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German Pages [1054] Year 2020
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Hans Kelsen – Biographie eines Rechtswissenschaftlers
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Hans Kelsen Biographie eines Rechtswissenschaftlers
von
Thomas Olechowski unter Mitarbeit von Jürgen Busch, Tamara Ehs, Miriam Gassner und Stefan Wedrac
Mohr Siebeck
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Thomas Olechowski, geboren 1973, Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Wien, Sponsion 1995, Promotion 1998. Habilitation für Österreichische und Europäische Rechtsgeschichte 2003, danach außerordentlicher Professor, seit 2019 Professor an der Universität Wien, zusätzlich 2004–2014 Lehrtätigkeit in Bratislava. 2008 Wahl zum korrespondierenden, 2013 zum wirklichen Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; Obmann der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs. Seit 2011 Geschäftsführer der Bundesstiftung »Hans Kelsen-Institut«.
Die gegenständliche Monographie enthält Ergebnisse der beiden, vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekte »Biographische Untersuchungen zu Hans Kelsen in den Jahren 1881–1940« (P 19287) und »Kelsens Leben in Amerika 1940–1973 und die weltweite Verbreitung seiner Rechtslehre« (P 23747). The present monograph contains results of two projects, funded by the Austrian Science Fund FWF: »Biographical Researches on Hans Kelsen in the years 1881–1940« (P 19287) and »Kelsens’s life in America (1940–1973) and the diffusion of his legal theory across the globe« (P 23747). Gedruckt mit Unterstützung der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien sowie der Forschungsstelle für Rechtsquellenerschließung der Universität Wien.
Rechtswissenschaftliche Fakultät
Forschungsstelle für Rechtsquellenerschließung
ISBN 978-3-16-159292-8 / eISBN 978-3-16-159293-5 DOI 10.1628/978-3-16-159293-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen aus der Minion gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.
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Für Maximilian, Maria und Theodor
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Vorwort Dieses Buch ist weder eine enzyklopädische Darstellung der Reinen Rechtslehre noch gar der gesamten Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts. Es wird keine vollständige Übersicht über alle Streitgespräche und literarische Kontroversen, die Hans Kelsen jemals führte, enthalten, und viele rechtstheoretische Standardwerke werden im Literaturverzeichnis dieser Arbeit fehlen. Wer Derartiges sucht, möge das Buch lieber gleich zuschlagen, bevor es ihn enttäuscht. Denn die gegenständliche Untersuchung ist nicht rechtstheoretischer, sondern rechtshistorischer Natur, und in ihrem Mittelpunkt steht nicht die Reine Rechtslehre, sondern ihr Schöpfer, Hans Kelsen selbst. Sie stellt seinen Lebensweg dar, der ihn von Prag über Wien, Köln, Genf und andere Stationen bis nach Kalifornien führte, und bringt diesen in Verbindung mit der allgemeinhistorischen Entwicklung der Jahre 1881–1973. In diesem Kontext wird Kelsens Schaffen vergegenwärtigt und auf seine wichtigsten Arbeiten eingegangen. Damit kommt an vielen Stellen deutlicher, als es in der bisherigen Literatur erfolgte, zum Vorschein, warum Kelsen bestimmte Themen aufgriff oder was ihn dazu brachte, gewisse Thesen so und nicht anders zu formulieren. Insofern stellt das gegenständliche Buch tatsächlich einen Beitrag zum besseren Verständnis von Kelsens wissenschaftlichem Werk dar: sit Klio ancilla philosophiae! Meine Untersuchungen zu Hans Kelsen gehen auf ein Schreiben der beiden damaligen Geschäftsführer des Hans Kelsen-Instituts, weiland o. Univ.-Prof. DDr. Dr. h. c. Robert Walter und Präsident des VwGH Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. Clemens Jabloner, aus dem Jahr 2003 zurück, in dem sie mir die Idee unterbreiteten, anlässlich der – damals in Vorbereitung befindlichen – Edition der »Hans Kelsen Werke« eine neue, umfassende Biographie Kelsens zu verfassen, die sein Schaffen in Beziehung zu seiner Zeit setzen solle. Ein detaillierter Arbeitsbericht ist in der Einleitung zu diesem Buch enthalten; an dieser Stelle will ich lediglich jenen Personen und Institutionen danken, ohne deren Mitwirkung und Unterstützung dieses Buch niemals zustande gekommen wäre. Dieser Dank geht zunächst an Herrn Mag. Jürgen Busch LL. M., Frau Mag. Dr. Tamara Ehs, Frau Mag. Dr. Miriam Gassner LL. M. und Herrn Mag. Dr. Stefan Wedrac. Sie haben mich auf Forschungsreisen begleitet und auch selbständig in Bibliotheken und Archiven gearbeitet, das Material für mich aufbereitet und zuletzt auch das fertige Manuskript einer kritischen Lektüre unterzogen und durch manch nützliche Hinweise verbessert, kurz, sie haben in einem solchen Ausmaß an dieser Biographie mitgewirkt, dass ihre Nennung auch in der Titelei nur angemessen erschien. Aber auch eine Reihe weiterer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Universität Wien hat Anteil an der Entstehung dieses Buches gehabt, sei es durch Beschaffung
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VIII
Vorwort
von Quellen und Literatur, durch eigenständige Bearbeitung von Detailfragen, durch kritische Lektüre oder durch die Mithilfe an den Registern und Verzeichnissen. Es ist mir daher ein Bedürfnis, hier auch Frau Mag. Dr. Kamila Maria Staudigl-Ciechowicz LL. M., Herrn Mag. mult. Ramon Pils Dipl. Trans., Frau Mag. Susanne Gmoser M. A., Herrn Rechtsanwalt MMag. DDr. Christoph Schmetterer, Frau Mag. Laura Rosemarie Rathmanner, Frau Mag. Carmen Kleinszig, Frau Mag. Marie Clara Büllingen, Frau Mag. Dr. Julia Schreiner, Herrn Behrus E. Assefi B. A., Herrn cand. iur. Martin Krall, Frau cand. iur. Milena Lepir, Frau cand. iur. Mia Krieghofer sowie Frau Katharina Bernold für ihre Hilfe aufrichtig zu danken. Im vorhin erwähnten Schreiben vom Herbst 2003 sicherten mir die beiden Geschäftsführer des Hans Kelsen-Instituts zu, mir bei meinem Vorhaben jede nur denkbare Unterstützung zu gewähren. Dieses Versprechen wurde mehr als erfüllt, wofür ich meinem nunmehrigen Co-Geschäftsführer, Herrn Vizekanzler a. D. Prof. Dr. Dr. h. c. Clemens Jabloner, unserem wissenschaftlichen Sekretär, Herrn Ministerialrat MMag. Dr. Klaus Zeleny sowie unserer administrativen Sekretärin, Frau Renate Polzer, auf das Herzlichste danke! Robert Walter, dessen Nachfolge ich als Geschäftsführer des HKI angetreten habe, hat die Fertigstellung des Buches leider nicht mehr erlebt, aber ich konnte ihm wenigstens noch einige Entwürfe von Teilen des Manuskripts vorlegen, und ich freue mich noch heute über die positive Aufnahme, die diese bei ihm erfahren haben. Ehre seinem Angedenken! Von Anfang an bestand eine enge und fruchtbare Kooperation mit der Hans- Kelsen-Forschungsstelle, die sich seit 2013 in Freiburg i. Br. befindet und die erwähnten »Hans Kelsen Werke« herausgibt. Ich danke ihrem Leiter, Herrn Prof. Dr. Matthias Jestaedt, sowie auch Herrn Priv.-Doz. Mag. Dr. Jörg Kammerhofer und Frau Dr. Angela Reinthal für stets gute Zusammenarbeit und manch nützliche Hinweise und Gespräche. Bei unseren Forschungsreisen fanden wir vielfache Hilfe: Gedankt sei Frau Dr. Nicoletta Bersier Ladavac (Genf ) sowie den Herren Prof. Dr. Oscar Sarlo (Montevideo), Prof. Dr. Carlos Pettoruti (La Plata), Prof. Dr. Ulises Schmill Ordóñez (Mexico City), Dr. Thiago Tannous (São Paulo) und Dr. Felipe Drummond (Rio de Janeiro). Gedankt sei auch an dieser Stelle allen – in der Einleitung zu diesem Buch einzeln aufgeführten – Zeitzeugen und sonstigen Interviewpartnern in Europa, Nord‑ und Südamerika, die uns für Gespräche zur Verfügung standen. Mein Dank geht ferner an Herrn Priv.-Doz. DDDr. Gerhard Donhauser (Wien– Klagenfurt), für umfassende Unterstützung bei der Bewältigung einzelner rechtstheoretischer und rechtsphilosophischer Probleme. Für verschiedenste Hilfestellungen bei der Quellen‑ und Literatursuche habe ich den Damen und Herren Dr. Mónica García-Salmones Rovira (Helsinki), JUDr. Ondřej Horák Ph. D. (Brno), Prof. Dr. Alois Kernbauer (Graz), doc. PhDr. Petr Kreuz, Dr. (Praha), HR Mag. Thomas Maisel MAS (Wien), Mag. Dr. Josef Pauser (Wien), HR Dr. Georg Schmitz (Korneuburg), Univ.-Doz. Dr. Anna Lea Staudacher (Wien), und JUDr. Petra Skřépková (Praha), zu
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Vorwort
IX
danken. Ein besonderer Dank auch Herrn Mag. Dr. Christoph Gnant (Wien) für die Lektüre des Manuskripts und die vielen nützlichen Hinweise! Ein herzliches Aloha übermittle ich der Enkeltochter Hans Kelsens, Frau Anne Feder Lee, Ph. D. (Honolulu), die mir stets bereitwillig Auskunft zu biographischen Details ihrer ganzen Familie gab sowie Dokumente, Briefe und Fotos zur Verfügung stellte. Weitere Fotos und Dokumente, die in diesem Band veröffentlicht oder zitiert werden, erhielt ich dankenswerterweise vom Enkelsohn Hans Kelsens, Herrn Adam Oestreicher (New York), und von seinen Großnichten, Frau Marilyn Rinzler (Berkeley) und Frau Carole Angier (Oxford), ferner von den Damen und Herren Grete Heinz (Carmel), Mane Perez del Cerro (Buenos Aires), Prof. Dr. Friedrich Smend (Göttingen), Dr. Robert Streibl (Wien) und Rechtsanwalt Mag. Ulrich Walter (Wien), schließlich auch vom Universitätsarchiv Wien und vom Universitätsarchiv Heidelberg, vom Institut für Staats‑ und Verwaltungsrecht der Universität Wien und vom Rektorat der Universität Köln, von der Österreichischen Nationalbibliothek und vom Verein zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Für die digitale Aufbereitung einiger dieser Fotos danke ich Herrn Karl Pani (Wien). Gedankt sei ferner dem Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF), der in großzügiger Weise meine Arbeit unterstützt hat (FWF-Projekte P 19287 und P 23747), insbesondere durch die Finanzierung eines großen Teils der oben genannten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie der vielen Forschungsreisen. Zusätzliche Ressourcen finanzieller und personeller Art kamen von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, besonders aber von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, wofür ich unserem Dekan, Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Paul Oberhammer, vielmals danke. Dem Verlag Mohr Siebeck und insbesondere seinem Geschäftsführer, Herrn Dr. Henning Ziebritzki, danke ich sehr für die Aufnahme meines Buches in sein Verlagsprogramm. Für eine geradezu vorbildliche verlagsseitige Betreuung danke ich Frau Daniela Taudt LL. M., Herrn Matthias Spitzner und Frau Ilse König. Herrn Dr. Hans Cymorek danke ich für das überaus sorgfältige Lektorat. Der letzte und tiefste Dank gilt meiner Familie. Meiner Frau Miriam, die ich über das Forschungsprojekt überhaupt erst kennen und lieben gelernt habe, habe ich bereits oben für ihre Hilfe in wissenschaftlicher Hinsicht gedankt. Dank gebührt ihr aber ebenso wie unseren Eltern und unseren Kindern für all die moralische Unterstützung, für das Feedback und für die zeitlichen Freiräume, die sie mir gewährten, und ohne die das Projekt niemals vollendet worden wäre. Unseren Söhnen Maximilian und Theodor und unserer Tochter Maria sei dieses Buch gewidmet. Wien, im Frühjahr 2020
Thomas Olechowski
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Inhaltsübersicht Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Erster Teil: In der Habsburgermonarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Erstes Kapitel: Herkunft, Kindheit und Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Zweites Kapitel: Die Anfänge der Wiener Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Drittes Kapitel: Der Erste Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
Zweiter Teil: Als Professor an der Universität Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Erstes Kapitel: Von der Monarchie zur Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Zweites Kapitel: Das Bundes-Verfassungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Drittes Kapitel: Akademisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Viertes Kapitel: Internationaler Ruhm – Anfeindungen in der Heimat . . . . . . . 385 Fünftes Kapitel: Der Sturz Kelsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
Dritter Teil: Köln – Genf – Prag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 Erstes Kapitel: Als Professor an der Universität zu Köln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Zweites Kapitel: Die Flucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 Drittes Kapitel: Am Sitz des Völkerbundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 Viertes Kapitel: Das Prager »Gastspiel« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 Fünftes Kapitel: Zwischen Krieg und Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637
Vierter Teil: Amerika und die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 Erstes Kapitel: Coming to America . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675 Zweites Kapitel: Der Zweite Weltkrieg und die Gründung der UNO . . . . . . . . 723 Drittes Kapitel: Full Professor in Berkeley . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761 Viertes Kapitel: Die letzten akademischen Stationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 829 Fünftes Kapitel: Das Alterswerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 859 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 919 Verzeichnisse und Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 929
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Max-Planck-Institut zur Erforschung, 25.07.2020
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. The Life and Times of Hans Kelsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2. Das Hans Kelsen-Institut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 3. Biographische Untersuchungen zu Hans Kelsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 4. Arbeitsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 5. Methode – Quellen – Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 6. Eigenzitate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Erster Teil
In der Habsburgermonarchie Erstes Kapitel: Herkunft, Kindheit und Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1. Elternhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 a) Brody . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 b) Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 c) Prag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 d) … und wieder Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2. Schulzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 a) Die Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 b) Der Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 c) Die Matura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3. Beim Militär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 4. Studienzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 a) Die österreichische Universitätslandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 b) Student Hans Kelsen an der Universität Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 c) Edmund Bernatzik und Adolf Menzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 d) Hans Kelsen und Otto Weininger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 e) »Die Staatslehre des Dante Alighieri« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 f ) Die Taufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 g) Die Promotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
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XIV
Inhaltsverzeichnis
Zweites Kapitel: Die Anfänge der Wiener Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 1. Sprung ins Berufsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2. Der Wahlrechtsexperte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 a) Der Weg zum allgemeinen Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 b) Der Wahlrechtskommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3. »… wandte ich mich rechtstheoretischen Studien zu« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 a) Ein ambitionierter Plan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 b) Georg Jellinek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 c) In Heidelberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 d) Rückkehr nach Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 4. Eheschließung und Exportakademie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 a) Margarete Bondi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 b) Die k. k. Exportakademie und der Schwarzwald-Kreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 5. Hans Kelsen in der Volksbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 6. Die »Hauptprobleme der Staatsrechtslehre« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 a) Der Hauch der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 b) Im Schriftverkehr mit J. C. B. Mohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 c) Sein und Sollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 d) Die objektive Erscheinungsform des Rechtssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 e) Die subjektive Erscheinungsform des Rechtssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 f ) Versuch einer Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 7. Die Habilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 8. Privatdozent Hans Kelsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 a) Die ersten Vorlesungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 b) Kritik und Anregungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 c) Weitere Schriften zur Rechtstheorie bis 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 d) Die Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 e) Kelsen und die Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 f ) Miscellanae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
Drittes Kapitel: Der Erste Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 1. Die Einberufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 2. Kelsen und die österreichische Sozialdemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 3. Lehr‑ und Forschungstätigkeit im Kriege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 4. Nichtberufung nach Graz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 5. Die Oktoberrevolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 6. Im Büro des Kriegsministers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 7. Die Ernennung zum Extraordinarius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Max-Planck-Institut zur Erforschung, 25.07.2020
Inhaltsverzeichnis
XV
Zweiter Teil
Als Professor an der Universität Wien Erstes Kapitel: Von der Monarchie zur Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 1. Das Völkermanifest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 2. Der Zusammenbruch der Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 3. Die Gründung der Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 4. Eine juristische Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 5. Die Wahlordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 6. Kelsen und Renner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 7. Die Entstehung des Verfassungsgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 8. Die Stellung der Länder und die Anschlussfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 9. Die Ernennung zum Verfassungsrichter und zum Ordinarius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 10. »Das Problem der Souveränität« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
Zweites Kapitel: Das Bundes-Verfassungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 1. Kelsens Vorentwürfe zur Bundesverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 a) Renners Verfassungsauftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 b) Die Entwürfe und die Chronologie ihrer Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 c) Inhaltliche Analyse der Entwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 2. Parteien, Staat und Länder im Streit um die Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 3. Die Verfassungsarbeiten in der Nationalversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 a) Der Gang der Verfassungsarbeiten im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 b) Die Rolle Kelsens im Verfassungsunterausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 4. Demokratie und Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 5. »Hans Kelsen – Verfassungsmacher« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
Drittes Kapitel: Akademisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 1. Dekan und Ordinarius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 b) Lehr‑ und Prüfungstätigkeit 1918–1930 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 2. Kelsen und seine Schüler 1918–1925 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 a) Die »jungösterreichische Schule« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 b) Der Konflikt mit Fritz Sander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 c) Das Disziplinarverfahren gegen Hans Kelsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 d) »nullius addictus iurare in verba magistri« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 3. Neukantianismus gegen Neuhegelianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 4. Marxismus – Parlamentarismus – Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 a) Die Auseinandersetzungen mit Max Adler und Otto Bauer . . . . . . . . . . . . . . . 353
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XVI
Inhaltsverzeichnis
b) »Das Problem des Parlamentarismus« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 c) Die Verfassungsreform 1925 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 d) Bundesstaat und Anschlussgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 e) Die Drei-Kreise-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 5. Hans Kelsen und die Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 6. Persönliche Freunde und Privatleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
Viertes Kapitel: Internationaler Ruhm – Anfeindungen in der Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 1. Die »Allgemeine Staatslehre« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 2. Die Wiener Rechtstheoretische Schule 1925–1930 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 a) Internationale Schüler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 b) Internationale Zeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 3. Antisemitische Feinde an der Fakultät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 a) Das Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 b) Die literarischen Kontroversen mit Hold-Ferneck und Schwind . . . . . . . . . . 403 4. Die Vortragstätigkeit Hans Kelsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 b) »Die erkenntnistheoretische Bedeutung der Naturrechtslehre« . . . . . . . . . . . 414 c) »Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 5. Kelsen als Gutachter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 a) Der Abrechnungsgerichtshof und die Frage der Gewaltenteilung . . . . . . . . . 422 b) Die Befugnisse des Generalkommissärs nach den Genfer Protokollen . . . . . 423 c) Die Wirtschaftskommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 d) Das Gutachten für den Fürsten von Thurn und Taxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 e) Das Gutachten zum liechtensteinischen Landtag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 f ) Das Gutachten zur Entstehung der Tschechoslowakei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 6. Im Verfassungsgerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428
Fünftes Kapitel: Der Sturz Kelsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 1. Der Streit um das Eherecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 2. Die Dispensehen vor dem Verfassungsgerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 3. Der Brand des Justizpalastes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 4. Noch einmal: Vom Wesen und Wert der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 5. Frankfurt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 6. Die Verfassungsreform 1929 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 7. Die Umpolitisierung des Verfassungsgerichtshofes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472
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XVII
Dritter Teil
Köln – Genf – Prag Erstes Kapitel: Als Professor an der Universität zu Köln . . . . . . . . . . . . . . 481 1. Die Berufung nach Köln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 a) Preußische Wissenschaftspolitik am Rhein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 b) Die Berufungsverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 c) Die Kölner Antrittsvorlesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 2. Eine neue Stadt – ein neues Fach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496 3. Die Weimarer Staatsrechtslehre und Hans Kelsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 a) »Der Staat als Integration« – Kelsen versus Smend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 b) Eine »Existenzfrage der parlamentarischen Demokratie« . . . . . . . . . . . . . . . . 504 c) »Der Hüter der Verfassung« – Kelsen versus Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 4. Der Völkerrechtsexperte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 a) Der Zollunionsplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 b) Die Entwicklung einer eigenen Völkerrechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 5. Vermischtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 a) An der Kölner Fakultät: Kollegen und Schüler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 b) Die Wiener Schüler – Kelsens 50. Geburtstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 c) Die Nationalsozialisten auf dem Vormarsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 d) »Gegen die Todesstrafe!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 6. In Genf und Den Haag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 7. Die Berufung von Carl Schmitt und der »Preußenschlag« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530 8. »Verteidigung der Demokratie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536
Zweites Kapitel: Die Flucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 1. Von der »Machtergreifung« zum »Judentag« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 2. Die »Gleichschaltung« der Universität Köln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 3. Das Fakultätsschreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 4. Die deutsche Staatsrechtslehre im Sog des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . 557 5. Ungewisse Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560
Drittes Kapitel: Am Sitz des Völkerbundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 1. Die Genfer Antrittsvorlesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 2. Der Pensionsstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574 3. Das Schweizer Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 4. Kelsens Lehrtätigkeit in Genf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 5. Kelsens Genfer Publikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 a) Die »Reine Rechtslehre« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 b) Das brasilianische Gutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593
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XVIII
Inhaltsverzeichnis
c) Aufsätze zum Allgemeinen Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595 d) »Die Parteidiktatur« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597
Viertes Kapitel: Das Prager »Gastspiel« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 1. Die Ernennung zum Professor in Prag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 2. Die ersten Ehrendoktorate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 3. Hans Kelsen in seiner Geburtsstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 4. Die erste Vorlesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 5. An der Prager Fakultät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 6. Der »Anschluß« Österreichs an das Deutsche Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 7. Die Zerschlagung der Tschechoslowakei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629
Fünftes Kapitel: Zwischen Krieg und Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 1. Der Völkerbund und Hans Kelsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 a) »The World Crisis« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 b) Der Völkerbundkommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 c) The New Commonwealth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639 2. Kelsen und die Einheitswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 a) Die »Unity of Science«-Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 b) »Vergeltung und Kausalität« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 3. Die Emigration in die Vereinigten Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652 a) »Das Boot ist voll!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652 b) In Verhandlungen mit amerikanischen Universitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659 c) Gefahrenvolle Reise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 Vierter Teil
Amerika und die Welt Erstes Kapitel: Coming to America . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675 1. Im »Big Apple« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675 2. Als Gastprofessor in Harvard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 680 a) Cambridge, Middlesex, Massachusetts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 680 b) »Law and Peace in International Relations« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685 c) Kuba . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687 3. Ein wissenschaftlicher Neuanfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689 a) »A Sociological Analysis of the Idea of Justice« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689 b) Reine Rechtslehre und Amerikanische Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694 c) »General Theory of Law and State« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698 4. Das zweite Jahr in Massachusetts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Max-Planck-Institut zur Erforschung, 25.07.2020
Inhaltsverzeichnis
XIX
5. Vom Atlantik zum Pazifik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710 a) Ein Angebot aus Kalifornien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710 b) Am Ende der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716 c) Vom Gastprofessor zum Lektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 718
Zweites Kapitel: Der Zweite Weltkrieg und die Gründung der UNO . 723 1. »Peace through Law« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723 2. Im Dienst der Roosevelt-Administration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 728 a) Wichtige Bekanntschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 728 b) Die Foreign Economic Administration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 729 c) Die debellatio-These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735 3. Der Nürnberger Kriegsverbrecherprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 739 a) Die Frage der individuellen Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 739 b) Hans Kelsen im Dienst des J. A. G. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743 c) Die Gutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745 d) Der Prozess und seine Analyse durch Kelsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 750 4. Die US-Staatsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752 5. »The World at the Golden Gate« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 754
Drittes Kapitel: Full Professor in Berkeley . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761 1. Die Ernennung zum Professor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761 2. Hans Kelsen und Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 768 a) Schritte der Versöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 768 b) Keine Rückkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 770 c) Kelsen, Merkl und Verdroß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773 3. Das Recht der UNO und das Allgemeine Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777 a) Vorträge und Aufsätze zur UN-Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777 b) Der Nordatlantikpakt und die UNO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 782 c) Das opus maximum: »The Law of the United Nations« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 784 d) Das Freie Territorium von Triest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 788 e) Die Weiterentwicklung der Vereinten Nationen nach 1950 . . . . . . . . . . . . . . . 789 f ) Die ILC und der Entwurf über Rechte und Pflichte der Staaten . . . . . . . . . . . 791 g) »Principles of International Law« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793 4. Die USA in der McCarthy-Ära . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 796 a) Hexenjagd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 796 b) »The Political Theory of Bolshevism« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 798 c) Die Untersuchungen des FBI gegen Hans Kelsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 800 5. Hans Kelsen, seine Töchter und Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 802 6. Hans Kelsen in Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 804 a) Die Egologische Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 804
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b) Am Rio de La Plata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807 c) Die literarische Kontroverse mit Carlos Cossio 1953 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 812 7. Die Emeritierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 814 a) Der Kampf um die Pensionsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 814 b) Der Kampf um das letzte Jahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 818 c) Die Bollingen Foundation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 820 d) Ehrendoktorat und Abschiedsvorlesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 821 e) Festschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 825
Viertes Kapitel: Die letzten akademischen Stationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 829 1. Die Europareise 1952/53 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 829 a) Die Rückkehr nach Genf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 829 b) Vortragsreisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 831 c) Wiedergutmachung in Köln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 833 d) Kelsens dritte Vorlesung im Haag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 835 2. Am Naval War College (1953/54) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 837 3. Die Grundlagen von Demokratie und Marxismus sowie die Frage nach dem Wesen der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 840 a) Die Walgreen Lectures . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 840 b) »The Communist Theory of Law« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 846 c) »Secular Religion« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 848 4. Kelsen als internationaler Gutachter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 852 a) Uruguay vs. Italien – Das Schiff »Fausto« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 852 b) United States vs. Texas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 853 c) Australien vs. Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 855 d) Das Zypern-Gutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 857
Fünftes Kapitel: Das Alterswerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 859 1. Ruhestand – Unruhestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 859 2. Auf der Suche nach der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 860 a) »What is Justice?« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 860 b) »Die Illusion der Gerechtigkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 863 3. Europareisen 1955–1959 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 864 4. Der Versuch einer Kompromissformel, zwei Kontroversen und eine redaktionelle Panne (1958–1965) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 868 a) Sind Naturrecht und Reine Rechtslehre miteinander vereinbar? . . . . . . . . . . 868 b) Die Kontroversen mit Alf Ross und Eugenio Bulygin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 871 c) Die Panne mit O’Connell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 872 5. »Reine Rechtslehre« – die 2. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 873 a) Die Mexiko-Reise 1960 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 873 b) Eine »erhebliche Erweiterung« der Reinen Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . 874
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c) Der Anhang: »Das Problem der Gerechtigkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 880 d) Übersetzungen und Rezeption der 2. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 881 6. Die Europareise 1960 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 882 a) Der Feltrinelli-Preis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 882 b) Der Mainzer Vortrag und das Fernsehinterview . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 883 7. Der 80. Geburtstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 884 a) Vorträge, Ehrungen und Auszeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 884 b) Vier Festgaben für Hans Kelsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 886 c) Die »Hans Kelsen Graduate Social Sciences Library« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 888 8. Die Diskussion mit H. L. A. Hart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 889 9. Recht und Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 892 a) Die Debatte mit Ulrich Klug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 892 b) Die Europareise 1962 und die Salzburger Naturrechtsdebatte . . . . . . . . . . . . 894 c) Letzte rechtstheoretische Arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 897 d) Die Kontroverse mit Julius Stone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 902 10. Die letzte Europareise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 904 11. »Ich habe mich entschlossen, nichts mehr zu publizieren« . . . . . . . . . . . . . . . . . 910
Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 919 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 929 1. Allgemeine Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 929 2. Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 930 3. Länderkürzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 931 Quellen‑ und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 933 1. Werke Hans Kelsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 933 2. Archivalische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 947 3. Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 952 4. Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 953 5. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 957 Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1007 Werksregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1009 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1015
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»Heute will jeder bessere Jurist Kelsen-Schüler gewesen sein. Aber damals wollte niemand etwas mit jüdischen Professoren zu tun haben.« Bruno Kreisky, Zwischen den Zeiten (1986) 139.
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Einleitung 1. The Life and Times of Hans Kelsen Im August 1964 trat der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Hans Morgenthau an die Rockefeller Foundation mit der Idee heran, der weltberühmte Jurist Hans Kelsen solle an den Comer See nach Italien fahren, wo die Foundation noch heute die Villa Serbelloni besitzt, und dort »an intellectual history of his life and times« verfassen. Die Rockefeller Foundation war allerdings skeptisch, ob der bereits 83-jährige Gelehrte, der zu jener Zeit in Berkeley in Kalifornien lebte, überhaupt noch im Stande sei, nach Europa zu reisen und eine derartige Arbeit zu schreiben.1 Morgenthau meinte hierauf, dass die Biographie ja auch in Berkeley verfasst werden und man Kelsen eine Sekretärin beistellen könne, wofür er Helen Smelser, die Frau des in Berkeley unterrichtenden Soziologieprofessors Neil Smelser vorschlug, zumal diese schon früher mit Kelsen zusammengearbeitet hatte. Tatsächlich gewährte die Rockefeller Foundation in der Folge einen Grant in Höhe von $ 3.500,–, sodass die Arbeiten beginnen konnten.2 Erst jetzt meldete sich Hans Kelsen, der »Gegenstand« der Korrespondenz zwischen Morgenthau und der Rockefeller Foundation, auch selbst zu Wort: Er war durchaus gewillt, sein Leben zu Papier zu bringen. Doch Mrs. Smelser, die kein Deutsch sprach, hielt er für ungeeignet, die ihr zugedachte Rolle zu übernehmen. Die einzige Person, die ihm helfen könne, eine Autobiographie zu schreiben, so Kelsen, sei sein ehemaliger Schüler und Assistent aus Wiener und Kölner Tagen, Rudolf Aladár Métall, der aber noch bis August 1966 bei der International Labour Organization (ILO) in Genf arbeitete.3 Die Rockefeller Foundation war auch mit dieser Planänderung einverstanden, und unmittelbar nach seiner Pensionierung, im Herbst 1966, reiste Métall nach Berkeley, wo er seinen akademischen Lehrer in offenbar guter Verfassung antraf: Immerhin war dieser, wie Métall später berichtete, gerade damit beschäftigt, die Korrekturfahnen zur 1 Aktenvermerk über ein Gespräch mit Hans J. Morgenthau v. 25. 8. 1964, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.2 (FA387a), Series 200 S, Box 565, Folder 4843. 2 Hans J. Morgenthau, Schreiben an Kenneth Thompson (RF) v. 28. 8. 1964; Aktenvermerk über ein Telefongespräch zwischen Morgenthau und Thompson v. 30. 8. 1964; Grant in Aid (GA) RSS 6564, alles in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.2 (FA387a), Series 200 S, Box 565, Folder 4843. Worin die Zusammenarbeit zwischen Kelsen und Smelser bestanden hatte, wird nicht erwähnt. In einem Brief von Hans J. Morgenthau an Hans Kelsen v. 5. 6. 1964, LOC, Manuscript Division, Hans Morgenthau Papers, Box 33, Folder 6, wird erwähnt, dass Helen Smelser mit einem Projekt an Kelsen herangetreten sei, auch hier ohne nähere Angaben. 3 Charles Aikin (UC Berkeley), Schreiben an Kenneth Thompson (RF) v. 17. 9. 1965, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.2 (FA387a), Series 200 S, Box 565, Folder 4843.
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englischen Übersetzung der zweiten Auflage seiner »Reinen Rechtslehre« zu lesen.4 In Kelsens Haus in der Los Angeles Avenue 2126 konnte Métall »Hans Kelsens Privatbibliothek […] und auch seine gesamte Privatkorrespondenz« zur Abfassung des Buches »konsultieren«.5 Doch die Autobiographie kam niemals zustande; vielleicht, weil sich der Gesundheitszustand Kelsens in der Zwischenzeit rapid verschlechtert hatte, vielleicht aber auch, weil Kelsen es besser fand, wenn nicht sein eigener Name unter dem inzwischen zustande gekommenen Manuskript stehen würde. Jedenfalls veröffentlichte Métall selbst drei Jahre später, 1969, im Wiener Verlag Franz Deuticke das Buch »Hans Kelsen. Leben und Werk«. Es wird – leider nur auf dem Schutzumschlag, nicht im Buch selbst – als eine »autorisierte Biographie« bezeichnet.6 Kelsen hatte das Erscheinen des Buches jedenfalls noch bewusst miterlebt und einzelne Exemplare signiert; Stellungnahmen von ihm, inwieweit das Métallsche Werk den historischen Tatsachen entspricht, sind nicht bekannt. Im Vorwort zu seinem Buch führte Métall aus, dass seine Quellen »1. eine handgeschriebene, etwa 12 Seiten umfassende unveröffentlichte ›Selbstdarstellung‹ Kelsens (Wien, Februar 1927); 2. eine 46 Maschinschriftseiten umfassende, ebenfalls unveröffentlichte ›Autobiographie‹ (Berkeley, Oktober 1947); 3. persönliche Gespräche, die ich mit Hans Kelsen in Wien, Köln, Genf, New York und Berkeley zu führen den Vorzug hatte; 4. eigene Notizen und Erinnerungen; 5. Kelsens Veröffentlichungen […]; 6. Schriften zu Hans Kelsens Werken […]« waren.7 Also gab es schon vor 1969 zwei Aufzeichnungen Kelsens über sein eigenes Leben, auch wenn sie kurz und bis dahin noch nie veröffentlicht worden waren! Bei der »Selbstdarstellung« handelt es sich um einen Text, den Kelsen auf Bitten des ungarischen Juristen Gyula Moór (1945/46 Präsident der Ungarischen Akademie der Wissenschaften) im Zusammenhang mit der Übersetzung eines seiner Werke ins Ungarische verfasst und ihm am 20. Februar 1927 übersandt hatte.8 Er gibt im Wesentlichen einen Überblick über die bisherigen Arbeiten Kelsens; eigentlich biographische Angaben finden sich fast nur in den ersten drei Sätzen. Anders dagegen verhält es sich bei der »Autobiographie« von 1947, die relativ viele persönliche Informationen preisgibt und manche bedeutsame Ereignisse im Leben Kelsens – so etwa den Zusammenbruch der Monarchie 1918 oder seine Prager Vorlesung 1936 – recht detailliert schildert. Es sei bereits hier vermerkt, dass das vorliegende Buch in vielen Fällen nachweisen kann, dass zahlreiche Ereignisse im Leben Kelsens von ihm selbst in seiner Autobiographie ungenau oder fehlerhaft 4 Métall, Kelsen (1969) 93. Die 1960 erschienene 2. Auflage (Kelsen, Reine Rechtslehre [1960]) war von Max Knight ins Englische übertragen worden: Kelsen, Pure Theory (1967). Beachte aber auch Knight, Erinnerungen (1973), wonach Kelsen bereits damals so vergesslich war, dass er die Fahnen versehentlich zweimal korrigierte. 5 Métall, Kelsen und seine Wiener Schule (1974) 20. 6 Auch die Tochter Hans Kelsens, Maria Feder, bestätigte, dass ihr Vater die Biographie »autorisiert« habe: Vgl. Maria Feder, Schreiben an Robert Walter v. 24. 8. 1988, in HKI, Bestand Kelsen Persönliches. 7 Métall, Kelsen (1969) V. 8 Der Text wurde erst nach dem Tode Kelsens an relativ entlegener Stelle und nunmehr auch in HKW I, 19–27 abgedruckt; vgl. dazu den ausführlichen editorischen Bericht in HKW I, 586–589.
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wiedergegeben wurden. Dahinter muss keine böse Absicht Kelsens stecken; vielmehr ist dies ein Phänomen, das häufig bei Autobiographien beobachtet werden kann: Kelsen gab die Dinge so wieder, wie er sie zur Zeit der Niederschrift – die zum Teil mehrere Jahrzehnte, nachdem die Ereignisse stattgefunden hatten, erfolgte – sah. Anlass für Kelsens Autobiographie vom Oktober 1947 war seine wenige Monate zuvor erfolgte Wahl zum Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).9 So wie alle neugewählten Mitglieder, wurde auch Kelsen damals gebeten, der ÖAW »eine autobiographische Darstellung Ihres Lebensganges und Ihres wissenschaftlichen Lebenswerkes« zu übermitteln. 1950 berichtete Kelsen dem Generalsekretär der ÖAW, Josef Keil, dass sein Text »etwa 50 Maschinschreibseiten« umfasse. »Doch das duerfte vermutlich zu lang sein.«10 Tatsächlich gab er seinen Text niemals ab, sondern übersandte der ÖAW lediglich einen zweiseitigen, tabellarischen Lebenslauf.11 Ein Vergleich der beiden autobiographischen Texte von 1927 und 1947 mit dem Buch Métalls ergibt, dass dieser nicht nur vielfach ausdrücklich Passagen aus ihnen übernahm, sondern den beiden Schriften, insbesondere der zweiten, auch sonst inhaltlich weitgehend folgte, sie nur gelegentlich z. B. mit eigenen Erinnerungen oder wohl mündlich überlieferten Anekdoten ausschmückte, aber kaum jemals einen abweichenden Standpunkt einnahm, geschweige denn die beiden Darstellungen kritisch bewertete oder gar als fehlerhaft bezeichnete. Wir haben es bei dem Buche Métalls quasi mit einer erweiterten Autobiographie Kelsens zu tun, verfasst von einer Person, die, wie noch zu zeigen sein wird, mit dem Dargestellten über Jahrzehnte hinweg eng verbunden und daher zu einer distanzierten Betrachtung kaum fähig war. Dazu kommt, dass das Werk über keinerlei wissenschaftlichen Apparat verfügt, sodass eine Rekonstruktion, woher die über »Selbstdarstellung« und »Autobiographie« hinausgehenden Abschnitte stammen, so gut wie unmöglich ist. Kurzum: Von einer wissenschaftlichen Biographie kann bei dem Métall’schen Werk, so verdienstvoll es auch war, keine Rede sein. Nichtsdestoweniger prägte es den Wissensstand zur Person Kelsens auf Jahrzehnte.
2. Das Hans Kelsen-Institut Das Erscheinen des Buches von Métall fiel in eine Zeit, in der das Interesse für Kelsens fast schon vergessenes Werk in Österreich langsam wiedererwachte. Zwar hatte das Erscheinen der 2. Auflage von Kelsens »Reiner Rechtslehre« in einem österreichischen 9 Vgl.
zu dieser unten 769. Kelsen, Schreiben an Josef Keil (ÖAW) v. 31. 3. 1950, in: Archiv der ÖAW, Personalakt Hans Kelsen. Die Aufforderung der ÖAW an Kelsen in: HKI, Nachlass Kelsen 15a35.57. 11 Hans Kelsen, Schreiben an Josef Keil (ÖAW) v. 18. 8. 1955, in: Archiv der ÖAW, Personalakt Hans Kelsen. Die 46-seitige Autobiographie galt lange als verschollen und wurde erstmals im Rahmen der Edition der »Hans Kelsen Werke« veröffentlicht: HKW I, 29–91; vgl. dazu auch den ausführlichen editorischen Bericht in HKW I, 589–596. 10 Hans
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Verlag im Frühjahr 1960 für einiges Aufsehen gesorgt.12 Doch mit 30. September desselben Jahres waren seine beiden bedeutendsten Schüler an der Wiener Rechts‑ und Staatswissenschaftlichen Fakultät, der Verfassungsrechtler Adolf Julius Merkl und der Völkerrechtler Alfred Verdroß, emeritiert worden, sodass so mancher Kollege dachte, nun »werde es mit der Reinen Rechtslehre an der Fakultät endgültig Schluss sein«.13 Allerdings war es Merkl noch wenige Monate vor seiner Emeritierung gelungen, dass sich der damals 29-jährige Richter Robert Walter an der Universität Wien habilitierte, und zwar mit der Schrift »Verfassung und Gerichtsbarkeit«, die ganz auf den rechtstheoretischen Lehren Kelsens basierte; vier Jahre später folgte Walters Monographie »Der Aufbau der Rechtsordnung«, die der Reinen Rechtslehre wesentliche neue Impulse gab. Im selben Jahr, 1964, erschien in den USA eine Festschrift zu Ehren von Hans Kelsen, in der der Salzburger Professor René Marcic geradezu über eine »Kelsen-Renaissance im deutschsprachigen Raum« berichtete.14 Weitere vier Jahre später, 1968, gab Marcic gemeinsam mit dem Linzer Professor Herbert Schambeck sowie dem Innsbrucker Professor und damaligen Justizminister Hans Klecatsky ein zweibändiges Werk mit dem Titel »Die Wiener Rechtstheoretische Schule« heraus. Dieses enthielt Schriften von Kelsen, Merkl und Verdroß zu Metaphysik und Erkenntnistheorie des Rechts, zur Allgemeinen Rechtslehre, zur staatlichen Ordnung sowie zum Völkerrecht, und zwar innerhalb dieser Sachgebiete in einer chronologischen Folge, um die gegenseitige Beeinflussung der drei Autoren aufzuzeigen.15 Der Sammelband rief großes und fast nur positives Echo hervor; allerdings merkte Métall kritisch an, dass die Fokussierung auf Kelsen, Merkl und Verdroß den Blick auf die Internationalität der Wiener rechtstheoretischen Schule, wie sie in der Zwischenkriegszeit bestanden hatte, verstellt habe. Er selbst unternahm daher 1974 die Herausgabe eines weiteren Sammelbandes, welcher »33 Beiträge zur Reinen Rechtslehre« enthielt, aber gerade nicht von den drei genannten, sondern von 21 sonstigen ehemaligen Mitgliedern der Kelsen-Schule, auch vielen ausländischen Autoren, darunter insbesondere vom tschechischen Verfassungsjuristen Franz [František] Weyr, »dem ersten und treuesten Weggenossen Hans Kelsens und seiner Lehre«.16 So konnte Robert Walter, der in der Zwischenzeit zunächst einen Ruf an die Universität Graz, dann an die Hochschule für Welthandel in Wien angenommen hatte, 1968 in der von Hans Kelsen begründeten Zeitschrift für Öffentliches Recht (ZÖR) 12 Dazu
noch unten 874. Selbstdarstellung (2003) 89. 14 René Marcic, Der Hintergrund der Kelsen-Renaissance im deutschsprachigen Raum, in: Salo Engel/Rudolf A. Métall (Hgg.), Law, State and International Legal Order. Essays in Honor of Hans Kelsen (Knoxville 1964) 197–208. Kritisch dazu Ewald Wiederin, Die Neue Wiener Schule und die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, in: Matthias Jestaedt (Hg.), Hans Kelsen und die deutsche Staatsrechtslehre (Tübingen 2013) 85–97, 87. 15 WRS. Ein Neudruck erfolgte 2010. Wie mir Herbert Schambeck bei unserem 2007 geführten Interview erzählte, stammte die Idee der Anordnung der Beiträge von Klecatsky. 16 Rudolf Aladár Métall, Einleitung, in: Rudolf Aladár Métall (Hg.), 33 Beiträge zur Reinen Rechtslehre, hg. v. Hans Kelsen-Institut (Wien 1974) 9. 13 Walter,
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schreiben, dass Kelsens Rechtslehre »weder – wie manche andere Lehren – an uns vorübergezogen, noch zu allgemeiner Anerkennung gelangt ist, vielmehr nach wie vor im wissenschaftlichen Meinungsstreit steht.«17 Mit Professor Kurt Ringhofer, einem Kollegen aus seiner Grazer Zeit, der 1968 an die Universität Salzburg berufen worden war, beriet Walter die Notwendigkeit, die Kelsen-Forschung in Österreich zu forcieren und zugleich in einer eigenen Forschungseinrichtung zu institutionalisieren. Gemeinsam wandten sie sich mit ihrem Anliegen direkt an die Wissenschaftsministerin, Hertha Firnberg.18 Denn auch das offizielle Österreich war dem Gelehrten, der rund vierzig Jahre zuvor aufgrund der politischen Verhältnisse seine Heimat verlassen hatte und – von kurzen Vortragsreisen abgesehen – nie mehr zurückgekehrt war, wohlgesonnen: Aus Anlass von Kelsens 90. Geburtstag am 11. Oktober 1971 verlieh ihm der österreichische Bundespräsident in Abwesenheit das Große goldene Ehrenzeichen mit dem Stern für Verdienste um die Republik Österreich. Und am Haus Wickenburggasse 23 im VIII. Wiener Gemeindebezirk, in dem Kelsen 1912–1930 gelebt hatte und wo auch seine Privatseminare stattgefunden hatten, ließ Firnberg eine Gedenktafel anbringen.19 Merkl, Marcic, Verdroß und Walter gaben im Wiener Verlag Franz Deuticke eine »Festschrift für Hans Kelsen zum 90. Geburtstag« heraus, an der vor allem österreichische Gelehrte mitwirkten20 – und in der California Law Review erschien ein Sonderband »Essays in Honor of Hans Kelsen. Celebrating the 90th Anniversary of His Birth«,21 zu dem vor allem amerikanische Kollegen beigetragen hatten. Doch damit nicht genug der Ehrungen: Am 14. September 1971 beschloss die österreichische Bundesregierung, ein »Hans Kelsen-Institut« als Bundesstiftung zu gründen.22 In ihrer Stiftungserklärung stellte sie fest, dass Kelsens »Lebenswerk […] aus der Wissenschaft vom Recht nicht mehr wegzudenken« sei. »Die Republik verdankt Hans Kelsen ihre Verfassung; was immer am österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz über die Zeiten hinaus Bestand haben wird, ist mit seinem Namen verbunden.« 17 Robert Walter, Kelsens Rechtslehre im Spiegel rechtsphilosophischer Diskussion in Österreich, ZÖR 1968, 331–352. 18 Walter /Jabloner, Einleitung (1995) 8; Walter, Kurzbericht (2003) 11; Robert Walter, Interview mit dem Verfasser vom 12. 6. 2007. 19 Firnberg, Kelsen (1974) 13. Vgl. nunmehr auch Klaus Zeleny, Die Wickenburggasse 23: Das Zentrum der Wiener Schule, in: Ettl/Murauer, Kelsen (2010) 41–47. 20 Adolf J. Merkl/René Marcic/Alfred Verdroẞ/Robert Walter (Hgg.), Festschrift für Hans Kelsen zum 90. Geburtstag (Wien 1971). Merkl war vor Erscheinen der Festschrift verstorben, trug aber noch – so wie die übrigen Herausgeber – mit einem Beitrag an der Festschrift bei. Weitere Autoren waren: Klaus Adomeit, Felix Ermacora, Ernst C. Hellbling, Theo Mayer-Maly, Erwin Melichar, Herbert Miehsler, Kurt Ringhofer, Herbert Schambeck, Alf Ross, Ignaz Seidl-Hohenveldern, Stephan Verosta und Rudolf Métall. 21 California Law Review 59 (1971) 603–858. Mit Geleitworten von Albert A. Ehrenzweig, John R. Wilkins, Julius Stone, Hans George Schenk sowie Beiträgen von William Ebenstein, Edgar Bodenheimer, Thomas A. Cowan, Graham Hughes, Samuel I. Shuman, Robert S. Summers, Jerome Hall, Ferdinand Fairfax Stone, David Daube, Joseph Raz und Kent Sinclair Jr. 22 Die stiftungsbehördliche Genehmigung durch die Wiener Landesregierung erfolgte am 5. 11. 1971. Vgl. Hans Kelsen-Institut (Hg.), Hans Kelsen zum Gedenken (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 1, Wien 1974) 77; Wirth, Broda (2011) 459.
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Abb. 1: Sonderbriefmarke der österreichischen Post zum 100. Geburtstag Hans Kelsens.
Das Hans Kelsen-Institut (HKI) sollte »das Lebenswerk Hans Kelsens, die Reine Rechtslehre und ihren wissenschaftlichen Widerhall im In‑ und Ausland dokumentieren, darüber informieren und die weitere Durchdringung, Fortführung und Entwicklung fördern.« Zu diesem Zweck wurde ein Stiftungsvermögen von einer Million Schilling gebildet, welches »fruchtbringend anzulegen und dauernd ungeschmälert zu erhalten« war. Präsident des HKI und Vorstand des Kuratoriums sollte der jeweilige Bundeskanzler sein, womit der offiziöse Charakter des Instituts und die Ausnahmeerscheinung Hans Kelsens noch weiter gestärkt wurden. Von den weiteren Kuratoriumsmitgliedern sollten sechs von der Bundesregierung bestellt werden und je eines von den fünf rechtswissenschaftlichen Fakultäten in Österreich »und von jeder nicht in Fakultäten gegliederten österreichischen Hochschule, an der das Studium der Rechtswissenschaft nicht bloß als Nebenfach gepflegt wird«.23 Das Kuratorium konstituierte sich am 30. Oktober 1972 und bestellte Ringhofer und Walter zu Geschäftsführern des Instituts.24 In weiterer Folge wurden, in unmittelbarer Nähe zum damaligen Standort der Hochschule für Welthandel, Räumlichkeiten in 23 Mit dieser etwas umständlichen Formulierung war Walters eigene Institution, die Hochschule
für Welthandel (seit 1975 Wirtschaftsuniversität Wien) gemeint; bei den rechtswissenschaftlichen Fakultäten handelt es sich – seit 1971 unverändert – um jene in Graz, Innsbruck, Linz, Salzburg und Wien. Der Stiftungsbrief ist abgedruckt in: Hans Kelsen-Institut (Hg.), Hans Kelsen zum Gedenken (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 1, Wien 1974) 77–85. 24 Vgl. die Liste der ursprünglichen Kuratoriumsmitglieder in: Hans Kelsen-Institut (Hg.), Hans Kelsen zum Gedenken (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 1, Wien 1974) 86.
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Wien XIX., Gymnasiumstraße 79, angemietet, in welchem Haus sich das HKI noch heute befindet.25 Das HKI hatte gerade erst seine Tätigkeit aufgenommen, als Hans Kelsen im Alter von fast 92 Jahren, am 19. April 1973, in einem Pflegeheim in Orinda, einer Kleinstadt in der San Francisco Bay Area, starb. Weltweit wurde über sein Ableben berichtet.26 25
Klaus Zeleny, Das Hans Kelsen-Institut, in: Ettl/Murauer, Kelsen (2010) 96–99. Bereits am 20. 4. erschienen die ersten Todesmeldungen im »San Francisco Chronicle« und der »New York Times«. Mit einem Tag Verspätung erlangten auch die österreichischen Tageszeitungen Kenntnis vom Tode Kelsens: Am 21. 4. berichteten die »Arbeiter-Zeitung«, die »Kärntner Tageszeitung«, die »Kleine Zeitung«, die »Neue Kronen Zeitung«, der »Kurier«, das »Linzer Volksblatt«, die Grazer »Neue Zeit«, die »Oberösterreichischen Nachrichten«, »Die Presse«, die »Salzburger Nachrichten«, die »Süd-Ost Tagespost«, das »Tagblatt«, die »Volksstimme« und die »Wiener Zeitung« über sein Ableben. Ebenfalls am 21. 4. berichteten aus London »The Times« und aus Rom der »Osservatore Romano«; es folgten am 22. 4. »The Washington Post«, am 24. 4. »Die Welt«, am 25. 4. 1973 die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« (FAZ), am 27. 4. die »Süddeutsche Zeitung«. Ebenfalls am 27. 4. erschien in der deutschsprachigen US-amerikanischen Zeitung »Aufbau« sowohl eine Zeitungsnotiz als auch eine Traueranzeige der Familie. Eine ausführliche Würdigung brachte auch das Journal de Genève am 5./6. 5. 1973. Der Österreichische Rundfunk strahlte in seinem Hörfunkprogramm Ö1 am 8. 5. 1973 eine Sendung »Zur Erinnerung an Hans Kelsen« aus. In dieser Sendung wurde ein Ausschnitt aus einem Interview, das Hans R. Klecatsky am 2. 5. 1969 mit Kelsen geführt hatte, ausgestrahlt; hieran schlossen sich Beiträge von Hans Christian Broda, Hans R. Klecatsky, Norbert Leser, Herbert Schambeck, Ernst Topitsch, Alfred Verdroß und Robert Walter an. Diese Texte sind wiedergegeben in: Hans Kelsen-Institut (Hg.), Hans Kelsen zum Gedenken (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 1, Wien 1974) 47–74; wiederabgedruckt in: Robert Walter /Clemens Jabloner /Klaus Zeleny (Hgg.), 30 Jahre Hans Kelsen-Institut (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 24, Wien 2003) 89–104; das komplette Interview von Klecatsky mit Kelsen in: Hans Klecatsky, Hans Kelsen †, JBl 95 (1973) 305–306. Die juristischen Fachzeitschriften brauchten naturgemäß etwas länger, brachten dann jedoch umso ausführlichere Nachrufe und Würdigungen: Ein »offiziöser« Nachruf erfolgte durch die University of California, an der Kelsen zuletzt gelehrt hatte, in der California Law Review 61 (1973) 957–960. Vgl. ferner (in alphabetischer Reihenfolge der Autorinnen und Autoren): Klaus Adomeit, Hans Kelsen, Rechtstheorie 4 (1973) 129–130; Smila Aeramoe, Hans Kelsen – Schiwot i Delo [Hans Kelsen – Leben und Werk], Anali prawno fakulteta u Beogradu 1–2 (1974) 21–29; Benjamin Akzin, Hans Kelsen – In Memoriam, Israel Law Review 8 (1973) 325–329; Fernando Flores García, Hans Kelsen, Revista de la Facultad de Dereche de México 23 (1973) 670–673; Leo Gross, Hans Kelsen. October 11, 1886 [sic] – April 15 [sic], 1973, The American Journal of International Law 67 (1973) 491–501; Paul Guggenheim, Hans Kelsen (1881–1973), Annuaire de l’Institut de Droit International 55 (1973) 896–898; Budimir Košutić, Kelzenove Životne Protivrečnosti, gledista 14 (1973) 885–892; R. Lukić, Hans Kelzen, Arhiv za Pravne i Društvene Nauke 4 (1973) 775–777; Josip Metelko, Professor Hans Kelsen, Zbornik Pravnog Fakulteta u Zagrebu 23 (1973) 107–109; Manfred Rehbinder, Hans Kelsen (11. Oktober 1881 – 19. April 1973), Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie XXV (1973) 671 f.; Peter Römer, Hans Kelsen †, Deutsche Richterzeitung 53 (1973) 207 f.; Hans Spanner, Hans Kelsen †, AöR 98 (1973) 407–409; Alfred Verdross, Hans Kelsen im memoriam, ZÖR 24 (1973) 241–243 = VGS 3341–3343; Alfred Verdross, Hans Kelsen: Almanach der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 123 (Wien 1974) 410–413 = VGS 3337–3340; Robert Walter, Hans Kelsen †, Die öffentliche Verwaltung 26 (1973) 450. Allein Felix Ermacora hatte die Geschmacklosigkeit, in der Österreichischen Hochschulzeitung vom 15. 7. 1973 anstelle eines Nachrufes ein Gutachten des Rechtshistorikers Ernst v. Schwind aus dem Jahr 1918 (welches eine vernichtende, antisemitische Kritik von Kelsens Lehre war, siehe dazu noch unten 205 praktisch unkommentiert wiederzugeben. 26
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Es wurde die erste Aufgabe für das HKI, eine Gedächtnissitzung für den Mann, dessen Namen es trug und dessen Erbe es übernommen hatte, zu organisieren. Die am 11. Oktober 1973 – dem 92. Geburtstag des verstorbenen Gelehrten – im Justizministerium (Palais Trautson) gehaltenen Reden von Hertha Firnberg, Rudolf Métall, Walter Antoniolli und Robert Walter wurden im ersten Band der Schriftenreihe des Instituts, »Hans Kelsen zum Gedenken«, abgedruckt.27 Mittlerweile hat das HKI 40 Bände in dieser Schriftenreihe veröffentlicht und ist zu einem Fixpunkt der weltweiten Kelsen-Forschung geworden. Über den Fortgang derselben wird es durch »internationale Korrespondenten« aus Argentinien, Australien, Brasilien, Chile, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Israel, Italien, Japan, Korea, Mexiko, den Niederlanden, Schweden, der Schweiz, Slowenien, Spanien, Tschechien, Uruguay und den USA auf dem Laufenden gehalten. Nach dem Tod Kurt Ringhofers 1993 übernahm der damalige Präsident des Verwaltungsgerichtshofs Clemens Jabloner das Amt des zweiten Geschäftsführers neben seinem vormaligen akademischen Lehrer Robert Walter. Der wissenschaftliche Nachlass von Hans Kelsen wurde unter Mithilfe von Thomas Klestil, des damaligen österreichischen Generalkonsuls in Los Angeles und späteren Bundespräsidenten, nach Europa gebracht28 und zunächst von Rudolf Métall verwaltet. Nach dessen Tod am 30. November 1975 in Versoix/CH gelangte er an das HKI.29 Dort befindet er sich noch heute und wird, ebenso wie die Werknutzungsrechte an Kelsens Schriften, im Sinne des Jahrhundertjuristen verwertet.30 Mehrere Manuskripte aus Kelsens Nachlass wurden vom HKI im Druck veröffentlicht, darunter 1979 die »Allgemeine Theorie der Normen«, 1985 »Die Illusion der Gerechtigkeit« und 2011 »Secular Religion«.
3. Biographische Untersuchungen zu Hans Kelsen Das HKI hat sich seit seiner Entstehung primär dem Werk, nur sekundär dem Leben Kelsens gewidmet.31 Doch enthalten bereits einige der vor Beginn meiner 27 Wiederabgedruckt in: Robert Walter /Clemens Jabloner /Klaus Zeleny (Hgg.), 30 Jahre Hans Kelsen-Institut (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 24, Wien 2003) 59–85. 28 Klestil, Ansprache (2003). 29 Bersier Ladavac, Métall (2008) 317 f. 30 Das viele Jahre lang nur unprofessionell gelagerte Schriftgut wurde 2012 dankenswerterweise von Herrn Mag. Gerhard Murauer nach modernen archivwissenschaftlichen Gesichtspunkten neu geordnet, indiziert und kartoniert. 31 Wohl schon bald nach Gründung des Instituts wurde damit begonnen, Informationen zu Kelsens Leben, die dem Institut fallweise zur Kenntnis gelangten, unsystematisch zu sammeln. Der Bestand umfasst mittlerweile 11 graue Ordner und wird im Folgenden als »HKI, Bestand Kelsen Persönliches« zitiert. Neben Briefen von Zeitzeugen und Kopien aus Zeitschriften und Büchern, in denen Kelsen erwähnt wird, enthält er insbesondere auch eine Kopie des Personalaktes von Hans Kelsen der UC Berkeley, sowie eine Kopie des FBI-Aktes zu Hans Kelsen, siehe zu diesem noch unten 800.
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eigenen biographischen Arbeiten erschienenen Bände aus der Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts auch biographische Informationen über Hans Kelsen. So hat insbesondere Gerald Stourzh auf einem Symposium, das das HKI zum 100. Geburtstag von Hans Kelsen 1981 organisierte, einen grundlegenden Vortrag zur Bedeutung Kelsens für die Entstehung der österreichischen Bundesverfassung gehalten und wenig später im Tagungsband publiziert.32 Etwa um dieselbe Zeit veröffentlichte Georg Schmitz in der Schriftenreihe des HKI die von ihm wiederentdeckten Vorentwürfe Kelsens zur Bundesverfassung; zehn Jahre später folgte ein weiterer Band von Schmitz mit ergänzenden Quellen zur Verfassungsentstehung.33 Robert Walter hat sich in je einem Band mit der Entstehung der Bundesverfassung und mit der Tätigkeit Kelsens als Verfassungsrichter beschäftigt. Seine Festrede, die er am 23. November 1984 anlässlich der Einweihung einer Büste Kelsens im Arkadenhof der Universität Wien hielt und ebenfalls in der Schriftenreihe des HKI publiziert wurde, fasst den damaligen Forschungsstand zum Leben Kelsens zusammen.34 Auch zu Adolf J. Merkl und zu vielen anderen Schülern Kelsens wurde bereits in der genannten Schriftenreihe publiziert.35 2006 wurde an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg die »Hans- Kelsen-Forschungsstelle« unter Leitung von Prof. Dr. Matthias Jestaedt ins Leben gerufen; nach dem Wechsel Jestaedts an die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau wurde auch die Forschungsstelle dorthin transferiert. Mit Unterstützung zunächst der Deutschen Forschungsgemeinschaft und seit 2018 der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz der Bundesrepublik Deutschland gibt die Hans-Kelsen-Forschungsstelle in Kooperation mit dem Wiener Hans Kelsen-Institut eine Gesamtausgabe der Werke Kelsens (Hans Kelsen Werke, HKW) heraus.36 Am 11. Oktober 2006 wurde, anlässlich eines Festaktes zum 125. Geburtstag Kelsens im Wiener Parlament, ein Sonderband präsentiert, der die beiden oben erwähnten Egodokumente Kelsens aus den Jahren 1927 und 1947 enthält. Am 5. Dezember 2007 folgte der erste reguläre Band; bislang (Stand Dezember 2019) sind vier weitere Bände erschienen, die alle Publikationen Kelsens bis 1919 und viele aus dem Jahr 1920 enthalten. Die HKW sollen nach ihrer Fertigstellung sämtliche »für die Publikation autorisierten Texte« Kelsens »in der Sprache ihrer Erstveröffentlichung« sowie auch »[d]ie nachgelassenen Schriften Kelsens« zum (Wieder‑)Abdruck bringen;37 die Edition ist von einem umfangreichen Anmerkungsapparat sowie einem editorischen Bericht begleitet, der umfassende Hintergrundinformationen, auch biographischer Natur, enthält. 32 Stourzh,
Hans Kelsen (1982). Vorentwürfe (1981); Schmitz, Karl Renners Briefe (1991). 34 Walter, Entstehung (1984); Walter, Kelsen (1985); Walter, Kelsen als Verfassungsrichter (2005). 35 Grussmann, Merkl (1989); Walter /Jabloner /Zeleny, Der Kreis um Hans Kelsen (2008). 36 Jestaedt in HKW I, VII–X; Reinthal, Internationalität und InterDisziplinarität (2014) 306; https://www.derstandard.at/story/2000068886777/grossprojekt-historisch-kritische-editionder-werke-hans-kelsens [Zugriff: 22. 11. 2019]. 37 Jestaedt in HKW I, 6 f. 33 Schmitz,
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Einen Überblick über die sonstige, weltweite Forschung zum wissenschaftlichen Werk Hans Kelsens zu geben, würde den Rahmen dieser Darstellung bei weitem sprengen; es sei hier v. a. auf die »Länderberichte«, die das HKI von Zeit zu Zeit publiziert, verwiesen.38 Hervorzuheben sind die Forschungen von Stanley L. Paulson, der sich insbesondere um eine Historisierung und Periodisierung der Reinen Rechtslehre verdient gemacht hat,39 sowie von Horst Dreier, der die Verbindungen zwischen Kelsens Demokratietheorie und seiner Rechtslehre wiederentdeckt hat.40 Ein gutes Bild über den aktuellen Stand der internationalen Forschung zu den rechtstheoretischen, rechtsphilosophischen und politologischen Arbeiten Hans Kelsens geben – außer den vom HKI selbst organisierten oder mitorganisierten Veranstaltungen – auch jene Tagungen, die 2002 in Frankfurt,41 2010 in Oxford,42 2011 in München,43 2014 in Chicago44 und 2014 in Regensburg45 stattgefunden haben. Keine Berücksichtigung konnten im vorliegenden Band die Ergebnisse der 2018 in Freiburg i. Br. abgehaltenen Tagung der Internationalen Vereinigung für Rechtsphilosophie finden, zumal ihre Ergebnisse derzeit noch nicht gedruckt vorliegen. Historische oder rechtshistorische Arbeiten zu Hans Kelsen sind deutlich seltener; einige Abschnitte in Kelsens Leben aber wurden bereits genauer untersucht. So erschien etwa 1988 eine Monographie zur Rolle Kelsens im Ersten Weltkrieg.46 Sie ist zwar materialreich, doch wird der nicht unbeträchtliche wissenschaftliche Wert durch fehlerhafte Quellenangaben sowie vor allem durch eine völlig überzogene Polemik so gut wie zunichte gemacht.47 Die Entstehung des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes 1920, an dem Kelsen maßgeblich beteiligt war, ist mehrfach erforscht worden; außer den vorhin erwähnten Schriften des Hans Kelsen-Instituts und einigen Spezialuntersuchungen insbesondere zur Verfassungsgerichtsbarkeit48 sind hier insbesondere die Quellen38 Vgl. die Bände 2, 8, 12 und 33 der Schriftenreihe des HKI. Diese enthalten Länderberichte zur Kelsen-Forschung in Argentinien, Australien bzw. Australasien, Belgien, Chile, China, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Israel, Italien, Japan, Kolumbien, in den Niederlanden, in Polen, der Schweiz, Skandinavien, Spanien, der Tschechoslowakei bzw. Tschechien, Ungarn, Uruguay, in den USA sowie im Vereinigten Königreich. 39 Vgl. etwa Paulson, Toward a Periodization (1990); Paulson, Kelsen’s Legal Theory (1992); Paulson, Das Ende der Reinen Rechtslehre? (2013). Mit Spannung wird die große Kelsen- Monographie erwartet, an der Paulson seit vielen Jahren arbeitet. 40 Grundlegend: Dreier, Rechtslehre (1986); vgl. auch Dreier, Der Preis der Moderne (2017). 41 Paulson/Stolleis, Hans Kelsen (2005). 42 Duarte d’Almeida/Gardner /Green, Kelsen Revisited (2013). 43 Jestaedt, Hans Kelsen und die deutsche Staatsrechtslehre (2013). 44 Telman, Hans Kelsen in America (2016). 45 Özmen, Hans Kelsens Politische Philosophie (2017). 46 Oberkofler /R abofsky, Kelsen im Kriegseinsatz (1988). Die Arbeit wurde zunächst dem HKI zur Publikation angeboten, jedoch von den Geschäftsführern abgelehnt; auf Vermittlung von Wilhelm Brauneder erfolgte die Publikation in der Rechtshistorischen Reihe. Vgl. dazu Alfred J. Noll, Heiligenschein um Hans Kelsen? in: Wiener Zeitung v. 13. 1. 1989. 47 Die Kritik an dem Buch war denn auch verheerend: Vgl. die Leserbriefe in der Wiener Zeitung vom 10. 2 . 1989 von Rudolf Thienel, Michael Schmidt und Rainer Lippold. 48 Haller, Die Prüfung von Gesetzen (1979); Wiederin, Verfassungsgerichtshof (2014).
