brennenden Sektor Arbeitslosigkeitsbekämpfung entwickelte die sozialistisch-kommunistische Regierung, neben der verstärkten finanziellen Unterstützung der Arbeitslosen, das Konzept einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, mit dem Ziel, die Langzeitarbeitslosigkeit zu verringern.58 Ferner versuchte sie, durch Umsetzungen und Pensionierungen, sowie durch ein Altersruhegesetz für Richter, einige wichtige Positionen für demokratisch gesinnte Beamte frei zu machen. Dabei handelte es sich in der Regel um Mitglieder der DDP (wenige)  und der Sozialdemokratie (noch weniger), nicht jedoch um republikfeindliche Kommunisten.59 Daran konnte beim besten Willen nichts Umstürzlerisches zu finden sein. Mit dem Staatswirtschaftsgesetz aus dem Jahre 1923 versuchte die Regierung, die Staatsbetriebe rentabel zu machen und über das Arbeitskammergesetz die Mitwirkung und Mitbestimmung von Arbeitnehmern zu etablieren.60 Insgesamt handelte es sich um ein Paket legitimer Wirtschafts- und Sozialpolitik, das durch die Verfassung gedeckt war. Dass vieles daran den sächsischen Unternehmern, dem VSI und Stresemann nicht gefiel, dürfte auf der Hand liegen. Durch eine Gemeindeverfassungsreform61 versuchte die Regierung Zeigner eine stärkere Demokratisierung der Selbstverwaltungsgremien zu erzwingen. Gerade von einer angemessenen verantwortlichen Tätigkeit in den Kommunen waren die Arbeiter und ihre Vertretungen bislang, nicht nur in Sachsen, geradezu systematisch ausgeschlossen worden. Das wusste Stresemann nur zu gut. Er selber hatte in Dresden dabei mitgewirkt. Der nun in Sachsen eingeleitete Demokratisierungsprozess wurde jedoch von den Liberalen und Stresemann als ein Angriff auf ihre zentralen politischen Bastionen verstanden (was in der Sache zutraf), bedeutete aber faktisch nur den Abbau alter, undemokratischer Privilegien. Ihren gesamtgesellschaftlichen Demokratisierungsanspruch übertrugen die sächsischen Reformer schließlich auch auf das Schulwesen, und zwar im Bündnis mit der Mehrheit der sächsischen Volksschullehrer. Hier lagen Liberale und Sozialdemokratie nicht so weit auseinander. Die zentralen Zielsetzungen lassen

57 Rudolph, Die Sächsische Sozialdemokratie, S. 281 ff. Vgl. denselben, Die Sozialdemokratie in der Regierung und denselben, Erich Zeigner. Speziell zu den Leistungen der Kommunisten vgl. Rüdiger, Freistaat, S. 441 ff. 58 Schmeitzner u. Rudloff, S.  72 f. Zur Problematik vgl. Feldman, Saxony; Rudolph, Erich Zeigner, S. 39 f. 59 Adam u. Rudloff, S. 310 f. 60 Vgl. dazu Rüdiger, Freistaat, S. 442. 61 Schmeitzner u. Rudloff, S. 79, bezeichnen diesen Aspekt als »Herzstück der Reformen«.

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sich unter den Begriffen »Einheitsschule«, »weltliche Schule«, »Arbeitsschule« und Installierung einer »demokratischen Gesamtschule« zusammenfassen.62 Ministerpräsident Zeigner und seine Regierung stellten, angesichts des Misstrauens gegenüber der Reichswehr und den nationalen Verbänden sehr verständlich, zugleich aber auch als ein innenpolitisches Zugeständnis an die Kommunisten, eine verstärkte Aufstellung einer demokratischen »Heimwehr« in Aussicht, die zunächst unbewaffneten proletarischen Hundertschaften. Mit ihrer Hilfe sollte die Demokratie militärisch stabilisiert und gegen »rechts« geschützt werden.63 Dies schien notwendig und legitim angesichts der Vorgänge in Bayern, der antidemokratischen Haltung der Reichswehr und der diversen nationalen, in Sachsen sehr starken, antidemokratischen Heimatschutzverbände. Diese reaktionären Verbände wurden von allen Weimarer Regierungen, auch von der Stresemanns, nicht nur geduldet, sondern z. T. sogar aktiv unterstützt. Hier einen Kontrapunkt zu setzen und demokratische Kräfte zu mobilisieren, war ein wichtiges Ziel der sächsischen Regierung. Die weitere Geschichte der Weimarer Republik hat gezeigt, dass die Unterstützung der demokratisch gesinnten und nicht etwa der nationalen Verbände, für ihren Erhalt bitter not­ wendig gewesen wäre. Das »sächsische Experiment« war allerdings noch nicht völlig durchdacht und ausgereift. Es schien undurchsichtig und sehr fragil, blieb vor allem w ­ egen seiner kurzen Dauer unvollendet. Wohin es führen, wie es wirken und in der Bevölkerung akzeptiert werden würde, war noch keineswegs absehbar. Es war zudem bei seinen Trägern, Sozialisten und Kommunisten, nicht unumstritten. Ein Teil der sächsischen Kommunisten trug es nur widerwillig mit, einige von ihnen lehnten es ab. Das bürgerliche und konservative Lager und Stresemanns Industriefreunde bekämpften es von Anfang an. Dessen ungeachtet stand jedoch die (knappe)  Mehrheit der Bevölkerung und die von ihr in freien Wahlen bestimmte Regierung (nahezu) geschlossen hinter der Konzeption, mehr Demokratie, vor allem mehr soziale Demokratie in Sachsen wagen zu wollen.64 Nach sieben Monaten war jedoch alles vorbei. Das sächsische Experiment wurde durch die Reichsregierung und die Reichswehr jäh beendet, Zeigner gestürzt und abgesetzt. Damit war die Chance vergeben, dass in Sachsen nach der langen Geschichte der ständigen Benachteiligung und Ausgrenzung der Unter­ schichten, die Bevölkerungsmehrheit die Chance wahrnehmen konnte, die Geschicke des Landes nach eigenem Willen selbst zu gestalten, ohne, wie es bis zur Revolution von 1918/19 geschehen war, durch politische, ökonomische 62 Rudolph, Erich Zeigner, S. 46. Dazu Pehnke. 63 Vgl. auch Keller, S. 270. 64 Kritisch zur Tragfähigkeit dieses sächsischen Projektes Frie, Über die bösen Folgen. Entgegnung durch: Adam u. Rudloff.

236  Politik in Deutschland und Europa und kulturelle Restriktionen einer dominierenden Minderheit daran gehindert zu werden. Was war an diesem Experiment in »seinem« Sachsen nun so gefährlich, dass sich Stresemann mit der Reichsexekution maßgeblich an der Beseitigung Ende September 1923 beteiligte?65 Die reinen Fakten allein konnten es nicht sein, denn das Verhalten der Sächsischen Regierung bewegte sich (noch) weitgehend im Rahmen der Legalität. Der Einmarsch der Reichswehr wurde also vorwiegend durch andere Motive getragen. Bei Stresemann war es zum einen die Sozialisten- und Kommunistenfurcht66, zum anderen ein latentes Unverständnis dessen, was eine soziale Demokratie letztendlich bedeutete. Beides veranlasste ihn, große Teile des Bürgertums, aber auch einen Teil  der Sozialdemokratie dazu, das sächsische Ex­ periment gewaltsam niederzuschlagen. Stresemann und seine Gesinnungsgenossen werteten dieses Experiment, auch wenn es demokratisch legitimiert war, vor allem als »bolschewistische Gefahr«, nicht als mögliche Erweiterung der in der Weimarer Verfassung angelegten Möglichkeiten, mehr soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen und die staatlichen Institutionen in diesem Sinne umzustrukturieren. Dass die Kommunisten in Sachsen zeitweise höchst unsichere Kantonisten waren, sich schwere Flügelkämpfe lieferten, keineswegs nur aus Demokraten bestanden und dass bei der Kommunistischen Internationale in Moskau der große Wunsch bestand, Deutschland zu sowjetisieren und die kommunistische Revolution (mit Gewalt) vorzubereiten, auch und gerade in Sachsen, war zwar nicht von der Hand zu weisen, war aber nur die eine Seite der Medaille. Die Mehrheit der die sächsische Regierung tragenden Abgeordneten bejahte hingegen, und das war die andere Seite, die parlamentarische Demokratie und stand voll auf dem Boden der Weimarer Verfassung. Sie wollte diese Ver­fassung nur mit weiterem Leben füllen, was legitim und keineswegs staatsumstürzend war. Diese Ziele hatte die linke Sozialdemokratie schon in der Revolution verwirklichen wollen, aber nicht durchsetzen können. Gerade Stresemann, der die sächsische Politik mehr als 15 Jahren maßgeblich mitgestaltet hatte und die dortigen Sozialdemokraten wie kein zweiter kannte, wusste um die grundsätzlich demokratische Gesinnung der Mehrheit der sächsischen Sozialdemo­ kraten.67 Selbst ein großer Teil  der die sächsische Regierung mittragenden

65 Die Perspektive Stresemanns wird geschildert von Henry Bernhard, Das Kabinett Strese­ mann, DS 35 (1923), insbesondere S. 23–29. 66 Vgl. dazu Stresemanns Aufsatz: Vom Rechte, das mit uns geboren, in: DS 35 (1923), S. 48– 51, hier: S. 48 (Eingangszitat). 67 Stresemann an Staatsminister Kaiser (DVP), 28.10.1926, PA AA , NL Stresemann  97: »[…]  als sie wissen, daß Sachsen meine politische Heimat ist und daß ich in denjenigen jungen Jahren des Lebens, in denen der Geist am empfänglichsten ist, für die Ein­

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Kommunisten war keineswegs blind »moskauhörig«, geschweige denn vollständig republikfeindlich.68 Woher kam dann die Furcht vor dem »Umsturz«, der linken Revolution? Stresemann war immer zu einer partiellen Kooperation mit »vernünftigen« Sozialdemokraten bereit gewesen. Nicht umsonst war er der erste Kanzler, der in der Weimarer Republik eine Große Koalition mit den Sozialdemokraten zustande brachte. Auch für Sachsen galt: »Wer Ruhe, Ordnung und Wohlstandsmöglichkeit in Sachsen will, der muss auch eine Politik des Ausgleichs und der Verständigung suchen.«69 Eine linkssozialistische Politik, selbst wenn sie auf einer demokratischen Legitimation beruhte, war für ihn jedoch etwas völlig anderes, baute nicht auf Ausgleich und Verständigung und war mit seinem – noch dem wilhelminischen Modell verhafteten – Wertehimmel nicht vereinbar. Niemals hätte er daher seine Hand dazu gereicht, eine Republik mit aufzubauen, die neben erheblichen Veränderungen der politischen Strukturen zugleich tief ins kapitalistische Wirtschaftssystem eingegriffen und die Macht der Unternehmer eingeschränkt hätte. Dazu war und blieb er viel zu sehr Liberaler und Industriesyndikus. Offensichtlich konnte Stresemann im Jahre 1923 immer noch nicht den Paradigmenwechsel nachvollziehen, der durch die Revolution erfolgt war, mit dem Ziel, die repressiven Strukturen der Monarchie zu einer parlamentarischen Demokratie umzuformen. Das galt selbst dann, wenn er glänzend die demokratische Klaviatur der neuen Republik beherrschte. Jahrzehntelang hatten die Konservativen und später die Liberalen alles getan, um genau diese Demokratie zu bekämpfen. Sie hatten ein undemokratisches Wahlrecht installiert; sie hatten versucht, die Sozialdemokratie auszugrenzen, wo immer es ging. Sie hatten ihr eine gerechte Mitwirkung in den Kommunen verweigert und sie von allen hohen staatlichen Positionen ferngehalten, auch wenn sich hier zu Beginn des 20.  Jahrhunderts, dank der Initiativen Stresemanns, Aufweichungen zeigten. Diese prinzipiellen Ungerechtigkeiten aber hatte er immer als etwas geradezu Selbstverständliches verstanden, sie als natürlich verinnerlicht. Dass diese früher ausgegrenzte und benachteiligte Mehrheit der Bevölkerung sich jetzt das Recht nahm, aufgrund demokratischer Beschlüsse eine Politik durchzusetzen, die das scheinbar Selbstverständliche durchbrach und alte Privilegien abschaffte, war aus demokratischer Perspektive nur gerecht. Damit, aber auch mit den neuen Formen, in denen sich der Protest der Unterschichten drücke, die auf ihn einstürmen, in Dresden gelebt und mich in Sachsen umgesehen habe, wie wohl nur wenige andere. Sachsen war das historische Experimentierfeld des Kampfes zwischen Sozialdemokratie und Bürgertum.« 68 Vor allem wäre darauf hinzuweisen, dass, wenn eine Umsturzgefahr tatsächlich bestanden hätte, diese beim Einmarsch bereits hinfällig geworden war. Vgl. Wright, Stresemann, S. 245. 69 Stresemann an Staatsminister Kaiser (DVP), 28.10.1926, PA AA , NL Stresemann 97.

238  Politik in Deutschland und Europa artikulierte, konnten Stresemann und seine sächsischen Freunde jedoch nur schwer leben. Dazu waren sie nach wie vor zu sehr im Kaiserreich verwurzelt und hatten dessen Strukturen in sich aufgesogen. Stresemann lehnte das demokratische Wahlrecht noch im Jahr 1923 ab, selbst wenn er es (notgedrungen) akzeptierte und es erst einmal nicht abzuschaffen gedachte. Das kapitalistische Wirtschaftssystem hielt er ebenfalls für im Prinzip unantastbar, obwohl er selber einen geläuterten »Herr-im-Hause-Standpunkt« vertrat. Formen von Sozialisierung waren jedoch für ihn undenkbar. Aus diesen Gründen konnte er, trotz aller Flexibilität, die ihn auszeichnete, das säch­ sische Experiment nicht einmal ansatzweise tolerieren, geschweige denn, sich mit ihm anfreunden.70 Hinzu kam die bei Stresemann grundsätzliche und tiefsitzende Abneigung gegen alles was er als Sozialismus, Kommunismus und Bolschewismus verstand. Das galt selbst dann, wenn es sich um einen demokratisch gebändigten Sozialismus handelte. Die Vorstellung, dass die »rote Fahne« über Berlin wehen könnte, war nicht nur ein Schreckensbild, mit dem er den Kronprinzen, taktisch geschickt, noch 1925 innenpolitisch auf seine Seite zu bringen versuchte,71 sondern sie war für ihn persönlich ein absolutes Horrorgemälde. Schließlich spielte seine besondere Affinität zum Militär eine Rolle. Die Angriffe Zeigners und seiner Regierung auf die Reichswehr, das Aufdecken ihrer illegalen Tätigkeiten und ihrer Vergehen gegen die Rüstungskontrolle, machten ihn und seine Regierung für Stresemann besonders verhasst. Zeigner diskreditierte dadurch, so Stresemann, die Reichswehr, das Synonym für das von ihm so hoch geschätzte Militär. Das galt selbst dann, wenn die Kritik sachlich zutraf. Zeigner opponierte zudem indirekt gegen Stresemanns Politik, die sich auf die Reichswehr stützte. Nicht zuletzt aber schwächte er, so Stresemann, die deutsche »Wehrkraft«, die er nur in der Reichswehr und ihren illegalen Unterorganisationen, nicht aber in »proletarischen Hundertschaften« gewährleistet sah. Insofern bedurfte es nicht der Drohung der Reichswehr oder des Reichswehrministers, einen militärischen Einsatz in Sachsen als Vorbedingung für die weitere Loyalität zu verlangen, Stresemann war auch ohne diesen Druck dazu bereit.72

70 Vgl. dazu die eindringlichen Mahnungen seines Freundes Moras, 22.9.1923, PA AA , NL Stresemann 1. 71 Vgl. dazu den berühmten Brief Stresemanns an den Kronprinzen vom September 1925, mit der sich daran anschließenden wissenschaftlichen Diskussion um die »eigentlichen« Ziele Stresemanns. Vgl. dazu die Unterkapitel »Der Verständigungspolitiker und sein Doppelleben: Papst, Orgesch, Wilhelm und Co.« sowie »Dichte Beschreibung II«. 72 Vgl. dazu den Beitrag Stresemanns in der Kabinettssitzung vom 6.10.1923, in dem er die Ausführungen Zeigners über die Frage des »Grenzschutzes« als Landesverrat bezeichnete, Akten der Reichskanzlei, Weimarer Republik, Bd. 2, Nr.117, S. 497.

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Beides, die tiefe Feindschaft gegen Bolschewismus und Sozialismus und zugleich die heimliche Affinität zum Militär und Militärischen verbunden mit dem Unverständnis, dass demokratische Entscheidungen selbst dann zu respektieren waren, wenn sie seinem konservativ-liberal-kapitalistischen Weltbild diametral widersprachen, gaben daher schon von sich aus die Richtung in der Stresemann’schen Sachsenpolitik an: Hart gegen »links« und eher flexibel und weich gegen »rechts«.73 Dies gilt umso mehr, als er zu Recht hoffte, mit einem Schlag gegen die »Kommunisten« »die Stellung des Reiches gegenüber Bayern« zu stärken.74 Die Zustände in Bayern stellten jedoch nicht das Hauptmotiv für die Haltung Stresemanns dar. Die Aktion gegen Sachsen und eben nicht gegen Bayern entsprach offensichtlich seinem ideologischem Horizont und seinem in der Kaiserzeit verinnerlichtem, immer noch wirkungsmächtigem Wertekonzept. Nationale, bürgerliche und traditional liberale Werte standen ihm näher als die weitere konsequente Demokratisierung von Staat und Gesellschaft. Dazu hätte er ein »brennender Demokrat« sein müssen, was aber bis zu seinem Tode niemals wurde. Hinzu kam der Druck, den die ständigen Alarmrufe seiner politischen Vertrauten aus Sachsen ausübten, Vertraute, denen er auch noch 1923 stärker als fast allen anderen Politikern glaubte und mit denen er 1923 die wichtigsten politischen und wirtschaftspolitischen Überzeugungen teilte. Die sächsische DVP,75 »sein« VSI76, seine Industriefreunde, wie etwa Ernemann, aber auch das Bankhaus Arnold,77 das IV. Wehrkreiskommando und die bürgerliche sowie die nationalistische Presse bombardierten ihn mit einem Trommelfeuer von Kritik an

73 Vgl. dazu Wright, Stresemann, S. 238: »Dass das keine unparteiische Politik war, gab er später zu. Er rechtfertigte sich jedoch damit, dass mit der von Moskau gesteuerten KPD keine Verständigung möglich gewesen sei, während die Vaterländischen Verbände in Bayern grundsätzlich wohlmeinend, wenn auch fehlgeleitet seien«. 74 Wright, Stresemann, S. 242. 75 Vgl. sein Schreiben an Staatsminister Kaiser (DVP), 26.9.1923, PA AA , NL Stresemann 87: »[…] und dass ich bestrebt sein werde, Mittel und Wege zu finden und zu beschreiten, um die Unzuträglichkeiten, die sich in Sachsen ergeben haben, zu heben, wie ich dies auch bereits mit Vertretern der sächsischen Wirtschaft und Herren ihrer Landtagsfraktion gelegentlich besprechen konnte«. 76 Stresemann an Staatsminister Kaiser (DVP), 28.10.26, PA AA , NL Stresemann 97: »Ich sehe aus jenem Spätsommer und Herbst des Jahres 1923 noch die Telegramme aus Sachsen vor mir, in denen um Schutz gegen die kommunistische Herrschaft ersucht wurde. Ich sehe die Deputationen im Geist vor mir, mir wohlbekannte Männer des sächsischen Wirtschaftslebens, die mir erklärten, dass Sicherheit und Gesetz in Sachsen nicht gewährleistet wären […]«. 77 Das Sachsenwerk verpflichtete sich mit der Abwehr des »Sachsenputsches« zu einer jährlichen Unterstützung der DVP von 50.000 Mark (HStA Dresden, Sachsenwerke 11646, Nr. A 81, 1903–1930, Nr. 45).

240  Politik in Deutschland und Europa den sächsischen Zuständen.78 Immer wieder wurde darin vor dem »roten Terror« gewarnt und das Gespenst von bevorstehenden Sozialisierungen an die Wand gemalt, ein Szenario, das Stresemann an seinem empfindsamsten Nerv treffen musste. Beispielhaft stehen für diese Appelle die eindringlichen Mahnungen seines Freundes Moras: »So wie sich die Dinge in Sachsen weiterentwickeln, halte ich es für unbedingt notwendig, dass seitens der Reichsregierung einmal scharf durchgegriffen wird, […]. Solange nicht in Deutschland einmal an verschiedenen Stellen Schieber, Diebe und Saboteure an die Wand gestellt und erschossen werden zur Warnung für alle übrigen Halunken, können wir zu keiner Ruhe kommen«.79 Stresemann ging daher mit aller Schärfe gegen das »Sächsische Projekt« und die es tragenden Kräfte vor. Er opferte zum einen, so Christian Szejnmann, die demokratisch gewählte Regierung in Sachsen (und die Regierung im benachbarten Thüringen), um die Reichswehrführung zufrieden zu stellen und um der antidemokratischen Rechten in Bayern den Wind aus den Segeln zu nehmen.80 Zum anderen stellte diese Politik eine von ihm voll getragene Strafaktion gegen eine linke Landesregierung dar, die nicht gewillt war, sich in die nationale Einheitsfront einzuordnen, und die es wagte, gegen den Kurs der Reichswehr öffentlich zu opponieren, so Karsten Rudolph.81 Hinzu kam politische Pragmatik: Angesichts einer allgemeinen politischen Mentalität, die Gefahr von links immer bedrohlicher einzuschätzen als die von rechts, entsprach Stresemanns Reaktion bürgerlichem Konsens. Gegen links ließ sich immer eine politische Front von Bürgern zusammenbringen. Vom Verhalten der Reichswehr, dem wichtigen Machtfaktor in der Republik, einmal ganz abgesehen. Seine Aktion war insofern ein entscheidender Stoß gegen die Stabilisierung und tiefere Verankerung demokratischer Elemente in die Weimarer Republik und eine Ermutigung derjenigen, die ihren weiteren Ausbau nicht wünschten.82 Zugleich wurde mit der Reichsexekution erfolgreich ein Instrumentarium erprobt, um unliebsame Regierungen ihres Amtes zu entheben, selbst wenn diese legal an die Macht gelangt waren. Wie dieses Instrumentarium dann am Ende der Weimarer Republik gegen Preußen genutzt wurde, sollte Stresemann allerdings nicht mehr erleben. Unabhängig von seiner Politik gegenüber Sachsen bleibt allerdings bestehen, dass die Meisterung der Krise von 1923 eine große politische und zugleich persönliche Leistung Stresemanns darstellte. Die Einheit des Reiches blieb gewahrt, 78 Rüdiger, Freistaat, S. 442. Diese »Notrufe« basierten allerdings sehr häufig auf Übertreibungen oder sogar auf direkten Falschmeldungen. 79 Moras an Stresemann, 22.9.1923, PA AA , NL Stresemann 1. 80 Szejnmann, Vom Traum, S. 45. 81 Rudolph, Erich Zeigner, S. 50, in diesem Sinne Keller, S. 271. 82 Dieser Aspekt kommt bei Wright, Stresemann, S. 238 ff., etwas zu kurz.

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eine Militärdiktatur wurde verhindert, die außenpolitische Handlungsfreiheit hergestellt und die Währung saniert, um nur einige wichtige Punkte zu nennen. Die Art, in der das geschah, verhinderte jedoch die Lösung anderer wichtiger Strukturprobleme.83 Der »Sachsenschlag« Stresemanns hat möglicherweise eine weitere Demokratisierung und Stabilisierung der Weimarer Republik verhindert und dem linken Flügel der Arbeiterschaft die Identifizierung mit dem Weimarer Staat erheblich erschwert. Das scheinbare und nur kurzfristige Wohlwollen der politischen Rechten und der Reichswehr war jedenfalls diesen Preis, das hat die spätere politische Entwicklung gezeigt, nicht wert.

Dichte Beschreibung II: Die Politik von Locarno Die Forschung hat sich in den letzten Jahrzehnten intensiv mit der deutschen Locarno- und Völkerbundpolitik beschäftigt.84 Dementsprechend ist zu diesen Themen eine kaum zu überblickende Fülle von Publikationen erschienen.85 Die folgende Beschreibung fasst daher konzentriert wichtige Ergebnisse zusammen und weist auf mögliche Desiderate hin. Die weiteren Kapitel werden Ergänzungen hinzufügen, die das gegenwärtig sehr einheitliche Bild von Stresemann und seiner Außenpolitik differenzieren und an der insgesamt überaus positiven Bewertung des Politikers und seiner Politik gewisse Zweifel entstehen lassen. Die Beschäftigung mit der Außenpolitik in der Weimarer Republik hat in der frühen Geschichtsschreibung der Bundesrepublik anfangs eher ein Schattendasein geführt.86 Ventiliert wurde vor allem die damals brennende Frage, warum die Republik gescheitert war. In systematischer Perspektive standen vorrangig Probleme des politischen Systems, der Wirtschaft, der Parteien, der Verfassung und der Ideologien auf der Agenda. Diachron spielten die Anfangs- und vor allem aber die Endphase der Republik eine wichtige Rolle. Hier schienen die Ursachen für den »Untergang« der Republik wie in einem Brennglas sichtbar zu werden. Außenpolitik, vor allem in der relativ ruhigen Phase zwischen 1924 und 1929, spielte dabei zwar auch eine Rolle, wurde aber häufig unter die Negativfaktoren für das Scheitern der Republik eingeordnet: Versailler Vertrag und seine Belastungen (Reparationen, Gebietsabtretungen usw.). Einen eigenen Stellenwert besaß sie nur selten. Dieses geringe Interesse hing ebenfalls damit zusammen, dass außenpolitische Aspekte für die immer stärker dominierende Gesellschaftsgeschichte an83 Dies negative Urteil wird von Szejnmann geteilt, Vom Traum, S. 45 f. 84 Hier steht vor allem der Außen- und nicht der Partei- und Innenpolitiker Stresemann im Mittelpunkt. Zum liberalen Innenpolitiker vgl. das Standardwerk von Jones, German­ Liberalism. Zusammenfassung in: ders., Stabilisierung von rechts. 85 Am besten zum Stand der Forschung um die Jahrtausendwende Niedhart, Außenpolitik. 86 Niedhart, Außenpolitik, S. 41 ff.

242  Politik in Deutschland und Europa fangs eine eher untergeordnete Rolle spielten. Im Mittelpunkt des neuen Forschungsparadigmas standen meist langfristige Strukturen und ökonomische Faktoren. Außenpolitik, außenpolitische Konstellationen und Probleme des internationalen Systems wurden häufig unter dem Aspekt innenpolitischer Fragestellungen analysiert. Methodisch schien die Beschäftigung mit Außenpolitik (und der lange Zeit dominierenden Diplomatiegeschichte)  zudem eher unfruchtbar zu sein. Ungeachtet dieser generellen Entwicklung haben jedoch die Person Strese­ manns und seine politischen Aktivitäten immer ein großes Interesse in der deutschen, aber auch in der internationalen, vor allem der amerikanischen, Historio­grafie gefunden. Dabei kam es (zumindest zeitweise) zu sehr uneinheitlichen Ergebnissen und Bewertungen. Die Urteile oszillierten zwischen bewundertem Staatsmann mit frühen europäischen Ambitionen, bis zum verachteten Vorläufer des »Dritten Reiches«. Sie schwankten zwischen unbelehrbarem Annexionisten und bewunderungswürdigem Friedenspolitiker,87 zwischen Stabilisator und Zerstörer der Weimarer Republik.88 Stresemann wurde als gemütvoller und empfindlicher, aber geradliniger Gefühlsmensch bezeichnet und zugleich als verschlagener, rückratsloser Taktiker, Verstandes- und Machtmensch, als geradezu charakterloser Typus entlarvt. Fazit: »Selten hat ein Politiker eine derart kontroverse Beurteilung wie Gustav Stresemann« erfahren.89 Diese unterschiedlichen Urteile hingen nicht nur mit wissenschaftsinternen Faktoren (etwa der Quellenlage), sondern auch mit den Erkenntnisinteressen der Forscher zusammen.90 Viele Autoren etwa in der Bundesrepublik, suchten, in pädagogischer Absicht, in Stresemann eine historische Persönlichkeit, auf die sie sich in Gegenwart und Zukunft berufen konnten. Einige seiner ersten Biografen waren zudem alte Bekannte und zeitgenössische Begleiter oder aber frühere Mitarbeiter gewesen.91 Das blieb nicht ohne Einfluss auf ihre Werke. Geradezu entschuldigend sprach man von einer grundsätzlichen Wandlung Stresemanns nach dem Ersten Weltkrieg, sah in dieser Zeit eine Entwicklungs87 In diesem Sinne vor allem die frühen Biografien, z. B. Olden, Stresemann, Rheinbaben, Stresemann, Stern-Rubarth, Stresemann, und Vallentin. 88 So der Tenor der Biografie von Wolfgang Ruge: Ruge, Stresemann. 89 Michalka u. Lee, S. VII . Der Sammelband spiegelt sehr gut den damaligen Stand der Forschung wieder. 90 Dazu ausführlich und kenntnisreich Körber, Stresemann als Europäer. 91 Hier sei nur Theodor Eschenburg erwähnt, der als Student Stresemann verehrte, einige Dienste für ihn versah, eine Dissertation über die Nationalliberalen verfertigte (Eschenburg, Das Kaiserreich am Scheidewege) und in der Bundesrepublik Stresemanns Andenken auch als Universitätslehrer maßgeblich förderte. Stresemanns Tätigkeit in Sachsen und vor allem im Ersten Weltkrieg blieb nicht zuletzt deswegen eher unbeachtet, weil seine frühen Biografen diese Zeit nicht selbst miterlebt hatten und häufig noch unter dem Schock des »Untergangs« der Weimarer Republik standen.

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phase hin zur »eigentlichen Geschichte« Stresemanns und seinen Leistungen in der Weimarer Republik. Lange Zeit wurde von einer geradezu biblischen Wendung Stresemanns vom Saulus (nationalistischer Kriegstreiber) hin zum Paulus (europäischer Friedenspolitiker) gesprochen.92 Schon früh setzte auf diese Weise eine Legendenbildung ein, die nicht nur Öffentlichkeit und Politik, sondern auch die wissenschaftliche Publizistik beherrschte. Es entstand das Bild vom guten Demokraten und frühen Europäer, einem Vorläufer eines geeinten Europa, ein Bild, das vor allem in der Öffentlichkeit lange Zeit dominierte. Andere Autoren interpretierten Stresemann stärker in politischer Absicht, in einem Rahmen, in dem »kriegerische Gewalt als Wesenszug deutscher Großmachtpolitik erschien«.93 Dies gilt insbesondere, aber nicht nur, für die Darstellungen aus der DDR und der Sowjetunion. Dort konstruierten Politiker und Historiker Stresemann lange Zeit recht undifferenziert als Agenten des Industriekapitalismus und als Vertreter eines in Deutschland auch noch in der Bundesrepublik herrschenden Expansionismus.94 Diese Interpretationslinie erhielt Mitte der 1950er Jahre, nicht zuletzt beschleunigt durch die Freigabe des Stresemann-Nachlasses, eine Zeit lang eine gewisse Bedeutung. Stresemanns außenpolitische Ziele wurden nun, vor allem von in Amerika arbeitenden Historikern, die als erste Wissenschaftler Zugriff auf den Nachlass hatten, kritisch und kontrovers zur bislang dominierenden Literatur diskutiert.95 Die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität in Politik und Leben wurde neu verhandelt und Stresemanns lautere europäische Absichten erheblich infrage gestellt. Die Analyse seines gesamten Nachlasses, nicht nur des noch Ende der Weimarer Republik veröffentlichten »Vermächtnisses«, ließ erhebliche Zweifel aufkommen, ob Stresemann wirklich ein so friedliebender Außen­ politiker gewesen war, wie es seine bisherigen Biografen dargestellt hatten. Es wurde nun diskutiert, ob Stresemann nur deswegen keine kriegerischen Mittel zur Revision des Versailler Vertrags und des (Wieder-)Aufstiegs Deutschlands zur europäischen Großmacht anwenden wollte, weil Deutschland militärisch machtlos, ein solcher Weg also zu der Zeit nicht gangbar war. Das aber musste nicht zwingend etwas über seine späteren Pläne aussagen. Es wurde ihm unterstellt, dass er nach wie vor, wenn nun auch raffiniert versteckt und friedlich übertüncht, das Gesicht eines außenpolitischen Chauvinisten, wie im Ersten Weltkrieg, zeigte. Es wurde sogar überlegt, inwieweit man ihn, trotz aller dem entgegenstehenden Beteuerungen und nach außen gezeigter Mäßigung als einen Vorläufer Hitlers ansehen konnte. Über all diese Themen wurde heftig 92 93 94 95

Vgl. dazu Pohl, Gustav Stresemann (1878–1929); dort auch weitere Literaturhinweise. Niedhart, Außenpolitik, S. 50. Ruge, Legende und Wirklichkeit. Vgl. dazu nur Thimme, Gustav Stresemann. Der Stresemann Nachlass war nach Kriegsende in die USA verbracht worden und konnte daher von den dort arbeitenden Histo­ rikern zuerst eingesehen werden.

244  Politik in Deutschland und Europa und sehr kontrovers gestritten. Die heißen Debatten erinnerten in manchem, vor allen in ihren politischen Implikationen, an die Fritz-Fischer-Kontroverse über die Frage der deutschen Kriegsschuld am Ersten Weltkrieg.96 In diesem Kontext spielte Stresemanns berühmter, immer wieder unterschiedlich interpretierter Brief an den Kronprinzen vom September 1925 eine wichtige Rolle, ein Dokument, das im Kontext der deutschen Locarno-Politik zu verorten ist. In diesem Brief hatte Stresemann die Ziele seiner Außenpolitik skizziert und diese dem Kronprinzen in einer zum Teil drastischen Diktion auseinander gesetzt. Er bezeichnete z. B. die Franzosen, mit denen er einen Monat später den Vertrag von Locarno aushandeln sollte, als »Würger«, die man erst einmal vom »Halse« haben müsse, und machte klar, dass er eine Politik des »Finassierens« betreiben wolle. Stil und Inhalt des Schreibens sind allerdings quellenkritisch zu würdigen. Das Schreiben gab nicht nur Stresemanns politische Ziele wieder, sondern war auch dazu bestimmt, den Kronprinzen zu bewegen, auf politisch rechts stehende Kreise Einfluss zu nehmen. Stresemann hoffte, auf diese Weise innenpolitische Unterstützung für seine Locarno-Politik zu finden. Gerade die sehr skeptische Regierungspartei DNVP galt es außenpolitisch bei der Stange zu halten; ihr wollte Stresemann mit seiner drastischen Diktion offenbar entgegenkommen. Intensiv diskutiert wurde in diesem Kontext, ob Stresemann sich in diesem Brief, entgegen seinen Beteuerungen in Locarno, nicht doch als ein kaum verkappter Machtmensch entlarvte, als ein äußerst raffinierter Politiker, der vor allem Zeit gewinnen wollte und nicht davor zurückschreckte, seine Verhandlungspartner gegebenenfalls gewissenlos zu täuschen. Unterstellt wurde, dass er trotz aller friedlichen Gesten und Beteuerungen von Frieden und europäischer Verständigung ganz andere Dinge im Schilde führte.97 Zeigte er sich in diesem Dokument, so wurde intensiv diskutiert, nicht doch als ein unbelehrbarer deutscher Nationalist und hatte »zwei« Gesichter, auch noch in der Weimarer Republik? Im Wesentlichen scheint diese Kontroverse seit etwa 15 Jahren überwunden zu sein.98 Die letzten drei, nahezu zeitgleich erschienenen, wichtigen Bio­grafien aus Deutschland, Großbritannien und den USA, die Werke von Eberhard Kolb, Jonathan Wright und John P. Birkelund, die gewissermaßen das Kapitel Stresemann abschließen, haben die Diskussionen offenbar endgültig beendet. Sie belegen, dass die Diskussionen um Stresemann und seine Politik zwar noch bis zur Jahrtausendwende sehr virulent waren, sie lassen aber zugleich erkennen, dass 96 Vgl. dazu Thimme, Einmal um die Uhr; dort auch weitere Literaturhinweise. Nach ihr der folgende Gedanke. Annelise Thimme war eine der Historikerinnen, die als erste den »Stresemannmythos« infrage gestellt haben. 97 Vgl. dazu Pohl, ›Kronprinzenbrief‹. 98 Den Stand der Forschung um die Jahrtausendwende spiegelt etwa der Sammelband, Pohl, Politiker und Bürger, wieder.

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das Urteil über Stresemann nun scheinbar endgültig gefällt ist: Alle drei Autoren sind sich im Grundsatz in ihren Urteilen einig: Damit steht die gegenwärtig gültige Stresemanndeutung. Die drei Autoren räumen alle Zweifel an dem »guten Stresemann« aus. Sie bescheinigen ihm ein weitgehend ehrliches Engagement für die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik und den Wunsch, eine friedliche Außenpolitik betreiben und dabei Deutschland in das europäische System integrieren zu wollen. Überwiegende nationale oder gar nationalistische Machtpolitik schließen sie nahezu aus. Damit steht die Forschung gewissermaßen wieder am Anfang, bei den Ergebnissen der ersten Nachkriegsphase, wenngleich nun auf einem wesentlich stabileren (Quellen-)Fundament und nach einer Reihe von interpretatorischen Umwegen. Stresemann avanciert aus dieser (abschließenden?) Sicht jedoch nicht nur zum deutschen außenpolitischen Vorzeigepolitiker und Verständigungspolitiker par excellence, sondern zugleich zu Weimars »Greatest Statesman«, ja zu einem bedeutenden Europapolitiker. Er gilt in dieser neuen Forschung als große Persönlichkeit, sogar als wahrscheinlich einziger Politiker, der die Republik (vielleicht) hätte stabilisieren und möglicherweise noch vor dem Abgrund des Nationalsozialismus retten können, wenn er nicht so früh gestorben wäre.99 Stresemann wird als »Patriot und Staatsmann« beschrieben und als einer der wenigen deutschen Politiker geehrt, die versucht hätten, Deutschlands Außenpolitik zu zivilisieren. Kurzum: Stresemann ist seitdem nahezu unumstritten in das Walhalla der großen Deutschen eingegangen – und dies in erster Linie als deutscher und europäischer Außenpolitiker. Ursula Büttner stellt dementsprechend in ihrem Standardwerk über die Weimarer Republik fest: »Inzwischen herrscht in der internationalen Forschung weithin Einigkeit, dass es an der Aufrichtigkeit seiner Kooperationsbereitschaft keinen Zweifel gebe. Er war überzeugt, dass das Deutsche Reich seine Interessen, darunter auch für ihn an erster Stelle die Revision des Versailler Vertrags, nur in Übereinstimmung mit den europäischen Mächten und den USA erreichen könne, und deshalb gab es zur Friedenspolitik in Europa für ihn keine Alternative.«100

Diese Einmütigkeit in der Forschung hat eine weitere Beschäftigung mit Strese­ mann deutlich gelähmt und das positive Urteil geradezu unumkehrbar gemacht, mit der Folge, dass seit der Jahrtausendwende und dem Erscheinen der drei letzten Biografien kaum noch neue Literatur über ihn und seine Politik erschienen ist. Stresemann und sein Leben scheinen endgültig entschlüsselt zu sein. Es scheint nichts Neues und Unbekanntes mehr über ihn zu geben. Dieser 99 Turner, Überlegungen zu einer Biographie. 100 Büttner, S. 363.