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editionen des Wiener Verfassungsrechtlers Felix Ermacora zu nennen, die allerdings modernen Editionsstandards nicht genügen.49 Anlässlich des 650. Jahrestages der Gründung der Universität Wien (12. März 1365) beschloss eine universitäre Kommission unter Leitung von Friedrich Stadler, eine Buchreihe zur Entwicklung der Universität Wien seit 1848 herauszubringen.50 Speziell mit der Entwicklung der Wiener rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät in den Jahren 1918–1938 befasste sich 2009–2013 ein von mir geleitetes FWF-Projekt, dessen Ergebnisse ihren Niederschlag in einer von mir gemeinsam mit Tamara Ehs und Kamila Staudigl-Ciechowicz verfassten Monographie fanden.51 Schon zuvor, im Sommersemester 2009, wurde an der Fakultät eine Ringvorlesung zu ihrer Geschichte in der NS-Zeit abgehalten, deren Vorträge in einem Sammelband publiziert wurden.52 Nicht zuletzt durch diese Forschungen angeregt, verfasste Kamila Staudigl-Ciechowicz unter meiner Betreuung eine mehrfach ausgezeichnete Dissertation zum Dienst-, Habilitations‑ und Disziplinarrecht der Universität Wien 1848–1938.53 Die Universität zu Köln hat bereits 1988, zum 600. Jahrestag ihrer Gründung (21. Mai 1388), eine umfassende Darstellung ihrer Geschichte herausgebracht;54 im selben Jahr erschien eine Spezialuntersuchung zum Schicksal der Kölner Universitätslehrer in der NS-Zeit.55 Ebenfalls im selben Jahr, 1988, publizierte Michael Stolleis den ersten seiner vier Bände zur Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, die auch ausführlich auf die Entwicklung in Österreich eingehen.56 Er hat damit eine ganze Flut von 49 Ermacora, Quellen (1967); Ermacora, Analysen und Materialien (1982); Ermacora, Entstehung I–IV (1986–1990). Problematisch ist an diesen Editionen insbesondere, dass z. B. handschriftliche Ausbesserungen an Typoskripten nicht als solche kenntlich gemacht werden (was weitreichende Folgen hat, siehe noch unten 289), und dass Ermacora auch sinnstörende Schreibfehler stillschweigend korrigierte: So befindet sich z. B. in Art. VI von Kelsens Verfassungsentwurf IV laut Schmitz, Vorentwürfe (1981) 130, ein »offensichtlicher Redaktionsfehler«, da es hier im Unterschied zu allen anderen Entwürfen »Verwaltungsstrafverfahrens« statt »Verwaltungsstrafrechts« heißt – ein Befund, dem wohl zuzustimmen ist; gleichwohl folgt die Edition Schmitz’ getreulich der Textvorlage. Bei Ermacora, Entstehung IV (1990) 67, hingegen steht auch bei Entwurf IV »Verwaltungsstrafrechtes« – was inhaltlich richtig ist, jedoch jede Quellenkritik unmöglich macht. 50 Kniefacz/Nemeth/Posch/Stadler, Universität – Forschung – Lehre (2015); Ash/Ehmer, Universität – Politik – Gesellschaft (2015); Grandner /König, Reichweiten und Außensichten (2015); Fröschl/Müller /Olechowski/Schmidt-Lauber, Reflexive Innensichten (2015). Mit Beiträgen u. a. von Tamara Ehs, Thomas Olechowski, Ramon Pils, Kamila Staudigl- Ciechowicz. 51 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014). Vgl. die Projekthomepage: http://www.univie.ac.at/restawi [Zugriff: 30. 11. 2019]. 52 Meissel/Olechowski/Reiter-Zatloukal/Schima (Hgg.), Vertriebenes Recht – Vertreibendes Recht (2012). Mit Beiträgen u. a. von Jürgen Busch, Tamara Ehs, Thomas Olechowski, Kamila Staudigl-Ciechowicz, Stefan Wedrac. 53 Staudigl-Ciechowicz, Dienst-, Habilitations‑ und Disziplinarrecht (2017). 54 Im gegebenen Zusammenhang wichtig v. a. Heimbüchel, Die Neue Universität (1988). 55 Golczweski, Kölner Universitätslehrer (1988). 56 Im gegebenen Zusammenhang besonders relevant: Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III (1999).
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weiteren Arbeiten initiiert; hervorgehoben sei hier die von Stolleis betreute Dissertation von Axel-Johannes Korb, welche die Kontroversen Kelsens mit gleich sieben wissenschaftlichen (und teils auch persönlichen) Gegnern – Ernst Schwind, Alexander Hold-Ferneck, Erich Kaufmann, Rudolf Smend, Carl Schmitt,57 Fritz Sander58 und Hermann Heller – untersucht und so auf indirektem Wege Kelsens Positionen nachzeichnet. Einen anderen Weg ging Kathrin Groh mit ihrer Habilitationsschrift zu demokratischen Staatsrechtslehrern in der Weimarer Republik, die Kelsen in eine Reihe neben Hugo Preuß, Gerhard Anschütz, Richard Thoma und Hermann Heller setzte und damit Gemeinsamkeiten zwischen diesen methodisch so unterschiedlichen Professoren herausstrich.59 Zum 100. Jahrestag der Gründung von »Kelsens Zeitschrift«, der »Österreichischen Zeitschrift für Öffentliches Recht« (ÖZÖR) im Jahr 1914, brachte ihre Nachfolgerin, die »Zeitschrift für Öffentliches Recht. Journal of Public Law« (ZÖR) im Jahr 2014 einen Sonderband zu ihrer Geschichte heraus.60 Für die Dispensehenproblematik ist die aus einer Dissertation hervorgegangene Monographie von Ulrike Harmat61 als Standardwerk anzusehen. Wichtige Biographien zu Personen aus dem Kreis um Kelsen erschienen in den letzten Jahren insbesondere zu Ludwig (von) Mises, zu Otto Bauer, zu Eugenie Schwarzwald und zu Karl Renner.62 Zum Thema »Emigration und (Nicht‑)Rückkehr« existiert eine reichhaltige Literatur, in der auch Kelsen immer wieder Erwähnung findet.63 Zu den vergeblichen Bemühungen Kelsens, an der University of Chicago Fuß zu fassen, hat John Boyer die am dortigen Universitätsarchiv vorhandenen Archivalien ausgewertet.64 Dass Kelsen an der Vorbereitung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse mitwirkte, ist zwar bekannt, wurde aber erstaunlicherweise von Historikern kaum untersucht; einschlägiges Archivmaterial verwendete nur Kirsten Sellars.65 Die Kontroversen Kelsens
57 Allein die Literatur zu Carl Schmitt füllt Bibliotheken; jüngst wurde zum umstrittenen Gelehrten sogar ein »Oxford Handbook of Carl Schmitt«, hgg. v. Meierheinrich/Simons (2016), veröffentlicht. Zu seiner Biographie vgl. die umfassende Darstellung von Mehring, Schmitt (2009); seine Lehren in einer, anhand seiner Bücher chronologisch dargestellten Übersicht bei Neumann, Schmitt als Jurist (2015). 58 Zu ihm hat Rodrigo Cadore eine umfassende Darstellung in Arbeit. 59 Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer (2010). 60 Für die vorliegende Arbeit besonders relevant: Jestaedt, »Kelsens Zeitschrift« (2014); Puff, 100 Jahre ZÖR (2014); Spörg, Die Autoren und Herausgeber (2014); Zellenberg, Hans Kelsen und die Deutung des Bindungskonflikts (2014). 61 Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999). 62 Hülsmann, Mises (2007); Hanisch, Der große Illusionist (2011); Holmes, Langeweile ist Gift (2012); Nasko, Karl Renner (2016). 63 Vgl. etwa R athkolb, Exodus der »Jurisprudenz« (1987); Feichtinger, Wissenschaft zwischen den Kulturen (2001); Fleck, Transatlantische Bereicherungen (2007); Stifter, Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration (2014); Huber, Rückkehr erwünscht (2016). 64 Boyer, »We are all islanders« (2007). 65 Sellars, Crimes against Peace (2013) 87. Vgl. aus der einschlägigen Literatur auch noch Segesser, Recht statt Rache (2010).
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mit Julius Stone und mit H. L. A. Hart werden in entsprechenden Biographien der beiden Juristen thematisiert.66 Aus der reichen Literatur, die – vorwiegend in spanischer und portugiesischer Sprache – auf der iberischen Halbinsel sowie in Lateinamerika zu Hans Kelsen erscheint, sei hier die Untersuchung von Oscar Sarlo zur Südamerika-Reise Kelsens im Jahr 1949 besonders hervorgehoben.67 Doch sei einbekannt, dass aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse viele einschlägige Arbeiten in diesem Buch keine Berücksichtigung finden konnten.
4. Arbeitsbericht »Jede Biografie ist auch mit der Biografie des Autors verwoben. […] Ein Biograf, der das Ziel hat, eine reflektierte Biografie zu schreiben, muss daher auch seinen eigenen Zugang mitreflektieren.«68 In diesem Sinne seien dem Arbeitsbericht, den ich nachfolgend erstatten will, einige persönliche Bemerkungen vorangestellt. Ich wurde in dem Jahr geboren, in dem Hans Kelsen starb. Während meines Diplomstudiums der Rechtswissenschaften an der Universität Wien hatten die meisten Professoren, bei denen ich Prüfungen abzulegen hatte, keine Ambitionen, in mir Begeisterung für die Reine Rechtslehre zu erwecken. Nur durch Zufall gelangte ein Originaldruck der »Allgemeinen Staatslehre« Kelsens aus dem Jahr 1925 in meine Hände, und ich beschloss, sie zur Vorbereitung auf meine Prüfung aus Verfassungsrecht zu lesen. Zwar stellte sich dies später als prüfungstechnisch überflüssig heraus, doch öffnete mir dieses Buch die Tür zur Reinen Rechtslehre. Mein Interesse an Kelsen war geweckt, und während meines Doktoratsstudiums besuchte ich regelmäßig die rechtstheoretischen Seminare Robert Walters (der 1975 an die Universität Wien berufen worden war und hier bis 1999 lehrte69). Am 15. Oktober 1998 legte ich bei ihm ein Rigorosum aus »Methodenlehre« ab, das sich zu einem einstündigen Zwiegespräch über die Reine Rechtslehre gestaltete. Meine Dissertation über »Die Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Österreich« brachte mich dann auch in Kontakt zum Präsidenten des VwGH, Clemens Jabloner. Auf diese Weise hatte ich die beiden Geschäftsführer des HKI unabhängig voneinander kennen und schätzen gelernt; dennoch war ich mehr als überrascht, als ich im November 2003, wenige Monate nach meiner Habilitation, ein Schreiben der beiden erhielt, in dem sie mich einluden, eine Kelsen-Biographie zu schreiben. Mit Freuden sagte ich sofort und vorbehaltlos zu. Die eigentlichen Arbeiten begannen jedoch erst 2005; nach einiger vorbereitender Lektüre stellte ich Anfang 2006 beim österreichischen Fonds zur Förderung der 66 Star,
Julius Stone (1992); Lacey, Hart (2004). La gira sudamericana (2010). 68 Hanisch, Der große Illusionist (2011); Matthias Jeastaedt, Walter Robert, in: NDB XXVII (2020) 365 f. 69 Walter, Selbstdarstellung (2003) 195–198. 67 Sarlo,
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wissenschaftlichen Forschung (FWF) einen Antrag auf finanzielle Unterstützung für ein erstes Teilprojekt, in welchem ich mich auf die Jahre 1881 bis 1940, also jene Zeit, die Kelsen in Europa gelebt hatte, konzentrieren wollte. Dies wurde mir im Juni 2006 unter der Projektnummer P 19287-G14 bewilligt. Projektstart war der 1. September, mit demselben Datum begann Jürgen Busch, der so wie ich bis 2003 Assistent von Werner Ogris am Institut für Rechts‑ und Verfassungsgeschichte der Universität Wien gewesen war, seine Tätigkeit als FWF-Projektmitarbeiter bei mir am genannten Institut. Zum Auftakt für unsere Arbeiten führten wir am 15. Oktober 2006 ein Interview mit der Enkeltochter Hans Kelsens, Anne Feder Lee,70 die aus Anlass der vorhin erwähnten Feierlichkeiten zum 125. Geburtstag Kelsens aus den USA nach Wien gekommen war. Es folgten am 20. Februar 2007 ein Interview mit Fritz Schwind,71 dem Sohn von Kelsens Wiener Fakultätskollegen Ernst Schwind, am 21. sowie 28. Februar ein (aufgrund der Länge an zwei Tagen geführtes) Interview mit Herbert Schambeck,72 sowie am 16. Mai mit Hans Klecatsky.73 Mit Robert Walter74 stand ich natürlich schon von Beginn an in regelmäßigem Kontakt; ein förmliches Interview führten wir am 12. Juni durch. Sodann unternahmen Jürgen Busch und ich eine erste Reise in die USA, um einige Personen, die mir von Anne Feder Lee und dem HKI genannt worden waren, zu interviewen: Am 1. Juli begegneten wir in Batavia/IL Frederick Mayer,75 einem Studenten Kelsens aus Kölner Tagen, zwei Tage später, am 3. Juli, in Berkeley/CA Richard Buxbaum,76 der an der dortigen Universität zunächst Student, dann Kollege Kelsens gewesen war, wieder zwei Tage später in Oakland/CA Alexander Hoffmann,77 der 1938 als zehnjähriger Bub mit seinen Eltern aus Wien 70 Geb. Chicago 24. 9. 1944; Tochter von Ernst Feder und Maria Feder, geb. Kelsen. Politikwissenschaftlerin und Genealogin. 71 Geb. Innsbruck 1. 6. 1913, gest. Wien 17. 4. 2013. Ab 1949 ao. Prof., 1955–1983 o. Prof. an der Universität Wien, 1967/68 Rektor. 72 Geb. Baden/NÖ 12. 7. 1934. 1967–2002 o. Prof. an der Universität Linz; 1975–1997 durchgängig Vorsitzender, stv. Vorsitzender, Präsident oder Vizepräsident des Bundesrates [http://www. parlament.gv.at/WWER/PAD_01590] (17. 8. 2011). 73 Geb. Wien 6. 11. 1920, gest. Innsbruck 23. 4. 2015. 1965–1991 o. Prof. an der Universität Innsbruck; 1966–1970 österreichischer Bundesminister für Justiz. 74 Geb. Wien 30. 1. 1931, gest. ebenda 25. 1 2. 2010. Ab 1962 ao. Prof., ab 1965 o. Prof. an der Universität Graz, ab 1966 an der Hochschule für Welthandel, 1975–1999 an der Universität Wien; ab 1972 Geschäftsführer des HKI. Vgl. Jabloner, Walter (2011); Matthias Jestaedt, Walter Robert, in NDB XXVII (2020) 365 f. 75 Geb. Weinheim/Baden-Württemberg 9. 6. 1910, gest. Batavia/IL 14. 7. 2011. Studium der Rechte in Heidelberg und Köln, 1937 Emigration in die USA; LL. M. (New York University) 1944; Tätigkeit u. a. für die Federal Trade Commission. Angaben laut Interview und laut einem von seiner Tochter Deborah Mayer erstellten Nachruf. 76 Geb. Friedberg/Hessen 1930. Emigration in die USA 1938; LL. B. (Cornell University) 1952; LL. M. (Berkeley) 1953. Ab 1961 Prof. an der UC Berkeley. Angaben laut Interview und entsprechend seiner Homepage [http://www.law.berkeley.edu/php-programs/faculty/facultyProfile. php?facID=17] (17. 8. 2011). 77 Geb. Wien 31. 7. 1928, gest. Oakland/CA 29. 10. 2009. Emigration in die USA 1938; BA
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geflohen war und in Boston Freundschaft mit dem gleichfalls emigrierten Ehepaar Kelsen geschlossen hatte, am 6. Juli schließlich in Foster City/CA Virginia McClam (geb. Gildersleeve),78 die in Berkeley die letzte Assistentin Kelsens gewesen war. Am 25. August 2007 führte Busch allein ein Interview mit dem deutschen Philosophen Hans Albert in Heidelberg,79 am 25. September 2008 führte ich allein ein Interview mit dem Wiener Staatsrechtler Günther Winkler in Wien.80 Schon zuvor, im Februar 2007, absolvierte Jürgen Busch einen Forschungsaufenthalt am Collegium Carolinum in München. Im Frühjahr und Sommer 2008 unternahm er mehrere Forschungsreisen nach Genf und Prag, im März 2010 auch nach Berlin. Ich selbst besuchte im Dezember 2008 Köln und Düsseldorf sowie im Juni 2009 Frankfurt. Dazwischen recherchierten wir beide sowie auch Marie-Clara Büllingen, die von Februar bis September 2007 für das Projekt arbeitete, in einigen Wiener Archiven sowie im Nachlass Kelsens am HKI.81 Vom 19. bis 21. April 2009 veranstaltete ich gemeinsam mit dem HKI und der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs der ÖAW, zu deren Mitglied ich in der Zwischenzeit gewählt worden war, ein dreitägiges Symposium zum Thema »Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit«, dessen Ergebnisse noch im selben Jahr in Buchform veröffentlicht wurden.82 Ein Jahr später war unser Projekt Kooperationspartner eines Symposions zur Rechtstheorie, welches vom 8. bis 10. September 2010 an der University of Oxford stattfand; bei dieser Gelegenheit konnten wir auch, am 8. September, ein Interview mit Kelsens in Oxfordshire lebender Großnichte, Carole Angier,83 führen. Zu Ende des ersten Teilprojektes schließlich wurde am 30. September 2010 im Bezirksmuseum Josefstadt eine Ausstellung über »Hans Kelsen und die Bundesverfassung« eröffnet, an der auch das HKI und ich mitgewirkt hatten und die im Mai 2011 an die Renmin-Universität (Berkeley) 1950; LL. M. ( Yale) 1955; Rechtsanwalt. Vgl. [http://articles.sfgate.com/2009-11-10/bayarea/17179252_1_black-panthers-huey-newton-charles-garry] (17. 8. 2011). 78 Geb. Fresno/CA 29. 8. 1923, gest. Foster City/CA 10. 1. 2015. BA (Berkeley) 1949. Angaben laut Interview und laut Auskunft ihrer Tochter Jessica McClam. 79 Geb. Köln 8. 2 . 1921, Dr.iur. Köln 1952, Habilitation in Köln 1957, Prof. in Mannheim 1963–1989. Vgl. [http://www.hansalbert.de] (17. 8. 2011). 80 Geb. Unterhaus bei Baldramsdorf/Kärnten 15. 1. 1929, Dr.iur. Innsbruck 1951, Habilitation in Innsbruck 1955, 1959–1961 ao. Professor, 1961–1997 o. Professor an der Universität Wien, 1972/73 Rektor der Universität Wien. Vgl. https://geschichte.univie.ac.at/de/personen/gunther-winklerprof-dr [Zugriff: 8. 8. 2019] und https://roemr.univie.ac.at/team/guenther-winkler [Zugriff: 8. 8. 2019]. 81 Eine genaue Auflistung aller Archive enthält das Quellenverzeichnis, unten 947–952. 82 Robert Walter /Werner Ogris/Thomas Olechowski (Hg.), Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit (= Schriftenreihe des HKI 32, Wien 2009). Mit Beiträgen von Börries Kuzmany, Petr Kreuz, Anna L. Staudacher, Jürgen Busch, Tamara Ehs, Deborah Holmes, Matthias Jestaedt, Klaus Zeleny, Ute Spörg, Clemens Jabloner, Axel-Johannes Korb, Thomas Olechowski, Gerhard Strejcek, Christian Neschwara, Oliver Lepsius, Nicoletta Bersier Ladavac, Jana Osterkamp, Johannes Feichtinger, Oliver R athkolb und Otto Pfersmann. 83 Geb. London 30. 10. 1943; Schriftstellerin und Biographin; Enkeltochter von Hans Kelsens Bruder Ernst. Vgl. [http://www.rlf.org.uk/fellowshipscheme/profile.cfm?fellow=1&menu=6] (17. 8. 2011).
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Peking transferiert wurde, wo ich an einer Kelsen-Tagung teilnahm und über meine biographischen Arbeiten berichtete.84 Am 31. Oktober 2010 endete das erste Teilprojekt, und ich stellte beim FWF einen Antrag für ein Fortsetzungsprojekt, das Kelsens Lebensjahre 1940 bis 1973 zum Gegenstand hatte und im Mai 2011 bewilligt wurde. In der Zwischenzeit hatten sich die Rahmenbedingungen wesentlich verändert: Am 25. Dezember 2010, kurz vor seinem 80. Geburtstag, war Robert Walter verstorben, worauf das Kuratorium des Hans Kelsen-Instituts mich am 28. April 2011 zu seinem Nachfolger als Geschäftsführer neben Clemens Jabloner wählte. Schon zuvor, am 16. Juni 2010, war ich zum Nachfolger meines akademischen Lehrers Werner Ogris als Obmann der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs der ÖAW gewählt worden. Das neue FWF-Projekt P 23747 wurde organisatorisch an der Akademiekommission angesiedelt und startete am 1. Juli 2011, wurde jedoch – aus Gründen, die nicht mit unserer Tätigkeit zusammenhingen – am 16. Mai 2012 an die Universität Wien abgetreten und hier zu Ende geführt. Als neue Projektmitarbeiterin konnte ich zunächst die Politikwissenschaftlerin Tamara Ehs gewinnen, die selbst schon einige Arbeiten zu Kelsen veröffentlicht hatte und überdies 2009–2012 im weiter oben bereits genannten FWF-Projekt zur Geschichte der Wiener rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät mit mir zusammen arbeitete.85 Ihre Hauptaufgabe im Rahmen des Kelsen-Biographieprojekts war die Erforschung von Kelsens Weg in die Emigration und der ersten Jahre, die er in Amerika zubrachte; in diesem Zusammenhang unternahm sie im August 2012 eine Forschungsreise in die USA und forschte dort selbständig insbesondere an der Harvard University. Komplettiert wurde unser Team durch die Juristin Miriam Gassner, die mit ihren Englisch-, Französisch-, Spanisch‑ und Russischkenntnissen in besonderem Maße dazu beitragen konnte, der weltweiten Verbreitung von Kelsens Rechtslehre nachzugehen. Im Vordergrund stand dabei die Untersuchung von Kelsens Kontakten zu Lateinamerika. Im März 2012 unternahm ich gemeinsam mit ihr eine Forschungsreise nach Brasilien, Uruguay und Argentinien, die mir auch Gelegenheit gab, in drei Vorträgen (20. März: Rio de Janeiro, 22. März: Montevideo, 28. März: La Plata) lateinamerikanischen Juristen von meinen Kelsen-Forschungen zu erzählen. In Rio de Janeiro gelang es uns, mit Hilfe der jungen brasilianischen Kelsen-Forscher Thiago Saddi Tannous und Felipe Drummond Archivmaterial zu dem seinerzeit von Kelsen erstellten Gutachten zur brasilianischen Verfassung sowie zu seiner Honorarprofessur an der Universität Rio de Janeiro aufzufinden. In Montevideo trafen wir am 22. und 23. März auf zwei ehemalige uruguayische Minister, Daniel Hugo Martins86 und Es84 Siehe
dazu den Ausstellungskatalog: Ettl/Murauer, Kelsen (2010).
85 FWF-Projekt P 21280, vgl. http://www.univie.ac.at/restawi sowie insbesondere Olechowski/
Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014). 86 Geb. Montevideo 1927; uruguayischer Verteidigungsminister 1993–1995; Wirtschafts‑ und Finanzminister 1995.
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tanislao Valdés Otero87, die beide Augenzeugen von Kelsens Uruguay-Aufenthalt 1949 gewesen waren. Die Interviews, die wir jenseits des Rio de La Plata in Argentinien führten, hatten dann vor allem die Kontakte zwischen Kelsen und den argentinischen Professoren Carlos Cossio (1903–1987) und Ambrosio Gioja (1912–1971) zum Gegenstand: So interviewten wir am 26. März in Buenos Aires den Gioja-Schüler Roberto Vernengo88, der 1953 auch direkt mit Kelsen in Genf zusammen gearbeitet hatte, sowie Eugenio Bulygin89, der mit Kelsen eine literarische Kontroverse ausgetragen hatte. Es folgten am 29. März je ein Interview mit Jorge Renaldo Vanossi90, der Kelsen in Berkeley gehört hatte, sowie mit Ariel Alvarez Gardiol91, eines Zeitzeugen von Kelsens Buenos-Aires-Reise 1949. Am 30. März führten wir ein Gespräch mit dem Cossio-Schüler Julio Raffo92; am 31. März mit Hugo Caminos93, welcher Kelsen in Berkeley kennen gelernt und ihn während dessen Buenos-Aires-Reise 1949 betreut hatte. Im Zuge eines Abstechers an die Universität von La Plata interviewten wir am 28. März auch Abel Javier Aristegui94, der ebenfalls ein Zeitzeuge der Reise von 1949 gewesen war. Anfang September reiste Gassner alleine nach Moskau, um dort die Rezeption der Reinen Rechtslehre in der ehemaligen Sowjetunion zu untersuchen, sie wurde dabei vom russischen Historiker Yury Korshunov unterstützt. Im Dezember 2012 unternahmen Gassner und ich eine Forschungsreise nach Washington D. C., wo wir in den National Archives arbeiteten, im Anschluss flogen wir nach Mexico City, wo wir am 7. Dezember Prof. Emilio Rabasa P. Gamboa trafen, dessen Vater 1960 Kelsen zu Vorträgen in sein Land eingeladen hatte, und Prof. Ulises Schmill Ordóñez95, der sowohl in Mexiko als auch in den USA mit Kelsen zusammengetroffen war. Von 1. Jänner bis 31. Dezember 2013 war der Historiker Stefan Wedrac für das FWF-Projekt »Kelsen 2« tätig. Seine Hauptaufgaben waren die Erforschung von 87 Geb. Montevideo August 1931; uruguayischer Landwirtschaftsminister 1977–1978; Außenminister 1981–1982. Vgl. http://www.economia-uruguay.com.uy/curriculum%20.vitae.htm. 88 Geb. Buenos Aires 5. 1 2. 1926; Prof. an der Universidad Autónoma Metropolitana de México 1977–82; Titularprofessor an der Universidad de Buenos Aires. 89 Geb. Charkiw/UKR 25. 7. 1931; Prof. an der Universidad de Buenos Aires, Dekan 1984–1986. 90 Geb. Buenos Aires 28. 8. 1939; Titularprof. an der Universidad de La Plata; Präsident der Interamerican Bar Association 1987–1989; Abgeordneter zum argentinischen Kongress 1983–1993. 91 Geb. Rosario de Santa Fe/ARG 8. 3. 1929; Prof. an der Universidad Nacional del Litoral, Santa Fe/ARG. 92 Geb. Godoy Cruz, Mendoza/ARG, 1944; 1973–1975 Rektor der Universidad Nacional de Lomas de Zamora; 1976–1984 aus politischen Gründen verbannt, in dieser Zeit u. a. Prof. an der Pontificia Universidad Católica de Río de Janeiro; Filmregisseur; nach seiner Rückkehr Rechtsanwalt und Titularprof. an der Universidad de Buenos Aires; seit 2009 Abgeordneter zum Stadtparlament von Buenos Aires. Angaben laut Interview und nach [http://www.julioraffo.com]. 93 Geb. Buenos Aires 16. 3. 1921, 1963–1988 Prof. an der Universidad de Buenos Aires; 1996–2011 Richter am Internationalen Seegerichtshof in Hamburg. Angaben laut Interview und nach [http:// www.itlos.org/index.php?id=74]. 94 Geb. La Plata/ARG 24. 4. 1920, gest. 2017; Prof. an der Universidad de La Plata. 95 Geb. Mexico City 4. 4. 1937; Prof. an der Universidad Nacional Autónoma de México, Präsident des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Mexikanischen Staaten 1991–1995.
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Kelsens Arbeiten für die US-Regierung während des Zweiten Weltkrieges und zur Entstehung der Vereinten Nationen, daneben beschäftigte er sich auch mit Kelsens Arbeiten an einer Verfassung für den Stato libero di Fiume. Gemeinsam mit ihm reiste ich im August 2013 nach New York, wo wir im Archiv der Vereinten Nationen recherchierten, sowie nach Washington D. C. für weitere Arbeiten in den National Archives. Im September reiste ich weiter nach Kalifornien, wo ich am 15. September in Berkeley Kelsens Großnichte Marilyn Rinzler96 und am 17. September erneut Prof. Buxbaum sowie am 16. September an der Stanford University auch Prof. Gerhard Casper97 interviewte. An den Archiven der Universitäten Berkeley und Stanford konnte ich weiteres Material sammeln, welches von der Historikerin Mag. Susanne Gmoser, die vom 1. Mai 2013 bis 28. Februar 2014 für das Projekt tätig war, aufbereitet wurde. Der letzte Mitarbeiter, den ich mit Hilfe der FWF-Fördermittel anstellen konnte, war der Jurist, Historiker und Anglist Ramon Pils (1. April bis 14. September 2014), sein Haupttätigkeitsfeld war die Erstellung eines deutsch-englischen Diktionärs zu Fachbegriffen, die Kelsen in seinen rechtstheoretischen, demokratietheoretischen und soziologischen Schriften häufig verwendete.98 Im April 2013 veranstaltete ich im Namen des HKI gemeinsam mit dem Spartaner Nikitas Aliprantis eine Tagung an der Akademie von Athen, die das juristische Werk Kelsens in den Kontext seiner politologischen und soziologischen Arbeiten stellte; auch aus dieser Tagung ging ein Tagungsband hervor.99 Seinen Abschluss fand das zweite FWF-Projekt mit einem weiteren Sammelband, in dem sowohl Gassner, Wedrac und ich Teilergebnisse unserer Forschungen präsentierten, als auch einige weitere Wissenschaftler, die ich im Zuge des Projektes kennengelernt hatten, Arbeiten insbesondere zur internationalen Gutachtertätigkeit Kelsens (von Brasilien über Liechtenstein bis Zypern) veröffentlichten.100
96 Tochter von Leo Gross und Gerda Gross, geb. Fried, MSW 1977 (Berkeley), Inhaberin eines Restaurants in Berkeley. 97 Geb. Hamburg 25. 1 2. 1937, Rechtsstudium in Hamburg, Freiburg i. Br. (Dr.iur.) und Yale (LL. M.), 1964–1966 Assistant Professor am Department for Political Sciences in Berkeley, 1966– 1992 Professor an der University of Chicago, 1992–2000 Professor an der Stanford University und deren 9. President. Vgl. http://www.law.stanford.edu/sites/default/files/person/166303/doc/ slspublic/gerhardcasper_cv.pdf. 98 Pils, Terminologiewörterbuch (2016). 99 Aliprantis/Olechowski, Hans Kelsen (2014), mit Beiträgen von Matthias Jestaedt, Nikitas Aliprantis, Jörg Kammerhofer, Jesús Padilla Gálvez, Otto Pfersmann, Mario G. Losano, Michael Potacs, Carlos Miguel Herrera, Ewald Wiederin, Thomas Olechowski, Ioannis G. Kalogerakos, Gerhard Donhauser und Apostolos Georgiades. Auch ein Aufsatz von Jabloner kam zum Wiederabdruck. Die Redetexte der Tagung selbst wurden in griechischer Sprache von Aliprantis alleine veröffentlicht. 100 Jabloner /Olechowski/Zeleny, Das internationale Wirken Hans Kelsens (2016). Mit Beiträgen von Christoph Schmetterer, Stefan Wedrac, Peter Bussjäger, Mario G. Losano, Gustavo Silveira Siqueira, Jan Kuklik, Jan Němeček, Thomas Olechowski, Miriam Gassner und Aristoteles Constantinides. Der Sammelband enthält auch sieben, teils bis dahin noch nie veröffentlichte Gutachten und Memoranden Kelsens.
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Vortragsreisen nach Chicago 2014 und nach Berkeley 2018 gaben mir letzte Gelegenheiten, nochmals amerikanische Bibliotheken zu konsultieren. Erst ganz am Schluss meiner Arbeiten erfuhr ich von der engen persönlichen Freundschaft, die Hans und Grete Kelsen mit dem Ehepaar Fritz (Frederick) und Anna Unger sowie deren Tochter Grete, die 1938 aus Österreich in die USA geflohen waren, unterhalten hatten; am 26. September 2018 konnte ich in Wien ein Interview mit Grete Heinz, geb. Unger,101 führen, bei welcher Gelegenheit sie dem HKI auch einige wertvolle Manuskripte (u. a. eine nie veröffentlichte, englische Übersetzung von »Vom Wesen und Wert der Demokratie«) schenkte. Zu diesem Zeitpunkt war mein Manuskript schon auf rund tausend Seiten angewachsen; im Sommer 2019 konnte ich einen ersten Rohentwurf fertigstellen. In der letzten Phase, die nun folgte, erhielt ich neuerliche Unterstützung durch meine vier Projektmitarbeiterinnen und ‑mitarbeiter, Jürgen Busch, Tamara Ehs, Miriam Gassner und Stefan Wedrac, um letzte Lücken zu schließen und einen »Feinschliff« vorzunehmen. Das endgültige Manuskript wurde am 1. Dezember 2019 abgeschlossen.
5. Methode – Quellen – Darstellung »Ich selbst bin ja nicht Rechtsphilosoph sondern Rechtshistoriker und gedenke nicht abzuschweifen ins philosophische Gebiet, wenigstens nicht in jene Gebiete, wo die Rechtsphilosophie – nicht zum geringsten dank ihrer Sprache – beginnt, zur Geheimwissenschaft zu werden.«102 Diese Zeilen schrieb mein Fakultäts‑ und Fachkollege Ernst Schwind im Jahr 1928, zu Beginn seiner Kampfschrift gegen Hans Kelsen, offenbar ohne zu begreifen, dass eine Kritik an den Arbeiten eines Rechtstheoretikers selbst notwendigerweise eine rechtstheoretische Arbeit sein muss. Mehr als Schwind wäre wohl ich selbst dazu berechtigt, die von ihm benutzten Worte für mein eigenes Werk zu verwenden: Denn das gegenständliche Buch ist keine rechtsphilosophische oder rechtstheoretische Auseinandersetzung mit Hans Kelsen, sondern rechtshistorischer Natur. Es beabsichtigt nicht, die Richtigkeit oder Unrichtigkeit von Kelsens Thesen von irgendeinem als »objektiv« angenommenen Standpunkt aus zu beweisen. Es soll vielmehr das Tun und Wirken Kelsens als historisches Faktum betrachten und erklären. Nichtsdestoweniger kann auch ich mich nicht der Rechtstheorie entziehen: Denn wie Kelsen selbst betont hat, muss derjenige, der das Verhalten anderer »deutend verstehen« will, stets auch den »immanenten 101 Geb.
Wien 24. 7. 1927, Tochter von Dr. Fritz (Frederick) Unger (geb. Wien 14. 7. 1891, gest. Zürich 27. 10. 1954) und Dr. Anna (Ann) Unger, geb. Arens (geb. Wien 7. 6. 1897, gest. Berkeley 3. 7. 1994), 1938 Emigration in die Vereinigten Staaten, Ph. D. 1953 (Berkeley). Angaben nach Lille, Was einmal war (2003) 87–92, ergänzt von Dr. Franz Heißenberger, dem ich auch den Kontakt zu Mrs. Grete Heinz Ph. D. sowie den Hinweis auf das umfangreiche, online zugängliche Schriftgut der Familie Unger im Leo Baeck Institute, New York, verdanke. 102 Schwind, Grundlagen und Grundfragen des Rechts (1928) 14.
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Sinn« dieses Verhaltens erfassen.103 Wer also das Leben Kelsens verstehen will, der muss auch den Sinn seiner wissenschaftlichen Arbeiten erfassen, muss seine Gedankengänge nachvollziehen, muss tief in alle Wissenschaften, mit denen sich Kelsen beschäftigte – Rechtstheorie, Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie, Rechtsdogmatik und vieles andere mehr – hineintauchen. Die gegenständliche Arbeit geht also auf die Inhalte von Kelsens Arbeiten ein, ohne aber damit in aktuelle rechtsphilosophische o. ä. Debatten einsteigen zu wollen. Transgrediente Kritik an Kelsens Arbeiten wird nur dort referiert, wo dies von biographischer Relevanz ist. Größerer Wert wird demgegenüber darauf gelegt, Entwicklungslinien in Kelsens Gedankengängen aufzuzeigen, nachzuweisen, wann Kelsen diese oder jene These erstmals formuliert hat und gegebenenfalls, ob er bei ihr geblieben ist oder sie weiterentwickelt oder später wieder verworfen hat. Kelsens Leben kann als eine Mikrohistorie der Jahre 1881–1973 gesehen werden. In seiner Biographie spiegeln sich die letzten Jahre der Habsburgermonarchie, der Antisemitismus und die Situation des assimilierten Judentums in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der Erste Weltkrieg und der Zerfall der Monarchie wider, aber auch die Entwicklung des Austromarxismus, die Gründung der demokratischen Republik Österreich und ihr Zerbrechen an den antidemokratischen Kräften, die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei, die schwierige Lage der Schweiz in der Zwischenkriegszeit, die Emigration europäischer Intellektueller nach Amerika, der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg, die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und die Neugestaltung Mitteleuropas nach dem Krieg, schließlich der Aufstieg der Universität Berkeley zu einer der führenden der Welt. All diese Aspekte müssen thematisiert werden, um das curriculum vitae Kelsens verstehen zu können. Der vielfache Ortswechsel macht es erforderlich, die jeweiligen Lebensräume Kelsens, auch über die jeweiligen universitären Rahmenbedingungen hinaus, wenigstens grob zu umreißen. Da Kelsen ein ausgeprägter Familienmensch war (und z. B. nicht eher in die USA auswandern wollte, als auch seine beiden Töchter emigriert waren), wird auch relativ ausführlich auf die Familiengeschichte eingegangen. Gerade hier jedoch wird die Frage, wie weit unter dem Deckmantel des wissenschaftlichen Interesses in persönlichste Lebensbereiche eingedrungen werden darf, sehr ernst genommen. Die Quellen zu Kelsens Leben sind überaus vielfältig, wenn auch in vielen Bereichen lückenhaft. Der Nachlass von Hans Kelsen am HKI in Wien umfasst zum einen diverse von ihm verfasste, nur zum Teil im Druck veröffentlichte Manuskripte,104 zum anderen eine – für eine Biographie naturgemäß ungemein wertvolle – Sammlung 103 Kelsen, Staatsbegriff (1921) 104. Seine Äußerung betrifft die Tätigkeit von Soziologen, doch trifft sie auf Historiker ebenso gut zu. 104 Die Vorentwürfe Kelsens für seine späteren Publikationen sind für deren Verständnis eine wertvolle Hilfe; eine systematische Aufarbeitung derselben hätte aber den Rahmen der Biographie gesprengt und bleibt daher der Edition der »Hans Kelsen Werke« vorbehalten. Hier erfolgen nur dann Hinweise auf diese Bestände, wenn sie von unmittelbar biographischem Interesse sind.
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von Briefen von und an Kelsen, letztere jedoch, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, nur aus der Zeit nach 1945. Die Korrespondenz aus der Zeit davor ist in alle Winde zerstreut, einiges davon konnte in Nachlässen seiner Korrespondenzpartner (etwa der Briefwechsel mit Roscoe Pound in der Bibliothek der Harvard University) sichergestellt werden. Die diversen Universitätsarchive (Wien, Prag, Köln u. a.) enthalten sowohl Personalakten als auch weiteres Material in Bezug auf das akademische Wirken von Hans Kelsen; der Personalakt der Universität Berkeley wie auch viele andere bedeutende Quellen wurde dankenswerterweise schon zur Zeit meines Vorgängers Robert Walter in Kopie am Hans Kelsen-Institut verwahrt.105 Von den sonstigen Archiven ist das Österreichische Staatsarchiv besonders hervorzuheben, welches sowohl Materialien zur Entstehung der österreichischen Bundesverfassung als auch die Beratungsprotokolle des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, somit Dokumente zu den beiden wichtigsten außeruniversitären Tätigkeitsbereichen Kelsens, enthält. Gutachten Kelsens zur Vorbereitung der Nürnberger Prozesse konnten in den National Archives in College Park/MA aufgefunden werden. Bedeutsam sind ferner Memoiren und sonstige Egodokumente, nicht nur von Kelsen selbst, sondern auch von Personen, die in irgendeiner Weise mit Kelsen in Kontakt gekommen waren, ferner natürlich Rechtsquellen sämtlicher Art (Gesetze, Gesetzesmaterialien, gerichtliche Entscheidungen) und auch die Tageszeitungen.106 Die bei weitem wichtigste Quelle aber bietet das zeitgenössische Schrifttum von und über Kelsen. Gerade hier bot mir das HKI mit seiner weltweit einzigartigen Sammlung sowohl der Primär‑ als auch der Sekundärliteratur ideale Arbeitsbedingungen. Schließlich wurden auch die oben genannten Interviews mit Zeitzeugen für die vorliegende Biographie ausgewertet. Hier war das Verhältnis des Aufwandes zum Ertrag zwar am größten, dennoch vermittelten diese Interviews zumindest unersetzbare Eindrücke vom Menschen Kelsen; und gar nicht so selten wurden Zusammenhänge klar, die allein mit Blick auf die schriftlichen Quellen im Verborgenen geblieben wären. Die Interviews wurden nach den etablierten Regeln der oral history konzipiert;107 schon bald aber merkte ich, dass viele dieser Regeln weltfremd sind, und das ergiebigste Interview jenes ist, das denjenigen Regeln folgt, die der Interviewpartner vorgibt. Eigentliche Vorbilder besitzt die vorliegende Biographie nicht. Insbesondere ist sie ganz anderer Art als die große Carl Schmitt-Biographie von Reinhold Mehring,108 nicht nur, weil Kelsen – im Gegensatz zu Schmitt – keine Tagebücher verfasst hat 105 Die einschlägigen Mappen werden in dieser Arbeit als »HKI, Bestand Kelsen Persönliches« zitiert. 106 Unentbehrlich sind hier die beiden elektronischen Sammlungen der Österreichischen Nationalbibliothek für Zeitungen und Zeitschriften [http://anno.onb.ac.at] sowie für historische Rechtstexte aller Art [http://alex.onb.ac.at]. Der Nationalbibliothek gebührt für die Pioniertat, dieses Material im Internet frei und einfach zugänglich gemacht zu haben, ein aufrichtiges Bravo! 107 Vgl. etwa Sitton, Oral History (1983). 108 Mehring, Schmitt (2009).
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und auch sonst die Quellenlage ganz anders geartet ist, sondern auch, weil Mehring sowohl die politischen Verhältnisse jener Zeit als auch die Inhalte von Schmitts Arbeiten zumindest in Grundzügen als bekannt voraussetzt, was hier bewusst vermieden wird. Dagegen weist die gegenständliche Arbeit teilweise verblüffende Ähnlichkeiten mit der Biographie zu Ludwig Mises von Jörg Guido Hülsmann auf,109 sodass betont werden muss, dass ich diese Arbeit erst zu einem relativ späten Zeitpunkt las, die Parallelen also nicht von mir beabsichtigt waren. Sie erklären sich v. a. daraus, dass Kelsen und Mises durch gleiche Lebensdaten (1881–1973) und große Parallelen ihrer Biographien (jüdisch-galizische Wurzeln, Ausbildung am Akademischen Gymnasium und der Universität Wien, Exil zunächst am Institut universitaire de hautes études internationales [IUHEI] in der Schweiz, dann in den USA) sowie nicht zuletzt durch eine lebenslange Freundschaft eng miteinander verbunden waren. Vor allem aber schreibt Hülsmann, der aus Deutschland stammt und in Frankreich lehrt, seine in englischer Sprache verfasste Mises-Biographie augenscheinlich für ein Publikum, das nicht mit allen Einzelheiten der österreichischen Innenpolitik in der Zwischenkriegszeit vertraut ist und erklärt diese mit großer Sachkunde. Dies führt zur Frage, für welches Publikum dieses Buch geschrieben ist. Maßstab musste hier für mich sein, welcher Leserkreis das größte Interesse an der Person Kelsen haben könnte: Ich gehe davon aus, dass dies Juristinnen und Juristen von allen Kontinenten sind, die Kelsens Arbeiten gelesen haben oder ihn vielleicht nur über die Schriften seiner Kontrahenten oder über die Sekundärliteratur kennen, und die sich nun nach der Person erkundigen wollen, die hinter Kelsens Opus steckt. Daher gilt auch für dieses Buch, ähnlich wie für die Mises-Biographie, dass die österreichische, deutsche, schweizerische, tschechoslowakische Geschichte, soweit sie für Kelsen von Einfluss war, nicht als bekannt vorausgesetzt, sondern hier – so kurz als möglich, aber so lang wie nötig – referiert wird. Dagegen werden zumindest gewisse juristische Grundbegriffe oder Lehren (Person, Rechtsgeschäft, Naturrecht) nicht ausführlich erklärt, sondern als bekannt vorausgesetzt. Wer hier begriffliche Unsicherheiten fühlt, dem sei die nur 154 Seiten umfassende erste Auflage der »Reinen Rechtslehre« Hans Kelsens110 als Vorablektüre empfohlen.
109 Hülsmann,
Mises (2007). Reine Rechtslehre (1934). Das Werk erschien in zahlreichen Nachdrucken und Übersetzungen. Hingewiesen sei hier v. a. auf die 2008 erschienene Studienausgabe dieses Werkes mit einer ausführlichen Einführung des Herausgebers: Jestaedt, Einführung (2008). Wer es noch kürzer will, der sei auf Olechowski, Kelsens Rechtslehre im Überblick (2009), mit lediglich 19 Seiten hingewiesen. 110 Kelsen,
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6. Eigenzitate Hans Kelsen hat oft um die Formulierung bestimmter, wichtiger Sätze gerungen, die einmal gewonnene Formulierung dann aber oftmals wiederverwendet, und zwar, ohne dies besonders kenntlich zu machen. Heute wäre eine derartige Vorgangsweise als »Selbstplagiat« verpönt. Daher wird in diesem Buch durch | senkrechte Striche | und Kleinbuchstaben (a–c) kenntlich gemacht, wenn eine Passage wörtlich mit einem Ausschnitt aus einem von mir schon früher veröffentlichen Aufsatz (bzw. im Falle des an dritter Stelle genannten Aufsatzes, mit dessen deutscher Version) übereinstimmt. Im konkreten handelt es sich um die folgenden Beiträge: a Thomas Olechowski, Der Beitrag Hans Kelsens zur österreichischen Bundesverfassung, in: Walter /Ogris/Olechowski, Hans Kelsen (2009) 211–230. b Thomas Olechowski, Hans Kelsen als Mitglied der Deutschen Staatsrechtslehrervereini gung, in: Jestaedt, Kelsen (2013) 11–27. c Thomas Olechowski, The Controversy Surrounding Marriage Law in 20th Century Austria with a Special Emphasis on Constitutional Court Decisions Regarding the »Dispensation Marriages«, in: Krakowskie Studia z Historii Państwa i Prawa 10 (2017) 97–116.
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Erster Teil
In der Habsburgermonarchie
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Erstes Kapitel
Herkunft, Kindheit und Jugend 1. Elternhaus a) Brody An der Donau, zwischen Wien und Bratislava, nimmt das Karpatengebirge seinen Ausgang. In einem weiten, nach Süden offenen Bogen umspannt es die pannonische Tiefebene, trennt diese so von der sarmatischen Ebene im Norden und verläuft ostwärts, bis es das siebenbürgische Hochland erreicht, ändert dort seine Richtung nach Südwesten und kehrt schließlich, beim Eisernen Tor, wieder an die Donau zurück. Jahrhundertelang bildeten die Karpaten eine natürliche Grenze zwischen den Königreichen Ungarn und Polen und, seitdem die Habsburger 1526/27 die ungarische Krone erworben hatten, auch eine Grenze des Habsburgerreiches. Als im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Polen schwere Krisen ausbrachen, weckte dies die Begehrlichkeiten seiner mächtigen Nachbarn, und im Februar 1772 einigten sich Preußen und Russland darauf, gewisse Gebiete in Polen zu annektieren. Kaiser Joseph II., der damals neben seiner Mutter Maria Theresia die Außenpolitik des Habsburgerreiches lenkte, konnte und wollte hier nicht zurückstehen: Im Frühjahr desselben Jahres überschritten österreichische Truppen beim Duklapass die Karpaten und drangen, ohne auf viel Gegenwehr zu stoßen, in die sarmatische Ebene vor, bis sie die alte Handelsstadt Brody [Brodi/UKR] erreichten. Insgesamt wurde so ein Gebiet von über 80.000 Quadratkilometern von Österreich besetzt, mehr als doppelt so viel, als zur gleichen Zeit an Preußen gelangte, aber noch immer weniger, als der russische »Beuteanteil« betrug. Mit dem am 2. August 1772 zu St. Petersburg geschlossenen Vertrag zwischen Österreich, Preußen und Russland war die sog. Erste Teilung Polens (der später noch zwei weitere folgten) besiegelt und das zuvor ins Wanken geratene Gleichgewicht der europäischen Mächte wiederhergestellt. Die nachträgliche Zustimmung des polnischen Reichstages, der sich in das Unvermeidliche fügte, war reine Formsache.1 Niemand konnte im Zweifel darüber sein, dass Macht vor Recht gesiegt hatte; vielleicht gerade deshalb aber war Maria Theresia, die die Eroberungspläne ihres Sohnes skeptisch bis ablehnend mitverfolgt hatte, nunmehr bemüht, den Zugewinn an Ländern wenigstens im Nachhinein vor Gott, vor sich selbst und vor der Nachwelt zu rechtfertigen. Alte, längst vergessen geglaubte Rechtsansprüche der ungarischen Könige auf 1 Mark,
Galizien (1994) 1 ff.; Stollberg-Rilinger, Maria Theresia (2017) 564–574.
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
Ländereien jenseits der Karpaten wurden wiederentdeckt und, basierend auf diesen alten Titeln, die neue Provinz als »Galizien« bezeichnet.2 Unverzüglich wurde damit begonnen, eine Bestandsaufnahme über die neue Provinz zu machen, und es wurden rund 2,6 Millionen Einwohner, darunter etwa 95.000 Adelige und 220.000 Juden gezählt.3 Wie für Maria Theresia typisch, versuchte sie auch in Galizien, die Traditionen möglichst zu wahren, bestätigte dem Adel zumindest einen Teil seiner historischen Rechte und richtete einen ständischen Landtag mit Sitz in Lemberg [Ľvív/UKR] ein. 1776 erließ sie eine Judenordnung, mit der dieser Bevölkerungsanteil, der nach besagter Zählung fast ein Zehntel der Gesamtbevölkerung ausmachte, von der christlichen Mehrheit – so wie bisher – weitgehend getrennt blieb. Auch in der theresianischen Ära bildeten die Juden daher einen »Staat im Staat«, sodass der Monarch kaum direkt mit der galizischen »Judenschaft« in Kontakt treten und etwa Steuern nicht selbst bei ihnen einheben konnte. Vielmehr wurde das gewünschte Steueraufkommen einfach der »Generaljudendirektion« bekannt gegeben, und diese legte die geforderte Summe auf die einzelnen Gemeinden um.4 In ebenso typischer Art und Weise waren die Reformen Josephs II., nachdem seine Mutter 1780 gestorben war und er die Alleinherrschaft über die Habsburgermonarchie übernommen hatte, auch bezüglich der galizischen Juden radikal und kompromisslos. 1785 erließ er ein Patent, mit dem er »die den gegenwärtigen Zeitumständen nicht mehr angemessene Judendirektion« beseitigte und die »Judengemeinden sowohl als die einzelnen Juden« unter die Aufsicht der »ordentlichen Behörden« stellte. Die wirtschaftliche Tätigkeit von Juden wurde gefördert, Handelsbeschränkungen wurden aufgehoben.5 Zwei Jahre später, 1787, ordnete der Kaiser an, »daß ein jeder [jüdischer] Hausvater für seine Familie […] einen bestimmten Geschlechtsnahmen führen, jede einzelne Person aber ohne Ausnahme einen Deutschen Vornahmen sich beylegen, und solchen Zeit Lebens nicht abändern soll.«6 Diese Maßnahmen sollten insbesondere einer besseren behördlichen Erfassung der Juden dienen und stießen daher auf teils erheblichen Widerstand: Fürchteten doch die Betroffenen zu Recht, dass auf die Namensgebungen schon bald neue Besteuerungen und auch Rekrutierungen folgen würden.7 Zu Tausenden wurden nun die Juden Galiziens von der habsburgischen Bürokratie erfasst und traten so aus dem Dunkel der Anonymität hervor. Unter ihnen befanden sich auch die galizischen Vorfahren von Hans Kelsen, denn die ältesten Quellen, in 2 Normale
v. 24. 10. 1772 MThGS 1440. Kolonisationswerk (1939) 10. Diese Zählungen waren jedoch sehr ungenau; insbesondere die Zahl der Juden war sicherlich zu hoch geschätzt und musste in den folgenden Jahren nach unten revidiert werden: Mark, Galizien (1910) 2, 53 ff. 4 Häusler, Judentum (1979) 19. Vgl. zur Judenpolitik Maria Theresias (jedoch ohne konkrete Bezugnahme auf Galizien) auch Stollberg-Rilinger, Maria Theresia (2017) 634–644. 5 Patent v. 27. 5. 1785 JosGS 365. Vgl. dazu schon Olechowski, Herkunft (2008) 853. 6 Patent v. 23. 7. 1787 JosGS 698; vgl. dazu und zum Folgenden Olechowski, Herkunft (2008) 853. 7 Häusler, Judentum (1979) 19. 3 Schneider,
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1. Kapitel: Herkunft, Kindheit und Jugend
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denen ihre Namen auftauchen, sind eben jene Personenstandsbücher, die damals neu angelegt wurden. Was den zuständigen k. k. Beamten dazu bewog, den Namen »Kelsen« für die Familie zu wählen, ist nicht dokumentiert, weshalb die Etymologie des Namens Rätsel aufgibt. Weit entfernt von Galizien, in Deutschland, zwischen Mosel und Saar, existiert ein kleines Dorf namens Kelsen, doch Hans Kelsen hat selbst es später, in einem Interview, für unwahrscheinlich gehalten, dass ein Zusammenhang zwischen seinem Familiennamen und dieser Ortschaft bestehe.8 Wahrscheinlicher ist es, dass der erste Träger dieses Namens – wohl der Ur‑ oder Ururgroßvater Hans Kelsens – eine Mutter namens Keyle hatte und vielleicht schon in seiner jüdischen Gemeinde als »Sohn der Keyle« bezeichnet worden war. Aus »Keyle-Sohn« wurde »Kelsohn« und daraus schließlich »Kelsen«.9 Eintragungen in der ersten Form existieren aus den Städten Brody [UKR] und Kamionka [Kamianka-Buska/UKR], in der zweiten Form aus Brody und Sokal [UKR]. So ist zu vermuten, dass schon Ahnvater Kelsohn in Brody gelebt hatte. Die Stadt Brody ist uns vor allem bekannt durch ihren berühmtesten Sohn, den Schriftsteller Joseph Roth (1894–1939), der zahlreiche seiner Romane in Brody oder einer fiktiven, Brody nachempfundenen Stadt spielen ließ. Seine Beschreibungen vermitteln einprägsam das trostlose Bild jener zu zwei Dritteln jüdischen Ortschaft am hintersten Ende der Habsburgermonarchie: »Die kleine Stadt liegt mitten im Flachland, von keinem Berg, von keinem Wald, keinem Fluß begrenzt. Sie läuft in die Ebene aus. Sie fängt mit kleinen Hütten an und hört mit ihnen auf. Die Häuser lösen die Hütten ab. Da beginnen die Straßen. Eine läuft von Süden nach Norden, die andere von Osten nach Westen. Im Kreuzungspunkt liegt der Marktplatz.«10 Dieses Bild traf auf Brody schon zu jener Zeit zu, als hier die Familie Kelsen lebte. Doch ist im Übrigen der zeitliche Abstand zwischen ihnen und Roth zu beachten: Der Bahnhof, an dem Roth seine Reisenden ankommen und von dort aus die Stadt entdecken ließ, wurde erst 1869 errichtet, also zu einem Zeitpunkt, als Hans Kelsens Vater schon längst von Brody fortgezogen war und in Wien lebte. Und bis etwa zur Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Leben in Brody nicht unbedingt so trist, wie es Roth für die spätere Zeit darstellt. Denn abgesehen von der verspäteten Anbindung ans Eisenbahnnetz war Brodys Verkehrslage überaus günstig: Bei den beiden von Roth erwähnten Straßen handelte es sich um uralte Handelswege, die die Bergwerke der Karpaten mit der Ostsee und die Handelszentren Sachsens und Schlesiens mit der Ukraine verbanden. Brody, das bereits 1084 urkundlich erwähnt worden war und 1584 das Magdeburger Stadtrecht erhalten hatte, war Umschlagplatz für Felle, Seide und andere Stoffe, Honig, Wachs, Werkzeuge und viele andere Waren, somit ein Wirtschaftszentrum 8 Knight, Erinnerungen (1973). Das nicht einmal hundert Einwohner zählende Dorf Kelsen ist heute ein Ortsteil von Merzkirchen im Bundesland Rheinland-Pfalz; vgl. dazu ausführlich Olechowski, Herkunft (2008) 851. 9 Olechowski, Herkunft (2008) 854. 10 Roth, Juden auf Wanderschaft (1927) 24.
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
von überregionaler Bedeutung und Ende des 18. Jahrhunderts mit über 10.000 Einwohnern nach Lemberg die größte Stadt Galiziens.11 Durch die Annexion von 1772 war Brody zwar unversehens zur Grenzstadt geworden, doch wurden die daraus resultierenden Nachteile dadurch wettgemacht, dass die Stadt 1779 »gleich den Seehäven Triest [Trieste/IT] und Fiume [Rijeka/HR] eine ganz besondere Handlungsfreiheit« erhielt, indem sie zum Zollausschlussgebiet erklärt wurde, was insbesondere bedeutete, dass Waren beim Import aus Rest-Polen nicht verzollt zu werden brauchten.12 Dieses Freihandelsprivileg galt einhundert Jahre, bis 187913, doch profitierte Brody nur kurze Zeit davon: Die Gebietsabtretungen von 1772 hatten in Rest-Polen große politische Veränderungen hervorgerufen, die aber nur dazu führten, dass die Großmächte in zwei weiteren Übereinkünften, 1793 und 1795, ganz Polen unter sich aufteilten. Damit kam das Land jenseits der Grenze Brodys an Russland, und dieses führte 1810 an der Grenze hohe Schutzzölle ein, die ganz allgemein den Handel zwischen den beiden Kaiserreichen belasteten, aber Brody besonders hart trafen. Daher ging die wirtschaftliche Bedeutung Brodys in den folgenden Jahren immer weiter zurück; Verelendung und Abwanderung setzten ein.14 Doch noch bis zur Mitte der 19. Jahrhunderts blühte in Brody der Handel einigermaßen, und mit ihm natürlich auch das Gastgewerbe. Nicht weniger als 210 Schankwirte zählte man hier im Jahre 1840, davon waren 190 Juden, 20 Christen. In einem Gewerbekataster aus jener Zeit werden zwei Schankwirte mit dem Familiennamen Kelsen genannt: Isaak Kelsen und Abraham Littman Kelsen, jeweils mit einem Schankstubenkapital von 25 Gulden und damit etwa im Durchschnitt ihrer Geschäftskollegen.15 Abraham Littman Kelsen starb im Mai 1848, zwei Jahre später wurde Hans Kelsens Vater geboren und erhielt denselben Namen. Da es in aschkenasischen Familien Brauch war, Kinder nach verstorbenen Verwandten zu benennen, handelte es sich bei diesem Abraham Littman dem Älteren wohl um den Urgroßvater Hans Kelsens.16 Von den bereits genannten Daten abgesehen, ist nichts über ihn bekannt. Seine Frau trug den Namen Chana, gebar ihrem Ehemann mindestens drei Söhne – Osias, David und Elkana – und starb am 18. November 1856 in Brody. Osias Kelsen, der Großvater Hans Kelsens, taucht in einem Wählerverzeichnis der Stadt Brody aus dem Jahre 1866 auf, an 191. Stelle von 1.200 Wahlberechtigten auf. Diese Wählerverzeichnisse waren derart angelegt, dass sie zunächst die Ehrenbürger, 11 Kuzmany,
Juden in Brody (2009) 10 f. v. 21. 8. 1779 MThGS 2095. 13 Gesetz v. 20. 1 2. 1879 RGBl 138. 14 Olechowski, Herkunft (2008) 852; Hödl, Galizische Juden (1994) 14; Mark, Galizien (1994) 108; Kuzmany, Juden in Brody (2009) 11. 15 Kuzmany, Juden in Brody (2009) 12 f. – Am flachen Land war das Schankgewerbe in Galizien noch bis 1860 Juden verwehrt (vgl. Verordnung v. 13. 1. 1860 RGBl 15), doch wurde dieses Verbot vielfach durchbrochen. Nach Eisenbach, Das galizische Judentum (1980) 77, lebte etwa ein Neuntel der jüdischen Bevölkerung Galiziens vom Schankgewerbe. 16 Olechowski, Herkunft (2008) 855. Der Name »Littman« wurde zu jener Zeit sowohl als Vor‑ als auch als Nachname gebraucht: Beider, Dictionary (2001) 364 f. 12 Patent
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1. Kapitel: Herkunft, Kindheit und Jugend
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danach Geistliche, Beamte und Offiziere und schließlich alle anderen Wahlberechtigten, diese aber gereiht nach der Höhe der direkten Steuern, die sie entrichteten, auflisteten.17 So scheint es, als ob Osias bereits zur »upper class« von Brody gehört hatte.18 Doch existiert eine andere Quelle, die noch eine zweite Deutung zulässt: Im Jahre 1933, als die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht ergriffen, wurde der damalige Kölner Universitätsprofessor Hans Kelsen aufgefordert, einen Fragebogen zu seiner Abstammung auszufüllen. Dabei erwies es sich, dass er von keinem seiner Großeltern exakte Geburts‑ oder Sterbedaten kannte, allerdings getreulich angab, dass sie alle mosaischen Glaubens gewesen waren Auch wusste er die Berufe seiner beiden Großväter: Demnach war Osias Kelsen ein »Gemeindebeamter« in Brody.19 Vergleichen wir diese Information mit dem eben thematisierten Gemeindewahlrecht von Brody, so stellen wir fest, dass zwar nicht »Gemeindebeamte«, wohl aber »Hof-, Staats-, Landes-, öffentliche Instituts‑ und Fondsbeamte« zu jener Personengruppe zählten, die nach der genannten Wahlordnung ganz oben auf der Steuerliste erschienen, unabhängig von ihrer Steuerleistung. Denkbar ist, dass Hans Kelsen die Dienstbezeichnung seines Großvaters nicht genau wusste, dieser aber kraft seiner öffentlichen Anstellung das Privileg hatte, ganz vorne in der Wählerliste zu stehen und damit auch im ersten, einflussreichsten Wahlkörper von Brody zu wählen. Dass Osias Kelsen überhaupt ein öffentliches Amt bekleiden durfte, war Folge der Revolution von 1848 und der durch sie bewirkten Judenemanzipation.20 § 17 der Verfassungs-Urkunde vom 25. April 1848 hatte die »volle Glaubens‑ und Gewissens‑ so wie die persönliche Freiheit« verkündet und in § 27 wurde versprochen, dass die »in einigen Theilen der Monarchie noch gesetzlich bestehenden Verschiedenheiten der bürgerlichen und politischen Rechte einzelner Religions-Confessionen« durch spezielle Gesetze aufgehoben werden würden, deren Erlassung Aufgabe des Reichstages sei.21 Tatsächlich beschloss das am 22. Juli 1848 in Wien eröffnete erste österreichische Parlament, der Reichstag, schon in seiner Sitzung vom 5. Oktober, die drückende und diskriminierende Judensteuer abzuschaffen.22 Andere Beschränkungen der Juden blieben noch länger aufrecht und wurden erst nach und nach beseitigt. Die nach Niederschlagung der Revolution oktroyierte, neue Verfassung vom 4. März 1849 verkündete 17 Gemeinde-Wahlordnung für das Königreich Galizien und Lodomerien sammt dem Großher zogthume Krakau, Anlage zum Gesetz v. 12. 6. 1866 galiz LGBl 19. Vgl. bes. die §§ 12–14. 18 Dies war – in Unkenntnis der gleich zu behandelnden Quelle – meine erste Vermutung: Olechowski, Herkunft (2008) 856; mir folgend Kuzmany, Juden in Brody (2009) 13. 19 UA Köln, Zug 17/III 1869a, 132 f. 20 Dazu und zum Folgenden: Schima, Die Rechtsstellung der Juden (2010). 21 Verfassungs-Urkunde des österreichischen Kaiserstaates, kundgemacht mit Ah. Patent v. 25. 4. 1848 PGS LXXVI/49. Vgl. zum Folgenden auch Burger, Heimatrecht und Staatsbürgerschaft (2014) 59 ff. 22 Verhandlungen des österreichischen Reichstages nach der stenographischen Aufnahme II (Wien 1849, ND Wien 1970) 790–809. Die Aufhebung der Judensteuer erfolgte sodann durch Ah. Patent v. 20. 10. 1848 PGS LXXVI/131. Vgl. auch Eisenbach, Das galizische Judentum (1980) 85; Schima, Die Rechtsstellung der Juden (2010) 433.
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
ausdrücklich die Gleichheit aller Reichsbürger vor dem Gesetz23 und das provisorische Gemeindegesetz vom 17. März bestimmte, dass alle Gemeindeangehörigen unabhängig von ihrer Konfession das aktive und passive Wahlrecht besäßen.24 Die Verfassung 1849 wurde niemals voll wirksam und am 31. Dezember 1851 gänzlich aufgehoben. Zahlreiche konstitutionelle Errungenschaften wurden beseitigt, und auch der Fortgang der Judenemanzipation war in der nun folgenden Periode des sog. Neoabsolutismus ernstlich in Frage gestellt.25 Letztlich aber kehrte Österreich mit den fünf Staatsgrundgesetzen vom 21. Dezember 1867 (der sog. Dezemberverfassung) endgültig zum Konstitutionalismus zurück, und das »Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger« verkündete erneut die Gleichheit vor dem Gesetz, die Glaubens‑ und Gewissensfreiheit sowie die Freiheit für alle staatlich anerkannten Religionen, somit auch für die jüdische, diese auch öffentlich auszuüben.26 Nach und nach wurden nun auch die letzten noch bestehenden rechtlichen Benachteiligungen der Juden beseitigt. Die Diskriminierung faktischer Natur, die ihnen im Alltag begegnete, blieb noch länger bestehen. Immerhin hatten die Ereignisse der Jahre 1848/49 auch in Brody das Selbstbewusstsein der jüdischen Gemeinde gestärkt; und 1853 wurde die Israelitische Realschule in eine öffentliche k. k. vollständige Unterrealschule umgewandelt.27 Es ist sehr wahrscheinlich, dass sowohl der bereits erwähnte Vater Hans Kelsens, der am 6. Juni 1850 in Brody geborene Abraham Littman Kelsen, als auch zumindest einige seiner Geschwister, diese Schule besuchten und dort die deutsche Sprache erlernten, wenn sie nicht schon im Haushalt von Osias Kelsen gesprochen wurde.28 Die wenigen schriftlichen Dokumente, die vom Vater Hans Kelsens erhalten blieben, sind jedenfalls in fehlerfreiem Deutsch geschrieben. Dies sollte später die Auswanderung von Abraham Littman Kelsen und fünf seiner Geschwister nach Wien deutlich erleichtern. Was die Motive dieser Auswanderung betrifft, sind wir auf Vermutungen angewiesen. Auffallend ist zunächst der frühe Zeitpunkt in den 1860er Jahren, als noch wenige galizische Juden nach Wien zogen. Das uns durch so viele Fotografien vermittelte Bild der armen galizischen Ostjuden, die mit ihrer unverwechselbaren
23 Reichsverfassung
v. 4. 3. 1849 RGBl 150, § 27. Gesetz v. 17. 3. 1849 RGBl 170, §§ 7 ff. 25 So wurden etwa mit ks. Verordnung v. 2. 10. 1853 RGBl 190 die Beschränkungen der Besitzfähigkeit der Israeliten, wie sie vor 1848 bestanden hatten, wieder in Wirksamkeit gesetzt; dagegen wurden mit den beiden ks. Verordnungen 29. 11. 1859 RGBl 217 und 6. 1. 1860 RGBl 9 zwei die Juden diskriminierende Bestimmungen des ABGB (§§ 124, 593) aufgehoben. Die Beseitigung der Zunftverfassung mit der Gewerbeordnung 1859 brachte den Juden dann auch den Zugang zu den ihnen so lange verwehrten Gewerben. Wesentlich zu dieser Entwicklung dürfte eine Denkschrift des jüdischen Rechtsanwaltes Heinrich Jaques (Jaques, Denkschrift [1859]), die mehrere Auflagen erfuhr, beigetragen haben. Vgl. auch Eisenbach, Das galizische Judentum (1980) 86; Schima, Die Rechtsstellung der Juden (2010) 437 ff. 26 StGG-ARStB v. 21. 1 2. 1867 RGBl 142. 27 Kuzmany, Juden in Brody (2009) 15. 28 Vgl. zu den Sprachenverhältnissen in Brody Stourzh, Nationalitäten (1985) 75–77. 24
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Haar‑ und Barttracht und in ihrer traditionellen Kleidung auf den Straßen Wiens gehen,29 trifft auf die Familie Kelsen nicht zu. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie sich sehr rasch assimilierte und, wie noch zu zeigen sein wird, so bald wie möglich ihre galizischen Wurzeln völlig abstreifte. Ferner ist nochmals zu betonen, dass Brody zu jener Zeit zwar nicht mehr eine wohlhabende Stadt, aber auch noch nicht vollständig verarmt war. Immerhin hatte 1859 ein großer Brand verheerende Folgen für Brody gehabt30 und wohl auch einige Stadtbewohner dazu bewogen, wegzuziehen. Dies wird aber nicht die ärmsten unter ihnen betroffen haben, sondern eher die Mittelschicht, die sich erhoffen konnte, in der Großstadt zu Wohlstand und Ansehen zu kommen, so auch die ehrgeizigen Söhne des Gemeindebediensteten Osias Kelsen. Er selbst blieb bis an sein Lebensende in Brody und wurde nach seinem Tod (zwischen 1874 und 1880) auch hier begraben. Das erste der Kelsen-Geschwister, das Brody in Richtung Wien verließ, war die 1840 geborene Gelle Kelsen, die vielleicht noch in Brody geheiratet, 1862 ihr erstes Kind aber in Wien zur Welt gebracht hatte, also noch davor aus Galizien emigriert war.31 Zwei Jahre später, 1864, kam auch Abraham Littman Kelsen in die Reichshauptstadt.32 Er hatte soeben sein vierzehntes Lebensjahr vollendet; dass er völlig allein nach Wien kam, ist unwahrscheinlich. Vielleicht reiste er gemeinsam mit seinem zwölf Jahre älteren Bruder Samuel, von dem bezeugt ist, dass er 1865 in Wien heiratete.33 Nach und nach folgten auch die übrigen Geschwister. Dabei fällt auf, dass sie alle – mit Ausnahme Samuels – ihre Vornamen »eindeutschten«. Dieses Mittel der Assimilation war nichts Ungewöhnliches und folgte auch gewissen Regeln, indem jedem jüdischen Namen ein mehr oder weniger ähnlich klingender deutscher Name entsprach. Doch entbehrte der Namenswechsel jeder rechtlichen Grundlage: Bei den deutschen Namen handelte es sich, juristisch gesehen, um Pseudonyme, die im Privat‑ und Geschäftsverkehr, nicht aber im Verkehr mit Behörden, verwendet werden durften. In diesem Sinne nahm Gelle den Namen Angela an, ihre Schwestern Hinda, Sara und Rebecca wurden zu Henriette, Sophie und Regina. Abraham Littman Kelsen aber, der Vater Hans Kelsens, nannte sich – wohl ab 1864 – Adolf Kelsen.34 b) Wien Das Kaisertum Österreich glich im Jahr 1864 einem Koloss auf tönernen Füßen. Noch zählte Venedig zur Habsburgermonarchie; noch war Österreich die Präsidialmacht im Deutschen Bund. Aber 1859 hatte Kaiser Franz Joseph auf dem Schlachtfeld von Solferino eine verheerende Niederlage erlitten, und 1866 sollte bei Königgrätz die 29 Vgl.
dazu Hamann, Hitlers Wien (1996) 483 (eine entsprechende Fotografie a. a. O. 475). Juden in Brody (2009) 11. 31 Olechowski, Herkunft (2008) 856. 32 Kelsen, Autobiographie (1947) 1 = HKW I, 30. 33 http://www.univie.ac.at/kelsen/family/112_Samuel_Josefine_Jeanette.html [Zugriff: 25. 4. 2019]. 34 Dazu näher Olechowski, Herkunft (2008) 858. 30 Kuzmany,
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
nächste folgen, sodass sich die Habsburger aus Deutschland und Italien, den Ländern, auf die ihre Politik seit Jahrhunderten gerichtet gewesen war, zurückziehen mussten. Im Inneren der Monarchie flammte der schon 1848 ausgebrochene Nationalitätenkonflikt, der seinerzeit von der kaiserlichen Armee blutig niedergeschlagen worden war, erneut und noch heftiger auf und verband sich unauflöslich mit der Forderung nach einer Rückkehr zu konstitutionellen Verhältnissen, wie sie 1848/49 bestanden hatten. Dagegen wehrte sich der Kaiser verbissen, musste letztlich aber doch, in drei Schritten – dem Oktoberdiplom 1860, dem Februarpatent 1861 sowie dem österreichisch-ungarischen Ausgleich mit der Dezemberverfassung 1867 –, nachgeben.35 Ergebnis dieser jahrelangen politischen Kämpfe war eine Verfassungssituation, die an Komplexität nur schwer zu überbieten war und der verfassungsrechtlichen Lehre eine Spielwiese an staatsrechtlichen Theorien lieferte; Hans Kelsen selbst referierte in seinen Darstellungen in merkwürdig unorigineller Art und Weise die einschlägigen Normen und gängigen Lehrmeinungen zu dieser Frage, ohne erkennen zu lassen, was seine eigene Meinung war, möglicherweise aus dem Grund, dass diese Theorien zwar ideologisch aufgeladen, aber im Grunde nur wenig geeignet waren, brauchbare Antworten auf die juristischen Probleme zu geben, die aus den Regelungen von 1860, 1861 und 1867 resultierten. Nach der am weitesten verbreiteten Theorie, die auch u. a. in Kelsens Lehrbuch »Österreichisches Staatsrecht« dargestellt wurde, bildeten Österreich (»Cisleithanien«) und Ungarn (»Transleithanien«) ab 1867 zwei selbständige Staaten mit eigener Gesetzgebung und Regierung, die aber »durch eine gemeinsame Dynastie und durch die Gemeinsamkeit der Verwaltung gewisser im Interesse der Großmachtstellung beider Staaten gelegener Angelegenheiten notwendig, darüber hinaus aber nur eventualiter durch periodisch zu treffende Uebereinkommen« miteinander verbunden waren.36 In diesem Sinn bestanden eine gemeinsame (kaiserlich österreichische und königlich ungarische – k. u. k.) Armee und Flotte, ein gemeinsames Außen-, ein gemeinsames Kriegs‑ sowie ein gemeinsames Finanzministerium. Auch bildeten beide Staaten ein gemeinsames Zoll‑ und Wirtschaftsgebiet, und gewisse damit zusammenhängende Materien wurden in Cis‑ und Transleithanien nach gleichen Grundsätzen verwaltet. In allen anderen Bereichen hatten die beiden Teile der Doppelmonarchie ihre eigenen Behörden, welche in Cisleithanien als k. k. (kaiserlich-königlich), in Transleithanien dagegen als m. k. (magyar királyi [königlich ungarisch]) bezeichnet wurden. Eine Lösung des Nationalitätenkonflikts hatte der Ausgleich nicht gebracht, ihn vielmehr noch verkompliziert. Während in Ungarn die magyarische Sprache zur Staatssprache erhoben und die anderen Völker – Slowaken, Rumänen, Serben, Kroaten, Deutsche und andere – unterdrückt wurden, verhieß in Österreich das schon erwähnte »Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger« 35 Dazu und zum Folgenden: Stourzh, Der Dualismus 1867 bis 1918 (2000); Mazohl, Die Habsburgermonarchie 1848–1918 (2015) 424–433; Olechowski, Dezemberverfassung (2019). 36 Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 21.
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allen Volksstämmen – Deutschen, Tschechen, Polen, Ukrainern, Slowenen, Italienern, Kroaten und anderen – »ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache«, ein Recht, das in der Praxis aber vielfach ignoriert und immer wieder aufs Neue vor Reichsgericht und Verwaltungsgerichtshof erkämpft werden musste.37 Ungeachtet dieser politischen Probleme bedeutete die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Reichshaupt‑ und Residenzstadt Wien eine Blütezeit in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht, und aus allen Winkeln der Monarchie strömten die Menschen in die Metropole, die zu einem riesigen Schmelztiegel der Völker wurde. Juristisch gesehen war der mittelalterliche Stadtkern schon 1850 mit den umliegenden Vorstädten zu einer Gemeinde vereint worden,38 sichtbaren Ausdruck fand diese Vereinigung aber erst, als 1858 mit der Schleifung der trennenden Stadtmauer begonnen wurde und an Stelle der ehemaligen Befestigungsanlagen die Ringstraße mit ihren Prachtbauten entstand: Am 25. Mai 1869 wurde die Hofoper feierlich eröffnet, es folgten Parlament, Rathaus, Universität und Hofburgtheater sowie die vielen privaten Palais des alten und neuen (Geld‑)Adels. Infolge der Eingemeindungen war die Bevölkerungszahl auf das Achtfache gestiegen und erreichte gerade zu der Zeit, als Adolf Kelsen ankam, die Marke von 500.000 Einwohnern. Nicht abgetragen wurde vorerst der Linienwall, der die ehemaligen Vorstädte von den weiter außerhalb gelegenen Vororten trennte; er war nicht nur eine (auf den Prinzen Eugen zurückgehende) weitere Befestigungsanlage zum Schutz Wiens, sondern auch eine soziale Grenze, da die Lebenshaltungskosten innerhalb des Walls bedeutend höher waren als außerhalb. Dort waren daher nicht nur die Industrieanlagen angesiedelt, sondern standen auch die elenden Behausungen für die Arbeiterinnen und Arbeiter. Erst ab den 1890er-Jahren wurden auch diese Vororte eingemeindet und der Linienwall abgetragen.39 Eine natürliche Grenze der Stadt bildete auch die bis 1870 noch unregulierte Donau, die gerade bei Wien eine Vielzahl von Flussarmen bildete, mit ihren Untiefen eine Gefahr für die Schiffer, mit ihren Überschwemmungen eine Gefahr für die Bewohner der Flussinseln. Nichtsdestoweniger bestanden hier eine Reihe von Vorstädten, darunter die Leopoldstadt, die nach der Eingemeindung 1852 dem gesamten, auf den Donauinseln gelegenen II. Wiener Gemeindebezirk ihren Namen gab. Bereits im 17. Jahrhundert hatte es hier eine Judengemeinde gegeben, die 1670 gewaltsam aufgelöst worden war, und als in der Mitte des 19. Jahrhunderts der allmähliche Zuzug von Juden nach Wien begann, ließen sich viele von ihnen erneut in dieser Gegend nieder, sodass die Leopoldstadt im Wiener Volksmund schon bald als die »Mazzesinsel« bezeichnet wurde.40 Bis 1848 hatten nur einige wenige jüdische Familien das Recht erhalten, in Wien zu leben, ihre Gesamtzahl wird 4.000 nicht oder nicht wesentlich überstiegen haben. 37 Stourzh,
Nationalitäten (1985), bes. 58–74. v. 6. 3. 1850 nö LGBl 21. 39 Czeike, Wien IV (1995) 69 f. 40 Tietze, Die Juden Wiens (1933) 12 ff.; Wistrich, Die Juden Wiens (2004) 9 ff. 38 Gemeindeordnung
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Dann jedoch stieg der jüdische Bevölkerungsanteil Wiens, vor allem durch Zuzug aus den Kronländern, sprunghaft an; zwischen 1857 und 1869 erhöhte sich ihre Zahl jährlich um mehr als 45 %, bis die Volkszählung von 1869 bereits 40.230 Juden in Wien erfasste.41 1852 wurde die Israelitische Kultusgemeinde Wien unter dem Rabbiner Isaak Noah Mannheimer gegründet, dem 1856 ein zweiter Prediger, Adolf (Aaron) Jellinek, der Vater des späteren Staatsrechtlers Georg Jellinek, zur Seite gestellt wurde. Da die Synagoge in der Inneren Stadt schon längst nicht mehr alle Mitglieder der Kultusgemeinde zu fassen vermochte, wurde der Architekt Ludwig Förster mit dem Bau einer neuen Synagoge in der Leopoldstadt beauftragt; am 15. Juni 1858 wurde der »Leopoldstädter Gemeindetempel« mit einer Predigt Jellineks eingeweiht.42 1864, als Adolf (Abraham) Kelsen nach Wien kam, wurde in der Leopoldstadt auch ein Realgymnasium eröffnet, in dem u. a. ein Jahr später Sigmund Freud eingeschult wurde. Die Matura, die er dort 1873 mit Auszeichnung bestand, sollte ihm das Medizinstudium und eine Entwicklung hin zu einem der berühmtesten Wissenschaftler überhaupt ermöglichen. Für den nur wenige Jahre älteren Adolf Kelsen war eine derartige Karriere ausgeschlossen.43 Er erlernte »als Lehrjunge in irgendeinem Kleingewerbebetrieb«44 das Gürtlergewerbe.45 Gürtler waren zu jener Zeit schon längst nicht mehr nur mit der Herstellung von metallenen Gürtelschnallen – woher sich der Name dieses Gewerbes ableitete – beschäftigt, sondern formten auch viele andere Metallgegenstände, wobei sie oft auch mit anderen, verwandten Handwerken zusammenarbeiteten. Und in der Großen Mohrengasse, unter welcher Adresse (Haus Nr. 3) Samuel Kelsen ab 1867 im Wiener Adressbuch aufschien, und wo zu jener Zeit wohl auch sein Bruder Adolf lebte, befanden sich zu jener Zeit eine Reihe Metall verarbeitende Betriebe.46 Adolfs Bruder Samuel Kelsen hatte vielleicht schon in Brody Metallwaren hergestellt und/oder mit ihnen gehandelt; spätestens 1871 begann er in Wien mit dem Handel von Wasserleitungsartikeln und hatte damit zunächst großen Erfolg. 1890 gründete er gemeinsam mit einem Kompagnon namens Leopold Lourie eine Offene Handelsgesellschaft zum Betriebe einer Metallwarenfabrik für Gas‑ und Wasserleitungsartikel; 1892 wurde in Budapest eine Zweigniederlassung errichtet.47 Zu 83.
41 Rozenblit,
Die Juden Wiens (1989) 25; Burger, Heimatrecht und Staatsbürgerschaft (2014)
42 Die Presse Nr. 135 v. 16. 6. 1858, 4; Tietze, Die Juden Wiens (1933) 209 (wo unrichtigerweise der 15. 3. als Datum der Einweihung genannt ist); Kempter, Die Jellineks (1998) 113, 120. 43 Vgl. die vergleichenden Hinweise zum soziokulturellen Umfeld Sigmund Freuds und Hans Kelsens bei R athkolb, Kelsens Perzeptionen Freudscher Psychoanalyse (2000) 87. 44 Kelsen, Autobiographie (1947) 1 = HKW I, 30. 45 Vgl. den Gewerbeakt der Firma Adolf Kelsen, faksimiliert bei Murauer, Lebensspuren (2010) 19. Der Hinweis auf die »Meerschaumpfeifenfabrik« bei Knight, Der Vater der Verfassung (1994) 109, entbehrt jeglicher Grundlage und beruht wohl auf einem Irrtum. 46 Schriftliche Auskunft des Wiener Stadt‑ und Landesarchives (MA 8) vom 30. 1. 2009. 47 Olechowski, Herkunft (2008) 857. Das weitere Schicksal Samuel Kelsens ist unklar; möglicherweise waren es wirtschaftliche Schwierigkeiten, die ihn später dazu brachten, sein Unternehmen an einen Kollegen namens J. A. Hilpert zu verkaufen, vgl. den Firmenkatalog »Illustrirter
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Abb. 2: Die Eltern Hans Kelsens, Adolf und Auguste Kelsen, ca. 1880.
Samuel Kelsens Kunden zählte sowohl die Gemeinde Wien, welche Kanaldeckel bei ihm kaufte,48 als auch der österreichische Reichsrat, der für sein neues, 1874–1883 an der Ringstraße errichtetes Gebäude die Sanitäranlagen bei »S. Kelsen« bestellte.49 1875 trat Samuel Kelsen der Freimaurerloge »Humanitas« bei und übernahm in dieser wichtige Funktionen (Schatzmeister, I. Aufseher); auch sein jüngerer Bruder wurde 1889 in die »Humanitas« aufgenommen.50 Zu diesem Zeitpunkt hatte dieser, Adolf Kelsen, bereits eine recht abwechslungsreiche berufliche Laufbahn hinter sich. 1874, in dem Jahr, in dem er das 24. Lebensjahr vollendete und somit volljährig wurde, findet sich sein erster Eintrag im Wiener Adressbuch, und zwar als »Adolf Kelsen, Börse-Arrangeur«, mit der Adresse Wien IX., Berggasse 18. Börsearrangeure verkauften Wertpapiere in Kommission. Ob und wie Preis-Courant über Dampf-Armaturen der Armaturen‑ und Maschinenfabrick Actien-Gesellschaft, vormals J. A. Hilpert, vormals S. Kelsen, Wien« (o. O. 1898). 48 Noch bis Mai 2019 befand sich ein (vermutlich letzter) Kanaldeckel mit der Aufschrift »S. Kelsen Wien 1895« im XI. Wiener Gemeindebezirk, direkt vor der Dr.-Karl-Lueger-Gedächtniskirche am Zentralfriedhof und wurde dann auf meine Bitte vom Jüdischen Museum der Stadt Wien erworben. Den Hinweis auf diesen Zufallsfund verdanke ich Frau Mag. Marie Clara Büllingen. 49 ÖStA, AVA, MdI STEF RPG 18.23 – Diesen Hinweis verdanke ich Herrn Mag. Gerhard Mur auer. 50 Kodek, Freimaurerlogen (2009) 178 f.
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lange Adolf Kelsen diesen Beruf auch tatsächlich ausübte, ist aber unklar, da er eigenen Angaben zufolge schon in diesem Jahr (auch?) als Inspektor für eine Wiener Gas‑ und Wasserleitungsfirma tätig war.51 Vier Jahre später, im Februar 1878, übersiedelte Adolf Kelsen von Wien in die böhmische Landeshauptstadt Prag [Praha/ CZ]; er bezeichnete sich selbst auf dem polizeilichen Meldezettel als »Disponent der Firma Kelsen in Wien«, womit wohl das Unternehmen seines Bruders gemeint war; möglicherweise war geplant, in der böhmischen Landeshauptstadt eine Filiale zu errichten. Am 3. Jänner 1880 jedoch meldete Adolf Kelsen ein eigenes Gewerbe, »Handel mit Gas‑ und Wasserleitungsartikeln« beim Prager Magistrat an, im April zusätzlich noch das »Mechanikergewerbe«. Obwohl sich der jüngere Bruder somit selbständig gemacht hatte, pflegte er immer noch Kontakte nach Wien. Denn dort lebte jenes Mädchen, das er am 22. August 1880 heiraten sollte: Auguste Löwy, die Mutter Hans Kelsens. Die deutschsprachige52 Familie Löwy stammte aus dem Marktflecken (ab 1876 Stadt) Platz an der Naser in Böhmen [Stráž nad Nežárkou/CZ], wo die Vorfahren Augustes bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgt werden können. Eine Verwandtschaft zwischen ihr und der in Podiebrad [Poděbrady/CZ] geborenen Julie Löwy (1856– 1934), der Mutter des Schriftstellers Franz Kafka, ist nicht nachweisbar. Dagegen war Auguste Löwy weitschichtig (im 10. Grad nach römischer Zählung) mit Pauline Nachod (1848–1921), der Mutter des Komponisten Arnold Schönberg verwandt. Diese Verbindung ist erst in jüngster Zeit von Anne Feder Lee entdeckt worden; Hans Kelsen und Arnold Schönberg lernten einander später zwar persönlich kennen (über die Schwarzwald-Schule, an der beide unterrichteten), doch ist nicht anzunehmen, dass ihnen ihr Verwandtschaftsverhältnis bewusst war, jedenfalls dürfte keiner von ihnen je darüber gesprochen haben. Aron Löwy, Augustes Vater und somit Hans Kelsens Großvater mütterlicherseits, war 1815 in Platz geboren worden und hatte dort 1845 in zweiter Ehe Amalia Schidloff geheiratet; gemeinsam zog das Paar nach Neuhaus [Jindřichův Hradec/CZ], wo Aron eine Essigfabrik gründete.53 Am 29. Dezember 1859 kam in Neuhaus Auguste Löwy als jüngstes von sechs Kindern des Paares zur Welt. Die Mutter starb bereits 1865, etwa zehn Jahre später auch der Vater, worauf die 16jährige Vollwaise zu Verwandten nach Wien zog.54 Hier lebte sie im Haus Berggasse 20, also gleich neben dem Haus, in dem – vielleicht gleichzeitig – auch Adolf Kelsen eine Zeit lang gewohnt hatte. Ob sich die beiden jungen Leute auf diese oder auf eine andere Weise kennen lernten, ist freilich nicht mehr feststellbar. Am 25. Juni 1880 wurde die mittlerweile 21jährige Braut für volljährig erklärt, und zwei Monate später erfolgte die Hochzeit im Leopoldstädter Gemeindetempel. Als Trauungsorgan nach § 75 ABGB fungierte der Bethausvorstand 51 Olechowski,
Herkunft (2008) 858. den Hinweis bei Kelsen, Autobiographie (1947) 1 = HKW I, 31. 53 Klabouch, Hans Kelsen (1993) 188. 54 Olechowski, Herkunft (2008) 859. 52 Vgl.
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Joseph Bachrach; Trauzeugen waren Samuel Kelsen sowie Augustes Onkel Samuel Schidloff.55 Das Aufgebot hatte Adolf Kelsen nicht in Wien, sondern in Prag bestellt, und es scheint, dass er bereits kurz nach der Hochzeit mit seiner Frau in die Goldene Stadt zurückkehrte; hier zogen sie in ein 1870 erbautes Haus in der Brenntegasse [Spálená ulice] Nr. 64,56 im II. Prager Gemeindebezirk Neustadt [Nové Mĕsto]. Er wählte damit, wie stets, eine Wohnung in der Nähe der wichtigsten Geschäftssraßen Prags.57 Dagegen vermied es Adolf Kelsen, sich im Bereich des ehemaligen jüdischen Ghettos und nunmehrigen V. Bezirkes Josefstadt [Josefov] niederzulassen, was erneut auf die fortschreitende Assimilation der Familie hinweist. Wodurch sie aber doch recht deutlich als Juden erkennbar waren, das war – die von ihnen gesprochene deutsche Sprache. Denn von den rund 42.000 Deutschsprachigen im Großraum Prag waren 47 % jüdischer Herkunft, von den 272.000 Tschechischsprachigen nur rund 4 %.58 Es ist unwahrscheinlich, dass Adolf Kelsen in den wenigen Jahren, die er an der Moldau zubrachte, Tschechisch lernte. Die aus Böhmen stammende Auguste Kelsen dagegen konnte, wie ihr Sohn später berichtete, ebenso gut tschechisch wie deutsch; angeblich sprach sie noch als alte Frau im Schlaf tschechisch.59 Hans Kelsen selbst verbrachte zwar seine ersten vier Lebensjahre und dann noch einmal, zwischen 1936 und 1938, rund siebzehn Monate in Prag, erlernte jedoch niemals Tschechisch; seine Muttersprache war das Deutsche. c) Prag Das Jahr 1881 war kein besonders gutes: Sowohl der amerikanische Präsident als auch der russische Zar wurden von Attentätern ermordet, in Tombstone in Arizona kam es zur bis heute bekanntesten Schießerei des Wilden Westens, in Wien forderte der Brand des Ringtheaters fast vierhundert Menschenleben, und im Sudan begann der Mahdi-Aufstand gegen die britische Kolonialherrschaft. Immerhin war es auch das Geburtsjahr von Otto Bauer, Béla Bartók, Alcide de Gasperi, Natalija Gontscharowa, Mustafa Kemal, Ludwig v. Mises, Pablo Picasso, Angelo Roncalli, Pierre Teilhard de Chardin und Stefan Zweig.
55 Israelitische Kultusgemeinde in Wien (Leopoldstadt), Trauungsbuch Nr. 191/1880; vgl. Olechowski, Herkunft (2008) 859. Unrichtig Métall, Kelsen (1969) 2, wonach die Eheschließung in Prag stattfand. Zur Person Samuel Schidloffs vgl. Moll, Spuren (1989). 56 Das Haus wurde exakt 100 Jahre später, 1970, abgerissen, an seiner Stelle wurde 1972–1975 das Kaufhaus Máj errichtet, in dem sich seit 1994 eine TESCO-Filiale befindet; vgl. Klabouch, Hans Kelsen (1993) 185; Kreuz, Prager Wurzeln (2009) 32. Am 19. 4. 2013 wurde am Haus eine Gedenktafel für Hans Kelsen enthüllt. 57 Kreuz, Prager Wurzeln (2009) 33. 58 Kreuz, Prager Wurzeln (2009) 23 f. 59 Kelsen, Autobiographie (1947) 1 = HKW I, 31; Weyr, Paměti I (1999) 415; Olechowski, Herkunft (2008) 859.
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
Abb. 3: Das Geburtshaus Hans Kelsens in Prag, Abb. 4: Hans Kelsen, ca. 1881/82. Spálená ulice 64 (1970 abgerissen).
Am 11. Oktober 188160 brachte Auguste Kelsen in ihrer Prager Wohnung in der Brenntegasse ihr erstes Kind, einen Sohn, zur Welt. Sobald er acht Tage alt war, wurde dem Knaben der Name »Hanns« gegeben und die Brit Mila, der Bund des Abraham, an ihm vollzogen.61 In seiner Familie sollte er immer nur »Hans« genannt werden; auch in seinen Publikationen und in den meisten amtlichen Dokumenten, von den Schulzeugnissen bis zur Sterbeurkunde, wurde diese Namensform eingetragen, nur selten (etwa am Verfassungsgerichtshof ) wurde sein Name in »Johann« hyperkorrigiert. In der Zeit, in der Kelsen tschechoslowakischer Staatsbürger war (1936–1945), hieß er offiziell »Jan Kelsen«,62 doch auch in dieser Zeit verwendete er abseits von amtlichen Dokumenten (und zuweilen auch in diesen) die ihm vertraute, deutsche Fassung seines Namens. Ab 1945, nach Annahme der US-Staatsbürgerschaft, lautete sein Name dann auch wieder ganz offiziell »Hans Kelsen«,63 ein »John«, »Jack« oder 60 Der 11. Oktober 1881 christlicher Zeitrechnung entsprach dem 18. Tischri 5642 jüdischer Zeit-
rechnung; somit fiel die Geburt Hans Kelsens mitten in das Laubhüttenfest (Sukkot), welches gemäß Lev 23,34 vom 15. bis zum 22. Tischri gefeiert wird. 61 Národní archiv Praha, Geburtsmatrikel der jüdischen Kultusgemeinde in Prag 1881 Z. 179. Ein Faksimile bei Ettl/Murauer, Kelsen (2010) 18. 62 Kreuz, Prager Wurzeln (2009) 34. 63 Anlässlich der Einwanderung in die Vereinigten Staaten gab Kelsen seinen Vornamen mit
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dergleichen wurde aus ihm in den USA niemals. Und auch die im Geburtenbuch eingetragene Namensform »Hanns« wurde nirgends sonst verwendet; weshalb just der Geburtseintrag in dieser Form erfolgte, ist unbekannt. – Bedeutsamer ist, dass Adolf Kelsen, obwohl sein Vater Osias zu diesem Zeitpunkt vermutlich schon tot war, nicht dem aschkenasischen Brauch folgte und seinen ältesten Sohn nach seinem Vater benannte, sondern ihm einen Namen gab, der zwar hebräischen Ursprungs war,64 doch in der Form Hans/Hanns auch als ein typisch deutscher Name bezeichnet werden kann, wie auch die nachfolgenden Kinder Adolfs typisch deutsche Namen (Ernst, Gertrude, Paul Fritz) erhielten. Wir dürfen annehmen, dass die Geburt seines ersten Sohnes für Adolf Kelsen ein Grund zur Freude war. Ansonsten aber war gerade auch für ihn das Jahr 1881 wirklich kein besonders gutes: Im »Prager Tagblatt« wurde berichtet, dass »ein industrieller Kopf, Namens Kelsen« an verschiedenen »Orten in Prag […] Gasometer mit den Röhren der städtischen Gasanstalt« verbunden hatte, »ohne daß diese von der Malversation eine Ahnung gehabt hätte«. Nicht genug damit, wurde bekannt, »daß Kelsen die Röhren nicht dicht verband, wodurch es geschah, daß das Gas ausströmte, und die Parteien sich an die städtische Gasanstalt um Hilfe wendeten.«65 So wurde der Skandal am 22. März 1881 sogar vor den Prager Stadtrat gebracht, welcher eine Untersuchung anordnete, und am 8. Juni verurteilte der Prager Magistrat Adolf Kelsen zu einer Geldstrafe von 10 fl;66 ein (juristisch belangloses) Protestschreiben Kelsens an den Prager Bürgermeister sowie auch eine (juristisch korrekte) Berufung an die Statthalterei blieben erfolglos. Kelsen musste sich nunmehr beruflich verändern: Im Mai trat er dem Prager Handels-Gremium bei, im Juli meldete er der Gewerbebehörde, dass er nunmehr ein »Commissionsgeschäft mit Artikeln für Gas-, Wasser‑ und Dampfleitungen, sowie mit englischen Aborten und Canalanschlüssen« betreiben werde. Doch das Pech verfolgte ihn: Denn es stellte sich heraus, dass er die vom Prager Handels-Gremium geforderte Inkorporationstaxe in Höhe von immerhin 95 fl nicht zahlen konnte. Im Oktober 1881, also just zur Zeit der Geburt seines Sohnes Hans, konnte er eine Zwangspfändung gerade noch aufhalten, doch nach
»Johann« an; anlässlich seines Antrages auf Verleihung der US-Staatsbürgerschaft bat er um Namensänderung in »Hans«, was auch erfolgte: FBI-File Kelsen, Results of Investigation, 12. 11. 1953, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. 64 Hans ist die Kurzform des Namens Johann(es)/ Yochanan ( ;)יוחנןer bedeutet »Der Herr sei mir gnädig«. In der Form »Joannes« zählte er zu den im Hofdekret v. 12. 11. 1787 JGS 746 genannten Namen, die von Juden schon vor 1848 getragen werden durften. 65 Prager Tagblatt Nr. 82 v. 23. 3. 1881, 5; vgl. Kreuz, Prager Wurzeln (2009) 28. 66 Eine Umrechnung historischer Geldbeträge auf moderne Verhältnisse ist stets mit großen Schwierigkeiten verbunden, da sich Löhne und Gehälter in ihrem Verhältnis zueinander, die Höhe der Steuerleistungen und nicht zuletzt der sog. Warenkorb in der Zwischenzeit massiv verändert haben. Nichtsdestoweniger wird hier und im Folgenden eine Umrechnung nach dem von der Oesterreichischen Nationalbank zur Verfügung gestellten »Historischen Währungsrechner« https://www.eurologisch.at/docroot/waehrungsrechner/#/ [Abfrage vom 27. 11. 2019] abgegeben, demnach entsprachen 10 fl im Jahre 1881 etwa der Kaufkraft von € 126,19 im Jahr 2019.
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
mehrmaligen Stundungen wurde sie schließlich am 25. Mai 1883 durchgeführt, um die zu diesem Zeitpunkt noch ausständigen 35 fl einzutreiben.67 Die Familie Kelsen wohnte zu diesem Zeitpunkt, möglicherweise aufgrund der schlechten finanziellen Lage, nicht mehr in der Brenntegasse, sondern in der Prager Vorstadt Königliche Weinberge [heute der Prager Stadtteil Vinohrady], im Haus Nr. 70 in der Škrétagasse [Škrétova], direkt hinter dem böhmischen Nationalmuseum. Hier kam auch, am 6. September 1883, der zweite Sohn, Ernst Kelsen, zur Welt.68 Der Familienvater nahm einen neuen beruflichen Anlauf und beantragte nunmehr sowohl beim Prager Magistrat als auch bei der Bezirkshauptmannschaft Karolinenthal [Karlín]69 eine Konzession zur Ausführung von Gasrohrleitungen. Doch während die Bezirkshauptmannschaft ihm diese am 27. September 1883 erteilte, wurde er vom Prager Magistrat am 19. September abschlägig beschieden, und zwar wegen »ungenügender Qualifikation des Antragstellers.«70 Auch wenn seine Berufung in diesem Fall Erfolg hatte und er 1884 eine Konzession auch für Prag erhielt, war es doch wohl diese Kette von beruflichen Misserfolgen, die Adolf Kelsen dazu bewog, am 6. November 1885 seine Prager Gewerbe zurückzulegen und mit seiner Familie nach Wien zu ziehen; am 27. Dezember des Jahres wurde dem Gewerbereferat bekannt gegeben, dass Kelsen »sein Geschäft in Prag nicht mehr betreibe und nach Wien gezogen sei.«71 d) … und wieder Wien Zurück in Wien, lebte die Familie zunächst im V. Bezirk, Straßenhof 6, spätestens ab 1891 jedoch im IV. Bezirk in der Belvederegasse 3, ab 1895 wenige Blocks von dort entfernt, in der Goldeggasse 20.72 Ausschlaggebend für diese Wohnungswechsel könnte erneut Samuel Kelsen gewesen sein, der damals im Haus Goldeggasse 5 lebte, und zu dem die Kontakte offenbar nach wie vor eng waren; und abermals mied Adolf Kelsen Wohngegenden mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil. Hier in Wien brachte Auguste Kelsen am 8. Jänner 1886 eine Tochter, Gertrude,73 und am 4. Jänner 1898 67 Kreuz,
Prager Wurzeln (2009) 29. Herkunft (2008) 860. Dies wird von Kreuz, Prager Wurzeln (2009) 37, bezweifelt, weil eine Eintragung Ernst Kelsens in den entsprechenden Geburtsmatriken fehlt. Der Geburtsort »Königliche Weinberge« ist jedoch angegeben in der Qualifikationsliste von Ernst K elsen (ÖStA, KA, Qualifikationslisten, Karton 1343) sowie auch im Trauungs-Schein von Ernst Kelsen und Lilli Kann (Auszug aus dem Trauungsbuch der Evangelisch-Reformierten Pfarrgemeinde (H. B.) Wien-Innere Stadt 1919, Seite 183, Z. 42; Original im Besitz von Ernst Kelsens Enkeltochter Carole Angier). Es ist nach dem Gesagten nicht undenkbar, dass die Geburt des zweiten Kindes der Behörde nicht – oder erst Jahre später – bekannt gegeben wurde. 69 Der ehemalige Prager Vorort, östlich der Altstadt gelegen, ist heute ein Teil des VIII. Prager Gemeindebezirks. 70 Kreuz, Prager Wurzeln (2009) 26. 71 Klabouch, Hans Kelsen (1993) 186 ff.; Kreuz, Prager Wurzeln (2009) 30. 72 Alle Angaben nach Lehmann’s Allgemeiner Wohungs-Anzeiger. 73 WrStLA 1.4.3.A9.6.-K-Kart. 28/11916/1910, Protokoll des Magistratischen Bezirksamtes für den III. Bezirk, 23. 2 . 1910. 68 Olechowski,
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1. Kapitel: Herkunft, Kindheit und Jugend
Abb. 5: Der Vater Hans Kelsens, Adolf Kelsen, ca. 1887.
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Abb. 6: Hans Kelsen, ca. 1885/86.
den Nachzügler Paul Fritz Kelsen zur Welt.74 Der Vater Adolf beschloss, sich beruflich neuerlich zu verändern und gründete nunmehr gemeinsam mit einem Kollegen namens Joseph Alexander Heymann in der Seidengasse im VII. Bezirk eine Bronzewaren‑ und Lusterfabrik, in der sie Gas‑ und elektrische Beleuchtungskörper herstellten; etwas später75 trennte er sich von Heymann und errichtete in einem Hinterhof in der Goldeggasse seine eigene, winzige, Bronzelusterfabrik.76 Zumindest eine Zeit lang dürfte Adolf Kelsen recht erfolgreich gewesen sein, u. a. stellte er die Beleuchtungskörper für den 1903 errichteten »Josefstädter Tempel«, d. h. die Synagoge in der Neudeggergasse 12 im VIII. Wiener Gemeindebezirk Josefstadt, her.77 74 Pfarre St. Rochus a. d. Landstrasse, Wien III., Geburts‑ und Taufbuch 1912, Tom. 84, nach Nr. 36 (Vermerk anlässlich seiner erst 1912 erfolgten Taufe; vgl. dazu noch unten). Zufolge dieses Eintrages war sein Name zunächst »Paul Fritz«, ab der Taufe »Paul Friedrich«. In der Familie wurde er »Fritz« genannt. 75 Der Gewerbeakt der Firma Adolf Kelsen im Gewerbearchiv der Wirtschaftskammer Österreich vom 12. 7. 1901 Nr. 56 (Faksimile in Ettl/Murauer, Kelsen [2010] 19) gibt als Eintragungsdatum den 12. 7. 1901 an. Zuverlässiger dürfte aber auch hier wieder Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-A nzeiger sein, der schon ab 1892 einen eigenen Eintrag zur Firma Adolf Kelsen aufweist. 76 Olechowski, Herkunft (2008) 860. – Noch heute ist im Hinterhof des Hauses Goldeggasse 20 ein kleiner Schuppen zu sehen, in dem sich, wie mir Bewohner des Hauses erklärten, einst eine Lusterfabrik befunden haben soll. 77 Freundlicher Hinweis von Frau Mag. Adina Seeger, Jüdisches Museum Wien. Zur Synagoge in der Neudeggergasse vgl. Czeike, Wien V (1997) 406.
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
Wir haben über Hans Kelsens erste Lebensjahre keinerlei Informationen außer einigen Fotographien, neben Babyfotos auch das Bild eines vierjährigen Knaben in kurzen Hosen und Strümpfen, bereits jetzt erkennbar an den großen und ernst blickenden Augen. Zu diesem Zeitpunkt wird er bereits nach Wien übersiedelt gewesen sein, der Stadt, in der er mehr als die Hälfte seines Lebens verbrachte. Nicht anzunehmen ist, dass er religiös erzogen wurde, zumal Vater und Onkel Freimaurer waren. Hans Kelsen blieb formell bis zu seiner Taufe 1905 Mitglied der Prager Israelitischen Kultusgemeinde;78 offenbar pflegte er niemals Kontakte zur Wiener Kultusgemeinde und feierte höchstwahrscheinlich auch keine Bar Mitzwa.79 Quellenmäßige Belege dafür oder dagegen existieren nicht. Indem die Familie Adolf Kelsens wenigstens äußerlich am jüdischen Glauben festhielt, gab sie in dieser Beziehung das Bekenntnis zu ihren eigenen Wurzeln nicht auf. In jeder anderen Hinsicht dagegen wird sie sich bis zur Jahrhundertwende vermutlich schon vollständig in der Wiener Gesellschaft assimiliert haben, ein wichtiger Punkt hierzu fehlte aber noch: der Erwerb des Wiener Heimatrechtes. Art. II Reichsgemeindegesetz 1862 sah vor, dass jeder Staatsbürger in genau einer Gemeinde heimatberechtigt sein sollte.80 In dieser Gemeinde hatte er das Recht auf ungestörten Aufenthalt und auf Armenversorgung, war also hier rechtlich verwurzelt. Doch richtete sich das Heimatrecht weder nach dem Geburts‑ noch nach dem Wohnort, sondern wurde vererbt, indem eheliche Kinder das Heimatrecht ihres Vaters, uneheliche das Heimatrecht ihrer Mutter zur Zeit der Geburt erwarben. Durch Heirat erwarben Ehefrauen das Heimatrecht ihres Ehemannes.81 Somit blieb das Heimatrecht aufrecht, auch wenn die Familie schon vor Generationen von ihrem Ursprungsort weggezogen war. Josef Kunz, ein Schüler Hans Kelsens, brachte 1928 zur Illustration des Problems folgendes Beispiel: »Nehmen wir z. B. an, eine Pragerin heiratete einen Lemberger und das Ehepaar machte sich in Wien ansässig. Trotz des ständigen Domizils in Wien waren beide Ehegatten, auch die Frau, in Lemberg heimatberechtigt, nach Lemberg, wie man gewöhnlich sagte, zuständig.«82 – Ersetzt man die böhmische Landeshauptstadt Prag durch das in Böhmen gelegene Neuhaus und die galizische Landeshauptstadt Lemberg durch das in Galizien gelegene Brody, so ist die Situation der Familie 78 1905 wurde die Israelitische Kultusgemeinde in Prag gem Art. VI Interkonfessionellengesetz v. 25. 5. 1868 RGBl 49 durch das Magistratische Bezirksamt für den VI. Wiener Gemeindebezirk vom Austritt Hans Kelsens verständigt: WrStLA 1.4.6.A9.6.-K-Kart. 15/16628/05/16628/05, ein Faksimile in Ettl/Murauer, Kelsen (2010) 21. 79 Die Bar Mitzwa wird am ersten Sabbat nach dem 13. Geburtstag gefeiert. Da für die Berechnung des Festes der jüdische Mondkalender maßgeblich ist, handelte es sich bei diesem Datum um den 18. Tischri 5655 (= 18. Oktober 1894), einen Donnerstag, die Bar Mitzwa hätte somit am 20. Tischri 5655 (= 20. Oktober 1894) stattgefunden. 80 Gesetz v. 5. 3. 1862 RGBl 18 womit die grundsätzlichen Bestimmungen zur Regelung des Gemeindewesens vorgezeichnet werden (Reichsgemeindegesetz). Vgl. Burger, Heimatrecht und Staatsbürgerschaft (2014) 70. 81 §§ 6 f. Gesetz v. 3. 1 2. 1863 RGBl 105 betreffend die Regelung der Heimatverhältnisse (Heimatrechts-Gesetz). 82 Kunz, Staatsangehörigkeit und Option (1928) 107.
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1. Kapitel: Herkunft, Kindheit und Jugend
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Kelsen um die Jahrhundertwende exakt beschrieben. (Gut möglich daher, dass Kunz dieses Beispiel von Hans Kelsen in dessen Privatseminar übernommen hatte.) Tatsächlich waren Adolf und Auguste Kelsen, aber auch ihre Kinder Hans, Ernst, Gertrude und Paul Fritz noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Brody heimatberechtigt, obwohl Adolf vermutlich83 seit 1864 nicht mehr und der Rest seiner Familie niemals in Brody lebte. Mit diesem Problem stand die Familie Kelsen freilich nicht alleine; vielmehr war das Auseinanderklaffen von Wohnort und Heimatort für immer mehr Familien in der Monarchie ein nicht geringes Problem – zumal die Gründe, warum eine »Abschaffung« in den Heimatort stattfinden konnte, vielfältig und die Willkür der Behörden in diesem Punkt besonders gefürchtet waren.84 Erst 1896 wurde das Heimatgesetz dahingehend novelliert, dass die »ausdrückliche Aufnahme in den Heimatverband […] von der Aufenthaltsgemeinde demjenigen österreichischen Staatsbürger nicht versagt werden [konnte], welcher nach erlangter Eigenberechtigung durch zehn der Bewerbung um das Heimatrecht vorausgehende Jahre sich freiwillig und ununterbrochen in der Gemeinde aufgehalten« hatte.85 Der Wechsel des Heimatrechtes umfasste auch alle jene, die ihr Heimatrecht von dem des Anspruchsberechtigten ableiteten, also Ehefrau und Kinder. Als Beginn der zehnjährigen Frist wurde der 1. Jänner 1891 festgelegt – somit war der erste Tag, an dem das Heimatrecht erworben werden konnte, der 1. Jänner 1901. Und tatsächlich wurden bereits unmittelbar darauf, mit Wirkung vom 25. Jänner 1901, Adolf, Auguste, Hans, Ernst, Gertrude und Paul Fritz Kelsen in den Heimatverband der Gemeinde Wien aufgenommen.86
2. Schulzeit a) Die Schulen Da Hans Kelsen im Oktober 1881 geboren worden war, wurde er im September 1888 schulpflichtig. Die Eltern hatten ehrgeizige Pläne für ihren Erstgeborenen und schickten ihn nicht in die nächstgelegene öffentliche Volksschule, sondern in die knapp 700 Meter von ihrer Wohnung entfernte Evangelische Schule am Karlsplatz (IV. Bezirk). Die 1794 gegründete Schule der Evangelischen Gemeinde Augsburger und Helvetischen Bekenntnisses in Wien umfasste zu jener Zeit eine fünfklassige Volksschule 83 Die letzte diesbezügliche Nachricht datiert vom 13. 3. 1880, als die für Brody zuständige Bezirkshauptmannschaft dem Prager Magistrat auf dessen Anfrage mitteilte, dass »Adolf Kelsen [sic!] während seines Aufenthaltes in Brody nicht beanstandet wurde – derselbe aber seit längerer Zeit in Brody abwesend war.« Zit. n. Kreuz, Prager Wurzeln (2009) 26 Anm. 34. 84 Dazu umfassend Reiter, Ausweisungsrecht (2000). 85 § 2 Gesetz v. 5. 1 2. 1896 RGBl 222 wodurch einige Bestimmungen des [Gesetzes v. 3. 1 2. 1863 RGBl 105] betreffend die Regelung der Heimatverhältnisse, abgeändert werden. 86 Beschluss des Wiener Gemeinderatsausschusses v. 25. 11. 1901, Zl 38116, B. A. Z. 28281/IV ex 1901 (schriftliche Auskünfte des Magistrats der Stadt Wien, Magistratsabteilung 35, vom 16. 4. und vom 13. 8. 2007); vgl. dazu schon Olechowski, Herkunft (2008) 862.
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
sowie eine darauf aufbauende dreiklassige Bürgerschule und hatte den Status einer Privatschule mit Öffentlichkeitsrecht. Dies bedeutete, dass die staatlichen Lehrpläne einzuhalten waren, aber der private Schulerhalter die Lehrer frei auswählen konnte, dafür allerdings auch den Großteil der Kosten zu bestreiten hatte, weshalb die Eltern Schulgeld zahlen mussten.87 Vor allem aus finanziellen Gründen war die Evangelische Schule dazu übergegangen, auch nicht-evangelische Schüler aufzunehmen; die katholischen Kinder waren mittlerweile so zahlreich geworden, dass für diese 1880 ein eigener Religionsunterricht eingeführt worden war. Jüdische Kinder dagegen mussten Privatunterricht in ihrer Religion nehmen und sich jährlich durch ein Zeugnis darüber ausweisen.88 Kelsen wird also in jenen Jahren einen Privatunterricht in israelitischer Religion erhalten haben, der dieselben Lehrinhalte hatte wie jener an solchen Volksschulen, wo es öffentlichen israelitischen Religionsunterricht gab: Eine Unterweisung in der biblischen Geschichte von der Erschaffung der Welt bis zum Tod des Mose, Basiskenntnisse in hebräischer Sprache und Schrift, Memorieren bestimmter Gebete.89 Es sind weder die Namen der Religions‑ noch der sonstigen Lehrer Kelsens aus dieser Zeit bekannt; auch seine Schulzeugnisse sind nicht erhalten.90 Métall schreibt in seiner Biographie, dass Kelsen keine Auszeichnung (»Vorzug«) erlangte und daher nicht vom Schulgeld befreit wurde. Als »die Zahlung des Schulgeldes für den in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Vater eine zu schwere Last wurde,« musste Kelsen »die letzte Volksschulklasse in der öffentlichen Schule im IV. Wiener Gemeindebezirk, in welchem die Eltern wohnten, besuchen, was der Junge als erniedrigend, wenngleich selbst dafür verantwortlich, weil nicht zum ›Vorzugsschüler‹ aufgestiegen, empfunden hat.«91 Bemerkenswerterweise erwähnt Kelsen selbst diesen Schulwechsel in seiner Autobiographie nicht. Auch aus der öffentlichen Volksschule – sie befand sich in der Alleegasse (heute Argentinierstraße) Nr. 11 – sind keine Nachrichten über Kelsens Schulleistungen bekannt.92 Es darf bezweifelt werden, dass diese wesentlich besser als zuvor in der 87 Käppel/Pilečka, Die Evangelische Schule (1894) 43; allgemein zur Organisation des Volks‑ und Bürgerschulwesens Engelbrecht, Bildungswesen IV (1986) bes. 114 f. 88 Käppel/Pilečka, Die Evangelische Schule (1894) 49 ff., 80. 89 Rosenfeld, Der jüdische Religionsunterricht (1920) 7. 90 Diese dürften nach Auskunft von Dr. Ernst Petritsch (HHStA) beim Brand des Gebäudes in den letzten Kriegstagen 1945 vernichtet worden sein. 91 Métall, Kelsen (1969) 3. – Die exakte Höhe des Schulgeldes ist nicht mehr feststellbar; eine Übersicht bei Käppel/Pilečka, Die evangelische Schule (1894) 62 nennt für das Jahr 1889 Gesamteinnahmen von 16.798 fl an Schulgeldern, was für jeden der damals 1315 Schülerinnen und Schüler einen jährlichen Beitrag von 12,77 fl bedeutet hätte. Da jedoch, wie erwähnt, Vorzugsschüler vom Schulgeld befreit wurden und wohl auch Ermäßigungen gewährt wurden, war die Last für die übrigen Schüler bzw. deren Eltern noch höher. 92 Diese Volksschule existiert heute nicht mehr; auch im Wiener Stadtschulrat sind nach Auskunft von Frau Amtsdirektorin Gerrit Lasar keine Unterlagen mehr vorhanden. Dass Kelsen diese Schule besuchte, ergibt sich aber aus dem »Haupt-Katalog« des Akademischen Gymnasiums für die Klasse I.a, 1892/3, Pag. 39.