246  Politik in Deutschland und Europa Stand der Forschung hätte Stresemann sicherlich gefreut. Um eine solche Interpretation und Konstruktion seiner Vita zu ermöglichen, hatte er sich seit seiner Jugend die größte Mühe gegeben. Worauf gründen sich diese positiven Urteile? Stresemann habe, so die übereinstimmenden Aussagen der neueren Forschung, die nationalen Interessen, die ihn im Ersten Weltkrieg zum nationalistischen Einpeitscher hätten werden lassen, zwar auch in den 1920er Jahren niemals völlig vergessen, er habe sie aber überwunden. Die Zeit des Welt­k rieges, und sein Wirken in Sachsen, seien gewissermaßen nur die »Vorgeschichte« des großen Weimarer Stresemann gewesen. Stresemann erkannte dann in seiner, für ihn und seine Beurteilung nahezu allein wichtigen Weimarer Zeit, nach einer Phase des Lernens, dass das Durchsetzen nationaler (nicht nationalistischer) Ziele nur noch auf dem Wege der friedlichen internationalen Übereinkunft möglich gewesen sei. Deswegen betrieb er, nach einem Prozess innerer Wandlung und Anpassung an die Realitäten der Nachkriegszeit, fortab aus innerer Überzeugung (und das sei die entscheidende Wandlung bei ihm) und nicht nur aus purer Notwendigkeit eine Politik der friedlichen Kooperation. Diese Politik unterschied sich prinzipiell, nicht nur graduell und zeitweilig, von der machtorientierten und expansiven Außenpolitik des deutschen Kaiserreichs und allemal der Nazi Ära. Stresemann leistete insofern einen entscheidenden Beitrag zu einer neuen deutschen Außenpolitik und zugleich zu der Etablierung einer europäischen Friedensordnung, in der, zumindest ansatzweise, kein Land ausgegrenzt, sondern alle europäischen Länder in ein auf friedliche Konfliktregelung abzielendes System der Übereinkunft integriert werden sollten. Insofern wurde ihm der Friedensnobelpreis im Jahre 1926 zu Recht verliehen. Als Beleg für diese Friedenspolitik werden vor allem die zentralen außenpolitischen Aktivitäten Deutschlands in den Jahren 1925 und 1926 genannt, der Abschluss des Vertrages von Locarno im Oktober 1925 und der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund im Herbst 1926, beides spektakuläre Vereinbarungen, die von Stresemann persönlich (mit)initiiert wurden. Der Berliner Vertrag mit Russland aus dem Jahr 1926 wird in diesem Kontext eher weniger problematisiert.101 Seit ihrer Locarnopolitik wirkte die deutsche Außenpolitik als geachteter Partner im Konzert der internationalen Kooperation gleichberechtigt mit. Ein nochmaliger (nun aber freiwilliger) Verzicht auf Elsass-Lothringen (und EupenMalmedy) auf der einen Seite, aber auch die Option auf einen deutschen Eintritt 101 Hierzu ausführlich Wright, Stresemann, S. 356 ff. Der Vertrag regelte Fragen der Wirtschafts- und Militärbeziehungen und schrieb die Neutralität eines der beiden Partner fest, wenn dieser von einer dritten Macht (hier zielte das Abkommen aus deutscher Sicht vor allem auf Polen) angegriffen werden sollte.

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in den Völkerbund (der dann im Herbst 1926 stattfand) und nicht zuletzt die begründete Hoffnung auf zukünftige rasche Regelungen der Entwaffnungsund Räumungsfrage auf der anderen Seite, sind dabei häufig diskutierte und besonders positiv bewertete Aspekte Stresemannscher Außenpolitik. In Locarno wurden, so die (nahezu) übereinstimmende Meinung, über die konkreten Ergebnisse hinaus zugleich erste Schritte unternommen, durch eine positive Atmosphäre gegenseitiges Vertrauen herzustellen. Es wurden dort die Umrisse eines neuen politischen Systems in Europa installiert und das alte System des Misstrauens, das den Versailler Vertrag zumindest aus deutscher Sicht belastet hatte, überwunden. Wichtig war, dass alle Partner wieder auf gleicher Augenhöhe miteinander verhandelten. Deutschland gehörte jetzt wieder »dazu«.102 Dieses insgesamt positive Urteil wird im Einzelnen allerdings auch mit einigen kritischen Elementen durchsetzt. Dazu gehört etwa die Rolle der östlichen Staaten im Vertragswerk von Locarno, deren Grenzen nicht in dem Maße garantiert wurden wie die deutsch-französische und die deutsch-belgische. Diese Tatsache wird erwähnt, z. T. kritisch kommentiert. Es überwiegt jedoch in den meisten Darstellungen der positiv gewertete Aspekt, dass in Locarno ebenfalls mit den östlichen Staaten Schiedsverträge abgeschlossen worden seien. In­ sofern hätte hier eine Option auf eine weitere Integration der östlichen Nachbarn Deutschlands in das »Locarnosystem« bestanden. Dieser Aspekt sei positiv zu werten, zumal das Prinzip des Gewaltverzichtes auch in diesen Fällen nicht grundsätzlich ausgehebelt worden sei. Zu den Kritikpunkten gehört ferner Stresemanns Verhalten gegenüber der heimlichen Bewaffnung der Reichswehr.103 Er blieb hier, so wird hervorgehoben, weitgehend tatenlos, ja, er tolerierte sogar den Bruch der Verträge von Versailles, was einen erheblichen Schatten auf den Friedenspolitiker würfe. Da Stresemann aber vor allem als Diplomat gewürdigt wird, spielen diese Aspekte meist eine eher untergeordnete Rolle, werden bedauert, aber nicht in den Mittelpunkt gestellt. Vor allem: Die Summe der artikulierten Kritik wird nicht systematisch verfolgt und zu einem »Gegenbild«, zu einer neuen Konstruktion, zusammengesetzt. Das insgesamt positive Gesamtbild wird durch diese Faktoren also nicht grundsätzlich infrage gestellt.

102 Krüger, Zur europäischen Dimension, S. 215 ff. Vgl. ders., Außenpolitik, eine Studie, die insgesamt diese These vertritt. Krüger steht repräsentativ für den Stand der gegenwärtigen Forschung in Bezug auf die Bewertung von Stresemanns Außenpolitik. Es dürfte kaum einen besseren Kenner der Akten des Auswärtigen Amtes geben. 103 Vgl. dazu Wright, Stresemann, S. 386 ff. Auf S. 387 heißt es zu dieser Thematik etwas beschwichtigend: »Die Aktivitäten liefen während seiner gesamten Amtszeit in begrenztem Ausmaß weiter und wurden sogar von Hermann Müller [sozialdemokratischer Reichskanzler] gutgeheißen, als dieser 1928 Kanzler einer großen Koalition wurde«.

248  Politik in Deutschland und Europa Wie sah nun das, von der Forschung so hoch gelobte, »Stresemann’sche« System aus? Zentral ist, wie bereits erwähnt, dass seine Außenpolitik als in erster Linie europäisch motiviert gedeutet wird. Ferner werden neue Methoden in seiner Außenpolitik hervorgehoben und ihr auf diese Weise eine »Modernisierung« zugeschrieben. Schließlich, damit zusammenhängend, wird die Ganzheitlichkeit und Breite der neuen Politik betont, also etwa die Einbeziehung ökonomischer und (fast noch gar nicht erforscht) kultureller Faktoren als Mittel der Außenpolitik. In diesem Sinne wird die deutsche Locarno- und Völkerbundpolitik einerseits als eine nationale, zugleich andererseits als eine europäische Politik aufgefasst.104 Das lässt sich besonders gut am Beispiel des Eintritts des Deutschen Reiches in den Völkerbund im Herbst 1926 zeigen. Hier gelang es Deutschland, trotz aller europäischen Tendenzen, seine besonderen nationalen Bedürfnisse als entwaffneter Staat erfolgreich in die Verträge einzubringen, durch eine besondere Interpretation des § 16 der Völkerbundsatzung. Dadurch wurde der Republik faktisch ein Neutralitätsstatus in einem Kriegsfall in Mitteleuropa zugestanden. Mit diesem Erfolg, der zugleich den Inhalt des Berliner Vertrages absicherte, bewies die Republik, allerdings erst nach Überwindung erheblicher Schwierigkeiten, ihre Gleichberechtigung im internationalen Konzert. Das internationale System insgesamt aber wurde durch die deutschen Forderungen nicht infrage gestellt, im Gegenteil, es zeigte seine große Tragfähigkeit und seine hohe Elastizität. »Es begann [fortab] eine neue Methode und ein neuer Stil internationaler Politik im europäischen Verbund – wenn auch bloß für wenige Jahre« – solange Stresemann lebte.105 Wichtig war, dass das neue europäische Regelwerk nicht starr oder Deutschland (oder einem andern Land)  aufgezwungen worden war, sondern dass es, im Konsens beschlossen, zugleich aber verhandelbar und damit flexibel blieb. Ausgeschlossen wurde bei diesen Verhandlungen von allen teilnehmenden Mächten nur die kriegerische Problemlösung. Das war nicht nur ein Fortschritt im pazifistischen Sinne, sondern zugleich wichtig für Deutschland, das keine militärische Macht darstellte und daher durch einen faktischen militärischen Gewaltverzicht am wenigsten zu verlieren hatte. Das Jahr 1923, mit dem ungeahndeten Einmarsch französischer und belgischer Truppen in das Ruhrgebiet, konnte sich, das war die deutsche Überzeugung, nun nicht mehr wiederholen. Durch Locarno und Deutschlands Eintritt in den Völkerbund entstand ein europäisches System, das außer der Sowjetunion, nahezu alle mitteleuro­ päischen (Groß-)Mächte in ein Regelwerk einband, in dem die Handlungsfrei104 Krüger, Zur europäischen Dimension, S. 217 ff. 105 Ebd., S. 217.

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heit aller Beteiligten, nicht nur Deutschlands, eingeschränkt und rechtliche Bindungen für alle beschlossen worden waren und in dem eine gemeinsame Verantwortung für den Frieden galt, so die gegenwärtig vorherrschende Interpretation. Die geopolitisch nicht einfache Mittellage Deutschlands in Europa wurde durch solche Reglungen ausreichend berücksichtigt. Durch diese neuen vertraglichen Bindungen schien Deutschland nicht mehr in der Lage zu sein, seinen Machtbereich in Mitteleuropa massiv auszubauen. Es konnte dementsprechend seine Interessen nicht mit (zukünftigem) militä­ rischem Machtpotential gewaltsam durchsetzen. Vor allem, so die Meinung der Forschung, wollte Stresemann keine Gewaltanwendung mehr, anders als noch im Ersten Weltkrieg, selbst wenn die Republik dazu in der Lage gewesen wäre. Das sei seine große Leistung gewesen und diese Linie habe er innenpolitisch immer wieder verteidigen und neu durchsetzen müssen, was seine Fähigkeiten als Politiker noch erhöht habe. In diesem Kontext ist der Begriff der »modernen Außenpolitik« gefallen, die Stresemann initiiert habe.106 Darunter ist eine Politik zu verstehen, die durch die Umsetzung von »Innovationen« gekennzeichnet ist und ein Modell der Friedenssicherung beschreibt, das auf Demokratie, kollektiver Sicherheit und freiem Welthandel beruhte, also eine dezidiert liberale Farbe besaß. Die Mittel dieser neuen Außenpolitik beschränkten sich dabei, dies eine weitere Novität, nicht mehr nur auf die Diplomatie, auf Geheim- und Konferenzpolitik, sondern sollten öffentlich diskutiert werden und vor allem Außenwirtschafts- und Kulturpolitik mit einbeziehen.107 Die Bedeutung Deutschlands als Wirtschaftsmacht, als Export- und als Importnation sei für eine solche Politik von entscheidender Bedeutung gewesen: »Die Beendigung der Diskriminierung Deutschlands als Großmacht wollte er [Stresemann] dadurch erreichen, dass Deutschland sich als Handelsstaat verstand […]«108 Speziell das deutsch-französische Verhältnis hatte in diesem Kontext besondere Bedeutung, waren beide Mächte doch nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich eng miteinander verflochten. Es gab insofern eine Vielzahl von gemeinsamen Interessen, die politisch genutzt werden, die aber zugleich zu erheblichen Problemen führen konnten.109 Zu diesen Problemkomplexen gehörten die Lösung der Reparationsfrage und der Militärkontrolle sowie die Handelsvertragsverhandlungen zwischen 106 Blessing, S. 9 ff. 107 Vgl. in diesem Sinne Wurm, Deutsche Frankreichpolitik, S. 138 f. »Arbeiten, die sich auf die Untersuchung von Diplomatie und hoher Politik beschränken, die inneren Grundlagen der Außenpolitik aber ausklammern, werden auf diese zentrale Frage [wie ist der spätere Absturz der deutschen Außenpolitik in der großen Krise zu verstehen?] schwerlich zufriedenstellende Antworten geben können«. 108 Niedhart, Außenminister Stresemann, S. 234. 109 Vgl. hierzu Schwabe u. Schinzinger.

250  Politik in Deutschland und Europa Deutschland und Frankreich seit Beginn des Jahres 1925. Sie werden als ein wichtiger Teil  der »modernen Außenpolitik« Stresemanns gedeutet: »Mit der Rückkehr in die Weltpolitik ›über die Weltwirtschaft‹ verzichtete er [Stresemann] auf die militärische Komponente der Machtpolitik, nicht aber auf das ungeduldig vorgetragene Verlangen nach zügiger Revision des Versailler Vertrages.«110 Fazit: »Im Rückblick waren die deutschen Liberalisierungsbestrebungen der Ära Stresemann nicht Teil  einer neowilhelminischen Imperialismus­ konzeption, sondern eine konstruktive Antwort auf die deutsche politische und wirtschaftliche Isolation in Europa […].«111 Im Gegensatz zu der Erforschung der diplomatischen Aktivitäten Stresmanns ist dieser die Ökonomie betreffende Bereich seiner Außenpolitik allerdings noch relativ unerforscht geblieben. Außer der Aufforderung nach Einzelstudien und einer tragfähigen Analyse ist hier in den letzten Jahren wenig geschehen. Dies mag mit dem gegenwärtigen Trend der (deutschen) Geschichtswissenschaft zusammenhängen, vor allem kulturelle und weniger ökonomische Faktoren in den Mittelpunkt historischer Analysen zu stellen.112 Der Beweis für die Tragfähigkeit der Theorie von der »modernen« Außenpolitik Stresemann ist jedenfalls bislang allenfalls teilweise erbracht worden. Als Erfolg im Sinne dieser Überlegungen könnte der Abschluss des deutschfranzösischen Handelsvertrages gedeutet werden, der parallel zu den politischen Gesprächen und Vereinbarungen (Locarno, Völkerbund) erfolgte. Der Wert dieses Abschlusses aber wurde partiell bereits dadurch konterkariert, dass er keineswegs von allgemeinen Zollsenkungen begleitet war.113 Ein Beispiel für liberalen Welthandel stellt er also kaum dar. Auf wirtschaftlichem Gebiet schlug die Modernität der Stresemann’schen Außenpolitik, so die Konsequenz, offenbar nur sehr partiell durch. Dass diese Komponente dennoch von großer Bedeutung war, bestätigte der deutsche Botschafter von Hoesch aus Paris:114 »Es kann natürlich nicht behauptet werden, daß Abschluss eines deutsch-französischen Handels-Vertrags sichere Gewähr für Möglichkeit billiger Regelung der Entwaffnungsräumung und Sicherheitsfrage bieten würde. Andererseits ist unzweifelhaft, dass Tatsache Abschlusses hier als ein gewichtiger Schritt in Richtung 110 Niedhart, Außenminister Stresemann, S. 242. 111 M. Schulz, Deutschland, S. 335. 112 Insofern bleibt es verwunderlich, dass der kulturelle Faktor in der neuen Außenpolitik Stresemanns bislang so deutlich vernachlässigt wurde. Neue Forschungen auf diesem Gebiet würden sich geradezu anbieten. Einige Hinweise darauf bei Wurm, Deutsche Frankreichpolitik, S. 145 ff. 113 Blessing, S. 435. 114 Telegramm von Botschafter von Hoesch (Paris) an StS. von Schubert, 16.6.1925, PA AA , R 28237 k. Da es sich hier um ein Telegramm handelt, liegt eine gekürzte Sprachform vor.

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deutsch-französischer Entspannung gewertet wird und mithin uns Fortschreiten auf diesem Wege ganz allgemein wesentlich erleichtern würde.«

In diesem Statement sind die Koinzidenz von Diplomatie und Wirtschaft und die gemeinsame Zielsetzung auf beiden Ebenen – Verbesserung der Beziehungen in allen Bereichen (Politik, Wirtschaft und, hier nicht genannt, Kultur), Überwindung des nationalen Gedankens und womöglich europäisches Denken – gut zu erkennen. Sie waren ganz offensichtlich die entscheidenden Faktoren einer »modernen« deutschen Außenpolitik. Erst unter Berücksichtigung auch dieser Felder kann die Außenpolitik von Stresemann daher in ihrer Gesamtheit beurteilt und gewürdigt werden. Eine Bewertung, die alle diese Aspekte einbezieht, steht allerdings, trotz jahrelanger Forschung, noch weitgehend aus. Eine Analyse allein schon der Wirtschaftsaußenpolitik könnte aber möglicherweise das bisherige Bild verändern und eine neue Diskussion über Stresemann und seine Politik auslösen.

Die Rolle der Wirtschaft und die Stresemann’sche Frankreichpolitik Im Folgenden wird untersucht, ob und inwieweit es in der Stresemann zugeschriebenen »modernen« Außenpolitik koordinierte Anstrengungen im Bereich Politik und Wirtschaft gab, ob die Zielsetzungen von Diplomatie und Wirtschaftsaußenpolitik gegebenenfalls Hand in Hand gingen oder ob es gravierende Unterschiede zwischen beiden Politikebenen gab.115 Das Beispiel der deutschen Frankreichpolitik und die Rolle, die die rheinisch-westfälische Schwerindustrie dabei gespielt hat, bieten sich für eine solche Analyse besonders an,116 denn jede Revisionspolitik konnte nur kontrovers zu oder im Konsens mit Frankreich erfolgen; das galt für die Politik genauso wie für die Wirtschaft.117 Die Möglichkeiten einer deutschen politischen und zugleich ökonomischen Offensive hingen vor allem mit dem Versailler Vertrag und seinen zeitlichen Vorgaben zusammen. Der Januar 1925 markierte dabei aus zweierlei Gründen ein besonders wichtiges Datum. Er war der Zeitpunkt, an dem Stresemann das deutsche Memorandum für einen Sicherheitspakt am Rhein entwarf, an die Alliierten verschickte und damit die Locarnopolitik ins Rollen brachte. Zugleich 115 Vgl. dazu Pohl, Weimars Wirtschaft; ders., Deutsche Wirtschaftsaußenpolitik; ders., Internationale Rohstahlgemeinschaft, und ders., ›Stresemannsche Außenpolitik‹. 116 Vgl. hierzu Bariéty, Frankreich und das deutsche Problem. 117 Dieser Aspekt war für den ehemaligen Lobbyisten der verarbeitenden Industrie und erbitterten Feind der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie sicherlich nicht erfreulich. Diese persönliche Animosität hat aber, soweit man das aus den Akten entnehmen kann, keine größere Rolle gespielt.

252  Politik in Deutschland und Europa liefen am 10. Januar die Deutschland betreffenden handelspolitischen Restriktionen des Versailler Vertrages aus, wie z. B. die einseitige französische Meistbegünstigung oder das Zugeständnis zollfreier französischer Kontingente nach Deutschland. Eine Außenpolitik, die das wirtschaftspolitische Instrumentarium Deutschlands nutzen wollte, konnte, nachdem der Abschluss des Dawes-Planes eine erste Stabilisierung eingeleitet hatte, fortab daran gehen, die bisherige defensive Haltung aufzugeben.118 Nur in der Wirtschaftskraft des Deutschen Reiches sah Stresemann zu diesem Zeitpunkt ein effizient einsetzbares Machtmittel, wie er 1926 noch einmal öffentlich bekundete119: »Das einzige, worin wir noch groß sind, ist unsere Wirtschaft. Mit ihr können wir den anderen Ländern Freundlichkeiten erweisen oder feindlich gegen sie vorgehen.«120 Es galt also, Wirtschaftskraft und Diplomatie gemeinsam, mit gemeinsamer Zielsetzung und zum gleichen Zeitpunkt zu Gunsten Deutschlands einzusetzen. Die deutsche Schwerindustrie besaß, nicht erst seit der erstmaligen Regierungsbeteiligung der DNVP im Kabinett Luther I im Jahre 1925, innenpolitisch eine erhebliche Machtstellung. Sie stellte, das ist in diesem Kontext von entscheidender Bedeutung, für die deutsche Wirtschaftsaußenpolitik auch das Hauptatout dar, mit dem die politische Führung gegenüber Frankreich operieren wollte.121 Das hing mit der Abhängigkeit der französischen Eisenerzförderung vom Export nach Deutschland zusammen. Diese Abhängigkeit, bis zum Jahr 1925 durch den Versailler Vertrag vertuscht, blieb nach Ablauf des Vertrages jedoch weiter bestehen, nun aber unter veränderten Umständen. Das war die Kehrseite der Einverleibung Elsass-Lothringens durch Frankreich. Die Franzosen waren nach Auslaufen der Fünfjahresfrist des Versailler Vertrages fortab auf den guten Willen der deutschen eisenschaffenden Industrie angewiesen, um weiterhin Kohle aus Deutschland beziehen und ihr Eisenerz dort absetzen zu können. 118 Der Dawes-Plan von 1924 sollte der deutschen Wirtschaft eine Erholung verschaffen, damit sie u. a. wieder in die Lage versetzt wurde, Reparationen zu zahlen. Neben einer neu vereinbarten Ratenzahlung war von großer Bedeutung, dass Deutschland auch hohe Kredite erhielt (800 Millionen Reichsmark als Starthilfe). Die Politik der produktiven Pfänder (Besetzung) wurde damit zugleich beendet. 119 Weidenfeld, Stresemann, S. 745. 120 Stresemann in seiner Dresdner Rede vor der deutschen Industrie, 22.4.1926, PA AA , Büro RM , 1c, 6, S. 70. 121 Das ist insofern nicht ohne Brisanz, als sich viele führende Schwerindustrielle (etwa Stinnes oder Thyssen) im Ersten Weltkrieg durch besonderen Chauvinismus, Nationalismus und Expansionismus (wie Stresemann) hervorgetan hatten, industriepolitisch aber zu den ausgesprochenen Gegnern Stresemanns gehörten. Vgl. zum Komplex Weisbrod, Schwerindustrie. So Bariéty, Zustandekommen, S. 553: »Die politische Tragweite des Abkommens erklärt sich aus der für Deutschland lebenswichtigen Stellung der Eisen- und Stahlindustrie«.

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Die deutsche Seite hingegen konnte im Schutze ihrer gewonnenen handelspolitischen Souveränität durchaus auf die französische (minderwertige) Minette (das Eisenerz aus Lothringen) verzichten und anderswo, beispielsweise in Schweden und Südamerika, oder aber auf dem internationalen Schrottmarkt, Rohstoffe ankaufen, und zwar preisgünstiger und in besserer Qualität. Sie war nun von Frankreich weitgehend unabhängig. »Mit dem Hebel der französischen Abhängigkeit von der deutschen Kohle und der Abhängigkeit der französischen Stahlindustrie vom deutschen Markt sollten auf längere Sicht politische Zugeständnisse erwirtschaftet werden.«122 Eine diplomatische Großoffensive auf der einen Seite, die schließlich im Vertrag von Locarno münden sollte, und zugleich, auf der anderen Seite, erfolgreiche Handelsvertragsverhandlungen, internationale Übereinkommen und privatwirtschaftliche Kooperationen, bei einer möglichen Zubilligung ökonomischer Vorteile an Frankreich, das war die Strategie der modernen Außenpolitik Stresemanns. Erreicht werden sollten dadurch u. a. baldige Erleichterungen in der Besatzungspolitik, eine diplomatische und politische Aufwertung Deutschlands, eine internationale Besserbehandlung, sowie vor allem eine partielle Durchlöcherung des Versailler Systems. Der Erfolg einer solchen (Wirtschafts-)Außenpolitik hing allerdings von der Mitarbeit der deutschen Schwerindustrie ab.123 Nur in Zusammenarbeit mit ihr konnte den Wünschen der französischen eisenschaffenden Industrie (und damit indirekt denen der deutschen Außenpolitik) entsprochen werden. Hier türmten sich jedoch, wie zu erwarten, erhebliche Hindernisse auf, denn die deutsche Schwerindustrie war keineswegs altruistisch gesinnt. Sie bemühte sich vielmehr, einen möglichst hohen Eisenzoll durchzusetzen. Auf diese Weise sollten die Franzosen vom deutschen Markt ferngehalten und höhere Gewinne erzielt werden. Darauf aufbauend konnte – so die Schwerindustrie – der deutsche Export gestärkt und zuvor verlorenes Terrain auf dem Weltmarkt wieder zurückgewonnen werden. Eine Interessenkollision nicht nur mit den Franzosen, sondern auch mit dem Auswärtigen Amt war damit geradezu vorprogrammiert. Es musste Stresemann also gelingen, die Interessen der Schwerindustrie zu befriedigen, um sie dann in den Dienst der deutschen Außenpolitik zu stellen. Das Auswärtige Amt bemühte sich daher, die rheinisch-westfälische Industrie durch massive finanzielle, sozial- und zollpolitische Zugeständnisse zu gewinnen. Ein Erfolg wurde dadurch begünstigt, dass der Zollschutz der Bülow-Sätze, der ab dem 10. Januar 1925 automatisch in Kraft getreten war, nicht, wie von der Schwerindustrie erhofft, ausreichte, um ihr die lästige französische Kon-

122 Stegmann, ›Mitteleuropa‹, 208 f. 123 Wurm, Deutsche Frankreichpolitik, S.  137–158. Dort eine detaillierte und kritische Analyse der folgenden Ereignisse.

254  Politik in Deutschland und Europa kurrenz vom Halse zu halten.124 Die beginnende Franken-Inflation in Belgien und Frankreich machte ihr einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Die Schwerindustrie stand also ebenfalls unter einem gewissen Kooperationsdruck. Aus diesem Grunde waren ihre führenden Vertreter im Laufe des Frühjahrs 1925 bereit, sich einer wirtschaftlichen Verständigung mit Frankreich zu öffnen, die sowohl die Probleme des deutschen als auch des internationalen Eisenmarktes regeln würde. Sie machten allerdings zur Bedingung, dass die Reichsregierung den größten Teil etwa entstehender finanzieller Lasten übernehmen und sozialpolitisch einen »vernünftigen« Kurs steuern müsse. Auf dieser Basis kam es bereits im März 1925 zu einer Einigung zwischen Reichsregierung und Schwerindustrie.125 Dafür zahlte die Reichsregierung allerdings einen hohen Preis. Ja, sie stärkte die Position einzelner wichtiger schwerindustrieller Unternehmen und wurde sogar erpressbar, wie der »Fall Krupp« exemplarisch verdeutlicht.126 Dieses Unternehmen deutete nämlich genau in dieser frühen Phase der Stresemann’schen Frankreichpolitik an, dass es sich in einer Finanzkrise befände. Zur Sanierung beabsichtigte es, wie es das Auswärtige Amt wissen ließ, eine Politik der engeren Englandorientierung zu betreiben und deswegen eine umfangreiche Kapitalverflechtung mit der dortigen Vickers-Gruppe anzustreben. Wohl wissend, dass dadurch das deutsch-französische Verhältnis schwer belastet und die Zielsetzung der Stresemann’schen Außenpolitik erheblich gestört werden würden, ließ sich Krupp erst nach der Zusage erheblicher finanzieller Mittel, die die Sanierung sicherten, vom Englandprojekt ab- und auf den Stresemann’schen Kurs bringen.127 Eine weitere innenpolitische Rückwirkung hing damit zusammen, dass die deutsche Seite bei den internationalen Gesprächen möglichst geschlossen auftreten wollte, um so bei den Verhandlungen ein Optimum zu erreichen. Die Konzentration der deutschen Schwerindustrie, die sich in der verstärkten Organisation in Verbänden (Ende 1924 Entstehung der deutschen Rohstahlgemeinschaft) bereits angedeutet hatte, sowie ein günstiges Arrangement der eisenschaffenden mit der eisenverarbeitenden Industrie im Dezember 1924 124 Hier ist die Zollgesetzgebung aus dem Jahre 1902 angesprochen, bei der Deutschland seine Zölle – nicht nur auf landwirtschaftliche Produkte – kräftig erhöht hatte. Diese Zollsätze traten 1925 automatisch wieder in Kraft. 125 Protokoll der Sitzung durch den RDI, 11.3.1925, HA GHH, 400101222/7, von Regierungsseite, BA Koblenz, R 13 I, 363. 126 Pohl, Finanzkrise. Zur Firma Krupp in der Weimarer Republik Wixforth, S. 101 ff. Ferner: Stegmann, Hugenberg. 127 Der Verhandlungsführer Krupps, Otto Wiedfeldt, war nicht nur ein intimer Kenner der Stresemann’schen Außenpolitik, war er doch bis zu Jahresbeginn deutscher Botschafter in Washington gewesen, sondern zugleich Intimfeind Stresemanns. Das verhärtete die Fronten zwischen Krupp und dem Auswärtigen Amt noch zusätzlich.

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hingen daher ebenfalls unmittelbar mit der neuen Wirtschaftsaußenpolitik zusammen.128 Im sogenannten AVI-Abkommen zwischen deutscher eisenschaffender und eisenverarbeitender Industrie einigten sich beide Seiten, mit dem Segen der Reichsregierung, auf eine gemeinsame Strategie. Beide Seiten erkannten die Notwendigkeit eines ausreichenden Zollschutzes an. Die Schwerindustrie erklärte sich jedoch bereit, der verarbeitenden Industrie als Gegenleistung für diese Anerkennung Zollrückvergütungen für deren Exporte zu gewähren und den Verarbeitern genügend Roheisen zur Verfügung zu stellen, um so deren Export nicht zu gefährden.129 Die eisenverarbeitende Industrie sicherte wiederum zu, sich unter diesen Umständen nicht auf dem internationalen Markt bedienen zu wollen. Trotz dieser Zusagen bürdete dieses Abkommen der eisenverarbeitenden Industrie jedoch große Opfer auf.130 Sie war aber bereit, trotz der berechtigten Befürchtung, »daß die im Gang befindlichen Verhandlungen der eisenschaffenden Industrie zwecks eines internationalen Eisenkartells als unbeabsichtigte Rückwirkung schwere Schädigungen für die deutsche eisenverarbeitende Industrie im Gefolge haben könnten, jenen Verhandlungen in Anbetracht ihrer Wichtigkeit in loyaler Weise keine Schwierigkeiten in den Weg zu legen«.131 Mehr Zugeständnisse hätte die Schwerindustrie wohl kaum erwarten dürfen. Eine weitere wichtige Gegenleistung betraf schließlich die Unterstützung der Bildung der Vereinigten Stahlwerke im Jahre 1926 durch das Auswärtige Amt.132 Um deren Entstehung zu erleichtern, subventionierte das Reichsfinanzministerium, dessen Chef der alte sächsische Bekannte Stresemanns, Peter Reinhold (DDP), war, diesen Vorgang, und zwar auf deutlichen Druck des Auswärtigen Amtes. Dieses argumentierte:133 »Der geplante Zusammenschluß würde einen so erheblichen Teil der westfälischen Eisenindustrie in einer Hand zusammenfassen, daß die Verhandlungsfähigkeit Deutschlands [!, K. H. Pohl] an den gegenwärtigen Verhandlungen [IRG] erheblich gestärkt würde. Ich möchte bitten, daß das Reichsfinanzministerium diesen Gesichts128 Bariéty, Zustandekommen, S.  562: »Die Gründung der Deutschen Rohstahlgemeinschaft durch Fritz Thyssen bedeutete die zielbewußte Schaffung eines ›ad hoc‹-Instruments für die anstehenden wirtschaftlichen Verhandlungen mit Frankreich«. 129 Pohl, Weimars Wirtschaft, S. 51 f.; dazu Bariéty, Zustandekommen, S. 563 f. 130 Vgl. dazu vor allem Nocken, Das Internationale Stahlkartell, und ders., Inter-Industrial Conflicts. 131 Protokoll der Verhandlungen zwischen beiden Parteien am 20.5.1926, GStA München, Ges. Berlin 1845. 132 Vgl. dazu Reckendrees. 133 Entwurf eines Schreibens für RM Stresemann (MD Ritter), 4.3.1926. PA AA , Sonderref. W/Industrie 20 (1).

256  Politik in Deutschland und Europa punkt bei der Prüfung der Besteuerungsfrage in seiner vollen Bedeutung würdigt […] und baldigst eine Sonderregelung getroffen wird, die den beteiligten deutschen Unternehmungen die schnelle Verwirklichung des Zusammenschlusses ermöglicht.«

Auf diese Weise und mit dem Ziel, in den Wirtschaftsverhandlungen möglichst geschlossen aufzutreten, unterstützte das Auswärtige Amt also die Konzentrationsbewegung im Montanbereich, eine Entwicklung, die in der verarbeitenden Industrie nicht mitgemacht wurde. Wegen dieser Bevorzugung sollte es der deutschen Schwerindustrie in den nächsten Jahren gelingen, ihre innenpolitische Macht (vor allem gegenüber den anderen Industriezweigen) sukzessive zu erweitern, mit allen daraus folgenden nicht nur ökonomischen, sondern auch sozialpolitischen Konsequenzen. Diese innen- und wirtschaftspolitische Bedingtheit und den begrenzten Freiraum zwischen ökonomischen Interessen der Schwerindustrie und den innen- und vor allem außenpolitischen Möglichkeiten muss man sich bewusst machen, wenn man die »europäischen Zielsetzungen« der Stresemann’schen (Wirtschafts-) Außenpolitik im Herbst 1926 untersucht.134 Worum ging es bei den »europäischen« Verhandlungen der westeuropä­ ischen Schwerindustrien? Die Verhandlungen, die schließlich im Herbst 1926 mit der Gründung der Internationalen Rohstahlgemeinschaft (IRG) beendet wurden, bedeuteten einen erfolgreichen Abschluss der gemeinsamen staatlichen und privatwirtschaftlichen Bemühungen, in Westeuropa eine intensive Kooperation auf dem Eisenund Stahlmarkt zustande zu bringen.135 Man hat das Abkommen als ein wirtschaftliches »Locarno« bezeichnet, in dem sich Franzosen und Deutsche (mit Belgien und Luxemburg) auf eine zukünftige Kooperation verständigten und beschlossen, ihre wirtschaftlichen Konflikte nicht mehr im Kampf gegeneinander, sondern im gemeinsamen Kompromiss miteinander zu suchen. Das konnte den europäischen Ideen Stresemanns tatsächlich einen zusätzlichen Schub verleihen.136 Konkret einigten sich die beteiligten Länder u. a. über die Einfuhr von Rohstahl nach Deutschland. Frankreich und Luxemburg erhielten eine festgeschriebene Exportquote. Ferner sah das Abkommen eine prozentuale Verteilung der Produktion von Rohstahl auf die in dem Abkommen beteiligten Län-

134 Dazu Wurm, Deutsche Frankreichpolitik, S. 153: »Der Abschluss [der IRG] war kein isoliertes Ereignis. Er ist im Zusammenhang mit anderen Kartellvereinbarungen, dem bereits erwähnten deutsch-französischen Handelsvertrag und der Verdichtung der beiderseitigen Handelsbeziehungen zu sehen«. 135 Zum Gesamtkomplex vgl. Wurm, Internationale Kartelle, darin u. a.: Nocken, International Cartels. 136 In diesem Sinne Gillingham.

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der vor. Deutschland erhielt dabei eine Quote von gut 43 Prozent. Es war also bei weitem der stärkste Partner. Der Pakt, dem später noch die Tschechoslowakei, Österreich, Ungarn und Jugoslawien beitraten, mauserte sich sehr bald zu einem europäischen Eisenkartell, obwohl Großbritannien außen vor blieb. Insofern entsprach diese Einigung der politischen Linie, wie sie ein Jahr zuvor im Locarno­pakt vereinbart worden war: Das deutsch-französische Verhältnis war jetzt auch in diesem Wirtschaftsbereich vertraglich fixiert. Durch die IRG wurden die gegenseitige Konkurrenz ausgeschaltet und einer allgemeinen Preiserhöhung der Weg geebnet. Fortab konnten sich die deutsche und die französische Schwerindustrie in ihren Interessen zu beiderseitigem Nutzen verbinden. Der französische Markt wurde weitgehend gegen (deutsche)  Importe abgesichert und Frankreich konnte ein erhebliches Eisenkontingent nach Deutschland exportierten. Als stärkster Partner innerhalb des Kartells, das 1926 bereits etwa 65 Prozent und 1927 bis 1930 etwa 70 Prozent Anteil am Weltstahlexport besaß, konnte die deutsche Schwerindustrie wiederum von einem nahezu monopolisierten Inlandsmarkt aus ihre internationale Position sukzessive verbessern. Nach außen hin schien diese Politik im Herbst 1926 also von europäischem Geist geleitet zu sein. Es schien sogar so, als würde das Bekenntnis zum Europagedanken bei Stresemann,137 »wie es etwa nahezu zeitgleich in seiner berühmten Völkerbundrede zum Ausdruck zu kommen schien«138, unterstützt und gefördert, durch die Einigung der westeuropäischen Eisenindustrien in der IRG vom Oktober 1926139, einer zukünftigen europäischen Montanunion, wie später euphorisch unterstellt wurde140: »Würden die Eisenindustrien Deutschlands, Frankreichs, Belgiens und Luxemburgs sich gemeinschaftlich organisieren, dann wäre das der Anfang einer die Landesgrenzen überschreitenden wirtschaftlichen Verständigung.«141 Ausdrücklich wurde bei dem Abschluss dieses Vertrages zudem, und das erhöhte seine außenpolitische Bedeutung, von allen Seiten auf die eminent politischen Implikationen hingewiesen: »Das Zollabkommen des Eisenpaktes und die damit eintretende Verkoppelung der Interessen der deutschen, französischen, belgischen und luxemburgischen Schwerindustrie wird zweifellos auch auf die politischen Beziehungen zwischen den beteiligten Ländern eine günstige Ent-

137 Göhring, S. 49. 138 Die Rede wurde am 10.9.1926 anlässlich der Aufnahmen Deutschlands in den Völkerbund gehalten. Kritisch dazu Maxelon, S. 219 f. 139 Vgl. dazu Pohl, Weimars Wirtschaft, S. 221 ff., und Kiersch. 140 Vgl. etwa Lochner, S. 76. 141 Vgl. den Entwurf eines Artikels für das »Berliner Tageblatt«, von Eisenlohr (AA) für Stresemann, 30.9.1926, PA AA , Handakten Ritter, HaPol MD Ritter, 1.; danach auch das folgende Zitat.