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Evangelischen Volksschule waren. Dennoch hielt der Vater, Adolf Kelsen, an seinem Plan fest, seinem ältesten Sohn eine humanistische Bildung zukommen zu lassen, und meldete Hans, sobald dieser das erforderliche Alter von zehn Jahren erreicht hatte, zur Aufnahmsprüfung am Akademischen Gymnasium an, auch wenn dies erneut die Zahlung von Schulgeld bedeutete. Die Prüfung fand entweder Mitte Juli oder Mitte September 1892 statt; geprüft wurden Religion, Schreiben, Formenlehre der deutschen Sprache, das Analysieren einfacher Sätze, Rechtschreibung sowie die vier Rechenarten mit ganzen Zahlen.93 Hans Kelsen bestand und wurde im Herbst 1892 zusammen mit 45 anderen Knaben94 Schüler der Klasse Ia.95 Das Akademische Gymnasium ging auf eine Gründung der Jesuiten im Jahr 1553 zurück und war damit Wiens ältestes Gymnasium. Die Bezeichnung »akademisch« erinnerte noch an die ursprüngliche enge organisatorische Verbindung mit der Wiener Universität, war aber zu der Zeit, in der Kelsen diese Schule besuchte, nur mehr ein schmückender Titel ohne praktische Bedeutung. Vielmehr war die Schule, die nach der Aufhebung des Jesuitenordens 1774 zunächst von den Piaristen geleitet worden und seit 1850 eine staatliche Anstalt war, so wie alle anderen Gymnasien Wiens nach dem »Organisationsentwurf« des k. k. Unterrichtsministeriums von 1849 eingerichtet.96 Unter Leitung des damaligen Ministers Leo Graf von Thun und Hohenstein (1849–60) hatten die beiden Schulreformer Franz Exner und Hermann Bonitz den sechsjährigen Gymnasialunterricht, der noch ganz auf die klassische Philologie und die Geschichte konzentriert gewesen war, um zwei Jahre verlängert und den Fächerkanon auf die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer ausgedehnt; in den letzten beiden Jahren wurde auch ein »Philosophisches Propädeutikum« gelehrt. Dafür waren die beiden philosophischen Jahrgänge entfallen, die bisher jeder Universitätsstudent an der philosophischen Fakultät zu absolvieren gehabt hatte, bevor er sich einer der drei »höheren« Fakultäten (Theologie, Jus, Medizin) zuwenden konnte. Die von Exner und Bonitz eingeführte Maturitätsprüfung, die den Abschluss des Gymnasiums bildete, berechtigte unmittelbar zum Studium an allen Fakultäten der Universität.97
93 Akademisches
Gymnasium, Jahresbericht für das Schuljahr 1891–92 (1892) 35. waren am Akademischen Gymnasium erst ab 1896 und zunächst nur als Externistinnen zugelassen, so z. B. 1897 Elise Richter (die sich 1905 als erste Frau an der Universität Wien habilitierte) oder 1901 Lise Meitner, eine Pionierin der Kernphysik; vgl. Winter, Akademisches Gymnasium (1996) 195, 206. 95 Akademisches Gymnasium, Jahresbericht für das Schuljahr 1892/93 (1893) 40. 96 Genehmigt mit ks. Verordnung v. 16. 9. 1849 RGBl 393. Der Entwurf selbst ist im RGBl nicht abgedruckt, sondern wurde selbständig publiziert; Auszüge finden sich bei Engelbrecht, Bildungswesen IV (1986) 525–530 (allgemeine Vorbemerkungen) und 494–499 (Stundenaufteilung). Vgl. zum Akademischen Gymnasium Winter, Geschichte (2003), sowie auch die Bemerkungen bei Hülsmann, Mises (2007) 37. 97 Engelbrecht, Bildungswesen IV (1986) 147 ff.; Ogris, Universitätsreform (1999) 12; John ston, Geistesgeschichte (2006) 81. 94 Mädchen
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
Neben dem Gymnasium waren alternative Schultypen, wie insbesondere die Realschule, eingeführt worden, womit das Gymnasium »seine Monopolstellung als allgemeinbildende, zur Hochschulreife führende Bildungseinrichtung« verloren hatte.98 Dennoch war das Gymnasium weiterhin die führende Bildungseinrichtung im Sekundarbereich und der Besuch des Gymnasiums für Söhne aus »besserem Hause«, auch wenn sie nicht zu studieren beabsichtigten, geradezu eine gesellschaftliche Pflicht.99 Insbesondere das Akademische Gymnasium in Wien erfreute sich bei den Söhnen der »liberal-bürgerlich-kulturellen Elite« steigender Beliebtheit und war hoch angesehen.100 Hervorzuheben ist, dass der Anteil der jüdischen Gymnasiasten, der in Wien sonst bei rund 30 %, also ohnehin schon wesentlich über dem jüdischen Bevölkerungsanteil Wiens, lag, im Akademischen Gymnasium besonders hoch, nämlich 45 % war und damit sogar jenen der katholischen Schüler übertraf:101 Im Jahre 1892 besuchten 205 israelitische und 203 katholische Knaben das Gymnasium, ferner 38 evangelische A. B., sieben evangelische H. B., zwei griechisch-orientalische102, zwei türkisch-israelitische103 und vier konfessionslose Schüler. In Kelsens Klasse war das Übergewicht der israelitischen Schüler mit 20 gegenüber 17 katholischen und 6 evangelischen Schülern besonders stark.104 Bezüglich der sozialen Herkunft der Schüler sind die Jahresberichte des Gymnasiums recht aufschlussreich, zumal sie akribisch festhalten, wieviel jeder einzelne Schüler bei der Weihnachtssammlung spendete: Die Beträge lagen zwischen 30 kr und 3 fl, Kelsen lag mit einem Gulden pro Jahr sozusagen im »Mittelfeld«.105 Die Schüler kamen nicht nur aus Wien, sondern aus nahezu allen Kronländern der Monarchie und aus dem Ausland, doch war der Anteil fremdsprachiger Schüler äußerst gering (rund 0,5 %).106 Seit 1866 befand sich das Akademische Gymnasium in dem vom Wiener Dombaumeister Friedrich v. Schmidt in neugotischem Stil errichteten Gebäude am – erst 98 Engelbrecht, Bildungswesen IV (1986) 157. Wie Hülsmann, Mises (2007) 35, hervorhebt, wurden nur 5 % der Kinder eines Jahrganges in ein Gymnasium aufgenommen. 99 Jabloner, Kelsen and his Circle (1998) 370. 100 Winter, Geschichte (2003) 58. 101 Winter, Das akademische Gymnasium (1996) 160 f. 102 So der staatliche Name für die vorreformatorischen Kirchen des byzantinischen Ritus, die im allgemeinen Sprachgebrauch als »griechisch-orthodox« bezeichnet werden: Verordnung v. 29. 11. 1864 RGBl 91. 103 Es handelte sich um türkische Staatsbürger israelitischer Konfession, die aufgrund entsprechender Verträge mit der Hohen Pforte einen besonderen religionsrechtlichen Status genossen. Vgl. dazu Burger, Heimatrecht und Staatsbürgerschaft (2014) 74. 104 Die Zahlen stammen aus der Schülerstatistik, die zu Ende des Schuljahres 1892/93 aufgestellt wurde. Die Gesamtzahl der Schüler der 1a betrug aufgrund von Ein‑ und Austritten 45: Akademisches Gymnasium, Jahresbericht für das Schuljahr 1892/93 (1893) 42 f. Vgl. zur Bedeutung gymnasialer Bildung für die »jüdische Bürgerschicht« auch Rozenblit, Die Juden Wiens (1989) 106 und die dort zitierten Bemerkungen Stefan Zweigs. 105 Laut https://www.eurologisch.at/docroot/waehrungsrechner/#/ [Abfrage vom 27. 11. 2019] (vgl. Anm. 66) entspricht dies einer Kaufkraft von heute (2019) € 14,13. 106 Zu den öffentlichen Schülern kamen noch elf Privatschüler (»Privatisten«); zwei von ihnen wurden Kelsens Klasse zugezählt. Sie waren vorwiegend deutscher Sprache und israelitischer Konfession.
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später so benannten – Beethovenplatz unweit des Stadtparks (I. Bezirk).107 Das ursprünglich mit Gaslampen ausgestattete Gebäude erhielt eben zu jener Zeit, als Kelsen hier zur Schule ging, elektrische Beleuchtungskörper108 – Indiz für eine technische Entwicklung, die vielleicht auch gerade in jener Zeit Hans Kelsens Vater schwer beschäftigte. Die Schule verfügte über eine Lehrer‑ und eine Schülerbibliothek, letztere umfasste 1.363 Bände, vorwiegend klassische und Geschichtsliteratur, doch befanden sich (dank Schülergeschenken) auch Werke wie »Buffalo Bill« darunter.109 Direktor des Akademischen Gymnasiums war während der gesamten Schulzeit Kelsens der klassische Philologe Friedrich Slameczka; als Lehrer hatte ihn Kelsen von der V. bis zur VII. Klasse, und zwar im Griechischunterricht.110 Der einzige Lehrer, der Kelsen alle acht Jahre erhalten blieb,111 war der israelitische Religionslehrer Dr. Adolf Weiß, der auch Verfasser eines »Lehrbuches der jüdischen Religionsgeschichte« war, das im Unterricht verwendet wurde. Arthur Schnitzler, der zwanzig Jahre vor Kelsen Schüler im Akademischen Gymnasium war, schildert uns Weiß als einen »sehr gelehrte[n]«, aber auch »jähzornige[n], ja bösartige[n] Mensche[n], der die Achtung, die ihm vielleicht mit Unrecht versagt wurde, durch kreischende Strenge zu erzwingen suchte.«112 Noch zwei weitere Lehrer hatte Schnitzler mit Kelsen gemeinsam: Zu nennen ist zunächst Dr. Ludwig Zitkovksy, der Kelsen während der ersten vier Jahre sowie auch in der VII. Klasse die Fächer Geschichte und Geographie lehrte. Er war Privatdozent an der Universität Wien sowie Dozent an der Akademie der bildenden Künste und hatte auch der Erzherzogin Gisela Privatunterricht gegeben;113 Schnitzler charakterisierte ihn als »deutschtümelnd«, seine abfälligen Bemerkungen waren aber wohl vor allem auf den unterschiedlichen literarischen Geschmack von Schüler und Lehrer zurückzuführen.114 Der dritte gemeinsame Lehrer war Josef Mik, welcher Kelsen von der ersten bis zur siebenten Klasse in den naturwissenschaftlichen Fächern (Naturgeschichte und Physik), in der Unterstufe zusätzlich in Mathematik unterrichtete und der sich einen internationalen Ruf als Entomologe (Insektenforscher) erworben hatte.115 Auch über ihn wusste Schnitzler nichts Gutes zu berichten, sondern meinte, 107 Nach Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger 1892 lautete die postalische Adresse damals noch I., Christinengasse 6. 108 Winter, Geschichte (2003) 66. 109 Akademisches Gymnasium, Jahresbericht für das Schuljahr 1893/94 (1894) 30. 110 Vgl. zu ihm Winter, Das akademische Gymnasium (2003) 99 ff. 111 Die Angaben zu den Lehrern folgen den Jahresberichten: 1892/93, 23 f.; 1893/94, 21 f.; 1894/95, 29 f.; 1895/96, 19 f.; 1896/97, 49 f.; 1897/98, 30 f.; 1898/99, 1 f.; 1899/1900, 1 f. 112 Schnitzler, Jugend in Wien (1920) 81. Die dortige Bezeichnung als »Doktor David Weiss« beruht offenbar auf einem Versehen Schnitzlers, vgl. die editorische Anmerkung ebd. 355. 113 Dr. Ludwig Zitkovksy, Ritter von Semessova und Szochorad, geb. Wien 23. 8. 1841, gest. Gmunden 8. 9. 1902; vgl. über ihn Slamecka, Zitkovsky (1903); Winter, Das akademische Gymnasium (1996) 120 f., 124. 114 Schnitzler, Jugend in Wien (1920) 47. 115 Josef Mik, geb. Hohenstadt (Zábřeh/CZ) 23. 2 . 1839, gest. Wien 13. 10. 1900. Seit 1871 unterrichtete er am Akademischen Gymnasium. Sein wissenschaftliches Spezialgebiet waren Dipteren (= zweiflügelige Insekten), über die er auch in den Jahresberichten des Gymnasiums von 1877/78 und von 1893/94 Beiträge verfasste. Im Februar 1899, also während Kelsens VII. Schuljahr, trat
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dass er »in trockener, ja verdrossener Weise« unterrichtete und gab ihm mittelbar sogar die Schuld daran, dass sich ein »ausgeprägtes naturwissenschaftliches Interesse« bei ihm, Schnitzler, nicht zeigte.116 Wenigstens letzteres hätte Kelsen nicht behaupten können, denn immerhin schrieb er in seiner Autobiographie, dass er die Mittelschule verließ, »mit der Absicht Philosophie, Mathematik und Physik zu studieren«.117 Dennoch wird auch Mik bei Kelsen kaum Begeisterung hervorgerufen haben, zumal Kelsen in seiner Autobiographie keinen einzigen Lehrer namentlich nannte, sondern lediglich pauschal feststellte: »Meine Lehrer waren nicht danach mir groesseres Interesse fuer die Schule abzugewinnen.«118 Von Kelsens Schulkollegen am Akademischen Gymnasium ist hier besonders der spätere Wirtschaftswissenschaftler Ludwig v. Mises hervorzuheben. Der Sohn des Eisenbahningenieurs Dr. Arthur Edler v. Mises war am 29. September 1881 in Lemberg geboren worden, also nur wenige Tage älter als Kelsen, und hatte gleichfalls jüdisch-galizische Wurzeln.119 Die ersten sieben Jahre des Gymnasiums saß er in Kelsens Parallelklasse, erst im achten Jahr ging die Gesamtzahl der Schüler des Jahrganges auf 38 zurück, weshalb beide Klassen vereinigt und Kelsen und Mises auf diese Weise Klassenkollegen wurden. Die beiden verband fortan eine »lebenslange Freundschaft«.120 Ludwigs um ein Jahr jüngerer Bruder, der spätere Mathematiker Richard v. Mises,121 besuchte die darunter liegende Klasse, von Kontakten zwischen ihm und Kelsen ist nichts bekannt. Ein weiterer nachmaliger Wirtschaftswissenschaftler, mit dem Kelsen schon seit der Schulzeit Kontakte hatte, war Hans Mayer. Dieser war am 7. Februar 1879 in Wien geboren, also mehr als zwei Jahre älter als Kelsen und Mises, hatte aber sowohl die I. Klasse (im Gymnasium der Theresianischen Akademie) als auch die II. Klasse (im Akademischen Gymnasium, wo er dann blieb), wiederholen müssen, weshalb er ab dem Herbst 1893 Klassenkollege von Mises, ab dem Herbst 1899 auch von Kelsen war.122 Später sollte Kelsen bei der Berufung von Mayer als Ordinarius an die Universität Wien 1923 entscheidend mitwirken123 und Mayer umgekehrt 1947 die Mik in den Ruhestand und erhielt zu diesem Anlass das Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens verliehen. Vgl. Akademisches Gymnasium, Jahresbericht für das Schuljahr 1894/95, 46 und 1898/99, 17; Winter, Das akademische Gymnasium (1996) 110 f.; Harald Riedl, Mik Josef, in: ÖBL, 28. Lfg. (Wien 1974) 279 f. 116 Schnitzler, Jugend in Wien (1920) 75. 117 Kelsen, Autobiographie (1947) 3 = HKW I, 34; vgl. auch Lepsius, Dante (2015) 81. 118 Kelsen, Autobiographie (1947) 1 = HKW I, 31. 119 Umfassend Hülsmann, Mises (2007), bes. 33 ff. zu Mises’ Schulzeit; die Parallelen zwischen Kelsen und Mises werden besonders von Silverman, Law and Economics (1984) 29 hervorgehoben; vgl. auch Gaugusch, Wer einmal war 2 (2016) 2294–2300, bes. 2296. 120 Métall, Kelsen (1969) 3. Vgl. auch Hülsmann, Mises (2007) 41. 121 Vgl. zu ihm Stadler, Der Wiener Kreis (2015) 472 f. 122 Vgl. zu ihm Mayer, Selbstdarstellung (1952); Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 560–563. 123 Siehe unten 312.
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Aufnahme von Kelsen in die Österreichische Akademie der Wissenschaften mit beantragen.124 Aber noch auf eine andere, sehr persönliche Art und Weise waren Mayer und Kelsen miteinander verbunden: Am 10. Juni 1905, als Kelsen in die römisch-katholische Kirche aufgenommen wurde, war Hans Mayer sein Taufpate.125 b) Der Unterricht Bei einer näheren Untersuchung der Lehrinhalte, mit denen Kelsen in seiner Gymnasialzeit konfrontiert wurde,126 fällt zunächst die dominierende Stellung der klassisch-philologischen und historischen Fächer auf: Latein wurde ab der ersten, Griechisch ab der dritten Klasse unterrichtet. Die lateinischen Autoren und die Reihenfolge, in der sie unterrichtet wurden – der Reigen spannte sich von Caesar über Ovid, Cicero, Sallust und einigen anderen klassischen Schriftstellern bis hin zu Tacitus –, unterschieden sich kaum vom Kanon, der heutzutage an humanistischen Gymnasien gelesen wird. Doch war die Beschäftigung mit ihnen aufgrund der längeren zur Verfügung stehenden Zeit wesentlich intensiver, auch hatte Kelsen bei seiner Matura nicht nur Texte vom Lateinischen ins Deutsche (und zwar Ausschnitte aus Ovids »Epistulae ex Ponto«), sondern auch deutsche Texte (aus den »Stilübungen« von Adalbert Meingast) ins Lateinische zu übersetzen. Im Griechischunterricht kam Kelsen auch in Kontakt mit griechischer Philosophie: So waren in der VIII. Klasse neben der »Antigone« von Sophokles und der »Odyssee« des Homer auch einige Schriften Platons (nämlich die »Apologie« sowie die Dialoge »Kriton« und »Euthy phron«) Gegenstand des Unterrichts. Ob es allerdings der Griechischlehrer auch verstand, die Inhalte dieser Schriften den Schülern nahezubringen, muss offen bleiben.127 Zur Matura erhielt Kelsen einen Ausschnitt von Demosthenes’ Rede gegen Leptines zur Übersetzung ins Deutsche.128 Kelsen lernte in der Schule keine einzige lebende Fremdsprache: Englisch und Französisch, jene Sprachen, die er ab 1933 so 124 Siehe
unten 769.
125 Pfarramt Sta. Maria Rotunda, Wien, Geburts‑ und Taufbuch Nr. XII (1905–1941, Konvertiten),
fol 9 f. = Taufregister VI B (Copie VI) fol 233. Der Eintrag erfolgt nach der Taufe Nr. 12/1905, die Taufe Kelsens selbst wird – wie eine Konversion eines akatholischen Christen zum Katholizismus – ohne Nummer geführt, offenbar, da sie im Gegensatz zu einer Kindertaufe nicht auch zugleich Geburteneintrag ist. – Über die Gründe, weshalb Hans Kelsen Hans Mayer zu seinem Taufpaten machte, kann nur spekuliert werden; einer dieser Gründe könnte in der Gleichheit der Vornamen liegen, zumal es üblich war, dass der Getaufte sich den Namen seines Taufpaten aneignete (vgl. etwa den Fall von Rudolf Aladár Métall, unten 395), Kelsen jedoch seinen Namen nicht ändern wollte. 126 Die folgenden Ausführungen basieren, soweit nichts Anderes angegeben, auf den gedruckten Jahresberichten des Akademischen Gymnasiums. Vgl. auch die Ausführungen bei Hülsmann, Mises (2007) 33 f. 127 Wilhelm Jerusalem, Privatdozent für Philosophie an der Universität Wien und Griechischlehrer am Piaristengymnasium (wo er u. a. Kelsens Jugendfreund Otto Weininger unterrichtete) erklärte, dass man »nur in seltenen Ausnahmefällen« versuchen könne, im Rahmen des Griechischunterrichts an der Mittelschule »tiefer in [Platons] Philosophie zu dringen.« Zit. n. Rodlauer, Otto Weininger (1990) 15. 128 Die durchgenommene Literatur entsprach den staatlichen Lehrplänen; dieselben Schriftsteller und Werke hatte daher auch z. B. Weininger zwei Jahre zuvor im Piaristengymnasium zu
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dringend benötigte, wurden lediglich als Freifächer angeboten und von Kelsen nicht belegt.129 Als Erwachsener musste er daher das Erlernen beider Sprachen, offenbar durch Privatunterricht, mühsam nachholen, das Englische, wie er selbst angibt, während der Zeit seines Heidelberg-Aufenthaltes 1907/08.130 Der Geschichtsunterricht hatte in der fünften Klasse das Altertum, in der sechsten das Mittelalter und in der siebenten Klasse die Neuzeit zum Gegenstand; in der achten Klasse wurde »österreichische Vaterlandskunde« unterrichtet. Die Lehrbücher131 waren durchwegs in patriotischem Stil und unkritisch-narrativ gehalten; so wurde z. B. der Verlauf der Revolution 1848 recht ausführlich und aus kaisertreuer Sicht behandelt, hingegen wurde auf die Gründe, die zu ihrem Ausbruch geführt hatten, so gut wie gar nicht eingegangen. Im Deutschunterricht lag das Schwergewicht auf den Weimarer Klassikern, neuere Literatur wurde kaum besprochen. In Kelsens achter Klasse standen Schillers »Wallenstein«, Grillparzers »König Ottokar«, sowie die »Hamburgische Dramaturgie« und der »Laokoon« von Lessing auf dem Programm.132 Kelsen berichtet, dass er sich in seiner Schulzeit auch und gerade außerhalb des Unterrichts viel mit »schoener Literatur« beschäftigte, und nennt das Ausmaß der in der Schulzeit gelesenen »aeltere[n] deutsche[n] Literatur […] betraechtlich«. Welche Werke dies waren, ist nicht bekannt, dagegen nennt Kelsen auch mehrere zeitgenössische Romane, die ihn in seiner Schulzeit begeisterten: Es waren dies die »Problematischen Naturen« von Friedrich Spielhagen sowie die drei Romane »Victoria«, »Pan« und »Mysterien« von Knut Hamsun. Dies ist insofern bemerkenswert, da Hamsun später offen mit dem Nationalsozialismus sympathisierte. Kelsens Neigung zur Literatur ging so weit, dass er sich »auch selbst in Gedichten und kurzen Novellen versucht[e]«; drei dieser Gedichte erschienen auch in der »Wiener Hausfrauen-Zeitung«, die seine Mutter abonniert hatte. Kelsen berichtet, dass er auf diese ersten Publikationen »als Schueler der 5. oder 6. Gymnasialklasse natuerlich sehr stolz war«.133 Tatsächlich aber erschienen diese Gedichte zwischen März und Oktober 1900, also erst während der 8. Klasse bzw. erst nach seiner Matura.134 Kelsen hat sich hier in seiner Erzählung – bewusst oder unbewusst – um drei Jahre jünger gemacht, vielleicht, um die Bedeutung dieser literarischen Gehversuche herunterzuspielen. Umso bemerkenswerter ist es, lesen: Rodlauer, Otto Weininger (1990) 14. Die Themen von Kelsens schriftlicher Reifeprüfung sind im Jahresbericht des Akademischen Gymnasiums 1899/1900, 13 angegeben. 129 Das Interesse an diesen Freigegenständen war offenbar sehr gering, zumal sie nicht am Akademischen Gymnasium selbst, sondern am Franz Josephs-Gymnasium in der Hegelgasse (Vorgänger des heutigen Gymnasiums in der Stubenbastei 6–8) angeboten wurden. 130 Kelsen, Autobiographie (1947) 8 = HKW I, 42. 131 Loserth, Allgemeine Weltgeschichte I–III (1877–81); Hannak, Vaterlandskunde (1886). 132 Die durchgenommene Lektüre in Latein, Griechisch und Deutsch in: Akademisches Gymnasium, Jahresbericht für das Schuljahr 1899/1900 (1900) 1–5. 133 Kelsen, Autobiographie (1947) 1 f. = HKW I, 32 f. 134 Der Achtzeiler »Zu spät« erschien in der Wiener Hausfrauen-Zeitung vom 25. 3. 1900; das Sonett »Liebesglück« in derselben Zeitung vom 2. 9. 1900, der Achtzeiler »Ein Sterbenswort« schließlich am 14. 10. 1900. Die Gedichte sind abgedruckt in HKW I, 32 f.
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dass er sie überhaupt erwähnt hat, was dafür spricht, dass er auf diese Gedichte nach wie vor stolz war, es aber nicht offen zugeben wollte. – Es sei hier angemerkt, dass Kelsen auch später immer wieder Gedichte schrieb, die allerdings zu seinen Lebzeiten niemals veröffentlicht wurden.135 Zurück zu den Unterrichtsfächern: Die Behauptung, der Mathematikunterricht an Gymnasien des 19. Jahrhunderts sei »nicht über die elementaren Kenntnisse« hinausgegangen,136 erscheint angesichts der Aufgaben, die Kelsen bei seiner Mathematik-Matura zu lösen hatte, ungerechtfertigt: Hier waren die Summe einer arithmetischen Reihe, mehrere Winkel sowie die Oberfläche eines Kugelausschnittes zu berechnen und außerdem ein Satz, wonach sich der Schnittpunkt zweier Tangenten auf einer bestimmten Linie befinden solle, zu beweisen. Derartige Themen werden noch heute in der 5.–7. Klasse Gymnasium unterrichtet und könnten dementsprechend noch heute als Maturaaufgaben gestellt werden.137 Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass Kelsen höchstens ein Tabellenwerk zum Logarithmieren, aber sicherlich keinen Rechenschieber benutzen durfte (und modernere Hilfsmittel gab es zu jener Zeit nicht), sodass die Anforderungen an ihn sogar als höher eingestuft werden müssen, als sie bei Maturanten unserer Zeit sind. Beim Unterricht der naturwissenschaftlichen Fächer ist stets auch der damalige Stand der Forschung zu berücksichtigen, durch den er sich wesentlich von den modernen Naturwissenschaften unterschied: In Kelsens Schulzeit gab es weder die Quantentheorie noch die Relativitätstheorie; gelehrt wurde daher ausschließlich die Newtonsche Physik.138 Allerdings wurde im Naturgeschichtsunterricht auch kein Darwin erwähnt, obwohl dessen Lehren zu jener Zeit sehr wohl bekannt waren und auf akademischem Boden viel diskutiert wurden. Zwar enthält das Zoologielehrbuch Kelsens den Satz, dass »ganze Familien und Ordnungen [von Tierarten] im Laufe der Zeiten aus dem Reiche der lebenden Wesen verschwunden [seien], um anderen, größtentheils vollkommeneren Formen Platz zu machen.«139 Doch einen Hinweis, dass sich die einen Arten aus den anderen entwickelt hätten, suchen wir vergeblich. Die Somatologie des Menschen wird beziehungslos neben der Zoologie gelehrt (übrigens anhand der »kaukasische[n] oder weiße[n] Rasse […] welche nicht nur den vollendetsten Körperbau, sondern auch die größte geistige Begabung« besitze140). Die Theorie, dass Mensch und Affe gemeinsame Vorfahren haben könnten, wird nicht erwähnt.
135 Zwei dieser Gedichte las Kelsen bei einem Gespräch, das Heinz Keinert Anfang Juli 1968 mit ihm führte, vor, siehe dazu noch unten 913 f. Ein drittes Gedicht mit dem Titel »Carpe Diem« wurde 1996 veröffentlicht: Schmill Ordóñez, Un poema de Hans Keslen (1996). 136 Engelbrecht, Bildungswesen IV (1986) 157. 137 Freundlicher Hinweis von Herrn Ao. Univ.-Prof. Dr. Günter Hanisch, Universität Wien. 138 Vgl. das für die III. und IV. Klasse vorgeschriebene Lehrbuch: Krist/Pscheidl, Naturlehre (1893). 139 Woldrich/Burgerstein, Zoologie (1897) 60. 140 Woldrich/Burgerstein, Zoologie (1897) 57.
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Dies führt zum Religionsunterricht, bei dem die biblische Geschichte und die jüdische Religionslehre im Vordergrund standen. Es ist nicht anzunehmen,141 dass Kelsen ein besonders vertieftes Wissen vom Talmud und/oder von der hebräischen Sprache und Schrift erhielt: Die Instruktionen für die Religionslehrer befahlen diesen ausdrücklich, nicht ins philologische Gebiet abzuschweifen, und bei der Besprechung der Glaubenslehren »lasse man sich in philosophische Erörterungen nicht ein, weiche aber den von Wissbegierde veranlassten Fragen strebsamer Schüler nicht aus.«142 Dass derartige Anweisungen nicht gerade dazu geeignet waren, bei den Schülern besonderes Interesse für das Fach zu erwecken, liegt auf der Hand. Bleibt zuletzt das Philosophische Propädeutikum, also jenes Fach, welches an Stelle der beiden ehemaligen philosophischen Jahrgänge zur Vorbereitung auf das Universitätsstudium eingeführt worden war. Es umfasste die Teilbereiche »Logik« (VII. Klasse) sowie »Empirische Psychologie« (VIII. Klasse) und wurde von einem Lehrer namens Johann Schmidt unterrichtet. Von ihm ist lediglich bekannt, dass er im Jahresbericht des Gymnasiums von 1886/87 einen Aufsatz (in lateinischer Sprache!) verfasste, in dem er die Lehren zur Psychologie von Aristoteles und von Johann Friedrich Herbart miteinander verglich.143 Dies spricht stark dafür, dass es sich bei ihm um einen Herbartianisten handelte, was nicht verwundert, da die »formale Logik nach Herbart und dessen metaphysische Psychologie« zu jener Zeit noch allgemein die Gymnasien beherrschte.144 Dass Schmidt jedenfalls ein Gegner des Materialismus war, geht auch aus Kelsens Bemerkung hervor: »Die materialistische Weltanschauung, die ich, wie ueblich, in Buechner’s ›Kraft und Stoff‹ kennen gelernt hatte, hat mich nur kurze Zeit fasziniert; und wahrscheinlich nur als Reaktion gegen die primitive religioese Einstellung der Schule, die von allem Anfang an meine Opposition wachrief.«145 141 Eine Rekonstruktion des Religionsunterrichts ist dadurch erschwert, dass die von Kelsens Lehrer Adolf Weiß verwendeten Lehrbücher heute in Bibliotheken großteils nicht mehr vorhanden sind, möglicherweise 1938 vernichtet wurden. Charakteristisch aber dürfte das in der Österreichischen Nationalbibliothek noch vorhandene Buch von Leopold Breuer, Israelitische Glaubens‑ und Pflichtenlehre (1858) gewesen sein, das – vermutlich in einer späteren Auflage – auch noch zu Kelsens Schulzeit in der IV. Klasse verwendet wurde: Es handelte sich um eine Art Katechismus, der systematisch angelegt war und nach einleitenden Abschnitten die biblischen Lehren von der göttlichen Vorsehung, von den Eigenschaften Gottes, von der Natur, der Würde und Bestimmung des Menschen darlegte und dabei immer entsprechende Bibelstellen (und zwar nicht nur aus der Tora, sondern aus dem gesamten Tanach) zitierte. Im Anschluss daran wurde »Das Mosaische Gesetz oder die Pflichtenlehre« ebenso systematisch dargelegt; der Talmud wurde dabei zwar kurz allgemein beschrieben, jedoch finden sich keinerlei (wörtliche) Talmud-Zitate. Hebräische Worte wurden stets nur im Sinne von termini technici in Klammern nach den entsprechenden deutschen Begriffen zitiert. 142 Instruktion für den jüdischen Religionsunterricht in Wien, zit. n. Rosenfeld, Der jüdische Religionsunterricht (1920) 9. Noch bis 1880 hatten die meisten jüdischen Buben hebräisch gelernt, vgl. Johnston, Geistesgeschichte (2006) 40. 143 Schmidt, Aristotelis et Herbarti praecepta (1887). 144 Brezinka, Pädagogik in Österreich I (2000) 315; Johnston, Geistesgeschichte (2006) 285. 145 Kelsen, Autobiographie (1947) 2 = HKW I, 32.
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Es war diese Bemerkung nicht nur gegen den Religionsunterricht, sondern offenbar gegen die ganze Schule gerichtet. Und wenn man sich z. B. die plumpen Methoden, mit denen den Schülern Patriotismus eingeimpft wurde, vergegenwärtigt – das Thema von Kelsens Deutschmatura lautete: »Welche sittlichen Anregungen empfangen wir durch das Studium der Geschichte Österreichs?«146 –, so ist die harsche Kritik, die Hans Kelsen seiner Schule noch fast ein halbes Jahrhundert später zudachte, wohl auch gerechtfertigt. Kelsen war offensichtlich ein hochintelligenter Jugendlicher, der viel und gerne las,147 aber durch das geringe intellektuelle Niveau des Schulunterrichts unterfordert war und wohl gerade deshalb, wie noch zu zeigen sein wird, sowohl schlechte Betragensnoten als auch schlechte Leistungsbeurteilungen erhielt. Er schreibt, dass sein Selbstbewusstsein durch die Schule ständig verletzt wurde und nach Befriedigung hungerte, die er dann letztlich in Kants Schriften fand.148 Es besteht kein Anlass, daran zu zweifeln, dass Kelsen als »Leseratte« sowohl Büchner als auch Kant und, wie er weiter angibt, auch Schopenhauer, bereits in der Schulzeit im Original gelesen hat, was erstaunlich genug ist. Aber konnte dies Kelsen ganz ohne Anleitung, ohne Einstiegshilfe? Nach dem Gesagten ist es wenig wahrscheinlich, dass ihm Schmidt oder ein anderer seiner Lehrer eine derartige Hilfe bot; Kelsen selbst berichtet dunkel vom »Einfluss eines aelteren Freundes«, durch den er zu Schopenhauer gekommen sei. Möglicherweise war dies Otto Weininger, auf den an anderer Stelle noch zurückzukommen ist. Am nächstliegenden ist es aber, dass Kelsen einfach die Schulbücher für das Philosophische Propädeutikum wesentlich gründlicher las, als es der Durchschnittsschüler tat, und dass ihm diese Bücher die Welt der Philosophie eröffneten. Dies ist umso wahrscheinlicher, wenn man den Widerspruchsgeist Kelsens berücksichtigt und dass Schmidt selbst höchstwahrscheinlich mit den erst vor kurzem neu eingeführten Lehrbüchern keine rechte Freude haben konnte. Denn diese neuen Lehrbücher stammten von Alois Höfler, einem Anhänger der Brentano-Schule, und verdrängten in kürzester Zeit den bis dahin vorherrschenden Herbartianismus aus der Schule.149 Das für die VII. Klasse konzipierte Lehrbuch der Logik von Höfler folgte – auch wenn dies nicht offen gesagt und daher dem Schüler Kelsen wohl nicht bewusst 146 Akademisches Gymnasium, Jahresbericht für das Schuljahr 1900/01 (1901) 9 f. Vgl. aber auch die eher positive Bewertung dieser Maturafrage durch Hülsmann, Mises (2007) 43. 147 Vgl. die Bemerkung bei Kelsen, Autobiographie (1947) 2 = HKW I, 32. 148 Kelsen, Autobiographie (1947) 2 = HKW I, 33. Auch Hülsmann, Mises (2007) 38, muss einbekennen, dass das Gymnasium vielfach zu geringe intellektuelle Herausforderungen für hochbegabte Schüler bereit hielt. 149 Geb. Kirchdorf a. d. Krems/Oberösterreich 6. 4. 1853, gest. Wien 26. 2 . 1922. Der damalige Lehrer an der k. k. Theresianischen Akademie und spätere Wiener Ordinarius für Pädagogik hatte unter Mitwirkung seines akademischen Lehrers Alexius Meinong zunächst zwei umfangreiche Handbücher zur Logik und zur Psychologie geschrieben, welche vor allem für die Gymnasiallehrer gedacht waren, und auf deren Grundlage auch die beiden schmalen Bücher für die Schüler entstanden. Vgl. Waltraud Reichert, Höfler Alois, in: NDB 9(Berlin 1972) 312–313; Brezinka, Pädagogik in Österreich I (2000) 315; Johnston, Geistesgeschichte (2006) 299 f.
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war – im Aufbau und vielfach auch in seinem Inhalt den Logik-Vorlesungen Kants;150 der Einfluss der Brentano-Schule zeigte sich insbesondere bei der »Psychologischen Einleitung zur Logik«, in der die Logik als ein Teilgebiet der Psychologie aufgefasst wurde. Sodann aber behandelte der erste Teil, die »Elementarlehre«, ganz wie bei Kant zunächst die Lehre vom Begriff, dann jene vom logischen Urteil oder der Evidenz, zuletzt jene von den Schlüssen. In einem zweiten Teil wird auch eine allgemeine Methoden‑ oder Wissenschaftslehre dargestellt, auch hierin Kant folgend.151 Vieles, was Kelsen später in seinen Werken als ganz selbstverständlich voraussetzen wird, findet sich hier: Die Unterscheidung eines Wortes vom dahinter stehenden Begriff, womit ja später auch die Habilitationsschrift Kelsens einsetzt;152 die Begriffe Ursache und Wirkung, deren Verständnis Voraussetzung für Kelsens Lehre von der Zurechnung ist;153 oder die Beschäftigung mit Hypothesen und mit nicht näher begründbaren obersten Denkgesetzen, was später in die Lehre von der Grundnorm eingehen wird.154 Und wenn Kelsen Jahre später in seiner Streitschrift gegen Ernst v. Schwind diesem vorwirft, er kenne den Unterschied zwischen »Identität« und »Gleichheit« nicht – bei Höfler wird dieser Unterschied ausführlich erörtert.155 Wie groß der Einfluss des Höflerschen Lehrbuches auf den jungen Kelsen war, dafür liefert er uns selbst einen, wenn auch versteckten Hinweis. Denn in seiner Autobiographie berichtet er über die ersten Eindrücke, die die idealistische Philosophie auf ihn gemacht hatte: »Noch heute erinnere ich lebhaft der seelischen Erschütterung, die ich erlebte […] als mir zum ersten Mal bewusst wurde, dass die Realitaet der Aussenwelt problematisch ist.«156 – Nun bringt Höfler aber gleich auf Seite 2 die Feststellung, dass jede äußere Wahrnehmung einer Sinnestäuschung unterworfen sein kann und (nur) die innere Wahrnehmung evident ist und verweist dabei auf den bekannten Spruch Descartes’ »Cogito ergo sum«.157 Der Text, aus dem dieses Zitat stammt, war auch das erste von zehn »Lesestücken aus philosophischen Classikern«, einem kleinen Beiheft zum Lehrbuch, welches um 30 Kreuzer im Handel erhältlich war.158 Vermutlich erwarb Kelsen dieses Heft, obwohl es nicht verpflichtend für den Unterricht war, und blätterte dort von Descartes zu Locke, Hume und schließlich Kant, aus
150 Immanuel Kant, Logik (1800 aufgrund der Vorlesung Kants von Gottlob Benjamin Jäsche erstellt) (1977) 421–582. 151 Höfler, Logik (1890). 152 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 3 ff. = HKW II, 80 ff. 153 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 57 ff. = HKW II, 145 ff. 154 Höfler, Logik (1890) 19, 63 ff., 112 ff., 132 ff. 155 Höfler, Logik (1890) 54. Vgl. Kelsen, Rechtsgeschichte gegen Rechtsphilosophie? (1928) 14. 156 Kelsen, Autobiographie (1947) 2 = HKW I, 32 f. Er gibt dabei an, dass er »damals etwa 15 oder 16 Jahre alt« gewesen sei. Doch sind seine Zeitangaben öfters unzuverlässig, gerade auch hinsichtlich seiner Schulzeit (vgl. oben 52). 157 Höfler, Logik (1890) 2. 158 Höfler, Lesestücke (1896). Das erste Lesestück trägt den Titel »Über die Evidenz der inneren Wahrnehmung« und stammt aus dem Ersten Teil der »Principien der Philosophie« von René Descartes.
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dessen »Kritik der reinen Vernunft« zwei Ausschnitte abgedruckt waren.159 So wäre es auch plausibel, dass Kelsen als Schüler gerade dieses Buch von Kant als erstes gelesen hätte, was umso wahrscheinlicher ist, als die »Kritik der reinen Vernunft« ja einen weit größeren Einfluss auf Kelsen hatte als etwa die »Metaphysik der Sitten«, die angehende Juristen im Allgemeinen wohl mehr interessierte. Ein vergleichbarer Einfluss des Psychologieunterrichtes auf Kelsen kann nicht festgestellt werden. Hier verwendete das Akademische Gymnasium im Schuljahr 1899/1900 noch nicht das entsprechende Lehrbuch von Höfler, sondern jenes von Gustav Adolf Lindner,160 somit dasselbe Lehrbuch, nach dem 27 Jahre zuvor auch Sigmund Freud die Grundbegriffe der Psychologie erlernt hatte. Freuds eigene Arbeiten kamen hier natürlich noch nicht vor, durchgenommen wurde ausschließlich die Kognitionspsychologie,161 und selbst diese steckte noch in ihren Kinderschuhen. Moderne Ansätze, wie etwa die von Alexius Meinong in Österreich eingeführte Experimentalpsychologie, auf die Höfler zumindest kurz hinwies, fanden bei Lindner nicht einmal Erwähnung. c) Die Matura Kelsen erbrachte im Gymnasium, so wie schon in der Volksschule, nur mittelmäßige Leistungen162 und schloss die einzelnen Schuljahre – so wie der Großteil seiner Mitschüler – nicht mit Vorzug, sondern lediglich in der »ersten Fortgangsclasse« ab; im Halbjahrszeugnis 1899 sogar nur in der »zweiten Fortgangsclasse«;163 nur zweimal wurde ihm das Schulgeld erlassen bzw. ermäßigt.164 Hatte er in den ersten beiden Jahren noch in den meisten Fächern ein »befriedigend« erzielt, so rutschten seine Noten ab der dritten Klasse zumeist auf ein »genügend« herab. Ein »lobenswert«, was heute einem »gut« entsprechen würde, erlangte er nur im ersten und im letzten Jahr Religionsunterricht sowie zuweilen in den Fächern Mathematik, Naturgeschichte und
159 Höfler, Lesestücke (1896) Nr. VII: »Über analytische und synthetische Urtheile«, welches aus der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft stammt (B 10–17), sowie Nr. VIII, betitelt »Über den Raum« aus dem Teil über die transzendentale Ästhetik (B 36–40). 160 Lindner, Psychologie (1897); Höfler, Grundlehren der Psychologie (1897). 161 Erwähnt sei immerhin der Abschnitt über »Schlaf und Traum« bei Lindner, Psychologie (1897) 92–95, der aber keinerlei tiefenpsychologische Ansätze erkennen lässt. 162 Die folgenden Ausführungen basieren auf den im Akademischen Gymnasium verwahrten »Haupt-Katalogen« (I.a. 1892/3, Pag. 39; II.a. 1893–94, Pag. 38; III.a 1894–95, Pag. 32; IV.a 1895–96, Pag. 26; V. A 1896–97, Pag. 22; VI. A 1897–98, Pag. 18; VII. A 1898–99, Pag. 22; VIII. 1899–1900, Pag. 18), aufgrund derer die – nicht erhaltenen – Schulzeugnisse ausgestellt wurden. Die persönlichen Einträge sind praktisch unverändert wie folgt: Hans Kelsen; geboren: 11. October 1881; Geburtsort: Prag; Vaterland: Böhmen; Religionsbekenntnis: mosaisch; Muttersprache: deutsch; Vater: Adolf K., Bronceluster-Erzeuger, IV. Belvederegasse 3. In der III. Klasse sowie ab der VII. Klasse wurde der Beruf des Vaters als »Fabrikant« angegeben. 163 Offenbar aufgrund des »nicht genügend« im Fach Mathematik im Halbjahrszeugnis, das er sich aber bis zum Ende des Schuljahres wieder auf ein »befriedigend« ausbesserte. 164 Und zwar im Sommersemester der I. Klasse und im Wintersemester der III. Klasse.
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
Abb. 7: Maturafoto des Jahrganges 1900 im Akademischen Gymnasium Wien. Hans Kelsen in der 2. Reihe, 2. von links; Ludwig v. Mises vermutlich 2. Reihe 3. von links.
Physik, in der Naturgeschichte erhielt er in der II. Klasse bei Mik sogar ein »vorzüglich«, was dem heutigen »sehr gut« entsprechen würde. – Den im Archiv des Akademischen Gymnasiums verwahrten »Haupt-Katalogen« ist auch zu entnehmen, dass Hans Kelsen offenbar ein gesunder Junge war, der nur wenige Krankenstände aufwies und wenigstens im Freifach Turnen (das er allerdings nur in der Unterstufe belegte) zumeist ein »lobenswert« erhielt. Weniger dürfte ihm die Schreibtätigkeit zugesagt haben: Sowohl in der Kalligraphie, die er in der Unterstufe, als auch in der Stenographie, die er in der Oberstufe als Freifach belegte, kam er über ein »genügend« nicht hinaus; die äußere Form seiner sonstigen schriftlichen Arbeiten wurde meist mit »wenig sorgfältig« oder »flüchtig« beurteilt. Vom Gesangsunterricht meldete er sich nach der ersten Klasse wieder ab. Sogar das »sittliche Betragen« wurde von den Lehrern meist nur mit »befriedigend« beurteilt; immerhin kam eine unentschuldigte Fehlstunde in acht Schuljahren kein einziges Mal vor. Zum Maturatermin im Sommer 1900 wurde Hans Kelsen gemeinsam mit Hans Mayer, Ludwig v. Mises und weiteren 29 Schülern zugelassen. Die schriftlichen Prüfungen fanden vom 7. bis zum 11. Mai 1900 statt, die mündlichen vom 6. bis 13. Juli, und zwar unter dem Vorsitz des k. k. Landesschulinspektors Dr. August Schindler. 26 Schüler bestanden die Matura, davon fünf mit Auszeichnung.165 Die Noten Kelsens in seinem mit 9. Juli 1900 datierten Maturazeugnis166 waren: 165 Akademisches
Gymnasium, Jahresbericht für das Schuljahr 1900/01 (1901) 9 f. Gymnasium Wien, Protokoll der am k. k. akadem. Gymnasium zu Wien im Monate Juli 1900 abgehaltenen Maturitätsprüfung, Nr. 18. 166 Akademisches
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1. Kapitel: Herkunft, Kindheit und Jugend
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Sittliches Betragen: befriedigend Religionslehre: befriedigend Lateinische Sprache: genügend Griechische Sprache: genügend Deutsche Sprache: genügend Geschichte u. Geographie: befriedigend Mathematik: befriedigend Physik: genügend Naturgeschichte: lobenswert Propädeutik: befriedigend Reife zur Universität:
Reif
Bis auf eine Ausnahme gaben alle Maturanten an, studieren zu wollen, mehr als die Hälfte von ihnen, nämlich 18, nannten als gewählte Studienrichtung Jus, darunter auch Kelsen, Mayer und Mises.167 Kelsen stellte in seiner Autobiographie seiner Schule kein gutes Zeugnis aus, aber auch das Akademische Gymnasium scheint sich lange Zeit seines großen Schülers nicht erinnert zu haben: Erst am 17. November 2003, wesentlich später als andere prominente Absolventen des Akademischen Gymnasiums, erhielt auch Hans Kelsen eine Gedenktafel am Schulgebäude.168 Aber immerhin wurde schon im Juni 1993 den Maturantinnen und Maturanten je ein T-Shirt mit folgender Aufschrift geschenkt: »Nach Johann Nestroy, Franz Schubert, Kardinal Gruscha, Kardinal Rauscher, Thomas Masaryk, Julius Bittner, Hans Kelsen, Arthur Schnitzler, […] war ich am Akademischen Gymnasium Wien I«.169
3. Beim Militär Bevor Hans Kelsen sich an der Universität Wien immatrikulieren konnte, musste er allerdings noch in die k. u. k. Armee, in das Heer der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, einrücken. Denn seit Inkrafttreten des Wehrgesetzes 1868170 bestand eine 167 Jahresbericht
1900/01, 9 f. – Diese Angabe steht also im Widerspruch zu der oben erwähnten Äußerung Kelsens, dass er beim Abgang vom Gymnasium vorhatte, Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften zu studieren. Für das Jusstudium entschloss sich übrigens auch Kelsens Mitschüler Alexander Gál, er wurde später ao. Professor für Rechtsgeschichte; über seine persönlichen Beziehungen zu Kelsen ist nichts bekannt. Vgl. zu ihm Lentze, Die germanistischen Fächer (1965) 99; Olechowski, Rechtsgermanistik (2012) 90, 93; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 304 f. 168 Die Gedenktafel wurde auf Initiative des HKI und mit finanzieller Hilfe des Vereins der Freunde des Akademischen Gymnasium angebracht; ein umfassender Akt hiezu und zur Festveranstaltung am 17. 11. 2003 ist am HKI erhalten. 169 Winter, Das Akademische Gymnasium (1996) 398. 170 Das Wehrgesetz (Gesetz v. 5. 1 2. 1868 RGBl 151 womit für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder die Art und Weise der Erfüllung der Wehrpflicht geregelt wird) war militärpolitisch eine Reaktion auf die Niederlagen von 1859 und 1866; verfassungsrechtlich war es durch den Ausgleich mit Ungarn notwendig geworden, worauf an anderer Stelle noch näher
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
allgemeine Wehrpflicht, die prinzipiell »von jedem wehrfähigen Staatsbürger persönlich erfüllt werden« musste und drei Jahre in der »Linie« (= im unmittelbaren Einsatz), sieben Jahre in der Reserve und schließlich zwei Jahre in der k. k. Landwehr171 dauern sollte (§§ 1 und 4 Wehrgesetz). Von dieser allgemeinen Regelung wurden jedoch eine Reihe Ausnahmen gemacht. So hatten insbesondere Maturanten gem. § 21 Wehrgesetz das Recht, wenn sie sich freiwillig meldeten, schon nach einem Jahr aktivem Dienst als Reserveoffiziere in die Reserve überstellt zu werden (sog. Einjährig-Freiwillige). Die Einjährig-Freiwilligen hatten prinzipiell die Kosten ihrer Bekleidung, Ausrüstung und Verpflegung zu tragen; wenn sie ihre Mittellosigkeit nachweisen konnten, übernahm der Staat diese Kosten. Nach Ablauf des aktiven Jahres hatten sie noch dreimal zu Waffenübungen mit einer »jedesmaligen Dauer von längstens vier Wochen« einzurücken (§ 21 Abs 4).172 Auch Juden unterlagen der allgemeinen Wehrpflicht, was die strenggläubigen unter ihnen vor nicht geringe Probleme stellte. Denn wenn auch allgemein galt, dass religiösen Vorschriften, z. B. bei der Verpflegung, »thunlichst Rechnung getragen werden« sollte,173 so war die Einhaltung aller Gebote naturgemäß nicht möglich: In der Regel hatten jüdische Soldaten am Sabbat nur leichte Dienste zu verrichten, eine gänzliche Dienstfreistellung am Sabbat dagegen war noch 1888 abgelehnt worden. Einfacher als bei der kämpfenden Truppe waren die religiösen Vorschriften bei den Versorgungseinheiten einzuhalten, weshalb überproportional viele Juden in diesen Truppenkörpern dienten. Ein hoher jüdischer Anteil (im genannten Zeitraum: 18 %) bestand auch unter den Einjährig-Freiwilligen und den Reserveoffizieren. Dies lag zum einen daran, dass Juden einen überproportionalen Anteil der Maturanten stellten, zum anderen, dass die Möglichkeit, Offizier zu werden, für viele Juden verlockend schien, um auf diese Weise eine angesehene soziale Stellung zu erlangen.174 Dies alles hatte zur Folge, dass (im Zeitraum 1897–1911) etwa 30–37 % der Reserveoffiziere im Train jüdischer Abstammung waren.175 Die starke Verkürzung der Wehrdienstzeit einerseits, die gesellschaftlichen Aufstiegschancen, die die Offiziersstellung andererseits gerade auch für Juden bot, mögen Gründe dafür gewesen sein, dass Hans Kelsen am 27. September 1900 »als Einjährig-Freiwilliger auf eigene Kosten auf 10 Jahre im Heere und 2 Jahre in der Landwehr« in das Train-Regiment No. 1 eintrat; sein aktiver Dienst begann am einzugehen sein wird. – Zur bewaffneten Macht der k. u. k. Monarchie existiert eine unüberblickbare Menge an Literatur; vgl. hier statt vieler: Wagner, Die k.(u.)k. Armee (1987) bes. 485 ff.; zu einigen Auswirkungen der allgemeinen Wehrpflicht Moll, Mentale Kriegsvorbereitung (2016) 178 f. 171 Nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich hatte Transleithanien begonnen, neben der k. u. k. Armee eine eigene Streitkraft, die m. k. Honvéd, aufzubauen, worauf Cisleithanien reagierte, indem es ebenfalls eine eigene Streitkraft, die k. k. Landwehr, aufbaute. Vgl. das Gesetz v. 13. 5. 1869 RGBl 68 sowie Schmetterer, Kelsens Vorschläge (2016) 130. 172 Johnston, Geistesgeschichte (2006) 68. 173 Dienstreglement 1873, Punkt 239, zit. n. Topperberg, Mannschaftsmenage 104. 174 Schmidl, Habsburgs jüdische Soldaten (2014) 43, 60, 62; Deák, Der k.(u.)k. Offizier (1995) 210 f.; Höbelt, »Stehen oder Fallen?« (2015) 13. 175 Schmidl, Habsburgs jüdische Soldaten (2014) 75, 186 f.
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1. Kapitel: Herkunft, Kindheit und Jugend
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Abb. 8: Hans Kelsen zu Pferd, ca. 1915.
1. Oktober.176 Am 28. Dezember 1900 wurde er zum Gefreiten, am 1. April 1901 zum Korporal befördert; die Reserve-Offiziersprüfung legte Kelsen mit dem Ergebnis »vorzüglich« ab. Nach zwölf Monaten Dienst, am 1. Oktober 1901, wurde Kelsen mit dem Rang eines Wachtmeisters in die Reserve versetzt, am 1. Jänner 1902 zum Leutnant der Reserve befördert.177 Dreimal – im September 1902, im September 1904 und im Mai 1908 – wurde Kelsen zu jeweils vierwöchigen Waffenübungen einberufen, 1910 von der k. u. k. Armee zur k. k. Landwehr überstellt, mit 1. Jänner 1913 schließlich in die Evidenz des Landsturms übernommen, sodass er nur mehr im Falle eines Krieges mobilisiert werden konnte.178 Die ausbildenden Offiziere hatten Kelsen durchwegs gute Zeugnisse ausgestellt. So wurde ihm in den Qualifikationslisten ein »gefestigter Character« bescheinigt, er sei mit »deutlichem Pflichtgefühl, sicherem, offenem Gemüthe […] begabt, mit rascher Auffassung. Allgemein militärisch und im Traindienste sehr gut ausgebildet, hat vom Trainmateriale und der technisch-administrativen Gebahrung mit demselben, […] ziemlich gute Kenntnisse.« Kelsen, der als »mittelgroß, schlank, kräftig, gesund« beschrieben wurde, war ein schlechter Schütze, konnte aber gut reiten und hatte sich auch »gute Kenntnisse im Pferdewesen angeeignet.«179 Sein Verhalten gegenüber 176 ÖStA,
KA, Qualifikationslisten, Karton 1343, Kelsen Hans. KA, Qualifikationslisten, Karton 1343, Kelsen Hans. 178 Busch, Kelsen im Ersten Weltkrieg (2009) 60. 179 ÖStA, KA, Qualifikationslisten, Karton 1343, Kelsen Hans. Vgl. dazu auch Busch, Kelsen im Ersten Weltkrieg (2009) 60. 177 ÖStA,
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
seinen Vorgesetzten wurde als »achtungsvoll, gehorsam und offen, gegen Gleichgestellte freundlich, und zuvorkommend, auf Untergebene günstig einwirkend«, charakterisiert. Kelsen war ein »sehr guter beliebter Kamerad, im Verkehr mit Höheren bescheiden, taktvoll, mit Niederen freundlich«, erschien »sehr gut erzogen« und pflegte Umgang nur mit der »beste[n] Gesellschaft«.180 Kelsen selbst beschreibt dieses Jahr bei der Armee als eine Zeit des Umbruchs in seiner persönlichen Entwicklung: »Der Militaerdienst bedeutete eine vollkommene Unterbrechung meiner bisherigen intellektuellen Existenz. Philosophische und naturwissenschaftliche Probleme verloren in dieser Zeit hauptsaechlich koerperlicher Betaetigung die unmittelbare Aktualitaet, die sie frueher fuer mich hatten.«181 Diesem Umstand schrieb er wesentlich zu, dass er von seinem ursprünglichen Vorhaben, »Philosophie, Mathematik und Physik zu studieren«, wieder abrückte. Eine weitere Überlegung war, welchen Beruf er nach seinem Studium ergreifen wollte. »Die einzige Moeglichkeit, die mir ein Studium an der philosophischen Fakultaet [an der zu jener Zeit auch Mathematik und Physik gelehrt wurde] zu eroeffnen schien, war die Stellung eines Mittelschullehrers. Die Chance, Hochschullehrer und Gelehrter zu werden, zog ich ueberhaupt nicht in ernstliche Erwaegung. In dem Kreis, in dem meine Eltern verkehrten, waren kleine Rechtsanwaelte und praktische Aerzte die Representanten geistiger Berufe. […] Wer Philosophie studierte wurde Mittelschullehrer; und diesen Beruf hatte mir meine Gymnasialerfahrung so gruendlich verleidet, dass ich mich entschloss Jura zu studieren, mit der wahrscheinlichen Aussicht Rechtsanwalt, aber in der stillen Hoffnung Richter zu werden.«182
4. Studienzeit a) Die österreichische Universitätslandschaft Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestanden in Österreich acht Universitäten.183 Die älteste von ihnen war die 1348 von Kaiser Karl IV. gegründete und nach einer Periode des Niederganges 1654 von Kaiser Ferdinand III. faktisch neu geschaffene KarlFerdinands-Universität zu Prag. Sie als die »älteste deutschsprachige Universität« zu bezeichnen, wie vielfach geschehen, ist insofern irreführend, als Unterrichtssprache bis 1784, wie allgemein üblich, Latein war. Als dann aber tatsächlich auf die deutsche Sprache umgestellt wurde, rief dies schon bald Proteste der Tschechen hervor, was knapp hundert Jahre später, 1882, zur Teilung der Universität in eine deutschsprachige und eine tschechischsprachige Lehranstalt führte (wobei gewisse Einrichtungen, wie 180 ÖStA,
KA, Qualifikationslisten, Karton 1343, Kelsen Hans. Autobiographie (1947) 3 = HKW I, 33 f. 182 Kelsen, Autobiographie (1947) 3 = HKW I, 34. 183 Der folgende Überblick nach Mischler, Universitätsverfassung (1909); Staudigl-Ciechowicz, Universitäten (2014). 181 Kelsen,
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1. Kapitel: Herkunft, Kindheit und Jugend
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vor allem die Bibliothek, vorerst beiden Universitäten gemeinsam blieben). In Konkurrenz zur Prager Universität hatte der Schwiegersohn Karls IV., Herzog Rudolf IV. von Österreich, 1365 auch in Wien eine Universität gegründet, von der noch ausführlich zu berichten sein wird. Ein Jahr älter noch als sie war die 1364 von Kazimierz III. dem Großen begründete Jagiellonenuniversität zu Krakau [Kraków/PL], an der seit 1870/71 ebenso auf Polnisch unterrichtet wurde wie auf der 1661 von Jan II. Kazimierz geschaffenen und 1784 restaurierten Kaiser-Franz-Universität Lemberg. Deutschsprachige Universitätsgründungen der Neuzeit waren die 1585 von Erzherzog Karl II. zu Graz und die 1669 von Kaiser Leopold I. zu Innsbruck gegründeten Universitäten, die nach Herabstufung zu Lyzeen in josephinischer Zeit erst 1826/27 von Kaiser Franz I. wieder zu vollwertigen Universitäten aufgewertet worden waren und daher als Karl-Franzens-Universität bzw. als Leopold-Franzens-Universität bezeichnet wurden. Die jüngste Universität schließlich war die 1875 von Kaiser Franz Joseph gegründete Franz-Josephs-Universität zu Czernowitz [Černivci/UKR] am äußersten östlichen Ende der Monarchie, an der ebenfalls auf Deutsch unterrichtet wurde und die schon bald zum Sprungbrett für viele akademische Karrieren an den bereits etablierten Universitäten wurde.184 Gesetzliche Grundlage der Universitäten war vor allem das Organisationsgesetz von 1873185, das ihnen – nachdem Maria Theresia die einst autonomen Körperschaften in Staatsanstalten umgewandelt hatte186 – eine gewisse Eigenständigkeit zurückgegeben hatte. Das genaue Ausmaß dieser Autonomie und die Frage, ob die Universitäten nun (wieder) Rechtspersönlichkeit besaßen oder nicht, war unter den Zeitgenossen umstritten.187 Die ordentlichen und die außerordentlichen Professoren waren k. k. Beamte, deren Ernennung dem Kaiser oblag;188 er folgte dabei zwar zumeist den Dreiervorschlägen, welche die Fakultät in solchen Fällen üblicherweise erstattete, doch war er an diese nicht gebunden. Fakultäten gab es im Übrigen an jeder Universität vier: eine theologische189, eine rechts‑ und staatswissenschaftliche, eine medizinische und eine philosophische. Für jede Fakultät bestand ein Professorenkollegium, in dem alle ordentlichen und maximal halb so viele außerordentliche Professoren vertreten waren; den Vorsitz führte ein vom Kollegium aus seiner Mitte 184 Staudigl-Ciechowicz, Universitäten (2014) 226; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 646–654. 185 Gesetz v. 27. 4. 1873 RGBl 63 betreffend die Organisation der akademischen Behörden. Vgl. dazu Ferz, Universitätsreform (2000) 251–265; Staudigl-Ciechowicz, Dienst-, Habilitations‑ und Disziplinarrecht (2017) 88–101. 186 Siehe dazu Ferz, Universitätsreform (2000) 69–129. 187 Vgl. dazu den bei Beck v. Mannagetta/v. Kelle, Universitätsgesetze (1906) 1 f. wiedergegebenen Ministerialerlass sowie Mischler, Universitätsverfassung (1909) hier 653. 188 Staudigl-Ciechowicz, Dienst-, Habilitations‑ und Disziplinarrecht (2017) 134–149. 189 In Czernowitz wurde »griechisch-orientalische« (= orthodoxe) Theologie, ansonsten katholische Theologie gelehrt. Mit Erlass des Ministeriums für Cultus und Unterricht v. 8. 10. 1850 RGBl 388 war in Wien eine Evangelisch-Theologische Fakultät gegründet worden, die aber bis 1922 nicht Teil der Universität Wien war; vgl. Beck v. Mannagetta/v. Kelle, Universitätsgesetze (1906) 730–735, 765–772, 785–796.
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
auf ein Jahr gewählter Dekan. Mit den gesamtuniversitären Angelegenheiten war der Akademische Senat betraut, an dessen Spitze der Rektor stand, welcher ebenfalls jährlich neu aus der Reihe der aktiven ordentlichen Professoren gewählt wurde. Die universitäre Selbstverwaltung kam somit fast vollständig den Professoren zu, wogegen die einst mächtigen Doktorenkollegien zwar formell noch weiterbestanden, aber mit dem Organisationsgesetz 1873 praktisch vollständig von der Universität getrennt worden waren. Allerdings bestand seit 1848 für jede Person mit einschlägigem Doktorat die Möglichkeit, sich als Privatdozent zu habilitieren, d. h. die Lehrbefugnis für ein bestimmtes Fach zu erwerben, ohne dass damit ein Anstellungsverhältnis erlangt wurde. Die Privatdozenten gehörten zwar dem Lehrerkollegium, nicht aber dem Professorenkollegium an.190 Das rechts‑ und staatswissenschaftliche Studium war in einem Gesetz aus dem Jahr 1893 geregelt,191 seine Grundzüge gingen auf die große Thunsche Studienreform von 1855 zurück. Unterrichtsminister Leo Graf Thun-Hohenstein hatte in der nachrevolutionären Zeit des Neoabsolutismus das Unmögliche möglich machen wollen: die liberalen Prinzipien der Lehr‑ und Lernfreiheit einzuführen und zugleich die Studierenden zu einer national-konservativen Gesinnung zu erziehen.192 Die Jusstudenten hatten bei der Revolution 1848 an vorderster Front gestanden; dem vormärzlichen Studiensystem wurde ein nicht geringer Anteil der Schuld daran zugeschoben. »Auf eine intellektuelle Verdumpfung, Leerheit und Gebundenheit ohne gleichen«, wie sie im »Vormärz« (der Zeit vor der Märzrevolution 1848) angeblich bestanden hatte, sei während der Revolution – nach Ansicht von Thuns Berater Karl Ernst Jarcke – »ein Zustand geistiger Anarchie gefolgt, in welchem Hoffart, Unwissenheit, Oberflächlichkeit und Aberwitz sich für einen und den nämlichen Zweck die Hand zum Bunde reichen. Dieser eine Zweck war: Ohne irgend einen Anfang von geistiger Vorbildung einen neuen Staat und eine neue Gesellschaft zu schaffen.«193 Aus diesen Worten erklärt sich das Bemühen um Verwissenschaftlichung des Studiums und die Abkehr von der straffen Gliederung des vormärzlichen Studiums mit Annualprüfungen, deren erfolgreiche Absolvierung Voraussetzung für den Aufstieg
190 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 45–47; Staudigl-Ciechowicz, Dienst-, Habilitations‑ und Disziplinarrecht (2017) 293–302, 443 f. 191 Gesetz v. 20. 4. 1893 RGBl 68 betreffend die rechts‑ und staatswissenschaftlichen Studien und Staatsprüfungen. Vgl. dazu und zum Folgenden schon Olechowski, Zweihundert Jahre österreichisches Rechtsstudium (2011) 461 ff.; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 129–134. 192 Dazu und zum Folgenden Ogris, Die Historische Schule (1969); Olechowski, Zweihundert Jahre österreichisches Rechtsstudium (2011) 461; Olechowski, Jurisprudenz oder Rechtswissenschaft? (2015) 401 ff. 193 Karl Ernst Jarcke, Memorandum v. 5. 8. 1849, zit. n. Ogris, Universitätsreform (1999) 31. Vgl. dazu auch die Einschätzung von Kelsen, Naturrecht (1928) 90, wonach die Naturrechtslehre als solche keineswegs einen revolutionären Charakter gehabt habe, sondern es allein die Lehren Rousseaus gewesen seien, die einen gewissen Einfluss auf die Französische Revolution gehabt haben, weswegen die Naturrechtslehre als Ganzes ins Visier der antirevolutionären Kräfte geraten sei.
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in den nächsten Jahrgang war.194 Zugleich aber richtete sich der Vorwurf Jarckes und Thuns auch gegen die starke Stellung von Naturrecht und Rechtsphilosophie in der vorrevolutionären Studienordnung 1810. Deren Schöpfer, Franz von Zeiller, war ein Anhänger Kants gewesen, und hatte das Naturrecht zu einem zentralen Bestandteil der Ausbildung gemacht; es war zur Zeit des Vormärz gemeinsam mit dem Kriminalrecht im ersten Studienjahr täglich zwei Stunden gelesen worden. Thun sah in Bemühungen, Juristen zu Philosophen zu machen, ein vergebliches Unterfangen. »Wen nicht die eigene Neigung […] dazu führt, der wird daraus keinen wesentlichen Nutzen ziehen.«195 Folgerichtig wurde 1854 die Rechtsphilosophie als Gegenstand der theoretischen Staatsprüfung abgeschafft.196 Jarcke war 1825–1831 außerordentlicher Professor des Strafrechts in Berlin gewesen, wo er u. a. Georg Wilhelm Friedrich Hegel und – was im gegebenen Zusammenhang noch wichtiger sein dürfte – Friedrich Carl von Savigny, den Begründer der sog. Historischen Rechtsschule kennen gelernt hatte. Diese Schule sollte besser als »Historistische Rechtsschule« bezeichnet werden, denn gleich dem Historismus in der Baukunst verwendete auch sie geschichtliches Material, um durchaus Neues zu schaffen – ohne dass ihr dies, zumindest am Anfang, bewusst war. In seiner Programmschrift »Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft« von 1814 hatte Savigny erklärt, dass es das Bestreben seiner Rechtsschule sei, »jeden gegebenen Stoff bis zu seiner Wurzel zu verfolgen, und so sein organisches Princip zu entdecken, wodurch sich von selbst das, was noch Leben hat, von demjenigen absondern muß, was schon abgestorben ist, und nur noch der Geschichte angehört.«197 Dahinter steckte die – erst später von Georg Puchta ausformulierte – Vorstellung, dass das Recht nicht, wie noch die Vernunftrechtsschule angenommen hatte, ein Produkt des Verstandes sei und »more geometrico« am grünen Tisch konstruiert werden könne, sondern dass es, ähnlich wie die Sprache oder die Schrift, ein historisch gewachsenes Produkt sei, das seine Wurzel im »Volksgeist« habe.198 Dieser äußere sich in primitiven Gesellschaften im Rahmen des Gewohnheitsrechts, in entwickelten Gesellschaften dagegen in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft, welche das Recht fortwährend weiterentwickeln. Erst die Beschäftigung mit dieser historischen Entwicklung ermögliche ein Verständnis des Rechts. Die Histor(ist)ische Rechtsschule sammelte aus diesem Grund gigantisches Material an historischen Rechtsquellen (wofür ihr die moderne Rechtsgeschichte noch heute zu danken hat), wertete es aber nicht mit 194 Dazu 195 Leo
Staudigl-Ciechowicz, Staatsprüfung 1850 (2011) 340–343. Graf Thun, allerunterthänigster Vortrag v. 29. 6. 1855, zit. n. Lentze, Universitätsreform
(1962) 351. 196 Verordnung des Ministeriums für Cultus und Unterricht v. 13. 9. 1854 RGBl 237; vgl. dazu Goller, Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1997) 61–79. 197 Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit (1814) 117 f. 198 Vgl. dazu Verdross, Radiointerview (1974) 54: »In der aus mehreren Völkern bestehenden Monarchie konnte es aber keinen einheitlichen Volksgeist geben und daher war es klar, daß die Deutsche Rechtsgeschichte sehr wesentlich zur nationalen Einstellung der Hochschulen beigetragen hat.«
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
historisch-kritischen Methoden aus, sondern versuchte, unmittelbaren Nutzen für die Lösung von Fragen des geltenden Rechts zu ziehen, zu welchem Zweck der historische Rechtsstoff nach modernen Gesichtspunkten strukturiert wurde – was letztlich dazu führte, dass den juristischen Begriffen hohe und höchste Bedeutung zugemessen wurde. So sollte aus der Historischen Rechtsschule die später von Kelsen so hart bekämpfte Begriffsjurisprudenz hervorgehen.199 1855 war diese Entwicklung freilich noch nicht abzusehen. Mit der damals von Thun und Jarcke entworfenen Studienordnung wurde den rechtshistorischen Fächern eine geradezu unglaublich starke Stellung eingeräumt; fast die Hälfte des Studiums war ihnen gewidmet.200 Dies wurde mit dem Studiengesetz 1893 etwas zurückgenommen; aber noch immer bestand der erste, nunmehr drei Semester dauernde Studienabschnitt ausschließlich aus rechtshistorischen Fächern: Römisches Recht, Kirchenrecht, Deutsches Recht (= Deutsche Rechtsgeschichte und Deutsches Privatrecht) sowie die 1893 neu hinzu gekommene Österreichische Reichsgeschichte. Während dieser drei Semester, in denen die rechtshistorischen Vorlesungen gehalten wurden, waren keinerlei Prüfungen abzulegen; erst am Ende des Abschnittes »lauerte« die mündliche, kommissionelle, Erste Staatsprüfung über alle vier Fächer zugleich. Nur wer sie bestand, durfte in den zweiten, fünfsemestrigen Abschnitt, der die Fächer des positiven österreichischen Rechts brachte: österreichisches Privatrecht, Handels‑ und Wechselrecht, zivilgerichtliches Verfahren, Strafrecht und Strafprozess, allgemeines und österreichisches Staatsrecht, Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht, außerdem noch Volkswirtschaftslehre, Volkswirtschaftspolitik, Finanzwissenschaft und österreichische Finanzgesetzgebung. Dieser Studienabschnitt wurde mit zwei weiteren, der »judiciellen« und der »staatswissenschaftlichen« Staatsprüfung, abgeschlossen.201 Das erfolgreiche Bestehen aller drei Staatsprüfungen berechtigte insbesondere zur weiteren, postuniversitären Ausbildung in den klassischen Juristenberufen (Richter, Rechtsanwalt, Notar etc.), nicht aber zu einem akademischen Titel. Diesen, den »Juris Doctor« (JDr.), erwarb nur derjenige, der auch noch drei Rigorosen – jedes entsprach inhaltlich etwa einer Staatsprüfung – ablegte.202 Das bedeutete, dass man in der Regel über jedes Fach zweimal geprüft wurde. Hinter dieser Doppelung steckte v. a. die Erwägung, dass die Vergabe akademischer Titel in den autonomen Wirkungsbereich der Universität falle (weshalb die Abnahme der Rigorosen den ordentlichen Professoren vorbehalten war), während die Frage, wer in der Justiz praktisch tätig sein solle, vom Staat selbst entschieden werden müsse (weshalb 199 Ogris,
Die Historische Schule (1969) 361 f.
200 Olechowski, Zweihundert Jahre österreichisches Rechtsstudium (2011) 465; Olechowski/
Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 130–134. 201 §§ 2–4 Gesetz v. 20. 4. 1893 RGBl 68 betreffend die rechts‑ und staatswissenschftlichen Studien und Staatsprüfungen. 202 § 1 Verordnung v. 15. 4. 1872 RGBl 57 durch welche für die Universitäten der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder bezüglich der Erlangung des Doktorates an den weltlichen Fakultäten neue Bestimmungen erlassen werden. Vgl. Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 153–156.
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die vom Minister ernannten Mitglieder der Staatsprüfungskommissionen teils aus der Fakultät, teils aus der Praxis kamen und die Staatsprüfungen nicht im Universitätsgebäude, sondern in Amtshäusern, wie z. B. dem Justizpalast, stattfanden). b) Student Hans Kelsen an der Universität Wien Die – im Alltag nur selten so bezeichnete – Alma Mater Rudolphina Vindobonensis war nach dem Gesagten – nach Prag und Krakau – nur die drittälteste Hochschule in Österreich, galt jedoch aufgrund ihrer Größe, ihrer Hauptstadtlage und wohl auch aufgrund ihres wissenschaftlichen Rufes als die »Erste Universität des Reiches«. Im Wintersemester 1901/02, als Kelsen mit seinen Studien begann, waren an der Universität Wien 5.766 Studentinnen und Studenten als ordentliche Hörerinnen und Hörer inskribiert, davon 316 an der theologischen, 3.024, also mehr als die Hälfte, an der rechts‑ und staatswissenschaftlichen, 1.142 an der medizinischen und 1.284 an der philosophischen Fakultät.203 Beheimatet war die Universität Wien seit 1884 in dem nach Plänen von Heinrich Ferstel im Stil der Neorenaissance erbauten Gebäude am Franzensring (heute Universitätsring 1). Die rechts‑ und staatswissenschaftliche Fakultät nahm im ersten Stock des Hauses den südseitigen Trakt ein.204 Nicht ohne Grund wurde die zu den Hörsälen der Fakultät führende sog. Juristenstiege (heute nüchtern als »Stiege I« bezeichnet) von einem überlebensgroßen Standbild des alten Kaisers dominiert: Sollten doch die künftigen Staatsdiener von Anfang an mit ihrem obersten Dienstherrn vertraut gemacht werden … Am 5. Oktober 1901 fand sich im Universitätssekretariat ein junger Mann mit kleinem, aber durchtrainiertem Körperbau und mächtigem Oberlippenbart ein: Hans Kelsen. Vier Tage zuvor war er als Unteroffizier ausgemustert worden, in der folgenden Woche sollte er seinen 20. Geburtstag feiern. Nun ließ er sich in die Matriken der Universität Wien eintragen (was zehn Kronen Gebühr kostete) und inskribierte die ersten juristischen Vorlesungen (wofür er weitere 46 Kronen und 20 Heller zu begleichen hatte).205 Zwei Tage später begann der Vorlesungsbetrieb. Karl v. Czyhlarz brachte eine achtstündige Vorlesung aus »Geschichte und Institutionen des römischen Rechts«, Otto v. Zallinger eine fünfstündige »Deutsche Rechtsgeschichte« und Sigmund Adler eine ebenfalls fünfstündige »Österreichische Reichsgeschichte«. Sie brachten Kelsen eine bittere Enttäuschung: »Der Romanist Czihlarz [sic] lehrte roemisches Recht, ohne dessen Zusammenhang mit der antiken Kultur oder dessen Bedeutsamkeit fuer die Gesellschaft unserer Zeit zu beachten. Ich fand bald heraus, dass ich durch Studium seines Lehrbuches mir in wenigen Wochen aneignen konnte was er in nicht sehr 203 Summarische Übersicht der im Winter-Semester 1901/2 an der k. k. Universität zu Wien inskribierten ordentlichen und außerordentlichen Hörer in Bezug auf ihre Landesangehörigkeit, in: Öffentliche Vorlesungen (1902). 204 Mühlberger, Ein historischer Spaziergang (2007) 35 ff. 205 UA Wien, Nationale Juristen, WS 1901/02, K–L, Z. 1.499.
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
Abb. 9: Bleistiftzeichnung von Hans Kelsen, 1906/07.
lebendiger Rede durch ein ganzes Semester vortrug. Der Germanist Zallinger war ein ungewoehnlich schlechter Redner. Er sprach sichtlich nur mit großer Anstrengung. Ihn anzuhoeren war geradezu eine Qual. Sigmund Adler, der oesterreichische Rechtsgeschichte206 lehrte, war eine komische Figur. Schon nach kurzer Zeit gab ich den Besuch der meisten Vorlesungen auf und wandte mich der Lektuere philosophischer Werke zu.«207 Diese Entscheidung war nichts Außergewöhnliches für Wiener Jus-Studenten. Vielmehr berichtete Professor Carl Stooss (bei dem Kelsen im Sommersemester 1904 für eine fünfstündige Vorlesung aus Strafprozessrecht inskribiert war208), dass »nur ein Bruchteil der Inskribierten Vorlesungen hört. Viele lassen sich in Rechtsschulen auf die Prüfungen vorbereiten; viele haben keine Zeit, Vorlesungen zu besuchen; sie müssen verdienen. Und doch wollen sie ›studieren‹«. Die Verbitterung des berühmten Schweizer Strafrechtlers, der erst 1896, als 47-jähriger, an die Universität Wien berufen 206 Hier irrt Kelsen: Tatsächlich lehrte Adler in jenem Semester eine »österreichische Reichsgeschichte«, siehe die nachstehende Tabelle. 207 Kelsen, Autobiographie (1947) 3 = HKW I, 34 f. Diese Kritik findet bei Oberkofler /R abofsky, Kelsen im Kriegseinsatz (1988) 89, eine scharfe Gegenkritik: Kelsen hätte den »scharfsinnigen« und international angesehenen Rechtshistoriker Otto v. Zallinger nicht allein aufgrund des äußeren Eindrucks »abqualifizieren« dürfen. Tatsächlich aber hat Kelsen nicht die wissenschaftliche Qualifikation Zallingers (und seiner Kollegen) in Abrede gestellt, sondern nur dessen Redetalent – und dieses war aufgrund eines Nervenleidens und einer daraus resultierenden Kontaktscheue tatsächlich eingeschränkt; 1906 musste der damals 50-jährige Zallinger aus diesem Grund vorzeitig in den Ruhestand treten; vgl. Lentze, Die germanistischen Fächer (1965) 86. 208 UA Wien, Nationale Juristen, SS 1904, K–L, Z. 3.450.
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1. Kapitel: Herkunft, Kindheit und Jugend
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worden war und mit dem dortigen Massenbetrieb und den sonstigen Eigenarten Wiens nur schwer zurechtkam, ist deutlich zu verspüren.209 Ob auch Kelsen eine derartige Rechtsschule besuchte, ist unbekannt.210 Die Vorlesungen und sonstigen Lehrveranstaltungen, die Kelsen an der Universität Wien inskribierte, sind anhand der sog. Nationalen im Universitätsarchiv211 und dem gedruckten Vorlesungsverzeichnis212 rekonstruierbar und seien im Folgenden tabellarisch wiedergegeben: Wintersemester 1901/02 Geschichte und Institutionen des römischen Rechts, 8 st Deutsche Rechtsgeschichte, 5 st Österreichische Reichsgeschichte, 5 st Ges. u. System der Ethik (Praktische Philosophie), 4 st (phil. Fak.)
Karl v. Czyhlarz Otto v. Zallinger Sigmund Adler Friedrich Jodl
Sommersemester 1902 Pandekten I: Allg. Lehren u. Sachenrecht, 8 st Pandekten II: Obligationen‑ u. Pfandrecht, 8 st Römisches Familienrecht, 3 st Ges. d. dt. Strafrechts u. gerichtlichen Verfahrens, 4 st Romanistische Übungen, 2 st
Moritz Wlassak Karl v. Czyhlarz Emil Schrutka Otto v. Zallinger Karl v. Czyhlarz
Wintersemester 1902/03 Römisches Erbrecht, 2 st Römischer Zivilprozeß, 3 st Prakt. u. exeget. Übungen über ausgew. Stellen der Digesten, 2 st Deutsches Privatrecht, 5 st Kirchenrecht, 7 st
Karl v. Czyhlarz Emil v. Schrutka Franz Klein Ernst v. Schwind Karl Groß
Sommersemester 1903 Prakt. u. exeget. Übungen über ausgew. Stellen der Digesten, 2 st Stanislaus Pineles Germanistische Übungen, 1 st Otto v. Zallinger Seminarübungen aus dem deutschen Privatrechte, 1 st Ernst v. Schwind Deutsches Erbrecht, 2 st Sigmund Adler Die kirchlichen Rechtsquellen, 3 st Karl Groß Das kirchliche Vermögens‑ und Strafrecht, 2 st Karl Groß Staatskirchenrecht, 2 st Max Hussarek v. Heinlein Geschichte der Rechtsphilosophie, 4 st Edmund Bernatzik213 209 Stooss, Selbstdarstellung 21 f.; vgl. zu ihm Thomas Olechowski, Stooß (Stooss) Carl, in: ÖBL, 61. Lfg. (Wien 2009) 321–322; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 423–425. 210 Eine entsprechende Anfrage bei der noch heute bestehenden Rechtsschule Faulhaber blieb erfolglos, da keine Akten aus Kelsens Studienzeit erhalten sind. 211 UA Wien, Nationale Juristen, WS 1901/02, K–L, Z. 1.499; SS 1902, K–L, Z. 2961; WS 1902/03, K–L, 2.770; SS 1903, K–L, 2.303; WS 1903/04, K–L, Z. 802; SS 1904, K–L, Z. 3.450 u. 1.691; WS 1904/05, I–K, 2.702 u. 5.521; SS 1905, I–K, Z. 649 u. Z. 3.484. 212 Öffentliche Vorlesungen an der k. k. Universität zu Wien im Winter-Semester 1901–Sommer-Semester 1905 (Wien 1901–1905). 213 Vgl. noch unten 80.
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
Wintersemester 1903/04 Österr. Familienrecht einschl. eheliches Güterrecht, 4 st Österr. allgemeines Privatrecht, 7 st Österr. Strafrecht, 5 st Allgemeines u. österr. Staatsrecht, 5 st Volkswirtschaftspolitik, 5 st
Leopold Pfaff Josef v. Schey Heinrich Lammasch Edmund Bernatzik Friedrich v. Wieser
Sommersemester 1904 Österr. Privatrecht II, 7 st Österr. Strafprozeßrecht, 5 st Verwaltungslehre u. österr. Verwaltungsrecht, 3 st Völkerrecht, 4 st Finanzwiss. mit bes. Berücks. d. österr. Finanzrechts, 5 st Volkswirtschaftliche Übungen, 2 st Staatsrechtliches Konversatorium, 2 st
Josef v. Schey Carl Stooss Edmund Bernatzik Leo Strisower Friedrich v. Wieser Friedrich v. Wieser Edmund Bernatzik
Wintersemester 1904/05 Österr. Handels‑ u. Wechselrecht, 5 st Karl S. Grünhut Österr. zivilgerichtliches Verfahren I, 6 st Hans Sperl Österr. Verfahren außer Streitsachen mit Einschluß Rudolf Pollak d. Konkursrechtes, 2 st Verwaltungslehre u. österr. Verwaltungsrecht, 3 st Edmund Bernatzik Internationales Privatrecht, 2 st Leo Strisower Volkswirtschaftspolitik, 5 st Theodor v. Inama-Sternegg Geschichte Europas im Zeitalter der Reformation, 3 st (phil. Fak.) August Fournier Dante und seine Zeit, 3 st (phil. Fak.) Karl v. Ettmayer Sommersemester 1905 Österr. zivilgerichtliches Verfahren II, 6 st Emil v. Schrutka-Rechtenstamm Allg. vergl. u. österr. Statistik, 4 st Theodor v. Inama-Sternegg Übungen aus dem Völkerrechte u. internationalen Privatrechte, 2 st Leo Strisower Staats‑ u. verwaltungsrechtliche Übungen, 1 st Adolf Menzel
Der »Stundenplan« Kelsens war für jene Zeit durchaus typisch; zügig absolvierte er innerhalb der gesetzlichen Mindestzeit alle vorgeschriebenen Vorlesungen, und nicht einmal seine Verpflichtungen als Reserveoffizier brachten eine Verzögerung des Studiums, zumal er die obligatorischen Truppenübungen – wohl auf sein eigenes Ansuchen hin – wenigstens zum Teil in der vorlesungsfreien Zeit (14. September – 11. Oktober 1902 und 11. September – 8. Oktober 1904) absolvierte.214 Eine andere Frage ist, ob und, wenn ja, wie regelmäßig Kelsen die Vorlesungen besuchte; sie muss unbeantwortet bleiben. Aufgrund der Lehr‑ und Lernfreiheit bestand zu jener Zeit keine Pflicht zum regelmäßigen Vorlesungsbesuch, und die erste Prüfung des juristischen Studiums, die rechtshistorische Staatsprüfung, konnte frühestens nach Vollendung des dritten Semesters abgelegt werden. Kelsen ließ sich sogar noch ein 214 ÖStA, KA, Qualifikationslisten, Karton 1343, Kelsen Hans; vgl. schon oben 61 sowie auch Oberkofler /R abofsky, Kelsen im Kriegseinsatz (1988) 18.
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weiteres halbes Jahr Zeit und trat erst am Ende des vierten Semesters, am 13. Juli 1903, zu dieser mündlichen Prüfung an. Sie wurde von einer Kommission abgenommen, der der Romanist215 o. Univ.-Prof. Dr. Moritz Wlassak als Vorsitzender sowie der Rechts‑ und Wirtschaftshistoriker ao. Univ.-Prof. (ab 1909 o. Univ.-Prof.) Dr. Carl Grünberg und der Ministerialvizesekretär im Unterrichtsministerium Dr. Benno Fritsch als Beisitzer angehörten. Hans Kelsen wurde »durch Stimmenmehrheit für gut befähigt erkannt«.216 c) Edmund Bernatzik und Adolf Menzel Der nun folgende Abschnitt des Studiums stieß bei Kelsen auf deutlich mehr Interesse. Namentlich waren es die Lehrveranstaltungen des Staatsrechtlers o. Univ.-Prof. Dr. Edmund Bernatzik, die den jungen Studenten begeisterten. Bernatzik, 1851 in Mistelbach in Niederösterreich geboren, war 1876 in Wien promoviert worden und hatte 1879 die Richteramtsprüfung abgelegt.217 1885 unternahm er eine Studienreise nach Straßburg [Strasbourg/F], wo er sowohl Paul Laband hörte, den damals führenden Rechtspositivisten im Verfassungsrecht, als auch Otto Mayer, der dieselbe Bedeutung im Verwaltungsrecht hatte. Noch im selben Jahr habilitierte sich Bernatzik an der Universität Wien für das Fach Verwaltungsrecht, und zwar mit der Schrift »Rechtsprechung und materielle Rechtskraft«. Mit ihr bekannte sich auch Bernatzik zum Rechtspositivismus, jedoch nicht zu jener Richtung, die von Laband in Straßburg, sondern zu jener, die von Otto v. Gierke in Breslau und Berlin vertreten wurde.218 Laband verfolge nur einen unfruchtbaren »logischen Formalismus«, der »nicht die echte und ganze ›juristische Methode‹« darstelle und daher keine endgültigen Antworten gebe – im Gegensatz zu dem aus der Rechtsgeschichte kommenden Gierke. Bernatzik sah es als »Aufgabe der Wissenschaft des Verwaltungsrechts, nicht nur eine historisch-politische Analyse der verwaltungsrechtlichen Institutionen zu geben und das System derselben, nach den realen Grundlagen der Verwaltungstätigkeit gegliedert, darzustellen, sondern es ist vor allem Andern ihre Aufgabe, im Wege juristischer Dogmatik die im Staate vorhandenen Rechtsnormen theoretisch zu Rechtssätzen und Rechtsinstituten zu entwickeln, die einzelnen zu ihnen hinführenden Erscheinungen vorsichtig zu generalisiren und die so gewonnenen allgemeinen Regeln auf ihre realen Grundlagen, die ethischen, culturellen und wirtschaftlichen Elemente, die 215 Unter »Romanistik« wird im gegebenen Zusammenhang die Wissenschaft vom römischen Recht verstanden. 216 UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Rechtshistorisches Staatsprüfungsprotokoll Z. 175 (13. 7. 1903); Vervollständigung der Namen durch den Niederösterreichischen Amtskalender (1903) 583. 217 Vgl. zu ihm Kelsen, Bernatzik = HKW IV, 149–152; Thomas Olechowski, Bernatzik Edmund, in: ÖBL-online http://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_B/Bernatzik_Edmund_1854_1919. xml [Erstellt: 15. 11. 2014/Zugriff: 25. 04. 2019]; Zeleny, Bernatzik (2015); Kalb, Bernatzik (2018). Unrichtig daher [Kelsen], Bernatzik VII = HKW IV, 150, der 1872 als Datum der Promotion angibt. 218 Vgl. zu den Positionen Labands und Gierkes: Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II (1992) 341–348, 359–363.
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Hypostase des öffentlichen Rechtes, anzuwenden.«219 Das Zentralproblem von Bernatziks Habilitationsschrift war die Frage der Abänderbarkeit von Verwaltungsakten; wie für die damalige Zeit typisch, versuchte er, diese Frage mit Hilfe eines Vergleichs mit dem Zivilprozessrecht zu lösen und die Macht der Behörden, einen fehlerhaften Verwaltungsakt von Amts wegen zu ändern oder zu beseitigen, auf einige wenige Fälle zu beschränken. 1888 erlangte Bernatzik die venia docendi auch für das Staatsrecht; es folgten Berufungen nach Basel 1891, nach Graz 1893 sowie nach Wien 1894, wo er bis zu seinem überraschenden Tod am 30. März 1919 lehrte. 1896/97 sowie 1906/07 war er Dekan der rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät, 1910/11 Rektor der Universität Wien. 1906 wurde Bernatzik zum Mitglied des k. k. Reichsgerichts gewählt – eines Vorläufers des 1919 gegründeten Verfassungsgerichtshofes, dem er gleichfalls, wenngleich nur mehr für wenige Wochen, angehörte. »Bernatzik hat nur Weniges, aber Gehaltvolles publiziert,« schreibt Günther Winkler220 und listet außer der genannten Monographie über »Rechtsprechung und materielle Rechtskraft« noch eine »Über den Begriff der juristischen Person« (1890) und eine zur Unterscheidung von »Republik und Monarchie« (1892) auf. Wesentlich schärfer urteilte Kelsen über Bernatzik: »Er hatte seit seiner Habilitationsschrift kaum irgendetwas Groesseres veroeffentlicht und vermutlich seit Jahren nicht mehr wissenschaftlich gearbeitet. Er hatte – wie ich in Diskussionen mit ihm feststellen konnte – keinerlei Kenntnis der neueren Literatur.« Diese herbe Kritik hatte ihre Wurzel sicher nicht nur in dem Umstand, dass seit dem Erscheinen von Bernatziks letzter Monographie schon mehr als zehn Jahre vergangen waren, sondern auch in der persönlichen Enttäuschung, die Kelsen bei Bernatzik später widerfuhr; jedenfalls ist sie in ihrer Allgemeinheit sicherlich überzogen. Eher schon traf es – wenigstens in Hinblick auf das Spätwerk Bernatziks – zu, wenn Kelsen über seinen Lehrer schrieb: »Bernatzik war kein Theoretiker […] und war nur an den praktisch-politischen Fragen interessiert, die mit der oesterreichischen Verfassung zusammenhingen.«221 Denn das Werk, durch das Bernatzik bis heute bleibende Bedeutung erlangt hat, sind die von ihm 1906 in erster, 1911 in zweiter Auflage herausgegebenen »österreichischen Verfassungsgesetze mit Erläuterungen«, welche mit 1160 Seiten durchaus als »irgendetwas Groesseres« bezeichnet werden können. In diesem Buch wurden nicht allein die geltenden, sondern auch einige bedeutende ältere Verfassungstexte einer überaus scharfsinnigen Analyse unterzogen und so manche Frage, die nach bloßer Lektüre der Normen offenblieb, von ihm schlüssig beantwortet. Hier passt auch das von Kelsen wiedergegebene Zitat Bernatziks über sich selbst: »Ich trage eigentlich nicht oesterreichisches Staatsrecht, sondern die Luecken des oesterreichischen Staatsrechtes vor.« Womit Kelsen zu Bernatziks Lehrveranstaltungen überleitete: »Und in der Tat bot 219 Bernatzik, Rechtsprechung und materielle Rechtskraft (1886) III f. Vgl. auch Goller, Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1997) 162; Kalb, Bernatzik (2018) 96. 220 Winkler, Geleitwort zum Neudruck von Bernatzik, Über den Begriff der juristischen Person (1890/1996) VII. 221 Kelsen, Autobiographie (1947) 5 = HKW I, 37.
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Abb. 10: Adolf Menzel, ca. 1915.
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Abb. 11: Edmund Bernatzik, ca. 1915.
ihm das alte oesterreichische Staatsrecht reichlich Gelegenheit seine Persoenlichkeit in den Vorlesungen zu entfalten, die bei den Studenten sehr beliebt waren; nicht weil man in ihnen besonders viel lernte, sondern weil man sich gut unterhielt.«222 Diese Beobachtung dürfte recht zutreffend sein, deckt sie sich doch mit jener von Ludwig Adamovich sen., der sieben Jahre nach Kelsen das Studium der Rechts‑ und Staatswissenschaften in Angriff nahm und berichtete, dass Bernatziks Lehrveranstaltungen »glänzend besucht [waren], nicht zuletzt wegen der mannigfachen witzigen und satirischen Bemerkungen, mit denen er den Vorlesungsstoff zu würzen pflegte und die auch vor den höchsten Stellen nicht halt machten.«223 Übereinstimmend berichten ferner beide von der »beißenden Ironie« Bernatziks, und es ist wohl zu vermuten, dass Kelsen seinen Lehrer – zumindest während des Studiums – aufrichtig bewunderte, was er mit den abwertenden Bemerkungen, die er 1947 in Bezug auf Bernatzik verlor, nur unzureichend verschleierte. Jedenfalls besuchte er nach eigenen Angaben mehrmals die Seminare von Bernatzik.224 Hier trug Kelsen »verschiedene kleinere Arbeiten vor, die, wie mir schien, den Beifall des kritischen Lehrers fanden so weit sie sich nicht zu tief in theoretische Probleme einliessen. Gerade diese aber zogen mich an. In dem Seminar von Bernatzik, an dem auch gelegentlich juengere 222 Kelsen,
Autobiographie (1947) 5 = HKW I, 37. in Grass, Selbstdarstellungen (1952) 11. Vgl. auch Kalb, Bernatzik (2018) 92. 224 Eine förmliche Inskription erfolgte nicht. Möglicherweise handelte es sich z. T. auch um bloße »Privatseminare«, also außerhalb der Universität stattfindende, informelle Treffen, wie sie zu jener Zeit durchaus üblich waren und später auch von Kelsen selbst abgehalten wurden. Vgl. zur Persönlichkeit Bernatziks auch die bei Johnston, Geistesgeschichte (2006) 85, wiedergegebenen Anekdoten. 223 Adamovich
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Privatdozenten und solche, die es werden wollten,225 teilnahmen, reifte in mir der Entschluss, den Versuch zu machen, mich zu habilitieren.«226 Über den zweiten Ordinarius des Staatsrechts, Adolf Menzel, berichtet Kelsen viel weniger als über Bernatzik,227 dies, obwohl jener mindestens so viel Bedeutung für seine Karriere hatte wie dieser. 1857 in Reichenberg in Böhmen [Liberec/CZ] geboren, war Menzel 1879 in Prag zum Juris Doctor promoviert worden und hatte sich 1882 an der Universität Wien für das Fach Zivilrecht habilitiert. Erst allmählich wechselte Adolf Menzel (seit seiner 1885 erfolgten Taufe: Heinrich Adolf Menzel228) – über die damals neuartige Materie des Sozialrechts – vom Gebiet des privaten in das des öffentlichen Rechts und wurde 1889 zum außerordentlichen, 1894 zum ordentlichen Professor des Verwaltungsrechts ernannt; seit der Emeritierung Wenzel Lustkandls 1902 las Menzel auch Verfassungsrecht. Adamovich schildert uns Menzel – in bewusstem Kontrast zu Bernatzik – als einen Mann von »vornehmer, zurückhaltender Art […], der durch die Klarheit und die durchsichtige Systematik seines Vortrages den etwas trockenen Ton seiner Vorlesung vollkommen vergessen machte.«229 Vor allem aber in Hinblick auf ihre wissenschaftlichen Interessen hätte der Unterschied zwischen Bernatzik und Menzel nicht größer sein können: Denn etwa seit der Jahrhundertwende gab Menzel fast jede Beschäftigung mit dem positiven österreichischen Recht auf und wandte sich ganz der Allgemeinen Staatslehre sowie ihrer Geschichte zu; neben den Alten Griechen war es besonders Baruch de Spinoza, mit dem er sich intensiv auseinandersetzte. In späteren Jahren bekundete Menzel, der 1883 aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten war, große Sympathien für den italienischen Faschismus und verfasste 1935, als 78-jähriger Emeritus230, eine Monographie, in der er, Mussolini folgend, den Faschismus als die »reinere Form der Demokratie« bezeichnete, die im Gegensatz zur parlamentarischen Demokratie nicht von einer formalen Gleichheit aller Menschen ausgehe, sondern vielmehr die »unbehebbare, fruchtbare und heilsame Ungleichheit unter den Menschen« bejahe.231 Es blieb Menzel nicht erspart, die Auswirkungen eines derartigen Weltbildes am eigenen Leibe zu erfahren: Nachdem Österreich am 12. März 1938 von NS-Deutschland besetzt worden war, verbrachte der als Jude im Sinne der Nürnberger Rassengesetze geltende Adolf 225 So z. B. Friedrich Hawelka oder Hemme Schwarzwald: Merkl, Hawelka (1935) 18 = MGS III/2, 394; Holmes, Langeweile ist Gift (2012) 97. 226 Kelsen, Autobiographie (1947) 5 = HKW I, 37. 227 Vgl. zu ihm Wilhelm Brauneder, Menzel Adolf, in: NDB 17 (Berlin 1994) 104 f.; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 469, 499 f. 228 Staudacher, Konvertiten (2017) 139; vgl. auch schon Staudacher, Zwischen Emanzipation und Assimilation (2009) 45. 229 Adamovich, Selbstdarstellung (1952) 11 f. 230 Ordentliche Professoren wurden – im Gegensatz etwa zu außerordentlichen Professoren – nicht pensioniert, sondern mit Vollendung des akademischen Jahres, in dem sie ihren 70. Geburtstag gehabt hatten, lediglich von ihren Pflichten entbunden (emeritiert); sie blieben bis zu ihrem Lebensende Mitglieder der Fakultät, wenn auch nicht des Professorenkollegiums. Viele von ihnen setzten nicht nur ihre Forschungs-, sondern auch ihre Lehrtätigkeit bis ins hohe Alter fort. 231 Menzel, Staatsgedanke des Faschismus (1935) 47.
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Menzel die »letzten Monate seines Erdendaseins in Verbitterung und Verzweiflung«, bevor er am 12. August 1938 in Wien verstarb.232 Als Kelsen seine Reine Rechtslehre entwickelte, zählte Menzel nicht zu ihren Anhängern; vielmehr kritisierte er (in der für ihn typischen, zurückhaltenden Art) mehrmals seinen einstigen Schüler und erklärte, im Gegensatz zu Kelsen, dass die Staatslehre auch Soziologie und Psychologie in ihre Untersuchungen einbeziehen müsse. So widmete Menzel auch seine Inaugurationsrede als Rektor der Universität Wien (1915/16), die er am 23. Oktober 1915 hielt, der »Psychologie des Staates«.233 Dennoch hat Menzel wie kein zweiter Professor der Wiener rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät Kelsen bei allen entscheidenden Stufen seiner Karriere gefördert, von der Verschaffung von Nachhilfestunden, mit denen der junge Absolvent seinen Lebensunterhalt aufbessern konnte, über die Mitwirkung bei Kelsens Habilitation 1911234 sowie bei dessen Ernennung zum außerordentlichen235 und zum ordentlichen Professor236 1918 bzw. 1919 bis hin zu einem Disziplinarverfahren gegen Kelsen, bei dem Menzel 1923 das entscheidende, Kelsen entlastende Gutachten erstattete.237 Warum Menzel dies tat, wissen wir nicht. Aber das persönliche Verhältnis von Menzel zu Kelsen muss ein sehr gutes, vielleicht väterliches und/oder freundschaftliches gewesen sein.238 Möglicherweise war es diese Freundschaft, wegen der Kelsen in seiner Autobiographie weder über die fachliche Kritik Menzels an ihm noch über Menzels politische Ansichten ein Sterbenswort verlor. d) Hans Kelsen und Otto Weininger Wer waren die Lehrmeister Kelsens? Wer öffnete ihm die Tür zur Wissenschaft? Von den Lehrern am Akademischen Gymnasium, dies wurde schon gezeigt, konnte sich niemand dieser Leistung rühmen. Und weder Bernatzik, noch Menzel, die er im Vorwort zu seiner 1911 veröffentlichten Habilitationsschrift als seine »hochverehrten Lehrer« bezeichnete, noch sonst ein Professor an der Universität Wien hatte einen wirklich prägenden Einfluss auf Kelsen. Es wird noch davon zu sprechen sein, dass die genannte Schrift insbesondere eine Auseinandersetzung mit dem zu jener Zeit in Heidelberg lehrenden Georg Jellinek enthielt, dessen Seminare er 1907/08 und 1908/09 besucht hatte und als dessen »Schüler« er sich im Vorwort bezeichnete, doch auch dies erscheint angesichts der vehementen Kritik Kelsens an Jellinek in eben 232 Adamovich,
Menzel 10. Olechowski/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 501. Vgl. Auch Goller, Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1997) 191. 234 Unten 142. 235 Unten 204. 236 Unten 259. 237 Unten 338. 238 Als Kelsen im Herbst 1930 Österreich verließ, veranstaltete die Fakultät eine kleine Veranstaltung, bei der auch Menzel einige Worte sprach, Kelsen als seinen Schüler bezeichnete und sich stolz darüber zeigte, »zur Größe des Gelehrten als sein Lehrer beigetragen zu haben.« Der Tag Nr. 2742 v. 4. 11. 1930, 2. 233 Dazu
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
jenem Werk und der doch nur geringen persönlichen Kontakte zwischen den beiden als übertrieben.239 Ein halbes Jahrhundert nach seiner Studienzeit erklärte Kelsen in einem Interview: »Ich habe nur ein einziges Mal in meinem Leben einen Menschen getroffen, von dem ich den Eindruck gehabt hab’, er ist ein Genie. […] Das war mein Freund Otto Weininger.«240 Otto Weininger war am 3. April 1880 in Wien geboren worden, also etwa eineinhalb Jahre älter als Hans Kelsen. 1890–98 besuchte er das Piaristengymnasium im VIII. Bezirk und studierte dann Philosophie an der Universität Wien.241 Es ist unklar, auf welche Weise sich die beiden jungen Männer kennen gelernt hatten, jedenfalls erfolgte dies schon zu Kelsens Schulzeit,242 und es ist daran zu erinnern, dass Kelsen damals »unter Einfluss eines aelteren Freundes« begonnen hatte, Schopenhauer zu lesen, was wohl auf Weininger zielt, der diesen Philosophen besonders schätzte. Kelsen berichtete, dass sowohl er in Ottos Schwester Rosa, als auch Otto in Kelsens Schwester Gertrude verliebt gewesen waren, was vielleicht auf den Ursprung ihrer Kontakte hindeutet. Wie weit diese Verliebtheiten gingen, ist unbekannt; Métall schreibt, dass die oben erwähnten »Mysterien« Hamsuns ein Geschenk von Rosa an Hans waren.243 Dieser wieder erzählt, dass Gertrude Otto ablehnte, weil er so furchtbar hässlich war – ein Befund, der auch von anderen Zeitzeugen, wie etwa Stefan Zweig, bestätigt wurde.244 Es ist unwahrscheinlich, dass es sich auch nur in einem der beiden Fälle um mehr als um platonische Beziehungen handelte. Weininger war ein außerordentlich begabter Schüler und Student.245 1899 berichtete der damals 19-jährige stolz, dass er über eine Dreiviertelstunde mit Ernst Mach, dem berühmten Physiker, der 1895 auf einen Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte nach Wien berufen worden war, gesprochen habe; im August 1900 nahm er gemeinsam mit seinem Freund Hermann Swoboda am IV. Internationalen Psychologiekongress in Paris teil. Kurz danach riss der Kontakt zwischen Kelsen und Weininger ab;246 Anlass dafür dürfte gewesen sein, dass Kelsen die Gedichte von Weiningers Freund Artur 239
Dementsprechend wird Kelsen von Jestaedt in HKW II, 889 als »Autodidakt« bezeichnet. Kelsen, Interview mit Kurt Eissler v. 19. 1 2. 1953. 241 Dazu und zum Folgenden: Le Rider, Der Fall Otto Weininger (1985) 11 ff.; Rodlauer, Otto Weininger (1990) 13 ff. 242 Hans Kelsen, Interview mit Suzanne Bernfeld v. 13. 10. 1951. – Die Beziehungen zwischen Kelsen und der Familie Weininger werden in der umfangreichen Weininger-Literatur an keiner Stelle erwähnt, sind aber belegbar: So existieren im HKI, Nachlass Kelsen, 16c13.61, mehrere Briefe von Ottos Bruder Richard Weininger und dessen Frau Marianne (»Mieze«) an Hans Kelsen, in denen dieser als deren Trauzeuge bezeichnet wird; auch ein Brief von Rose (sic) Boschán Weininger (offenbar Kelsens einstiger Jugendliebe), datiert Budapest 18. 8. 1947, befindet sich a. a. O., die Handschrift ist kaum lesbar. 243 Métall, Kelsen (1969) 6. 244 Zweig, Vorbeigehen (1926). 245 Dazu näher Rodlauer, Otto Weininger (1990) 14; Wistrich, Die Juden Wiens (1994) 422. 246 Hans Kelsen, Interview mit Suzanne Bernfeld v. 13. 10. 1951. Allerdings erwähnt Kelsen, Autobiographie (1947) 3 = HKW I, 35, dass ihn Weininger (offenbar noch während Kelsens Studienzeit) darin »bestaerkt« habe, Vorlesungen zu meiden und stattdessen philosophische Bücher zu lesen. 240 Hans
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Abb. 12: Otto Weininger. Foto mit handschriftlicher Widmung an Hans Kelsen: »Zum vitalen Erholungsmaximum«.
Gerber als »mittelmäßig« bezeichnet hatte.247 Vielleicht hängt die »Entfremdung« der beiden jungen Männer, von der Métall berichtet, aber auch damit zusammen, dass sich nunmehr eine bedeutsame Wandlung in Weiningers Weltanschauung vollzog; er begann sich zunehmend für die Naturwissenschaften und ganz besonders für Medizin und Psychoanalyse zu interessieren. Swoboda, der damals Patient oder Schüler248 von Sigmund Freud war, machte Weininger auf dessen Überlegungen zur Bisexualität aufmerksam, die Weininger immer stärker in ihren Bann zogen; dass Weininger selbst bisexuell veranlagt war, ergibt sich aus mehreren Passagen seiner Dissertation und anderen seiner Schriften249 und wurde auch von Hans Kelsen bestätigt.250 Am 4. Juni 1901 ließ Weininger eine Erstfassung seiner späteren Dissertation unter dem Titel »Eros und Psyche. Eine biologisch-psychologische Studie« zur Wahrung der Priorität seiner Ideen bei der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu Wien hinterlegen.251 Leitidee dieses Werkes war dabei eine auf Freud aufbauende Theorie von der Bisexualität: Weininger war der Ansicht, dass die Idealtypen des Männlichen (M) und des Weiblichen (W) in der Realität niemals vorkämen, sohin alle Menschen 247 Métall,
Kelsen (1969) 6. Otto Weininger (1990) 33. 249 Rodlauer, Unbekannte Weininger-Manuskripte (1987) 115 f.; Le Rider, Der Fall Otto Weininger (1985) 24 f. 250 Hans Kelsen, Interview mit Suzanne Bernfeld v. 13. 10. 1951. 251 Abgedruckt in: Rodlauer, Otto Weininger (1990) 143–189. Grund für die Hinterlegung dürfte ein Streit mit Swoboda gewesen sein, inwieweit Weininger ihm seine Ideen verdanke; vgl. Rodlauer, Unbekannte Weininger-Manuskripte (1987) 113; Rodlauer, Otto Weininger (1990) 41. 248 Rodlauer,
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
in gewissem Maße bisexuell veranlagt seien. Jedes Individuum versuche, einen Partner zu finden, dessen Sexualität die zu ihm komplementären Verhältnisse aufweise (z. B. ¼ M und ¾ W – ¼ W und ¾ M). Im folgenden Jahr reichte Weininger eine überarbeitete Fassung bei der Universität Wien ein, legte die Rigorosen ab und wurde am 19. Juli 1902 zum Doktor der Philosophie promoviert;252 am selben Tag konvertierte er vom Judentum zum Protestantismus.253 Doch nun erfolgte eine Reihe von Enttäuschungen: Weiningers Doktorvater, Prof. Friedrich Jodl, weigerte sich, die Drucklegung der Dissertation zu unterstützen, wenn nicht gewisse Korrekturen angebracht würden, was sich Weininger zu tun weigerte. Stattdessen suchte er Sigmund Freud auf, der sich jedoch ebenfalls nicht von Weiningers Werk begeistert zeigte, sondern ihm riet, noch weitere zehn Jahre (!) an seinem Buch zu arbeiten, um alle Thesen genau zu überprüfen.254 Tatsächlich unterzog Weininger seine Dissertation einer gründlichen Revision, gönnte sich aber nicht so viel Zeit, wie es ihm Freud empfohlen hatte, sondern fügte dem Manuskript nur noch drei Kapitel hinzu und veröffentlichte das opus magnum im Juni 1903 auf eigene Faust unter dem Titel »Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung« im Verlag Braumüller & Co.255 Vier Monate später, am 3. Oktober 1903, begab sich Weininger in Beethovens Sterbehaus in der Schwarzspanierstraße, wo er sich ein Zimmer gemietet hatte, und schoss sich eine Kugel ins Herz. Schwer verwundet, wurde er am nächsten Tag aufgefunden und starb am 4. Oktober im Wiener Allgemeinen Krankenhaus.256 Über die Gründe, die Weininger zu seinem Selbstmord getrieben hatten, ist viel spekuliert worden; zumeist wird dabei ein Zusammenhang mit dem Erscheinen seines Buches hergestellt, wobei allerdings die Behauptung, sein Werk sei auf wenig Resonanz gestoßen, unrichtig ist.257 Eine eher ungewöhnliche Erklärung lieferte Hans Kelsen: Demnach habe Weininger Selbstmord begangen, weil er herausgefunden hatte, dass ihn weder sein Antisemitismus, noch seine moralischen Ansprüche von den kriminellen Mitgliedern seiner Familie separieren konnten, wobei Kelsen erklärend hinzufügte, dass Ottos Vater Leopold Weininger später wegen eines Betruges verhaftet worden und im Gefängnis gestorben sei.258 Mag auch diese Erklärung ihre Zweifler finden, so ist doch aus Weiningers Buch deutlich erkennbar, dass der Autor sowohl unter seiner jüdischen Herkunft als auch unter seiner bisexuellen Neigung litt,259 und gerade die drei Kapitel, die er zum Schluss noch verfasst hatte – »Das 252 Rodlauer,
Unbekannte Weininger-Manuskripte (1987) 132. Konvertiten in Wien II (2004) 767. 254 Le Rider, Der Fall Otto Weininger (1985) 29 f. 255 Weininger, Geschlecht und Charakter (1903). 256 Le Rider, Der Fall Otto Weininger (1985) 46. 257 Vgl. dazu Le Rider, Der Fall Otto Weininger (1985) 35 ff. 258 Hans Kelsen, Interview mit Suzanne Bernfeld v. 13. 10. 1951. – In den Details irrt Kelsen hier: Nicht Leopold Weininger, wohl aber dessen Vater Salomon Weininger (1822–1879) wurde wegen eines Vermögensdeliktes zu einer relativ kurzen Haftstrafe verurteilt; er starb nicht im Gefängnis (freundlicher Hinweis von Prof. Dr. Jacques Le Rider). 259 Siehe dazu auch Leser, Weininger und die Gegenwart (1984) 25. 253 Staudacher,
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Wesen des Weibes und sein Sinn im Universum«, »Das Judentum«, »Das Weib und die Menschheit« – steigerten die misogynen und antisemitischen Ansätze, die bereits die Dissertation »Eros und Psyche« enthalten hatte, geradezu ins Unerträgliche. Behauptete Weininger doch, eine Reihe von Parallelitäten zwischen dem »Juden« und dem »Weibe« festgestellt zu haben.260 Es mangle ihnen beiden an Persönlichkeit, an Würde, und den »Punkt der stärksten Übereinstimmung zwischen Weiblichkeit und Judentum« sah er darin, dass beide »lüsterner, geiler« aber auch »weniger potent als der arische Mann« seien.261 Sigmund Freud urteilte später einmal ziemlich zutreffend, dass »Weininger, jener hochbegabte und sexuell gestörte junge Philosoph […] als Neurotiker völlig unter der Herrschaft infantiler Komplexe [gestanden war]; die Beziehung zum Kastrationskomplex ist das dem Juden und dem Weibe dort Gemeinsame.«262 Die aus heutiger Sicht absurden und abstoßenden Passagen in Weiningers Buch dürfen aber nicht den Blick darauf verstellen, dass der Autor ein messerscharf denkender und umfassend gebildeter Philosoph war, dem auch jene, die sein Buch ablehnten, Respekt zollten, und auch Freud ihm einen »Hauch von Genialität« attestierte. Mit dem damals tabuisierten Thema Sexualität fand Weininger – wie auch Freud – rasch ein interessiertes Publikum, und sein Werk wurde zu einem der meistgelesenen seiner Zeit, das unzählige Auflagen sowie Übersetzungen in acht Sprachen erlebt hat. Zu seinen Lesern und Bewunderern gehörten ganz unterschiedliche Personen, darunter zwar auch Hitler und Mussolini,263 aber auch August Strindberg, Karl Kraus, Franz Kafka, Robert Musil und viele andere Künstler und Wissenschaftler.264 Ludwig Wittgenstein schrieb 1931 über Weininger: »Es stimmt, er ist verschroben, aber er ist großartig und verschroben. Es ist nicht nötig oder vielmehr unmöglich, mit ihm übereinzustimmen, doch seine Größe liegt in dem, worin wir anderer Meinung sind. Sein gewaltiger Irrtum, der ist großartig.«265 Und hier reiht sich auch die eingangs zitierte Aussage Kelsens ein, er habe von Weininger den Eindruck gehabt, er sei »ein Genie«: Denn »dieser Eindruck ist dadurch hervorgerufen worden, dass er auf so verschiedenen Gebieten in ganz jungen Jahren Ungewöhnliches geleistet hatte.«266 So hob Kelsen hervor, dass Weininger besser Griechisch konnte als sein Gymnasiallehrer,267 und dass er Norwegisch lernte, 260
Weininger, Geschlecht und Charakter (1903) bes. 409 ff. Geschlecht und Charakter (1903) 417. Vgl. Hentges, Weininger (1995) 100. 262 Freud, Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben (1909) 271 Anm. 1. 263 Hamann, Hitlers Wien (1996) 328. 264 Le Rider, Der Fall Otto Weininger (1985) 220 ff. 265 Ludwig Wittgenstein, Schreiben an George Edward Moore v. 1931, zit. n. Le Rider, Der Fall Otto Weininger (1985) 228. 266 Hans Kelsen, Interview mit Kurt Eissler v. 19. 1 2. 1953. 267 Weininger reichte bereits im Alter von 16 Jahren auf Empfehlung seines Griechischlehrers einen etymologischen Aufsatz, betreffend »νῶροψ«, ein nur bei Homer auftretendes Adjektiv, in einer philologischen Fachzeitschrift ein; allerdings wurde der Aufsatz nicht zur Publikation angenommen: Rodlauer, Otto Weininger (1990) 13. 261 Weininger,
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
weil er Hamsun so sehr bewunderte, und nach Norwegen fuhr, um Hamsun kennen zu lernen,268 dass er gleichermaßen in Mathematik und Biologie begabt war, sodass er »wirklich ein universell begabtes Individuum« war. Dass Kelsen die psychischen Eigenwilligkeiten bei Weininger nicht verborgen geblieben waren, erkennt man aus seiner Bemerkung, dass »eine Psychoanalyse von Otto Weininger sehr am Platz gewesen wäre.«269 Die Wirkung, die Weininger auf Kelsen ausübte, ist nicht in dessen misogynen und antisemitischen Äußerungen, sondern in seiner allgemeinen Begeisterung für die Wissenschaft zu suchen: »Weininger’s Persoenlichkeit und der posthume Erfolg seines Werks haben meinen Entschluss wissenschaftlich zu arbeiten wesentlich beeinflusst«, hielt denn auch Kelsen in seiner Autobiographie fest.270 e) »Die Staatslehre des Dante Alighieri« Noch während seiner Studienzeit verfasste Hans Kelsen sein erstes wissenschaftliches Werk, »Die Staatslehre des Dante Alighieri«.271 Wie es dazu kam, erzählte er mehr als sechzig Jahre später wie folgt:272 »Ich war damals Student an der juristischen Fakultät in Wien und die Vorlesungen der Professoren haben mich überaus gelangweilt. Sie waren nicht gut. Die meisten Professoren haben nicht gut vorgetragen. Aber eine Vorlesung hat mich sehr interessiert und das war die des Professors Leo Strisower über Geschichte der Rechtsphilosophie.« Strisower, 1857 als Sohn eines jüdischen Kaufmannes in Brody geboren,273 hatte in Wien die Rechtswissenschaften studiert und sich hier 1881 für Völkerrecht habilitiert. 1901 war Strisower zum außerordentlichen Professor ernannt worden274 und hielt die genannte Vorlesung in jedem Wintersemester, während Bernatzik dies im Sommersemester tat. Hans Kelsen war für die »Geschichte der Rechtsphilosophie« im Sommersemester 1903 inskribiert, hätte also eigentlich Bernatzik hören sollen. Ob dieser erkrankt oder sonst verhindert war,275 ist unbekannt, doch scheint es, dass ihn Strisower damals vertrat – ein Umstand, der vielleicht 268 Tatsächlich unternahm Weininger im August 1902 eine Reise nach Norwegen, für ein Zusammentreffen mit Hamsun gibt es keine Belege: Le Rider, Der Fall Otto Weininger (1985) 39 f. 269 Hans Kelsen, Interview mit Kurt Eissler v. 19. 1 2. 1953. 270 Kelsen, Autobiographie (1947) 3 = HKW I, 35. Hinzuweisen ist darauf, dass Kelsen u. a. die Ansicht Weiningers teilte, dass »jedes menschliche Individuum eine psychologische Mischung« des »männliche[n] und weibliche[n] Prinzip[s]« sei, ohne, dass er allerdings aus dieser Überzeugung misogyne Schlüsse gezogen hätte: Kelsen, Hauptprobleme (1911) 507 = HKW II, 656. 271 Kelsen, Die Staatslehre des Dante Alighieri (1905) = HKW I, 134–300. 272 Hans Kelsen, Interview mit Heinz Keinert, Anfang Juli 1968. Vgl. auch die Schilderung bei Kelsen, Autobiographie (1947) 4 = HKW I, 35 f. 273 Thomas Olechowski, Strisower Leo, in: ÖBL, 62. Lfg. (Wien 2010) 405–406; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 523–526; Zeman, Strisower (2018) 376. – Bei M. Mises, Ludwig von Mises (1981) 26, wird ein Rudolf Strisower als Vetter [2. Grades] von Ludwig von Mises genannt; laut www.geni.com war er zugleich ein Großneffe von Leo Strisower. Es ist unwahrscheinlich, dass Kelsen von dieser doch sehr weit entfernten Verwandtschaft seines Freundes mit dem Professor in irgendeiner Form profitierte. 274 Er erhielt also nicht bloß den Professorentitel; insofern unrichtig Zeman, Strisower (2018) 379. 275 So auch die Vermutung von Zeman, Strisower (2018) 386.
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1. Kapitel: Herkunft, Kindheit und Jugend
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von entscheidender Bedeutung für den Werdegang Kelsens war. Denn offensichtlich fand der junge Student Zutrauen zu dem Professor, der etwas jünger als sein Vater war und aus derselben Stadt wie er stammte. Einmal fragte er ihn: »›Warum gibt es eine Vorlesung über Geschichte der Rechtsphilosophie und keine Vorlesung über Rechtsphilosophie.‹ Darauf hat mir Strisower geantwortet: ›Weil es keine Rechtsphilosophie gibt.‹ Und da hat er insofern recht, weil es zu der Zeit keine rechtsphilosophischen Arbeiten gegeben hat, so daß man nur von einer Geschichte der Rechtsphilosophie sprechen konnte.«276 Eines Tages, so erzählt Kelsen weiter, erwähnte Strisower in seiner Vorlesung, dass Dante nicht nur der Verfasser der »Divina Comedia« gewesen sei, sondern auch eine politische Schrift, »De Monarchia«, verfasst habe. Kelsen wurde hellhörig und fragte in der nächsten Buchhandlung, ob sie dieses Werk im Sortiment hätten. Tatsächlich war ein antiquarisches Exemplar vorhanden,277 und Kelsen kaufte es, las es und beschloss, eine »Staatslehre des Dante« zu schreiben. Strisower hielt von dieser Idee nicht gerade viel: »Sind Sie verrückt? Die Literatur über Dante füllt Bibliotheken. Sie sind nicht imstande, diese Literatur zu beherrschen.« Diese Worte enttäuschten Kelsen zunächst natürlich. »Aber nachdem mich die Vorlesungen so gelangweilt haben, habe ich mir gedacht, was kann da schon geschehen, ich werde die Monographie schreiben und sie wird nicht publiziert werden. Habe mich hingesetzt, habe die Monographie geschrieben und nachdem sie fertig war, habe ich sie meinem Lehrer des Staatsrechts, Prof. Bernatzik, der damals der Herausgeber der Wiener Staatswissenschaftlichen Studien war, unterbreitet.« Bernatzik nahm das Manuskript an (Kelsen musste lediglich alle italienischen Zitate ins Deutsche übersetzen) und publizierte 1905, noch vor Kelsens Promotion,278 die Arbeit in der von ihm und dem Volkswirt Eugen v. Philippovich herausgegebenen Schriftenreihe »Wiener Staatswissenschaftliche Studien«. Kelsen später: »Und das ist die einzige Schrift, die nur gute Rezensionen bekommen hat.« Dass Bernatzik und Philippovich die Arbeit eines noch nicht graduierten Studenten für eine Schriftenreihe, in der auch Habilitationsschriften279 veröffentlicht 276 Siehe dazu auch das Gutachten von Georg Jellinek von 1886, in dem er sich gegen eine obligatorische Prüfung aus Rechtsphilosophie im Rechtsstudium aussprach: »Eine Prüfung aus einer philosophischen Disciplin läßt sich vernünftiger Weise nur als eine Prüfung aus der Geschichte derselben denken. Allgemein anerkannte dogmatische Lösungen der rechtsphilosophischen Probleme gibt es nicht. Solche Lösungen, muß jeder, der überhaupt das Talent dazu hat, sich selbst erarbeiten«. Zit. n. Goller, Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1997) 111. 277 Kelsen verwendete für seine Arbeiten letztlich eine lateinische und drei deutsche Ausgaben der »Monarchie«, am häufigsten eine Sammlung von Dantes prosaischen Schriften von Karl Ludwig Kannegießer und eine selbständige Edition von Oskar Hubatsch, die 1872 in Berlin erschien, vgl. HKW I, 600. Bei dem antiquarischen Exemplar wird es sich wahrscheinlich um das Buch von Hubatsch gehandelt haben. 278 Es handelte sich also nicht, wie oft angenommen wird, um die Dissertation Kelsens. Vielmehr muss nochmals darauf hingewiesen werden, dass nach den damaligen studienrechtlichen Vorschriften keine Dissertation zur Erlangung des juristischen Doktorgrades vorgesehen war. Richtig Lepsius, Dante (2015) 82. 279 So etwa die Habilitationsschrift von Rudolf v. Laun: Laun, Gewerbebetrieb (1908).
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
wurden, zum Druck annahm, war nichts Ungewöhnliches, 1902 z. B. hatte auch Kelsens Schul‑ und Studienfreund Ludwig v. Mises, eine Monographie zur bäuerlichen Gutsherrschaft in dieser Reihe publiziert,280 was seinen Altersgenossen wohl dazu angestachelt hatte, es ihm gleichzutun. Kelsen begann seine Arbeit vermutlich im Sommer 1903;281 in den Oktober desselben Jahres fiel der Suizid Weiningers, der, wie erwähnt, den Entschluss Kelsens, wissenschaftlich in seine Fußstapfen zu treten, weiter festigte. Der Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen ist vor allem daraus ersichtlich, dass Weiningers Vater Leopold, der von Beruf Goldschmied war und auch Email‑ und Antikimitationen herstellte, eine kleine, ca. 15 cm hohe Büste von Dante anfertigte und Kelsen schenkte; dieser hatte das Geschenk bis zu seinem eigenen Tod 1973 stets auf seinem Schreibtisch stehen.282 – Hinzuweisen ist ferner darauf, dass Kelsen im Wintersemester 1904/05 eine Vorlesung über »Dante und seine Zeit« an der philosophischen Fakultät beim Romanisten Karl v. Ettmayer283 gehört hatte, dem er auch – neben Bernatzik, Strisower und einem als »Amanuensis« bezeichneten Dr. Michael Burger, dessen Identität ungeklärt ist – in der Einleitung zu seiner Schrift dankte. Diese Einleitung war auch gleichsam eine Antwort auf die oben zitierte Äußerung Strisowers, indem sich Kelsen gleich zu Beginn dafür rechtfertigte, zur bereits vorhandenen reichen Dante-Literatur ein weiteres Buch hinzuzufügen; allein eine juristische Untersuchung der Staatsdoktrin Dantes sei bislang noch nicht »genügend kritisch« erfolgt. »Diese Lücke auszufüllen, hat sich die gegenständliche Arbeit zur Aufgabe gesetzt.«284 An die Einleitung schlossen sich zehn Kapitel an: Im ersten Kapitel näherte sich Kelsen, einem Adler gleich, in immer engeren Kreisen seinem Thema, indem er zunächst die »Weltlage«, den Kampf zwischen Kaisern und Päpsten im 12. und 13. Jahrhundert beschrieb, sodann auf die politische Lage Italiens einging, das zwischen den Parteien der (tendenziell papsttreuen) Guelfen (bei Kelsen: »Welfen«) und (tendenziell kaisertreuen) Ghibellinen gespalten war und schließlich die politischen Verhältnisse in Florenz schilderte, der Heimat Dantes, aus der er 1302 verbannt worden war.285 Auffallend ist schon hier, dass sich Kelsen nicht der herrschenden Lehre anschloss, Dante sei Ghibelline gewesen: »In Wirklichkeit stand er hoch über allem Parteigetriebe; er hat sich – nach seinen eigenen schönen Worten ›selbst zur Partei gemacht‹. Sein Kaiserideal entspringt nicht einer bestimmten Parteizugehörigkeit; es
280 Mises, Die Entwicklung des gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisses (1902). Vgl. Hülsmann, Mises (2007) 67. 281 Siehe oben zur Datierung des Vorlesungsbesuches 80. 282 So nach der Erzählung der Enkeltochter Anne Feder Lee, in deren Besitz sich die Büste heute befindet. Abbildungen dieser Büste befinden sich in HKW I, 149 f. Vgl. auch die Erwähnung der Büste durch Hans Kelsen, Interview mit Kurt Eissler v. 19. 1 2. 1953. 283 Vgl. über ihn ÖBL, 3. Lfg. (Wien 1956) 272. 284 Kelsen, Die Staatslehre des Dante Alighieri (1905) 1 = HKW I, 138. 285 Zu den historischen Hintergründen vgl. Lepsius, Dante (2015) 84 f.