258  Politik in Deutschland und Europa wicklung haben und manche Reibungsflächen vermindern« –, so das Auswärtige Amt. Gleiches galt für den Abschluss des deutsch-französischen Handelsvertrages aus dem Jahre 1927. Insofern kann man durchaus von einer Kongruenz der Strategien auf diplomatischer und handelspolitischer Ebene sprechen. Das war gewissermaßen die offizielle Interpretation der IRG und ihr »europäisches Gesicht«, das voll im Einklang mit der modernen Außenpolitik Stresemanns zu stehen schien.142 Anders, und keineswegs »europäisch«, sieht die Gründung der IRG jedoch aus der Perspektive der deutschen wirtschaftlichen Vertragspartner aus.143 Die Ziele der rheinisch-westfälischen Industrie waren keineswegs mit den hier skizzierten politischen Vorstellungen kompatibel. Im Gegenteil, sie lassen an ihrer nationalen, ja man möchte fast sagen nationalistischen, Tendenz keinen Zweifel. Die Bemühungen der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie zielten vor allem auf ihren eigenen Vorteil ab  – und auf sonst nichts. »Die Internationale Rohstahlgemeinschaft bezweckt, die Hebung des Preisniveaus im Auslande […]. Sie will gleichzeitig die Rivalität der westeuropäischen eisenerzeugenden Länder und das Wettrüsten derselben dadurch ausschalten, dass sie auf eine Reihe von Jahren prozentual den heutigen Besitzstand festhält«, so mehr als eindeutig der Vertreter der Vereinigten Stahlwerke.144 Fritz Thyssen machte zugleich klar: »Wenn der Internationale Eisenpakt zustande käme, so würde man den Markt […] vollkommen in der Hand haben. Eine Steigerung der Er­ zeugung kommt nur für Deutschland und Belgien in Frage […]. Wenn Deutschland an höheren Preisen festhalte, so würde es […] auch zu diesen höheren Preisen seinen Anteil bekommen.«145 Die Industriellen betonten also ganz offen, worum es ihnen in der Hauptsache ging: »[Der Eisenpakt] ist nicht Selbstzweck, sondern lediglich Mittel zum Zweck, und zwar ausschließlich dafür […], eine unabhängige nationale Eisenwirtschaft wieder auf­ zurichten […]. Nach dem völligen Versagen unserer Außenpolitik [!, K. H. Pohl] […] blieb der Wirtschaft keine andere Möglichkeit, als auf dem Weg über internationale Verständigung sich die Voraussetzungen für ihre Betätigung zu schaffen, die vor dem Kriege in einer jahrzehntelangen organisatorischen Arbeit aufgebaut worden war. Es 142 Kritisch zur Bedeutung der IRG vor allem Wurm, Deutsche Frankreichpolitik, S. 154 ff. 143 Vgl. dazu M. Schulz, Deutschland, S. 103: »Auch die teilweise als Vorläufer der europäischen Integration angesehene Internationale Rohstahlgemeinschaft entwickelte sich in die Richtung eines durch Zollschutz gesicherten Gebietskartells mit Aufteilung der Märkte entlang nationaler Linien und gemeinsamer Verkaufsstellen an Drittländer«. 144 Ernst Poensgen (Vereinigte Stahlwerke) als Vertreter der Schwerindustrie in einer Besprechung zwischen RWiM (Curtius), eisenverarbeitender und eisenschaffender Industrie, 30.6.1926, HA GHH Oberhausen, 40000090/14. 145 Fritz Thyssen bei der Besprechung in Düsseldorf über die Preisgestaltung im Internationalen Eisenkartell, 2.9.1926, HA GHH Oberhausen, 400000/1.

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bilden […] derartige Vereinbarungen angesichts unserer politischen Schwäche für uns nur eine Phase auf dem Wege zur Wiedergewinnung unserer wirtschaftlichen und in Auswirkung dessen auch unserer politischen Freiheit.«146

Diese erklärt nationalistische Zielsetzung wurde ganz im Einklang mit dem Auswärtigen Amt verfolgt, wie Vögler von den Vereinigten Stahlwerken betonte147: »Der Eisenpakt kann nur bestehen bleiben, wenn Stresemann seinen politischen Pakt zustande bringt. Wir haben in dem Optimismus, daß wir einer gesunden Zeit entgegengehen, diesen Pakt geschlossen. Mit diesem Wirtschaftspakt wird auch der Stabilisierungsgang im Westen gefördert.« Um ihre ökonomischen Ziele zu erreichen, war die Schwerindustrie also bereit, vorübergehend alle Aktivitäten zu unterstützen, die im Sinne der Politik Stresemanns waren. Insofern ordnete sie sich in die Konzeption des Auswärtigen Amtes ein. Aus diesen Ausführungen wird aber zugleich deutlich, dass die kurzfristigen Ziele einer mitteleuropäischen Kooperation mittel- und langfristig von nationalen Gesichtspunkten überlagert wurden. Dies geschah offensichtlich in Einklang mit der Politik des Auswärtigen Amtes. Zu fragen wäre daher, ob diese nationale Zielsetzung ebenfalls für die Außenpolitik Stresemanns und seine diplomatischen Bemühungen galt. Dienten sie dazu, Deutschland eine Atempause zu verschaffen, um dann das Nationale mir großer Stärke in den Vordergrund stellen zu können? Die nationale Zielsetzung der IRG, und das erhärtet diese Vermutung, war nämlich kein Einzelfall. Im selben Licht muss das Projekt der Bildung der europäischen Zollunion beurteilt werden, einer auf den ersten Blick ebenfalls wahrhaft europäischen Angelegenheit.148 Diese Pläne wurden von Reichsregierung, Auswärtigem Amt und Industrie ebenfalls gemeinsam betrieben. Und wiederum primär mit dem Ziel der machtpolitischen Stärkung des Deutschen Reiches im europäischen Kräftefeld  – zumindest was die deutsche Schwerindustrie betraf. Grundsätzlich lag in einer mitteleuropäischen Zollunion ein gewisser Auto­ matismus, der zweifellos einer politischen Einigung Europas dienlich sein 146 Entwurf Blanks (GHH – Berlin) vom 22.11.1926 für Generaldirektor Reusch für dessen Rede vor Vertretern der Industrie und Landwirtschaft am 9.12.1926, HA GHH Oberhausen, NL Reusch 4001012024/3A. Die Ausführungen können insofern als repräsentativ für die gesamte Schwerindustrie gelten, als sie mit anderen Industriellen besprochen wurden und bestimmte grundsätzliche Positionen der gesamten Schwerindustrie gegenüber der Landwirtshaft betonten. 147 Vögler vor dem Industrieausschuss der DVP, 4.10.1926, zit. nach: Hannoverscher Anzeiger, 6.10.1926. 148 Vgl. dazu die Gutachten von Reichert (VDEStI), 31.3.1926; Klemme (GHH), 23.4.1926 und Schlenker/Hahn (Langnamverein), 30.4.1926, alle in GHH Oberhausen, 4000020/9.

260  Politik in Deutschland und Europa konnte, wie eine Analyse des Direktors Klemme für die Gutehoffnungshütte in Oberhausen (GHH) zeigte: »Eine Zollunion ist meines Erachtens in Europa nur denkbar, wenn sie als Vorläufer auch des reinen politischen Zusammenwirkens der Unionsländer aufgefasst wird. Die Zollunion muß das die Politik umschlingende Einigungsband sein. Wer das nicht will oder kann oder darf, muß den Gedanken aufgeben.«149 Insofern förderte, so der Industrielle, eine Zollunion die Tendenzen einer möglichen politischen europäischen Einigung. Gerade dieses Einigungsband aber war es, das die deutschen Schwerindustriellen störte. Dieses Band war für sie untragbar und viel zu weitgehend, kurzum: nicht gewollt. Unter Berücksichtigung der von Klemme angedeuteten mittelbaren politischen Folgen einer europäischen Zollunion und zugleich einer realistischen wirtschaftlichen Analyse – »eine Zollunion würde dem deutschen Eisenabsatz unmittelbar keine Besserung gegenüber dem jetzigen Zustand geben, sondern nur schwere Nachteile bringen«150 – kamen die wichtigen schwerindustriellen Verbände VDEStI und Langnamverein151 sowie führende Schwerindustrielle152 daher gemeinsam zu dem entscheidenden Ergebnis:153 »Vom Standpunkt der deutschen Eisenindustrie aus ist festzustellen, daß eine europäische Zollunion […] der deutschen Eisenindustrie ungeheuren Schaden bringen würde. Eine irgendwie geartete europäische Zollunion ist deshalb vom Standpunkt der deutschen eisenschaffenden Industrie abzulehnen.«

Den allgemeinen Lobeshymnen des Auswärtigen Amtes über die erfolgreiche Außenwirtschafts- und Handelspolitik und ihre »friedensstiftende« Entwicklung ist also beim Abschluss der IRG (und der Zollunionspolitik), wie auch bei der Locarnopolitik, mit einer gewissen Skepsis zu begegnen. Man kann dies nur auf kurze Sicht und nur höchst vorschnell als einen wirklichen Paradigmenwechsel hin zu einer liberalen, durch wirtschaftliche Vernunft geprägten (wirtschaftlichen) Außenpolitik der Kooperation statt der bisherigen Konfrontation interpretieren. Von europäischen Dimensionen ganz zu schweigen. Von Frieden und einem gemeinsamen Europa jenseits der nationalen Interessen war in der IRG jedenfalls keine Spur zu finden. Von einer europäischen Einigung, wie sie dann nach dem Zweiten Weltkrieg in Form der Montan-Union schließlich Realität wurde, konnte in der IRG jedenfalls keine Rede sein. Das wusste Stresemann. Ob er diese antieuropäische Spitze der Schwerindustrie bewusst förderte oder aber nur nicht verhindern konnte, muss offen bleiben. In jedem Fall aber lässt sich die Politik der Schwer149 Klemme, GHH, 23.4.1926, HA GHH Oberhausen, 4000020/9. 150 Gutachten Reichert (VDEStI), ebd. 151 Gutachten Hahn/Schlenker und Reichert, ebd. 152 Klemme, ebd. 153 Reichert, ebd.

Der Vertrag von Locarno, die IRG und die Rolle Polens 

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industrie nicht unter der Rubrik »europäisch« und »Verzicht auf Machtpolitik« führen und als Beleg für die friedlichen europäischen Intentionen der deutschen Wirtschaftsaußenpolitik insgesamt nutzen.

Der Vertrag von Locarno, die IRG und die Rolle Polens Jeder deutsche Außenpolitiker in der Weimarer Republik lebte mit der Vorgabe, den »Schandvertrag« von Versailles revidieren zu müssen. Jeder Politiker wäre hinweggefegt worden, der dieses Ziel nicht immer und zugleich mit dem entsprechenden Nachdruck verfolgt hätte.154 Unter den aus deutscher Sicht »schändlichsten Bestimmungen« des Versailler Vertrages gab es allerdings eine gewisse Hierarchie. Neben dem so genannten Kriegsschuldparagraphen,155 der aus der Sicht vieler Deutscher das Land ungerechtfertigt moralisch diffamierte, standen die »Besetzung des Landes durch fremde Besatzung« oder die faktische »Entwaffnung« der Republik, vor allem aber die Abtretung deutscher Gebiete an Belgien, Frankreich und Polen an erster Stelle einer Negativskala. Aber auch hier gab es Abstufungen. Die Abtretung von Elsass-Lothringen an Frankreich (und von Eupen-Malmedy an Belgien) wurde als sehr schmerzlich empfunden, war mit der Zeit aber vielleicht vermittelbar, wie der Vertrag von Locarno im Jahre 1925 bewies. Eine Mehrheit der Deutschen akzeptierte schließlich, wenngleich mit innerem und äußerem Protest, dass damit faktisch, wenn auch nicht juristisch, eine Rückgabe dieser Gebiete ins Deutsche Reich ausgeschlossen wurde. Für die an Polen abgetretenen Gebiete galt das jedoch nicht. Die (Ost-)Grenzen mussten unter allen Umständen wieder zu Gunsten Deutschlands verändert, durften niemals als endgültig anerkannt werden. Diesem Gebot konnte sich kein deutscher Außenminister entziehen, auch Gustav Stresemann nicht.156 Von besonderem Interesse ist daher, wie Stresemann mit dieser revisionistischen Stimmung umging und ob es ihm gelang, diese Problematik in seine moderne Strategie des Dialogs und des friedlichen Ausgleichs zu integrieren. Gerade dieses für eine friedliche und moderne Außenpolitik besonders schwierige Terrain kann daher gut belegen, ob und wieweit das neue Paradigma in der politischen Praxis trug. 154 Vgl. hierzu Pohl, Deutschland und Polen, S. 223–244. 155 § 231 VV: »Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben«. 156 Das ist Konsens in der internationalen Forschung; vgl. etwa Kolb, Die Weimarer Republik, S. 195 ff.

262  Politik in Deutschland und Europa Historiker wie der Franzose Christian Baechler, einer der besten Kenner der deutschen Außenpolitik in der Weimarer Republik, glauben nachweisen zu können, dass Stresemann in seiner Ostpolitik tatsächlich eine Wandlung vollzog, die sich mehr und mehr in das allgemeine liberale Konzept einer neuen, modernen Außenpolitik einfügen ließ.157 Stresemann habe sich, so Baechler, seit 1925 in seinen territorialen Forderungen gegenüber Polen im Laufe der Zeit mehr und mehr gemäßigt und diese Forderungen zum großen Teil  nur noch deswegen erhoben, weil er angesichts einer eindeutigen öffentlichen Meinung und des innenpolitischen Drucks nicht anders habe agieren können. Diese Position ist jedoch nicht unumstritten. So hat etwa der Nestor der Stresemann-Geschichtsschreibung, Henry A. Turner, mit Nachdruck betont, dass nach wie vor »Polen das größte Fragezeichen in der Einschätzung der Karriere Stresemanns« bilde.158 Turner bezweifelt, dass der allgemein konstatierte Paradigmenwechsel in der Außenpolitik Stresemanns auch für Polen und seine Grenzen galt. Im Folgenden geht es also weniger um die deutsche Westpolitik, die in der Regel paradigmatisch für die friedliche Zielsetzung der deutschen Außenpolitik steht,159sondern um die deutsche Ostpolitik und vor allem um die deutschen Ostgrenzen, also um Aspekte der Vereinbarungen von Locarno, die Polen betrafen, und die zum großen Teil im Vertragswerk bewusst nicht (oder nur teilweise) schriftlich fixiert worden waren. Die politische Zielsetzung gegenüber Polen wurde von Stresemann bereits kurz nach den Verhandlungen über den Vertrag von Locarno den wichtigsten Mitarbeitern des Amtes klar benannt. In seltener Offenheit unterrichtete der Staatssekretär, Carl von Schubert, Stresemanns Intimus,160 direkt nach der Ratifizierung des Vertrages (28. Oktober 1925) in einem streng geheimen Erlass alle deutschen Gesandt- und Botschaften über die aus seiner (und des Ministers) Sicht besonders wichtigen Ergebnisse dieser Konferenz.161 Bereits die dort vorgetragene scharfsinnige Analyse des Westpaktes relativierte den deutschen Verzicht auf Elsass-Lothringen und war im Grunde mit der Stresemann zugeschriebenen »modernen« Außenpolitik nur schwer zu vereinbaren: Dort hieß es u. a., »…daß Deutschland hinsichtlich seiner Westgren157 Baechler, Stresemann, S. 729 ff.; danach die folgenden Gedanken. 158 Turner, Überlegungen zu einer Biographie, S. 295. 159 Vgl. dazu Peter Krüger in seinem Standardwerk, Krüger, Außenpolitik. 160 Vgl. dazu Krüger, Carl von Schubert. 161 Ziel dieses Erlasses war es nicht, einer bewegten Öffentlichkeit nach dem Munde zu reden, sie zu beruhigen und politisch »gut Wetter« zu machen, sondern es ging allein darum, das wichtigste Personal des Auswärtigen Amtes sehr präzise und wirklichkeitsnah (ohne die bei öffentlichen Äußerungen immer notwendigen Beschönigungen) über die genauen Zielsetzungen der Spitze des Hauses korrekt zu informieren. Es handelt sich hier also um eine Quelle von höchster Authentizität und Aussagekraft.

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zen keine andere Verpflichtung übernimmt, als auf jeden Angriffskrieg und sonstige aggressiven Akte zu verzichten. Die friedliche Entwicklung, insbesondere das Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes der Völker, wird dadurch in keiner Weise berührt«.162 Schlupflöcher, um den Verzicht zu umgehen, schienen Stresemann also gegeben, die Hoffnung auf eine mögliche Revision der deutschen Westgrenze konnte wach gehalten werden. Viel deutlicher wurden die Ausführungen jedoch, als es um die deutschen Ostgrenzen ging. In der wahrscheinlich vom Rechtsexperten des Auswärtigen Amtes, von Ministerialdirektor Friedrich Gaus, verfassten Anlage des Erlasses wurden dabei vor allem die in dem Vertrag nicht ausdrücklich genannten, aber genauso wichtigen indirekten Konsequenzen von Locarno hervorgehoben. In nicht zu überbietender Klarheit hieß es dort: »Neben diesen konkreten Vorteilen [betreffend den Garantiepakt im Westen] stehen aber Vorteile von viel weitergehender allgemein-politischer Bedeutung. Die grundsätzlich verschiedene Behandlung der deutschen West- und Ostgrenzen in dem Vertragswerk führt notwendig dazu, daß es künftig deutsche Grenzen erster und zweiter Klasse gibt. Die Revisibilität der Ostgrenzen ist dadurch sozusagen Gegenstand der internationalen Rechtsordnung geworden.«

Unverhohlener konnte man nicht aussprechen, was man auf deutscher Seite von der Grenzziehung zwischen Deutschland und Polen hielt: Stresemanns Amt interpretierte den Vertrag eindeutig als eine Entscheidung, die zwar nur indirekt, aber deswegen nicht weniger bedeutungsvoll, die polnische Westgrenze »verunsichert«, wenn nicht gar zukünftig in Frage gestellt hatte. Es verstand damit den Vertrag von Locarno in seiner »allgemein-politischen« Bedeutung als eine Art Freibrief, den Bestand dieser Grenzen zukünftig anzweifeln und untergraben zu dürfen. Konsequenz: Die Ostgrenzen waren fortab viel leichter zu revidieren als die deutschen Westgrenzen. Angesichts dieser Ausgangslage half es der jungen, 1918 proklamierten, Republik Polen wenig, dass Deutschland mit ihr und mit der von den Garantieverträgen ebenfalls ausgeschlossenen Tschechoslowakei gleichfalls Schiedsverträge abgeschlossen hatte. Denn, so das Auswärtige Amt: »Die Schiedsverträge mit Polen und der Tschechoslowakei enthalten in keiner Weise eine Anerkennung der Ostgrenzen. Es handelt sich um Schiedsverträge ganz gewöhnlicher Art«. Sie standen einer zukünftigen Grenzrevision nicht im Wege. Geradezu triumphierend wurde zudem von deutscher Seite betont, dass der ursprüngliche Plan einer besonderen Garantie Frankreichs für die östlichen Schiedsverträge in Lo-

162 Anlage zu den Ausführungen von StS. von Schubert, 28.10.1925, PAA AA , Ges. Bern, Rep. Sicherheitsfrage, Bd.  472/3; danach auch das folgende Zitat und die folgenden Gedanken.

264  Politik in Deutschland und Europa carno vollständig gescheitert war. Frankreich konnte sich, so die Argumentation, nach Locarno nicht mehr zum Hüter der polnischen Grenze aufschwingen. Der französische Kenner der deutschen Außenpolitik, Jacques Bariéty, konstatiert zu Recht: »Stresemann wußte durch seine intensive diplomatische Aktivität […] eine Serie von Konzessionen zu erreichen, die eine Wiederaufnahme einer bilateralen Verbindung zwischen Frankreich und Polen gegenüber einem späteren Revisionismus im Osten juristisch und materiell unmöglich machten und diesem damit gleichzeitig neue Chancen eröffneten«.163

Den Todesstoß erhielt die Wertigkeit der deutsch-polnischen Grenzen schließlich durch die ausdrückliche Weigerung Großbritanniens, diese Grenzen zu garantieren. Energisch betonte das Foreign Office, dass es einzig und allein bereit sei, die deutsch-französische Grenze zu garantieren, mehr aber nicht. Fazit des Auswärtigen Amtes: »Als Hauptfolge des Westpaktes [Locarno] dürfte die Tatsache zu buchen sein, daß sowohl England als auch Italien aus dem bisherigen Allianzverhältnis mit Frankreich gelöst werden«. Nur schwer dürften sich damit Intentionen belegen lassen, die auf eine europäische und auf alles Nationale verzichtende Zielsetzung der Stresemann’schen Ostpolitik hinweisen.164 Aber auch atmosphärisch drängten die Verträge Polen ins Abseits: Das Land wurde in Zukunft dem allgemeinen, ideellen Schutz, der durch dieses Vertragswerk geschaffen wurde, nicht teilhaftig. Es stand deutlich schlechter da als vorher. Die polnische Seite war sich darüber schnell im Klaren, und nicht zufällig fiel in der dortigen Presse nach der Konferenz von Locarno das schicksalsschwere Wort von der »bevorstehenden vierten Teilung Polens«.165 Ein erster Schritt in diese befürchtete Richtung bestand bereits darin, dass Deutschland im Zuge von Locarno wieder in den Kreis der europäischen Großmächte eintrat, während Polen aus diesem Kreis ausschied.166 Deutschland gelang es nämlich im Herbst 1926, gegen den ausdrücklichen Willen Frankreichs und Großbritanniens, Polen einen ständigen Sitz im Völkerbundrat zu verweigern, während es selber bei seinem Eintritt gleichberechtigtes Ratsmitglied 163 Bariéty, Die französisch-polnische ›Allianz‹, S. 91. 164 Vgl. demgegenüber Krüger, Locarno, S.  26: »Locarno schuf tatsächlich die Grundlage eines europäischen Sicherheitssystems, das Polen und die Tschechoslowakei einschloß und trotz ihrer Schlechterstellung im Vergleich mit Frankreich und Belgien ihre Position verbesserte […]. Nur eine ziemlich formalistische und oberflächliche Argumentation kann zu dem Schluß kommen, die in Locarno verwirklichte Sicherheitsvorstellung habe das Sicherheitssystem der Friedensverträge und des Völkerbunds entscheidend geschwächt und Polens Gefährdung dadurch erhöht«. 165 Bericht des Deutschen Gesandten in Warschau (Rauscher) vom 30.12.1925, zit. nach: Höltje, S.  210. Vgl. auch Arnold, Stresemann, S.  103, der auf dieses Zitat ebenfalls hinweist. 166 Megerle, Deutsche Außenpolitik 1925, S. 334.

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wurde. Nach Locarno musste sich Polen damit zu Recht deutschem Druck in besonderem Maße ausgesetzt fühlen. Die Ergebnisse der Konferenz von Locarno zeigen also, dass es Stresemann zwar darauf ankam, eine Stabilisierung der Beziehungen zu den westlichen Nachbarn Frankreich und Belgien anzustreben. Darüber hinaus war der Wunsch aber genauso virulent, genau dies im Verhältnis zu Polen zu vermeiden. Die Offenheit der deutsch-polnischen Grenzfrage sollte durch Locarno international akzeptiert werden. »Es gab für Polen keinen Nichtangriffspakt, keinen ›restlosen‹ Schiedsvertrag. Und selbst die vorletzte von Frankreich zugunsten Polens eigenommene Position, die Forderung Garantiemacht für den Schiedsvertrag zu werden, mußte es in Locarno noch räumen«.167 Daher kann der Locarnopakt nicht nur als ein Dokument der Völkerverständigung zwischen Deutschland und Frankreich interpretiert, sondern er muss zugleich auch als ein gegen Polen gerichtetes Abkommen, mit der indirekten Aufforderung zur Revision der deutschen Ostgrenzen, verstanden werden. Er ist daher nicht nur ein Europa stabilisierender Faktor gewesen, sondern er hat zugleich destabilisierende Tendenzen besessen.168 Diese kritische Bewertung der Verträge gilt selbst dann, wenn man berücksichtigt, dass Deutschland in naher Zukunft kaum oder gar nicht in der Lage sein würde, eine aktive (möglicherweise auch militärische)  Grenzrevision im Osten zu verwirklichen. Entscheidend war vielmehr, dass die Option dafür nun international akzeptiert worden war. Schon 1976 stellte Klaus Megerle daher als deutsche Zielsetzungen für die Verhandlungen von Locarno fest: »Der Anspruch auf Revision musste voll gewahrt, der Ansatz zur Revision geschaffen, die praktische Revision jedoch noch vertagt werden«169. Spekulativ wäre es jedoch, aus den Ergebnissen der Konferenz kurzschlüssig folgern zu wollen, Stresemann habe die gewaltsame militärische Revision der Grenzen bewusst (und bald) ins Auge gefasst. Dass dies gegenwärtig und in naher Zukunft nicht möglich war, wusste der Außenminister viel besser als die nationalistischen Propagandisten in Deutschland, die derartige Aktivitäten beständig von ihm forderten. Zutreffend ist allerdings auch, dass mit den Verträgen von Locarno praktisch alle Optionen, selbst die, die im Augenblick ganz 167 Lippelt, S. 337. 168 Anderer Meinung ist Peter Krüger, der die wissenschaftliche Diskussion über Stresemann und seine Außenpolitik bis heute maßgeblich beeinflusst hat. Vgl. Krüger, Der deutsch-polnische Schiedsvertrag, S. 610: »Polens Westgrenze und seine gesamte staatliche Existenz waren sicherer geworden. Auch wenn der Rheinpakt die deutsch-fran­ zösische Grenze stärker sicherte, so läßt sich doch die Auffassung nicht länger halten, dass Deutschland durch die Locarno-Verträge, durch den Unterschied in der Behandlung der Ost- und Westgrenze den Status Polens habe unsicherer machen oder zum ›aktiven Revisionismus‹ in dieser Richtung habe ansetzen wollen«. 169 Megerle, Danzig, S. 155.

266  Politik in Deutschland und Europa unrealistisch scheinen mochten, offen gehalten wurden. Das aber war kein Zufall, sondern war bewusste Stresemann’sche Strategie. Die Ebene der Wirtschaftsaußenpolitik: die IRG Neben den diplomatischen Bemühungen und zugleich mit ihnen verwoben, spielten die Entwicklungen auf wirtschaftlicher Ebene in diesem Fall ebenfalls eine bedeutende Rolle. Sie tangierten Polen scheinbar erneut nicht direkt, darin ähnelten sie den politischen Verhandlungen von Locarno. Indirekt aber berührten sie das Land erneut erheblich. Schon auf den ersten Blick zeigt sich die Parallelität der Verhandlungen auf diplomatischer Ebene (Locarno und Völkerbund) und auf wirtschaftlicher Ebene (Internationale Rohstahlgemeinschaft und Handelsvertragsverhandlungen).170 Bei der deutschen (Wirtschafts-)Ostpolitik wurde ebenfalls in alle Aktionen eine indirekte Spitze gegen Polen eingebaut. Das gilt sowohl für die formalen als auch für die inhaltlichen Aspekte der IRG -Verträge, die große Ähnlichkeiten mit dem Vertrag von Locarno aufweisen.171 Für die IRG galt, was schon für den Vertrag von Locarno wesentlich war: Wichtig war nicht nur, wer dem Vertrag beitrat und an seinen Segnungen partizipierte, sondern auch, wer ihm nicht beitrat oder ihm nicht beitreten durfte – und daher von seinen Segnungen nicht profitieren konnte. Von Anfang an war klar, dass der IRG das Ziel einer Erweiterung zugrunde lag. Nur dann konnte der (europäische) Markt stabilisiert und zugleich von den Mitgliedstaaten dominiert werden. Die deutsche Seite wollte ihre Interessen allerdings durch den Beitritt weiterer mitteleuropäischer Länder keinesfalls gefährden. Sie versuchte daher, die Beitrittskandidaten zwar in das System der IRG zu integrieren, dabei aber die eigene Dominanz zu wahren. Die polnische Seite hatte die Gefahr durchaus erkannt und wusste, welche Bedeutung der Pakt besaß, und gegen wen er sich indirekt richten konnte: »In politischer Hinsicht bedeutet es [das Kartell der IRG] die Grundsteinlegung der deutsch-französischen Entente. Die Harmonisierung der Interessen zweier so großer und politisch einflußreicher Industrien, wie die Eisenindustrie Deutschlands und Frankreichs, beseitigt die hauptsächlichsten Quellen des bisherigen Wettbewerbs, also auch den gegenseitigen Haß beider Länder. Frankreich und Deutschland, von nun an von einem Stahl- und Eisengürtel zusammengeschlossen, können einerseits bedeutend leichter einen Ausgleich ihrer politischen Differenzen finden, andererseits eine Ausbreitung der noch nicht ausgeglichenen Differenzen verhindern. […] 170 Vgl. den AV von MD Ritter, 2.7.1926, PA AA , R 28918 und das Schreiben von RM Kanitz (DNVP) an Stresemann, 23.10.1925, PA AA , R 29110. 171 Vgl. zum Folgenden Pohl, Deutschland und Polen, S. 235 ff.

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Deshalb wird auch früher oder später die polnische Eisenindustrie gezwungen sein, einen Weg zu dem deutsch-französischen Kartell zu suchen.«172

Das aber dauerte, mit dem Ergebnis, dass Polen Ende der 1920er Jahre schließlich der alleinige Außenseiter war und von allen Mitgliedern der IRG als Störenfried empfunden wurde. Bei den Eisenverhandlungen zeichneten sich damit, wie beim Abschluss des Vertrages von Locarno, ein »geordnetes« und vertraglich geregeltes Verhältnis im Westen auf der einen Seite und ein gestörter, offener Zustand im Osten auf der anderen Seite ab. In beiden Fällen war Polen der Leidtragende. Die Gründe für den Ausschluss Polens waren politischer und ökonomischer Natur. Polen konnte als wichtiger Rohstahlproduzent mit seiner früher zu Deutschland gehörenden Schwerindustrie durchaus die geplanten Preiserhöhungen und Wettbewerbsbeschränkungen der IRG auf dem europäischen Eisenmarkt verhindern. Das sprach an sich für einen Beitritt des Landes aus der Sicht der IRG. Großbritannien kam als »Störenfried« aufgrund seiner hohen Produktionskosten nicht in Frage. Zudem war sein Interesse an einem ruinösen europäischen Wettbewerb wegen seiner Konzentration auf außereuropäische Absatzmärkte relativ gering. Die amerikanische Konkurrenz wiederum stellte auf Grund der hohen Transportkosten vorläufig noch keine Gefahr dar und selbst mit der sehr konkurrenzfähigen schwedischen Eisenindustrie waren von der IRG freundschaftliche Verhandlungen aufgenommen worden, so dass die Preisabsprachen innerhalb der IRG von dort aus nicht gefährdet wurden. Einzig das Problem Polen war also offen. Allerdings  – und das schwächte dessen Position erheblich – blieb das Land nach dem Beitritt der tschechischen Eisenproduzenten zur IRG isoliert. Ein zusätzliches Problem war, dass das polnische Hüttenwesen in hohem Maße auf die Verarbeitung von Eisen aus Deutschland angewiesen war. Nach den Bestimmungen der Genfer Konvention konnte Deutschland jedoch seit Juni 1927 die Ausfuhr von altem Eisen nach Polen einstellen. Das Land war seitdem also, wie Frankreich im Januar 1925, auf deutsches Wohlwollen angewiesen und stand zugleich der geballten Konkurrenz des westeuropäischen Kartells, nicht nur Deutschlands, gegenüber.173 Ob Polen eine Umrüstung auf russisches oder schwedisches Erz, angesichts der Feindschaft zu Russland und der Nähe Schwedens zum Kartell, gelingen konnte, war aber höchst fraglich. Die polnische Eisenindustrie war insofern gezwungen, unbedingt einen Weg zum Kartell zu suchen, und zwar unter Bedingungen, die im Wesentlichen das Kartell bestimmte. Das erforderte jedoch 172 Bericht der polnischen Zeitung »Nowa Reforma« über die IRG , 30.09.1926, Anlage zum Bericht des Deutschen Gesandten Rauscher vom 9.10.1926, PA AA , R 117980. 173 Vgl. dazu den Bericht der »Nowa Reforma« (Rauscher, 9.10.1925, PA AA R 117980, Anlage).

268  Politik in Deutschland und Europa einen vorherigen Ausgleich der zwischen Deutschland und Polen bestehenden Differenzen. Genau dies entsprach den Intentionen des Auswärtigen Amtes. Polen befand sich also in der Zange zwischen den Interessen von IRG (einschließlich der französischen Industriellen), den noch massiveren deutschen wirtschaftlichen und politischen Wünschen sowie der eigenen prekären Lage. Dabei kippte die Stimmung bei den wirtschaftlichen Verhandlungspartnern in der IRG insgesamt, je länger der Schwebezustand dauerte, immer stärker um, richtete sich mehr und mehr gegen Polen. Schließlich musste mit Polen ein neues Land aufgenommen werden, das eine Reihe von Forderungen an die IRG stellen würde und damit die Privilegien der anderen Länder, auch Frankreichs, gefährden konnte. Die deutsche, polenfeindliche Einstellung wurde durch diese Entwicklung erheblich aufgewertet. Die deutsche Delegation konnte daher bei den Verhandlungen über einen polnischen Beitritt zur IRG recht barsch erklären, nur dann verhandeln zu wollen, wenn Polen eine Reihe von Vorbedingungen erfüllen würde. In dieser Haltung bestärkte sie die deutsche Regierung, die die Beitrittsverhandlungen zur IRG wiederum für ihre Politik als Druckmittel, sowie als Waffe bei den laufenden Handelsvertragsverhandlungen mit dem östlichen Nachbarn nutzen wollte. Die Reichsregierung verlangte daher von der deutschen Schwerindustrie, dass von ihr »Sorge dafür getragen wird, dass die Verhandlungen nicht ohne das Einverständnis der deutschen Regierung zu einem endgültigen Ergebnis gebracht werden«.174 Die starke Position der deutschen Schwerindustrie innerhalb der IRG sowie die wirtschaftliche Zielsetzung des Kartells sollten also als Waffe der deutschen Außenpolitik im Kampf um die (ökonomische) Schwächung der Stellung Polens herhalten.175 Das Scheitern des polnischen Eintritts in die IRG war unter diesen Umständen geradezu vorprogrammiert. Polen blieb erneut »draußen«, und dies nicht nur auf Wunsch der deutschen Schwerindustrie, sondern indirekt auch auf Wunsch des Auswärtigen Amtes. In diesem Falle dominierte in der Strategie Stresemanns eine Politik der Exklusion, die Polen bewusst ausschaltete, wenn es nicht bereit war, sich den deutschen Wünschen unterzuordnen.176 174 MD Posse an Poensgen, 9.12.1927, in: ADAP IV, Dok. 170, S. 367. Vgl. dazu auch das Protokoll der Sitzung der IRG vom 8. und 9.6.1927 (Aufzeichnung Poensgen), in: ADAP V, Dok. 220, S. 500 f. 175 Vgl. hierzu immer noch lesenswert, Puchert. 176 Den »schwarzen Peter« erhielt Polen zugespielt, das zu hohe Quotenforderungen gestellt habe, Kiersch, S. 20. Vgl. dazu Stresemanns Pressebeitrag zum Abschluss der IRG , o. D., PA AA , R. 105624: »[…] Denn hier ist auf einem anderen Gebiet ein Gedanke Wirklichkeit geworden, für den in der Politik mich einzusetzen ich als meine Lebensaufgabe betrachte […]. Was mir an dem internationalen Eisenpakt am besten gefällt, ist die Tatsache, dass er wirklich international sein will. Das kommt in der Bestimmung zum Ausdruck, dass die Eisenindustrie jedes Landes ihm beitreten kann […]«.

Der Vertrag von Locarno, die IRG und die Rolle Polens 

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Diese Wünsche waren aber, wie der deutsche Gesandte in Warschau, der Sozialdemokrat Ulrich Rauscher, immer wieder betonte, für Polen inakzeptabel und nur mit massiver Gewalt umzusetzen: Es ist »meine feste Überzeugung«, so betonte er, »dass territoriale Veränderungen in der deutschen Ostgrenze niemals auf friedlichem, sondern ausschließlich auf gewaltsamen Wege sich vollziehen können«177. Zumindest eine weitere Option für eine solche Zielsetzung war nun aber durch die Politik der IRG eröffnet worden. Genau darin, Polen massiv unter Druck zu setzen, bestand während der Weimarer Republik ein Hauptziel der deutschen Außenpolitik, selbst wenn diese in der Ära Stresemann nicht auf die Option eines Krieges setzte. Nur wenn man Polen nicht zu Europa zählt, kann man daher davon sprechen, dass Stresemann eine europäische Friedens- und Sicherheitspolitik betrieben und bewusst auf Machtpolitik verzichtet habe. Stresemanns Strategie gegenüber Polen unterschied sich daher auf allen­ Ebenen von der Frankreichpolitik. Dort war er bereit, die feste Einbindung in das (west-)europäische Konzert zumindest (vorläufig) in Kauf zu nehmen und insofern (vorläufig) auf Machtpolitik zu verzichten. Er wollte damit möglicherweise, wie Peter Krüger betont, »Deutschland schon um seiner selbst willen, um seiner Beruhigung und Stabilisierung, seiner eigenen und der Sicherheit der anderen Staaten willen in Europa verankern«.178 Vielleicht sah er darin wirklich den vorläufig besten und allein weiterführenden Weg, deutsche Interessen zumindest in absehbarer Zeit sinnvoll zu vertreten – was aber keineswegs sicher erscheint. Für die Politik gegenüber Polen und die von Stresemann, wahrscheinlich nicht ohne Vorbehalte, unterstützte Politik der deutschen Schwerindustrie gegenüber Ost und West trifft eine solche Zielsetzung jedoch definitiv nicht zu. Das »Europäische« und »Ausgleichende« hatte in den Plänen der Schwerindustrie weder im Westen und schon gar nicht im Osten etwas zu suchen. Die Schwerindustrie wollte Stärke nicht als Mitglied im europäischen Konzert, sondern durch eigene und unabhängige nationale Größe erreichen. Das wusste der deutsche Außenminister – und opponierte nicht dagegen. Für die Ostpolitik des Auswärtigen Amtes und zugleich der deutschen Schwerindustrie (auch im Kontext der IRG) kann man daher nicht davon sprechen, eine friedliche und europäische Zielsetzung forciert zu haben. Nirgendwo war der Wunsch zu erkennen, Polen als gleichberechtigten Partner zu integrieren und dessen Grenzen festschreiben zu wollen. Soweit ging das »Europäische« in der modernen Stresemann’schen Politik nicht. Allein jedoch den westlichen »Teilbereich« einer Politik in Angriff genommen zu haben, die (auch) auf Aus177 Bericht Rauschers vom 13.2.1925 über die deutsche Sicherheitsinitiative, PA AA , R 290084. 178 Krüger, Zur europäischen Dimension, S. 227 f.

270  Politik in Deutschland und Europa gleich setzte, ist als eine große Leistung Stresemanns zu bezeichnen. Sie macht ihn aus heutiger Sicht sicherlich zu Recht zu einem hervorragenden Außen­ politiker und Staatsmann.