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ist der Ausdruck einer wissenschaftlichen Überzeugung, die in einem monarchischen Weltstaate das Heil der Menschlichkeit erblickte.«286 Das zweite Kapitel befasste sich mit der zeitgenössischen staatstheoretischen Literatur (von Kelsen, wie zu seiner Zeit noch durchaus üblich, als »Publizistik« bezeichnet). Sie sei beherrscht von einem Dualismus zwischen Staat und Kirche, was für die christliche Doktrin, die ja auch zwischen Leib und Seele, Temporalia und Spiritualia, Mensch und Gottheit unterscheide, typisch sei. Dante selbst wurde im dritten Kapitel als Kind seiner Zeit dargestellt, das vollständig eingebettet war in das mittelalterliche Weltbild, wonach jedes irdische Gemeinwesen, klein oder groß, nur als ein Abbild der Herrschaft Gottes erschien. Auf der untersten Stufe stehe die »domus«, darüber der »vicus«, dann die »civitas«, schließlich die »monarchia«: Letztere sei der Universalstaat, »der die gesamte Menschheit zu einer ungeheueren Einheit zusammenfasst«, und an dessen Spitze Kaiser und Papst stehen. In diesem Kapitel ging Kelsen auch kurz allgemein auf die wichtigsten einschlägigen Schriften Dantes ein: Neben »De Monarchia«, deren Entstehung er in das Jahr 1318 setzte, waren dies auch die etwa zehn Jahre zuvor verfasste kleine Schrift »il convivio«, und natürlich die Göttliche Komödie, an der Dante bis zu seinem Tod gearbeitet hatte, und die auch einige Verse enthielt, die Rückschlüsse auf das Staatsdenken Dantes zuließen. Damit war Kelsen beim Kern seiner Arbeit angelangt. Seiner Ansicht nach sah Dante den Staat als ein Werk Gottes, denn nur im Staate könne der Mensch »seine höhere Bestimmung erreichen.«287 Dies führe zu den Fragen nach der Bestimmung des Menschen und sohin nach dem Zweck des Staates, denen Kelsen im fünften Kapitel nachging. Und er zitierte Dante, wonach »es die eigentümliche Tätigkeit (Aufgabe) des Menschengeschlechtes in seiner Gesamtheit genommen ist, die Gesamtanlage des intellektuellen Vermögens in steter Wirksamkeit zu erhalten, zunächst behufs der Spekulation und dann durch bestimmte Richtungen desselben auch zum Handeln.«288 Die drei wichtigsten »Voraussetzungen«, die der Staat dafür schaffen müsse, seien: Friede, Freiheit, Gerechtigkeit. Besonders der Friede sei zentrales Thema bei Dante; die »ganze göttliche Komödie ist wie durchtränkt von einer tiefen Sehnsucht nach Frieden, die sich immer wieder in den begeistertsten Worten äußert.«289 Mit der Frage nach der richtigen Staatsform habe sich Dante – so wie auch die übrigen Staatslehrer des Mittelalters – kaum auseinandergesetzt. So wie es nur einen Gott gebe, könne es auch nur einen Herrscher geben. Was zu dem einen (dem Einherrscher = Monarchen) hinzutrete, sei überflüssig und daher Gott und der Natur nicht gefällig – Kelsen bezeichnete dies als einen »sehr anfechtbaren« Satz und hielt die – mit Mitteln der Logik (!) erbrachte Beweisführung Dantes – für »abstrus«, unterließ aber 286 Kelsen, Die Staatslehre des Dante Alighieri (1905) 17 = HKW I, 156, das Zitat stammt aus Dante, Divina Commedia, Paradies XVII, 67–69. 287 Kelsen, Die Staatslehre des Dante Alighieri (1905) 19, 40, 52 f. = HKW I, 158, 182, 196 f. 288 Dante, De Monarchia I, iv, 1, zit. n. Kelsen, Die Staatslehre des Dante Alighieri (1905) 59 = HKW I, 204. 289 Kelsen, Die Staatslehre des Dante Alighieri (1905) 60 = HKW I, 205 f.
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eine Widerlegung der »offenkundigen Fehler dieser Deduktionen«. Stattdessen fuhr er fort, indem er betonte, dass Dante nicht einem unbeschränkten Despoten das Wort gesprochen, sondern den Monarchen als einen »Diener der Allgemeinheit« gesehen habe, der zu deren Wohl eingesetzt worden und an das Recht gebunden sei. Gerade hier erweise sich die Modernität von Dantes Lehre, die an den »Antimacchiavell« Friedrichs des Großen erinnere.290 Die mittelalterliche Staatslehre habe den Papst als die Sonne, den Kaiser als den Mond bezeichnet, welcher selbst kein eigenes Licht besitze, sondern nur das Licht der Sonne widerspiegle – eine Theorie, der Dante mit schwerfälliger scholastischer Argumentation widersprochen habe; er selbst sprach von zwei einander gleich geordneten »Leuchten« (luminaria). Dem schon erwähnten Dualismus folgend, nahm Dante eine »Grenzbestimmung zwischen Staat und Kirche« vor, »indem ersterem die irdische, letzterer die himmlische Glückseligkeit der Menschheit als ausschließliche Wirkungskreise zugewiesen werden.« Damit aber verbindet sich die »Idee einer alle Reiche und Länder umspannenden Weltherrschaft«, eine »Lieblingsidee des Mittelalters«, die »in dem politischen Ideale des Danteschen Weltkaisertums seinen grandiosesten Ausdruck erhalten« habe. Dieses Kaisertum sollte in der Tradition des antiken Imperium Romanum stehen, aber alle Völker der Erde – auch die nichtchristlichen – umfassen. In dieser Utopie Dantes sollten die übrigen Königreiche zu bloßen Provinzen des Weltreiches herabsinken, nur die »monarchia«, das Weltkaisertum, die Bezeichnung Staat verdienen. »Zeitgemäß aber ist Dantes Staatsideal durchaus nicht. Noch nicht, weil es seiner Zeit in vielen Punkten weit voraus geeilt war; nicht mehr, weil seine Grundlage sich bereits überlebt hatte, die Basis auf der es aufgebaut war, das Weltkaisertum.«291 »Die Staatslehre des Dante Alighieri«, die 1905 als 150 Seiten starkes Heft Nr. 3 im 6. Band der »Wiener Staatswissenschaftlichen Studien« erschien, wurde ein großer Erfolg für ihren vierundzwanzigjährigen Autor. So schrieb der nur vier Jahre ältere Advokat Egon Zweig in einer Buchbesprechung von »einer vielversprechenden Erstlingsarbeit«, die »von dem Bearbeiter ein gewisses Maß geistiger Askese« verlangt habe: »Es wird nicht bald einer die Geduld aufbringen, sich in die nach Form und Inhalt gleich ungenießbare Publizistik des dreizehnten Jahrhunderts einzulesen«, wobei Zweig zu Recht betonte, dass man nicht ernstlich erwarten konnte, dass Kelsen die gesamte zu Dante erschienene Literatur durcharbeitete.292 Ja, sogar ein gewisses Zuviel an Literatur kreidete Zweig (ein Mitglied der Zionistischen Vereinigung Österreichs293) Kelsen an: Dort nämlich, wo der junge Autor bedenkenlos den Rassisten Houston Stewart Chamberlain zitiert hatte, um zu betonen, dass Dantes Ansichten über das Verhältnis von Recht und Staat »[d]urchaus germanischen Charakters« seien.294 290 Kelsen,
Die Staatslehre des Dante Alighieri (1905) 82 f., 88 = HKW I, 228 f., 234. Die Staatslehre des Dante Alighieri (1905) 115 f., 121, 136 = HKW I, 263, 268 f., 283. 292 Zweig, Studien und Kritiken (1907) 26–32. 293 Rein, Zweig (2008). 294 Kelsen, Die Staatslehre des Dante Alighieri (1905) 90 Anm. 1 = HKW I, 236. 291 Kelsen,
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1. Kapitel: Herkunft, Kindheit und Jugend
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Hätte Zweig das Buch Kelsens gründlicher studiert und hätte er die dazu notwendigen Vorkenntnisse gehabt, so wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass sich Kelsen kaum selbständig mit dem Dante-Text auseinandergesetzt, sondern weitgehend nur die Sekundärliteratur referiert hatte. Sogar Zitate wurden von ihm weitgehend sekundär übernommen.295 Kelsens eigenes, späteres Urteil, es handelte sich nur um »eine unoriginelle Schuelerarbeit«,296 ist wohl zutreffend.297 Wer Kelsen von seinen späteren, rechtstheoretischen Schriften her kennen gelernt hat, wird bei der Lektüre dieses Erstlingswerks verblüfft sein angesichts der liebevollen Schilderung historischer Details und der fast schon zu farbigen Darstellung, die noch deutlich im Stil eines sehr jungen Autors gehalten ist (der Kenner sei allerdings nur an das »Gorgonenhaupt der Macht«298 erinnert, um zu erkennen, dass Kelsen auch noch in späteren Jahren immer wieder zu einer bilderreichen Sprache neigte). Aber in vielen Details ist auch schon der spätere Kelsen erkennbar: So zitiert er bereits hier das 18. Kapitel des Johannesevangeliums,299 das er auch in vielen späteren Schriften anführen und als eines der »großartigsten« Werke »der Weltliteratur« bezeichnen wird.300 Vor allem aber ist es der Gedanke einer »Weltreichsidee«, der Kelsen schon hier fesselt301 und ihn sein ganzes Leben lang – wenn auch in stark veränderter Form – nicht los lassen wird.302 f ) Die Taufe Die Parallelisierung von Antisemitismus und Antifeminismus, wie sie durch Weininger erfolgt war, vermag nur auf dem ersten Blick zu überraschen. Beide waren Reaktionen auf die Emanzipation der Frau bzw. die Emanzipation der Juden, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wesentliche Fortschritte erzielt hatten, Versuche, diese beiden bislang rechtlich diskriminierten Stände weiterhin, wenn auch nun zum Teil mit anderen Mitteln, an den gesellschaftlichen Rand zu drücken.303 Und indem Weininger die »Anpassungsfähigkeit« der Juden thematisierte, spielte er auf die zunehmenden Assimilierungstendenzen derselben an, die mit der Judenemanzipation einhergingen. Es ist kein Zufall, dass eben in jener Epoche, in der sich immer mehr Juden taufen ließen, der Judenhass sein religiöses Fundament allmählich abstreifte 295 So
Jestaedt in HKW I, 599 f. Autobiographie (1947) 4 = HKW I, 36. 297 Anderer Ansicht Lepsius, Dante (2015) 81. 298 Kelsen, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 3 (Berlin-Leipzig 1927) 55. 299 Kelsen, Die Staatslehre des Dante Alighieri (1905) 29 = HKW I, 170. 300 Kelsen, Demokratie (1920b) 37 = VdD 32. 301 Kelsen, Die Staatslehre des Dante Alighieri (1905) 121 ff. = HKW I, 268 ff. 302 So meint Lepsius, Dante (2015) 84, dass Kelsen das rechtshistorische Thema v. a. deshalb reizte, weil er sich schon hier auch mit rechtsphilosophischen Fragen, insbesondere aber mit den »politische[n] Hintergründe[n] erkenntnistheoretischer Positionen« beschäftigen konnte. Vgl. auch Kelsen, Souveränität (1920) 317 = HKW IV, 569. 303 Johnston, Geistesgeschichte (2006) 39; Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt (2010) 486. 296 Kelsen,
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
und in zunehmendem Maße mit rassistischen Theorien gerechtfertigt wurde. In diesem Sinne kann der in Österreich 1899–1901 gegen den jüdischen Schustergesellen Leopold Hilsner geführte Ritualmordprozess304 noch als ein letzter Ausläufer eines primär religiös geprägten Antijudaismus angesehen werden, während die zeitgleiche »Affäre Dreyfus« in Frankreich (1894–1906) schon deutlich die Züge des für das 20. Jahrhundert so typischen rassistischen Antisemitismus trug. Die Wurzeln des Antisemitismus lagen tief; er entstammte einem sonderbaren Gemisch aus jahrhundertealten Vorurteilen, religiösem Wahn, wirtschaftlichem Neid und äußerster Überdehnung der Thesen Darwins. Und das vielleicht erstaunlichste: Selbst einige Juden wie Weininger waren Antisemiten, zerrieben sich in einer Art Selbsthass, der vielleicht in der Erkenntnis wurzeln mochte, dass alle Anstrengung, sich zu assimilieren, vergebens sei, dass ein Jude immer ein Jude und damit »anders« als die »Anderen«, die »Arier«, bleiben werde.305 Hatte Theodor Herzl seine eigenen Konsequenzen aus der »Affäre Dreyfus« gezogen und den Zionismus in bewusster Abgrenzung von den bisherigen Assimilierungstendenzen begründet, so lehnten andere, wie Weininger, den Zionismus ab, weil sie die Juden als nicht reif zur Bildung eines eigenen Staates erachteten; ihr »natürliches Leben« liege in der Diaspora. Weiningers Antisemitismus war von einer fast manischen Art. Er verleugnete keineswegs seine eigene jüdische Herkunft, auch wenn er sich taufen hatte lassen, im Gegenteil vertrat er sogar die These, dass »die allerschärfsten Antisemiten unter den Juden zu finden sind«, da es das Moment des Wiedererkennens der eigenen jüdischen Eigenschaften im Anderen sei, das den antisemitischen Hass heraufbeschwöre, Antisemitismus somit ein »Projektionsphänomen« sei.306 Aber hier übertrieb Weininger einmal mehr: Die weitaus überwiegende Zahl der Antisemiten war nicht-jüdisch. Viele von ihnen waren noch nie oder kaum direkt mit Juden in Kontakt gekommen, kannten »das Fremde« nur vom Hörensagen; mitunter ging es aber auch um die ganz konkrete – berechtigte oder unberechtigte – Furcht, von Juden, sei es im Berufsleben, sei es bei ihrem Buhlen um das andere Geschlecht, sei es auf sonstige Weise, Konkurrenz zu erhalten. Tatsache ist: In dem Maße, in dem es Juden gelang, eine immer bessere Schulbildung, sogar eine akademische Ausbildung zu erlangen, erwuchsen ihnen gerade auf universitärem Boden die schärfsten Gegner. Um 1880 waren in Wien – bei einem Gesamtbevölkerungsanteil von 12 % – nicht weniger als 22,3 % der Jusstudenten und 38,6 % der Medizinstudenten jüdisch. Als einer der ersten warnte der weltberühmte Chirurg Theodor Billroth, der 1867–1894 als Ordinarius an der medizinischen Fakultät der Universität Wien lehrte, vor einem Übergewicht der Juden in der Medizin. Später revidierte er seine Ansichten und trat 1891 sogar einem »Verein zur Abwehr des Antisemitismus« bei.307 Aber da waren schon andere auf den Zug 304 Dazu
Wistrich, Die Juden Wiens (1994) 418; Johnston, Geistesgeschichte (2006) 43. Die Juden Wiens (1994) 421. 306 Weininger, Geschlecht und Charakter (1903) 407. 307 Wistrich, Die Juden Wiens (1994) 179; Zudrell, Max Nordau (2003) 106; Hamann, Hitlers Wien (1996) 472. 305 Wistrich,
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1. Kapitel: Herkunft, Kindheit und Jugend
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aufgesprungen, wie insbesondere der Orientalist Adolf Wahrmund, der 1887 in seinem Buch über »Das Gesetz des Nomadenthums und die heutige Judenherrschaft« über den angeblichen Wandertrieb der Juden fabulierte, der bis auf die vierzigjährige Wanderung in der Wüste Sinai308 zurückzuführen sei. Daher seien sie nicht fähig, in Nationen zu denken, und unfähig, ein eigenes Staatswesen aufzubauen.309 Nachdem ein angesehener Professor nach dem anderen die pseudowissenschaftliche Lehre des Antisemitismus verbreitete, darf es nicht Wunder nehmen, dass auch die Studenten schon 1877 begannen, ihre Burschenschaften »judenrein« zu halten – wobei auch hier nicht mehr religiöse, sondern rassistische Kriterien entscheidend waren. Und indem die nächste Generation an Professoren aus eben diesen Studenten hervorging, war es nur eine logische Folge, dass der Antisemitismus sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon fest an den Universitäten etabliert hatte.310 1905, im selben Jahr, in dem die »Staatslehre des Dante« erschien, beschloss Hans Kelsen, sich taufen zu lassen. Studienrechtlich notwendig war dieser Schritt damals nicht (mehr): Schon 1872 war die bis dahin gültige Bestimmung, wonach ein Israelit keine Prüfung aus Kirchenrecht ablegen und daher weder zum Doctor iuris canonici noch zum Doctor iuris utriusque ernannt werden könne, aufgehoben worden.311 Doch war die bis dahin bestehende Tradition unter jüdischen Jusstudenten, knapp vor den Rigorosen der römisch-katholischen Kirche beizutreten, auch nach 1872 bestehen geblieben, da der Konfessionswechsel als geradezu unentbehrlich angesehen wurde, wollte man beim Staat – dem wichtigsten Arbeitgeber für Juristen – Karriere machen. Dass religiöse Motive den Ausschlag zum Religionswechsel gaben, ist dagegen unwahrscheinlich. Hans Kelsen selbst hat sich niemals zu seinen Beweggründen geäußert, nicht einmal gegenüber seinen eigenen Kindern.312 Wer aber Kelsens »Staatslehre des Dante Alighieri« gelesen hat, der wird erkennen, dass ein solches Werk, das nicht mit Kritik am Papsttum spart, kaum von einem Juden veröffentlicht werden konnte, ohne dass sich dieser vehementer antijüdischer Kritik ausgesetzt hätte; es ist durchaus möglich, dass Taufe und Buchveröffentlichung nicht nur zeitlich, sondern auch kausal miteinander eng zusammenhingen. Voraussetzung für den Eintritt in die römisch-katholische Kirche war der Austritt aus der Israelitischen Kultusgemeinde,313 der am 25. Mai 1905 erfolgte.314 Zwei308 Vgl.
Num 14,33. Geschichte des österreichischen Antisemitismus (1993) 65 f. 310 Zum Antisemitismus an den europäischen Universitäten vgl. Fritz/Rossoliński-Liebe/ Starek, Alma Mater Antisemitica (2016); speziell zur Universität Wien: Taschwer, Hochburg des Antisemitismus (2015). 311 Zuletzt geregelt in den Ministerialerlässen vom 21. 11. 1852 Z 6089 und vom 18. 2 . 1853 Z.676, aufgehoben durch § 3 der Verordnung des Ministers für Kultus und Unterricht vom 15. 4. 1872 RGBl 57; vgl. Beck v. Mannagetta/v. Kelle, Universitätsgesetze (1906) 865. 312 Vgl. die Bemerkung bei Hanna Kelsen Oestreicher, Times to remember (1977) 1. 313 Nach Art. 6 Interkonfessionellengesetz v. 25. 5. 1868 RGBl 49 hatte die Erklärung vor der politischen Behörde zu erfolgen, welche ihrerseits die »verlassene Kirche oder Religionsgesellschaft« zu informieren hatte. 314 Austrittserklärung Hans Kelsens gegenüber dem Magistratischen Bezirksamt, 22. 5. 1905, 309 Pauley,
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
einhalb Wochen später, am 10. Juni 1905, wurde Hans Kelsen vom Jesuitenpater Dr. Karl Leifert getauft, und zwar in der Dominikanerkirche (Sta. Maria Rotunda) im I. Bezirk. Als Taufpate fungierte Kelsens Schul‑ und Studienkollege Hans Mayer.315 Kelsen hatte damit eine eher untypische Pfarre gewählt; ein jüdischer Student, der etwas auf sich hielt, ließ die Zeremonie ansonsten lieber in der sog. Schottenkirche316 vornehmen – sofern er nicht überhaupt die evangelische der katholischen Konfession vorzog.317 Möglicherweise hatte Kelsen – oder sein Taufpate – schon früher eine persönliche Beziehung zur Dominikanerkirche; wahrscheinlicher aber ist es, dass die Persönlichkeit des Baptizans ausschlaggebend für die Wahl der Kirche war: Die den Jesuiten gehörige Universitätskirche besaß kein Taufrecht, vielmehr war dieses der Pfarrkirche Sta. Maria Rotunda, zu deren Pfarrsprengel auch die Universitätskirche zählte, vorbehalten, weswegen P. Leifert öfters in der Dominikanerkirche als Taufspender fungierte. Leifert, ein studierter Mediziner, war unter den Studenten für seine intellektuelle Offenheit bekannt, was wohl auch Kelsen angezogen haben mag.318 Die für die Taufe erwachsener Juden vorgeschriebene, diskriminierende Abschwörungsformel – »horresce Iudaicam perfidiam, respue Hebraicam superstitionem [fürchte die Perfidie der Juden, weise den Aberglauben der Hebräer zurück]« – musste Kelsen aber dennoch über sich ergehen lassen. g) Die Promotion Vier prüfungsfreie Semester nachdem er seine rechtshistorische Staatsprüfung abgelegt hatte, trat Hans Kelsen zwischen Oktober 1905 und Mai 1906 zu insgesamt fünf kommissionellen Prüfungen an, bei denen er über den gesamten Stoff des Studiums mündlich befragt wurde. Den Auftakt bildete die judizielle Staatsprüfung am 9. Oktober 1905, gefolgt vom judiziellen Rigorosum am 23. Oktober. Während uns die Namen der Mitglieder der judiziellen Staatsprüfungskommission nicht erhalten sind,319 ist der Ablauf des Rigorosums aufgrund des entsprechenden Protokolls genau dokumentiert: Kelsen wurde vom Handelsrechtler o. Univ.-Prof. Dr. Carl Samuel Grünhut mit »ungenügend« beurteilt, während der Zivilrechtler o. Univ.-Prof. Dr. Josef Freiherr Schey sowie Protokoll des Magistratischen Bezirksamtes für den VI. Bezirk, 25. 5. 1905, WrStLA 1.4.6.A9.6.K-Kart. 15/16628/05. 315 Pfarre Sta. Maria Rotunda zu Wien, Geburts‑ und Taufbuch Nr. XII (1905–1941, Konvertiten), fol 9 f. = Taufregister VI B (Copie VI) fol 233. Ein Auszug in Faksimile bei in Ettl/Murauer, Kelsen (2010) 22. Der Eintrag erfolgt nach der Taufe Nr. 12/1905, die Taufe Kelsens selbst wird – wie eine Konversion eines akatholischen Christen zum Katholizismus – ohne Nummer geführt, offenbar, da sie im Gegensatz zu einer Kindertaufe nicht auch zugleich Geburteneintrag ist. Zum Taufrecht als Privileg der Pfarrer vgl. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts IV (1966) 44 f. 316 Die zum Benediktinerstift »Unsere liebe Frau zu den Schotten« gehörende Kirche verdankt ihren Namen dem Umstand, dass sie auf eine Gründung iroschottischer Mönche zurückgeht. 317 Staudacher, Zwischen Emanzipation und Assimilation (2009) 47. 318 Murauer, Lebensspuren (2010) 24 f. 319 Das judizielle Staatsprüfungsprotokoll ist 1945 verbrannt, das Datum ergibt sich jedoch aus dem Eintrag Hans Kelsens in: Rechtsanwaltskammer Wien, Rechtsanwaltsanwärter-Liste V/326.
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1. Kapitel: Herkunft, Kindheit und Jugend
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Abb. 13: Universität Wien, vor 1898.
v. Koromla, der Strafrechtler o. Univ.-Prof. Dr. Carl Stooss und der Zivilprozessualist o. Univ.-Prof. Dr. Emil Schrutka v. Rechtenstamm (der als Dekan zugleich den Vorsitz führte) den Kandidaten jeweils mit »genügend« beurteilten, sodass Kelsen das Rigorosum in Summe knapp, aber doch bestand.320 Ein Semester später folgten am 20. Februar 1906 das staatswissenschaftliche Rigorosum und gleich darauf, am 22. Februar, die staatswissenschaftliche Staatsprüfung. Das Rigorosum wurde vom Prodekan, dem Volkswirt o. Univ.-Prof. Dr. Friedrich Freiherr v. Wieser, als Vorsitzendem gemeinsam mit dem zweiten Nationalökonomen und amtierenden Rektor, o. Univ.-Prof. Dr. Eugen Philippovich v. Philippsberg, ferner dem Staatsrechtler o. Univ.-Prof. Dr. Edmund Bernatzik und dem Völkerrechtler ao. Univ.Prof. Dr. Leo Strisower321 abgenommen, und zwar einstimmig mit genügendem Erfolg.322 Bei der Staatsprüfung führte der Staatsrechtler o. Univ.-Prof. Dr. Adolf Menzel den Vorsitz, der Kommission gehörten außerdem noch der Rat (und spätere Präsident) des Verwaltungsgerichtshofes Dr. Maximilian Schuster v. Bonnott, der Sektionschef im k. k. Landesverteidigungsministerium Dr. Otto Stöger sowie der Advokat Dr. Wilhelm Rosenberg an; Kelsen erlangte eine Auszeichnung aus der Nationalökonomie, in den anderen Fächern erhielt er die Note »genügend«.323
320 UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Juristisches Rigorosen Protocoll J 13.16 1904– 1905, Zahl 1593. 321 Obwohl Extraordinarius, wurde Strisower immer wieder, offenbar aushilfsweise, auch zu Rigorosen herangezogen. Vgl. etwa das staatswissenschaftliche Rigorosum des Studenten Hugo Silzer am 15. 1 2. 1905, in: UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Juristisches Rigorosen Protocoll J 13.16 1904–1905, Zahl 1591 (dort mit fremdhändiger, dafür aber auch deutlicher lesbarer Setzung des Namenszugs der Prüfenden). 322 UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Juristisches Rigorosen Protocoll J 13.16 1904– 1905, Zahl 1593. 323 UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Staatswissenschaftliches Staatsprüfungsprotokoll Z.258 (22. 2 . 1906). Die Identifizierung der Namen erfolgte mit Hilfe des Niederösterreichischen Amtskalenders (1906) 601.
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
Die letzte Prüfung des Studiums bildete, wie üblich, das rechtshistorische Rigorosum (das sog. Romanum), welches Kelsen am 7. Mai 1906 ablegte. Den Vorsitz führte Dekan Schrutka (der, wie oben angeführt, ja auch Vorlesungen aus Römischem Recht hielt), das Römische Recht wurde von o. Univ.-Prof. Dr. Moritz Wlassak, das Deutsche Recht von o. Univ.-Prof. Dr. Ernst Freiherr v. Schwind, das Kirchenrecht von ao. Univ.-Prof. Dr. Max Layer324 und die österreichische Reichsgeschichte von o. Univ.Prof. Dr. Sigmund Adler geprüft. Hier schnitt Kelsen am besten ab, denn Layer und Wlassak gaben ihm ein »plus genügend«, Schwind gar ein »minus ausgezeichnet.«325 Die hohe Anzahl an »genügend« bei den Abschlussprüfungen, gar das »ungenügend« im Handelsrecht, mag die moderne Leserin bzw. den modernen Leser überraschen. Doch zeigt ein Vergleich mit anderen Staatsprüfungen und Rigorosen zu jener Zeit, dass Kelsen auch hier wieder im Durchschnitt seiner Kommilitonen stand: Auszeichnungen waren die große Ausnahme, das »genügend« der Regelfall für positive Leistungen bei diesen Prüfungen. Am 18. Mai 1906 erfolgte die festliche akademische Feier, die von Rektor Philippovich und Dekan Schrutka gemeinsam geleitet wurde. Als Promotor fungierte der Straf‑ und Völkerrechtler o. Univ.-Prof. Dr. Heinrich Lammasch.326 Von der Zeremonie sind uns keine Details überliefert, doch wird sie nicht viel anders abgelaufen sein, als dies noch heute im Großen Festsaal der Universität Wien geschieht (ausgenommen den Umstand, dass die Professoren damals keine Talare, sondern Beamtenuniformen trugen). Zunächst hielten Rektor und Dekan Ansprachen, hierauf hatte der Promotor die lateinische Formel zu verlesen, in der er die Promovenden aufforderte, die Universität in ehrenvollem Angedenken zu behalten, sich des akademischen Grades, den sie nun erhalten würden, entsprechend würdevoll zu verhalten und in ihrem Beruf stets nach Recht und Gerechtigkeit zu streben.327 Nachdem Hans Kelsen und die anderen 30 Promovenden dieses Gelöbnis geleistet hatten, wurden sie von Lammasch zum »Juris Doctor« (JDr.) promoviert.
324 Der damalige Extraordinarius für Verwaltungslehre vertrat seit der Erkrankung des am 10. 2 . 1906 verstorbenen Kanonisten Karl Groß denselben bei Vorlesungen und Prüfungen. Vgl. Archiv der ÖAW, Personalakt Layer Max, curriculum vitae, S. 2. 325 UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Juristisches Rigorosen Protocoll J 13.16 1904– 1905, Zahl 1593. 326 UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Promotionsprotokoll 1905/06, Sig M 32.3–32.6, Zahl 762. Unrichtig daher Métall, Kelsen (1969) 8, der den 18. 6. 1906 als Promotionsdatum angibt. 327 Erlass des Ministers für Cultus und Unterricht v. 17. 10. 1873 Z. 11.914, Beck/Kelle, Universitäten (1906) Nr. 495.
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Zweites Kapitel
Die Anfänge der Wiener Schule 1. Sprung ins Berufsleben Es wurde bereits erwähnt, dass Hans Kelsen bei seiner Immatrikulation an der Universität Wien die »Chance, Hochschullehrer und Gelehrter zu werden, […] ueber haupt nicht in ernstliche Erwaegung« gezogen hatte.328 Vielmehr war er recht nüchtern davon ausgegangen, dass ihn dieses Studium eines Tages zum Richteramt oder – wahrscheinlicher – zum Rechtsanwaltsberuf führen würde. Viereinhalb Jahre und ein absolviertes Jusstudium später war zwar Kelsens Interesse an wissenschaftlicher Arbeit geweckt, aber die Notwendigkeit, einen Beruf zu finden, der auch Geld einbrachte, geblieben. Wie schwierig dies für einen Mann von der Herkunft Kelsens war, berichtet uns Métall in einer – von Kelsen selbst in seiner Autobiographie nicht festgehaltenen – Episode, wonach Kelsen einmal (vermutlich 1907 oder 1908) versuchte, die Stelle eines Mitarbeiters (»Konzipisten«) in der Kanzlei der Universität Wien zu erlangen. Dabei hob Métall hervor, dass auch der spätere Justizminister Franz Klein, der Schöpfer der ZPO, einst in der Universitätskanzlei gearbeitet hatte; vielleicht hoffte Kelsen, dass auch ihm neben dieser Berufstätigkeit ein wenig Zeit für wissenschaftliche Arbeit bleiben würde. Tatsächlich teilte ihm der Kanzleidirektor, Hofrat Dr. Karl Brockhausen,329 mit, dass »er der bestqualifizierte Bewerber sei und daher vom Rektor demnächst ernannt werden würde«.330 Als Kelsen jedoch am vereinbarten Tag zum Dienstantritt in der Kanzlei erschien, musste ihm Brockhausen, »ein überaus feinsinniger und ideal denkender Mensch und sicherlich kein Antisemit«, mitteilen, dass der Rektor anhand der Unterlagen erkannt habe, dass Kelsen (getaufter) Jude sei; »die Ernennung eines Judenstämmlings käme aber wegen der ständigen Beziehungen der zur Besetzung gelangenden Stelle zu den deutschnationalen-antisemitischen Studenten nicht in Frage.«331 328 Kelsen,
Autobiographie (1947) 3 = HKW I, 34. Vgl. schon oben 62. Emmerich/preuß. Rheinprovinz 9. 5. 1859, gest. Kitzbühel/Tirol 16. 9. 1951, vgl. Olechowski/Ehs/Staudigl, Fakultät (2014) 470. Zum 70. Geburtstag Brockhausens verfasste Kelsen eine Würdigung in der NFP, in der er auch eingehend die politisch heikle Stellung Brockhausens als Kanzleidirektor würdigte und ihn als den »gute[n] Geist der Wiener Universität« bezeichnete: Kelsen, Brockhausen (1929). 330 Métall, Kelsen (1969) 13. 331 Métall, Kelsen (1969) 13. – Da kein Datum genannt wird, bleibt unklar, welche Person zu 329 Geb.
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
Erlebnisse wie diese, die sowohl Kelsen als auch vielen anderen seiner Kameraden zu jener Zeit immer wieder widerfuhren, waren wohl mitverantwortlich dafür, dass er seine Hoffnungen auf eine Anstellung an der Universität Wien oder auch nur auf eine andere Stelle in der staatlichen Verwaltung wenigstens vorläufig aufgeben musste. Für einen »Judenstämmling« – um bei der Terminologie Brockhausens zu bleiben – war der Rechtsanwaltsberuf die am ehesten Erfolg versprechende berufliche Tätigkeit; und dies war auch der eigentliche Grund dafür, weshalb rund ein Drittel der Wiener Jus-Absolventen, aber rund zwei Drittel der Wiener Rechtsanwälte jüdischer Herkunft waren!332 Erst vor diesem Hintergrund erschließt sich die ganze Bedeutung der Aussage Kelsens, wonach der Richterberuf seine »stille Hoffnung«, die Anwaltschaft jedoch Kelsens »wahrscheinliche« Zukunft war. Gesetzliche Voraussetzungen für die Zulassung zur Advokatur waren – außer dem Abschluss der juridisch-politischen Studien – eine zwölfmonatige Praxis bei Gericht (»Gerichtsjahr«) sowie eine sechsjährige praktische Tätigkeit als Jurist, davon zumindest drei Jahre als Mitarbeiter (»Konzipient«) bei einem Rechtsanwalt oder bei der Finanzprokuratur, der Anwaltschaft des Staates. Erst nach Vollendung dieser Zeiten wurden die Kandidaten zur Advokaturprüfung zugelassen.333 Mit der Ablegung der dritten Staatsprüfung am 22. Februar 1906 hatte Hans Kelsen das sog. Absolutorium erhalten, das ihn berechtigte, als Konzipient in eine Kanzlei einzutreten, und schon am 2. März begann er bei einem Wiener Rechtsanwalt namens Heinrich Singer zu arbeiten,334 jedoch nur drei Monate, denn am 9. Juni, also knapp nach der Promotion, begann er mit dem Gerichtsjahr, das er – mit Unterbrechungen – auch komplett absolvierte. Seine erste Station war dabei das Bezirksgericht Leopoldstadt II,335 wo er bis Weihnachten tätig war; am 27. Dezember 1906 wechselte er in das Landesgericht für Strafsachen Wien336 und arbeitete dort, mit einer vierzehntägigen Unterbrechung zwischen 3. und 17. Februar, zunächst bis zum 17. März 1907. Es folgte eine neuerliche Pause, diesmal von drei Wochen, bis er am 9. April in die jener Zeit das Rektorat innehatte. Möglich wären der Philologe Wilhelm Meyer-Lübke, der für das Studienjahr 1906/07 zum Rektor gewählt worden war, oder sein Nachfolger für das Studienjahr 1907/08, der Histologe Viktor v. Ebner-Rosenstein. 332 Sauer /Reiter-Zatloukal, Advokaten 1938 (2010) 3. 333 Advocatenordnung, Anlage zum Gesetz v. 6. 7. 1868 RGBl 96, §§ 1–3. 334 Rechtsanwaltskammer Wien, Rechtsanwaltsanwärter-Liste V/326. Die Kanzlei war laut Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger 1906, in Wien I., Freisingergasse 4, also hinter der Peterskirche, gelegen. 335 Zur damaligen Zeit existierten im II. Wiener Gemeindebezirk Leopoldstadt gleich zwei Bezirksgerichte; nach Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger 1906, hatte das BG Leopoldstadt II seine Adresse in der Blumauergasse 22, vgl. auch Waldstätten, Gerichte in Wien (2011) 182. 336 Das mit seiner Rückfront vis-à-vis von Hans Kelsens späterer Wohnung in der Wickenburggasse gelegene Gerichtsgebäude hatte damals die Anschrift Wien VIII., Landesgerichtsstraße 21 (heute Nr. 11), vgl. Waldstätten, Gerichte in Wien (2011) 115. Ungenau Métall, Kelsen (1969) 10, der schreibt, Kelsen habe sein Gerichtsjahr am »Oberlandesgericht in Wien« absolviert; tatsächlich befanden sich lediglich alle genannten Gerichte im Sprengel des für die Richterausbildung zuständigen Oberlandesgerichts Wien.
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Kanzlei des Anwaltes Alois Löwy eintrat, wo er – wenigstens formell – elf Monate, bis zum 28. Februar 1908, blieb.337 Während dieser Zeit, 1907, veröffentlichte Kelsen in der Zeitschrift »Österreichisches Verwaltungsarchiv« einen zehnseitigen Aufsatz über »Naturalisation und Heimatberechtigung nach österreichischem Rechte«. Kelsen ging in dieser Arbeit der Frage nach, ob die Verleihung der Staatsbürgerschaft, wie von der herrschenden Lehre behauptet, davon abhängig sei, ob der Betreffende auch die Zusicherung vorweisen könne, dass er die Heimatberechtigung in einer österreichischen Gemeinde erhalten werde. Kelsen verneinte diese Frage: »Die in diesem Punkte geübte Praxis ist ungesetzlich und überdies nicht zweckmäßig«.338 Von biographischem Interesse ist die kleine Schrift vor allem aufgrund der Fußnote auf der ersten Seite, wonach der Aufsatz »anlässlich einer von Herrn Professor Dr. Adolf Menzel veranstalteten Seminarübung über österreichisches Staatsbürgerrecht« entstanden sei.339 In seiner Autobiographie erwähnt Kelsen diesen Seminarbesuch nicht, ja, sein Verhältnis zu Menzel wird geradezu bemüht diminuiert: Menzel habe sich ihm gegenüber »[p]ersönlich […] immer sehr freundschaftlich verhalten und [ihm] einige sehr eintraegliche Nachhilfestunden verschafft.« Doch ansonsten – und das kann nur heißen: auf wissenschaftlichem Gebiet – habe Kelsen bis zu seiner Habilitation »nur wenig Fuehlung« mit Menzel gehabt, zumal dessen Schwerpunkt die antike Staatsphilosophie gewesen sei.340 Tatsächlich aber hatte Menzel 1906 eine (wenn auch kurze) Monographie über »Die Systeme des Wahlrechts«341 verfasst und damit die Anregung zu zwei weiteren Publikationen Kelsens, übrigens den ersten seit seiner »Staatslehre Dantes«, gegeben. Aufbauend auf Menzels Arbeiten, sollte sich Kelsen sogar zu einem Wahlrechtsexperten ersten Ranges entwickeln, und kaum ein Gebiet des positiven österreichischen Verfassungsrechts sollte von Kelsen eine so gründliche Behandlung erfahren wie dieses. Konkret handelte es sich – zunächst – um die folgenden Arbeiten: Ein Aufsatz über »Wählerlisten und Reklamationsrecht« entstand laut Kelsens eigenen Angaben »auf Initiative des Herrn Universitätsprofessors Dr. Adolf Menzel«; er wurde in vier Teilen im Juni und Juli 1906 in den (damals im 14-Tage-Intervall erscheinenden) »Juristischen Blättern« veröffentlicht und sollte nach Angaben des Verfassers »Teil
337 Rechtsanwaltskammer Wien, Rechtsanwaltsanwärter-Liste V/326. Vgl. dazu Busch, Kelsen an der Exportakademie (2010) 73 f. Nach Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger 1907, hatte Löwy seine Kanzlei an der Adresse Wien I., Graben 13. 338 Kelsen, Naturalisation und Heimatberechtigung (1907) 204 = HKW I, 560. 339 Kelsen, Naturalisation und Heimatberechtigung (1907) 195 = HKW I, 546. Auch Menzel hatte sich literarisch zum Heimatrecht geäußert: Menzel, Heimatsgesetz (1894). 340 Kelsen, Autobiographie (1947) 9 = HKW I, 43. Erst in einem Rückblick anlässlich der 600-Jahr-Feier der Universität Wien nennt Kelsen Menzel als seinen zweiten Lehrer neben Bernatzik: Kelsen, Encounters and Problems (1965) 3. 341 Adolf Menzel, Die Systeme des Wahlrechts (1906). Vgl. dazu Strejcek, Entwicklung (2010) 44.
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einer größeren Arbeit über den Rechtsschutz des Wahlrechtes« sein,342 die jedoch niemals erschien. Stattdessen veröffentlichte Kelsen im Frühjahr 1907 einen Kommentar zu der am 26. Jänner desselben Jahres vom Kaiser sanktionierten Reichsratswahlordnung.343 Das über 200 Seiten starke Buch erschien im Verlag Manz, und auch hier bedankte sich Kelsen im Vorwort für die Förderung, die er bei seiner Arbeit von Menzel erfahren hatte.
2. Der Wahlrechtsexperte a) Der Weg zum allgemeinen Wahlrecht Das Wahlrecht war um die Jahrhundertwende das beherrschende Thema der österreichischen Innenpolitik. In der Einleitung zu seinem Kommentar bot Kelsen auch einen historischen Überblick, der allerdings auf die Darstellung der relevanten Normen beschränkt war und die politischen Hintergründe weitgehend ausblendete; sie seien hier zum besseren Verständnis dennoch in aller Kürze zusammengefasst. Kelsen begann seine Darstellung mit einem Rückblick auf die Wahlordnungen des Revolutionsjahres 1848, welche ein Wahlrecht für alle volljährigen, männlichen Staatsbürger gebracht hatten.344 Auf dieser Grundlage hatten im Juni/Juli 1848 die ersten Wahlen zum österreichischen Reichstag stattgefunden. »Die bekannten Ereignisse des Jahres 1849« – Kelsen spielte hier auf die gewaltsame Niederschlagung der Revolution an – »führten zur Auflösung des Reichstages«.345 1860/61 kehrte Österreich zum Parlamentarismus, jedoch noch nicht zu echten konstitutionellen Verhältnissen zurück. Vielmehr war die zweite Kammer des Reichsrates, das Abgeordnetenhaus, nach einem »neuständischen System« in vier Kurien (Großgrundbesitzer/Städte und Märkte/Handels‑ und Gewerbekammern/Landgemeinden) gegliedert, und jede dieser Kurien hatte eine verfassungsgesetzlich festgelegte Zahl an Abgeordneten, was z. B. dazu führte, dass die Stimme eines Großgrundbesitzers das 140fache Stimmgewicht eines Wahlberechtigten aus der Kurie der Landgemeinde hatte. Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass das Wahlrecht von vornherein von einer gewissen Steuerleistung, dem Zensus, abhängig war, sodass das Wahlrecht insgesamt auf rund 6 % der Bevölkerung eingeschränkt war. Als eine Volksvertretung konnte das Abgeordnetenhaus also nicht angesehen werden.346 Die Bemühungen um eine Ausweitung des Wahlrechtes hatten zunächst zu einer Senkung des Zensus geführt, sodass ab 1882 alle Personen, die zumindest 5 fl direkter Steuern im Jahr zahlten, das Wahlrecht besaßen. Der Versuch des Ministerpräsidenten 342 Kelsen,
Wählerlisten und Reklamationsrecht (1906) 289 Anm * = HKW I, 302 Anm *. Reichsratswahlordnung (1907) = HKW I, 332–544. 344 Wahlordnung v. 9. 5. 1848 PGS LXXVI/57, infolge der Maiunruhen ersetzt durch die Wahlordnung v. 30. 5. 1848 PGS LXXVI/75; vgl. Kelsen, Reichsratswahlordnung (1907) 2 = HKW I, 340 f. 345 Kelsen, Reichsratswahlordnung (1907) 6 = HKW I, 345. 346 Vgl. dazu Olechowski, Lassersche Wahlrechtsreform (2002). 343 Kelsen,
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Eduard Graf Taaffe, nach seiner 1882 durchgesetzten Reform das Wahlrecht ein weiteres Mal auszudehnen, scheiterte und führte 1893 zu seinem Sturz.347 Die Folge waren geradezu chaotische Zustände im Parlament, Störszenen und demonstratives Fernbleiben von den Sitzungen (Obstruktionen); die Regierungschefs, die nach Taaffe in rascher Folge kamen und gingen, regierten fast nur noch mit Hilfe des kaiserlichen Notverordnungsrechts. Dennoch gelang es Ministerpräsident Kasimir Graf Badeni, 1896 eine weitere Wahlrechtsreform durchzubringen, die auch tatsächlich erstmals seit 1848 wieder das allgemeine (Männer‑)Wahlrecht brachte – aber in welcher Form! Die vier bisherigen Kurien – in ihnen wählten ca. 1,8 Millionen Wähler zusammen 353 Abgeordnete – wurden nicht beseitigt, sondern um eine fünfte, allgemeine Wählerkurie ergänzt. In dieser durften alle ca. 5 Millionen erwachsenen Männer, auch jene, die schon in einer der vier alten Kurien wahlberechtigt waren, insgesamt 72 Abgeordnete wählen.348 Damit gelang zwar den Sozialdemokraten nun erstmals der Einzug ins Abgeordnetenhaus, aber nur mit 14 Abgeordneten; die andere Massenpartei, die Christlichsozialen, welche schon vorher mit 10 Mandaten im Abgeordnetenhaus vertreten waren, kamen nun auf immerhin 28 Sitze.349 Die Badenische Wahlrechtsreform wurde von ihnen daher nur als erste Etappe auf einem Weg gesehen, an dessen Ende die gänzliche Beseitigung des Kurien‑ und Zensussystems stehen müsse. Zugleich aber erreichte die Obstruktionsperiode im Parlament um die Jahrhundertwende ihren Höhepunkt, es kam zu Duellen zwischen Abgeordneten und selbst innerhalb des Hohen Hauses an der Ringstraße wurde mit gezückten Taschenmessern aufeinander losgegangen. Zwischen Juni 1903 und Jänner 1905 war das Abgeordnetenhaus vollkommen beschlussunfähig. Unter dem Eindruck der russischen Revolution von 1905 kam es auch in Wien und Prag zu Massendemonstrationen, bei denen ein allgemeines und gleiches Wahlrecht gefordert wurde.350 Nachdem Kaiser Franz Joseph seine prinzipielle Zustimmung gegeben hatte, konnte Ministerpräsident Max Vladimir Freiherr v. Beck eine entsprechende Regierungsvorlage im Reichsrat durchbringen, die am 26. Jänner 1907 die kaiserliche Sanktion erhielt.351 b) Der Wahlrechtskommentar »Die Wahlreform von 1907 charakterisiert sich durch die vollständige Aufhebung des Kuriensystems, Schaffung eines allgemeinen und direkten Wahlrechts, mit durchwegs schriftlicher, geheimer Stimmgebung«, schrieb Kelsen in seinem Kommentar.352 Er 347 Reiter,
Wahlrecht (2010) 176. Reichsratswahlordnung (1907) 18 = HKW I, 357; Reiter, Wahlrecht (2010) 181. 349 Reiter, Wahlrecht (2010) 184. 350 Rumpler, Parlament und Regierung (2000) 876; Reiter, Wahlrecht (2010) 187. 351 Gesetz v. 26. 1. 1907 RGBl 15 (Novelle des in Verfassungsrang stehenden StGG-RV ); Gesetz v. 26. 1. 1907 RGBl 17 betreffend die Wahl der Mitglieder des Abgeordnetenhauses des Reichsrates (Wahlordnung). 352 Kelsen, Reichsratswahlordnung (1907) 20 = HKW I, 359. 348 Kelsen,
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vermied damit das Wort »gleich«, welches in der sonstigen Literatur doch vielfach für die Becksche Reform verwendet wurde – und dies mit gutem Grund: Die Wahlkreise waren bewusst so gezogen worden, dass das Stimmgewicht von Region zu Region verschieden war, »um gewissen, nicht in der bloßen Kopfzahl zum Ausdrucke gelangenden, aber dennoch vertretungswürdigen Interessen zu einer Repräsentation im Parlamente zu verhelfen.«353 Explizit nannte Kelsen die »nationalen Gegensätze und de[n] Widerstreit zwischen Stadt und Land, Industrie und Landwirtschaft« als Gründe hierfür und billigte diese Ungleichbehandlung auch ganz offensichtlich, indem er hinzufügte, dass »die ausschließliche Anerkennung der Einwohnerzahl als Vertretungsprinzip zwar ein gleiches, aber kein gerechtes Wahlsystem« ergäbe (!).354 Was konkret hinter dieser absichtlich ungleichen Wahlkreisziehung steckte, ging aus Kelsens Kommentar nur mittelbar hervor, nämlich durch den Vergleich der von ihm abgedruckten Wahlbezirkseinteilung mit der gleichfalls von ihm ohne weitere Erklärungen abgedruckten, den parlamentarischen Materialien entnommenen statistischen Beilagen über die Einwohnerverhältnisse in diesen Wahlkreisen. Demnach repräsentierte im noblen I. Wiener Gemeindebezirk ein Abgeordneter lediglich 12.425 Personen, im X. Bezirk, wo hauptsächlich Arbeiter, viele davon tschechischer Herkunft lebten, dagegen 58.500. In Tirol lag der Durchschnitt bei 33.240 Einwohnern pro Abgeordnetem, in Dalmatien bei 53.164. Und am stärksten ausgeprägt war das Missverhältnis im galizischen Wahlbezirk Nr. 65, zu dem auch Brody zählte, mit 139.500 Personen pro Abgeordnetem.355 Immerhin hatte sich der Gesetzgeber bei der Wahlkreiseinteilung bemüht, möglichst national homogene Wahlkreise zu schaffen, was umso wichtiger war, als in den Ein-Mann-Wahlkreisen die Stimmen der Minorität vollkommen unberücksichtigt blieben.356 Lediglich in Galizien, wo die Polen zwar in den Städten dominierten, jedoch auf dem Land mit den Ukrainern (»Ruthenen«) vermischt lebten, waren die ländlichen Wahlkreise als Zwei-Mann-Wahlkreise eingerichtet worden, um so die polnische Nationalität zu bevorzugen. Einen anderen Weg war man dagegen in Mähren gegangen, wo schon seit 1905 die Wahlberechtigten in zwei nationale Kataster – einen tschechischen und einen deutschen – getrennt waren und so für das gesamte Land eine doppelte Einteilung in 30 tschechische und 19 deutsche Wahlkreise bestand; ein Modell, das zukunftsträchtig schien und nach § 1 Absatz 3 Reichsratswahlordnung auch anderen Kronländern offenstand.357
353 Kelsen,
Reichsratswahlordnung (1907) 156 = HKW I, 497. Vgl. dazu auch Strejcek, Entwicklung (2010) 39. 354 Kelsen, Reichsratswahlordnung (1907) 156 = HKW I, 497. 355 Alle Angaben nach Kelsen, Reichsratswahlordnung (1907) 199–213 = HKW I, 532–544. 356 Strejcek, Entwicklung (2010) 43. 357 Kelsen, Reichsratswahlordnung (1907) 25, 125–130. = HKW I, 363, 467–471. Vgl. zum »mährischen Ausgleich« Stourzh, Nationalitäten (1985) 213–228.
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Verlierer der Reform von 1907 waren vor allem die Frauen.358 Das Zensussystem hatte für sie schon bisher einen weitgehenden faktischen Ausschluss vom Wahlrecht bedeutet (denn welche Frau verdiente schon selbst so viel, dass sie zehn Gulden und mehr an jährlichen Steuern leistete?), und 1873 war ihnen auch ausdrücklich das Wahlrecht in den Kurien der Stadt‑ und Landgemeinden verweigert worden.359 Demgegenüber waren in der Kurie der Großgrundbesitzer (einige wenige) Frauen noch bis 1907 wahlberechtigt gewesen. Die Beseitigung der Kurien durch die Reform von 1907 war zugleich die Beseitigung des letzten Rests eines Frauenwahlrechts zum österreichischen Reichsrat. Kelsen selbst vermied es – mit der einen, oben genannten Ausnahme –, auch nur zu einem dieser Probleme politisch Stellung zu beziehen. Sein Kommentar war eine reine Erläuterung der einzelnen Bestimmungen,360 vielfach unter Zuhilfenahme der parlamentarischen Materialien, Vergleichen mit den entsprechenden Bestimmungen der Reichsratswahlordnung 1873, mitunter einem Vergleich zum Wahlrecht in Deutschland, Hinweisen auf ergänzende gesetzliche Bestimmungen etc. Hier unterschied sich der Kommentar von Kelsens 1906 veröffentlichtem Aufsatz über »Wählerlisten und Reklamationsrecht«, der immerhin eine zentrale rechtspolitische Forderung, nämlich die Einführung von permanenten Wählerlisten anstelle der bis dahin für jede Wahl neu angelegten, sog. okkasionellen Listen, enthielt. Kelsen hielt es für dringend erforderlich, hier dem Beispiel Frankreichs zu folgen, da die »erst unmittelbar vor jeder Wahl und daher auch in Eile« angefertigten Listen oft fehlerhaft waren und nicht genügend Zeit blieb, rechtzeitig eine Reklamation vorzubringen.361 Der Gesetzgeber von 1907 hatte jedoch diesen Reformvorschlag nicht berücksichtigt, es blieb weiterhin bei den okkasionellen Listen.362 Erst 1923 sollte die Republik Österreich auf das System der permanenten Listen umstellen.363 Es wäre falsch, aus der Zurückhaltung Kelsens in wahlrechtspolitischen Fragen auf ein diesbezügliches Desinteresse zu schließen, dies beweisen deutlich die nach 1918 zu dieser Materie gemachten Vorschläge. Vielmehr folgte Kelsen schon bei dieser frühen Schrift seinem wissenschaftlichen Ideal, der Methodenreinheit, und vermengte nicht die Feststellung dessen, »was und wie das Recht ist«, mit der »Frage wie es sein oder gemacht werden soll«.364 Auffällig ist daher eher schon sein – gemessen an späteren 358 Reiter, Wahlrecht (2010) 199–212; Bader-Zaar, Demokratisierung und Frauenwahlrecht (2018) 31. 359 Dazu schon Olechowski, Lassersche Wahlrechtsreform (2002) 166. 360 Besonders ausführlich befasste er sich mit dem Recht der Wahlprüfung durch das Abgeordnetenhaus; vgl. Strejcek, Entwicklung (2010) 46. 361 Kelsen, Wählerlisten und Reklamationsrecht (1906) 290 = HKW I, 305 f. Vgl. Strejcek, Entwicklung (2010) 47. 362 § 11 Reichsratswahlordnung 1907, vgl. Kelsen, Reichsratswahlordnung (1907) 61 = HKW I, 401. 363 § 29 Nationalratswahlordnung v. 11. 7. 1923 BGBl 367. 364 Kelsen, Reine Rechtslehre (1934) 1. – Jestaedt in HKW I, VII, nennt – unter Anspielung auf Immanuel Kants Arbeiten vor dessen »Kritik der reinen Vernuft« 1781 – die Schaffensperiode Kelsens vor dessen »Hauptproblemen« 1911 dessen »vorkritische Phase«.
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Arbeiten – leichtfertiger Umgang mit dem Wort »gerecht«, gerade wenn es um eine ideologisch so umstrittene Materie wie das Wahlrecht geht. Vor allem aber hatte Kelsen nach seiner philosophisch-theoretischen Schrift über Dante nun auch eine Monographie zu einem rechtsdogmatischen Thema vorgelegt und damit sein Können nicht nur als Philosoph, sondern auch als Jurist unter Beweis gestellt.
3. »… wandte ich mich rechtstheoretischen Studien zu« a) Ein ambitionierter Plan Noch während sich Kelsen mit mittelalterlicher Staatsphilosophie und aktuellen Fragen des österreichischen Wahlrechts beschäftigte, begannen ihn auch »Probleme der Rechtstheorie, wie das der juristischen Person, des subjektiven Rechts, und insbesondere der Begriff des Rechtssatzes, in zunehmendem Masse zu interessieren.« Schon als Student »wandte ich mich rechtstheoretischen Studien zu, als deren erstes Ergebnis […] meine ›Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatz‹, 1911 (in 2. Aufl. 1923) erschienen.«365 Was ihn dazu trieb, erläuterte Kelsen später wie folgt: »Was mir an der ueblichen Darstellung dieser Probleme auffiel, war der voellige Mangel an Exaktheit und systematischer Grundlegung; vor allem aber eine heillose Konfusion der Fragestellung, die permanente Vermengung dessen was positives [Recht] ist mit dem was – von irgendeinem Wertstandpunkt – Recht sein sollte auf der einen Seite, und die Verwischung der Grenze zwischen der Frage, wie sich die Subjekte von positiven Rechts wegen verhalten sollen, und der Frage, wie sie sich tatsaechlich verhalten. Die scharfe Trennung einer Theorie des positiven Rechtes einerseits von der Ethik, andrerseits von der Soziologie, schien mir dringend geboten.«366 Denn, so schrieb er 1911 im Vorwort zu seinen »Hauptproblemen«: »Kaum eine andere Disziplin ist so sehr der Gefahr ausgesetzt, ihre Kompetenz zu überschreiten, als gerade die Jurisprudenz. Denn es ist nicht leicht und bedeutet eine empfindliche Beengung der geistigen Bewegungsfreiheit, seinen Blick immer nur auf die Welt des Sollens gerichtet zu halten, wo doch immer wieder die Versuchung an einen herantritt, in die Welt des wirklichen Lebens, des Seins zu entweichen und das tatsächliche Geschehen zu erklären.« Dann aber gerate der Jurist in eine »Verquickung einander ausschließender Betrachtungsweisen« und flüchte notwendigerweise in Fiktionen, »diese verwerfliche Notlüge der Wissenschaft«.367 Kelsen ging es also um keine Detailfrage, sondern um ein ganz prinzipielles Anliegen, das die gesamten Rechtswissenschaften betraf. So schreibt auch Métall, dass sich Kelsen (lediglich) aus »praktischen Gründen« dazu entschloss, »seine 365 Kelsen, Autobiographie (1947) 4 = HKW I, 36; Kelsen, Selbstdarstellung (1927) 1 = HKW I,
20.
366 Kelsen, 367 Kelsen,
Autobiographie (1947) 4 = HKW I, 36. Hauptprobleme (1911) VIIf = HKW II, 55 f.
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Untersuchung auf die Probleme der Staatsrechtslehre zu beschränken,«368 was vermuten lässt, dass Kelsen ursprünglich eine Arbeit über sämtliche Teildisziplinen der Rechtswissenschaften im Auge hatte. Aber auch das verbliebene Ziel, »die wichtigsten Probleme der Staatsrechtslehre« – und nicht etwa nur eines von ihnen – »einer kritischen Untersuchung zu unterziehen«,369 muss als zumindest ambitioniert bezeichnet werden.370 Nochmals hervorzuheben ist, dass Kelsen bereits als Student daran ging, diesen Plan zu verwirklichen. In seiner »Autobiographie« schreibt er, dass er schon »[b]ald nach Ablegung der ersten (rechtshistorischen) Staatspruefung« auch mit der Arbeit an seinen »Hauptproblemen« begann.371 Dies korrespondiert mit der weiter oben zitierten Äußerung, dass er schon im Seminar Bernatziks den Entschluss gefasst hatte, sich »zu habilitieren«, d. h. die Lehrbefugnis (venia docendi) an der Universität zu erwerben – wofür die Abfassung einer Monographie Voraussetzung war. Die genannte Staatsprüfung fand im Juli 1903 statt; im Februar 1911 sandte Kelsen die letzten Manuskriptbögen seiner Habilitationsschrift an den Tübinger Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Somit arbeitete Kelsen siebeneinhalb Jahre an dem Buch, das im Frühjahr 1911 unter dem Titel »Hauptprobleme der Staatsrechtslehre« erschien. In derselben Zeit stellte er allerdings auch den »Dante« und den »Wahlrechtskommentar« sowie einige kleinere Schriften fertig, und es gab auch Zeiten, in denen er aufgrund beruflicher Verpflichtungen nicht wissenschaftlich arbeiten konnte. Dies alles muss berücksichtigt werden, um allein die quantitative Komponente der Arbeitsleistung Kelsens angemessen würdigen zu können. Nur selten besaß er die Möglichkeit, sich ganz seinen Studien widmen zu können, so etwa mit der oben erwähnten fünfwöchigen Unterbrechung seiner Gerichtspraxis im Februar und März 1907, als er seinen Wahlordnungskommentar abschloss, dessen Vorwort mit »März 1907« datiert ist. Angesichts der wirtschaftlichen Verhältnisse seiner Familie war dies ein absoluter Luxus. Schon 1905, also noch während seines Studiums, war sein erst 55 Jahre alter Vater an einem schweren Herzleiden erkrankt, »das ihn voellig arbeitsunfaehig machte.«372 Der erst 22jährige Bruder Ernst, der die Handelsakademie abgeschlossen hatte und zu jener Zeit Chemie studierte, gab sein Studium auf und bemühte sich – vergeblich –, den wirtschaftlichen Zusammenbruch der väterlichen Fabrik aufzuhalten.373 Am 12. Juli 1907 starb Adolf Kelsen. Er wurde am Wiener Zentralfriedhof, jüdische Abteilung, begraben; Zirkel und Winkelmaß, die Symbole der Freimaurer, 368 Métall,
Kelsen (1969) 9. Autobiographie (1947) 5 = HKW I, 37; vgl. auch Jestaedt in HKW II, 889. 370 Schönberger, Kelsens »Hauptprobleme« (2008) 23, spricht sogar von »vermessen«. 371 Kelsen, Autobiographie (1947) 5 = HKW I, 37. 372 Kelsen, Autobiographie (1947) 6 = HKW I, 38. 373 Die Biografie von Ernst Kelsen kann nur lückenhaft rekonstruiert werden. Sein Schulabschluss ergibt sich aus seiner Militärakte (ÖStA, KA, Qualifikationslisten, Karton 1343, Kelsen Ernst); den Hinweis auf das Chemiestudium verdanke ich seiner Enkeltochter: Carole Angier, Interview mit dem Verfasser 8. 9. 2010. 369 Kelsen,
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schmückten seinen Grabstein.374 Für seinen noch unmündigen jüngsten Sohn, den knapp zehnjährigen Paul Fritz Kelsen, übernahm dessen ältester Bruder Hans die Vormundschaft.375 Hans Kelsen berichtet, dass schon seit 1905 alle Geschwister zusammen halfen, um wirtschaftlich einigermaßen über die Runden zu kommen, seine Schwester Gertrude, indem sie eine Stelle als Sekretärin annahm, er selbst, indem er Nachhilfestunden gab. Erstaunlicherweise erwähnt er nicht, dass er in dieser Zeit ja, wie oben erwähnt, auch als Konzipient bei Rechtsanwalt Alois Löwy eingetragen war und noch eingetragen blieb, als er die – weiter unten zu behandelnde – Reise nach Heidelberg antrat: Das Datenblatt der Wiener Rechtsanwaltskammer meldet ihn auch in dieser Zeit, konkret vom 9. April 1907 bis zum 28. Februar 1908, als bei Löwy angestellt.376 Wie ist dies zu erklären? Den Schlüssel zur Lösung dieses Problems liefern die genealogischen Forschungen von Kelsens Enkeltochter Anne Feder Lee: Kelsens Mutter, Auguste Kelsen, geb. Löwy, hatte nämlich einen 1853 geborenen Bruder namens Alois Löwy;377 und angesichts der genannten Umstände ist es nicht nur möglich, sondern sogar sehr wahrscheinlich, dass dieser mit dem genannten Rechtsanwalt identisch, Hans Kelsen somit elf Monate lang pro forma bei seinem Onkel eingetragen war!378 Auf diese Weise konnte er zwar Ausbildungsmonate »sammeln«, für den Fall, dass er eines Tages zur Rechtsanwaltsprüfung antreten wollte, doch wäre es in diesem Fall äußerst unwahrscheinlich, dass Onkel Alois seinem Neffen nicht nur diese (als rechtswidrig zu qualifizierende) »Gefälligkeit« leistete, sondern ihn auch noch die ganzen elf Monate durchfütterte, mit anderen Worten: Seine Konzipientenstellung in der Kanzlei Löwy brachte ihm aller Wahrscheinlichkeit nach kein Geld ein. Immer mehr wurde Kelsen bewusst, dass er sein großes Ziel, die Habilitation an der Universität Wien, niemals erreichen würde, wenn er nicht ein Stipendium erwarb, das es ihm ermöglichte, sich ganz auf seine Habilitationsschrift zu konzentrieren. Aber »[o]bgleich ich meine Gesuche mit publizierten Arbeiten unterstuetzen konnte – ich 374 Todesanzeige in der NFP Nr. 15405 v. 13. 7. 1907, Morgenblatt 22; vgl. Olechowski, Herkunft (2008) 862. 375 Métall, Kelsen (1969) 2. Nach Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger 1906 musste die Firma Adolf Kelsens offenbar schon 1906 von der Goldeggasse in die Windmühlgasse im VI. Wiener Gemeindebezirk übersiedeln. »Windmühlgasse 18« ist dann auch die Adresse im Sterbeeintrag Adolf Kelsens 1907; die Firma schien noch bis 1911 unter »Windmühlgasse 22–24« im »Lehmann« auf. Auguste Kelsen wohnte ab 1910 im III. Bezirk in der Marokkanergasse 20, wo sie bis 1940 blieb; auch ihr Sohn war als »Adv. Konz. Hans Kelsen« von 1910 bis zu seiner Eheschließung 1912 hier gemeldet. 376 Rechtsanwaltskammer Wien, Rechtsanwaltsanwärter-Liste V/326; Busch, Exportakademie (2010) 74. 377 http://www.univie.ac.at/kelsen/family/Loewy1121_Aron_Maria_Amalia.html [Zugriff: 26. 0 4. 2019]. 378 Vgl. auch die Bemerkung von Kelsen, Autobiographie (1947) 3 = HKW I, 34, wonach »[i]n dem Kreis, in dem meine Eltern verkehrten, […] kleine Rechtsanwaelte und praktische Aerzte die Representanten geistiger Berufe« waren, was ein weiteres Indiz dafür sein könnte, dass sich unter den Onkeln Kelsens auch ein Rechtsanwalt befand.
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hatte inzwischen nicht nur die Staatslehre Dantes sondern auch einen Kommentar zur neuen Reichsratswahlordnung (1907) und einige kleinere Aufsaetze veroeffentlicht – hatte ich anfangs keinen Erfolg. 1907 oder 1908, glaube ich, erhielt ich ein groesseres Reisestipendium, vermutlich weil ich der einzige Bewerber war.«379 Die Unsicherheit Kelsens bei der Datierung ist gerade in diesem Fall (aus quellenkritischer Sicht) bedauerlich, als die übrigen einschlägigen Quellen hier einander zu widersprechen scheinen: Der Beschluss des Professorenkollegiums der Wiener Juristenfakultät, Kelsen das Universitäts-Jubelfeier-Stipendium in Höhe von 1.200 Kronen zu verleihen, datiert vom Mai 1908.380 Doch war Kelsen bereits im Wintersemester 1907/08 nach Heidelberg aufgebrochen, um hier das Seminar von Georg Jellinek zu besuchen,381 »der damals als die groesste Autoritaet auf dem Gebiete der allgemeinen Staatslehre galt.«382 Möglicherweise war es 1907 nicht dieses Stipendium, sondern ein – von Kelsen an anderer Stelle genannter, nicht näher spezifizierter »Seminarpreis« – gewesen, der ihm seinen ersten Heidelberg-Aufenthalt ermöglichte, und mit dem Jubelfeier-Stipendium finanzierte er seine zweite Seminarreise, die ihn im Wintersemester 1908/09 nochmals zu Jellinek nach Heidelberg führte.383 b) Georg Jellinek Georg Jellinek, der älteste Sohn des oben384 erwähnten Rabbiners Adolf Jellinek, war 1851 in Leipzig geboren worden, aber in Wien aufgewachsen, wo er 1867 am Akademischen Gymnasium maturiert und danach mit dem Studium der Rechte begonnen hatte.385 »Von diesen jedoch nicht befriedigt und von dem unbezwingbaren Triebe nach umfassenderer […] Bildung ergriffen«, wie Jellinek später schrieb, ging der junge Student nach Leipzig und betrieb dort vor allem philosophische Studien, »welchen letzten ich mit leidenschaftlicher Gluth oblag. Gefördert wurde mein Streben vor allem […] durch die mannigfaltigen und sich drängenden Anregungen, welche ich 379 Kelsen, Autobiographie (1947) 6 = HKW I, 39. Es handelte sich um das gleiche Stipendium, mit dem zuvor u. a. Sigmund Freud 1885–1886 seine Reise nach Paris und Berlin unternommen hatte (die 600 fl Freuds entsprechen aufgrund der zwischenzeitlichen Währungsumstellung 1:2 den 1.200 K Kelsens); über die durchgeführte Reise verfasste Freud einen ausführlichen Rechenschaftsbericht an das Professorenkollegium (Freud, Bericht 1886), von Kelsen ist kein derartiger Bericht bekannt. Laut https://www.eurologisch.at/docroot/waehrungsrechner/#/ [Abfrage vom 27. 11. 2019] entsprachen 1.200 fl im Jahr 1908 einer Kaufkraft von heute (2019) € 7.337,70. 380 UA Wien, Dekan Philippovich an das Rektorat, 2. 6. 1908 Z. 1179. Vgl. auch den 1911 angefertigten Lebenslauf Kelsens in: ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 611, Personalakt Kelsen Hans. 381 Vgl. das »Studien‑ und Sittenzeugnis« von Hans Kelsen der Universität Heidelberg, UA Heidelberg. 382 Kelsen, Autobiographie (1947) 6 = HKW I, 39. 383 Siehe dazu Busch, Exportakademie (2010) 79; dort auch (Anm. 48) die Erwähnung des »Seminarpreises« durch Kelsen in einem 1911 verfassten Lebenslauf. 384 Vgl. oben 36. 385 Vgl. zu ihm Alexander Hollerbach, Jellinek Georg, in: NDB X (Berlin 1974) 391–392; Kempter, Die Jellineks (1998); Kersten, Jellinek (2018).
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von meinem Freunde Dr. Wilhelm Windelband, derzeit o. Professor der Philosophie an der Universität Freiburg i. Br. empfing.«386 1872 wurde Jellinek in Leipzig zum Dr. phil. promoviert, kehrte nach Wien zurück und erlangte dort 1874 auch einen juristischen Doktortitel. Fünf Jahre später, 1879, habilitierte er sich zunächst für Rechtsphilosophie, 1882 wurde seine venia um Allgemeines Staatsrecht und Völkerrecht erweitert.387 Grundlage für diese Erweiterung war sein 1882 veröffentlichtes Buch über »Die Lehre von den Staatenverbindungen«, das insbesondere der Präsident des k. k. Reichsgerichts Joseph Unger sehr lobte und Jellinek – gegen beachtliche antisemitische Widerstände – auch zur Erlangung einer außerordentlichen Professur an der Universität Wien verhalf. Als solcher veröffentlichte Jellinek u. a. 1885 sein wegweisendes Buch »Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich«, in dem er eine gerichtliche Kontrolle der Gesetzgebung forderte; 1887 erschien eine umfangreiche Arbeit über »Gesetz und Verordnung«. Jellinek war zu diesem Zeitpunkt im Ausland bereits der bekannteste Öffentlichrechtler Österreichs, und im Sommer 1887 stellte der Romanist Adolf Exner in der Fakultät den Antrag, beim Ministerium die Ernennung Jellineks zum Ordinarius vorzuschlagen, doch fand sich im Fakultätskollegium keine Mehrheit, wofür abermals antisemitische Gründe ausschlaggebend gewesen sein dürften. Auch direkte Interventionen beim Minister hatten – nach anfänglichen, informellen Zusagen – letztlich keinen Erfolg; Anfang 1889 erklärte Jellinek gegenüber Minister Gautsch, dass er Österreich verlassen würde, wenn er keine »feste, gesicherte Stellung in Österreich« erhalten könne.388 Und dazu kam es dann auch: Am 14. August 1889 reichte Jellinek seinen Abschied ein, habilitierte sich in Berlin, erhielt jedoch noch im Dezember desselben Jahres einen Ruf nach Basel und ein Jahr später nach Heidelberg, wo er bis zu seinem Tod 1911 blieb. Das Seminar, das Jellinek in Heidelberg zu Themen des Staats-, Verwaltungs‑ und Völkerrechts hielt, war weithin berühmt; es zog junge Wissenschaftler aus ganz Deutschland, besonders aber auch aus Österreich an, und Carl Samuel Grünhut schrieb 1907 an Jellinek, »daß man Sie aus Österreich hinausgedrängt habe und jetzt jungen Doktoren Stipendien zahlt, damit sie zu Ihnen nach Heidelberg gehen«, was der Exilösterreicher wohl mit Genugtuung registriert haben wird.389 Die enge Freundschaft Jellineks mit dem vorhin erwähnten Wilhelm Windelband390 war von höchster Bedeutung für das wissenschaftliche Werk Jellineks und aus diesem Grund auch für das wissenschaftliche Werk Kelsens: Denn Windelband galt als Begründer der sog. Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus, jener 386 Georg Jellinek, curriculum vitae, undatiert (1879), in: ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 611, Personalakt Jellinek Georg, 49r–49v. 387 Ebenda; zu der nicht unproblematischen Habilitation vgl. Keller, Briefwechsel (2005) 49; Kersten, Jellinek (2018) 77. 388 Zit. n. Kempter, Die Jellineks (1998) 238 f., 248. 389 Zit. n. Kempter, Die Jellineks (1998) 375 Anm. 627. Vgl. auch Kersten, Jellinek (2018) 79. 390 Geb. Potsdam 11. 5. 1848, gest. Heidelberg 22. 10. 1915, vgl. Ollig, Neukantianismus (1979) 53–55.
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Abb. 14: Georg Jellinek, 1890.
philosophischen Richtung, die von etwa 1870 bis 1914 die Universitäten beherrschte.391 Auch wenn es von ihr allgemein heißt, dass sie nach dem Ersten Weltkrieg ebenso schnell wieder verschwunden sei, wie sie entstanden war, so prägte sie doch das Denken Hans Kelsens nachhaltig, sodass auch dieser – zumindest für eine lange Periode seines wissenschaftlichen Schaffens – als Neukantianer bezeichnet werden kann. Und indem die neukantianischen Lehren dem jungen Kelsen vor allem indirekt, über Georg Jellinek, vermittelt wurden, besteht hier der wohl wichtigste Einfluss Jellineks auf Kelsen.392 Es wurde schon weiter oben, bei der Darstellung des Studienwesens um die Jahrhundertwende, betont, dass die Jahre nach 1848 im ganzen deutschsprachigen Raum zu einer Ablehnung des Kantianismus geführt hatten, was die Philosophie in eine tiefe Krise stürzte. »Die Verunglimpfung von akademischen Fachvertretern wurde Mode«, viele von ihnen hatten mit großen persönlichen Schwierigkeiten, von der Nichtzulassung zur Habilitation bis hin zur Landesverweisung, zu kämpfen.393 In einer Zeit, in der – gerade in Österreich – der Katholizismus geradezu die Funktion einer Staatsideologie wahrnahm, in der aber auch die Naturwissenschaften gewaltigen 391
7 ff.
Einführend etwa Ollig, Neukantianismus (1979) 117 ff.; Pascher, Neukantianismus (1997)
392 Vgl. die Äußerung Kelsens, dass er die »(Neu-)Kantische Philosophie […] zuerst in jener Form [akzeptierte], die sie durch die Philosophen der südwestdeutschen Richtung, vor allem durch Windelband, erhalten hatte«: Kelsen, Selbstdarstellung (1927) 2 = HKW I, 21. 393 Pascher, Neukantianismus (1997) 37 f. Vgl. zum Folgenden auch die Ausführungen von Kaufmann, Kritik (1921) 1 ff.
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Aufschwung nahmen, machten sich nunmehr materialistische Strömungen breit; die Popularität von Ludwig Büchners Buch »Kraft und Stoff«, das auch der junge Kelsen gelesen hatte, wurde bereits erwähnt.394 Erst nach Ende des Neoabsolutismus und der Rückkehr zum Liberalismus in Deutschland und in Österreich konnten es die Philosophen allmählich wieder wagen, idealistische Ansätze zu verfolgen. Dies erklärt auch, warum der Neukantianismus, jedenfalls in seiner Anfangsphase, der theoretischen Philosophie mehr Aufmerksamkeit schenkte als der – politisch verfemten – praktischen Philosophie. 1871 veröffentlichte der damals 29jährige jüdische Philosoph Hermann Cohen395 die Monographie »Kants Theorie der Erfahrung«, die eine umfangreiche Kant-Rezeption initiierte, da sich hier eine Möglichkeit eröffnete, Wissenschaft und Weltanschauung klar von einander zu trennen.396 1876 wurde Cohen Ordinarius an der Universität Marburg, wo er bis zu seiner Emeritierung 1912 wirkte und zum Begründer der sog. Marburger Schule wurde. Schon die Titel von Cohens Hauptwerken – »Logik der reinen Erkenntnis« (1902), »Ethik des reinen Willens« (1907), »Ästhetik des reinen Gefühls« (1912) – machen deutlich, wie sehr er mit seinem Postulat der Methodenreinheit vorbildhaft für Kelsen bei dessen Entwicklung einer Reinen Rechtslehre war. Doch hatte Kelsen, wie er selbst später schrieb,397 bei der Abfassung seiner Habilitationsschrift »Hauptprobleme der Staatsrechtslehre« von den Parallelen zwischen ihm und Cohen noch keine Ahnung.398 Dagegen zeigen die Literaturbelege seines Buches, dass er sich intensiv mit Wilhelm Windelband befasst hatte, der 1877 nach Freiburg im Breisgau, 1882 nach Straßburg und schließlich, 1903, zu seinem Freund Jellinek nach Heidelberg berufen worden war. Hier hatte Windelband die erwähnte Südwestdeutsche Schule des Neukantianismus geschaffen und sich explizit um eine Theorie der Geisteswissenschaften bemüht. Auch für diese Schule hatte die Methodenreinheit oberste Priorität, weshalb sowohl Windelband als auch sein Schüler und Nachfolger auf dem Freiburger Lehrstuhl, Heinrich Rickert, eine Abgrenzung der Wissenschaften voneinander nicht aufgrund ihrer unterschiedlichen Gegenstände, sondern aufgrund ihrer unterschiedlichen Methoden vornahmen.399 Dabei schied Windelband zunächst die »rationalen Wissenschaften«, bei denen eine Erkenntnis a priori möglich sei (Philosophie, Mathematik), von den »Erfahrungswissenschaften« und diese wiederum in »nomothetische« und »idiographische«: Den nomothetischen Wissenschaften (z. B. der Biologie) komme es auf die Erkenntnis allgemeiner Gesetzmäßigkeiten an, den idiographischen dagegen (z. B. der Geschichte) gehe es um die Erkenntnis individueller, nicht wiederholbarer Fakten. Zu dieser 394 Kelsen,
Autobiographie (1947) 2 = HKW I, 32.
395 Geb. Coswig/Anhalt 4. 7. 1842, gest. Berlin 4. 4. 1918. Vgl. Julius Ebbinghaus, Cohen Hermann,
in: NDB III (Berlin 1957) 310–313; Ollig, Neukantianismus (1979) 29 ff. 396 Pascher, Neukantianismus (1997) 40 f. 397 Kelsen, Hauptprobleme (1923) XVII. 398 Vgl. dazu Paulson, Zur neukantianischen Dimension (1988), bes. 9–12. 399 Ollig, Neukantianismus (1979) 62; Pascher, Neukantianismus (1997) 65.
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letzten Gruppe zählte Windelband auch die Jurisprudenz, zumal es auch ihr darauf ankomme, die Eigenart einer konkreten Rechtsordnung gerade um ihrer Einzigartigkeit willen zu untersuchen, ähnlich wie dies die Sprachwissenschaft oder die Kunstgeschichte in Beziehung auf eine konkrete Sprache oder ein konkretes Kunstwerk tun.400 Doch ein besonderes Anliegen war ihm die Rechtswissenschaft nicht; besonders deutlich wird dies in seiner – von Kelsen später vielfach zitierten – kleinen Schrift »Normen und Naturgesetze«, in der Windelband den Gegensatz zwischen Sein und Sollen bereits klar erkannte, aber als Beispiel für eine Norm »das logische Prinzip, das Sittengesetz, die ästhetische Regel« – jedoch nicht die Rechtsnorm nannte.401 Ausführlicher widmete sich Rickert dem Problem der Rechtswissenschaften, die er den »Kulturwissenschaften« zuordnete, zumal es sich bei der Rechtsordnung um eine Kulturerscheinung handle, die mit Werten verbunden sei. Den Gegensatz zu den Kulturwissenschaften bildeten für Rickert die Naturwissenschaften; beiden sei aber die Erklärung der Realität gemeinsam, so Kelsen 1916 in einer ausführlichen Abhandlung zu diesem Thema.402 Kelsen war mit dieser Einteilung ebenso wenig zufrieden wie mit der Ansicht des dritten bedeutenden Neukantianers der Südwestdeutschen Schule, Emil Lask, welcher die »Rechtsphilosophie als Rechtswertlehre, d. h. als Lehre vom Werte des Rechtes, der Rechtswissenschaft als Rechtswirklichkeitsbetrachtung« gegenüberstellte. »Nun ist doch offenbar«, so Kelsen 1916, »dass die Rechtsordnung als reale Tatsache des sozialen Lebens, als ein sozialpsychischer Prozeß oder Zustand, wohl für eine soziologische, auf das Sein und dessen kausale Erklärung gerichtete Betrachtung, nicht aber für eine juristische Erkenntnis relevant sein kann, für die nicht die Wirkung, sondern die Geltung der Rechtsordnung […] in Frage steht.«403 Aus demselben Grund hatte auch der Freiburger Rechtsphilosoph Hermann Kantorowicz (der selbst nicht dem Neukantianismus, sondern der weiter unten zu erläuternden »Freirechtsbewegung« angehörte), konstatiert, dass nur die Rechtsgeschichte und die Rechtssoziologie als »Kulturwissenschaften« im Sinne Rickerts gelten könnten.404 Und der durchaus auf dem Boden des Neukantianismus stehende Heidelberger Rechtsphilosoph Gustav Radbruch hatt betont, dass es der (dogmatisch arbeitende) Jurist »nicht mit der Tatsächlichkeit der Rechtsordnung […] sondern mit ihrem Sinn« zu tun habe.405 Das Wissen um die Wesensverschiedenheit von Sein und Sollen war in der Rechtsphilosophie jener Zeit also schon durchaus vorhanden; Kelsen blieb es vorbehalten, 400 Windelband,
Geschichte und Naturwissenschaft (1894) 11.
401 Windelband, Normen und Naturgesetze (1894) 258. Vgl. Korb, Kelsens Kritiker (2010) 18 f. 402 Kelsen,
Rechtswissenschaft (1916) 1184 = HKW III, 555 = WRS 33. Rechtswissenschaft (1916) 1218 = HKW III, 587 = WRS 60. 404 Kantorowicz, Rechtswissenschaft (1911) 23; vgl. Kelsen, Rechtswissenschaft (1916) 1207 = HKW III, 576 = WRS 51 f.; Paulson, Die spätere Allgemeine Rechtslehre (2018) 1065. 405 R adbruch, Rechtsphilosophie (1914) 161; vgl. Kelsen, Rechtswissenschaft (1916) 1236 = HKW III, 603 = WRS 74. Vgl. zur Auseinandersetzung Kelsens mit Radbruch auch Neumann, Wissenschaftstheorie (2005). 403 Kelsen,
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diese Lehre zu höchster Perfektion zu führen und auch jene inneren Widersprüche, welche die – prinzipiell richtigen – Ansichten von Kantorowicz und Radbruch in diesem Punkt noch hatten, aufzulösen. Bis dahin und zu seiner Auseinandersetzung mit Windelband, Rickert und Lask sollte es jedoch noch viele Jahre dauern – wie vorhin erwähnt, stammt der eben zitierte Aufsatz aus dem Jahr 1916. Im Jahr 1907, als Kelsen zum ersten Mal nach Heidelberg reiste, war er noch ganz dem Denken von Jellinek verhaftet. Denn auch dieser hatte bereits im Jahr 1900 klipp und klar festgestellt: »Die Rechtswissenschaft ist […] eine Wissenschaft nicht der Seinsgesetze, sondern der Normen.«406 Aber erst Kelsen erkannte die ganze Tragweite dieses Satzes. Im Vorwort zu seinen »Hauptproblemen« bezeichnete Kelsen die Frage, »[o]b und inwieweit die Jurisprudenz eine normative Disziplin« sei, geradezu als »das Kardinalproblem juristischer Methodologie, somit die prinzipiellste Voraussetzung aller Rechtswissenschaft«,407 und sah rückblickend die von ihm gewonnene Einsicht, »dass das Recht seinem Wesen nach Norm sei, alle juristische Theorie daher Normenlehre, Lehre von den Rechtssätzen und als solche Lehre vom objektiven Recht sein müsse«, als den »entscheidenden Gesichtspunkt« für das Gelingen seiner »Hauptprobleme« an.408 Damit wird auch klar, weshalb Kelsen unbedingt auf Jellinek treffen wollte: Dessen wichtigste Werke hatte er wohl schon in Wien gelesen und dabei auch immer wieder zentral erscheinende – jedoch nur selten näher ausgeführte – wissenschaftstheoretische Behauptungen begierig aufgesogen. Nun wollte Kelsen in persönlichen Gesprächen mit Jellinek über eben jene Behauptungen diskutieren. Bemerkenswert an obigem Zitat ist übrigens, dass Kelsen, als er zu dem für seine Arbeit »entscheidenden Gesichtspunkt« gelangte, zunächst das Wesen des Rechts als gegeben erachtete und erst von diesem die rechtswissenschaftliche Methode ableitete, anstatt umgekehrt. Ja noch mehr: Wie Kelsen in seinen »Hauptproblemen« anführte, war er (damals noch) der Auffassung, dass der Gegenstand der Jurisprudenz, »die Sozialerscheinung des Rechts«, dieser »nur mit einer einzigen Seite« angehöre »und zum großen, vielleicht sogar zum größeren Teile der Betrachtungsweise anderer Wissenschaften, wie der Soziologie oder der Psychologie.«409 Diese Aussagen des frühen Kelsen kennzeichnen ihn als Wissenschaftspositivisten klassischer Ausprägung; sie unterscheiden sich massiv von späteren Aussagen, wonach es geradezu »Fundamentalsatz aller Erkenntnistheorie« sei, dass das Erkenntnisobjekt aus der Methode folge und nicht umgekehrt.410 Dieser angebliche Fundamentalsatz war allerdings keineswegs so selbstverständlich, wie von Kelsen behauptet. Gelehrt wurde er zu jener Zeit vor allem von Cohen, der Kants Bemühungen, ein »Ding an sich« zu begreifen, als fruchtlos verworfen und 406 Jellinek,
Allgemeine Staatslehre (1913) 20. Vgl. dazu auch Goller, Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1997) 107. 407 Kelsen, Hauptprobleme (1911) VII = HKW II, 55. 408 Kelsen, Selbstdarstellung (1927) 1 = HKW I, 20. Vgl. dazu auch Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt (2010) 248 f. 409 Kelsen, Hauptprobleme (1911) V = HKW II, 53. 410 Kelsen, Staatsbegriff (1922) 117. Vgl. dazu Lepsius, Zwei-Seiten-Lehre (2004) 81.
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stattdessen die vom Wissenschaftler gewählte Methode zum Ausgangspunkt jeder Erkenntnis erklärt hatte.411 Doch war, wie bereits betont, der junge Kelsen weniger vom Marburger Neukantianismus als vielmehr von der Südwestdeutschen Schule beeinflusst.412 Und hier hatte sich Cohens Ansatz noch nicht allgemein durchgesetzt: So knüpfte ja Jellinek seine berühmte »Zwei Seiten-Lehre« – wonach der Staat aus soziologischer Sicht »die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Verbandseinheit seßhafter Menschen«, aus juristischer Sicht dagegen »die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgestattete Gebietskörperschaft« sei413 – an die Einsicht, dass man mit juristischen Methoden nicht das gesamte »Wesen« des Staates erfassen könne.414 Und selbst Windelband ging davon aus, dass ein und derselbe Gegenstand »zum Object einer nomothetischen und daneben auch einer idiographischen Untersuchung gemacht werden« könne.415 Erst nach Veröffentlichung seiner »Hauptprobleme« 1911 wurde Kelsen, wie noch zu zeigen sein wird, von dritter Seite auf die Parallelen seiner Arbeit mit dem Werk Cohens aufmerksam gemacht, was eine immer intensiver werdende Beschäftigung mit dem Neukantianismus, nunmehr auch jenem der Marburger Schule, zur Folge haben sollte.416 c) In Heidelberg Als Kelsen sein Stipendium erlangt hatte, ging er zunächst zu Professor Bernatzik, um ihm von seiner bevorstehenden Reise nach Heidelberg zu unterrichten. Doch dieser gab ihm »ziemlich deutlich zu verstehen, dass ich wenig Aussichten auf eine akademische Karriere hätte, dass es fuer mich besser waere, Rechtsanwalt oder Bankbeamter zu werden. Ich hatte schon frueher bemerkt, dass seine Haltung mir gegenueber wesentlich kuehler geworden war, dass er andere Mitglieder seines Seminars 411 Vgl. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung (1885) 149: »Die transcendentale Frage soll gelöst werden. Wir fragen nicht nach einem Gegenstande oder seiner Möglichkeit, sondern wir fragen nach einer Erkenntnisart, wiefern diese a priori möglich sei.« Vgl. auch Simmel, Kant (1918) 170 und 175, sowie Marx, Transzendentale Logik (1977) 36; Pascher, Neukantianismus (1997) 59 f. 412 Deutlicher als in jeder publizierten Schrift Kelsens kommen diese Zusammenhänge in einem Schreiben Hans Kelsens vom 7. 5. 1923 zum Ausdruck, mit dem er Selbstanzeige an den Akademischen Senat der Universität Wien (zu dieser noch unten 336) erstattet: »Cohens Werke hatte ich bisher noch nicht studiert. Ich war bisher unter dem Einfluss der südwestdeutschen Kantschule, Windelband und Rickert, gestanden. Jetzt [nach 1911] begann ich aber ein intensives Studium Cohens […] Ich akzeptierte demnach die erkenntnistheoretische Voraussetzung Cohens: Die Erkenntnis erzeugt ihren Gegenstand. Und schloß daraus: Verschiedene Erkenntnisrichtung (Sein–Sollen) – verschiedener Erkenntnisgegenstand«. UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 1, Seite 2. 413 Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1913) 180 f., 183. Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II (1992) 453; Kersten, Jellinek (2018) 80. 414 Vgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1913) 12, wonach es ein »Irrtum« sei, »daß der Jurist allein berufen sei, mit seinen Forschungsmitteln alle Rätsel zu lösen, die mit den staatlichen Phänomenen verknüpft sind.« Siehe dazu auch Paulson, Zur neukantianischen Dimension (1988) 13. 415 Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft (1894) 12. 416 Dennoch erachtet Korb, Kelsens Kritiker (2010) 21 auch in diesem Punkt den Einfluss Cohens geringer als den Einfluss der Südwestdeutschen Schule.
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mir sichtlich vorzog. Ich konnte mir Bernatzik’s Haltung nur zum Teil aus seiner Ablehnung meiner theoretischen Einstellung erklaeren. Der Hauptgrund duerfte wohl gewesen sein, dass er bei der nicht sehr judenfreundlichen Haltung der Fakultaet womoeglich vermeiden wollte, fuer einen juedischen Kandidaten Stellung zu nehmen. Dass er selbst Antisemit war, glaube ich nicht.«417 Diese Überlegungen Kelsens waren durchaus realistisch: Rund zehn Jahre zuvor, 1895, hatte Bernatzik zu jenen liberalen Professoren gehört, die sich gegen die Wahl des Handelsrechtlers Grünhut zum Rektor ausgesprochen hatten, um der ohnedies schon angeheizten antisemitischen Stimmung – in dasselbe Jahr fiel die Wahl des Antisemiten Karl Lueger zum Bürgermeister von Wien – nicht weitere Nahrung zu geben; seinem Freund Jellinek hatte Bernatzik damals nach Heidelberg geschrieben, dass es »nicht mehr möglich an der Universität sei, die beiden Elemente« – das deutschnationale und das jüdische – »zu vereinen«.418 Kelsen war über den mangelnden Mut Bernatziks natürlich enttäuscht. Abbringen von seinem Entschluss, nach Heidelberg zu gehen, konnte ihn dies jedoch nicht. »So ging ich denn ohne den Segen meines fuer mein kuenftiges Schicksal entscheidenden Ordinarius nach Heidelberg,« erzählt er in seiner Autobiographie.419 Kelsen kam dort im Oktober 1907 an und nahm sich ein Zimmer in der Altstadt.420 Am 9. November immatrikulierte er sich an der 1386 von Kurfürst Ruprecht I. von der Pfalz gegründeten Universität und belegte sowohl das Seminar von Georg Jellinek als auch dasjenige des zweiten Staatsrechtlers in Heidelberg, Gerhard Anschütz,421 außerdem noch zwei weitere Lehrveranstaltungen Jellineks, nämlich je eine Vorlesung zum »politischen Wahl‑ und Stimmrecht« sowie zur »Geschichte der politischen und sozialen Theorie«.422 Allerdings schreibt Kelsen in seiner Autobiographie, dass er sich »keine Zeit, Vorlesungen zu hoeren« nahm und »nur das Seminar Jellinek’s« besuchte, wobei jedoch auch dieses Kelsen »keine persoenliche Anregung brachte. Auch mit Jellinek selbst kam ich nicht in naehere persoenliche Verbindung. Er war von einem beinahe undurchdringlichen Kreis ihn bewundernder Schueler umgeben, die seiner Eitelkeit in unglaublicher Weise schmeichelten. Ich erinnere mich noch des Referates eines seiner Lieblingsschueler, das aus nicht viel anderem bestand als Zitaten aus Jellinek’s Schriften. Nach diesem Seminar durfte ich Jellinek nachhause begleiten. Auf dem Wege fragte er mich, was ich von dem Referate hielte. Ich aeusserte eine recht reservierte Anerkennung. Darueber war Jellinek sichtlich ungehalten. Er meinte, es sei eine hervorragende Leistung gewesen, und sagte dem Referenten eine grosse akademische Zukunft voraus. Der Mann hat spaeter im Lauf seiner akademischen 417 Kelsen, Autobiographie (1947) 6 f. = HKW I, 40. Vgl. zur Haltung Bernatziks gegenüber Juden Kalb, Bernatzik (2018) 94. 418 Edmund Bernatzik, Schreiben an Georg Jellinek v. 18. 5. 1895, zit. n. Kempter, Die Jellineks (1998) 293. 419 Kelsen, Autobiographie (1947) 6 f. = HKW I, 40. 420 Bei seiner Anmeldung an der Universität gab er als Adresse in Heidelberg »Hauptstraße 28 bei Frau Dr. Nebel« an: UA Heidelberg, Anmeldung für das Wintersemester 1907, datiert 15. 10. 1907. 421 Geb. Halle a. d. S. 10. 1. 1867, gest. Heidelberg 14. 4. 1948; vgl. Waldhoff, Anschütz (2018). 422 UA Heidelberg, Studien‑ und Sittenzeugnis von Hans Kelsen.
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Taetigkeit herzlich wenig und nur Mittelmaessiges geleistet.423 Jellinek war ein viel besserer Schriftsteller als Lehrer. Er vertrug nicht den geringsten Widerspruch, was ich zu spaet bemerkte und mir dadurch wohl seine Gunst verscherzte. […] Ich habe ihn uebrigens ausserhalb des Seminars kaum zwei oder drei Mal gesehen.«424 In Heidelberg verbrachte Kelsen »ein paar Monate mit intensivster Arbeit an [s]einen Hauptproblemen.«425 Das Manuskript, von dem offenbar ein guter Teil in Heidelberg entstand, ist heute am Hans Kelsen-Institut erhalten und gewährt einen guten Einblick in den Arbeitsstil Kelsens, der weder ein reiner »Papierarbeiter«, noch ein reiner »Kopfarbeiter« war. Kelsen verwendete lose Quartbögen, die leicht ausgetauscht werden konnten, und beschrieb zunächst immer nur die rechte Seite, sodass die linke Seite Platz für spätere Korrekturen bot. Auch Fußnoten wurden in der Regel nicht sofort, sondern in einem späteren Durchgang eingefügt. Kein anderer Autor fand in Kelsens Arbeit so oft Erwähnung wie Jellinek – im Manuskript kürzte Kelsen den so häufig vorkommenden Namen einfach mit »Jell« ab426 –, allerdings erfolgten diese Zitate in den meisten Fällen nicht, um Jellinek zu bestätigen, sondern ihn zu widerlegen! Von der persönlichen Enttäuschung, die Kelsen in Heidelberg erfahren hatte, war in der fertiggestellten Habilitationsschrift nichts zu bemerken. Wenige Tage vor Vollendung des Manuskripts, am 12. Jänner 1911, war der Meister in Heidelberg verstorben, und Kelsen gedachte seiner im Vorwort zu den »Hauptproblemen« mit den folgenden Sätzen: »Ich hatte das Glück zu seinen Schülern zählen zu dürfen. Was er der Wissenschaft ist, weiß jeder, der zur modernen Staatsrechtslehre in einem Verhältnis steht. Fast jede Seite dieses Buches zeugt von dem mächtigen Einfluß, den er auf die Entwicklung der Lehre vom Staate ausgeübt hat. Auch dort, wo ich zu anderen Resultaten gekommen bin, als er gelehrt hat, habe ich dies zum großen Teil auf Wegen getan, die er eröffnet hat, auf denen er als unerreichter Meister vorangeschritten ist.«427 Zu einem persönlichen Zusammentreffen Kelsens mit Wilhelm Windelband kam es allem Anschein nach nicht, und selbst über Gerhard Anschütz, dessen Seminar Kelsen in Heidelberg ebenfalls inskribiert hatte, verlor er in seiner Autobiographie kein Wort. Dagegen gab er seinem Bedauern darüber Ausdruck, dass er die Gelegenheit 423 Es ist natürlich unmöglich, aufgrund dieser Angaben festzustellen, wer dieser »Lieblingsschueler« war. In der Teilnehmerliste des Seminars im WS 1907/08 [UA Heidelberg, Rep. 27–653] taucht außer Kelsen kein bekannter Name auf, in der des Seminars im WS 1908/09 (das Kelsen ebenfalls besuchte und auf das er sich beziehen könnte) u. a. der in die Fußstapfen seines Vaters tretende Walter Jellinek (1885–1955) – der hier wohl kaum in Frage kommt – sowie Hans Ehrenberg (1883–1958), der Neffe des mit Georg Jellinek befreundeten Versicherungsrechtlers Viktor Ehrenberg (1851–1929); er studierte ab 1904 in Heidelberg und habilitierte sich hier 1910, gab jedoch 1925 seine akademische Karriere auf, um Pfarrer zu werden; vgl. Keller, Briefwechsel (2005) 421. 424 Kelsen, Autobiographie (1947) 7 = HKW I, 40 f. 425 Kelsen, Autobiographie (1947) 7 = HKW I, 41. 426 Jestaedt in HKW II, 897; vgl. zum Vorherigen auch Reinthal, Internationalität und Interdisziplinarität (2014) 310. 427 Kelsen, Hauptprobleme (1911) XIII = HKW II, 63. Vgl. dazu auch Korb, Kelsens Kritiker (2010) 64.
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versäumt hatte, den berühmten Juristen und Soziologen Max Weber kennen zu lernen, der ebenfalls in Heidelberg lebte, aber aufgrund eines »Nervenleidens« (wohl eines Burn-out, wie man heute sagen würde) keine Vorlesungen hielt.428 »Nur mit Emil Lederer, den ich schon von Wien her kannte, und der als Assistent Max Weber’s und Redakteur des Archivs fuer Sozialwissenschaften in Heidelberg lebte, hatte ich einigen Verkehr.«429 Lederer,430 1882 in Pilsen [Plzeň/CZ] geboren, hatte gemeinsam mit Kelsen 1901 an der Universität Wien das Studium der Rechtswissenschaften begonnen und 1905 mit Promotion abgeschlossen. Nach Heidelberg war er 1910 gekommen, um die genannte Zeitschrift, das angesehene »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik«, redaktionell zu betreuen, 1921 stieg er zu ihrem Mitherausgeber auf. So wie Kelsens Kameraden Mises und Mayer war auch Lederer ein profilierter Vertreter der österreichischen Schule der Nationalökonomie, und seine Wege kreuzten sich noch öfters mit denen Kelsens.431 Im Übrigen lebte Hans Kelsen, seinen eigenen Angaben zufolge, sehr zurückgezogen in Heidelberg, »ganz berauscht von dem Gefuehl auf dem Gebiete meiner Wissenschaft einen neuen Weg zu gehen.«432 In seiner Freizeit machte er Spaziergänge auf den Heidelberger Schlossberg und gönnte sich abends »ein Glas Braunbier im Perkeo«, einem Gasthaus unweit seiner Herberge.433 Auch begann Kelsen, die englische Sprache zu erlernen, allerdings nicht in dem Ausmaß, dass er erkennen konnte, dass »schon ein halbes Jahrhundert vorher der grosse englische Rechtstheoretiker John Austin einen ganz aehnlichen Versuch einer Begruendung der Rechtswissenschaft [wie Kelsen] unternommen hatte.«434 Tatsächlich fand John Austin (1790–1859), der schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Trennung von Recht und Moral postuliert hatte, in Kelsens Habilitationsschrift keine Erwähnung; erst spätere Arbeiten Kelsens würdigen den großen englischen Rechtsgelehrten.435 Er teilte dieses Schicksal mit David Hume (1711–1776), der schon 1739 auf den bemerkenswerten Umstand aufmerksam gemacht hatte, wie oft es geschehe, dass ein Autor zunächst die Existenz Gottes feststelle und davon ausgehend die Geltung eines Moralsystems begründe, womit er plötzlich nicht mehr Sätze mit »ist«, sondern Sätze mit »soll« bildet. »Dieser Wechsel vollzieht sich unmerklich; aber ist von größter Wichtigkeit.«436 Für Kelsen sollte die strikte 428 Marianne
Weber, Max Weber (1926) 275–277. Autobiographie (1947) 8 = HKW I, 41. 430 Dirk Käsler, Lederer Emil, in: NDB XIV (Berlin 1985) 40–41. 431 Siehe noch unten 466. 432 Kelsen, Autobiographie (1947) 8 = HKW I, 41. 433 Das nach einem berühmten Hofzwerg benannte Gasthaus existiert in der Heidelberger Hauptstraße 75 noch heute; das dort nach wie vor ausgeschenkte Braunbier wurde vom Verfasser dieser Zeilen im Juli 2013 überprüft und als sehr schmackhaft befunden. 434 Kelsen, Autobiographie (1947) 8 = HKW I, 42. 435 Vgl. insbesondere Kelsen, Analytical Jurisprudence (1941) = WiJ 266–287; Kelsen, General Theory (1945). e twa Kelsen, Was ist juristischer Positivismus? (1965) 466 = WRS 775. 436 Hume, Traktat über die menschliche Natur (1739) 211. 429 Kelsen,
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Sein-Sollen-Dichotomie einer der beiden Angelpunkte seiner Rechtslehre werden, an denen er bis an sein Lebensende immer festgehalten hat.437 In Kelsens »Hauptproblemen« aber fand Hume selbst keine Erwähnung; er stützte sich hier vielmehr auf den – heute weitgehend vergessenen – norddeutschen Juristen Arnold Kitz438 sowie vor allem auf den Philosophen und Soziologen Georg Simmel,439 dessen Lehren der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus nahe standen.440 d) Rückkehr nach Wien »Leider musste ich meinen Heidelberger Aufenthalt frueher abbrechen als beabsichtigt«, schreibt Kelsen in seiner Autobiographie.441 Die Versuche seines Bruders Ernst, die väterliche Bronzelusterfabrik am Leben zu erhalten, waren gescheitert, nach Ansicht von Hans Kelsen sowohl aus »Mangel an Erfahrung« als auch aus »Mangel an zusaetzlichem Kapital«.442 Am 27. Dezember 1907 erfolgte die Löschung der Firma im Handelsregister.443 Ernst Kelsen nahm nunmehr eine Stellung in Deutschland an, »die ihm nicht genug eintrug, um meine Mutter und meinen juengsten Bruder, der damals noch ein Kind war, zu unterstuetzen.«444 Eine erstaunliche Formulierung, bedenkt man, dass nicht Ernst, sondern Hans der älteste Bruder, daher auch Vormund des zehnjährigen Paul Fritz war und überdies als einziger ein abgeschlossenes Studium vorweisen konnte, was ihn doch wohl eher in die Rolle des Familienerhalters gebracht hätte. Immerhin kehrte er nun nach Wien zurück und bemühte sich, einen Broterwerb zu finden und gleichzeitig die Arbeit an seinen »Hauptproblemen« fortzusetzen. »Einige Monate« – vermutlich im Jänner und Februar 1908 – »war ich im Sekretariat der Kaiser-Jubilaeumsausstellung beschaeftigt«, berichtet Kelsen.445 Es handelte sich dabei um ein Projekt, bei dem anlässlich des 60-jährigen Regierungsjubiläums 437 Vgl. etwa Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen (1979) 69 sowie auch Topitsch, Einleitung (1982) XVI. 438 Geb. Vechta/Oldenburg 7. 4. 1807, Advokat, ab 1856 Direktor des Obergerichts Birkenfeld, ab 1867 Abgeordneter zum Norddeutschen Reichstag, gest. Oldenburg 22. 1. 1874; vgl. Friedl, Kitz Arnold (1992). 439 Geb. Berlin 1. 3. 1858, ab 1900 ao. Professor in Berlin, ab 1914 o. Prof. in Straßburg, gest. Straßburg 26. 9. 1918. Vgl. Dirk Kaesler, Simmel Georg, in: NDB XXIV (2010) 421 f. 440 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 7 f. = HKW II, 86. 441 Kelsen, Autobiographie (1947) 8 = HKW I, 42. 442 Kelsen, Autobiographie (1947) 6 = HKW I, 38. 443 Gewerbe-Archiv der Wirtschaftskammer Österreich, Gewerbeakt der Firma Adolf Kelsen, Eintrag vom 12. 7. 1901 Nr. 56. Vgl. Olechowski, Herkunft (2008) 862. 444 Kelsen, Autobiographie (1947) 8 = HKW I, 42. Vgl. zum Schicksal Ernst Kelsens noch unten 382 Anm. 852. 445 Kelsen, Autobiographie (1947) 8 = HKW I, 42; Métall, Kelsen (1969) 13. Erneut sind wir, was die genaue Datierung betrifft, auf Vermutungen angewiesen; theoretisch wäre auch die Zeit zwischen April und Oktober, also vor seiner Reise nach Heidelberg möglich. Unwahrscheinlich ist dagegen eine Datierung unmittelbar vor seinem Eintritt ins Handelsmuseum im Oktober 1908, wie es die Autobiographie nahelegt, da Kelsen zu jener Zeit bei Rechtsanwalt Beth arbeitete.
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
Kaiser Franz Josephs die kulturelle Entwicklung Österreichs seit 1848 umfassend dargestellt hätte werden sollen, das jedoch nicht die Unterstützung des Geehrten fand und daher nie verwirklicht wurde. Es kam letztlich nur am 12. Juni 1908 ein »Kaiserhuldigungsfestzug« über die Ringstraße zustande, und auf Grundlage der bereits für die geplante Ausstellung erfolgten Sammlungen wurde das Technische Museum gegründet, für dessen Gebäude der Kaiser am 20. Juni 1909 den Grundstein legte.446 Federführend bei dem Projekt war der niederösterreichische Gewerbeverein gewesen, der bereits zum 40-jährigen und zum 50-jährigen Thronjubiläum eine Ausstellung organisiert hatte. Kelsen wird daher vermutlich so wie der Präsident des Gewerbevereins August Denk seinen Schreibtisch im Palais Eschenbach gehabt haben; ansonsten ist über Art und Umfang seiner Tätigkeit für dieses Sekretariat nichts bekannt.447 Mit 1. März 1908 kehrte Kelsen an das Wiener Straflandesgericht zurück, blieb dort allerdings nur zwei Monate.448 Am 1. Mai rückte Kelsen (zum dritten und letzten Mal) als Reserveoffizier für vier Wochen zu einer Waffenübung ein;449 danach absolvierte er den zwölften und letzten Monat seines Gerichtsjahres erneut am Wiener Straflandesgericht (29. Mai – 22. Juni). Am 24. Juni wurde Kelsen Konzipient bei einem Wiener Rechtsanwalt namens Josef Beth.450 Im Gegensatz zu seinem Onkel Alois Löwy, bei dem Hans Kelsen, wie weiter oben vermutet, wohl nur pro forma eingetragen gewesen war, handelte es sich bei der Kanzlei Beth aller Wahrscheinlichkeit nach um eine echte Konzipiententätigkeit, von der Kelsen nur berichtet: »Dieser Beruf haette mir keine Zeit fuer wissenschaftliche Arbeit gelassen.« Schon drei Monate später, am 22. September, quittierte er den Dienst, »da ich auf keinen Fall Rechtsanwalt werden wollte.«451 Ein kühner Schritt, der wohl nur möglich geworden war, weil Kelsen mittlerweile an ganz anderer Stelle beruflich Fuß gefasst hatte. 446 Wiener Bauindustrie-Zeitung Nr. 45 v. 9. 8. 1907, 391; Grossegger, Kaiser-Huldigungs-Festzug (1992) 21 Anm. 17; http://gewerbeverein.at.dedi787.your-server.de/download.php?file=rcms%2 Fupload%2Fdownloads%2FOeGV_Chronologie.pdf [Zugriff: 19. 1. 2012]. 447 Die wenigen erhaltenen Akten zur Jubiläumsausstellung befinden sich im ÖStA, HHStA HA OMeA, Kartons 1741, 1907, 4421, 4431. Sie enthalten umfangreiche Personenlisten für ein Ehrenkomitee, darunter etwa die Namen von Franz Klein oder Joseph Unger. Inwiefern einer dieser Namen für die Karriere Kelsens von Bedeutung gewesen sein könnte, muss – gerade angesichts ihrer Vielzahl – offengelassen werden. 448 Rechtsanwaltskammer Wien, Rechtsanwaltsanwärter-Liste V/326. 449 ÖStA, KA, Qualifikationslisten, Karton 1343, Kelsen Hans; vgl. schon oben 61. 450 Rechtsanwaltskammer Wien, Rechtsanwaltsanwärter-Liste V/326. Die Angabe von Kelsen, Autobiographie (1947) 8 = HKW I, 42, dass er schon vor Heidelberg sein komplettes Gerichtsjahr absolviert hatte, ist unrichtig; vielmehr war er bislang nur neun Monate bei Gericht tätig gewesen, es fehlten ihm also noch drei Monate. Nach Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger 1908 hatte Josef Beth seine Kanzlei in Wien I., Kohlmarkt 5. 451 Kelsen, Autobiographie (1947) 8 = HKW I, 42. Die vorhin erwähnte Rechtsanwaltsanwärter-Liste vermerkt auch eine erneute Tätigkeit bei Alois Löwy, die sogar fast zwei Jahre (24. 9. 1908–20. 5. 1910), also bis zu seiner Ernennung zum Mitglied der Staatswissenschaftlichen Staatsprüfungskommission (siehe unten 123), gedauert haben soll, doch wurde dies wieder – ohne Begründung – gestrichen. Da Kelsen letztlich vom Ergreifen des Rechtsanwaltsberufes Abstand nahm, wurden die Praxiszeiten von der Rechtsanwaltskammer mit Sitzungsbeschluss vom 3. 1. 1911 wieder gelöscht; vgl. dazu schon Busch, Kelsen im Ersten Weltkrieg (2009) 61.
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4. Eheschließung und Exportakademie a) Margarete Bondi »Bei den orthodoxen Juden Galiziens wurde dem Siebzehnjährigen, also dem kaum mannbaren Jüngling, die Braut zugeführt, und mit vierzig Jahren konnte er bereits Großvater sein. Nur in unserer bürgerlichen Gesellschaft war […] die frühe Ehe verpönt, weil kein Familienvater seine Tochter einem zweiundzwanzigjährigen oder zwanzigjährigen jungen Menschen anvertraut hätte, denn man hielt einen so ›jungen‹ Mann noch nicht für reif genug«, berichtete der 1881 geborene Dichter Stefan Zweig in seinem autobiographischen Werk »Die Welt von Gestern« und sparte nicht mit Kritik an den Auswirkungen dieser Praxis auf die Sexualmoral seiner Generation. Resümierend-resignierend stellte Zweig fest: »Während für die Natur mit sechzehn oder siebzehn, wurde für die Gesellschaft ein junger Mann erst mannbar, wenn er sich eine ›soziale Position‹ geschaffen hatte.«452 So darf es nicht wundern, dass auch Zweigs Altersgenosse Hans Kelsen erst heiratete, nachdem er das dreißigste Lebensjahr vollendet, eine Geld einbringende Stellung im k. k. Handelsmuseum, eine Lehrtätigkeit an der k. k. Exportakademie erlangt und sich zusätzlich an der Universität Wien habilitiert hatte. Seine spätere Ehefrau, Margarete Bondi, lernte Kelsen über ihren Schwager Adolf Drucker kennen.453 Dieser war 1876 in Itzkani in der Bukowina [Iţcani/RO] geboren worden und in Wien aufgewachsen, wo er 1894 mit Auszeichnung maturierte und am 26. Mai 1899 zum Doktor der Rechte promoviert wurde. Nach Absolvierung der Gerichtspraxis trat Drucker 1900 in das k. k. Handelsmuseum ein und stieg dort 1907 zum Sekretär, 1919 zum Regierungsrat, 1920 zum Hofrat auf. Am 13. Februar 1909 heiratete er die damals 24jährige Karoline Bondi, Margaretes Schwester.454 Angeblich war Drucker, der französisch, englisch und italienisch sprach, Nachhilfelehrer für einen Cousin Kelsens, über den er Hans kennen lernte und fortan sein Leben lang mit ihm befreundet blieb. Eines Tages sagte Adolf Drucker zu Hans Kelsen: »Ich werde eine Frau heiraten, die viel Geld hat. Und sie hat eine jüngere Schwester, die noch nicht vergeben ist. Komm mit, damit Du sie kennen lernst!«455 Die Vorfahren Margarete Bondis können bis hin zu dem in Prag lebenden Talmudisten und Kabbalisten Rabbi Jonathan Eybeschütz (1690–1764)456 zurückverfolgt werden; es ist möglich, dass sie von sephardischen Juden abstammten, die im 16. Jahrhundert aus Spanien flohen, wo der Name Bondi bereits in Urkunden aus 452 Zweig,
Die Welt von Gestern (1942) 102. kurzen Hinweis bei Kelsen, Autobiographie (1947) 10 = HKW I, 46 und auch Métall, Kelsen (1969) 16. 454 AdR, Handelsministerium, Standesausweise, Standesausweis Adolf Drucker. Vgl. Busch, Kelsen an der Exportakademie (2010) 77. 455 So nach dem Bericht von Anne Feder Lee, Interview v. 15. 10. 2006. 456 Vgl. zu ihm http://www.jewishencyclopedia.com/view.jsp?artid=556&letter=E [Zugriff: 26. 0 4. 2019]. Allgemein zur Familie Bondi: Lamed, Bondi (2007) 57. 453 Vgl. den
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
dem 13. Jahrhundert aufschien. Noch Margaretes Großvater, der Geschmeidehändler Herz Bondi (1795–1861) soll strenggläubig gewesen sein457 und die Familie die religiösen Gebote bis zu seinem Tod (aber auch nur bis dahin) streng beachtet haben. Herz Bondis Sohn Ferdinand Bondi, 1850 in Prag geboren, stieg ins Bankgeschäft ein und arbeitete in Wien als Prokurist für die Darmstädter Bank für Handel und Industrie Dutschka & Co. Um 1895 machte er sich selbständig und gründete ein eigenes Unternehmen mit Sitz am Schottenring Nr. 9 (also in unmittelbarer Nähe zur Börse), das Kommissionshandel mit Werteffekten betrieb.458 Seine Frau Bertha, geb. Prager, stammte aus vornehmem Haus und hatte – wenn wir den Berichten ihres Enkelsohnes Peter Drucker Glauben schenken dürfen459 – sogar von Clara Schumann persönlich Klavierunterricht bekommen. Das Paar hatte drei Töchter: Die 1882 geborene Anna, welche 1904 den Arzt Dr. Berthold Fried heiratete; die 1885 geborene Karoline, Adolph Druckers Verlobte, und zuletzt Margarete (»Gretl«), am 12. Februar 1890 in Wien geboren. Das Glück der Familie Bondi endete jäh, als sich der Vater, angeblich aufgrund eines »nervösen Kopfleidens«, am 12. August 1899 mit einem Revolver das Leben nahm.460 Für die erst neunjährige Grete war dies natürlich ein schwerer Schock; finanziell aber war die Familie gut abgesichert und konnte ihr standesgemäßes Leben zumindest bis zum Ersten Weltkrieg noch weiter fortsetzen.461 Peter Drucker, der am 19. November 1909 geborene Sohn von Adolf Drucker und Karoline Bondi, schildert uns seine Großmutter Bertha Bondi als eine kleine und zierliche, ehemals sehr schöne Frau, wovon noch zu Lebzeiten des Enkels ihr »volles, lockiges, rotbraunes Haar« zeugte.462 Auch Grete Bondi war keine große Frau (allerdings kaum kleiner als Hans Kelsen463) und ihre Haare hatten eine braune Farbe – möglicherweise das gleiche Rotbraun wie ihre Mutter. Die wenigen erhaltenen Fotos aus ihrer Jugendzeit zeigen sie mit äußerst gewinnendem Lächeln, und immerhin 457 So jedenfalls Kelsen Oestreicher, Times to remember (1977) 1a. Ihre Behauptung, dass ihr Urgroßvater Rabbi gewesen sei, ist jedoch unrichtig. Der Beruf von Herz Bondi geht aus der Konskriptionsurkunde (Ansuchen um Niederlassungsbewilligung) im Nationalarchiv Prag hervor: http://digi.nacr.cz/prihlasky2/indexen.php?session=bc5400367026bce56f83212743903639&action =record&x=4&t=1&m=1 [Zugriff: 20. 5. 2008]. 458 Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger 1890–1918. 459 Drucker, Schlüsseljahre (2001) 24. Dieses Buch enthält jedoch in vielen anderen Punkten ungenaue oder schlicht falsche Angaben (siehe noch unten 228), weshalb diese Quelle nicht als zuverlässig angesehen werden kann. 460 Vgl. die von der Familie aufgegebene Todesanzeige in der NFP Nr. 12563 v. 14. 8. 1899 (Abendblatt) 7, wo es heißt, dass er »nach kurzem Leiden im 50. Lebensjahre entschlafen« sei. Der wahre Hergang wurde jedoch in der Zeitung »Das Vaterland« Nr. 222 v. 14. 8. 1899, 3, geschildert und mir auch von Anne Feder Lee bestätigt. Die Beerdigung fand auf dem Wiener Zentralfriedhof (israelitische Abteilung) statt. 461 Kelsen Oestreicher, Times to remember (1977) 1a. 462 Drucker, Schlüsseljahre (2001) 20. 463 Zufolge der 1945 gestellten Anträge auf Verleihung der US-Staatsbürgerschaft (Petition for Naturalization of Hans Kelsen, 28. 7. 1945, Petition for Naturalization of Margarete Kelsen, 28. 7. 1945, beide Originale im Besitz von Anne Feder Lee) wies Hans Kelsen eine Körpergröße von 5'5" (ca. 166 cm), Margarete Kelsen eine Körpergröße von 5'4" (ca. 162 cm) auf.
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2. Kapitel: Die Anfänge der Wiener Schule
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Abb. 15: Hans und Grete Kelsen in Italien, September 1913.
beschrieb noch 1940 der Beamte der US-Einwanderungsbehörde das Aussehen der mittlerweile Fünfzigjährigen als »fair«. In der Familie Kelsen erzählt man die wenig charmante Geschichte, dass Hans Kelsen, als er seine spätere Frau kennenlernte, zunächst dachte, dass sie zwar viel Geld habe, aber nicht besonders klug sei; erst später merkte er, dass es sich genau umgekehrt verhalte.464 Ob es sich wirklich so verhielt, muss hier dahingestellt bleiben; Tatsache ist, dass Hans und Grete Kelsen ihr ganzes weiteres Leben, mehr als sechzig Jahre, miteinander verbrachten, über alle persönlichen Schicksale und eine Emigration in mehreren Etappen um den halben Globus hinweg. Zeitweise sogar als Übersetzerin für die »Zeitschrift für Öffentliches Recht«, die Zeitschrift ihres Gatten, tätig,465 arbeitete sie jahrelang auch als dessen Sekretärin und tippte »viele Tausende, vermutlich Zehntausende Seiten von Manuskripten und die meiste Korrespondenz466 […], sie hat nicht bloß verständnisvoll, in echter Güte und warmer Heiterkeit, schwierigsten Verhältnissen stets die Stirn geboten, sie hat in glücklicher Ehe ihrem Gatten nach seinen Wünschen und Bedürfnissen ein Zuhause zu bereiten verstanden, das seinem unermüdlichen Arbeiten kongenial war.« Und es ist Métall wohl beizustimmen, wenn er schreibt: »Ohne Grete Kelsen hätte Hans 464 Anne Feder Lee, Interview v. 15. 10. 2006; ähnlich auch Alexander Hoffmann, Interview v. 5. 7. 2007. 465 Vgl. etwa den Hinweis bei Mirkin-Getzewitsch, Rationalisierung der Macht (1929) 161, wonach Margarete Kelsen das französischsprachige Manuskript dieses Aufsatzes ins Deutsche übertragen hatte. 466 Diese Tätigkeit begann offenbar noch vor der Hochzeit: Ein – seit 2011 im Besitz von Nicoletta Bersier-Ladavac befindliches – Exemplar von Kelsen, Über Grenzen (1911), enthält die persönliche Widmung: »Fräulein Grete Bondi mit herzlichem Dank für ihre Mitarbeit. 6. Juni 1911, Hans Kelsen.«
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
Kelsen kaum den vielen Stürmen seines Lebens widerstehen können.«467 Denn als Grete 1973 starb, überlebte Hans seine Frau nur um wenige Wochen. Ob Kelsens 1911 erfolgte Habilitation an der Universität – ausgesprochene oder unausgesprochene – Bedingung dafür war, dass er ein knappes Jahr später seine Braut heiraten durfte, ist unbekannt. Andere Vorbereitungshandlungen dagegen sind aktenkundig: Denn bevor die Hochzeit stattfinden konnte, musste nicht nur die 22jährige Grete Bondi noch für volljährig erklärt werden,468 am 20. Mai 1912 konvertierte Hans Kelsen auch zur evangelischen Kirche A. B. und war am selben Tag Taufpate für seine Braut, die damals vom jüdischen zum evangelischen Glauben übertrat.469 Damit hatte Kelsen zum zweiten Mal innerhalb von sieben Jahren seine Religionszugehörigkeit gewechselt, und wieder schweigen die Quellen über die Gründe für diesen Schritt, sodass wir erneut auf Vermutungen angewiesen sind. Will man sich dabei nicht allzu weit in Spekulationen vorwagen, sondern möglichst nahe an den Fakten bleiben, so ist das zeitliche Naheverhältnis zwischen Konfessionswechsel und Eheschließung ins Auge zu fassen und daher zu fragen, inwieweit letztere nicht nur den Anlass (was offensichtlich sein dürfte), sondern auch den eigentlichen Grund für die Konversion gab. Das Eheschließungsrecht war zu jener Zeit im ABGB 1811 geregelt und hatte seit damals (wenn man von einem kurzen Intermezzo in der Ära des Neoabsolutismus absieht) kaum Änderungen erfahren. Es handelte sich formell um staatliches Recht, nahm aber inhaltlich auf die Ehemodelle der verschiedenen Religionen – der Katholiken, der »akatholischen« Christen und der Juden – Rücksicht. Insbesondere erfolgte die Eheschließung, mit Gültigkeit auch für das weltliche Recht, vor einem geistlichen Trauungsorgan, das also zugleich geistliche und weltliche Normen zu vollziehen hatte. Konfessionslose und Angehörige von staatlich nicht anerkannten Konfessionen hatten dagegen seit 1870 die Möglichkeit, ihr Jawort vor einer weltlichen Behörde bekannt zu geben; gleiches galt für Muslime auch nach ihrer staatlichen Anerkennung in Österreich 1912.470 Nach § 64 ABGB war die Eheschließung »zwischen Christen und Personen, welche sich nicht zur christlichen Religion bekennen« unzulässig.