Der Verständigungspolitiker und sein Doppelleben: Pabst, Orgesch, Wilhelm und Co. Die Nation, ihre Größe und ihr Bestand haben Stresemanns Politik Zeit seines Lebens sowohl im Denken als auch im Handeln bestimmt. Das gilt gleicher­ maßen für das Kaiserreich wie für die Weimarer »Stresemann-Ära«. In dem weiten Herzen des »Grenzgängers« und in der von ihm propagierten Volksgemeinschaft hatten die bürgerlich-liberale und kaiserliche Welt, sowie Militarismus und nationalistischer Heroismus, allerdings nicht Kommunismus und Atheismus, ihren Platz.179 Ähnliche Offenheit gilt für das Nebeneinander von Deutschland und Europa, für Verständigung und Machtpolitik, für die Kooperation mit gemäßigt links und rechts, sowie für seine Bindungen an das unterbürgerliche wie auch das bürgerliche Milieu. Dass es angesichts dieser im Einzelnen schwer zu vereinbarenden Gegensätze zu erheblichen Spannungen kommen musste, scheint geradezu unvermeidbar gewesen zu sein. Ambivalenz und Hybridität kennzeichnen Stresemanns Leben und seine Politik daher aus nahezu jeder Perspektive. Dies trifft auch für seine Persönlichkeit zu. Hier oszillierte er zwischen den beiden einander scheinbar ausschließenden Paradigmen, die die neue Geschlechtergeschichte für das Kaiserreich und die Weimarer Republik herausgearbeitet hat.180 Auf der einen Seite akzeptierte, ja bewunderte er Männer- und Geheimbünde, die »als Brutstätten charismatischer Männerhelden« galten.181 Er suchte dort eine geradezu »libidinöse Bindung der Bundesbrüder, Bundesgenossen, der ›Freunde‹182«. In diesen Männerbundkulturen dominierten eindeutig das Führer-Gefolgschaft-Prinzip, Befehl und Gehorsam, kurzum, das antibürgerliche, militärische Element. Auf der anderen Seite opponierte er gegen solche Hierarchien, wollte bürgerliche Freiheiten, Liberalität. Es gelang ihm immer wieder, die im Prinzip antibürgerlichen und antidemokratischen Grundmuster der Männerbünde mit seinem bürgerlichen Lebensentwurf zu verbinden. Zum einen unterwanderte er etwa deren Strukturen oder aber er modifizierte und flachte die männer­ bündischen Rituale deutlich ab. Zum anderen unterlief er sie häufig dadurch, 179 180 181 182

Schilling, S. 19. Kühne, Männergeschichte. Ebd., S. 18. Sombart, S. 139.

Der Verständigungspolitiker und sein Doppelleben 

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dass er sich ihrer bediente, um sich selber an die Spitze zu setzen und/oder die Strukturen umzufunktionieren, ohne allerdings dafür  – das ist bemerkenswert – neue demokratische Führungsstrukturen zu schaffen. Stresemann war auch kein Krieger-, kein Soldatentyp. Er versuchte diesen von ihm als persönliches Defizit empfundenen Zustand aber durch besondere, tiefe Bewunderung kriegerischer Stärke und kriegerischer Männer zu kompensieren, bis hin zu einer geheimen Förderung ihrer gesetzwidrigen militä­rischen Aktivitäten. Wenn Klaus Theweleit die übersteigerte Virilität der Freikorpsmänner psychoanalytisch als Ausdruck von eigener Schwäche und nicht als Kompensation für den verlorenen Krieg deutet,183 gilt dies auch für Strese­mann. Seine Männlichkeitsdemonstrationen resultierten vielfach aus der »Nichtteilnahme« am »großen vaterländischen Krieg«, die einem wirklichen »Mann« gebührt hätte. Zugleich weigerte er sich allerdings standhaft, den männlichen Körperkult, der in Weimarer Zeit eine so wichtige Rolle spielte, unkritisch zu hofieren, und vor allem, ihn dem »Geistigen« überzuordnen: »Mir scheint es notwendig, auch wieder auf die Gefahr hin, weiten Massen zu miss­ fallen, einmal ein Wort davon zu sagen, dass das Geistige gegenüber dem Körperlichen nicht weiter so zurücktreten darf, wie es jetzt [1927] der Fall ist. Wir sind Freunde jeder körperlichen Ertüchtigung. Aber […] die Aristokratie des Geistes [kann] nicht durch die Aristokratie des Bizeps ersetzt werden.«184

Ähnliches gilt für seine politische Tätigkeit, wo er nach rechts und links, zwischen Monarchie und Demokratie hin und her pendeln konnte, allerdings mit einer latenten Tendenz nach rechts. Wenn der rechte Putschist Waldemar Pabst 1926 die »mannhafte Art« lobte, mit der Stresemann die Interessen Tirols verteidigte,185 und deshalb seine Politik ausdrücklich wegen der »Ausgewogenheit« hervorhob, fühlte sich Stresemann von seinen rechten »Freunden« in tiefster Seele verstanden.186 Dieses Lob war ihm wahrscheinlich wichtiger als das der politischen Linken, obwohl diese, und nicht das rechte Lager, seine Verständigungspolitik (mit)trug, für die er international geehrt wurde. Allerdings: Ganz bestimmen lassen wollte er seine Politik weder von links, noch von seinen rechten Freunden.187 183 Theweleit, S. 13 ff. 184 Stresemann an Staatssekretär Lewald, Deutscher Reichsausschuss für Leibesübungen, 10.1.1927, PA AA , NL Stresemann 48. 185 Pabst an Stresemann, 11.2.1926, PA AA , R 27960. 186 Interview des »Neuen Wiener Journals« (1.3.1927, Nr. 11): »Wir können uns auch nicht den Luxus eines Kampfes um eine Staatsform leisten. Wir brauchen nur Ruhe und müssen alle die Bürger zusammenzufassen trachten, die, ebenso wie wir, die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung wollen«. 187 Vgl. sein Schreiben an den Generalsekretär der DVP in Sachsen, Dieckmann, vom 25.8.1926, PA AA , NL Stresemann 96.

272  Politik in Deutschland und Europa Überall kann man also Stresemanns Ambivalenz mit Händen greifen und zugleich seinen Versuch, schwer Vereinbares miteinander zu vereinen. Überall wird es sichtbar, sein Grenzgängertum, das ihn zum einen zwar offen machte für die verschiedensten Einflüsse, ihm aber zugleich nicht den festen Halt gab, den auch er brauchte. Wie weit seine Selbstzuschreibung (und die Meinung der Mehrheit seiner Biografen) zutrifft, dass er weitgehend unabhängig und offen agierte, wie weit seine inneren Vorbehalte gegenüber den bewunderten »Männern von rechts« reichten, kurzum: wie sein Demokratieverständnis in diesem Kontext aussah, soll an einigen Beispielen untersucht werden. Major Pabst Waldemar Pabst (1881–1970)188, Berufsoffizier und strahlender Kriegsheld, besonders erfolgreich als Generalstabsoffizier im Ersten Weltkrieg, wurde nach der Revolution von 1918/19 (faktisch) Kommandeur der noch intakten GardeKavallerie-Schützen-Division, »die stärkste konterrevolutionäre militärische Formation« dieser Zeit.189. »Eitel, ehrgeizig und machthungrig, war [er] eine der berüchtigtsten Figuren der Revolution von 1918/19«.190 Sein pathologischer Hass auf die Revolution, die Sozialisten, die Republik und die parlamentarische Demokratie war reichsweit bekannt. Das hielt den sozialdemokratischen Reichswehrminister Gustav Noske allerdings nicht davon ab, mit ihm und seinen Leuten zu kooperieren und sie im Kampf gegen die Volksmarine­division einzusetzen.191 Ähnliche Tatkraft zeigte Pabst bei der Beseitigung der beiden führenden Kommunisten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Bei ihrer Ermordung stellte er die Weichen, ordnete mit anderen Offizieren die Tat an, arrangierte das Szenario, instruierte und deckte die Täter, ohne jemals dafür bestraft zu werden.192 188 Zu dem Komplex Stresemann-Pabst vor allem Gietinger, Der Konterrevolutionär, insbesondere S. 231 ff. Gietinger hat sich fast als einziger (Journalist) jahrelang mit dieser Problematik beschäftigt. Ältere Literatur: Gumbel, Verräter. 189 Hierzu und zum Folgenden: Gietinger, Nachträge, und ders., Eine Leiche im Landwehrkanal. 190 Gietinger, Nachträge, S. 324 und ders., Der Konterrevolutionär, S. 202. 191 Hotzel, S. 34, darin Waldemar Pabst: »Wir aber waren nicht gewillt, mit jenen Gesellen zu verhandeln. Verräter waren sie in unseren Augen, Verräter am Heiligsten, am Vaterland; Rebellen, nicht um Ehre, sondern aus niedrigsten Instinkten des Untermenschentums [!, K. H. Pohl] heraus, aus reiner Lust am Morden, Plündern und Räubern. […] Solchem Gesindel gegenüber gab es kein Verhandeln, sondern nur Handeln«. An an­derer Stelle (S. 42) spricht Pabst gar von »vertierten Gestalten«, wenn er die Revolutionäre meint. 192 Vgl. hierzu Gumbel, Verräter, S. 43 ff. In der Bundesrepublik ist Pabst für seine Beihilfen zum vielfachen Mord niemals zur Rechenschaft gezogen worden. Vgl. dazu Gie­tinger, Nachträge, und ders., Eine Leiche im Landwehrkanal.

Der Verständigungspolitiker und sein Doppelleben 

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Der temperamentvolle, arbeitswütige, rücksichtslose Pabst übernahm, damit nicht genug, auch die Vorbereitung des Staatstreiches von Kapp und General Lüttwitz.193 Als faktischer Chef der »Nationalen Vereinigung« hatte er alle Fäden in der Hand, konnte jedoch dem Putsch nicht zum endgültigen Erfolg verhelfen.194 Er flüchtete nach dessen Scheitern erst nach Ungarn und dann 1921 nach Österreich.195 Als Freund der Republik, als aufrechten Demokraten wird man Pabst beim besten Willen nicht bezeichnen können. Das alles hat Stresemann jedoch nicht gestört. Er unterhielt zu Pabst, sowie zum Putschgeneral Lüttwitz und dem Forstrat Escherich, dem Initiator der bayrischen Heimwehr (»Orgesch«), seit Ende des Krieges bis zu seinem Tode sehr enge, fast freundschaftliche Beziehungen. Dabei wusste er, dass er es nicht mit Demokraten zu tun hatte, sondern mit Reaktionären und Todfeinden der Weimarer Verfassung – und nicht zuletzt mit Mördern, deren Organisationen selbst ihm nach dem Leben trachteten. Trotzdem aber hat er immer wieder den Kontakt zu Pabst, wenn auch höchst konspirativ, gesucht.196 Zu linken Sozial­ demokraten, etwa in seinem »Heimatland« Sachsen, sind ähnliche Beziehungen nicht bekannt. Ein wichtiger Grund für die Kooperation, zu der der zeitweise steckbrieflich gesuchte Pabst häufig zum gemeinsamen »Gedankenaustausch« mit Stresemann in Berlin auftauchte und sich von diesem Fahrt- und Übernachtungskosten erstatten ließ197, bestand in der Lösung der Frage, wie man die KappPutschisten außer Strafe stellen und als freie und ehrenhafte Männer wieder rehabilitieren könne. Stresemann selber sprach von einer moralischen Verpflichtung, die ihn als deutschen Patrioten zu einer solchen Haltung nötige. Zutreffend ist, dass er dem Gedankengut der Reaktionäre in vielerlei Hinsicht auch als Reichskanzler und Außenminister immer noch nahestand. Zugleich aber hing die Verbindung zu Lüttwitz und Pabst mit dem KappPutsch zusammen. Stresemann hatte 1920 bei diesem Putsch eine mehr als zwielichtige Rolle gespielt und sich den Putschisten sehr weit genähert, ihre Ak193 Vgl. Erger, Kapp-Lüttwitz Putsch, S. 89. 194 Stegmann, Neokonservativismus, S. 227 f. 195 Gumbel, Verräter, S. 52. 196 Vgl. dazu den diskreten Brief des deutschnationalen Politikers Hergt, 5.4.1922, PA AA , NL Stresemann 245: »Gestern habe ich mit Herrn Pfarrer Traub über die Adresse des Herrn, der Ihnen neulich aus Innsbruck geschrieben hatte, gesprochen. Herr Traub stellt Ihnen anheim, den Brief, den Sie an den betreffenden Herrn richten wollen, an seine eigene Adresse […] zu schicken, worauf er dann sofort für ordnungsgemäße Weitergabe sorgen wird. Den Aufenthaltsort für den betreffenden Herrn im Voraus für eine bestimmte Zeit anzugeben ist nicht möglich, da der Genannte sich augenblicklich auf Reisen befindet und seinen Aufenthaltsort mehrfach wechselt«. Wie im Falle von Litwin hat Stresemann später die Bedeutung dieser Beziehung, wenn er sie nicht leugnen konnte, immer marginalisiert. 197 Vgl. das Schreiben von Pabst-Peters an Stresemann, o. D., PA AA , NL Stresemann 274.

274  Politik in Deutschland und Europa tionen anerkannt und sich ihnen sogar zur Verfügung gestellt. Er war insofern viel tiefer in den Putsch verwickelt, als er später zugeben wollte – wenngleich er das immer wortreich leugnete.198 Im Zusammenhang mit dieser Kooperation hatte Stresemann offenbar ein Schriftstück unterzeichnet, »in welchem die Führer der bürgerlichen Parteien« wie Pabst zitierte »uns [den Putschisten] bedingungslose Amnestie zugesichert haben und zwar als Gegenleistung für unseren Rücktritt von dem Unternehmen.«199 Daraus leiteten die Offiziere nach dem Scheitern des Putsches besondere Rechte ab, denen sich Stresemann offenbar nicht verweigern konnte.200 Kapp und Lüttwitz drohten sogar, sich in Deutschland zu stellen und die wahren Hintergründe des Putsches und die Rolle Stresemanns dabei zu schildern, eine Drohung, die Stresemann nicht nur desavouiert hätte, sondern seine Aktivitäten in Richtung Amnestie zweifellos beflügelte.201 Die Geister, die er 1920 gerufen hatte, wurde er offenbar lange Zeit nicht mehr los.202 Die Grundlage der Kooperation mit Pabst und Konsorten war also ein seltsames Gemisch aus Erpressung, gemeinsamer antisozialistischer Kumpanei, persönlicher Hochachtung und wohl auch, zumindest partiell, gemeinsamer innen- und außenpolitischer Ordnungsvorstellungen.203 Einig waren sich beide Seiten darin, dass es verdienstvoll gewesen war, die »rote Gefahr« 1918 und 1919 gebannt zu haben. »Nur den Taten eines sich nach wie vor zur alten Ordnung bekennenden Militärs« – und hier meint man in den Ausführungen von Pabst fast Stresemanns eigene Diktion zu hören – »haben wir einzig und allein damals die Rettung und die Möglichkeit des nationalen Wiederaufstiegs zu verdanken.«204 Bei einem solchen Weltbild war es für Stresemann nicht vorstellbar, etwa »Proletarische Hundertschaften« zu akzeptieren oder diese gar in ihrem Kampf gegen die »schwarze Reichswehr« oder die politische Rechte, also Pabst und Co, zu unterstützen. Stresemann bedauerte anfangs die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten im Jahre 1925. Er hatte alles versucht, um sie zu verhindern, denn er wollte seine Sicherheitspaktpolitik nicht durch die Wahl eines Kriegsgenerals gefährden.205 Dieses Motiv war bereits ein Grund dafür gewesen, die Kandidatur von Reichswehrminister Geßler (DDP) zu hintertreiben. Damit hatte er allerdings 198 Vgl. Gietinger, Der Konterrevolutionär, S. 204 ff. und Richter, Die Deutsche Volkspartei, S. 59 ff. 199 Pabst an Stresemann, 15.5.1924, PA AA , NL Stresemann 9. 200 Vgl. diese Arbeit, S. 214 f. 201 Schreiben Stresemanns an Ludendorff, 27.4.1922, PA AA , NL Stresemann 243. 202 Vgl. die Briefe Kapps an Stresemann, 18.3.1922 und dessen Antwort vom 21.3., PA AA , NL Stresemann 245. Dazu Gietinger, Der Konterrevolutionär, S. 219. 203 Zum gesamten Komplex Gietinger, Der Konterrevolutionär, S. 257 ff. 204 Pabst an Stresemann, 15.5.1924, PA AA , NL Stresemann 9. 205 Zu Hindenburg vor allem Pyta, S. 461 ff. Speziell zur Wahl und zum Verhalten Stresemanns, Wright, Stresemann, S. 309 ff.

Der Verständigungspolitiker und sein Doppelleben 

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die Kandidatur eines von allen bürgerlichen Parteien unterstützten Politikers unmöglich gemacht und zudem die Partei des Koalitionspartners DDP stark verärgert. Auch als Konsequenz wegen seiner nicht genügend durchdachten Taktiererei ging schließlich Hindenburg, der Kandidat von Mitte/Rechts, aus dem zweiten Wahlgang zum Reichspräsidenten als Sieger hervor. Nachdem sich Stresemann aber überzeugt hatte, dass man mit Hindenburg in außenpolitischen Fragen durchaus reden könne, gewann er dem Wahlergebnis rasch Positives ab. Mit der Wahl des von ihm zwar lange Zeit politisch höchst skeptisch betrachteten, aber zugleich bewunderten Kriegshelden, schien die Tradition eines starken Militärs, anders als etwa bei einer Wahl des Zentrumspolitikers Wilhelm Marx oder des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten von Preußen, Otto Braun, durchaus gesichert, schien es vielleicht sogar möglich zu sein, die politische Rechte stärker an seine Außenpolitik zu binden. Nicht zuletzt rückte mit einem Reichspräsidenten Hindenburg die gewünschte Amnestie der Kapp-Putschisten in nächste Nähe. Im Sommer 1925 gelang schließlich, nicht zuletzt dank Hindenburg, eine von Stresemann betriebene allgemeine Amnestie unter die nun auch Pabst und seine Freunde fielen.206 Die Wertschätzung durch die »rechten Männer«, auf die es Stresemann so sehr ankam, war ihm damit sicher: »Denken Sie immer« – so versicherte Pabst Stresemann gönnerhaft – »dass Sie sich durch Ihr mannhaftes Eintreten für uns und Ihr Wort dankbare und getreue Anhänger verschaffen, was sich dereinst, wenn wir wieder daheim, auch öffentlich äussern wird.«207 Damit hätte die Beziehung zwischen den Putschisten und Stresemann beendet sein können, wenn es sich nur um eine »Pflichtveranstaltung« gehandelt hätte. Das Gegenteil trat aber ein, und das lässt an Stresemanns demokratischen Ordnungsvorstellungen erhebliche Zweifel aufkommen. Die Beziehungen wurden seitdem noch, und das ist das Überraschende, intensiver. Stresemann ernannte Pabst, der sich seit 1921 ein umfangreiches Beziehungsnetz in den deutschsprachigen Alpenländern geknüpft hatte, alsbald zu seinem Beauftragten für Fragen der österreichischen Heimwehr.208 Pabst, der in Österreich zum Stabschef der alpenländischen Heimwehren aufgestiegen war, galt fortab in rechten Tiroler Kreisen (zu Recht) als Stresemanns »zuverlässigster, bester und treuester Mitarbeiter«.209 Dort hatte man schon zuvor nicht verstanden, warum 206 Vgl. Gatzke, Rearmament, S. 51. Gatzke hat als erster die engen Beziehungen zwischen Pabst und Stresemann analysiert und entsprechend gewürdigt. 207 Pabst an Stresemann, 27.4.1925, PA AA , NL Stresemann 24; danach die folgenden Gedanken. 208 Dies hat Gatzke, Rearmament, S. 51 ff., ausführlich analysiert. Nach ihm die folgenden Gedanken. 209 Landtagsabgeordneter Bundesrat Richard Steidle (Tirol) an Stresemann, 20.7.1925, PA AA , NL Stresemann 27, danach das folgende Zitat. Diese Ausfälle wurden von Stresemann nicht kommentiert.

276  Politik in Deutschland und Europa Pabst so lange »verbannt« gewesen war, während doch »Hunderte von Schädlingen [damit war die politische Linke gemeint] frei herumlaufen, darunter sogar die rheinischen Landesverräter«. Zusammen mit seinen rechten politischen Freunden in Österreich, deren Beauftragter er in Sachen Kooperation mit Stresemann war,210 verstärkte Pabst in dieser Zeit die deutsche Kulturpropaganda mit dem Ziel, die Anschlussbestrebungen in Österreich wach zu halten und zu ermutigen. Insofern handelte es sich hier zweifellos um »moderne« deutsche Außenpolitik, die Stresemann betrieb, allerdings sicherlich nicht im Sinne der Erfinder dieser Begrifflichkeit. Zugleich wurde Pabst von Stresemann beauftragt, über die Südtiroler Verhältnisse diskret Erkundigungen einzuziehen. So erbat Stresemann beispielsweise seinen Rat darüber, »ob eine sehr energische Weiterführung der gegen Italien namentlich in München und auch anderwärts getriebenen Agitation im Interesse der Südtiroler liegt«.211 Viele Aufträge Stresemanns an Pabst können nicht belegt werden. Es ist aber zu vermuten, dass der »Anschlussgedanke« hierbei ebenso eine Rolle spielte wie die Vorbereitung der Aktivitäten deutscher Heimwehrverbände in Österreich für den Fall einer italienischen Intervention im Alpenstaat oder die Finanzierung von »Aktivitäten« in Südtirol.212 Aktenkundig geworden ist immerhin, dass Pabst Stresemann im September 1925 dringend davor warnte, in irgendeiner Form im Vertrag von Locarno die Brennergrenze anzuerkennen, da sonst der »Zusammenschluß-Gedanke  – ich sage absichtlich nicht Anschluß  – un­ bedingt erledigt und nicht mehr zum Leben zu erwecken [ist], wenigstens in den Alpenländern, den Trägern des Deutschtums in Österreich«.213 Gegenüber dem preußischen Innenminister Severing von der Sozialdemokratie gab Stresemann sogar offen zu, dass Pabst in seinem Auftrag in Österreich tätig geworden sei. »Ich habe […] in Zeiten, als ein faschistischer Einmarsch in Nordtirol drohte, via Pabst gewisse Grenzschutzmaßnahmen zur Abwehr veranlasst, damit ich in der Lage wäre, rechtzeitig Protest beim Völkerbund einzulegen und dessen Vermittlung anzurufen.«214 Bedenken gegenüber seinem »rechten Helfer« hatte Stresemann offensichtlich nicht. 210 Schreiben von Pabst an Stresemann, o. D. (1926), PA AA , NL Stresemann 28: »zumal ich [Pabst] […] hier unten ein Werk habe schaffen helfen können, welches sich nicht nur über Tirol, sondern über alle Alpenländer erstreckt und für die Zukunft Österreichs vielleicht einmal von ausschlaggebender Bedeutung sein kann«. Vgl. dazu auch Gietinger, Der Konterrevolutionär, S. 260 ff. 211 Stresemann an Pabst, 23.1.1926, PA AA , NL Stresemann 279. Indigniert merkte Stresemann später an: »Ich bitte Sie Sorge dafür zu tragen, dass derart wichtige Dokumente [wie von Pabst geschickt] nicht offen hier eingehen.« (Stresemann an Pabst, 30.1.1926, ebd.). 212 Gatzke, Rearmament, S. 52. 213 Pabst an Stresemann, 2.9.1925, PA AA , NL Stresemann 29. 214 Entwurf eines Schreibens von Stresemann an Innenminister Severing, o. D., PA AA Berlin, NL Stresemann 24.

Der Verständigungspolitiker und sein Doppelleben 

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Wichtig ist aber nicht nur die Tatsache, welch dubiose Politik Stresemann hier betrieb, sondern auch, mit welchen Mitarbeitern er sich umgab und welche politischen Ordnungsvorstellungen diese Helfer vertraten. Mehr als auffällig ist, dass ein Mann wie Pabst das Vertrauen Stresemanns in hochdiffizilen Angelegenheiten wie den deutsch-italienischen Grenzfragen genoss. Hier offenbart sich eine intime Kooperation Stresemanns mit rechten Verbänden, für die die Zusammenarbeit mit Pabst nur ein bezeichnendes Beispiel ist. Nur schwer dürfte damit das Bild eines »europäischen Friedenspolitikers« in Einklang zu bringen sein. Die Organisation Escherich (Orgesch) Die engen Kontakte zum ehemaligen Chef der Organisation Escherich und dem »Deutschen Schutzbund« sind ein weiteres Kapitel in der Kooperation Stresemanns mit »rechten Kameraden« und ein erneutes Beispiel für seine deutliche Affinität zu ihnen.215 Der umtriebige Escherich, bayerischer Forstrat, Begründer der dortigen Heimwehr im Jahre 1919 (zusammen mit General Franz von Epp und Ernst Röhm), wurde 1920 Führer der Orgesch, dem Zusammenschluss aller, wie es euphemistisch hieß, »staats- und verfassungstreuen Schutzverbände im Deutschen Reich«. Tatsächlich handelte es sich aber um eine verkappte Freikorpsorganisation. Diese umfasste in ihrer Blütezeit fast eine Million Mitglieder und eine dem­ entsprechende Anzahl geheimer Waffen. Nach dem Verbot durch die Reichsregierung im Jahre 1921 und einem Ultimatum durch die Entente löste sich die Organisation offiziell auf, und die Untergrundorganisation »Schwarze Reichswehr« übernahm den größten Teil  der illegalen Waffen. Die Organisation­ Escherich war damit zwar offiziell nicht mehr existent, aber weiter politisch wirksam. Trotz dieses formellen Machtverlustes blieben der Forstrat und sein Kollege von Loesch,216 der Vorsitzende des »Deutschen Schutzbundes«, weiterhin zentrale Figuren im Netz der rechten politischen Verbände der Weimarer Republik und zugleich wichtige politische Ratgeber Stresemanns und von Hindenburgs. Escherichs politische Vorstellungen waren, wie die von Pabst und seinen Freun215 Von höchster Brisanz ist auch, dass Stresemann Mitteilungen des Kapitäns Ehrhardt nicht nur entgegennahm, sondern für seine Außenpolitik auch nutzte (Aufzeichnung Bernhards vom 18.8.1926, PA AA , NL Stresemann 42). 216 Dieser verstand es sehr gut, Stresemann bei seinem kulturellen Engagement zu fassen. Zu dessen 50. Geburtstag schenkte er dem Außenminister etwas für seine Goethesammlung: »[…] einen bescheidenen Beitrag zu ihrer Goethesammlung, einen Stich von […] dem letzten Lebensjahre des Meisters« (von Loesch an Stresemann, 9.5.1928, PA AA , NL Stresemann 324).

278  Politik in Deutschland und Europa den, durchweg antidemokratisch, antiliberal und republikfeindlich, nationalistisch und völkisch geprägt. Das aber hinderte Stresemann nicht, einen engen gesellschaftlichen und politischen Kontakt zu pflegen und diesen Personenkreis finanziell zu unterstützen. Hier handelte es sich erneut nicht nur um eine taktische Kooperation, um die politische Rechte an die Republik heranzuführen, sondern zugleich zweifellos um eine politische Wahlverwandtschaft. Der »Deutsche Schutzbund« erhielt aus dem Fonds des Reichsministeriums des Innern erhebliche laufende Mittel. Darauf bestand Stresemann selbst dann noch, als die seltsame Finanzierung dieser rechten Randgruppe an die Öffentlichkeit gelangt war. Als der sozialdemokratische Innenminister Severing bei seinem Amtsantritt im Jahr 1928 daran ging, hier mit Sparmaßnahmen einzugreifen, wehrte sich Stresemann erfolgreich dagegen, indem er die Wichtigkeit und seine persönliche Übereinstimmung mit deren Zielen hervorhob.217 Aus diesen Mitteln flossen ferner Unterstützungen an Pabst, der zugleich aus vom Reich stammenden Geldern des »Vereins der Auslandsdeutschen« finanziert wurde.218 Seit 1926 erhielt Pabst vom »Deutschen Schutzbund« ein Gehalt in Höhe von 1.000 Mark im Monat, das aber aus der Kasse des Auswärtigen Amtes rückerstattet wurde. Besonders wichtig ist dabei, dass diese Subventionen auch dann weiter gezahlt wurden, als Stresemann wegen dieser Kooperation unter erheblichen öffentlichen Druck geriet.219 Zugleich wurden regelmäßige Unterstützungsgelder direkt aus dem Geheimfonds Stresemanns an Pabst und Escherich überwiesen. Allein die Liste der überlieferten Subsidien ist beachtlich. An Pabst flossen im Jahr 1926 über verschiedene Tarnkonten in München im Februar, März, Mai, Oktober 1926 jeweils 3.000 Mark, umschrieben als »Repräsentationszulage«.220 Im April und November rechnete Pabst jeweils akribisch für seinen Besuch in Berlin angemessene Reisespesen ab.221 Hinzu kamen Subsidien über das Konto von Ottmar E. Strauss, dem Teilhaber der Firma Otto Wolff und einem Freund von Pabst. Von dort kamen hohe Beträge, mit denen Pabst in Österreich operieren konnte.222 Im Falle von auftretenden Problemen erklärte sich Strauss gegenüber

217 Entwurf eines Schreibens von Stresemann an Innenminister Severing, PA AA Berlin, o. D., NL Stresemann 24: »Ich lege größten Wert auf die Zusammenarbeit mit Dr. von Loesch und dem Schutzbund, der sich meinem Ressort gegenüber bisher stets loyal und korrekt verhalten hat«. 218 Gumbel, Verräter, S. 78. 219 Vgl. dazu den Eintrag Escherichs in sein Tagebuch vom 7.5.1928: Gespräch mit Redlhammer, »der wegen der Geldsendungen an Pabst stark für seinen Herrn und Meister unter Druck ist«. Redlhammer war Stresemanns Referent für diesbezügliche Geldtransfers (BA Koblenz, NL Escherich, Tagebücher). 220 Alle Zahlungen aus: PA AA , R 27960 und R 27961. 221 PA AA , NL Stresemann 279. Beispiel April 1926: 279,60 Mark. 222 Strauß an Stresemann, 8.5.1929, PA AA , NL Stresemann 5.

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Stresemann sogar bereit, bei der Vertuschung der staatlichen Subsidien mitzuwirken, diese gegebenenfalls aufzustocken oder ganz zu übernehmen. Hier zeigt sich ein finanzieller Sumpf, der noch lange nicht aufgeklärt ist und auf Stresemanns Transaktionen, auch in seiner Zeit als Außenminister, kein gutes Licht wirft. Für Escherich flossen, um diesen Aspekt abzurunden, im Jahr 1926 über ein Tarnkonto in München im Februar 3.000, im März, Juni und Juli jeweils 2.000 und im November dann noch einmal 3.000 Mark.223 Escherich ging bei dem Außenminister und dem Reichspräsidenten ein und aus. Folgt man seinen Tagebuchaufzeichnungen224, so hatte er regelmäßige Treffen mit der politischen Prominenz sowohl in München als auch in Berlin. Hervorzuheben ist, dass er fast bei jedem Besuch in Berlin Stresemann besuchte, und dort sofort empfangen wurde. Der Terminkalender des Reichsaußenministers belegt ebenfalls die ungewöhnliche Nähe dieses Personenkreises: Treffen Escherichs sind dort notiert am 8. März 1924 und am 31. Juli 1924, gemeinsam mit von Seeckt am darauf folgenden Tage und mit Stresemann dann wieder am 10. Oktober. Wie eng die Beziehung war, geht daraus hervor, dass Escherich am 1. Mai 1925 um 10 Uhr bei Stresemann um ein Treffen bat, das dann am gleichen Tag von 18 bis 19:30 Uhr stattfand. Zwei weitere Treffen, im Juli bei von Seeckt, anschließend von 17:30 Uhr bis 18:30 Uhr wieder bei Stresemann und am 28.  Oktober erneut bei Stresemann rundeten die gesellschaftliche Aktivität im Jahre 1925 ab. Im »Völkerbundsjahr« 1926 wurde, wie im Falle von Pabst, die Kooperation am engsten: Am 1.  Februar ist ein Treffen mit Stresemann, am nächsten Tag mit von Seeckt, Hindenburg und Stresemann notiert. Am 16.  Juli folgte ein Gespräch bei Hindenburg und anschließend bei Staatssekretär Meissner. Am 22.  August kam der Reichspräsident sogar zu einem Besuch Escherichs nach Bayern und wohnte bei ihm zu Hause, eine seltene Auszeichnung. Am 28. September folgte ein erneuter Besuch Escherichs bei Hindenburg, am 30. September bei von Seeckt, am 4.  November bei Stresemann (zusammen mit Reichswehrminister Geßler), am 9. Dezember bei Hindenburg und am folgenden Tag bei Hindenburg und Reichskanzler Marx. Pabst wiederum hatte im November zwei Treffen mit Stresemann (15. und 23.  November), wobei einmal auch von Loesch anwesend war. Das hing damit zusammen, dass der Vorsitzende des »Deutschen Schutzbundes« zugleich führendes Mitglied der im selben Jahr gegründeten deutsch-österreichischen Arbeitsgemeinschaft war, mit der Pabst eng kooperierte. Protokolle und Niederschriften über alle diese Gespräche sind bezeichnenderweise nicht überliefert. Escherich trat bei diesen Treffen nie als Bittsteller auf. Im Gegenteil, Strese­ mann hofierte den Bayern, indem er beispielsweise betonte, wie sehr er sich 223 Zahlungen nach: PA AA , R 27960 und R 27961. 224 Bundesarchiv Koblenz, NL Escherich, Tagebücher.

280  Politik in Deutschland und Europa freuen würde, wenn dessen Weg ihn wieder einmal nach Berlin führen würde. Besonders interessierten Stresemann »die bayerischen Verhältnisse, in denen ich [Stresemann] Ihren staatsmännischen Einfluss gern wiederhergestellt sähe«.225 Im Klartext hieß das, selbst wenn man alle intendierten Schmeicheleien und die Funktionalität des Schreibens berücksichtigt: Stresemann favorisierte eine politische Ordnung in Bayern, die durch antidemokratische und militaristische, in jedem Fall aber republikfeindliche, Kreise bestimmt werden sollte. Dabei waren ihm ein ehemaliger Freikorpsorganisator (Escherich) und ein vielfacher Mörder, Putschist und Verfassungsbrecher (Pabst) als Partner offenbar gerade recht. Hier zeigt sich erneut: Die von ihm geförderte Intervention im »linken Sachsen« im Jahr 1923 war kein Zufall, sondern entsprach seinem politischen Weltbild, das deutlich nach rechts tendierte. Im Jahre 1926 nutzte Stresemann zudem Escherichs weitreichende Kenntnisse im Sinne einer Auskunftei. Er ließ sich von ihm über dessen Aufenthalt in der Türkei berichten,226 profitierte aber, wie bei Pabst, vor allem von dessen intimen Kenntnissen der österreichischen Politik. Ferner nutzte er Escherichs Beziehungen zu Mussolini, um sich über dessen Politik zu informieren.227 Zudem ließ er sich von dem Freund Hindenburgs über die Befindlichkeit des Reichs­ präsidenten unterrichten. Er nahm es dankbar auf, dass Escherich den Reichspräsidenten auf eine den Vertrag von Locarno befürwortenden Linie zu bringen versuchte.228 Zugleich war Escherich eine wichtige Verbindung zwischen Stresemann und von Seeckt, denen er beiden mit Informationen diente und gegenseitig die Hochachtung des jeweils anderen aussprach.229 Hier ist zwar wiederum schwer zu erkennen, inwieweit Stresemann Escherich für seine Politik nutzen wollte oder inwieweit er dessen politische Ideen tatsächlich mittrug. Die emotionale und sachliche Affinität nach rechts ist jedoch unverkennbar. So enge Beziehungen zu Sozial­ demokraten sind nicht überliefert. Kronprinz Wilhelm In den Kontext »konservatives Weltbild«, »Verehrung« kriegerischer und konservativer Führer und antidemokratischer Kräfte des vergangenen Kaiser­ reiches gehören schließlich auch Stresemanns langjährige Beziehungen zur kai225 Stresemann an Escherich, o. D., PA AA , NL Stresemann 6. 226 AV Stresemanns vom 10.10.1924, PA AA , NL Stresemann 17. 227 Escherich an Stresemann, 26.5.1929, über eine Unterredung bei Mussolini, PA AA , NL Stresemann 54. 228 AV Stresemanns o. D., PA AA , NL Stresemann 35. 229 Vgl. den AV Stresemanns vom 1.3.1925, PA AA , NL Stresemann 277.

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serlichen Familie und besonders zum Kronprinzen Wilhelm.230 Diese reichten bis in den Weltkrieg zurück, in dem beide den Sturz von Reichskanzler Bethmann Hollweg im Jahre 1917 betrieben hatten, wobei der Kronprinz die Fäden zog und Stresemann auf der parlamentarischen Klaviatur spielte.231 Stresemann, der noch lange nach der Revolution von einem »Volkskaisertum« schwärmte und dieses in die Republik zu verlängern trachtete, besuchte den Kronprinzen bereits im Jahre 1920 und dann noch 1921 auf der Insel Wieringen, seinem niederländischen Verbannungsort. Seitdem gab es eine enge Beziehung zwischen beiden. Stresemann blieb »bis zu seinem Tode in freundschaftlicher Beziehung zu dem früheren Kronprinzen«. Für diesen Wunsch nach Nähe zum alten Kaiserhaus gab es eine Reihe von Gründen. Sicherlich schmeichelte es der Eitelkeit Stresemanns, vom Kron­ prinzen gewissermaßen auf gleicher Höhe anerkannt, also von den höchsten alten Eliten des von ihm so verehrten Kaiserreiches respektiert zu werden. Stresemann hat häufig damit geprahlt, dass man in der Familie des Kronprinzen von ihm als »Onkel Gustav« sprach. Zugleich spiegelten die Kontakte aber auch den Versuch wieder, Altes mit Neuem zu verbinden, also nicht nur die Monarchie in die Republik hinein zu retten, sondern auch der Republik durch die Implantation konservativen Geistes größere Stabilität zu verleihen. Dieser Aspekt darf bei Stresemanns Haltung gegenüber den konservativen Eliten und vor allem gegenüber der DNVP und der politischen Rechten niemals vergessen werden. Hier dürfte wohl eine der großen, wenngleich nicht immer erfolgreichen Leistungen, seiner Innenpolitik liegen. Darüber hinaus aber war entscheidend, dass ihm die Werte, die das preu­ ßische Kaisertum verkörpert hatte, selbst nach der Revolution von 1918 unverändert wichtig blieben. Das militaristische Hohenzollerntum war für Stresemann offenbar ein Wert eigener Größe, unabhängig von der demokratischen Staatsform der Weimarer Republik. Diese Vermutung lässt sich an zwei Beispielen gut verdeutlichen: an Stresemanns Bemühen, den Kronprinzen wieder nach Deutschland zurückzuführen und am überlieferten Briefwechsel zwischen Stresemann und Kronprinz Wilhelm, in dem die Verehrung für das preußische Herrschaftshaus geradezu mit Händen zu greifen ist. Der Kronprinz ist kein bedeutender Mensch gewesen. Intellektuell kein angemessener Partner für Stresemann, der ihn wegen seiner Allüren im Ersten Weltkrieg sogar verachtete.232 Trotzdem aber hat sich Stresemann für ihn in den 230 Vgl. hierzu Wright, Stresemann, S. 234 ff. Danach das folgende Zitat. Die entsprechenden Akten: BA Berlin, R 43 I, 2204. 231 Hierzu und zum Folgenden Olden, Hat Stresemann, S. 233; danach das folgende Zitat. 232 Wright, Stresemann, S. 122: »Als Beispiel [für das negative Verhalten der kaiserlichen Familie] nannte er [Stresemann] den Kronprinzen, der Generale auf andere Posten habe versetzen lassen, weil sie sich geweigert hätten, seine Geliebte zu grüßen«.

282  Politik in Deutschland und Europa ersten Jahren der Weimarer Republik immer wieder eingesetzt. Vor allem hat er ihm die Rückkehr nach Deutschland im Jahre 1923 ermöglicht, zu einem Zeitpunkt, da andere Fragen dringender zu regeln gewesen wären. Zwar wurde mit dieser Rückführungsaktion der politischen Agitation der Rechten der Wind aus den Segeln genommen, für die das Exil dieses »charmanten und unbedeutenden jungen Mannes, dessen Zeit zumeist mit Sport und sehr persönlichen Angelegenheiten ausgefüllt war«,233 eine Provokation gewesen war. Aber dieser tak­ tische Aspekt hat Stresemanns Handeln sicher nicht allein bestimmt. Vor allem war es der Respekt vor der Monarchie und den mit ihr verkörperten Werten, die ihn dazu bewog. Zu Recht betonte Stresemann daher gegenüber Wilhelm, »dass dieser Beschluß auf meine Befürwortung hin vom Kabinett, und zwar wie ich hinzufügen darf, ohne Einspruch und Kritik auf Grund meiner Darlegungen einmütig gefaßt worden ist«.234 Schon das Telegramm vom 27. Januar 1919,235 in dem Stresemann und die Parteileitung der DVP dem Kaiser ihre Huldigung in einer Art dargebracht hatten, die »der Gesinnung, die in allen wirklich liberalen Kreisen Deutschlands herrscht, keinesfalls mehr entspricht«,236 zeigte diese bruchlose Affinität und nachwirkende Verehrung zum deutschen Kaisertum. Sein Intimus Rudolf Schneider konnte die Lobhudelungen auf das kaiserliche Haus, die Stresemann in seiner Zeitung »Die Zeit« jahrelang verbreiten ließ, jedenfalls nach einiger Zeit nicht mehr ertragen – und bestellte die Zeitung kurzerhand ab: »Nach längerer mit vorbildlicher Geduld getragener Enttäuschung hat mich die heutige Huldigung der ›Zeit‹ zu ›Kronprinz Wilhelms Geburtstag‹ zur Abbestellung dieses Blattes veranlasst, und ich werde auch in meinem Bekanntenkreis für Abbestellung wirken.«237 Der »Bürger« Stresemann hat in der Tat bis zu seinem Tode kein Verhältnis zur alten Obrigkeit gefunden, das dem Selbstbewusstsein eines Ministers in einer parlamentarischen Demokratie entsprochen hätte und das Kaisertum dorthin verwiesen hätte, wohin es seit 1919 gehörte, nämlich in die Vergangenheit.

233 234 235 236 237

Olden, Hat Stresemann, S. 233. Stresemann an Wilhelm, 10.10.1923, PA AA , NL Stresemann 261. PA AA , NL Stresemann 202, 27.1.1919. Theodor Boehm an Geheimrat Riesser, 30.1.1919, PA AA , NL Stresemann 202. Schneider an Stresemann, 6.5.1922, PA AA , NL Stresemann 246. Stresemanns Antwort vom 12.5.1922 (ebd.) macht deutlich, wie tief Stresemann zu diesem Zeitpunkt die Republik noch verachtete: »Als ich am Sonntag nach Werder fuhr, um mir die Baumblüte anzusehen, sah ich auf der Rückfahrt, dass der republikanische Gedanke in Deutschland Fortschritte macht. Wir fuhren nämlich an einer Gastwirtschaft vorbei, die den schönen Namen trug ›Gasthof zur deutschen Republik‹. Ich hatte keinen Durst und habe sie deshalb nicht besucht. Wenn ich aber Durst gehabt hätte, würde ich mich durch den Namen nicht haben stören lassen, woraus ich nur zu ersehen bitte, dass die bösen reaktionären Monarchisten erheblich toleranter sind, als die überzeugten Republikaner«.

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Seit 1921 führte Stresemann einen regen Briefwechsel mit Wilhelm,238 und zwar in der Form der Unterordnung.239 Das änderte sich auch nicht, als er im Jahr 1923 zum Regierungschef und dann zum wichtigsten Kabinettsmitglied aufstieg. In keinem einzigen seiner Briefe wird sichtbar, dass hier der legitime Vertreter der republikanischen Staatsmacht, eine zentrale Figur der europäischen Außenpolitik, ein wichtiger Repräsentant des deutschen Parlamentarismus und der neuen deutschen Demokratie mit einem unbedeutenden »Privatmann«, dem sogar das Verbot der politischen Betätigung erteilt worden war, korrespondierte. Vielmehr geht aus der Art und Weise der Kommunikation vor allem hervor, dass für Stresemann die Wünsche des Kronprinzen Befehlen gleichkamen, im wahrsten Sinne des Wortes.240 Alle Formen der Anrede, die Schlussformeln und in die Texte eingestreute, geradezu devote Bemerkungen lassen nur den einen Schluss zu, nämlich ein Verhältnis, bei dem Stresemann sich selbst als untergeordnet betrachtete. Da durfte Stresemann ehrfürchtig Stunden im Schloss der Hoheit verbringen, sprach von »vaterländischer Trauer«, in der man sich nun zur Zeit der neuen Republik befand.241 Das passte nur zu gut zu seinen verächtlichen Bemerkungen über die neuen Repräsentanten der Republik, die er gegenüber seiner Frau während des Verfassungskonventes in Weimar vertraulich äußerte.242 »Die Rede Eberts war eine trostlose Bezirkstagsrede eines minderwertigen DiskussionsRedners. Dieser Mann soll Reichspräsident im Schloss von Berlin werden! Man weiß nicht ob man weinen oder lachen soll.« Noch 1921 betonte Stresemann, dass er mit den außenpolitischen Vorstellungen des Kronprinzen konform ginge, und hob hervor, dass er dem Kronprinzen seine geheimsten Gedanken leider nicht in einem Brief, sondern nur in einem persönlichen Gespräch nahe bringen könne.243 Implizit scheint immer wieder 238 Vgl. dazu Pohl, ›Kronprinzenbrief‹, S. 152–163. 239 Vgl. dazu nur das Schreiben vom 13.5.1921 (PA AA , NL Stresemann 235): »Eurer Majestät bitte ich meinen ehrfurchtsvollen Dank für die große Güte aussprechen zu dürfen, mit der Eure Majestät mir Ihr Bild übersandten und vor allem so überaus gnädige, mich tief berührende und erschütternde Worte anlässlich meiner Reichstagsrede fanden. Ich stand in jenen Stunden noch unter dem Eindruck jenes Tages, an dem Eure Majestät, die Kaiserin und Königin zur letzten Ruhe in dem geliebten Potsdam geleitet wurde. Ich durfte dem Sarg im Trauerzuge folgen und hatte dabei Gelegenheit die Stimmung des Volkes zu erkunden, das zu Tausenden, vielleicht zu mehreren Hunderttausenden den Weg eingesäumt hatte«. Der Kronprinz hingegen schloss seine Briefe an Stresemann meist gönnerhaft: »Mit besten Grüßen, lieber Herr Dr. Stresemann, für heute […]« (Wilhelm an Stresemann, 10.11.1924, PA AA , NL Stresemann 18). 240 Vgl. hierzu Pohl, ›Kronprinzenbrief‹, S. 156. 241 Stresemann an Wilhelm, 5.3.1919, PA AA , NL Stresemann 202. 242 Stresemann an seine Frau, 6.2.1919, PA AA , Privatnachlass Stresemann. 243 Stresemann an Wilhelm, PA AA Berlin, 24.8.1921, NL Stresemann 232. Dieser Hinweis war offensichtlich ein Stresemann’scher Kunstgriff, den er auch im Kronprinzenbrief nutzte, um die Intimität von Sender und Empfänger besonders hervorzuheben.

284  Politik in Deutschland und Europa der Wunsch nach einer Männerfreundschaft durch, die sich Stresemann zum Kronprinzen wünschte. Hinzu kam, dass er sich niemals gegen die antidemokratischen und antirepublikanischen Tiraden Wilhelms verwahrte. Er nahm hin, dass die breite Masse des Volkes eine »Plebs« sei und akzeptierte als demokratischer Politiker, dass Politik »suggerieren« und nicht überzeugen müsse. Dass Poincarè ein »Apachenhäuptling« sei und mit »Con­sorten« zusammenarbeite, das war keines einzigen Kommentars von Stresemann wert, geschweige denn ein Grund dafür, die Korrespondenz zu beenden.244 Unter diesen Gesichtspunkten erhält der sogenannte »Kronprinzenbrief« vom September 1925 eine eher relative Wertigkeit. Was dort dargelegt wurde entsprach ganz dem üblichen Tenor des Briefwechsels, in dem beispielsweise das Wort »finassieren« zum normalen Wortschatz gehörte. Alles was Stresemann im Kronprinzenbrief mitteilte, war dem Empfänger gegenüber eingespielte Normalität, selbst wenn Stresemann im September 1925 seine Darlegungen besonders dringlich machte, um den Kronprinzen für eine Unterstützung seiner Sicherheitspaktpolitik zu gewinnen und die DNVP auf seine Seite zu ziehen. Insofern kann es nicht verwundert, dass Henry Bernhard, der das »Vermächtnis« nach Stresemanns Tod herausgab, an diesen inhaltlichen Passagen keinen Anstoß nahm. Anstoß nahm er vielmehr daran, und solche Passagen ließ er weg, in denen Stresemann zu privat und devot an den Kronprinzen schrieb. Diese intime und enge Nähe zum Kaiser schien Bernhard offensichtlich für den Nachruhm des Demokraten Stresemann viel schädlicher zu sein, als der Inhalt. Stresemanns Zuneigung zum rechten Lager war also zweifellos ein Teil seines Charakters. Sie entsprach in vielem seinem Weltbild. Er gehörte aber in seiner Weimarer Zeit weder ganz zu den einen, den Demokraten, noch ganz zu den anderen, den Reaktionären, weder zu den rechten Kriegern noch zu den liberalen Bürgern. Er blieb ein Grenzgänger, außerhalb aller dieser Milieus. Ob und wie sehr er darunter gelitten hat, kann man nur vermuten.

»… und wollte ein Bürger sein«: Liberalismus, Kultur, Nation, Krieg und Demokratie »…und es [das Schreiben von Konrad Flex] erreicht in mir [Stresemann] die Erinnerung an ihre Familie, der ich persönlich nahestand in Bezug auf Ihren Vater, dem ich geistig nahestand und in Bezug auf Ihren Bruder, dem ich mich heute noch so eng verbunden fühle. Hätte ich die Zeit, schriftstellerisch zu wirken, so möchte ich mich besonders gern in die Familiengeschichte Ihres Hauses vertiefen und ein Buch der deutschen Bürgerfamilie Flex schreiben, das zeigen würde, was in unserer vielfach 244 Wilhelm an Stresemann, 18.8.1923, PA AA , NL Stresemann 1.

»… und wollte ein Bürger sein« 

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rationalistisch erscheinenden Gegenwart an großen und bleibenden Werten des Idealismus geschaffen worden ist. Ich habe die Briefe Ihres Bruders gelesen, die er mir aus dem Felde geschrieben hat und die Sie mir die Güte gehabt haben mir zu übersenden. Ich bin mit mir immer noch im Unklaren darüber, ob es richtig war, einen Mann wie Walter Flex den Kugeln auszusetzen genauso wie Gorch Fock und den jungen Braun. Da wo das große Schaffen hätte beginnen können, riss die Parze den Lebensfaden ab, und wir haben nur die Fragmente eines großen Lebens und großen Werkes, das sich hätte entwickeln können […].«245

Nach der Analyse von Stresemanns Selbstinszenierung in seinem Nachlass, der Beschreibungen seiner Krankheiten, seiner Physiognomie, seiner kulturellen Bemühungen und seiner oratorischen Fähigkeiten, nach der Untersuchung seiner Anstrengungen um bürgerliche Anerkennung, der Analyse seines Wirkens in Dresden und Sachsen, im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik, seinen außenpolitischen Aktivitäten, seinem Schwanken zwischen Rechts und Links, zwischen Militarismus und Liberalismus, zwischen Männerbünden und Familie – man könnte die Reihe beliebig weiterführen, nach diesen Untersuchungen stellt sich erneut die Frage: Welches Leben erträumte sich Gustav Stresemann? Was für ein Mensch hätte er sein wollen? Wie beurteilte er sein Leben? Diese zentralen Fragen können immer nur ansatzweise beantwortet werden. Wichtige Anregungen dazu gibt jedoch ein Brief, den er im Jahr 1928 an Konrad Flex, den Bruder des deutschen »Kultdichters« aus dem Ersten Weltkrieg und Verfassers des literarischen Bestsellers »Der Wanderer zwischen beiden Welten«,246 Walter Flex, geschrieben hat. Dieser Brief, ein Jahr vor seinem Tode verfasst, bringt jenseits der damals gerade aktuellen politischen Tätigkeiten Stresemanns, einige grundsätzliche und zugleich erstaunliche Facetten seiner Vorstellungen über sich, sein Leben und sein Weltbild zum Vorschein. Es handelt sich dabei um ein Selbstzeugnis, mit allen damit verbundenen interpretatorischen Problemen. Wie immer ist auf mögliche Inszenierungen zu achten; es muss die Zweckgerichtetheit des Schreibens berücksichtigt werden und der Wunsch, sich dem »Bürger« Flex als kongenial anzudienen – obwohl er selber berühmter Außenminister und Friedensnobelpreisträger war. 245 Stresemann an Konrad Flex, 27.6.1928, PA AA , NL Stresemann 336. 246 Walter Flex, Der Wanderer zwischen beiden Welten, o. O. 1916. Bei dem Buch handelt es sich um die Geschichte eines kriegsfreiwilligen Studenten und dessen Freundschaft mit dem Verfasser. Der Prosatext wird immer wieder durch lyrische Passagen und Zitate unterbrochen, die sich auf dichterische aber auch religiöse Größen beziehen. Die Einleitung enthält auch das berühmte Gedicht: »Wildgänse rauschen durch die Nacht…«. In der Weimarer Republik wurde es zu einem Kultbuch der jungen Generation. Bereits 1920 erreichte es mehr als fünfzig Auflagen. Insgesamt kann mit einer Verbreitung von über einer Million Exemplaren gerechnet werden. Damit wird es nur noch von den »Buddenbrooks«, der »Biene Maja« und »Im Westen nichts Neues« als belletristischer Bestseller des frühen 20. Jahrhunderts übertroffen.

286  Politik in Deutschland und Europa Zugleich kann man aber davon ausgehen, dass Stresemann an seinem Lebensabend eher als sonst bereit war, seine (unerfüllten) Wünsche gegenüber einem solchen »Freund im Geiste« zu artikulieren.247 Stresemann lässt in diesem handgeschriebenen Brief, im Kontext seiner literarischen und kulturellen Interessen, nicht jedoch in erster Linie aus der Perspektive des Weimarer Politikers, (anscheinend)  tief in sein Inneres blicken, offenbart Wünsche und Gefühle, aber auch unerfüllte Hoffnungen. In dem privaten Brief beschreibt und beurteilt er nicht sein gelebtes Leben, sondern es geht ihm darum, wie er sich sein Leben hätte (auch) vorstellen können. Der Brief gibt zugleich Hinweise darauf, wie Stresemann die verschiedenen Dimensionen, die seinen Werdegang beeinflusst haben, also Politik, Kultur und Ökonomie, am Ende seines Lebens einordnet, gewichtet und wertet. Der Brief wird eindeutig von großer sehnsüchtiger Verehrung des deutschen Bürgertums getragen, so wie es sich im späten Kaiserreich ausgeprägt hatte, einer Verehrung, die Stresemann offenbar bis zu seinem Tode kontinuierlich begleitet hat. Die überall direkt und indirekt durchscheinende Zuversicht, nun, am Ende seines Lebens, vielleicht doch endlich zum (Bildungs-)Bürgertum zu gehören, erfüllte Stresemann mit großer Freude, ja, Genugtuung. Zugleich scheint diese Vorstellung aber auch mit Wehmut und Traurigkeit gepaart zu sein, weil sein Leben nicht (immer) nach diesen Mustern verlaufen war. Im Bürgertum und als Bürger in einem starken Nationalstaat hätte der Briefschreiber, so die Tendenz, vor allem kulturell noch viel stärker wirken und präsent sein wollen, deutlich stärker, als es ihm in seinem Leben möglich gewesen war, angesichts seiner vielfältigen Rollen als Wirtschaftsführer, Parlamentarier, aktiver Politiker und als Familienvater. Er habe sich jedoch, so sein Urteil, immer bemüht, diesen kulturellen Bereich nicht aus den Augen zu verlieren, und versucht, so intensiv wie möglich am bürgerlichen, vor allem am kulturellen Leben teilzunehmen. Zeigt sich hier wieder Fiktion und Vision, eine gezielt komponierte Botschaft für den Adressaten oder ist der Brief eine aufrichtige Bilanz des gelebten Lebens? Immerhin gibt es Tatsachen in diesem Leben, die eine solche Sicht bestätigen. Stresemanns kulturelle Tätigkeiten und unablässige Bemühungen, sein Kampf um den Erwerb kulturellen Kapitals und um den bürgerlichen Habitus, auch während der Zeit höchster politischer Belastungen, stützen diese Selbstinterpretation des Kulturbürgers Stresemann. Zweifellos gehörte er zu den Politikern in Kaiserreich und Weimarer Republik, die immer auch kulturelle Interessen verfolgten, sich kulturell engagierten und die Nähe zur Wissenschaft suchten. 247 Dieser im Stresemann-Nachlass deponierte Brief spielt in der neueren Stresemannbiografik keine Rolle. Auch Wolfgang Stresemann erwähnt Flex in der Biografie über seinen Vater nicht.

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Zu einem solchen (gewünschten) bürgerlichen Leben hätte, so Stresemann weiter, gehören sollen, nicht nur in einer bürgerlichen Familie aufzuwachsen, sondern diese und das Leben in ihr angemessen beschreiben zu dürfen. Damit wies er in diesem Brief auf seine zweite große Sehnsucht hin, seine schriftstellerische »Mission«. Deren vollständige Erfüllung war ihm ja Zeit seines Lebens ebenfalls versagt geblieben, obwohl er sehr viel geschrieben und publiziert hatte und sich durchaus immer als »dichtender Bürger« verstand.248 Mit dem Wunsch nach dem Leben in einer deutschen Bürgerfamilie des späten 19. Jahrhunderts, verbunden mit der Hoffnung, dies auch schriftstellerisch darstellen zu können, scheint sich der Kreis seiner Wünsche zu schließen. Sie beginnen mit den Ideen des Abiturienten, der eigentlich ein liberaler Journalist hätte werden wollen, der aber Syndikus und Politiker wurde, und enden mit dem handelnden Staatsmann und dem – so seine mögliche Selbstsicht – in die Gesellschaft integrierten Bürger, der am Endes seines Lebens Bilanz zieht. Geradezu schwärmerisch, und in einer etwas schwülstigen Diktion, bekennt sich der Politiker und geschäftstüchtige Wirtschaftsmanager an seinem Lebensabend zu den bürgerlichen Idealen des späten 19. Jahrhunderts. Zu ihnen gehörten nach seiner Vorstellung neben politischen und ökonomischen Werten vor allem antirationalistische Elemente und eine große Portion Idealismus. Das waren Werte, die in der Politik und im kapitalistischen Wirtschaftsleben, wo Strese­mann erfolgreich tätig gewesen war, kaum zu verwirklichen waren. Der Brief an Konrad Flex belegt daher mehr als deutlich, wie sehr er in diesen Idealen aufging (oder vorgab aufzugehen) und diese in seinem Leben vermisste.249 Diese schwärmerischen Ideale hatte er allerdings, um in die Realität seines Lebens zurückzukehren, immer mit aufgeklärtem Liberalismus und wirtschaftlicher Rationalität erfolgreich verbinden können. Die Irrationalität und Sentimentalität war, wenn es darauf ankam, von ihm immer gut unter Kontrolle gehalten worden. Am Lebensende trat nun aber offenbar der latente Wunsch nach mehr Emotionalität und Harmonie, so wie er sie verstand, besonders heftig hervor. War das nur Konstruktion für den Empfänger? War es Alterssentimenta­ lität, mitbedingt durch seine fortgeschrittene Krankheit? Zum einen ist die eindeutige und unübersehbare Verklärung des Bürgertums und der bürgerlichen Familie, hier personifiziert in der Familie Flex, unübersehbar. Zum anderen sticht die besondere Hochschätzung der kulturellen Leistungen des deutschen Bürgertums, hier personifiziert durch den bewunderten Dichter Walter Flex hervor. Nicht zuletzt ist es die deutsche Nation und das überhöhte Bild vom Krieg und den deutschen Kriegern, demonstriert an Dichtern wie 248 Stresemann-Bibliografie von Gerhard Zwoch, Gustav-Stresemann-Bibliographie, Düsseldorf 1953. Laut Eigendarstellung im Bildungsbericht hätte Stresemann sich auch gut vorstellen können, Journalist zu werden. Vgl. dazu Pohl, Ein früher Medienpolitiker?, S. 148 ff. 249 Hier ist selbstverständlich die Adressatenbezogenheit der Quelle zu berücksichtigen.

288  Politik in Deutschland und Europa Walter Flex (und Richard Dehmel) und ihrer literarischen Produktion, die das Schreiben dominieren. Die Familie Flex schien Stresemann geradezu vorbildund beispielhaft, ja die Inkarnation der von ihm erstrebten und bewunderten Bürgerlichkeit zu sein. Wie sah dieses Bild nun konkret aus, das Stresemann so faszinierte? Vater Rudolf Flex, Gymnasialprofessor in Eisenach, war dort als nationalliberaler Lokalpolitiker (Vorsitzender des nationalliberalen Reichsvereins) hervorgetreten. Er hatte mehrfach (allerdings erfolglos) für den Reichstag kandidiert und wurde später ein führendes Mitglied in der Deutschen Vaterlandspartei. Dieser Rudolf Flex stellte für Stresemann offensichtlich eine Figur dar, die er selbst gern als Familienoberhaupt erlebt hätte: Kein ackernder Bierverleger, kein von dumpfer Arbeit gezeichneter, abgearbeiteter Mann, kein Kleinbürger wie sein Vater, sondern ein in liberalem Sinne politisch wirksamer und künstlerisch interessierter, kluger, gebildeter Bürger.250 Mit einem politisch so aktiven und zugleich auch noch schriftstellernden Vater, der sich mit einigem Erfolg in lyrischer Hymnik auf Bismarck versuchte, und einer starken Mutter, sozial engagiert, sehr christlich und durch einen radikalen Nationalismus geprägt, hätte Stresemann offensichtlich im Hause Flex das gefunden, was ihm sein eigenes Elternhaus kaum zu geben imstande war, wonach er sich aber immer gesehnt hatte: geistige Kommunikation, Bildung und bildungsbürgerliche Sicherheit.251 Im Hause Flex wurde den Söhnen, so schien es Stresemann, das soziale und kulturelle Kapital eines bildungsbürgerlichen Haushaltes in die Wiege gelegt, dem er sein ganzes Leben lang nachjagte. Die politischen Aktivitäten von Vater Flex im »Reichsverein gegen die Sozialdemokratie«, deren »Kollektivismus« und deren »Gleichmacherei« Stresemann immer ablehnte, passten ebenfalls in dieses Bild eines aus der Sicht Stresemanns vollkommenen Bürgers, über das es sich mehr als lohnen würde, eine deutsche Bürgertumsbiografie zu schreiben, so Stresemann emphatisch. Die Abneigung gegen die Sozialdemokratie galt ja auch für ihn Zeit seines Lebens,252 noch in der Weimarer Republik. Die nach links sehr eingeschränkte Liberalität der Familie Flex schien ebenfalls in Stresemanns Weltbild zu passen. War es nur ein Zufall, dass er nun, im Jahre 1928, kurz vor seinem Tode, die liberalen und aufmüpfigen Traditionen seiner frühen Dresdner Zeit nicht mehr in den Mittelpunkt stellte? Angesichts seiner »Flex-Euphorie« übersah er, oder übersah eben gerade nicht, dass er sich noch im Jahre 1928 eine bürgerliche Familie zum Vorbild nahm, die das vergangene, undemokratische und autoritäre, aber eben auch 250 Biografische Daten nach Wahl, S. 289 ff. 251 Ebd.,S. 290: »Wir haben es also mit einer hochgradig politisierten und zugleich künstlerisch interessierten Familie aus dem Milieu des Bildungsbürgertums zu tun«. 252 Das galt auch, obwohl er sich im Kaiserreich (wohl auch aus taktischen Gründen) nie dem Reichsverband gegen die Sozialdemokratie angeschlossen hatte.

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das starke Deutschland verkörperte, ein Deutschland, das aber inzwischen den Weg durch die Revolution von 1918 hin zur Republik gegangen war. Diese Rückwärtsgewandtheit störte ihn offenbar nicht, schien sein positives Urteil nicht zu beeinträchtigen. Sie stellte anscheinend eine Kontinuitätslinie in seinem Leben dar, die nach wie vor vom Ideal der Gesellschaft des Kaiserreiches geleitet war. Allerdings nahm Stresemann nicht zur Kenntnis, dass das bürgerliche Ideal bei Flex durch erheblichen Schatten getrübt wurde. Nicht ganz in das von ihm idealisierte Bild passte etwa, dass Walter Flex, bevor er der große Dichter wurde, wegen der engen finanziellen Verhältnisse in der Familie sein Studium und seine Dissertation in Straßburg schon nach kurzer Zeit abbrechen und als Hauslehrer sein Auskommen bei vermögenden Adelsfamilien suchen musste. Das war nicht gerade ein Vorbild für ein bürgerliches Leben. Das alles aber zählte offenbar wenig, oder wurde von Stresemann übersehen. Er gehörte zwar der von ihm bewunderten Kohorte von jungen Männern nicht selbst als tätiger Dichter oder gar als militärischer »Held« an. Er fühlte sich aber immerhin durch die an ihn gerichteten Briefe des Dichters und durch seine eigene poetische Tätigkeit in diesen Kreis einbezogen. Damit verehrte Stresemann im Jahr 1928 eine moralische und politische Einstellung, die durch eine Gruppe junger Männer vertreten wurde, deren literarisch weit verbreitete Ideologie, wie Kritiker es formuliert haben, mit ihrem »Gemenge aus Totenkult, Volksgemeinschaftsmystik, Führeranbetung und darwinistischem ›Kampf ums Dasein‹ beklemmende Perspektiven« entwickelte.253 Walter Flex, der Verfasser von ›Der Wanderer zwischen beiden Welten‹, dem sich Stresemann 1928 ideell so tief verbunden fühlte, war als ein »protoptypischer Vertreter des deutschen Kriegsnationalismus kulturgeschichtlich so wegweisend für den Nationalsozialismus, dass er von diesem ohne Schwierigkeiten adaptiert werden konnte […]. Mit seinem nationalistischen Totenkult, seiner Volksgemeinschaftsmythologie, seiner latenten Kriegsbereitschaft und nicht zuletzt mit seiner Adoration des charismatischen Führers bot Flex […] genügend Ansatzunkte, um ihm [dem Nationalsozialismus] Anerkennung und Gefolgschaft in Kreisen einzuwerben, die ansonsten womöglich nicht so bereitwillig die Hand geboten hätten.«254

Man muss nicht so weit gehen, wie Hans Rudolf Wahl in seiner kritischen Studie über die Bedeutung der nationalen Literatur im Kaiserreich, um diese Affinität Stresemanns zu einem, aus heutiger Sicht, militaristischen und autoritären, z. T. nationalistischen Heroentum dingfest zu machen, eine Affinität, die eine wichtige, häufig übersehene Seite seines Wesens ausmachte und ihn, wie man sehen kann, bis zu seinem Tode begleitet hat. In diesem Kontext können seine 253 Wahl, S. 354. 254 Ebd.. Vgl. zur Wirkung der Werke von Walter Flex auch Reulecke, ›Wir reiten die Sehnsucht tot‹, S. 161 f.

290  Politik in Deutschland und Europa langjährigen Beziehungen zu den »Männern von rechts« gar nicht überschätzt, dürfen jedenfalls nicht als zu vernachlässigende Marginalie abgetan werden.255 Die von diesem Flex’schen Milieu vertretene Welt hat Stresemann offensichtlich immer nachempfunden. Sie deckte sich mit seinem erklärten Nationalismus schon im wilhelminischen Reich, dann noch viel stärker im Krieg und später sogar noch – allerdings durch die politischen Umstände gedämpft – mit seinen Vorstellungen in der Weimarer Republik:256 Dem rechten Milieu stand Stresemann als handelnder Politiker seit dem Jahr 1923 zwar immer mit beachtlicher Ambivalenz, aber doch immer auch mit erheblicher innerer Sympathie gegenüber. Zu diesem Milieu gehörte ebenfalls Richard Dehmel, der seit 1914, wie andere Intellektuelle,257 mit kriegsverherrlichenden Versen und einem starken Nationalismus hervorgetreten war. Er konnte sich (wie Stresemann selber) nach der Revolution ebenfalls nur schwer für den Weimarer Staat erwärmen.258 Für Stresemann tat das jedoch weder der Bewunderung für den Menschen Dehmel noch dessen dichterischer Leistung Abbruch. Im Gegenteil, die Dichtung Dehmels wurde für ihn erst durch seine nationale Einstellung veredelt und für das kulturelle Gedächtnis der Nation bedeutsam. Bewundernd hob er an ihm hervor, dass er sich »obwohl längst über das wehrfähige Alter hinaus – in den Schützengraben stellte, um [wie Walter Flex] seine Heimat zu verteidigen.«259 Sein kriegerisch-nationales Engagement machte Dehmel in den Augen von Stresemann noch im Jahr 1928 zum dichterischen Heros. Es verpflichtete Zeitgenossen und Nachgeborene, sich an ihn zu erinnern, sich seiner gebührend anzunehmen und ihn und sein Werk zu würdigen.260 Gerade daran aber, so monierte Stresemann im Jahre 1926, als er eine kritische Anfrage der Tochter 255 Tatsache ist und bleibt aber, dass Stresemann den Nationalsozialismus hasste und dass er von den Nationalsozialisten gleichfalls tödlich gehasst wurde. 256 Wahl, S. 29; danach auch die folgenden Gedanken. 257 Vgl. hierzu u. a. Ungern-Sternberg u. Ungern-Sternberg, und Wahl, S. 22 ff. 258 Vgl. dazu nur Henning u. a., darin: Mainholz. 259 Stresemann an Kultusminister Becker, 8.11.1926, PA AA , NL Stresemann 46; danach das Zitat aus dem Brief Ida Dehmels an Stresemann. 260 Dehmel zahlte mit der entsprechenden Münze zurück: »Sonntag passierte um Sie [Strese­mann] eine reizende kleine Begebenheit, deren Kenntnisnahme Ihnen wahrscheinlich Freude macht. Sie kamen – wahrscheinlich vom Reichstag – an der Konditorei Dobrin vorbei, als sich in einem Baum ein paar Schritte hinter Ihnen eine graublaue Felsentaube niederließ. Sie hatte zwar nicht den obligatorischen Ölzweig im Schnabel, gebärdete sich aber ganz wie eine echte Friedenstaube: denn kaum waren sie hinter dem Tor der Wilhelmsgärten in der Friedrich-Ebertstraße verschwunden, da flatterte Ihnen die Taube nach, setzte sich auf einen Baum im Garten unweit der Straße und ließ nach einigen Sekunden ein leises Gurren vernehmen, das trotz des Straßenlärms deutlich, wenn auch leise zu hören war. Drei Minuten später war allerdings ein täubischer Liebespartner stärker in seiner Attraktion als der Staatsmann und Nobelpreisträger«. (Dehmel an Stresemann, 2.4.1928, PA AA , NL Stresemann 66).

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Dehmels unterstützend an den preußischen Kultusminister weitergab, fehle es im Weimarer Deutschland: »Die Republik, das neue Deutsche Reich, hat nichts getan, Dehmels Andenken zu ehren, sein Vorbild zu verewigen. Nicht Dehmel schädigt die Macht von heute damit, sondern [diese] sich selbst. In einer Ehrung Dehmels würden tausende sich geehrt fühlen, deren Opferbereitschaft un­ bedankt geblieben ist.« Zwar hatte Stresemann seit Beginn der 1920er Jahre, als er wieder in die Politik zurückgekehrt war und Realpolitik machte (machen musste), jedwede Irrationalität mehr und mehr zurückgestellt, ja er kämpfte permanent gegen solche Wunschvorstellungen seiner innenpolitischen Gegner, insbesondere, was die von ihm geleitete deutsche Außenpolitik betraf. Trotzdem aber blieb er diesen Träumen offenbar immer (auch) verbunden, ordnete sie nur den gegebenen Notwendigkeiten unter, das beweist die Ambivalenz seiner Außenpolitik. Dies alles kennzeichnete ihn jedoch als einen Realpolitiker par excellence. Stresemann gehörte als Vertreter eines aggressiven Nationalismus zumindest im Ersten Weltkrieg zu denjenigen, denen Walter Flex aus dem Herzen sprach. Insofern sah er in diesem (und Dehmel) immer kongeniale Geistesbrüder, war stolz ihrer Briefe würdig gewesen zu sein. Auch Stresemann war ja vom Krieg bis zu dessen Ende geradezu besessen. Mit den Händen zu greifen ist seine Bewunderung, mit der er in der Kriegszeit seinem alten Freund Moras zu dessen Einberufung gratulierte, wie er dessen militärische Karriere mitverfolgte261 und dessen Kriegsschilderungen in sich aufsog.262 Mit Neid verfolgte er die Schilderungen des Geschäftsführers der Nationalliberalen in Sachsen, Brüß, der vom Soldatenleben schwärmte263 – und war vielleicht doch recht froh, nicht mit dabei zu sein?264 Nicht nur oberflächlicher Dank oder gefühlloses Sammeln von kulturellem und sozialem Kapital, sondern eine tiefe innere Bewegung, nämlich »dazu« gehören zu dürfen, sprach daraus, wie er auf die ihm verliehenen Orden und 261 Stresemann an Moras, 5.1.1915, PA AA , NL Stresemann 145 und 11.10.1915, ebd., 148: »Dass Du, obwohl selbst gesundheitlich noch nicht völlig hergestellt, zu Deinem Regiment eilst. Das so große Verluste in den letzten Kämpfen gehabt hat, und Dich von deiner Familie und von Deinem großen geschäftlichen Unternehmungen loseist, um wieder inmitten Deiner Kameraden zu sein, ist ein wunderbarer Zug, der das Gemeinschaftsgefühl der deutschen Soldaten zeigt«. 262 Stresemann an Moras, 21.8.1916, PA AA , NL Stresemann 164; dazu auch Moras an Strese­mann, 6.12.1917, PA AA , NL Stresemann 114. 263 Brüß an Konrad Niethammer, 31.7.1917, SWA Leipzig. NL Niethammer 443, 2.  Darin hieß es u. a.: »Man lernt sehr viel beim Militär. Nach meinem Dafürhalten ist im deutschen Militarismus […] sehr viel Vernunft, Logik und Zweckmäßigkeit erhalten. Wo sich diese Dinge ins Gegenteil verkehren, liegt allemal ungeschickter menschlicher Einfluss vor«. 264 Die letzte Überweisung Stresemanns zum Landsturm erfolgte am 14.7.1916, Stresemann, PA AA , Privatnachlass Stresemann.

292  Politik in Deutschland und Europa Ehrenzeichen (etwa das Kriegsverdienstkreuz265, den Stern der Großoffiziere des bulgarischen Nationalen Zivil-Verdienst-Ordens oder das Eiserne Kreuz266) reagierte und mit welchem Ernst er das ihm zugedachte Sächsische Bewährungszeichen ablehnte, da »ich es nicht für richtig halte, wenn Persönlichkeiten, die an den Kämpfen in Oberschlesien nicht selber teilgenommen haben, die speziell für diese gedachte Auszeichnung übernehmen«.267 Das alles entsprach eindeutig seiner inneren Überzeugung, war nicht (nur) aufgesetzt. Mit Akribie ging er allen Mitteilungen nach, die darauf hinwiesen, das unter deutschen Reserveoffizieren seine Kriegsreden »im Felde« positiv aufgenommen worden waren, wobei sicherlich einmal mehr eine große Portion Eitelkeit mitspielte.268 Geradezu rührend und weltfremd wirkt in diesem Zusammenhang sein Appell an die »edlen Werte« des Menschen, vor allem an die der Kriegsindustriellen und seine Verurteilung von Kriegsgewinnlern, zu denen er, um die Realität nicht aus den Augen zu verlieren, selbst in besonderem Maße gehörte. Ähnlich ist sein Hinweis auf das »Große und Ganze« zu bewerten: »Daß das Reich bestehen bleibe und größer werde ist notwendig, daß der einzelne be­stehen bleibe und größer werde, ist nicht notwendig.«269 In diesen Worten kann man nicht nur Politik, Anpassung und soziale »Leerformeln« zur Stabilisierung der Volksgemeinschaft im Kriege sehen, sondern auch innere Überzeugung. Die »Volksgemeinschaft« war und blieb ihm das höchste Gut, im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Insofern besaß der Brief an Flex einen er­heblichen Realitätsgehalt. Zugleich wird in dem Brief allerdings auch eine eher elitäre Einstellung zum Wert von individueller Menschenwürde sichtbar. Stresemann war nicht nur Zeit seines Lebens ein strikter Gegner des allgemeinen Wahlrechtes, sondern vor allem dort, wo er (bestimmte) Kulturträger (und zwar der verschiedensten politischen Couleur) vom Krieg und vom Sterben am liebsten ausschließen wollte, zeigt sich diese elitäre Tendenz. Junge Dichter hätten, wegen ihres kulturellen Wertes, der ihm besonders wichtig war, nicht in den Krieg ziehen dürfen, so sein Argument. War das Schmeichelei, traf es seine innere Überzeugung oder aber war damit eine »Entschuldigung«, eine Absolution gegenüber wichtigen Kollegen in der Industrie dafür gemeint, nicht in den Krieg gezogen zu sein? 265 Oberbürgermeister Blüher an Stresemann, 13.1.1916, PA AA , NL Stresemann 161. 266 Schriftwechsel mit seinem Sekretär, Hauptmann Rauch, 13.2.1920, PA AA , NL Stresemann 220. 267 Stresemann an Greiert, 21.8.1921, PA AA , NL Stresemann 231. 268 Stresemann an Richard R. Otto, 30.12.1916, PA AA , NL Stresemann 157; danach auch der folgende Gedanke. 269 Stresemann an Staats- und Finanzminister von Seydewitz, 27.6.1918, PA AA , NL Stresemann 197.

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Stresemann hat aber bei aller Schwärmerei für rückwärtsgewandte Ideen und trotz erklärter Parteinahme für reaktionäre Ideologien eine Abkehr von Rationalität und von Anpassungswillen an die Gegenwart immer vermieden. Im Gegenteil: Im realen Leben wurde der Ökonom und kühle Rechner von dem Gefühlsmenschen nie überwältigt. Deutet das auf Ambivalenz, ein ständiges Schwanken, eine Doppelnatur oder nur auf Orientierungslosigkeit und Opportunismus hin? War er ein Rationalist mit inszenierter Emotionalität? Oder zeigt sich hier erneut das Bild einer hybriden Persönlichkeit, eines Grenzgängers und zugleich eines großen Realisten?

7. Nachleben

Blickt man auf das Leben und das politische Wirken Gustav Stresemanns zurück, ist an seiner Bedeutung, trotz aller Kritik im Einzelnen, kaum zu zweifeln. Wohl keine andere Persönlichkeit aus der Geschichte der Weimarer Republik besaß, so scheint es, die persönlichen, politischen und staatsmännischen Qualitäten und die Nachhaltigkeit im politischen Wirken, um wie er ins kollektive Gedächtnis der Deutschen einzugehen, ja, zu einer Leitfigur für die historische Erinnerung in der Bundesrepublik zu werden.1 Kaum ein anderer Politiker wurde und wird in Deutschland und Europa (nicht nur in den 1920er Jahren) so anerkannt wie Stresemann. Das gilt trotz aller (allerdings kaum noch artikulierter) Zweifel an seiner demokratischen Gesinnung und einigen seiner politischen Zielsetzungen. Kaum eine andere Persönlichkeit in der Weimarer Republik besaß offensichtlich ein solches Charisma wie Stresemann. Friedrich Ebert, Otto Braun, Wilhelm Marx oder selbst Walter Rathenau, von Matthias Erzberger ganz abgesehen, können ihm in dieser Beziehung kaum das Wasser reichen. Kaum ein anderer Politiker dieser Zeit hat sich schließlich so (erfolgreich) wie er bemüht, sein Leben für die Nachwelt so positiv zu konstruieren und zu inszenieren, um eine aus seiner Sicht würdige Biografie für die Nachwelt zu ermöglichen. Alles spricht dafür, dass Stresemann auch heute noch erinnert wird, genauso, wie er es sich selber gewünscht hätte. Auf diesem Feld scheint er ebenfalls erfolgreich gewesen zu sein. Diese Selbstverständlichkeit erweist sich jedoch als nur scheinbar. Das aber hat weniger mit der im Allgemeinen positiven Bewertung Stresemanns zu tun als mit einem generellen Defizit an gesellschaftlicher Erinnerung an die Zeit der Weimarer Republik. Aus diesem Grunde spielt Stresemann in der gegenwärtigen Erinnerungskultur Deutschlands eine eher geringe Rolle, macht trotz seiner Bedeutung offenbar keine Ausnahme im Weimarer »Erinnerungsdefizit«.2 1 Vgl. Pohl, Gustav Stresemann (1878–1929). Die diesem Thema gewidmete Studie von Martin Jenke, Bonn besser als Weimar? Gustav Stresemann als Beispiel – In der Bundesrepublik wäre er nur ein Außenseiter, verspricht im Titel viel – und hält davon nichts. 2 Um nur ein Beispiel zu nennen: Bei einer Umfrage unter Kieler Schülern der gymnasialen Oberstufe im Winter des Jahres 2014 wussten über 95 % nichts mit dem Namen Hindenburg anzufangen, obwohl in der Stadt gerade eine intensive Diskussion darüber stattfand, ob eine nach ihm benannte Straße umbenannt werden sollte. Die Erinnerung an Weimar scheint also, anders als noch vor Jahrzehnten, im kollektiven Gedächtnis der Deutschen gegenwärtig eine höchst untergeordnete Rolle zu spielen. Der Nationalsozialismus und die Auseinandersetzung mit ihm überlagern die Erinnerung an diese Zeit offensichtlich ganz massiv.

296 Nachleben Auffällig ist jedoch, dass sich nicht einmal der heutige, allerdings vor sich hinsiechende, politische Liberalismus in besonderer Weise an ihn erinnert. Die Liberalen favorisieren in ihrer durchaus vorhandenen Erinnerung an Persönlichkeiten aus der Weimarer Republik eher Personen wie Friedrich Naumann, Theodor Heuss, Hugo Preuß oder Wilhelm Külz.3 Sind damit die Wünsche Stresemanns hinfällig geworden, als ein bedeutender bürgerlicher und demokratischer Politiker akzeptiert zu werden und als solcher in die Geschichte einzugehen? Wenn man das Bild Stresemanns allerdings bei denjenigen untersucht, die sich etwas mehr als der Durchschnitt der Deutschen für die Geschichte der Weimarer Republik interessieren trifft das keineswegs zu. Dann zeigt sich, wie von Stresemann gewünscht, ein anderes, ein für ihn höchst positives Bild. Er, seine Ideale, seine Werte und seine (außen)politischen Erfolge werden sowohl in der Forschung als auch in der besonders geschichtsinteressierten Öffentlichkeit höchst positiv erinnert. Um historische Erinnerung in ihren vielfältigen Erscheinungsformen zu erfassen, sind in den 1990er Jahren die Begriffe »Erinnerungskultur(en)«, »Geschichtskultur(en) und »Geschichtspolitik« geprägt worden. Im Falle Stresemanns ist vor allem der Begriff der »Erinnerungskultur« von Bedeutung, also die Problematik, wie und warum einzelne Personen, Gruppen und ganze Gesellschaften bestimmte Aspekte der Vergangenheit auswählen, um sie durch Publikationen, Denkmale, Feiern, Ausstellungen, Filme usw., im öffentlichen Bewusstsein zu halten.4 Welche Eigenschaften sollten also Menschen verkörpern, so wäre in diesem Zusammenhang zu fragen, damit sie sich für eine Erinnerungskultur in der gegenwärtigen Gesellschaft eignen. Und was könnte Stresemann kennzeichnen, um ihn in der Erinnerungskultur interessant zu machen – oder aber um ihn rasch zu vergessen? Persönlicher Aufstiegswille

Wirtschaftlicher und politischer Erfolg durch zähe und harte Arbeit, durch Strebsamkeit und Fleiß, durch persönliches Engagement und einen unbeugsamen Aufstiegswillen, das sind zentrale bürgerlich-liberale Tugenden. Jeder kann alles schaffen, wenn er nur persönlich tüchtig ist und arbeiten will. Nach diesem Motto hat Stresemann gelebt und diese Werte hat er immer wieder mit 3 So nennen sich etwa die entsprechenden politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Einrichtungen oder liberalen Förderkreise der FDP nach diesen Politikern, nicht aber nach Stresemann. Die »Stresemann-Gesellschaft« in Mainz, die sich seit Jahrzehnten um die Erinnerung des Politikers bemüht, hat öffentlich nie eine überragende Bedeutung erreicht und versteht sich zudem nicht speziell als liberaler Erinnerungsort. 4 Die damit verbundene Problematik ist den letzten Jahrzehnten intensiv diskutiert worden. Zur fast unübersehbaren Literatur nur: Assmann; Berek; Cornelißen; Schmid; B. Wagner und Welzer.

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Erfolg nach außen vertreten. Diese Einstellung ist gegenwärtig eine der Grundlagen der meisten Gesellschaftsordnungen in Europa. Anknüpfungspunkte an die Gegenwart sind also reichlich vorhanden. Das bürgerliche Engagement, die politische Tätigkeit in Gemeinde, Land und Reich

Stresemann war stark in das bürgerliche Milieu von Dresden (und später partiell in Berlin) integriert. Er half dabei, es mitzugestalten, zu fördern und auszubauen. Er erschien insofern als ein idealer Bürger. Das ist von der Forschung so wahrgenommen und positiv gewürdigt, von Stresemann selber kolportiert worden. Sein umfangreiches politisches Engagement auf den verschiedenen politischen Ebenen entspricht genau heutigen bürgerlichen Wertvorstellungen, insbesondere angesichts der gegenwärtigen »Politikverdrossenheit«. Das Element bürgerlicher Sozialfürsorge

Stresemann favorisierte das Ideal einer Gesellschaft, die im Prinzip für das Wohlergehen aller ihrer Mitglieder (mit) zu sorgen habe. Er hat versucht das Modell einer klassenlosen Bürgergesellschaft zu verwirklichen, wird dementsprechend als ein Mann der Mitte, des Ausgleichs und der »Vernunft« konstruiert. Diese Einstellung passt sehr gut in die gesellschaftlichen Vorstellungen der Gegenwart. Ein politisches System wie der Sozialstaat Bundesrepublik und ein Wirtschaftssystem, wie die »soziale Marktwirtschaft«, wie sie gegenwärtig von nahezu allen Parteien in Deutschland getragen werden, hätten seinen Vorstellungen sicherlich nicht widersprochen. Hier zeigt sich erneut: Stresemann ist ein geradezu idealer Erinnerungsort für den Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland. Individualität, Selbständigkeit und die Ablehnung aller kollektivistischen und vor allem marxistischen Ideen

Zeit seines Lebens hat Stresemann Sozialdemokraten und Freie Gewerkschaften politisch bekämpft, ihnen ihr Existenzrecht aber nie abgesprochen. Nur die Kommunisten waren ihm verhasst. Sein großes politisches Ziel bestand darin, alle Bürger zu befähigen sich selbst zu helfen und nicht auf kollektive Interessenvertretungen angewiesen zu sein. Seine Maxime war, fordern und fördern. Das sind Vorstellungen, die gegenwärtig die Gesellschaft in der Bundesrepublik stark bis hin zur Sozialdemokratie prägen und die Stresemann in jedem Fall zu einem bürgerlichen Vorbild machen.

298 Nachleben Außenpolitischen Vorstellungen, Deutschlands Integration in »den« Westen

Stresemann hat Deutschland an »den« Westen heranführen wollen. Er hat die Verständigung mit Frankreich gesucht, die deutsch-französische Feindschaft überwinden wollen und Deutschland in die internationale Gemeinschaft, in den Völkerbund, geführt, so der Forschungstrend. Damit kann ihm eine Politik zugeschrieben werden, die die Regierungen der Bundesrepublik seit 1949 vertreten haben. Sein Antikommunismus passte lange Zeit in das Bild der deutschen Außenpolitik im 20. Jahrhundert, die sich schwer tat, eine Verständigung mit der UdSSR und Polen zu erreichen. Gustav Stresemann in der Erinnerungskultur nach 1929

Gustav Stresemann bietet sich also als ein geeigneter Träger liberal-demokra­ tischer Erinnerungskultur in Deutschland an. Ein Vertreter dieser Grundwerte schon z. T. im Kaiserreich und geradezu der Verfechter einer parlamentarischen Demokratie in der Weimarer Republik, der politische »Retter« im Jahre 1923, der nationale und europäische Staatsmann und Friedensnobelpreisträger; Strese­mann, der innenpolitische Krisenmanager, der Sozialpolitiker und zugleich das liberale Bindeglied nach rechts, zur Deutschnationalen Volkspartei und nach links zur Sozialdemokratie, ein moderner Parlamentarier und Parteiführer, ein parlamentarisch-liberales Urgestein, ein ausgewiesener Antikommunist und noch hoch gebildet. So wird er historisch bewertet – und so wollte er bewertet werden. Schattenseiten scheint es da keine gegeben zu haben. Sie sind jedenfalls in der Erinnerung nicht wirkungsmächtig geworden. Zugleich wird er als ein Mann gesehen, der lernfähig war, der politisch reifen konnte, sich Fehler eingestand, der stichhaltigen Argumenten gegenüber offen zu sein schien, zugleich Pragmatiker und sehr flexibel, aber doch an Ideale gebunden, der »versöhnen« statt spalten wollte. In diesem Urteil kommen Selbstund Fremdbild nahezu vollständig zur Deckung. Sein Schwanken zwischen »rechts« und »links«, zwischen Machtstaat und Verständigung ist demgegenüber kaum in die (west)deutsche Erinnerung eingegangen, höchstens in dem Sinne, dass er einige Zeit gebraucht habe, um den rechten Pfad zur Demokratie zu finden, was ihn vielleicht noch sympathischer macht. Stresemann war immer – das bedurfte keiner Inszenierung – ein Gegner der Völkischen und Nationalsozialisten. Er wurde von ihnen bedroht und in politischen Versammlungen massiv angegriffen. Gegen Antisemitismus wiederum schien er allein schon deswegen weitgehend gefeit zu sein (so wusste er es jedenfalls der Öffentlichkeit zu vermitteln), weil er selber mit einer konvertierten Jüdin verheiratet war und erhebliche antisemitische Anfeindungen auf sich zog. Die Frage nach einem möglichen Antisemitismus wird in der Erinnerung an Stresemann nicht einmal gestreift.

Nachleben 

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Stresemann konnte zudem als einer der wenigen demokratischen »Vorzeigemänner« der Weimarer Republik erinnert werden, deren Stern nicht durch den Nationalsozialismus und den von den Deutschen verübten Völkermord getrübt werden konnte. Seine Bedeutung wird noch dadurch erhöht, dass es in der Weimarer Republik nicht zu viele »aufrechte« Demokraten gab. Stresemann in der fachwissenschaftlichen Diskussion

Stresemann avancierte, wie erwähnt, in der fachwissenschaftlichen Diskussion nach einigen Umwegen nicht nur zum außenpolitischen Vorzeigepolitiker und Verständigungspolitiker par excellence, sondern zu einem der größten Staatsmänner der Weimarer Republik. Er gilt aus Sicht der Wissenschaft nahe­ zu einhellig als große Persönlichkeit.5 Am friedenspolitischen Stresemann von Weimar, am Demokraten und Verteidiger der Weimarer Republik wird in der historischen Wissenschaft kaum noch gezweifelt. Das hat die Literatur zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch einmal ausdrücklich belegt. Kritische Stimmen sind längst verstummt. Wenn es also einen Politiker aus der Weimarer Republik gibt, der zu einer Leitfigur für die Bundesrepublik taugt, scheint es aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft Gustav Stresemann zu sein. Über dieses positive Urteil der von ihm immer verehrten Geschichtswissenschaft wäre Stresemann sicherlich sehr erfreut gewesen. Ihm hätte er sich vorbehaltlos angeschlossen. Stresemann in den deutschen Schulgeschichtsbüchern nach 1945

Die Ebene des staatlich favorisierten und geförderten historischen Gedächtnisses bildet sich vor allem in den Schulgeschichtsbücher ab.6 Sie vermitteln die vom Staat als notwendig erachteten Kulturtechniken für den Umgang mit Geschichte und, das ist in diesem Kontext entscheidend, das staatlich favorisierte Grundwissen, die Vorstellungen von Geschichte (und historischen Persönlichkeiten), die staatlich und gesellschaftlich gewünscht und akzeptiert werden. Mit ihrer Hilfe wurden und werden, das gilt besonders für die »Gesinnungsfächer« wie etwa Geschichte, gezielt staatlich bzw. gesellschaftlich gewünschte Identitätsangebote zur politischen und sozialen Sozialisation sowie zur kulturellen Orientierung angeboten. Den Einfluss von Schulgeschichtsbüchern auf das Geschichtsbewusstsein jeder jungen Generation kann daher kaum überschätzt werden, auch gegen5 Vgl. dazu das Unterkapitel »Dichte Beschreibung II«. Über kaum einen anderen Politiker in der Weimarer Republik sind, in verschiedenen Zeitabschnitten, so viele Biografien geschrieben worden wie über ihn. Vgl. die Hinweise im Literaturverzeichnis. 6 Zur Bedeutung von Schulgeschichtsbüchern für das Geschichtsbewusstsein vgl. u. a. Fuchs u. a.

300 Nachleben wärtig nicht, trotz der Konkurrenz einer Vielzahl moderner Medien. Er ist flächendeckend und generationenübergreifend, und er spiegelt zugleich die jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Vorstellungen von der Vergangenheit nicht nur punktuell, sondern nahezu vollständig wider. Schulgeschichtsbücher sagen daher mehr als andere Medien darüber aus, was der »common sense« bezüglich der Bewertung bestimmter historischer Ereignisse und Personen ist – und zu sein hat. Mit der öffentlichen Erinnerung an Gustav Stresemann, wie sie durch Schulgeschichtsbücher vermittelt wird, hat sich besonders Andreas Körber befasst. Auf seine Forschungsergebnisse kann daher hier zurückgegriffen werden7. Zusammenfassend kommt er zu dem Ergebnis, dass das Stresemann-Bild in den (west)deutschen Schulgeschichtsbüchern zu allen Zeiten durchgehend positiv besetzt war. Das gilt bis in die Gegenwart (bis zum Jahr 2000 reicht seine Analyse und es sieht nicht so aus, als ob sich danach Wesentliches verändert hätte).8 Wichtig für das so vermittelte Geschichtsbild war, so Körber, dass Stresemann und seine Politik höchst anpassungsfähig für verschiedene politische Positionen, aber auch unterschiedliche Fragestellungen, waren, und bis heute sind. Die Stresemann’sche Politik (und ebenfalls seine Person) besaßen genügend »Leerstellen«, die jeweils verschieden gefüllt und interpretiert werden konnten. Stresemann ließ sich sehr gut in die meisten Vergangenheitskonstruktionen einpassen, die in den verschiedenen Nachkriegskonstellationen dominierten. Das gilt gleichfalls für die Darstellung in den Schulgeschichtsbüchern der DDR , wo Stresemann, wie in der dortigen wissenschaftlichen Literatur, allerdings unisono negativ dargestellt wurde, gewissermaßen als erwünschtes Feindbild galt.9 Zum einen hängt diese Offenheit Stresemanns mit dem breiten Spektrum seiner politischen Tätigkeit und der Vielfalt der Felder ab, auf denen er agierte. Vom Dichter bis zum Manager, vom Politiker bis zum idealen Familienvater, vom Bürger bis zum Friedensstifter, auf all diesen und noch weiteren Feldern kann man in der Erinnerung bei ihm »andocken« und fündig werden. Zum anderen wird diese Offenheit durch die politische Flexibilität gefördert, die den Realpolitiker besonders auszeichnete. Konservative wie Sozialdemokraten, Liberale wie Pazifisten, Christen wie jüdische Bürger, Stresemann bietet allen 7 Körber, Stresemann als Europäer. Die Darstellung hier folgt im Wesentlichen seiner überzeugenden Argumentation. Seit dem Erscheinen seiner Studie dürfte sich in dieser Frage nichts Wesentliches geändert haben. 8 Ebd., S. 335 f. 9 Vgl. hierzu vor allem die Arbeiten von Wolfgang Ruge, der Stresemann und seine Politik höchst kritisch beurteilte. Etwa: Ruge, Stresemann. Ferner: ders., Außenpolitik; ders., Ein Leitbild? und ders., Legende und Wirklichkeit. Diese kritischen Ansätze sind jedoch weder in der neueren Forschung noch in den deutschen Schulgeschichtsbüchern ernsthaft aufgenommen worden und haben sich daher nicht durchgesetzt.

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Parteiungen Diskussionsmöglichkeiten an, er ist nicht direkt (negativ) festzu­ legen und kann insofern nicht einfach nur »linear« interpretiert werden. Er zeigt überall »offene Flanken«. Das bietet für die verschiedensten Erinnerungskulturen unterschiedliche Ansatzpunkte. Das aber ist für eine nachhaltige und breite Erinnerungskultur geradezu ideal. In der frühen Epoche der Bundesrepublik, so der Trend der damaligen Schulgeschichtsbücher, fungierte Stresemann als Vorbild des »guten Deutschen«.10 Er und seine Politik wurden so dargestellt, dass sie eine positive Traditionslinie zu Demokratie, Parlamentarismus und freiheitlichen Bestrebungen (mit) begründen konnten, zu politischen Werten, denen sich die junge Bundesrepublik verpflichten wollte. Stresemann wurde als wahrer deutscher Demokrat, als das einprägsame Gesicht des anderen, des »guten Deutschland« konstruiert. Durch ihn konnte sich das deutsche Bürgertum gewissermaßen von seiner Mitschuld an der Etablierung des nationalsozialistischen Systems entlasten und durch den Verweis auf seine Tätigkeit zugleich die eigenen (positiven) Werte und Normen hervorheben. Neben den Widerständlern im »Dritten Reich« stellte Stresemann auf diese Weise eine positive Kontinuität deutscher Geschichte dar, die es, so die Konstruktion, immer gegeben habe und auf die sich vor allem die bürgerliche und nichtsozialistische Bundesrepublik beziehen konnte. Zudem war es, angesichts der Zeitumstände nach 1945, nicht von Nachteil, dass Stresemann ein Kommunistenhasser war. Eine solche Funktionalisierung passte ebenfalls gut in die Zeit und zu der damaligen Politik in der Bundesrepublik. In einer späteren Phase, als die europäische Integration und die Westbindung der Bundesrepublik auf der politischen Agenda standen, wurde Stresemann als »früher Europäer«, als Vorläufer der Montanunion, der EWG und später der EU konstruiert.11 Schließlich schien er sich schon bei der Etablierung der IRG im Jahre 1926 für eine wirtschaftliche Kooperation eingesetzt zu haben.­ Locarno und Völkerbund, internationale Handelsabkommen sowie die Verleihung des Friedensnobelpreises schienen weitere wichtige Belege für seine europäischen Intentionen zu sein. Seine europäischen Zielsetzungen hatte er, so das einhellige Urteil in den (westdeutschen) Schulgeschichtsbüchern, bereits in der Zusammenarbeit mit dem französischen Außenminister Briand bewiesen, in der zumindest über Ideen eines gemeinsamen Europas reflektiert wurde. Das alles wurde in der Bundesrepublik als historischer Beleg dafür genutzt, dass Deutschland bereits in den 1920er Jahren auf Verständigungs- vor Gewaltpolitik gesetzt hatte. Auf diese Weise konnte historisch gestützt werden, dass die deutsche Politik nach 1945, die sich auf Stresemann berief, ähnlich positive Ziele verfolgte und es da10 Körber, Stresemann als Europäer, S. 201 f. 11 Ebd., S. 210 ff.

302 Nachleben mit genau so ernst meinte wie er. Die »Legende vom großen Europäer« war politisch nützlich und ließ sich zugleich historisch untermauern und instrumentalisieren. Sie wird in der Regel bis heute in den Schulgeschichtsbüchern tradiert. Allein aus diesem politischen Grund musste daher Kritik an Stresemann und seiner Politik als »unzeitgemäß« erscheinen, passte nicht in die politische Landschaft und war geradezu politisch unerwünscht.12 Und schließlich Stresemann und Frankreich. Wenn es der deutschen Politik nach 1945 darum ging, die »Erbfeindschaft« mit dem westlichen Nachbarstaat abzubauen, eine deutsch-französische Verständigung herbeizuführen und Deutschland an den Westen zu binden, dann gab es wohl kaum einen anderen Politiker, den man historisch so gut instrumentalisieren konnte wie Stresemann und seine Politik. Stresemann, so die Zuschreibung, hatte die deutsch-französische Verständigung gewollt, und den Bolschewismus im Osten abgelehnt. Das überdeckte alle möglichen Zweifel an seiner Ostpolitik. Er hätte mit seinen politischen Vorstellungen gut in die Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre gepasst und konnte von ihr dementsprechend mit Erfolg adaptiert werden. Die Schulgeschichtsbücher haben daher gleichfalls den Boden für Stresemann als eine große liberale und demokratische Erinnerungsfigur geebnet und vorbereitet. Stresemann in der Erinnerung von Öffentlichkeit und Politik

Außenpolitiker stehen in einer parlamentarischen Demokratie, neben den Regierungschefs, meist im Blickpunkt. Dies gilt vor allem dann, wenn sie in unruhigen Zeiten und langfristig tätig sind. Das trifft für keinen anderen (Außen-) Politiker in der Weimarer Republik so zu wie für Gustav Stresemann. Zum einen agierte kein Kabinettsmitglied so lange wie er, schon gar kein Außenminister. Und zum anderen verbanden sich mit seinem Namen immer politische Kontroversen, innen- und vor allem außenpolitisch. Stresemann war insofern als Politiker keine unbekannte »graue Maus«. Das macht(e)  auf ihn aufmerksam. Politiker stehen zudem dann verstärkt im Mittelpunkt, wenn das politische Geschehen bewegt, ihre Politik kontrovers beurteilt und ein politischer Konsens schwer herzustellen ist. Das trifft auf Stresemann und seine Außenpolitik zu. Gerade sie stellte in der Weimarer Republik eines der wichtigsten und zugleich am meisten diskutierten Themen dar. Mochten Sozial- oder Innenpolitik von ebenso großer Bedeutung für die Zeitgenossen sein, tradiert sind bis heute vor allem außenpolitische Aspekte. In jedem Schulgeschichtsbuch ist von der positiven »Ära Stresemann« die Rede. 12 Die Stresemann-Kontroverse Ende der 1950er Jahre hat in den meisten deutschen Schulgeschichtsbüchern kein Echo gefunden.

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Stresemann war in Weimar ein Mann der Kontroverse, der seinen Gegnern zur Polarisierung diente. Diese Gegner aber waren, das wird immer hervorgehoben, Feinde des demokratischen Staates, Feinde einer Verständigungspolitik, Gegner einer europäischen Integration, Antisemiten oder Kommunisten, Nationalisten und Faschisten. Sie sind aus heutiger Perspektive keine positiven Erinnerungsfiguren. Das hat seinen Kampf noch zusätzlich geadelt und anfangs seinen Nachruhm befördert. Bei all dem überrascht es daher nicht, dass der frühe Tod Stresemanns im Jahr 1929 national und international ein großes Echo fand.13 Es überrascht vielmehr, wie nahezu uneingeschränkt positiv dieses Echo war, trotz der vielen innenpolitischen Feinde, die Stresemann besaß und trotz aller möglichen Kritik, die man an seinen politischen Vorstellungen hätte äußern können.14 Damit bestätigt sich erneut: Stresemann wurde so beurteilt, wie er hätte beurteilt werden wollen. Ein Beispiel: Harry Graf Kessler notierte am 3. Oktober 1929 aus Frankreich:15 »Er [Stresemann] ist heute früh um fünfeinhalb Uhr einem Schlaganfall erlegen. Es ist ein unersetzlicher Verlust, dessen Folgen nicht abzusehen sind. So empfindet man ihn auch hier [in Paris]. Alles spricht davon, die Kellner im Restaurant, die Chauffeure, die Zeitungsfrauen […] Es ist fast so, als ob der größte französische Staatsmann gestorben wäre. Die Trauer ist allgemein und echt.«16

Weiter fuhr er fort17: »Die Legende beginnt; Stresemann ist durch seinen plötzlichen Tod fast eine mythische Figur geworden. Keiner von den großen Staatsmännern des 19.  Jahrhunderts, weder Pitt noch Talleyrand, noch Metternich, noch Palmerston, noch Napoleon III., noch Cavour, noch Bismarck, noch Gambetta, noch Disraeli hat eine so einstimmige Weltgeltung und Apotheose erreicht. Er ist der erste, der als wirklich europäischer Staatsmann in Walhalla eingeht.«

Zur Beisetzung Stresemanns in Berlin notierte er schließlich18: »Es zeigt sich immer mehr, in welch gewaltigem Ausmaße das Volk an der Trauerfeier für 13 Vgl. hierzu ausführlich Wright, Stresemann, S. 490 ff. 14 Vgl. den Nachruf in der »Vossischen Zeitung«, (3.10.1929, Abendausgabe, Nr.  467): »Wer die Ehrfurcht hat beobachten können, mit der Stresemann im Auslande behandelt wurde, der bekam eine Ahnung davon, welch reichen politischen Kredit Stresemann uns in der Welt geschaffen hat. Es wird auch der Tag kommen, wo über Stresemanns politisches Lebenswerk auch im Deutschen Reiche das Urteil nicht verschieden sein kann. Der Tag an dem man begreifen wird, was Stresemanns Tod für das Deutsche Reich bedeutet: Nicht nur ein Verlust, weit mehr: ein Unglück!«. 15 Harry Graf Kessler, Tagebücher, 594 f. 16 Ebd., S. 595. 17 Ebd., S. 595 f. 18 Ebd., S. 597. Vgl. dazu Kolb, Stresemann, S. 6 ff.

304 Nachleben Stresemann teilgenommen hat. Viele Hunderttausende haben sich vor seinem Sarg verneigt. Eine Zeitung sagt mit Recht, es war kein Staatsbegräbnis, sondern ein Volksbegräbnis.« Bis hierhin schien gewissermaßen alles wie von Stresemann gewünscht zu verlaufen, wenngleich Harry Graf Kessler das Echo auf Stresemanns Tod sicherlich ein wenig ausschmückte und zu positiv sah. Sein ambivalentes Verhältnis zum Aufsteiger Stresemann, seine aristokratische Herablassung ihm gegenüber dürfte jedoch verhindert haben, dass er Stresemann zu sehr bewunderte oder gar in Heldenverehrung verfiel. Weniger glänzend und positiv stellt sich das Geschehen allerdings dar, wenn man die Geschichte des Stresemann-Ehrenmals in Mainz, also eine erste materielle Erinnerung an ihn, untersucht.19 Der Plan zu einem raschen Bau des Ehrenmals kann allerdings noch als ein Zeichen der Bewunderung und Wertschätzung betrachtet werden. Das von dem Stresemann und den Liberalen nahe stehenden Industriellen F. W. Kalle mit Hilfe des Mainzer Automobil Clubs kurz nach seinem Tode initiierte Denkmal sollte, selbst in der Zeit der großen Krise der Weimarer Republik und im Zeichen vielfacher Ablehnung des »Weimarer Systems«, an den großen Politiker Gustav Stresemann und seine Verdienste um gerade diese, nun von vielen Seiten bekämpfte, Weimarer Republik und an seine Verständigungspolitik erinnern. Gleichzeitig und vor allem erinnerte das Ehrenmal aber bereits an den gescheiterten Außenminister. Das Denkmal, dessen Grundstein nach einigen Verzögerungen schließlich am 5.  Juli 1930 gelegt wurde, sollte vor allem die »Befreiung der Rheinlande« von französischer Besetzung am 30. Juni 1930 hervorheben. Es sollte gerade nicht für die Stresemann’sche Europapolitik oder die deutsch-französische Verständigung stehen, so wie sie von ihm für die Nachwelt konstruiert worden war. Insofern lag die Ehrung, weil sie die »Befreiung der Rheinlande« nicht in erster Linie als Resultat seiner Friedenspolitik inszenierte, punktgenau daneben. Die Ehrung passte zu dem inzwischen veränderten politischen Klima:20 Die Feierlichkeiten anlässlich der Räumung, in deren Kontext die Grundsteinlegung zu sehen ist, waren jetzt mehr oder weniger nationalistisch aufgeladen, geprägt durch Genugtuung, verbunden mit wachsender Konfrontation zum westlichen Nachbarn. Insofern passte das Ereignis kaum noch zum Versöhner Stresemann und seiner immer wieder nach außen verkündeten Politik. Symbolisch für diesen Wandel war, dass »die offizielle Proklamation der Regierung Brüning dabei sogar die Nennung Stresemanns« vermied.21 Ein Umdenken in der Außenpolitik hatte also bereits eingesetzt. 19 Vgl. hierzu und zum Folgenden Scheidel, ferner Körber, Stresemann als Europäer, S. 272 ff. 20 Ebd., S. 90 ff. 21 Ebd., S. 90.

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Die weitere Geschichte des Ehrenmals mahnt ebenfalls zur Skepsis. Entgegen allen euphorischen Äußerungen der Initiatoren fiel die Konkretisierung des Projektes nämlich keinesfalls leicht, was nicht nur mit den schlechten wirtschaftlichen Umständen der Zeit zusammenhing: »Giftpfeile aller Art wurden in Form von Briefen und Artikeln in den Zeitungen abgesandt. Die Gelder kamen in dieser Zeit sehr spärlich […]«22. Es mussten 10.000 Einzelbriefe und über 100.000 Bittbriefe und Einzeichnungsbogen versandt werden, um die finanzielle Basis für das Unternehmen zu schaffen. Die Erinnerung an Stresemann verkaufte sich offensichtlich bereits kurz nach seinem Tode nicht mehr von selbst. Diese Veränderung zeigte auch die Feier zur Übergabe des Ehrenmals. Sie war kühl und sachlich, und die Reichsregierung war nur durch den Außenminister Curtius, einen Parteifreund Stresemanns, vertreten.23 Bis zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, die das Ehrenmal 1933 schließen und wenige Jahre später abreißen ließen, wurde es, soweit sich das dokumentieren lässt, immerhin noch rege besucht. Es zeigt sich, dass Stresemann im Gedächtnis eines großen Teils der bürgerlich und demokratisch gesonnenen Bevölkerung Ende der 1920er, Anfang der 1930 Jahre, gerade im Rheinland, noch eine positive Rolle spielte. Das aber änderte sich nach 1933 gravierend. Nach der fast völligen Verbannung aus dem nationalen Gedächtnis zwischen 1933 und 1945 wurde die Legendenbildung nach dem Krieg und dem Ende des Nationalsozialismus aber wieder aufgenommen, ganz im Sinne Stresemanns und der Interpretation Graf Kesslers. Sie wurde ab 1945 umso intensiver betrieben, als man davon ausging, dass Stresemann in den Jahren der finalen Krise der Weimarer Republik möglicherweise den Nationalsozialismus hätte verhindern können oder doch zumindest mit ihm in schwere Konflikte geraten wäre. Ein solcher Mann, der sich den Nazis in seiner Lebenszeit verweigerte und immer der meistgehasste Mann der politischen Rechten wegen seiner »Verzichtspolitik« gewesen war, musste sich nicht nur den bürgerlichen Politikern nach 1945 als politische Identifikationsfigur der neuen Bundesrepublik geradezu aufdrängen. Zweifel an seiner Politik waren da unerwünscht24 Aus diesem Grunde verwundert nicht, dass es in den ersten Jahren der Bundesrepublik eine reiche (positive) Erinnerung an Gustav Stresemann gibt. Davon zeugen, auf einer ganz banalen Ebene, die vielen Stresemannstraßen, -alleen und -plätze, die nach dem Kriege entstanden. Es gibt in Deutschland keine größere Stadt, die Stresemann nicht in diesem Sinne verewigt hätte, und zwar meist an zentralen Punkten. Ähnliches trifft auf die Stresemannschulen zu, die allerorten zu finden sind. Stresemannbilder wiederum schmücken die ent22 Scheidel, S. 126; danach auch die folgenden Gedanken. 23 Körber, Stresemann als Europäer, S. 90 f. 24 Vgl. dazu die Diskussionen, die sich um die Thesen von Henry. A Turner, entsponnen haben, Turner, Überlegungen zu einer Biographie, S. 290 ff.

306 Nachleben sprechenden Archive in Deutschland. Der positive Stresemann dominiert also überall. Ein Beleg für den Versuch, diese positive Erinnerung wach zu halten, ist auch die Tätigkeit der in frühen Jahren der Bundesrepublik höchst aktiven Stresemanngesellschaft, deren Ehrenmitglieder ein breites politisches Spektrum von konservativ (Helmut Kohl) über liberal (Hans-Dietrich Genscher, Klaus Kinkel) bis sozialdemokratisch (Kurt Beck) umfassen. Sie war es, die z. B. im Jahre 1978 eine große Festveranstaltung zu Ehren Stresemanns organisierte, in der sich Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) äußerst positiv zu Stresemann, dem »Europäer« äußerte.25 In diesen Kontext gehört schließlich der Versuch, an das zerstörte Stresemannehrenmal aus den 1920er Jahren anzuknüpfen, wiederum durch den Industriellen Kalle betrieben.26 Er und seine Unterstützer ließen eine neue Gedenkstätte im Mainzer Zeughaus errichten, allerdings ein im Verhältnis zum alten Ehrenmal sehr bescheidenes Projekt. Dieses Anliegen wurde nicht nur finanziell durch die Bundesregierung gefördert, sondern zu der Einweihung des kleinen Ehrenmals am 16. Oktober 1960 äußerte sich die gesamte deutsche Politprominenz mit freundlichen und anerkennenden Worten.27 Die Politik der CDU hat in ähnlicher Weise an Stresemann erinnert, lange Zeit die europäische Komponente in der Politik Stresemanns hervorgehoben und in ihrem Sinne genutzt. Dabei spielte keine Rolle, dass Konrad Adenauer, ihr führender Kopf, schon in der Weimarer Zeit kein Freund Stresemanns gewesen war, teilweise Zweifel an seinen politischen Zielsetzungen gehabt und eine herzliche Abneigung den ehemaligen Kölner Oberbürgermeister mit dem damaligen Außenminister Stresemann verbunden hatte.28 Adenauer wusste sehr wohl den symbolischen Nutzen des Namens Stresemann für seine Politik nach den zwölf Jahren des Nationalsozialismus einzukalkulieren. Er erkannte die politischen Chancen, die dessen Instrumentalisierung für seine Ziele boten, stellte daher alle negativen Vorbehalte beiseite. Der politische Wunsch, einen so konstruierten Politiker Stresemann für die eigene Politik zu nutzen, lässt sich sehr gut am Beispiel des von der CDU-Regierung staatlich geförderten Stresemannfilms aus dem Jahre 1956/57 zeigen.29 Mit Körber kann man feststellen, dass »mit dem Stresemannfilm erstmalig gegenüber der breiten Öffentlichkeit versucht [wurde], den Reichsaußenminister eindeutig 25 Stresemanngesellschaft, S. 36–47. 26 Körber, Stresemann als Europäer, S. 272 ff. 27 Scheidel, S. 129 ff. 28 Vgl. dazu ausführlich Erdmann, Adenauer. 29 Einzelheiten zur Analyse und Entstehung dieses Films in: Pietschack; danach auch weitere Einzelheiten. Aus persönlicher Sicht dazu W. Stresemann, Zeiten und Klänge, S.  271 ff. Zur Interpretation des Kontextes: Körber, Der Stresemann-Film, sowie ders., Stresemann als Europäer, S. 229 ff.

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für die Westpolitik Adenauers zu vereinnahmen«.30 Mit dem Film wurde, wenn auch mit relativ geringem Erfolg in der Öffentlichkeit, Geschichte instrumentalisiert und den aktuellen politischen Erfordernissen angepasst. Und das mit allem Pomp: »Die Inszenierung der Uraufführung des Films kam geradezu einem Staatsakt gleich, den der Sohn Stresemanns, ein berühmter Dirigent mit dem Berliner Rundfunk-Symphonie-Orchester musikalisch stimmungsvoll umrahmte«31. Diese Instrumentalisierung Stresemanns unterstützten (indirekt) auch die evangelische Filmgilde, die den Stresemannfilm zum besten Film des Monats Februar erklärte und der katholische Filmdienst, der den Film ebenfalls lebhaft empfahl.32 Stresemann in der gegenwärtigen Erinnerungskultur: Ein Ausblick

Welchen Stellenwert hat nun Stresemann in der gegenwärtigen Erinnerungskultur in Deutschland? Ziemlich sicher ist: einen relativ geringen – wie fast alle Weimarer Politiker. Diese Ansicht wurde schon 1957 vom Journalisten Gunter Groll vertreten, der im Kontext der Entstehung des Stresemannfilms in der »Süddeutschen Zeitung«33 konstatierte: »Umfragen unter der jüngeren Generation hatten das traurige Ergebnis, dass sich unter ›Stresemann‹ viele gar nichts, manche einen feierlichen Anzug einige zwar immerhin den Erfinder desselben vorstellten, unter diesem aber teils einen Herrenschneider und teils einen Schauspieler.« Daran hat sich wenig geändert. Das muss nach dieser Vorgeschichte und den positiven Vorbedingungen überraschen. Die Palette der Erinnerungen ist zwar gegenwärtig immer noch breit: Hotels, ohne Bezug zu ihm, schmücken sich in vielen Städten nach wie vor mit seinem Namen, setzen also aus Werbezwecken auf die Erinnerung an ihn. Gleiches gilt für das »Stresemann-Haus« in Bonn. Umfragen allerdings, die die Bevölkerung in den letzten Jahren nach Stresemann und ihrem Bild von ihm befragen, konnten nicht eruiert werden. Man kann aber vermuten, dass dazu wohl nur wenig gesagt worden wäre. Stresemann scheint zwar nicht völlig vergessen, aber – in der breiten Öffentlichkeit – nicht mehr sehr präsent zu sein. Die Erinnerungen der führenden Außenpolitiker an ihn sind eher knapp. Joschka Fischer hat zu ihm und seiner Politik positiv Stellung genommen,34 Willy Brandt35 und Hans-Dietrich Genscher36 haben ihn geehrt. Was aber verKörber, Stresemann als Europäer, S. 260. »Der Spiegel«, 27.1.1957. Vgl. dazu W. Stresemann, Zeiten und Klänge, S. 271 ff. Pietschack, S. 20. Gunter Groll, Denkmal ohne Pose »Stresemann«, Süddeutsche Zeitung, 23.1.1957. Vgl. Joschka Fischer, Außenpolitik im Widerspruch, in: Die Zeit, 3.2.2000. Vgl. die Einleitung von Willy Brandt zu: Gustav Stresemann. Schriften, hg. von Arnold Harttung, Berlin 1976, S. 7–16 (Abdruck der Rede Brandts zur Stresemann-Gedenkfeier in Mainz 1968). 36 Ausführungen Genschers bei der Eröffnung der Stresemann-Ausstellung am 9.5.1978 in Mainz, Stresemanngesellschaft, S. 36–47.

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308 Nachleben wundert ist, dass sich die FDP dieser liberalen Ikone so wenig angenommen, ihn nicht, oder nur sehr unzureichend, zum Objekt ihrer Geschichtspolitik gemacht hat. Theodor Heuss und Friedrich Naumann, das sind offenbar die liberalen Favoriten, nicht Gustav Stresemann. Stresemanns Selbstinszenierung hatte offensichtlich gerade bei denjenigen wenig Erfolg, die ihm politisch, ökonomisch, sozial und kulturell am nächsten standen und auf deren Urteil er wohl den größten Wert gelegt hätte.37 Das liberale, aber auch das allgemeine »Erinnerungsdefizit« in Deutschland bleibt überraschend. Dieses Defizit beruht, um es noch einmal zu betonen, nicht darauf, dass etwa das Bild vom »guten Stresemann« in den letzten Jahrzehnten mit neuen beachtlichen Fakten infrage gestellt und statt dessen die Figur eines Weimarer Politikers in den Vordergrund gerückt worden wäre, eines Stresemann, der im Herzen immer (auch) Monarchist geblieben war, der die Republik partiell verachtete, mit der politischen Rechten kollaborierte und eine Ost­politik favorisierte, die keineswegs mit der Stresemann zugeschriebenen Versöhnungspolitik kompatibel ist. An einem Paradigmenwechsel in der Beurteilung Stresemanns liegt das »Vergessen« nicht. Berücksichtigt man aber die – in dieser Biografie besonders herausgearbeiteten – »anderen Seiten« Stresemanns, wäre es für eine zukünftige Erinnerungspolitik vielleicht – etwas provokant ausgedrückt – ganz richtig, ja geradezu angemessen, die positiven Seiten Stresemanns nicht zu überstrapazieren. Gerade die Ambivalenz, die sein Leben und seine Politik gekennzeichnet hat, scheint erinnerungswürdig zu sein, erinnerungswürdiger jedenfalls als die Konstruktion einer Legende vom »guten« Stresemann, die in dieser Einseitigkeit nicht zu halten ist. Ein solch ambivalentes Bild stünde geradezu paradigmatisch für die Instabilität und Zwiespältigkeit der Weimarer Republik insgesamt, stünde für die Schwäche des deutschen Bürgertums – und würde nicht zuletzt der Per­ sönlichkeit Stresemanns gerechter als die bisherige Konstruktion. Auf diese Weise könnte daran erinnert werden, dass selbst eine »Zierde der Weimarer Republik« wie Gustav Stresemann, ein deutscher Friedensnobelpreisträger, ein Parlamentarier erster Qualität, innerlich nur mit halben Herzen zur Demokratie und Völkerversöhnung tendierte und die Republik nur bedingt akzeptierte. Damit stünde die Erinnerung an Stresemann sehr treffend für das Deutschland der 1920er Jahre, mit all seinen Stärken, aber auch seinen Schwächen. Es stünde für die genutzten, aber zugleich für die vergebenen Chancen der Weimarer Republik. 37 Es kann wohl nicht nur daran gelegen haben, dass ein großer Liberaler  – Theodor Heuss – Stresemann persönlich nicht mochte, und dadurch die liberale Erinnerung an ihn in der Bundesrepublik hat unterdrücken können. Zum Verhältnis Stresemann-Heuss vgl. Heuss, Erinnerungen, u. a. S. 272: »Ganz primitiv; ich habe ihn menschlich nicht leiden können und darf vermuten, daß dies auf Gegenseitigkeit beruhte […]«; sowie ders.: Tagebuchbriefe, u. a. S. 182 f.; 241; 246 und S. 505.

8. Schluss: Der »Grenzgänger«

Ein erster Blick Als Politiker in der Weimarer Republik ist Stresemann unerhört erfolgreich gewesen. Dafür hat ihn die Forschung ausführlich gewürdigt. Kaum ein Historiker zweifelt seine Leistungen gegenwärtig (noch) an. Seine Aktivität als Kanzler im Jahr 1923 verschaffte der Republik für einige Jahre eine Atempause, bewahrte die Reichseinheit, stabilisierte die wirtschaftliche Situation, beruhigte die rechten politischen Kreise und eröffnete dem Reich außenpolitische Handlungsfreiheit. Dieses positive Urteil gilt selbst dann, wenn man die politischen Kosten für die Stabilisierung (Stichwort: »Sachsenschlag« gegen die SPD/KPD Regierungen in Sachsen und Thüringen, Tolerierung der rechten Kräfte in Bayern) hoch bewertet, ein Aspekt der in der gegenwärtigen Forschung allerdings kaum vertieft und eher als eine Marginalie in Stresemanns Leben dargestellt wird.1 Als Außenminister habe Stresemann mit Erfolg versucht, den Vertrag von Versailles auf (vorerst) friedlichem Wege zu revidieren, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, einschließlich der Macht der deutschen Wirtschaft, die er für seine Politik zu instrumentalisieren verstand. Ein solcher Ansatz habe seine Politik deutlich von der im Kaiserreich unterschieden. Sie sei moderne Außenpolitik gewesen, so der Stand der Forschung. Die Verträge von Locarno (1925) und der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund (1926) werden als sichtbare Zeichen für diese Politik gedeutet. Ebensolches Lob gilt dem Versuch, das Verhältnis zu Frankreich zu verbessern. Die aggressive Politik gegenüber Polen wird in der Regel eher heruntergespielt, gilt als für seine Außenpolitik nicht kennzeichnend und insgesamt als wenig relevant. Stresemann wird zugleich als Beispiel für einen engagierten politischen Bürger konstruiert. Sein Lebenslauf zeige, wie man durch eigene Leistung auch in der Politik reüssieren, gewissermaßen »vom Kleinbürger bis zum Kanzler« aufsteigen konnte. Sein Leben beweise, wie man aus Fehlern lernen, seine Meinung ändern, sich den Umständen anpassen und aus einem Anhänger der Monarchie zu einem Demokraten mutieren könne – und das alles in einem nachvollziehbaren, langwierigen und schwierigen Lernprozess. Das sei besonders positiv hervorzuheben. 1 Wright, Stresemann, S.  241 ff., beschäftigt sich mit diesen Ereignissen nur auf wenigen Seiten, bewertet aber den »Sachsenschlag« durchaus kritisch.

310  Schluss: Der »Grenzgänger« In der Innenpolitik sei Stresemann schließlich ein Politiker von höchsten Graden gewesen. Er habe während seiner ganzen politischen Laufbahn versucht, das Alte mit dem Neuen zu versöhnen. Das gelte besonders für seine Weimarer Zeit, in der er alles tat, um das demokratische System zu stabilisieren, ein Urteil, das nur von wenigen Kritikern infrage gestellt wird. Seine Bemühungen werden vielmehr als eine große innenpolitische Leistung gewürdigt, selbst wenn sein Ziel, die rechte DNVP ins System zu integrieren, letztlich nicht erreicht wurde. Wie weit er selber politisch nach rechts, zum vergangenen Kaiserreich tendierte, wird eher zurückhaltend ausgelotet. Kaum jemand zweifelt daran, dass er, wenn auch nach einigen Umwegen, ein überzeugter Demokrat geworden war. Mit seinen außergewöhnlichen Leistungen in Innen- und Außenpolitik, aber auch als Parteigründer und -führer, steht Stresemann, wie die Forschung betont, als wichtiges Symbol für die Funktionsfähigkeit der Weimarer Republik, als Garant ihres Bestandes und nicht zuletzt als Hoffnungsträger für eine erfolgreiche Zukunft, die er aber wegen seines frühen Todes nicht mehr mitgestalten konnte. Zweifel gibt es in dieser Analyse kaum, Schattenseiten an der Stresemann’schen Politik erst recht nicht. Im Gegenteil: Die mittleren Jahre der Weimarer Republik, in denen Stresemann deutscher Außenminister war, werden seit Jahrzehnten als »Ära Stresemann« bezeichnet – und grundsätzlich positiv konnotiert. Dieses schöne Bild vom erfolgreichen Weimarer Politiker und überzeugten Demokraten, vom europäischen Verständigungspolitiker und zugleich maßvollen nationalen Politiker, vom innenpolitischen Stabilisator und »lernendem« Staatsbürger, ist bei aller Würdigung der Leistungen Stresemanns, in dieser Ausschließlichkeit nicht aufrecht zu erhalten. Eine solche Konstruktion beschreibt die Person, das Leben, die Wünsche und Ziele Stresemanns nur unzureichend, vor allem sehr einseitig. Sie schildert sein Leben zwar mit einer gewissen überzeugenden Logik, einer Logik allerdings, die einer kritischen und umfangreichen Analyse nur bedingt standhält. Die in sich scheinbar schlüssige Erfolgsgeschichte ist in ihrer Konstruktion höchst unvollständig. Sie bedarf, wie in dieser Biografie dargelegt, dringend der Ergänzungen. Zum einen konstruiert die gegenwärtige Biografik Stresemanns Leben vor allem als (Weimarer) Politiker. Sein Leben umfasste jedoch deutlich mehr Komponenten. Neben der Politik wurde es sehr stark durch die Felder Ökonomie und Kultur mitbestimmt. Es war zudem voller Brechungen, voller unerfüllter (oder nur zum Teil  erfüllter) Wünsche, voller innerer Unsicherheiten und Schwankungen, geprägt etwa von Krankheit und ständiger Überanstrengung und vor allem durch eine Fülle von Ambivalenzen. Auch Stresemanns Existenz als »Grenzgänger« und Außenseiter wurde kaum berücksichtigt. Welche Konsequenzen das hat, dürfte in dieser Studie deutlich geworden sein. Zum anderen konzentriert sich die Biografik fast nur auf die zweite Phase des Stresemann’schen Lebens, die Weimarer Zeit. Sie vernachlässigt (in der R ­ egel) die sächsische Periode. Dieser Teil seines Lebens hat ihn jedoch, wie diese Bio-

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grafie gezeigt hat, besonders stark geprägt. In Sachsen agierte ein junger Liberaler, ein dynamischer Syndikus, ein Multifunktionär, ein Modernisierer, das Paradebeispiel eines Aufsteigers, ein Mann, der die soziale Durchlässigkeit des Kaiserreiches geradezu personifizierte. Hier blühte Stresemann auf, hatte Erfolg über Erfolg und erwarb nach und nach das ihn leitende, neue konservativ-bürgerliche Wertesystem, das ihn (trotz aller späteren Brüche) sein Leben lang prägen sollte, ganz im Sinne der Überlegungen von Henning Luther.2 In Sachsen begann Stresemann seine von ihm verachtete unterbürgerliche Herkunft abzuschütteln, war dabei sein unterbürgerliches Milieu zu verlassen, sich in einem neuen sozialen Feld zu bewegen, ein nach der Theorie Bourdieus äußerst schwieriges Unterfangen.3 Dort glaubte er, bald so sein zu können, wie die anderen Bildungs- und Wirtschaftsbürger auch. Dort hoffte er endlich das bürgerliche Leben eines Menschen führen zu können, der »normal« war, eingebettet in ein ihn tragendes bürgerliches System, in dem er sich geborgen fühlen konnte und das seinen Vorstellungen entsprach: in ein starkes, bürgerlich geprägtes Deutschland, nach dem Modell des deutschen Kaiserreiches. Diese elementaren Wünsche, eine Grundkonstante in seinem Leben, sind in dieser Arbeit erstmals ausführlich thematisiert, problematisiert und gewürdigt worden. In der Historiografie finden wir dazu bisher jedoch fast nichts. Ohne das in Sachsen erworbene und verinnerlichte Wertesystem ist aber Stresemanns Leben in der Weimarer Republik nicht zu deuten. Der sächsische Politiker Stresemanns politische Leistungen im Königreich Sachsen sind kaum bekannt, in der Forschung daher deutlich unterbelichtet worden. Sie werden in ihrer Bedeutung erstmals in dieser Studie in den Mittelpunkt der Analyse gerückt. In Sachsen verlief Stresemanns politischer Aufstieg fast noch frappierender als in der Weimarer Republik, wo er, wenn auch politisch durch seine Annexionsforderungen im Krieg belastet, nicht als politischer Neuling begann. In Sachsen hingegen wurde er in wenigen Jahren zu einer der führenden politischen Figuren. Dort gelang es dem »Nobody« mit Hilfe der von ihm »neu« gegründeten Nationalliberalen Partei, eine allmähliche »Modernisierung« des politischen Systems anzustoßen, im Sinne seiner durch das Bürgertum und den Liberalismus geprägten Vorstellungen. Er stärkte den (National-)Liberalismus und wagte den Versuch, die Sozialdemokratie und die Freien Gewerkschaften in das bestehende, leicht zu modifizierende wilhelminische Gesellschaftssystem zu integrieren – und das an der Wiege der sozialistischen Arbeiterbewegung. Eine 2 Luther, Identität und Fragment, S. 160 ff. 3 Vgl. dazu Schmuhl, S. 134 ff.

312  Schluss: Der »Grenzgänger« solche Zielsetzung war aus damaliger Perspektive höchst modern, wenngleich Stresemann (noch) nicht daran dachte, Sozialdemokraten die volle Gleich­ berechtigung zuzuerkennen. Stresemann initiierte zudem, zusammen mit den Sozialdemokraten und gegen die Konservativen, eine Wahlrechtsänderung, die die Sozialdemokraten wieder ins Parlament führte und den Nationalliberalen dort zu einer Schlüsselposition verhalf. Das kam einer stillen Revolution gleich, verloren die Konservativen damit doch mehr als die Hälfte ihrer Sitze in der Zweiten Kammer und damit ihre scheinbar nicht zu brechende Dominanz. Diese, allerdings nicht von allen Historikern als erfolgreich interpretierte, sächsische Politik zeigte, wie eine Entwicklung des Reiches hätte voranschreiten können, die zum Ziele hatte, eine allmähliche Transformation der Monarchie in die Moderne zu erreichen.4 Und: Stresemann war der Motor einer solchen von ihm als bürgerlich und liberal verstandenen Politik. Bereits in Sachsen wurde Stresemann also im Sinne Henning Luthers zum »erwachsenen Menschen«, der fortab sein Leben selbstständig nach eigenen Vorstellungen gestaltete, ein relativ stabiles Bild von der Welt gewann und von der Rolle, die er darin einzunehmen gedachte. Die in Sachsen gewonnenen Vorstellungen konnte er zwar später noch dynamisieren, aber sie schwankten seitdem nicht mehr beliebig, verändert sich nicht mehr grundsätzlich. Sein einmal gewonnenes Weltbild blieb relativ konstant. Das wirkte sich massiv auf sein Verhalten in der Weimarer Republik aus. Stresemann gehörte zu den Politikern im Kaiserreich, die das Wilhelminische System bejahten, dessen Schwächen erkannten, diese aber beseitigen wollten, weil sie das System insgesamt für entwicklungsfähig hielten. Diese fruchtbare Periode hat jedoch das gegenwärtige Stresemannbild in Forschung und Erinnerungskultur kaum beeinflusst. Die elementare Bedeutung, die diese Periode für den »Bürger« Stresemann gehabt hat, die allmähliche Entwicklung eines bürgerlichen Habitus, der Erwerb von politischem, ökonomischem und (auch) kulturellem Kapital, all diese Faktoren sind bislang (nahezu) unberücksichtigt geblieben. Die daraus (mit)resultierenden, Stresemann kennzeichnenden Ambivalenzen, sein »Grenzgängertum«, die Motive seines lebenslangen Schwankens zwischen »Rechts« und »links«, all dies bleibt bisher weitgehend ausgeblendet. Jedoch kann man in Sachsen nicht nur von einem politischen Erfolgsweg sprechen, obwohl er dort sein politisches Kapital grandios vermehrte. Stresemann wünschte sich ein politisch starkes Deutschland, mächtig wie Großbritannien, und ein modifiziertes politisches System, das dem des Kaiser­reiches nahekam, näher jedenfalls als später die Weimarer Republik. Er wünschte sich 4 Vgl. dazu Ritter, Wahlrecht. Sehr abgewogen zu dieser Problematik Lässig, Wahlrechtskampf und Wahlrechtsreform.

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Deutschland als eine »Volksgemeinschaft«, in der die inneren Spannungen überwunden waren – und die Liberalen das Sagen hatten. Er wünschte sich ein System, in dem eine klassenkämpferische Sozialdemokratie überflüssig wurde. Diesem Ziel war er im Sachsen der Vorkriegszeit zwar politisch in manchem nahe gekommen, viel näher als später in der Weimarer Republik, aber ganz erreicht hatte er es im Kaiserreich nicht. Als »Grenzgänger« stand er sich vielmehr bald selber im Wege, verließ das ihn möglicherweise (bald) tragende Dresdner bürgerliche Milieu – und ging neue Wagnisse ein. Der Homo oeconomicus5 Als Homo oeconomicus absolvierte Stresemann in Sachsen eine fast noch erfolgreichere Karriere denn als Politiker. Diese wirtschaftlichen Erfolge haben sein Leben und sein Selbstverständnis maßgeblich geprägt, zumindest so stark wie seine politischen. Der ökonomische Aufstieg in Sachsen brachte dem jungen Mann bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein erhebliches privates Vermögen ein, und dies alles trotz nicht besonders förderlicher Ausgangsbedingungen. Der Erwerb von ökonomischem Kapital fiel ihm offenbar leicht, wenngleich er nur in harter Arbeit errungen wurde. Diesen ökonomischen Aufstieg, der sich in Weimar nicht fortsetzte, berücksichtigt diese Biografie erstmals angemessen und ordnet ihn in den Gesamtzusammenhang seines Lebens ein. Hilfreich für diesen Aufstieg war seine Position als Syndikus des Verbandes Sächsischer Industrieller (VSI), den er fast im Alleingang zum mächtigsten regionalen Wirtschaftsverband aufbaute. Durch seine weiteren Führungspositionen im Hansa-Bund und im Bund deutscher Industrieller (BdI) bestimmten er und seine sächsischen Freunde in entscheidender Weise die Interessenpolitik der exportorientierten Industrie im Kaiserreich. Auf diesem Wege stabilisierte Stresemann seinen Status als Wirtschaftsbürger, vermehrte sein soziales Kapital und nahm einen erheblichen Einfluss auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik im Kaiserreich. In Weimar wurde Stresemann aus all diesen Ämtern, vor allem wegen seiner exzessiven Kriegszielpolitik gedrängt. Diesen Schlag und die damit verbundenen ökonomischen Machteinbußen, einschließlich des Verlustes seines entsprechenden Habitus, hat er nie völlig verwunden. Hervorzuheben ist, neben dem Versuch, die Arbeiter in seine Politik einzubinden, sein sozialpolitisches Engagement, das z. T. Wirkungen bis heute zeigt. Darin bewies er, nach eigener Auffassung, höchste bürgerliche Tugenden. 5 Hier wird der Begriff verwendet, um den »Ökonomen«, also den Wirtschaftspolitiker und Unternehmer, vom »Politiker« Stresemann zu unterscheiden. Er wird also als analytische Kategorie genutzt. Der Begriff kennzeichnet daher hier nicht einen Menschentypus, der ausschließlich von Erwägungen der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit geleitetet wird.

314  Schluss: Der »Grenzgänger« Die Einführung einer Sonderversicherung für Angestellte ist fast allein ihm zu verdanken. Diese Versicherung sollte die soziale Lage der Angestellten verbessern und diese zugleich gegenüber der Sozialdemokratie immun machen, diente also der Stabilisierung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland. Sie hat das System der deutschen Sozialversicherung maßgeblich beeinflusst. Zweifellos kann Stresemann damit für das Kaiserreich als erfolgreicher sozialpolitischer Erneuerer und als Stabilisator des Systems gelten, mit erheblichen Konsequenzen für sein Verhalten in der Weimarer Republik. Er hat alles dafür getan, seinen in Sachsen gewonnen Wertehimmel in der Weimarer Republik durchzusetzen. Dies wird in dieser Studie erstmals angemessen berücksichtigt und erhält ein entsprechendes Gewicht. Der Bildungsbürger Im kulturellen Bereich gelang Stresemann im Kaiserreich, so scheint es, in vielem der Aufstieg ins gehobene Bürgertum: ein akademischer Abschluss, eine bürgerliche Familie mit einer schönen und klugen Frau, zwei wohlgeratenen Söhnen und ein in Dresden und Berlin »offenes« Haus, in dem Käte Stresemann glänzte. Ob berechtigt oder nicht, Stresemann galt und gilt sogar als ernstzunehmender Goethekenner und als literarischer Fachmann. Gerade dies öffentlich zu machen, war eine der großen Leistungen der Stresemann’schen Selbstinszenierung, die bis heute in die Biografik hinein gewirkt hat. Insofern ist es ihm fast vollständig gelungen, den von ihm erstrebten bildungsbürgerlichen Habitus für die Nachwelt zu kreieren. Allerdings fiel ein großer Schatten auf sein Glück. Das waren die ständigen Krankheiten, unter denen er schon seit frühester Jugend litt und die sein ganzes Leben massiv beeinträchtigt haben. Die Tagungen des VSI und des BdI in Dresden, um nur einen herausragenden Punkt aus diesem frühen Leben zu nennen, waren wahrscheinlich der Höhepunkt in seinem Leben, und keineswegs das »Krisenjahr« 1923 oder »die Locarno-Ära«, wo er als Politiker reüssierte. Eindeutig verblasste aller Glanz der demokratischen Republik von Weimar gegenüber den persönlichen und gesellschaftlichen Erfolgen in Dresden in den Vorkriegsjahren. Dort präsidierte der (ehemalige)  Kleinbürger Gustav Stresemann bereits in jungen Jahren in dem festlich für seinen Industrieverband geschmückten Theater großartigen Banketten. Das war sicherlich die größte Annäherung an sein Ideal, ein geachteter Bürger in einem starken Staat zu sein. Wenn man also einen erfolgreichen und in sich ruhenden Stresemann sucht, dann vielleicht im Königreich Sachsen, wo seine politischen, ökonomischen und kulturellen Vorstellungen fast Realität wurden, wo er auf dem Wege war, ein in jeder Beziehung anerkannter Bürger zu werden. Hier erleben wir den »Bürger Stresemann«, der – im Sinne Henning Luthers – mit sich und der Welt in Über-

Schluss: Der »Grenzgänger« 

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einstimmung zu leben schien, seinen Werthimmel gefunden, ausgeformt und stabilisiert hatte, der auf dem Wege war, sich einen bürgerlichen Habitus anzueignen und einen festen Platz im »sozialen Feld« (Bourdieu) einzunehmen – und der auch öffentlich als Bürger anerkannt wurde. Alles sprach in Sachsen für einen »glücklichen Stresemann«, der aber, Grenzgänger der er war, dieses Glück offenbar nicht festhalten wollte oder konnte. Der Weimarer Stresemann Ein zweiter Blick

In Weimar, in der Zeit, in der er seine – aus Sicht der Nachwelt – größten politischen Erfolge hatte, musste Stresemann sich nicht nur politisch neu orientieren, sondern er verlor wegen seiner politischen Stellungnahmen im Weltkrieg und weil seine Wirtschaftsmandate wegen seiner herausragenden politischen Position seit 1923 weitgehend eingefroren werden mussten, nahezu alle seine wirtschaftlichen Verbindungen. Wichtiger aber war noch, dass er in Weimar als Kulturbürger in vielem neu zu beginnen hatte. Was im Vorkriegssachsen bereits fester Bestand seines Lebens gewesen war, musste er jetzt wieder neu erwerben. Dieser Anfang aber fiel ihm schwer, ja, er gelang ihm nicht (vollständig), selbst wenn es auf den ersten Blick anders aussah. In der Vorkriegszeit hatte er Werte und Normen – ganz im Sinne Bourdieus – unter großen Mühen internalisiert, die er nun nicht mehr beliebig variieren wollte und konnte. Der Systemwechsel, im Sinne Henning Luthers ein »Bruch«, zwang ihn jedoch dazu, sein inneres Koordinatensystem entweder gänzlich infrage zu stellen, es zu variieren oder aber es nur leicht modifiziert beizubehalten. Da er das alte System geliebt hatte, traf ihn die Revolution mit all ihren politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Veränderungen besonders hart. Gänzlich infrage gestellt hat er das System des Kaiserreiches nie. Schon aus diesem Grunde konnte er kein »brennender Demokrat« werden, den aber die Weimarer Republik für ihre feste Etablierung dringend gebraucht hätte. Die existenzielle Problematik, die durch die Revolution ausgelöst wurde, führte ihn in eine tiefe psychische und physische Krise. Seine Krankheiten dominierten; er erlitt einen Zusammenbruch. Nicht ohne Erfolg versuchte er sich und sein Weltbild daher (anfangs) durch die Flucht in die Kultur zu stabilisieren, da ihm politisches und ökonomisches Kapital nicht mehr in dem Maße wie in der Vorkriegszeit zur Verfügung standen. In seiner ganzen Weimarer Periode, in der er versuchte, das Alte zu bewahren und zugleich mit dem Neuen zu verbinden, hat er sich mit dieser schier unlösbaren Aufgabe gequält, in einem neuen System zu agieren, das vergangene System aber zu lieben. Dem idealtypischen Leben konnte er in der Weimarer Zeit daher niemals mehr, wie etwa zeitweilig in Sachsen, nahe kommen.

316  Schluss: Der »Grenzgänger« Zur Politik

Stresemann wird in der Forschung mehrheitlich als Demokrat beschrieben, als Träger des Weimarer Systems, als seine Stütze. Das ist nicht »falsch«, aber auch nicht ganz »richtig«. Er war, was seine Haltung zur Demokratie angeht, höchst ambivalent. Geliebt hat er diese Staatsform nie. Bis zu seinem Tode hat er dem Kaiserreich nachgetrauert. Ob ihn der Begriff »Vernunftrepublikaner« ganz trifft, ist zu bezweifeln. Eher war er wohl ein Republikaner aus der Not heraus, aus momentaner Anpassung an die für ihn als schrecklich empfundenen innen- und außenpolitischen Realitäten der Zeit. Sein Schwanken zwischen Republik und konstitutioneller Monarchie, zwischen parlamentarischen Konfliktlösungsstrategien und Verehrung militärischer Lösungsvorstellungen ist signifikant, beherrschte sein Denken und Tun. Diese Ambivalenz und Doppelbödigkeit zeigen sich besonders in seinem Hang zum Militärischen. Das Militär, mit seinen Befehls- und Gehorsamsstrukturen, war ihm immer mindestens so viel wert wie eine Demokratie, deren Verfahrensweisen er allerdings glänzend beherrschte. Dieses Nebeneinander von demokratischem Handeln in der Weimarer Republik und zugleich der Ehrerbietung für das militärische Denken (und seine steckbrieflich gesuchten radikalen Vertreter) hat sein Leben stark bestimmt. Bei seinem Schwanken zwischen den verschiedenen Welten (Demokratie und Monarchie)  ist allerdings nahezu sicher, in welcher Welt er am liebsten gelebt hätte: in keinem Fall in der Welt der Weimarer Republik, in der das Land innerlich zerstritten, die Nation schwach und die Sozialdemokratie mächtig war. Die gegenwärtige Deutung Stresemanns als vorbildlich demokratisch-repu­ blikanischer Staatsmann lässt aber solche Ambivalenzen kaum zu, problematisiert sie nur selten. Erst war Stresemann Monarchist, dann ein gewandelter Republikaner, und schließlich ein überzeugter Demokrat. Daran wird kaum (mehr) gezweifelt. Diese Scheu vor der Ambivalenz trifft jedoch Stresemann (und seine Politik) nur höchst partiell, wird ihm nicht gerecht. Sie verengt unnötigerweise den Blick und lässt unberücksichtigt, dass ein Wechsel des Weltbildes für jeden Menschen schwer, ja manchmal nahezu unmöglich ist. Das galt insbesondere für Stresemann. Bei ihm ist ein Nebeneinander des Ungleichzeitigen, des scheinbar Unvereinbaren, dominierend – und kennzeichnet sein Leben und (auch) seine Politik. Es war Ausdruck seines Grenzgängertums – und ist in dieser Studie entsprechend gewürdigt worden. Ähnliches gilt für die von ihm betriebene Außenpolitik. Immer hat Stresemann Deutschlands (Wieder-)Aufstieg zur europäischen Großmacht angestrebt und dazu alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel genutzt. Das gilt für das Kaiserreich, in dem er Deutschland eingekreist sah und er daher höchst expansive Kriegsziele verfolgte, um die Zukunft des Reiches zu sichern. In der Weimarer Zeit kam auf absehbare Zeit jedoch (erst einmal) nur der Gewaltverzicht infrage,

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zumindest was seine Politik gegenüber den westlichen Nachbarn anging. Dem Staat Polen hat er jedoch kein Existenzrecht in den durch den Versailler Vertrag bestimmten Grenzen zugesprochen. Sicher ist, dass er die europäische Karte vor allem deswegen gespielt hat, weil sie für Deutschland nützlich war. Die »Vision Europa« stand wohl nicht auf seiner Agenda, sondern immer nur die eines starken Deutschlands. Ambivalenz prägte aber nicht nur Stresemanns Außenpolitik und sein Verhältnis zur Demokratie. Welches Feld man auch betrachtet, Stresemann verhielt sich ambivalent. Sein Verhältnis zu Deutschen jüdischen Glaubens etwa, war zwar nicht nur durch Antisemitismus geprägt, aber auch nicht durch ein vorbehaltloses Eintreten für alle deutschen Juden. Im Verhältnis zu Frauen wiederum gingen theoretische Vorstellungen und politische Bekundungen auf der einen Seite, und praktisches Verhalten ebenfalls weit auseinander. Und sein Verhalten in den Männerbünden, denen er beigetreten war, schwankte zwischen Anerkennung und Ablehnung der dort vorherrschenden Rituale. Man könnte geradezu versucht sein, unter Negierung der Überlegungen von Bourdieu und Luhmann, diese Ambivalenz als einen »roten Faden« in seinem Leben zu sehen, bedingt durch seinen Status als »Grenzgänger«. Das Ziel: Anerkennung als Bürger

In dieser Hinsicht konnte die Weimarer Republik Stresemann kaum Erfolgserlebnisse bescheren. Kaum jemand bemerkte, dass der Versuch, sein engeres gesellschaftliches Umfeld, also sich selbst und seine Herkunft aus dem Kleinbürgertum, gegen das gehobene Bürgertum einzutauschen, für ihn eine ewige Anstrengung  – und letztlich eine Sisyphusarbeit darstellte. In Dresden und Sachsen mochte er das Gefühl haben, »dazu« zu gehören, wie seine Erfolge bei der Präsentation seiner Wirtschaftsverbände deutlich machten. In Weimar und in seiner Position als Außenminister war das jedoch anders. Harry Graf Kessler hat das mit der unnachahmlichen Schärfe des Blickes eines Aristokraten genauso durchschaut wie der Stresemann’sche Parteifreund Schiffer. In Weimar blieb er der »Aufsteiger«, zwar tüchtig und gewandt, effizient und durch­ setzungsfähig, aber trotz allem nur ein Emporkömmling. Der Versuch, sich als Goethekenner zu profilieren, ein nach seiner Meinung bürgerliches »Muss«, scheiterte. Seine Aufsätze über Goethe, von seinen frühen Biografen gelobt, waren wissenschaftlich zweitrangig und reizten die wahren Kenner nur zum Lachen. Seine Gedichte blieben dilettantisch, literarisch wertlos. Der Wunsch, kulturelles bürgerliches Kapital zu erwerben und dann zu präsentieren, blieb meist unerfüllt. Darin lag eine schwere persönliche Tragik des Menschen Stresemann. Gerade wenn man diese Misserfolge sieht, stellt die frühe sächsische Periode einen besonders wichtigen Teil seines Lebens dar, nicht nur was ihre Dauer angeht, sondern auch in der Bedeutung für sein

318  Schluss: Der »Grenzgänger« Leben. Dort war er dem Ziel seiner Wünsche sehr nahe. Weimar fiel dagegen deutlich ab. Stresemann suchte Geborgenheit, das heißt aber zugleich, dass er in seiner Weimarer Zeit nicht das Leben eines idealtypischen Erwachsenen führte. Anscheinend war er glücklich verheiratet, lebte in einer Familie, von der seine Kinder bis an ihr Lebensende geschwärmt haben. Zugleich war aber sein ständiger Wunsch nach Geborgenheit außerhalb der Familie, entweder in der »Volksgemeinschaft« oder aber in echten »Männergesellschaften« virulent. Nie erreichte er aber sein Ziel, zur Kriegergesellschaft zu gehören. Sehr wahrscheinlich speiste sich aus dieser unerfüllten Sehnsucht seine sonst kaum zu erklärende Affinität zu »rechten« Männern und zum Militär, auch noch in der Weimarer Republik. Warum sonst hätte er mit Mördern und radikalen Demokratiefeinden, die ihm sogar nach dem Leben trachteten, kommunizieren und gemeinsam Politik treiben sollen? Im gesellschaftlich-kulturellen Bereich war Stresemann in Sachsen ein kleiner König gewesen. In Weimar hingen war es seine Frau, die aufblühte. Sie war eine der Schönheiten Berlins, parlierte leicht und fließend in verschiedenen Sprachen, die Stresemann nur unzureichend beherrschte, war kulturell immer auf dem Laufenden und tanzte mit den jungen Beamten des Auswärtigen Amtes nächtelang die neuesten Tänze. Daneben aber stand er, Gustav Stresemann, ein wenig linkisch, von der Basedow’schen Krankheit gezeichnet, reizbar, ungeduldig und verletzlich, ältlich. Der immer schlechter werdende Gesundheitszustand tat das Seinige dazu. Er hinderte ihn daran, angemessen am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, erschwerte es ihm, schloss ihn von vielen Dingen aus und verdüsterte häufig seinen Blick auf die Gegenwart. Das Leben unter ständigen Schmerzen und mit dem Wissen, dass seine Zeit sehr begrenzt war, hat ihm zweifellos Ruhe, Freude und Sicherheit geraubt. Seine Lebensgestaltung, seine Freundschaften, Liebe und Lebensfreude­ haben darunter immer stärker gelitten, von dem Einfluss auf seine Politik ganz abgesehen. Die ständigen Krankheiten stellten ein Kontinuum in seinem Leben dar, das er sich nicht gewünscht hatte – gegen das er nur kämpfen, es aber nicht ändern konnte. Zum Glücklichsein haben sie sicherlich nicht beigetragen, so sehr Stresemann auch versuchte, mit diesem Zustand angemessen umzugehen. Selbst wenn er einer der wenigen Politiker war, nach dem ein Kleidungsstück benannt wurde: Mit Eleganz hat er den »Stresemann« höchst selten getragen. Selbst hier blieb er der ewige Außenseiter, der Kritiker und wahre Bürger zum Spott reizte. Dem konnte er nur durch eines begegnen: durch übermäßigen Ehrgeiz, überragende Leistung und durch eine ungeheure Arbeitsdisziplin. Ob ihn dies sympathisch machte oder ihm viele Freunde bescherte (und ob er selber dabei glücklich war), sei dahingestellt. Das alles stand jedenfalls seinem großen Ziel, als Mensch und als Bürger anerkannt zu werden, deutlich entgegen.

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Die Rolle als ewiger Grenzgänger im Umfeld von Weimar, wo er eine wichtige politische Persönlichkeit darstellte, war zudem schwer für ihn zu ertragen, machte ihn unsicher. Er musste zudem immer mit dem Risiko leben, so war jedenfalls seine Eigensicht, als »Hochstapler«, als eigentlich nicht dazu gehörig erkannt und »entlarvt« zu werden. Er wurde die Angst nie los, seine dubiosen Geschäfte aus der Kaiser-, Kriegs- und Inflationszeit könnten womöglich erkannt und er als Schwindler denunziert werden. Das belegt etwa der »Plauener Prozess«, wo er vor Gericht um seinen guten Ruf kämpfen musste.6 Auch die Familie, einschließlich seines Neffen Miethke, bereitete ihm nicht nur Freude, sondern zwang ihn häufig zu unerfreulichen Interventionen. Allein dessen Schulden beschäftigten ihn jahrelang. Trotzdem aber protegierte er ihn bis zu seinem Tode. Ähnliches betraf die anderen Familienmitglieder: Schulden begleichen, Erbschaften regulieren, Geld vorstrecken, den vorzeitigen Tod von Angehörigen hinnehmen. Die Auseinandersetzungen mit seiner Familie führten ihm immer wieder vor Augen, woher er stammte und zu wem er (ebenfalls noch) gehörte. Allerdings, das sollte betont werden, stellte sich Stresemann damit auch den (schwierigen) Aufgaben, die nach seiner Ansicht ein Bürger angemessen zu bewältigen hatte. Der Einsatz für die Familie war eine bürgerliche Pflicht und gehörte zum bürgerlichen Habitus. Insofern entsprach er mit dieser Haltung nicht nur den selbst gestellten Anforderungen sondern auch denen eines Bürgers, der er sein wollte. Und in diesem Kontext gab es schließlich nicht nur negative Momente. Auf seine beiden klugen Söhne, auf seine Frau, die zu ihm hielt, konnte er als Vater und Ehemann stolz sein. Wenigstens auf diesem Gebiet schien Stresemann – zumindest partiell – sein bürgerliches Glück auch in der Weimarer Republik gefunden zu haben. Neue Perspektiven

Erst die Auseinandersetzung mit all diesen Problemen öffnet die Perspektive auf Gustav Stresemann. Sein Leben geht nicht auf in einer gradlinigen politischen Erfolgsbilanz, deren Existenz nicht zu leugnen ist, selbst wenn Stresemann viel dafür getan hat, dass die Nachwelt sein Leben so gesehen hat. Sein Leben ist deutlich vielgestaltiger gewesen. Bestimmend für Stresemann war offenbar die Prägekraft des Bürgertums, der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Werte, Werte, die er im Kaiserreich gewonnen hatte und an denen er sein Leben lang festhielt. Das Bemühen, nach »oben« zu kommen und ein geachteter (Kultur-)Bürger zu werden, stellte vermutlich eine konstante Größe für seine Lebensgestaltung dar. Insofern waren 6 In der neueren Literatur ist über dieses Kapitel von Stresemanns Leben nahezu nichts zu finden.

320  Schluss: Der »Grenzgänger« ihm sicherlich seine Gedichte und ihre Akzeptanz (wie er sie etwa bei seinen Verbandstagungen in Dresden erfuhr) genauso wichtig wie ein Aufsichtsratsmandat. Die Erfolge als Redner erfüllten ihn wahrscheinlich mit mehr Befriedigung als manche seiner politischen Glanztaten. Nicht zuletzt auch deswegen hat er sich vermutlich in den Wahlkämpfen bis zu den Grenzen des Möglichen strapaziert. Neben der eigenen Befindlichkeit war für Stresemann genauso wichtig, wie hoch die Akzeptanz war, die er in seinem »sozialen Feld« (Bourdieu), also der bürgerlichen Gesellschaft, tatsächlich erreichte, wie weit er, der notorische »Grenzgänger« wirklich in die bürgerliche Gesellschaft integriert war  – oder eben nicht. Nur bei Beachtung der Eigen- und Fremdwahrnehmung, mit einem multiperspektivischen Herangehen, kann also die notwendige Offenheit der Analyse erreicht werden, die notwendig ist, sich einem solch komplexen Leben anzunähern. Das sollte in dieser Biografie deutlich geworden sein. Stresemann war ein ewiger Grenzgänger, ein »Suchender«, eine hybride Persönlichkeit. Das hat ihm Schwierigkeiten bereitet, eine gewisse Heimatlosigkeit und »Unbehaustheit« gefördert, ihn immer unsicher, vom Urteil Anderer abhängig gemacht. Zugleich gab es aber auch eine andere, eine positive Seite dieser hybriden Existenz, aus der er seine Kräfte zog und die seine politischen, ökonomischen und (vielleicht?) kulturellen Erfolge (mit)bewirkt hat. Ihm als Grenzgänger fiel es leichter als manchem anderen, das Spannungsfeld zwischen den verschiedenen sozialen Schichtungen zu erkennen und zu überwinden, andere zu verstehen und sich auf sie einzulassen, über sein eigenes »soziales Feld« hinauszuschauen. Das verschaffte ihm eine größere Flexibilität und vor allem ein größeres Verständnis für andere Menschen, in Kaiserreich und Weimarer Republik. Ihm stand diese ungewöhnlich scharfe Urteilskraft zu Gebote, weil er immer »von außen« urteilte. So fiel es ihm leichter als seinen auf ein bestimmtes Milieu fixierten Freunden, Partnern und Kollegen, Grenzen zu überspringen. Er konnte sich immer wieder schnell neu orientieren, flexibel und pragmatisch sein, konnte auf Neues relativ offen zugehen. Nur so war es ihm möglich, den Übergang vom Kaiserreich zur Republik zu bewältigen, ohne dabei zugrunde zu gehen. Nichts hielt ihn jeweils so stark an dem Alten, dass er sich nicht einer anderen interessanten und neuen Idee hätte öffnen können. Das war eine große Stärke. Er konnte sich in Andere hineinversetzen, ihr Verhalten empathisch antizipieren. Vor allem damit hängen seine außenpolitischen Erfolge zusammen. Eine solche Verfassung verhinderte aber zugleich, dass er im Sinne Eriksons einen eigenen Lebensstil finden und diesen nach innen und außen hin be­haupten konnte.7

7 Vgl. Erikson, Identität, S. 114 ff.

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Deswegen war er immer der Gefahr ausgesetzt, zu flexibel zu sein, keine Grundsätze zu kennen, ohne »Fundament« zu sein und als Opportunist zu gelten. Zudem machte ihn dieser »Grenzgängerzustand« z. T. blind (oder manchmal gar gehässig) gegenüber seiner alten Schicht. Gerade weil er die Milieus wechseln wollte, die neuen bürgerlichen und nicht die alten unterbürgerlichen Werte sein (neuer) Maßstab waren, urteilte er häufig besonders kritisch. Zugleich hängt damit auch seine Ambivalenz (oder Abneigung) gegenüber den »gehobenen Schichten«, dem alten Adel zusammen. Als Bürger lehnte er ihn zwar ab, diente sich ihm aber als Aufsteiger und Grenzgänger zugleich wieder an – ein mehr als schwankendes Verhalten. Mit dieser Ambivalenz, einerseits den Aufstieg erzwingen und alles für ihn tun zu wollen, aber andererseits genau mit dieser Entscheidung und den damit verbundenen Folgen (und Schwierigkeiten) zu leben und wohl oft zu leiden, in ständiger Unsicherheit und immer auf der Hut zu sein – damit wird Stresemanns Leben zu den verschiedensten Zeiten, in den verschiedensten Bereichen und Situationen am treffendsten gekennzeichnet. Dieser Aspekt stellt ein Kontinuum, vielleicht das Einzige, in seinem Leben dar. Er war ein politisch höchst erfolgreicher, zugleich aber auch ein oftmals höchst unglücklicher Mensch, ein »Grenzgänger« mit all dessen Schwächen und Stärken.8 Eine solche Konstruktion von Stresemanns Leben revidiert nicht nur das gegenwärtig dominierende und geradezu festgeschriebene Stresemannbild, sie dekonstruiert nicht nur den »Mythos Stresemann«, sondern sie weicht zugleich der »biografischen Falle« (Bourdieu) aus, der nahezu alle bisherigen Biografien erlegen sind. Allerdings kommt auch diese Biografie nicht ganz ohne strukturelle Kontinuitäten und chronologische Ordnungen aus. Sie versucht jedoch deren Dominanz zu brechen, ihre Berechtigung immer wieder zu reflektieren und möglichst viele Optionen für Ambivalenzen, Zufälle und »unerklärliche« Faktoren zu bewahren.

8 Die Auseinandersetzung mit dieser Problematik zeigt letztlich nicht nur die Vergeblichkeit dieser Bemühungen bei Stresemann, sondern sie führt auch tief in die nach wie vor defizitäre Bürgertumsforschung der Weimarer Republik. Entwickelte sich die Weimarer Periode für die meisten Bürger, wie für den Grenzgänger Stresemann, nicht ebenfalls oft enttäuschend und persönlich frustrierend, trotz großer politischer Erfolge und vielfacher persönlicher Wertschätzung?

Zeittafel

1878

Geburt Gustav Stresemanns als jüngstes von acht Kindern des Berliner Bierverlegers Ernst August Stresemann und seiner Ehefrau Mathilde in Berlin 1884–1897 Besuch des Andreas – Realgymnasiums in Berlin 1897 Abitur, Immatrikulation an der Philosophischen Fakultät der Humboldt Universität zu Berlin, Eintritt in die Reformburschenschaft »Neo-Germania« 1898 Universität Leipzig, Schriftleiter der Allgemeinen Deutschen-Universitäts-Zeitung 1901 Promotion zum Dr. phil. Thema der Dissertation: »Die Entwicklung des Berliner Flaschenbiergeschäfts« 1901 Assistent im Verband Deutscher Schokoladefabrikanten in Dresden. Gezielter Aufbau eines Beziehungsgeflechtes 1902 Geschäftsführer des Bezirksvereins Dresden-Bautzen des »Bundes der Industriellen«. Kurzfristige Mitgliedschaft im Nationalsozialen Verein 1902 Gründung des Verbandes Sächsischer Industrieller (VSI), Stresemann bleibt Syndikus bis 1918 1903 Eintritt in die Nationalliberale Partei 1903 Heirat mit Käte Kleefeld (geb. 1883). Zwei Söhne: Wolfgang (1904–1998) und Joachim (1908–1999) 1906 Stadtverordneter in Dresden 1906 Gründung des »Deutschen Industrieschutzverbandes« (DIV) 1907 Wahl in den Reichstag (Wahlkreis Annaberg – Schwarzenberg) 1910 Vorstandsmitglied im BdI, Wohnsitz in Berlin 1911 Verabschiedung des Angestelltenversicherungsgesetzes 1912 Verlust des Reichstagsmandates, Abwahl aus dem Geschäftsführenden Ausschuss der Nationalliberalen Partei 1912 Reise in die USA 1914 Wahl in den Reichstag (Nachwahl in Wittmund – Aurich) 1914–1918 Erster Weltkrieg 1917 Sturz Bethmann Hollwegs 1917 Wahl zum Stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralvorstandes der NLP und zum Vorsitzenden der nationalliberalen Reichstagsfraktion 1918 Novemberrevolution 1918 Scheitern der Bemühungen um eine Fusion der Liberalen; Gründung der DVP 1919 Mitglied bei der Verfassungsgebenden Nationalversammlung 1919 Persönliche Krise, längere Erkrankung 1920 Reichstagswahlen, Stresemann wird Fraktionsvorsitzender und Vorsitzender der Auswärtigen Ausschusses des Reichstags 1920 Publizierung seiner Gedichte unter dem Titel »Traumjörg« 1923 Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen 1923 Wichtige Reichstagsreden Stresemanns, Eintritt in die Loge »Friedrich der Große« 1923 Ernennung zum Reichskanzler und Außenminister einer »Großen Koalition« (SPD, DVP, DDP, Zentrum) 1923 Innenpolitische Krise: Hyperinflation, Währungsreform, Putschversuch in Bayern (Hitler, Ludendorff), Abbruch des passiven Widerstandes

Zeittafel 

1923

323

»Sachsenschlag« (Absetzung der Linksregierungen in Sachsen und Thüringen) Bruch der Großen Koalition (Austritt der SPD aus der Regierung) 1923 Rückkehr des Kronprinzen nach Deutschland mit Hilfe Stresemanns 1923 Seit 1923 bis zu seinem Tode Außenminister 1924 Dawesplan, Beginn der wirtschaftlichen Stabilisierung Deutschlands 1925 Ende der handelspolitischen Restriktionen durch den Versailler Vertrag 1925 Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten 1925 Vertrag von Locarno, »Kronprinzenbrief« 1926 Eintritt Deutschlands in den Völkerbund, »Berliner Vertrag« mit Russland 1926 Friedensnobelpreis 1926 Internationale Rohstahl Gemeinschaft (IRG) 1927 Plauener Prozess (Stresemann wird vom Vorwurf der Korruption freigesprochen) 1928 Ehrenpromotion in Heidelberg 1928 Schwere Erkrankungen, leichter Schlaganfall 1929 Letzte Völkerbundrede Stresemanns 1929 Tod Stresemanns durch Schlaganfall

Abkürzungen

ADAP ADV

AfS APuZ BdI CdI CV DIV DS Gd GG GWU HDA

HMRG HZ IRG IWK

JbGMOD JzLF Langnamverein NLP

RdI VdA VDEStI VfZ VnJ VSI VSWG ZfG

Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik Alldeutscher Verband Archiv für Sozialgeschichte Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Zeitschrift »Das Parlament« Bund deutscher Industrieller Centralverband deutscher Industrieller Centralverein Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens Deutscher Industrieschutzverband Deutsche Stimmen Zeitschrift für Geschichtsdidaktik Geschichte und Gesellschaft Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Hauptstelle Deutscher Arbeitgeberverbände Historische Mitteilungen der Ranke Gesellschaft Historische Zeitschrift Internationale Rohstahlgemeinschaft Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der Arbeiterbewegung Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen Nationalliberale Partei Reichsverband der deutschen Industrie Verein Deutscher Arbeitgeberverbände Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Verband nationaldeutscher Juden Verband Sächsischer Industrieller Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Zeitschrift für Geschichtswissenschaft

Quellen- und Literaturverzeichnis

Benutzte Archive Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München (HStA, München) Betriebsarchiv Carl Zeiss, Jena (BACZ) Bundesarchiv, Berlin (BA , Berlin) Bundesarchiv, Koblenz (BA , Koblenz) Deutsches Rundfunk Archiv, Frankfurt (DAR) Geheimes Staatsarchiv, Berlin (GStA, Berlin) Geheimes Staatsarchiv, Weimar (GStA, Weimar) Generallandesarchiv, Karlsruhe (GLA , Karlsruhe) Historisches Archiv der Gutehoffnungshütte, Oberhausen (HA GHH, Oberhausen) Leo Baeck Institut, New York (LBI) Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin (PA AA) Rheinisch Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Köln (RWWA , Köln) Sächsische Landesbibliothek, Dresden Sächsisches Hauptstaatsarchiv, Dresden (HStA, Dresden) Sächsisches Staatsarchiv, Chemnitz (StA, Chemnitz) Sächsisches Wirtschafts Archiv, Leipzig (SAW, Leipzig) Schiller-Nationalmuseum und Deutsches Literaturarchiv, Marbach, Stadtarchiv, Dresden Stadtmuseum, Löbau

Gedruckte Quellen Zeitungen und Zeitschriften (Auswahl) Centralbüro der Nationalliberalen Partei Deutschlands (Hg.), Allgemeine Vertretertage, 1906 ff. Das Vaterland. Wochenblatt für Sächsische Politik. Organ des Konservativen Landesvereins Der Arbeiterfreund Deutsche Stimmen Die Zeit Dresdner Bürgerzeitung Dresdner Neueste Nachrichten Dresdner Volks-Zeitung Dresdner Zeitung Nationalliberale Blätter Nationalliberale Correspondenz Nationalliberales Vereinsblatt Nord und Süd – Monatsschrift für internationale Zusammenarbeit (Hg. Ludwig Stein) Sächsische Industrie Sächsische Industrie- und Handelszeitung

326  Quellen- und Literaturverzeichnis Sächsische Nationale Blätter Veröffentlichungen des BdI Veröffentlichungen des VSI

Schriften von Gustav Stresemann (Auswahl) Die Entwicklung des Berliner Flaschenbiergeschäfts, Berlin 1901. Wirtschaftspolitische Zeitfragen, Dresden 1911. Deutsches Ringen, deutsches Hoffen, Berlin 1914. Englands Wirtschaftskrieg gegen Deutschland, Stuttgart 1915. Das deutsche Wirtschaftsleben im Kriege, Leipzig 1915. Michel horch, der Seewind pfeift…!, Berlin o. J. [1916]. Deutsche Gegenwart und Zukunft, Stuttgart, November 1917. Warum müssen wir durchhalten?, Berlin o. J. [1917]. Napoleon und wir, Berlin 1917. Macht und Freiheit, Halle 1918. Neuordnung der Wirtschaft durch Sozialisierung (Auszug aus einer Rede in der Nationalver­ sammlung in Weimar, in: Sächsische Industrie- und Handelszeitung 15 (1918/19), S. ­231–236. Rede des Abgeordneten Dr. Stresemann zu Weimar am 4. März 1919 zur Verfassungsvorlage (Flugschriften der Deutschen Volkspartei, 4), Berlin 1919. Weimar und die Politik, Berlin, 1919. Von der Revolution bis zum Frieden von Versailles, Berlin 1919. Die Märzereignisse und die Deutsche Volkspartei, Berlin 1920. Deutsche Volkspartei und Regierungspolitik. Rede auf dem dritten Parteitag der DVP, 3. Dezember 1920, Berlin 1921. Die Außenpolitische Lage bei Jahresbeginn, DS 35 (1923), S. 6–8. Jahreswende  – Schicksalswende. Ein Rückblick von Dr. Gustav Stresemann, DS 35 (1923), S. 1–5. Reichskanzler Dr. Stresemann. Ein Begrüßungswort, DS 35 (1923), S. 269–270. Ruhraktion und politische Lage (Rede im Reichstag am 7. März 1923), DS 35 (1923), S. ­97–110. Reparationen, Wirtschaft und Rheinlandpolitik (Rede im Reichstag am 17. April 1923), DS 35 (1923), S. 134–141 und 175–186. Der Wille zur Verständigung. Rede vor dem deutschen Industrie- und Handelstag, 24. August 1923, Berlin 1923. Sachsen am Scheideweg. Dresdner Brief, DS 35 (1923), S. 125–128. ›Sittlicher Wiederaufbau Deutschlands‹. Briefwechsel zwischen Kardinal Faulhaber und Reichskanzler Dr. Stresemann, DS 35 (1923), S. 382–386. Vom Rechte, das mit uns geboren, DS 35 (1923), S. 48–51. Die Rekonstruktion der Weltwirtschaft, DS 36 (1924), S. 190–195. Nationale Realpolitik, Rede auf dem sechsten Parteitag der DVP, Berlin 1924. Deutsche Weihnachten 1924, DS 36 (1924), S. 399. Das Werk von Locarno, Berlin 1925. Politische Gedanken zum Bismarck-Gedenktage, Berlin 1925. Goethe und die Freiheitskriege, in: Nord und Süd  – Monatsschrift für internationale Zu­ sammenarbeit 50 (1927), Berlin, S. 385–397. Neue Wege zur Völkerverständigung, Rede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde, Heidelberg 1928.

Quellen- und Literaturverzeichnis 

327

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346  Quellen- und Literaturverzeichnis Welzer, Harald, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2002. Winkler, Heinrich August, Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, Bonn 2000. Wintzer, Joachim, Deutschland und der Völkerbund 1918–1926, Phil. Diss. (Ms.) Heidelberg 1998. Wißuwa, Renate u. a. (Hg.) Sachsen. Beiträge zur Landesgeschichte, Dresden 2002. Wixforth, Harald, Bank für Sachsen oder Bank für das Reich? Zur Geschichte der Dresdner Bank von 1872–1914, in: Simone Lässig u. Karl Heinrich Pohl (Hg.), Sachsen im Kaiserreich. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Umbruch, Köln 1997, S. 309–342. Wolff, Theodor, Der Journalist. Berichte und Leitartikel, hg. v. Bernd Sösemann, Düsseldorf 1993. Wright, Jonathan, Gustav Stresemann. 1878–1929. Weimars größter Staatsmann, München 2006. –, Die Maske. Stresemanns politische Persona, in: Karl Heinrich Pohl (Hg.), Politiker und Bürger. Gustav Stresemann und seine Zeit, Göttingen 2002, S. 41–63. –, Gustav Stresemann. 1878–1929. Weimar’s greatest statesman, Oxford 2002. –, Liberalism and anti-Semitism in Germany: The case of Gustav Stresemann, in: Henning Tewes u. Jonathan Wright (Hg.), Liberalism, anti-Semitism and democracy. Essays in Honour of Peter Pulzer, Oxford 2001, S. 110–113. –, Eine politische Karriere zwischen Zusammenbruch und Wiederaufbau. Die Wirkung des Umbruchs von 1918/19 auf Gustav Stresemann, in: Dietrich Papenfuß u. Wolfgang­ Schieder (Hg.), Deutsche Umbrüche im 20. Jahrhundert, Köln 2000, S. 97–108. –, Stresemann and Locarno, in: Contemporary European History, Jg. 4, 1995, S. 109–131. Wright, Jonathan u. Peter Pulzer, Gustav Stresemann and the Verband Nationaldeutscher Juden. Right-wing Jews in Weimar politics, in: Leo Baeck Institute Year Book, Jg. 50, 2005, S. 199–211. Wurm, Clemens A., Internationale Kartelle und die deutsch-französischen Beziehungen 1924–1930. Politik, Wirtschaft, Sicherheit, in: Stephen A. Schuker (Hg.), Deutschland und Frankreich. Vom Konflikt zur Aussöhnung. Die Gestaltung der westeuropäischen Sicherheit 1914–1963, München 2000, S. 97–115. –, Deutsche Frankreichpolitik und deutsch-französische Beziehungen in der Weimarer Republik 1923/24–1929. Politik, Kultur, Wirtschaft, in: Klaus Schwabe u. Francesca Schinzinger (Hg.), Deutschland und der Westen im 19. und 20. Jahrhundert, Teil  II: Deutschland und Westeuropa, Stuttgart 1994, S. 137–158. – (Hg.), Internationale Kartelle und Außenpolitik. Beiträge zur Zwischenkriegszeit, Stuttgart 1989. –, Frankreich, die Reparationen und die interalliierten Schulden in den 20er Jahren, in: Gerald D. Feldman (Hg.), Die Nachwirkungen der Inflation auf die deutsche Geschichte 1924–1933, München 1985, S. 315–334. –, Die französische Sicherheitspolitik in der Phase der Umorientierung 1924–1926, Frankfurt/Main 1979. Zeise, Roland u. Bernd Rüdiger, Bundestaat im Deutschen Reich (1871–1917/18), in: Karl Czok (Hg.), Geschichte Sachsens, Weimar 1989, S. 381–428. Ziebura, Gilbert, Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/24–1931, Frankfurt/Main 1984. –, Grundfragen deutscher Außenpolitik seit 1871, Darmstadt 1975. Zimmermann, Ludwig, Deutsche Außenpolitik in der Ära der Weimarer Republik, Göttingen 1958. –, Das Stresemannbild in der Wandlung, Erlangen 1956. Zondek, Hermann, Auf festem Fuße, Erinnerungen eines jüdischen Klinikers, Stuttgart 1973. Zwoch, Gerhard, Gustav-Stresemann-Bibliographie, Düsseldorf 1953.

Bildnachweis

Abb. 1–6, 8, 10–13, 17: Abb. 7: Abb. 9: Abb. 14: Abb. 15 u. 16: Abb. 18:

Politisches Archiv, Auswärtiges Amt, Berlin: © 2015. Albright Knox Gallery/Art Resource, NY/Scala, Florence aus: Rudolf Olden: Stresemann, Berlin 1929 Deutsches Historisches Museum, Berlin © Digitalisat: Universitätsbibliothek Heidelberg © akg-images / Imagno

Personenregister

Adenauer, Konrad, Kölner Oberbürgermeister, Bundeskanzler  232, 306 Albert, König von Sachsen  114 Arnhold, sächsische Bankiersfamilie  74 f., 89, 103, 121 f., 130, 141, 155–157, 239 Arnhold, Adolf  156 Arnhold, Georg  200 f. Arnhold, Hans  156 Arnhold, Max  129, 156 f. Baechler, Christian, franz. Historiker  262 Ballin, Albert, Hamburger Reeder  103, 199, 204 Bariéty, Jacques, franz. Historiker  264 Bassermann, Ernst, Vorsitzender der NLP  186 f., 189, 192, 203, 205 Bauer, Heinrich, Journalist, Historiker  47 Beck, Kurt, Politiker, SPD 306 Beck, Richard, sächsischer Minister  131 Becker, Johann, Reichswirtschaftsminister  230 Beethoven, Ludwig von  123 Bernhard, Henry, Privatsekretär Stresemanns  25, 56, 89 f., 98 f., 284 Bethmann Hollweg, Theobald von, Reichskanzler  75, 192, 199 f., 204 f., 281 Beutler, Gustav Otto, OB der Stadt Dresden  115 f., 127, 131, 156, 180, 184 f. Birkelund, John P., amerikanischer Histo­ riker 244 Bismarck, Fürst von, Reichskanzler  100, 122, 149, 288, 303 Blüher, Bernhard, OB der Stadt Dresden  189 Böhmert, Victor, nationalliberaler Sozialpolitiker, Prof.  120 f., 123, 138, 166 Bondy, Felix, sächsischer Bankier  74 Bourdieu, Pierre, französischer Philosoph  9–12, 14–16, 19, 74, 95, 123, 131, 153, 311, 315, 317, 320 f. Brahms, Johannes, Komponist  123 Brandt, Willy, Bundeskanzler  307 Braun, Otto, Sozialdemokrat  285

Braun, Otto, Preußischer Ministerpräsident  275, 295 Briand, Aristide, franz. Außenminister  301 Brüning, Heinrich, Reichskanzler  304 Brüß, Konrad, sächsischer Nationalliberaler  291 Bücher, Karl, Leipziger Nationalökonom, Prof. 73 Bülow, Bernd Fürst von, Reichskanzler  192, 253 Bünger, Wilhelm, Sächsischer Minister­ präsident 109 Büttner, Ursula, Historikerin  245 Cavour, Camillo, italienischer Politiker  303 Chamberlain, Sir Austen, Außenminister, Großbritannien 44 Christian Kraft Fürst zu Hohenlohe-­ Öhringen 91 Clauss, Ernst, sächsischer Industrieller  178 Collenbusch, Adolph, sächsischer Indus­ trieller 135 Colleoni, Bartolomeo, venezianischer Grande 182 Cuno, Wilhelm, Reichskanzler  37, 219 Curtius, Julius, Außenminister, DVP  99, 305 Dante, italienischer Dichter  85 de Montgelas, Eduard, Bayerischer Gesandter in Dresden  116 Dehmel, Richard, Dichter  72, 85, 288, 290 f. Dingeldey, Eduard, Politiker, DVP 57 Dingelstedt, Franz von, Dichter  79 Disraeli, Benjamin, Premierminister, Großbritannien 303 Dönhoff, Carl August von, Preußischer ­ Gesandter in Dresden  116 Duisberg, Carl, Industrieller  103 Ebert, Friedrich, Reichspräsident  227, 283, 295 Ehrhardt, Hermann, Freikorpskommandeur 214 f.

Personenregister 

Eichendorff, Joseph von, Dichter  80, 84 Epp, Franz von, Berufsoffizier, NSDAP 277 Ernemann, Heinrich, sächsischer Indus­ trieller  121 f., 131, 141, 155–159, 161, 239 Erzberger, Matthias, Finanzminister, Z.,  46 f., 200, 295 Escherich, Georg, bayerischer Forstwirt und Politiker  45, 273, 277–280 Fichte, Johann Gottlieb, Philosoph  71 Fischer, Andreas, Schweizer Schriftsteller  76 f. Fischer, Fritz, Historiker  244 Fischer, Joschka, Deutscher Außenminister  307 Flex, Konrad, Bruder von Walter F.  72, 284 f., 287, 292 Flex, Rudolf, Vater von Walter F.  288 Flex, Walter, Dichter  72, 284 f, 287, 289–291 Foerster, Friedrich Wilhelm, Pädagoge, ­ Pazifist 101 Freiligrath, Friedrich von, Dichter  79, 80 Friedberg, Robert von, Politiker, DDP 211 Friedrich August III, König von Sachsen  114, 183 Friedrichs, Heinrich, Industrieller  161 Frucht, Else, Schriftstellerin 77 Fuhrmann, Paul, Syndikus  187 Gambetta, Lèon italienischer Politiker  303 Gaus, Friedrich, Ministerialdirektor im Auswärtigen Amt  263 Geibel, Emanuel, Dichter  80 f. Genscher, Hans-Dietrich, Außenminister  306 f. Georg, König von Sachsen  114 George, Stefan, Dichter  86 Gerlach, Helmut von, Politiker, Pazifist  101 Geßler, Otto, Reichswehrminister, DDP  233, 274 Goethe, Johann Wolfgang von  29 f., 73–80, 84–86, 314, 317 Goldschmidt, Rudolf, Hochschullehrer  77 Gorch Fock, Dichter  285 Görlitz, Walter, Historiker  76 Gothein, Georg, Politiker, DDP 222 Greiert, Paul, sächsischer Syndikus  118, 154 Grenz, Ernst, sozialdemokratischer RT-Abgeordneter 173 Großherzog von Oldenburg  127

349

Grumbt, Ernst Alfred, sächsischer Politiker, konservativ 127 Grützner, Kurt, sächsischer Syndikus  178 Günther, Anton, Heimatdichter  88 Gwinner, Arthur von, Bankier  75 Habicht, Karl, Freimaurer, Großmeister  96 f., 99 Hagen, Louis, Bankier  155 Hänisch, Konrad, sozialdemokratischer Politiker 106 Harms, Prof. Dr. Bernhard, Gründer des Weltwirtschaftsarchivs zu Kiel  183, 185 Hartmann, Wilhelm, sächsischer Hofrat  156 Hartwig, Gustav Emil, antisemitischer ­ Regionalpolitiker, Dresden  118 Heine, Heinrich, Dichter  81 Heinrich von Preußen, Prinz  126, 185 Heinze, Rudolf, Politiker, NLP, DVP 116, 118, 120, 127, 213 Helfferich, Karl, konservativer Politiker, u. a. DNVP 223 Hergt, Oscar, konservativer Politiker, DNVP 102 Hertwig-Bünger, Doris, Frauenrechtlerin, DVP 109 Herwegh, Georg, Dichter  79 Heuss, Theodor, Bundespräsident  64 f., 296, 308 Himer, Kurt, Student, Jugendfreund ­ Stresemanns  27, 32, 80 Hindenburg, Paul von, General, Reichs­ präsident  204, 274 f., 277, 279 f. Hirth, Albert, Industrieller  178 Hitler, Adolf  232, 243 Hoesch, Leopold von, Deutscher Botschafter in Paris  44, 250 Hoffmann, Johannes, Bayerischer Ministerpräsident, SPD 106 Hoffmann, Max, Industrieller  99, 155, 162, 178, 216 Hoffmannsthal, Hugo von, Dichter  86 Hopf, Eugen, Dresdner Lokalpolitiker, ADV  31 Hugenberg, Alfred, Industrieller, Zeitungsmogul, DNVP 94 Hughes, Charles Evans, amerikanischer Außenminister 219

350 Personenregister Johannesson, Fritz, Stresemanns Schul­ direktor 73 John, Augustus Edwin, Porträtmaler  36 Kafka, Franz, Dichter  85 Kahl, Wilhelm, Politiker, DVP 99 Kaiser, Friedrich, sächsischer Politiker  103 Kalle, Wilhelm F., Industrieller  304, 306 Kapp, Wolfgang, konservativer Politiker, Putschist  210, 214 f., 228, 273 – 275 Keller, Gottfried, Dichter  80 Kempkes, Adolf, Politiker, DVP 230 Kerner, Justinus, Dichter  80 Kessler, Harry Graf, Mäzen, Politiker, DDP  41, 43, 46, 161, 303–305, 317 Kinkel, Johanna, Dichterin  81 Kinkel, Klaus, Außen- und Justizminister  306 Kirdorf, Adolf, Industrieller  155 Kleefeld, Kurt von, Schwager Stresemanns, DDP  90 f., 99, 155, 179, 211 Klemme, Heinrich, Direktor, GHH 260 Klenke, Dietmar, Historiker  124 Knobloch, Georg Friedrich Alexander, sächsischer Landespolitiker, konservativ  127 Koepke, Gerhard, Ministerialdirektor im AA  99 Kohl, Helmut, Bundeskanzler  306 Kolb, Eberhard, Historiker  209, 213, 244 Kolumbus, Christoph  193 Körber, Andreas, Historiker  300, 306 Koszyk, Kurt, Historiker  27, 35 Kreis, Konrad, Dichter  72 Kretzschmar, Oscar August, sächsischer Politiker, konservativ  127 Kronprinz Wilhelm  5, 18, 200, 238, 244, 270, 280–284 Krüger, Peter, Historiker  269 Krupp (Familie), 75, 254 Külz, Wilhelm, Politiker, DDP 296 Kunze, Kurt, Rechtsanwalt Stresemanns  99 Kurth, Lieselotte, Literaturwissenschaftlerin  76 Ledebour, Georg, kommunistischer RT-Abgeordneter 221 Lehmann, Bernhard, sächsischer Indus­ trieller  156, 178 Lersch, Heinrich, Dichter  85

Levetzow-Markow, sächsischer Kammerherr 156 Liebermann, Max, Maler  72 Liebknecht, Karl, Politiker, KPD  215, 272 Liliencron, Detlev von, Dichter  80, 84 f. Lingner, Karl August, sächsischer Indus­ trieller  75, 126 f., 130, 181 Litwin, Paul, Unternehmer  156, 159–163, 228–230 Loesch, Karl Christian von, Verbands­ funktionär  277, 279 Longfellow, Henry W., Dichter  80 Locheur, Louis, franz. Minister  220 Ludendorff, Erich, General  204, 214, 232 Luhmann, Niklas, Soziologe  9–12, 14, 228, 317 Luise, Prinzessin von Toskana  114 Luther, Hans, Reichskanzler  43, 62, 252 Luther, Henning, Theologe  9, 11, 131, 205, 311 f., 314 f. Luther, Martin  86 Lüttwitz, Walther von, General, Putschist  214, 273 f. Luxemburg, Rosa, Politikerin, KPD 215, 272 Mann, Thomas, Schriftsteller  85 Marschall, Georg, Portraitmaler  54 Marwitz, Georg, Bankier  156 Marx, Wilhelm, Reichskanzler, Z.  100, 275, 279, 295 März, Johannes, sächsischer Syndikus  89, 178 Mattersdorf, Richard, sächsischer Bankier  156 Matthäi, Albert, Schriftsteller  71 Maurenbrecher, Max, Politiker  94 May, Carl, sächsischer Politiker, konservativ  127 Megerle, Klaus, Historiker  265 Mehnert, Paul, sächsischer Politiker, konser­ vativ  116, 131 f. Meissner, Otto, Staatssekretär  279 Mergel, Thomas, Historiker  49 Merton, Wilhelm, Unternehmer  155 Metternich, Fürst von  303 Meyer, Conrad Ferdinand, Dichter  80 Miethke, Franz, Neffe Stresemanns, ­ Syndikus  32 f., 88–91, 125, 130, 154, 319 Millington-Hermann, Paul, Bankier  156

Personenregister 

Minkwitz, Frank, Unternehmer  156 Moras, Otto, sächsischer Industrieller  87, 89, 178, 240, 291 Mörike, Eduard von, Dichter  80 f. Most, Otto, Politiker, DVP 98 Mozart, Wolfgang Amadeus  123 Müller, Arthur, Rechtsanwalt, DNVP 231 Müller, Wilhelm, Dichter  80 Mussolini  44, 280 Nadolny, Rudolf, Diplomat  161 Napoleon I.  76 Napoleon III .  41, 303 Nathanson, Leon, Rechtsanwalt, NLP  74 f., 103, 107 f. Naumann, Friedrich, Politiker, Nationalsozialer Verein  64, 94, 138, 165 f., 204, 296, 308 Niethammer, Konrad, sächsischer Unternehmer 26 Noske, Gustav, Reichswehrminister, SPD 272 Oehler, Oswald, sächsischer Politiker, konservativ 127 Olden, Rudolf, Schriftsteller  39 Osterloh, Paul, sächsischer Politiker, konser­ vativ 168 Paasche, Hermann, Politiker, NLP 58, 156 Pabst, Waldemar (Pabst – Peters), Major, Putschist  45, 270–280 Palmerston, Viscount, Politiker, Großbritannien 303 Palmiè, Henri, sächsischer Bankier  130 Pitt, William, Premierminister, Groß­ britannien 303 Platen, Karl August Graf von, Dichter  80–82 Podbielski, Victor von, Preußischer General  156 Poincarè, Raymond, französischer Staatsund Ministerpräsident  284 Pompejus 72 Preuß, Hugo, Politiker, DDP 296 Prinz Hans zu Hohenlohe-Oehringen  169 Prinz, Michael, Historiker  146, 148 Prittwitz und Gaffron, Erich von, Diplomat  161 Pyritz, Hans, Literaturwissenschaftler  76

351

Rathenau, Walther, Außenminister, DDP  43, 60, 72, 295 Rauch, Fritz, Privatsekretär Stresemanns  107, 130, 181 Rauscher, Ulrich, Deutscher Botschafter in Warschau, SPD 269 Redlhammer, Hans Heinrich, Ministerialbeamter im AA 99 Reichsfreiherr vom Stein, Friedrich Karl  76 Reinhold, Peter, Reichsfinanzminister, DDP  255 Richter, Ernst von, Politiker, NLP, DVP  213 Riesser, Jacob, Unternehmer  156 Rilke, Rainer Maria, Dichter  86 Ritter, Gerhard A., Historiker  150 Rochus, Freiherr von Rheinbaben, Staatssekretär, DVP  33 f., 98 f. Röhm, Ernst, Offizier, Politiker, NSDAP  277 Rosenberg, Frederic von, Außenminister  223 f. Rückert, Friedrich, Dichter  82 Rudolph, Karsten, Historiker  240 Rüger, Conrad Wilhelm, sächsischer Minister 131 Rüger, Max, sächsischer Industrieller  155 Rüger, Otto, sächsischer Industrieller  135 Schacht, Hjalmar, Reichsbankpräsident  91, 161 f., 229 f., 232 Scheffel, Victor von, Dichter  81 Schiffer, Eugen, Politiker, DDP  43, 317 Schiller, Friedrich von  29, 74, 80, 82 Schneider, Rudolf, Syndikus, NLP, DVP 22, 90 f., 178, 184, 282 Scholz, Ernst, Reichswirtschaftsminister, DVP 164 Schubert, Carl von, Staatssekretär im AA  262 Schubert, Renata von  43 Schuch, Ernst Edler von  123 Schulmann, Otto, Arzt Stresemanns  61, 98 f. Schulze, Paul, Syndikus  118, 135, 168 f. Schwabach, Paul von, Bankier  44, 103 Schwarz, Martha, Frauenrechtlerin, DVP  109 Schweighoffer, Ferdinand, Syndikus  161 f.

352 Personenregister Seebach, Nikolaus Graf von, Intendant Dresdner Oper/Schauspielhaus  126, 130 Seeckt, Hans von, Chef der Heeresleitung der Reichswehr  72, 279 f. Severing, Carl, Reichsinnenminister, SPD  276, 278 Shakespeare, William  29, 85 Slesina, Gustav Adolf, sächsischer Indus­ trieller  87 f., 172 Stinnes, Hugo, Unternehmer, DVP  74, 232 Stollwerck, Ludwig, Unternehmer  154, 205 Storm, Theodor, Dichter  80, 85 Strauss, Ottmar E. Industrieller  278 Stresemann, Agnes  30 Stresemann, Emil  30 Stresemann, Ernst August (Vater)  30, 153 f. Stresemann, Joachim (Sohn)  99 Stresemann, Käte (geb. Kleefeld), 21 f., 41, 44, 58, 90, 102, 110–113, 151, 153, 183, 188, 283, 298, 314, 318 f. Stresemann, Mathilde (Mutter)  30, 84 Stresemann, Richard  23, 154 Stresemann, Robert  30 Stresemann, Wolfgang (Sohn), 8, 21 f., 60, 99, 307 Stumm Halberg, Carl Ferdinand Freiherr von, Industrieller  43 Szejnmann, Christian, Historiker  240 Talleyrand, Charles Maurice de, franz. ­ Minister 303 Theweleit, Klaus, Schriftsteller  27 Thyssen, August, Industrieller  155 Thyssen, Fritz, Industrieller  258 Turner, Henry A., amerikanischer Histo­ riker 262

Uebel, Friedrich, sächsischer Industrieller  154, 178 Uhland, Ludwig, Dichter  80 Vallentin, Antonina, Journalistin, Biografin Stresemanns  65, 111 Victor, Edler von Klemenau Klemperer, Bankier  75, 130 Vogel, Heinrich, Unternehmer  135 Vogel, Paul Wilhelm, Unternehmer  116, 127, 155 Vögler, Albert, Generaldirektor  259 Wagner, Richard, Komponist  123 Wagner, Thomas, Historiker  197 Wahl, Hans Rudolf, Germanist  289 Wahnschaffe, Arnold, Chef der Reichskanzlei 205 Warburg, Max, Bankier, Mäzen  103 Weber, Max, Soziologe  204 Weismann, Robert, Preußischer Staatssekretär 230 Westenberger, Bernd E., sächsischer Syndi­kus  178 Wilhelm I.  72 Wilhelm II.  194, 198, 213 f. Wilson, Woodrow, amerikanischer Präsi­ dent 45 Wolff, Otto, Unternehmer  278 Wolff, Theodor, Journalist, Politiker, DDP  66, 210 Wright, Jonathan, Historiker  18, 244 Wronker – Flatow, Manfred, Freimaurer  99 Wuttke, Prof. Dr., Robert, Dresdner Hochschullehrer 185 Zeigner, Erich, Sächsischer Minister­ präsident, SPD  158 f., 216, 233–235, 238 Zöphel, Georg, sächsischer Syndikus  178