467 Métall,
Kelsen (1969) 79. Dies erfolgte durch das Bezirksgericht Josefstadt am 16. 5. 1912 (Vermerk beim Taufeintrag). Die gesetzliche Volljährigkeitsgrenze lag zu jener Zeit bei 24 Jahren (vgl. § 21 ABGB Urfassung). 469 Protokoll des Magistratischen Bezirksamtes für den III. Bezirk, 11. 5. 1912, WrStLA 1.4.3.A9.6.K-Kart. 32/31485/1912. Dass im Formular angegeben ist, dass Kelsen beabsichtigte, künftig »konfessionslos« bleiben zu wollen, könnte auf einem Versehen des Magistratsbeamten, der das Formular auch sonst schlampig ausfüllte, beruhen; siehe ferner das Übertrittsprotokoll der Evangelischen Pfarrgemeinde A. B. Wien, Jg. 1912 Nr. 168. Bezüglich der Taufe Margarete Bondis wurde bereits 1999 eine entsprechende Anfrage Robert Walters vom Kirchenamt schriftlich beantwortet (HKI, Bestand Kelsen Persönliches). Hervorhebenswert ist, dass das Aufgebot für die Ehe laut Trauungsprotokoll bereits am 12. 5. 1912 bestellt wurde, zu einem Zeitpunkt also, als Hans Kelsen weder der katholischen noch der evangelischen Kirche angehörte, während Margarete Bondi noch Mitglied der Israelitischen Kultusgemeinde und überdies minderjährig war. 470 § 1 Gesetz v. 9. 4. 1870 RGBl 51; § 7 Islamgesetz 1912 RGBl 159. 468
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2. Kapitel: Die Anfänge der Wiener Schule
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Diese Bestimmung richtete sich intentional »gegen die Juden und Heiden«,471 war also tatsächlich eine Norm, die der Eheschließung des Katholiken Kelsen mit der Jüdin Bondi entgegen gestanden hätte. Eine Dispens gemäß § 83 ABGB war möglich, doch war die Taufe des jüdischen Teils wohl die einfachere und in der Praxis durchaus häufig gewählte Methode. Dies würde allerdings nur die Taufe von Grete Bondi, nicht den Konfessionswechsel Kelsens erklären. Ein anderes Problem könnte darin gesehen werden, dass Kelsen als Taufpate seiner Braut mit dieser »geistlich verwandt« war und dass dies nach katholischem (nicht nach evangelischem) Eherecht ein Ehehindernis darstellte.472 Doch ist kaum anzunehmen, dass den Brautleuten so viel an der Patenschaft Kelsens gelegen war, dass sie bloß deshalb gleich auch noch für die evangelische Kirche votierten; dieses Ehehindernis hätte leicht vermieden werden können. Viel wesentlicher erscheint der Umstand, dass eine gültige und vollzogene Ehe zwischen zwei Christen nach katholischem Kirchenrecht wegen ihres sakramentalen Charakters als unauflöslich galt und § 111 ABGB, basierend auf dieser Bestimmung, aber noch über sie hinausgehend, bestimmte, dass »das Band der Ehe, wenn auch nur Ein Theil schon zur Zeit der geschlossenen Ehe der katholischen Religion zugethan war […] nur durch den Tod des einen Ehegatten getrennt werden« konnte. Hingegen gestattete § 115 ABGB den akatholischen Religions-Verwandten eine Trennung der Ehe dem Bande nach, wenn »erhebliche Gründe« vorlagen. Dachten die Brautleute wirklich so nüchtern, als sie die Ehe schlossen? Es ist dies zunächst schwer zu glauben. Bedenkt man aber, dass viele Eheleute Ehepakte abschließen – vielleicht auch Hans und Grete, wir wissen es nicht – und dass solche Ehepakte regelmäßig Vorsorge für den Fall einer späteren Trennung der Gatten treffen, merkt man, dass das Ehepaar Kelsen durchaus nicht allein mit solchen Überlegungen stand. Es passt auch zu der als sehr emanzipiert beschriebenen Grete Bondi und zu dem stets besonnen handelnden Juristen Hans Kelsen, der später auch Mitglied in einem »Eherechtsreformverein« war und im VfGH vehement eine Judikatur verfocht, die letztlich auf Quasi-Scheidbarkeit der Katholikenehen abzielte.473 Zu beachten ist hier ferner das familiäre Umfeld Hans Kelsens und Margarete Bondis, das völlig gemischt war: Während Anna Bondi nach traditionellem jüdischen Ritus geheiratet hatte, war Karoline Bondi (nicht ihr Gatte) aus der Kultusgemeinde ausgetreten und hatte, als »Konfessionslose«, eine zivile Trauung gehabt.474 Hans Kelsens Schwester Gertrude hatte sich am 13. März 1910, sechs Wochen vor ihrer Eheschließung mit dem Industriellen Richard Weiss am 23. April 1910, evangelisch A. B. taufen lassen, wobei ihr Bräutigam (der ebenfalls Konvertit war) als Taufpate
471 So
Arthur Lenhoff in Klang, Kommentar (1933) 467. Tridentinum XXIV, de ref. matr. (= »Decretum Tamtetsi«, 11. 11. 1563), c 2; vgl. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts IV (1966) 240. 473 Zu dieser Vereinsmitgliedschaft vgl. Ehs, Verfassungsgerichtsbarkeit (2017) 140; zur Judikatur des VfGH noch unten 445. 474 Anne Feder Lee, Interview v. 15. 10. 2006. 472 Concilium
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fungierte.475 Der Bruder Ernst Kelsen konvertierte zum Calvinismus und heiratete am 4. Juni 1918 in der Evangelisch-Reformierten Stadtpfarre Wien seine gleichfalls – und nur zwei Wochen vor der Eheschließung – evangelisch H. B. getaufte Braut Lilli Kann, mit Hans Kelsen als einem der beiden Trauzeugen.476 Unverheiratet blieb lediglich der jüngste der Kelsen-Brüder, Paul Fritz, der sich aber dennoch, und zwar sofort nach Erreichung der Mündigkeit am 9. März 1912 – also nur wenige Wochen vor der Konversion seines älteren Bruders und Vormundes Hans – katholisch hatte taufen lassen (und sich fortan Paul Friedrich nannte).477 Es war also in den meisten Fällen die Ehe gewesen, die die genannten Personen zu einem Konfessionswechsel bewogen hatte, womit die Familien Bondi und Kelsen teils der jüdischen, teils der katholischen, teils der lutherischen und teils der calvinistischen Konfession angehörten, teils auch konfessionslos waren. Insbesondere die Parallelität der Eheschließungen und Konversionen von Grete Bondi, Gertrude Kelsen und Lilli Kann ist offensichtlich. Nicht dagegen ist anzunehmen, dass die seinerzeitige evangelische Taufe Otto Weiningers von Bedeutung für die Entscheidung Kelsens war, zumal er noch nach dem Tode Weiningers zum Katholizismus konvertiert war.478 Wenig wahrscheinlich ist schließlich die Möglichkeit, dass Glaubensfragen entscheidend für den Religionswechsel Hans Kelsens waren. Weyr beschreibt ihn als einen »Matrikenprotestanten«, also einen nur formal der evangelischen Kirche Angehörenden.479 Womöglich fällt ins Gewicht, dass der Protestantismus in jener Zeit als eher fortschrittlich, der Katholizismus als eher konservativ wahrgenommen wurde; die Konversion konnte daher auch als Abwendung von »katholischer Volksfrömmigkeit« und Hinwendung zu »bewusster, modernitätszugewandter Liberalität« aufgefasst werden.480 Doch all dies ist, wie bereits gesagt, Spekulation. Fünf Tage nach der Taufe Grete Bondis und der Konversion Hans Kelsens, am 25. Mai 1912, fand ihre Hochzeit statt, und zwar nicht in einer Kirche, sondern in der Wohnung der Familie Bondi im IX. Bezirk in der Widerhofergasse 7. Diese
475 Protokoll des Magistratischen Bezirksamts für den III. Bezirk, 23. 2 . 1910, WrStLA 1.4.6.A9.6.K-Kart. 28/11916/1910; Staudacher, Konvertiten II (2004) 147, 773. 476 Geburts‑ und Tauf-Schein von Lilli Kann (Auszug aus dem Taufbuch der evangelisch- reformierten Kirchengemeinde in Wien 1918, 15); Trauungs-Schein von Ernst Kelsen und Lilli Kann (Auszug aus dem Trauungsbuch der evangelisch-reformierten Pfarrgemeinde (H. B.) Wien-Innere Stadt 1919, 183, Z. 42); alle Originale im Besitz von Ernst Kelsens Enkeltochter Carole Angier. Vgl. auch NFP Nr. 19317 v. 6. 6. 1918, 6. 477 Röm.-kath. Pfarre St. Rochus a. d. Landstrasse, Wien III., Geburts‑ und Taufbuch 1912, Tom. 84, nach Nr. 36. Nach Art. 4 Interkonfessionellengesetz 25. 5. 1868 RGBl 49 war ein Religionswechsel erst ab vollendetem 14. Lebensjahr möglich. Paul Fritz lebte damals noch mit Mutter und Brüdern zusammen in der Marokkanergasse. Wie die Familie auf die Taufe reagierte, ist nicht bekannt; als Pate fungierte kein Familienmitglied, sondern ein gewisser Johann Goldband. 478 Die Taufe Otto Weiningers erfolgte am 19. 7. 1902; sein Bruder Richard ließ sich am 1. 7. 1906, ebenfalls evangelisch, taufen; vgl. Staudacher, Konvertiten II (2004) 767. 479 Weyr, Paměti I (1999) 415. 480 Voigt, Religion (2017) 151.
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Vorgehensweise war damals zwar nicht völlig unüblich,481 aber doch eher selten; möglicherweise wollte das Brautpaar ein allfälliges Aufsehen um den zuvor erfolgten Religionswechsel vermeiden. Als Trauzeugen fungierten Hans Kelsens Bruder Ernst sowie Margaretes Schwager Berthold Fried; Trauungsorgan war der evangelische Pastor DDr. Paul von Zimmermann.482 Die Hochzeitsreise führte das junge Paar nach Italien, danach lebte es wahrscheinlich für einige Wochen in der Wohnung der Brautmutter in der Widerhofergasse. Im September 1912 zogen Herr und Frau Kelsen in eine großbürgerliche Wohnung in einem 1907 von Anton Krones jun.483 erbauten Haus im VIII. Bezirk, Wickenburggasse 23, Stiege 2, Tür 15, gleich hinter dem Straflandesgericht und nur wenige Gehminuten von der Universität entfernt. Hier lebten sie achtzehn Jahre lang, bis zur Emigration im Jahre 1930, und die Adresse »Wickenburggasse 23«, wo Kelsen später Privatseminare veranstaltete, sollte sich zu einem Synonym für die Wiener rechtstheoretische Schule entwickeln. b) Die k. k. Exportakademie und der Schwarzwald-Kreis Die enge Freundschaft mit Adolf Drucker war aber auch noch aus einem zweiten Grund für Kelsen bedeutsam: Denn offenbar mit Druckers Hilfe gelang es ihm, am 1. Juli 1908 eine Stellung als »vertragsmäßiger Konzeptsbeamter am k. k. österr. Handelsmuseum«, wo auch Drucker arbeitete, zu erlangen. Hier war Kelsen faktisch bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges tätig und blieb rechtlich auch noch fast während des gesamten Krieges, und zwar bis zum 30. September 1918, somit fast zehn Jahre lang, angestellt.484 Das k. k. Handelsmuseum war ein 1887 gegründeter Verein, dessen Sammlungen auf die Wiener Weltausstellung 1873 zurückgingen und der die Förderung der Handelsbeziehungen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie mit dem Ausland bezweckte.485 Als ein »integrierender Bestandteil« des Handelsmuseums war 1898 eine »Exportakademie« gegründet worden, die ihren Sitz im Palais Festetics (Wien IX., Berggasse Nr. 16) hatte. Hier sollten Maturanten sowie Absolventen von Handelsakademien zu Kaufleuten ausgebildet werden, die »zur selbständigen und verständnisvollen Leitung eines Weltgeschäftes befähigt« sein würden.486 1919 481 So hatte z. B.auch Georg Jellinek am 17. 7. 1883 in der Privatwohnung eines Onkels seiner – konfessionslosen – Braut Camilla Wertheim geheiratet: Kempter, Die Jellineks (1998) 239. 482 Evangelische Pfarrgemeinde A. B. Wien, Trauungsbuch 1912 Nr. 91. 483 http://www.architektenlexikon.at/de/335.htm [Zugriff: 26. 0 4. 2019]. 484 Busch, Kelsen an der Exportakademie (2010) 69. 485 Schmid, Handelsmuseum (1906) 683 f. Diese Zielsetzung ist auch in dem Zusammenhang zu sehen, dass Österreich-Ungarn, im Gegensatz zu den meisten übrigen europäischen Großmächten, kein Kolonialreich besaß. 486 Zit. n. Busch, Kelsen an der Exportakademie (2010) 86; vgl. auch Schmid, Exportakademie (1905) 890 f. – Wie Kelsen in einem Gutachten aus 1913 (Kelsen, Exportakademie-Gutachten 1913, 103) feststellte, war die Gründung »zu Unrecht« erfolgt, da sie keine Deckung in den Vereinsstatuten des Handelsmuseums besaß; ein Manko, das auch noch 1913 nicht behoben war (!).
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sollte aus der Exportakademie die Hochschule für Welthandel und aus dieser 1975 die heutige Wirtschaftsuniversität Wien hervorgehen. Zur Zeit der Monarchie unterstanden sowohl das Handelsmuseum als auch die Exportakademie dem k. k. Handelsministerium, weshalb die dort Bediensteten k. k. Beamte waren. So auch Kelsen, der zunächst nicht an der Exportakademie, sondern direkt am Handelsmuseum arbeitete, vorerst nur auf Probe und gegen ein geringes Honorar von 1.800 Kronen jährlich.487 Der Vorgesetzte von Adolf Drucker und Hans Kelsen im Handelsmuseum war Dr. Hermann »Hemme« Schwarzwald. Auch er war ein aus dem Osten der Monarchie stammender Konvertit und seit 1905 als Vizedirektor im Handelsmuseum für die Exportförderung zuständig.488 Seit 1897 besuchte er als außerordentlicher Hörer das Seminar Bernatziks, wo er wohl auch Kelsen begegnet war. Von Hemme Schwarzwald ist der Ausspruch überliefert, »er habe am Handelsmuseum lauter Genies unter sich gehabt und daher alles selbst machen müssen.«489 Nun mag der Ausdruck »Genie« für Kelsen sicherlich zutreffend sein, doch wollte Schwarzwald mit diesem Ausspruch wohl eher seinen Ärger über seine Mitarbeiter ausdrücken, der aber nicht so weit ging, dass das persönliche Verhältnis von ihm zu Kelsen – oder zu Drucker – darunter litt; vielmehr entwickelte sich zwischen den drei Männern ein freundschaftlicher Umgang, und schon bald wurde der neue Mitarbeiter Kelsen auch in den »Schwarzwald-Kreis« eingeführt, in dessen Zentrum jedoch nicht Hemme Schwarzwald, sondern dessen Frau Eugenie (»Genia«) Schwarzwald stand. Eugenie Schwarzwald war ein Fixpunkt der österreichischen Gesellschaft des Fin de Siècle. Robert Musil hat ihr in seinem »Mann ohne Eigenschaften«, Karl Kraus in seinen »letzten Tagen der Menschheit«, Hugo Bettauer in seinem »Kampf um Wien« je ein literarisches Denkmal gesetzt.490 »Eugenia Harz«, wie sie bei Bettauer hieß, »in deren rundem knabenhaftem Kopf mit den kurzen Haaren immerwährend neue Ideen brodelten, menschheitsbeglückende, erzieherische, geniale und mitunter auch
487 Busch, Kelsen an der Exportakademie (2010) 80. Laut https://www.eurologisch.at/docroot/ waehrungsrechner/#/ [Abfrage vom 27. 11. 2019] entspricht dies einer Kaufkraft von heute (2019) € 11.006,55. Beachte, dass Kelsen im selben Jahr ein Reisestipendium in Höhe von 1.800 Kronen erhalten hatte! 488 Geb. Czernowitz [Černivci/UKR] 13. 2 . 1871, gest. Zürich [CH] 17. 8. 1939; vgl. Michael Martischnig, Schwarzwald Hermann, in: ÖBL, 55. Lfg. (Wien 2001) 35; Holmes, Langeweile ist Gift (2012) 80 ff. 489 Zit. n. Holmes, Die Schwarzwaldschule (2009) 100. 490 Holmes, Langeweile ist Gift (2012) 187 f., 208, 234. Bei Musil ist Schwarzwald das Vorbild für »Diotima«, die schöne und kluge Cousine des Mannes ohne Eigenschaften, deren bürgerlicher Vorname ironischerweise »Hermine« lautet; vgl. Musil, Mann ohne Eigenschaften, I/22 und passim, http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-mann-ohne-eigenschaften-erstes-buch-7588/23 [Zugriff: 26. 04. 2019]. Kraus hat, wie üblich, nur bösen Spott für die Schwarzwalds übrig und schildert uns »Hofrat und Hofrätin Schwarz-Gelber« als ein Paar, das um möglichst viel Publicity bemüht ist: Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, II. Akt, 8. Szene http://gutenberg.spiegel.de/buch/dieletzten-tage-der-menschheit-4688/4 [Zugriff: 26. 04. 2019]. Zu Bettauer siehe sogleich.
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abstruse«,491 war im wirklichen Leben als Eugenie Nußbaum zur Welt gekommen, und zwar in Polupanowka [Polupanivka/UKR], nicht weit entfernt von Brody, in Galizien. 1890 hatte die damals 28-jährige an der Universität Zürich den (in Österreich niemals anerkannten) akademischen Grad einer Dr.phil. erworben und kurz darauf Hemme Schwarzwald geheiratet.492 Sie war eine führende Verfechterin des Zugangs von Frauen zu höherer Bildung und trat schon bald nach ihrer Ankunft in Wien dem »Verein für erweiterte Frauenbildung« bei, der 1892 eine private gymnasiale Mädchenschule gründete, um Mädchen zur Matura zu führen. 1901 erwarb Eugenie Schwarzwald ein Mädchenlyzeum, das sie sogleich ausbaute und insbesondere einen »Gymnasialkurs« einrichtete, der zur Matura vorbereiten sollte. In einem jahrelangen, zermürbenden Kleinkrieg mit dem Unterrichtsministerium erreichte sie es, das Lyzeum 1910 zu einer »Realgymnasialen Mädchenschule« – der ersten in Österreich – auszubauen.493 Doch war dies nur ein Teil der vielfältigen Schwarzwald’schen Aktivitäten, die auch die Schaffung eines Kindergartens, einer Volksschule, die Einrichtung von Weiterbildungskursen, von Ferien‑ und Altersheimen und vieles andere umfassten.494 Besondere Bedeutung sollten hier die »wissenschaftlichen Vorbereitungskurse« haben, die direkt auf die Universität vorbereiteten. Dort, an der Universität, hatten die philosophische Fakultät schon 1897 und die medizinische Fakultät 1900 ihre Tore für Frauen geöffnet, während jene der rechts‑ und staatswissenschaftlichen sowie der theologischen Fakultät noch fest verschlossen waren. Umso bedeutender war es, dass in diesen wissenschaftlichen Vorbereitungskursen auch viele Juristen unterrichteten, neben Hermann Schwarzwald bald auch Adolf Drucker und Hans Kelsen. Jahre später erinnerte sich eine von Schwarzwalds Schülerinnen, Alice Her dan-Zuckmayer: »Dieser Fortbildungskurs, den ich nach dem Lyzeum besuchte, war das allerinteressanteste Schuljahr, denn die Gast-Vortragenden waren bedeutende Leute: Adolf Loos führte uns in die moderne Architektur ein, Dr. Hermann Schwarzwald und Hans Kelsen in die Soziologie und Volkswirtschaft, Egon Wellesz, der Schüler und Freund Schönbergs, in die Musik, Professor Otto Rommel lehrte Literatur. Als es jedoch ruchbar wurde, daß wir Siebzehnjährige den ›Totentanz‹ von Strindberg, die ›Weber‹ von Gerhart Hauptmann, ›Hedda Gabler‹ von Ibsen gelesen hatten, daß Adolf Loos entsetzliche Dinge vortrug über die bestehende Architektur und über falsche Lebensformen, und daß Egon Wellesz uns moderne Musik vorspielte und interpretierte, gab es in manchem Elternhaus Aufregung. Zornige Beschwerden und Anfragen lauteten, ob man uns zu Teufelsschülern verbilden wolle.«495 Zu diesen »Teufelsschülern« gehörten aber auch Karoline Bondi, die 1906/07 die gymnasialen Kurse und 1912/13 die Fortbildungskurse besucht hatte, sowie ihre 491 Bettauer, Kampf um Wien, Kapitel 18 http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-kampf-umwien-2106/18 [Zugriff: 26. 04. 2019]. 492 Vgl. zu ihr nunmehr umfassend Holmes, Langeweile ist Gift (2012). 493 Holmes, Langeweile ist Gift (2012) 98, 120. 494 Holmes, Die Schwarzwaldschule (2009) 98. 495 Herdan-Zuckmayer, Genies sind im Lehrplan nicht vorgesehen (1979) 37.
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Schwester Grete, die 1907/08 in den Fortbildungskursen gewesen war.496 Es ist sehr wahrscheinlich, dass Adolf Drucker über die Schwarzwalds seine spätere Frau kennengelernt hatte, womit sich der Kreis Kelsen – Bondi – Drucker – Schwarzwald schließt. Alle genannten Familien blieben – soweit es die politischen Umstände zuließen – ihr Leben lang freundschaftlich miteinander verbunden, und namentlich über Kelsens und Schwarzwalds gemeinsamene Bemühungen, einen Rechtsunterricht für Frauen zu etablieren, wird weiter unten noch ausführlich zu berichten sein. Damit jedoch zurück zu Kelsens Tätigkeit im Handelsmuseum, über deren Inhalte leider keine Details bekannt sind. Er selbst bezeichnete sie als »hoechst uninteressant, aber sie erlaubte mir wenigstens zwei bis drei Stunden am Tage an meiner Habilitationsschrift zu arbeiten.«497 In der Tat dürfte Kelsen in den ersten Monaten nur auf Teilzeitbasis beschäftigt gewesen sein oder besaß sonst große Freiräume, denn parallel zu seiner Arbeit im Handelsmuseum war er noch bis zum 22. September 1908 bei Rechtsanwalt Beth als Konzipient tätig und fuhr im Anschluss daran noch einmal – aufgrund eines neuen Stipendiums498 – nach Heidelberg zu Jellinek. Dies, obwohl er in seiner Autobiographie schreibt, dass er schon bald herausgefunden hatte, »dass Jellinek persoenlich sowohl als sein Seminar fuer meine Arbeit [gemeint: die Habilitationsschrift] nicht von grossem Gewinn sein wuerden«.499 Auch dieser zweite Heidelberg-Aufenthalt dauerte kürzer als ein volles Semester, denn bereits im Dezember 1908 wurde Kelsen von der Exportakademie mit der Abhaltung von »Spezialkursen aus dem Gebiete der Verfassungs‑ und Verwaltungslehre« betraut. Wie Kelsen später selbst angab, hatte er das Universitätsstipendium noch bis März 1909 genießen können; danach gab er Nachhilfestunden und war überdies im Sommersemester 1909 als juristischer Korrepetitor an der Juristenabteilung der k. k. Theresianischen Akademie tätig.500 Während der Sommermonate 1909 scheint Kelsens finanzielle Lage besonders prekär gewesen zu sein, weshalb er beim Handelsmuseum um einen einmaligen Zuschuss von 300 Kronen ansuchte.501 Erst im Herbst 1909 besserte sich die finanzielle Lage Kelsens allmählich; er wurde nunmehr regulärer Konzeptsadjunkt am Handelsmuseum und zum Assistenten von Prof. Dr. Ernst Seidler sen. an der Exportakademie bestellt.502 Dieser, 1862 in Schwechat bei Wien geboren, war 1894–1900 Sekretär der Handels‑ und Gewerbekammer in Leoben gewesen und dann in das k. k. Ackerbauministerium gewechselt; daneben hatte er 1890–1897 – so wie vor ihm Bernatzik und Menzel – die Funktion eines 496 Holmes,
Langeweile ist Gift (2012) 132. Autobiographie (1947) 8 = HKW I, 42. 498 Vgl. oben 101. 499 Kelsen, Autobiographie (1947) 7 = HKW I, 41. 500 Von dieser Tätigkeit sind – laut Auskunft von Mag. Sandra Gärber vom Stiftungsvorstand der Theresianischen Akademie – keine Unterlagen mehr erhalten; auch der gedruckte Jahresbericht enthält keinen Hinweis auf eine Tätigkeit Kelsens. 501 Busch, Kelsen an der Exportakademie (2010) 81. 502 Kelsen, Autobiographie (1947) 10 = HKW I, 46; Jestaedt in HKW III, 648; Busch, Kelsen an der Exportakademie (2010) 81. 497 Kelsen,
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Juristen-Präfekten bei der k. k. Theresianischen Akademie innegehabt, 1906–1908 lehrte er als ordentlicher Professor mit dem Schwerpunkt Agrarrecht an der k. k. Hochschule für Bodenkultur, danach kehrte er in das Ministerium zurück, setzte aber seine Lehrtätigkeit an der k. k. Exportakademie fort, bis er selbst 1917 zum Ackerbauminister ernannt wurde.503 Kelsen wurde nun, im Wintersemester 1909/10, »Kursleiter« an der Exportakademie und hielt zum ersten Mal eine eigene Vorlesung; sie hatte die »Verfassung und Verwaltung der Balkanländer« zum Inhalt. Die Tatsache, dass diese erste Lehrtätigkeit in den Publikationen Kelsens praktisch keinen Niederschlag gefunden hat,504 ist Indiz, dass ihm das Thema kein inneres Anliegen war, sondern er diese Tätigkeit als das auffasste, was sie war: die erste Sprosse auf der mühsamen akademischen Karriereleiter. Im Wintersemester 1910/11 hielt Kelsen die genannte Vorlesung noch einmal und zusätzlich eine Vorlesung über »Die staatsrechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des osmanischen Reiches«, ferner veranstaltete er gemeinsam mit seinem Vorgesetzten Seidler einen Kurs über »Verfassungs‑ und Verwaltungslehre sowie Statistik«.505 Nun wurde auch das Unterrichtsministerium auf den jungen Wissenschaftler aufmerksam, und im Mai 1910 wurde Hans Kelsen zum Mitglied der k. k. staatswissenschaftlichen Staatsprüfungskommission in Wien bestellt.506 Am 2. Juni 1910 nahm der noch nicht Dreißigjährige erstmals jene Prüfung ab, zu der er etwas mehr als vier Jahre zuvor selbst angetreten war; bei seinem zweiten Prüfungstermin, am 14. Juni, unter dem Vorsitz des Präses der Staatsprüfungskommission, Adolf Menzel, persönlich. Damit war er seinem Ziel, der Habilitation an der Universität Wien, schon ein bedeutendes Stück näher gekommen. Unter den Namen der Studenten dieser ersten beiden Prüfungstermine – Ernst Braun aus Triest, Karl Wahrheit aus St. Veit an der Glan, Anton Holdhaus aus Baden bei Wien, Paul Wohlheim aus Wien, Otto Skrotzky aus Brüx [Most/CZ] und Sami Grau aus Lemberg – befand sich noch kein Prominenter; erst am 9. Juli 1910 sollte mit Julius Bombiero Ritter von Kremenać auch ein späterer Professor der Universität Wien bei Kelsen eine Prüfung ablegen.507 503 Vgl. zu Seidler auch ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 614, Personalakt Seidler Ernst; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 472. – Winkler, Rechtswissenschaft als empirische Sozialwissenschaft (1999) 101–141 enthält eine ausführliche Biographie von »Ernst Seidler«, die jedoch die beiden Personen Ernst Seidler sen. (1862–1931) und Ernst Seidler jun. (1893–1958) offenbar irrtümlich zu einer einzigen Person »verbindet«, sodass die Arbeit, wenn überhaupt, so nur mit großer Vorsicht verwendet werden sollte. Vgl. zu Ernst Seidler jun. noch unten 149. 504 Nur in einer Buchbesprechung, in der Kelsen 1910 drei Werke aus der Schriftenreihe »Das öffentliche Recht der Gegenwart« – betreffend das französische, das griechische und das luxemburgische Staatsrecht – bespricht, äußert er den Wunsch, daß in dieser Reihe auch »auch die Staatsrechte der übrigen Balkanstaaten, vor allem eine Darstellung des so interessanten und aktuellen Verfassungsrechtes der Türkei« folgen möge (HKW I, 575) – machte er sich Hoffnungen, dass er von den Herausgebern (u. a. Jellinek) mit einem solchen Werk betraut werde? Vgl. auch Kelsens Buchbesprechung der Monographie von Norbert Wurmbrand über die rechtliche Stellung Bosniens und der Herzegowina, in HKW IV, 87–96. 505 Busch, Kelsen an der Exportakademie (2010) 92. 506 ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 611, Personalakt Kelsen Hans. 507 UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Staatswissenschaftliche Staatsprüfungspro to
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5. Hans Kelsen in der Volksbildung In seinem 1911, anlässlich der Einreichung seiner Habilitationsschrift abgefassten handschriftlichen Lebenslauf berichtet Kelsen, dass er im Jahr 1910 das Haber-Linsbergsche Reisestipendium verliehen bekam und im Wintersemester 1910 das staatsrechtliche Seminar an der Friedrich-Wilhelms-Universität (der heutigen Humboldt-Universität) in Berlin besuchte.508 Diese dritte Seminarreise Kelsens wird sowohl in seiner Selbstdarstellung als auch in seiner Autobiographie nur ganz kurz erwähnt, ohne dass erkennbar wäre, aus welchen Gründen Kelsen diese Reise unternommen hatte oder welche Professoren er hören wollte.509 Auch die Berliner Archive enthalten keine Hinweise zu Kelsens dritter Seminarreise.510 Erst viele Jahrzehnte später, 1958, erklärte Kelsen in einem Interview, dass er damals nach Berlin gefahren sei, um Heinrich Triepel zu hören.511 Triepel, 1868 in Leipzig geboren, war dort bei Karl Binding promoviert worden und hatte sich 1893 habilitiert.512 Nach Professuren in Leipzig, Tübingen und Kiel hatte er seit 1913 einen staatsrechtlichen Lehrstuhl an der Friedrich-Wilhelms-Universität in der deutschen Reichshauptstadt inne. 1899 war er in seiner Monographie »Völkerrecht und Landesrecht« von einem strengen Dualismus ausgegangen, d. h. von der Auffassung, dass es sich bei den genannten Rechten um zwei völlig getrennte Normensysteme handle.513 Hervorzuheben ist, dass weder dieses noch ein anderes Buch von ihm in den »Hauptproblemen« Erwähnung findet, jedoch Triepels dualistische Theorie recht ausführlich in Kelsens 1920 publizierter Monographie »Das Problem der Souveränität« behandelt wird.514 Es ist dies einer von mehreren Hinweisen darauf, dass Kelsen erste Überlegungen zu seinem »Problem der Souveränität« bereits zu einem Zeitpunkt anstellte, als er noch an den »Hauptproblemen« arbeitete.515 kolle, Protokollbuch XXXVII Z. 241–243 und 266–268; Protokollbuch XXVIII Z. 23. Zu Julius Bombiero, außerplanmäßigem Professor für Kirchenrecht 1939–1945, vgl. Schartner, Staatsrechtler (2011) 156–163; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 333–337. 508 Curriculum vitae, datiert 6. 2 . 1911, in ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 611, Personalakt Kelsen Hans. Vgl. auch UA Wien, Rektoratsarchiv, R. 53.12, Register zum Stipendien-Protokoll No. IV 1902/03–1938. 509 Kelsen, Selbstdarstellung (1927) 1 = HKW I, 20; Kelsen, Autobiographie (1947) 9 = HKW I, 43. 510 Eine schriftliche Anfrage beim Universitätsarchiv der (seit 1949 so bezeichneten) Humboldt- Universität zu Berlin ergab, dass der Name Kelsen in den Studentenverzeichnissen WS 1910 bis WS 1911 nicht verzeichnet ist; das Gasthörerverzeichnis weist für diese Zeit eine Lücke auf. Die Einwohnermeldekartei im Landesarchiv Berlin (zu der ebenfalls eine schriftliche Anfrage erfolgte) enthält keinen Beleg für die Anwesenheit Kelsens in jenem Zeitraum – was allerdings auch kein Beleg für seine Abwesenheit ist. 511 Hans Kelsen, Interview mit Irmgard Bach, Juni 1958. Triepel wird auch später noch einmal von Kelsen erwähnt: Kelsen, Encounters and Problems (1965) 3. 512 Geb. Leipzig 12. 2 . 1868, gest. Untergrainbach/Bayern 23. 11. 1946; vgl. Arnauld, Triepel (2018). 513 Ulrich M. Gassner, Triepel Carl Heinrich, in: NDB XXVI (Berlin 2016) 412–413. 514 Kelsen, Souveränität (1920) 120–124 = HKW IV, 383–387 und passim. 515 Vgl. dazu noch unten 263.
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So wenig wir über Kelsens Berlin-Aufenthalt 1910 wissen – sicher ist, dass er, so wie schon zuvor in Heidelberg, kein ganzes Semester an der Friedrich-Wilhelms-Universität blieb. Denn im vorhin genannten Lebenslauf gibt Kelsen auch an, dass er von »der Leitung des Wiener Volksheimes eingeladen« wurde, »im Wintersemester 1910 einen Kurs über Allgemeine Staatslehre« abzuhalten.516 Das Volksheim war einer der zahlreichen Bildungsvereine, die zu jener Zeit in Wien existierten und sich bemühten, breitesten Bevölkerungsschichten, insbesondere auch Arbeiterinnen und Arbeitern, Bildung auf wissenschaftlichem Niveau zu vermitteln. Die meisten dieser Einrichtungen waren sozialdemokratisch ausgerichtet oder standen sonst der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei nahe; als parteipolitisch neutral konnten demgegenüber der 1887 gegründete »Wiener Volksbildungsverein«, die 1897 gegründete »Urania« (so benannt wegen der in ihrem Gebäude befindlichen Sternwarte) und eben das 1901 gegründete »Volksheim« gelten.517 Dessen Anfänge gehen auf das Jahr 1893 zurück, als sich unter maßgeblicher Mitwirkung des Historikers Priv.-Doz. Dr. Ludo Moritz Hartmann 53 Universitätslehrer zusammenfanden, um »volkstümliche Universitätsvorträge« zu halten. Das damals neuartige Bildungs angebot (welches unter der »hippen« Bezeichnung »university meets public« noch heute existiert) stieß rasch auf großen Anklang und wurde beständig ausgeweitet; nun war es auch Personen, denen »bisher die akademische Bildung unzugänglich war«,518 möglich, hervorragende Wissenschaftler wie etwa die Philosophen Friedrich Jodl und Ernst Mach, den Verfassungsrechtler Edmund Bernatzik, den Ökonomen Eugen von Philippovich oder den Mediziner Julius Tandler zu hören. Bald entstand das Bedürfnis, nicht nur einzelne Vorträge, sondern auch ganze Kurse, Vorlesungen und sonstige Veranstaltungen abzuhalten, was schließlich zur Gründung des »Volksheimes« führte, das 1905 jenes Gebäude im XVI. Wiener Gemeindebezirk Ottakring bezog, in dem es sich noch heute (unter der Bezeichnung »Volkshochschule Ottakring« am Ludo Hartmann-Platz) befindet.519 Im breiten Angebot der volkstümlichen Universitätsvorträge nahmen rechtswissenschaftliche oder gar irgendwie »politische« Vorträge zunächst nur einen bescheidenen Platz ein. Denn, so erläuterte Kelsen später, das »Bildungsideal des 19. Jahrhunderts« war »ein naturwisssenschaftlich-technisches«, dem das politische Element fremd blieb, das ihm »sogar ein wenig feindlich« gegenüberstand: »Der normale Bildungsphilister, der sich für verpflichtet hält, über die Grundfragen der Deszendenztheorie [gemeint: der Darwinschen Evolutionstheorie] Bescheid zu wissen, die ›höhere Tochter‹, die tief beschämt wäre, über irgendein kunsthistorisches Detail in Unkenntnis zu sein, sie dürfen ruhig und ohne Schädigung ihres Prestiges eingestehen, daß ihnen 516 Curriculum vitae, datiert 6. 2 . 1911, in ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 611, Personalakt Kelsen Hans. 517 Dazu und zum Folgenden Ehs, Kelsen und politische Bildung (2007) 34 ff. 518 § 1 Vereinsstatut, zit. n. Ehs, Kelsen und politische Bildung (2007) 37. 519 Die Adresse lautete XVI., Koflerplatz 7; sie wurde 1924 in die heutige Adresse Ludo Hartmann-Platz 7 umbenannt.
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die wichtigsten Tatsachen der Verfassung ihres Landes unbekannt sind, daß sie ihre politischen Rechte und Pflichten ignorieren.« Erst in neuester Zeit sei auch in der Bourgeoisie das Bedürfnis nach politischer Bildung entstanden, quasi als Reaktion auf die sozialistischen Bewegungen, die – von anderer Seite her kommend – dem gleichen Ziel zusteuerten.520 In den Dienst dieses neuartigen Bedürfnisses nach politischer Bildung stellte sich der junge Kelsen. Es ist zu vermuten, dass er über Eugenie Schwarzwald, die bereits 1901 einen Deutschkurs im Volksheim gehalten hatte,521 in Kontakt mit Ludo Hartmann gekommen war und dieser ihn dazu bewegen konnte, im Wintersemester 1910/11 den genannten Kurs über »Allgemeine Staatslehre« abzuhalten. Kelsen lockte damit 52 Hörerinnen und Hörer an, was die Veranstalter wohl zufriedenstellte, denn im folgenden Sommersemester 1911 wurde der vielversprechende junge Rechtswissenschaftler gleich mit zwei Kursen betraut: Der erste hatte »Allgemeines und österreichisches Staatsrecht«, der andere eine »Geschichte der politischen Theorien« zum Gegenstand. Zu diesen kamen lediglich 22 bzw. 36 Hörerinnen und Hörer, doch wurde Kelsen, mittlerweile an der Universität zum Privatdozenten habilitiert, auch weiter mit der Abhaltung von Kursen betraut, im Wintersemester 1911/12 waren dies wiederum eine »Geschichte der neueren politischen Theorien« (nunmehr 60 Hörer/ innen) und »Allgemeine Staatslehre« (35 Hörer/innen). Im März 1912 fuhr er an drei aufeinanderfolgenden Wochenenden in die (südlich von Lilienfeld gelegene) Gemeinde Hohenberg in Niederösterreich, um dort vor 231 Hörerinnen und Hörern »Österreichische Verfassungsgeschichte« vorzutragen.522 Für Kelsen, der damals kurz vor seiner Eheschließung stand und dessen finanzielle Situation sich seit 1909 kaum verbessert hatte, waren diese Vorträge sicherlich ein willkommenes Zubrot, wurden doch die Wiener Vortragszyklen jeweils mit 180 Kronen (für jeweils sechs Abende), der Kurs in Hohenberg gar mit 240 Kronen bezahlt (wovon er allerdings auch Bahnfahrt und Nächtigungen bestreiten musste). Doch haben wir guten Grund anzunehmen, dass sich Kelsen nicht nur des schnöden Mammons wegen, sondern auch aus ideellen Motiven in der Volksbildung engagierte, da sie doch seinen eigenen Wertvorstellungen, insbesondere seinen aufklärerischen und demokratischen Idealen, entgegenkam. So wurde Kelsen am 4. Mai 1912 in den exekutiven Ausschuss des Volksheims kooptiert und von diesem beauftragt, am 6. Oktober den »Eröffnungsvortrag« zu halten, mit dem das neue Schuljahr begonnen werden sollte.523 Ursprünglich hatte er den Plan gehabt, zu Rousseau zu referieren, widmete seinen Vortrag dann aber dem Thema »Politische Weltanschauung und Erziehung«. Der später auch publizierte Vortrag ist für uns von besonderem Interesse, verdanken wir ihm doch bemerkenswerte Einblicke in das politische Denken des jungen Kelsen, der erstmals »das Feld 520 Kelsen,
Politische Weltanschauung (1913) 1 f., 11 = HKW III, 114 f., 127 = WRS 1501 f., 1510. Langeweile ist Gift (2012) 94. 522 Ehs, Kelsen und politische Bildung (2007) 60. 523 Jestaedt in HKW III, 679. 521 Holmes,
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der Rechtswissenschaften« verließ und »sich Fragen der politischen Theorie und der Ideengeschichte aber auch solchen der Volkspädagogik und der politischen Erziehung und Bildung« zuwandte.524 Eine solche an den Schulen einzuführen, hielt Kelsen für durchaus wünschenswert, allerdings nicht in der Form, dass dort eine »Charakterschulung«, etwa Erziehung hin zum Patriotismus, betrieben werde. Eine derartige Erziehung sei selbst politisch, daher notwendig parteipolitisch und sollte daher auch den Parteien überlassen bleiben. »Was die Schule unbeschadet ihrer über allen Parteien stehenden Autorität lehren kann und im ureigensten Interesse des Staates lehren soll, ist politisches Wissen.« Bewusst ließ er die Frage offen, ob dabei Politik selbst als eine Wissenschaft – das Wort »Politikwissenschaft« wurde von ihm nicht verwendet – überhaupt gelehrt werden könne. Viel vordringlicher schien es ihm, bereits in den Mittelschulen einen »Überblick über die wichtigsten Resultate der Sozialwissenschaften und insbesondere der Staatswissenschaften« zu vermitteln, der von der Volkswirtschaftspolitik über juristische Grundbegriffe bis hin zu den Grundzügen der Verfassung reichen solle.525 Freilich verfolgte Kelsen auch mit dieser Forderung ein politisches Ziel: Die einzelnen Staatsbürger sollten politisch mündig gemacht werden, was ihm als notwendige Vorbedingung für das Funktionieren einer Demokratie erschien – ein Gedanke, den er freilich erst Jahre später, als die demokratische Republik schon ausgerufen worden war, frei ausformulierte: »Die dogmatische Voraussetzung, daß alle Bürger gleich geeignet seien, jede beliebige Staatsfunktion zu leisten« basiere auf der »Möglichkeit, alle Bürger zu den Staatsfunktionen geeignet zu machen. Die Erziehung zur Demokratie wird eine der praktischen Hauptforderungen der Demokratie selbst.«526
6. Die »Hauptprobleme der Staatsrechtslehre« a) Der Hauch der Moderne Die Staatsrechtslehre des ausgehenden 19. Jahrhunderts war vom Historismus geprägt gewesen – und auf sonderbare Art und Weise schien die Architektur der Ringstraßenära diese Denkart zu imitieren: So war das Parlamentsgebäude 1874–1883 nach Art eines griechischen Tempels gebaut worden, um an die Zeit der attischen Demokratie zu erinnern, und das Neue Rathaus (errichtet 1872–1883) gemahnte mit seinen Türmen und (neu‑)gotischen Spitzbögen an das Spätmittelalter, als das europäische Bürgertum seine erste Blüte erlebt hatte.527 Welcher Baustil war wohl besser geeignet, imperiale Macht zu demonstrieren, als der Barock, die Kunstrichtung des Absolutismus? 1889 wurde damit begonnen, die kaiserliche Hofburg zum Michaelerplatz hin 524 Jestaedt
in HKW III, 680. Politische Weltanschauung (1913) 25 = HKW III, 143 f. = WRS 1523. 526 Kelsen, Demokratie (1920) 30 = VdD 25. 527 Johnston, Geistesgeschichte (2006) 158. 525 Kelsen,
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zu erweitern, wobei man auf Originalpläne des Barockarchitekten Joseph Emanuel Fischer von Erlach aus dem Jahr 1726 zurückgriff, die zu dessen Lebzeiten nur zu einem geringen Teil verwirklicht, nun aber zügig innerhalb von vier Jahren umgesetzt wurden. Eine mächtige Kuppel bekrönte den gewaltigen Eingangsbereich, dessen Attika Allegorien der Gerechtigkeit, Weisheit und Stärke zeigten. Links und rechts wölbten sich konkav die beiden Seitenflügel des Michaelertraktes, die jeweils mit einer monumentalen Skulpturengruppe abgeschlossen wurden: der »Macht zur See« und der »Macht zu Lande«. So sollten Architektur und Bildhauerei die Größe und Stärke des Habsburgerreiches noch einmal demonstrieren. Wenige Jahre später, 1909, erwarb der berühmte Herrenausstatter Goldman & Salatsch auf der anderen Seite des Michaelerplatzes einen Baugrund und beauftragte den Architekten Adolf Loos mit der Errichtung eines repräsentativen Kaufhauses an der wohl vornehmsten Adresse Wiens. Dass Loos dieses Haus nicht aus Ziegeln, sondern aus Stahlbeton errichten wollte, war typisch für die heranziehende Moderne, erregte die Wienerinnen und Wiener aber lange nicht so sehr wie die Absicht des Architekten, auf Fensterverdachungen zu verzichten und auch sonst so gut wie keine Ornamente zu verwenden. »Niemand hat heute Zeit, Statuen und Figuren auf dem Dache zu betrachten«, verteidigte Loos sein Werk.528 Die Wiener jedoch verspotteten das Haus am Michaelerplatz mit seiner glatten Fassade als »Haus ohne Augenbrauen«; im Wiener Gemeinderat wurde es als »Scheusal« bezeichnet, und wochenlang war Loos das führende Thema in den Tageszeitungen und den Kaffeehäusern. Der Kaiser soll sich angeblich geweigert haben, aus seiner Burg auf das »hässliche« Haus vis-à-vis zu blicken. Der Skandal gipfelte in einem behördlich verfügten Baustopp, und erst als sich Loos verpflichtete, »Blumenjardinieren« aus Bronze an den Fassaden anbringen zu lassen, konnten die Arbeiten fort‑ und 1912 zu Ende geführt werden. Ein Hauch der Moderne hatte durch Wien geweht, doch die Wiener hatten nicht von ihr Besitz ergriffen. b) Im Schriftverkehr mit J. C. B. Mohr Am 27. August 1910 richtete Hans Kelsen ein Schreiben an den angesehenen Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen, in dem er ihm eine »ca. 30 Druckbogen starke Arbeit« mit dem Titel »Hauptprobleme der Staatsrechtslehre« anbot.529 Auf Nachfrage des Verlages präzisierte Kelsen den Umfang seines Manuskripts mit »1075 Quartbogen zu 2 einzeilig beschriebenen Blättern a 17 Zeilen, die Zeile mit durchschnittlich 8 Worten«, oder, nach Kelsens eigener – ziemlich genauer – Schätzung »za 272000 Worte Text und 20400 Worte Anmerkung«, was sich, so hoffte er wohl aus finanziellen Gründen, auf weniger als 600 Buchseiten ausgehen sollte. Zugleich gab Kelsen an, dass er »auf Anraten eines mir nahestehenden Universitätsprofessors«530 528 Adolf
Loos, Vortrag vom 11. 1 2. 1911 in den Sofiensälen, zit. n. NFP Nr. 1994 v 12. 1 2. 1911, 8. in HKW II, 882. 530 Der etwas kryptische Hinweis bezog sich vermutlich auf Professor Friedrich Tezner; vgl. zu ihm noch unten 150 f. 529 Jestaedt
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dem Titel seiner Arbeit »den Untertitel: I. ›Die Lehre vom Rechtssatz‹ hinzugefügt habe« und beabsichtige, zu einem späteren Zeitpunkt einen zweiten Band, betitelt, »II. die Lehre von den Staatsformen« fertigzustellen, für den »bereits Vorarbeiten vorliegen.«531 Der Verlagsleiter Paul Siebeck und sein Sohn Oskar, die die Korrespondenz mit Kelsen in der Folge führten, zeigten sich an der Arbeit interessiert, rieten aber davon ab, das Werk mit einer »Zahl I« zu versehen, da ein unvollständiges Werk auf »erhebliche Absatzschwierigkeiten« stoßen würde. Man einigte sich schließlich auf den Buchtitel: »Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze«, wobei die ersten drei Wörter auf dem Titelblatt in deutlich größerer Schrift gedruckt wurden und somit die Hauptüberschrift bildeten; auch bat Kelsen, die Unterüberschrift auf Umschlag und Buchrücken ganz wegzulassen.532 Außerdem verlangte der Verlag »mit Rücksicht auf den theoretischen Charakter Ihrer Untersuchungen« einen Druckkostenzuschuss, den Kelsen zu leisten bereit war, allerdings umgekehrt eine Umsatzbeteiligung ab dem 500. verkauften Exemplar erbat, zumal er sich von seiner Arbeit aufgrund ihres Inhaltes »einen größeren Absatz« erhoffte, »als solcher [sic] juristisch-theoretischen Spezialarbeiten im allgemeinen gegönnt ist.«533 Obwohl sich Kelsens Hoffnung erfüllte – die im April 1911 erschienene Auflage von 1.000 Exemplaren war bis November 1922 vergriffen534 – verdiente der Autor keine müde Mark an seinem Werk: Da Kelsen auch noch am Satz umfangreiche inhaltliche Korrekturen vornahm und auf diese Weise den Umfang seines Werkes auf letztlich 731 Buchseiten erweiterte – so veranlasste ihn z. B. das Erscheinen der Schrift über »Das freie Ermessen« von Rudolf v. Laun noch um die Jahreswende 1910/11 zu einem achtseitigen Exkurs allein zu dieser Thematik535 –, schnellten die Druckkosten in die Höhe und betrugen schließlich 899,60 Mark.536 Es offenbarte sich bereits bei diesem Buch eine Eigenart Kelsens, die später typisch für ihn wurde: Er feilte bis zum letzten Moment an Formulierungen und zögerte immer wieder, wenn es darum ging, einen Text endgültig abzugeben. Obwohl er selbst anfangs eine Fertigstellung noch vor Weihnachten 1910 erhofft hatte, musste ihn der Verlag mehrmals drängen, die Autorenkorrekturen abzuschließen. Doch schließlich war es soweit: Im Februar 1911 signierte Kelsen die »Vorrede« zu seinem Buch, am 27. März schrieb Oskar Siebeck an Kelsen, dass das Buch gedruckt und die ersten Exemplare an den Autor unterwegs seien, im April wurde mit dem allgemeinen Versand begonnen.537
531 Hans Kelsen, Schreiben an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) v. 13. 9. 1910, zit. n. HKW II, 891 u 899. Vgl. zu diesen »Vorarbeiten« das schon oben 124 zu Heinrich Triepel Gesagte. 532 Jestaedt in HKW II, 899 f. 533 Hans Kelsen, Schreiben an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) v. 3. 9. 1910, zit. n. HKW II, 901. 534 Jestaedt in HKW II, 884 f. 535 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 503–511 = HKW II, 651–660. 536 Jestaedt in HKW II, 901 f. 537 Jestaedt in HKW II, 884 u. 908.
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c) Sein und Sollen Kelsens »Hauptprobleme« waren in drei »Bücher« gegliedert, von denen das erste »Voruntersuchungen« enthielt, während sich das zweite der »objektiven Erscheinungsform des Rechtssatzes« und das dritte den »subjektiven Erscheinungsformen des Rechtssatzes« widmete. Er behandelte darin zentrale Probleme der Rechtstheorie, die ihn sein ganzes weiteres Leben nicht losließen; die »Hauptprobleme der Staatsrechtslehre« können als der Beginn der von Kelsen begründeten, erst später so bezeichneten »Reinen Rechtslehre« angesehen werden, weshalb hier auf die wesentlichsten Gedanken – so kurz als möglich, aber so lang als notwendig – eingegangen sei. Ausgangspunkt von Kelsens Überlegungen war eine Gegenüberstellung der Begriffe »Naturgesetz« und »Rechtsgesetz« (oder, wie Kelsen gleich ausbesserte, »Rechtssatz«, zumal ein Rechtsgesetz meist aus einer Vielzahl einzelner Rechtssätze bestehe und diese, nicht jenes, das Pendant zum Naturgesetz bilden).538 Das Naturgesetz habe einen »explikativen« Charakter, es beschreibe ein »Sein«; das Rechtsgesetz bzw. der Rechtssatz hingegen habe einen »normativen« Charakter, indem ein »Sollen« vorgeschrieben werde; es handle sich also um eine Norm. »Ein vollkommener Gegensatz zwischen Naturgesetz und Norm ist nur möglich auf Grund einer vollkommenen Disparität von Sein und Sollen. […] Sein und Sollen sind allgemeinste Denkbestimmungen, […] ursprüngliche Kategorie[n], und ebensowenig wie man beschreiben kann, was das Sein oder Denken ist, ebensowenig gibt es eine Definition des Sollens. Zwar sei es richtig, dass sehr häufig der »Inhalt eines Sollens auch der Inhalt eines spezifischen Seins ist«, doch handle es sich dabei um eine »materiell-historischpsychologische Betrachtung«.539 Rein »formal-logisch« könne das eine nicht aus dem anderen folgen. Ein Sein könne vielmehr immer nur aus einem anderen Sein abgeleitet werden, ein Sollen immer nur aus einem anderen Sollen. Diese Grundaussage der Reinen Rechtslehre, die alle späteren Werke Kelsens bis zu seinem Tod wie ein roter Faden durchzieht, steht also schon auf den ersten Seiten seiner Qualifikationsschrift; die Trennung von Sein und Sollen wird apodiktisch festgestellt, ohne dass sie näher begründet wird. Nur im Vorwort zu den »Hauptproblemen«, wo Kelsen diese »dualistische Konstruktion« bereits andeutet, erklärt er, dass sein »Ausgangspunkt […] letzten Endes in der Weltanschauung« wurzle, daher subjektiv und indiskutabel sei: »So unbefriedigend ich auch eine dualistische Konstruktion des Weltbildes empfinde, in meinem Denken sehe ich keinen Weg, der über den unleidlichen Zwiespalt hinwegführt zwischen Ich und Welt, Seele und Leib, Subjekt und Objekt, Form und Inhalt – oder in welche Worte sonst sich die ewige Zweiheit verbergen mag.«540 Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass Kelsen schon 538 Kelsen,
Hauptprobleme (1911) 3 = HKW II, 80. Hauptprobleme (1911) 7–9 = HKW II, 86 f. Er nahm dabei auch Bezug auf Jellineks oft zitierte Wendung von der »normativen Kraft des Faktischen«. 540 Kelsen, Hauptprobleme (1911) V = HKW II, 54. Vgl. dazu auch Korb, Kelsens Kritiker (2010) 76. 539 Kelsen,
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in seiner »Staatslehre des Dante« von jenem alles beherrschenden Dualismus gesprochen hatte, der für das christlich-abendländische Denken so typisch sei.541 Und eben dieses Denken beherrschte offenbar auch Kelsen selbst. Die Trennung zwischen Sein und Sollen an sich war, wie bereits hervorgehoben, nichts prinzipiell Neues – wohl aber die Schärfe und Konsequenz, mit der sie Kelsen vollzog. So erklärte er es für logisch unmöglich, den Ursprung der Welt (also ein »Sein«) aus einem Ausspruch eines »überirdischen Schöpfers« (einem »Sollen«) zu erklären, genauso wie die Geltung einer staatlichen Ordnung (ein »Sollen«) nicht durch den Abschluss eines Gesellschaftsvertrages (einem »Sein«) erklärt werden könne. Tatsächlich handle es sich in beiden Fällen – dem Sein wie dem Sollen – um eine »logisch unendliche Kette«, und »die Frage nach Entstehung und Zerstörung des Seins [falle] ebenso außerhalb der Seinsbetrachtung und deren spezifische explikative (kausale) Erkenntnismethode […], wie die Frage nach Entstehung und Zerstörung des Soll nicht mehr in der nur auf das Soll gerichteten Beobachtungsebene und innerhalb der normativen Erkenntnismethode« liege.542 An dieser Stelle zeigt sich der wohl schärfste Gegensatz zu späteren Arbeiten Kelsens: Die Frage der Entstehung des Rechts wurde von ihm auch im ganzen weiteren Buch vollständig ausgeklammert; er sah sie als »metajuristischer Natur« an.543 Denn in gewisser Weise führe die Frage nach dem Ursprung einer Norm natürlich in den Bereich des Seins: zum Wollen des Normsetzers. Doch betonte Kelsen sofort: »Das Wollen gehört der Welt des Seins an, ist ein psychisches Geschehen und darum etwas Wesensverschiedenes vom Sollen.«544 Das Wollen kann längst aufgehört haben – etwa weil der Normsetzer gestorben ist – und die von ihm gesetzte Norm existiert dennoch weiter: Das Sollen ist die Objektivierung eines Wollens. Kelsen bezeichnete die Rechtswissenschaft als eine »normative« Wissenschaft, da sie – so wie etwa Grammatik oder Ethik – Normen beschreibe. Dies bedeute nicht notwendigerweise eine (persönliche) Anerkennung dieser Normen. »Der moralische Nihilist kennt die Sittengesetze sehr wohl, ohne sie anzuerkennen, ja er bekämpft sie, weil er sie kennt«. Was die Rechtswissenschaft von Grammatik oder Ethik unterscheide, sei nicht zuletzt die Möglichkeit, Normen völlig unabhängig von ihrer tatsächlichen Wirkung zu beschreiben. Während der Soziologe das Recht als eine »massenpsychologische Tatsache« untersuche, sei es Aufgabe des »theoretischen Juristen« wie auch des Richters, zu fragen, ob der Rechtssatz formal besteht. In diesem Zusammenhang kam Kelsen auch zu der sehr bemerkenswerten Einsicht, dass die »Wirksamkeit« einer Rechtsnorm nicht unbedingt damit gleichzusetzen sei, dass sie stets befolgt werde. Vielmehr werde sie »gerade in jenen Fällen, in denen sie 541 Oben
83.
542 Kelsen,
Hauptprobleme (1911) 9 f = HKW II, 88 f.; vgl. Walter, Grundnorm (1992) 47.
543 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 10, 100 = HKW II, 89, 195. Vgl. auch Kelsen, Hauptprobleme
(1911) 50 = HKW II, 137, wo er davon spricht, dass die »juristische Konstruktion in allen Fällen von Verfassungsbrüchen« versage. Siehe auch Schönberger, Kelsens »Hauptprobleme« (2008) 28, 33. 544 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 10 = HKW II, 89.
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nicht befolgt wird [angewendet]. Nur wenn der Rechtssatz verletzt wird, kommt er zu der ihm eigentümlichen ›Wirkung‹, tritt die von ihm beinhaltete Unrechtsfolge ein.«545 Das letzte Kapitel von Kelsens »Voruntersuchungen« beschäftigte sich mit dem Verhältnis von kausaler, teleologischer und normativer Betrachtung und führte ihn zu der Erkenntnis, dass Subjekt und Objekt einer Norm nicht immer in einer Kausalkette stehen müssen. Er illustrierte dies mit einem Beispiel aus dem römischen Recht, wonach der Hauseigentümer für den Tod eines Passanten verantwortlich sei, wenn dieser durch einen vom Dach herabfallenden Gegenstand getötet werde, und zwar auch dann, wenn der Eigentümer weit entfernt sei, ja vielleicht nicht einmal davon wisse, dass er der Hauseigentümer sei. Und dennoch werde ihm der Tod des Passanten zugerechnet.546 Die Zurechnung aber »ist eine ganz eigenartige, von der kausalen und teleologischen völlig verschiedene und unabhängige Verknüpfung von Elementen.« Zwar verlaufe die Zurechnung meist entlang einer Kausalreihe, doch habe jede Wirkung eine Vielzahl von kausalen Ursachen; die normative Zurechnung aber greift nur eine von diesen heraus. Was zuletzt die von Jhering begründete Zweckjurisprudenz betraf, zu deren Vertreter Kelsen übrigens auch Jellinek zählte, so betrachtete es Kelsen als eine »Mode […], den Blick in die Ferne, nach den ›Zweckmomenten‹ schweifen zu lassen und darüber das Rechtsinstitut selbst aus den Augen zu verlieren.«547 Denn die Elemente eines Instituts zu erfassen und seinen Zweck zu ergründen sei zweierlei, zumal ja auch ein und dasselbe Institut sehr verschiedenen Zwecken dienen könne. Kelsen folgte hier ausdrücklich Paul Laband, der es für »unzulässig« erklärt hatte, die Frage nach dem Wesen eines Rechtsinstituts mit der nach seinem Zweck zu vermengen. d) Die objektive Erscheinungsform des Rechtssatzes Das »zweite Buch« von Kelsens »Hauptproblemen« widmete sich der »objektiven Erscheinungsform des Rechtssatzes.« Hier versuchte er zunächst zu zeigen, dass der Begriff »Wille« eine spezifisch juristische Bedeutung habe und »der Begriff des Willens, wie er von der modernen Psychologie festgestellt wird, für die spezifischen Zwecke der Juristen unbrauchbar ist.«548 Zum Beweis dieser These musste sich Kelsen einerseits mit dem Willensbegriff in der Psychologie, andererseits mit dem Willensbegriff, wie er im Privatrecht und im Strafrecht verwendet wurde, auseinandersetzen.549 Und 545 Kelsen,
Hauptprobleme (1911) 18, 33, 42, 49 f. = HKW II, 98, 117, 127, 137. Hauptprobleme (1911) 73 = HKW II, 163. Er spielte offenbar auf die actio de deiectis vel effusis [Klage wegen hinausgeworfener oder hinausgeschütteter Sachen] an, eine Klage des klassischen römischen Rechts, die auch in viele moderne Rechtsordnungen Eingang gefunden hat, vgl. etwa § 1318 ABGB. Ob das Beispiel mit Absicht so gewählt war, dass es an den – 1907, zur Zeit der Entstehung der »Hauptprobleme«, erstmals verfilmten – Roman »Ben Hur« von Lew Wallace erinnerte, kann nicht nachgewiesen werden; auffällig ist jedenfalls, dass Kelsen auf das römische Recht und nicht auf § 1318 ABGB verwies. 547 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 72, 87 = HKW II, 162, 179. 548 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 107 = HKW II, 203. 549 Bereits im Vorwort hatte Kelsen um Verständnis dafür gebeten, dass er sich so tief in das Privatrecht und Strafrecht einlasse, jedoch bemerkt, dass sich die Spezialisierung der juristischen 546 Kelsen,
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er kam zu dem Schluss, dass im juristischen Kontext mit »Willen« durchaus nicht dasselbe gemeint sei wie in der Psychologie: Häufig seien den Parteien die Rechtsfolgen ihres Handelns nicht einmal bekannt, geschweige denn von ihnen gewollt, oft werde das Vorliegen eines Willens nur präsumiert, und wem ein sog. unentschuldbarer Irrtum unterlaufe, dem werde die von ihm abgegebene Erklärung zugerechnet, obwohl sie eindeutig nicht von ihm gewollt war. Die Zurechnung aber, dies wurde schon gesagt, sei eine spezifisch normative Form der Verknüpfung zweier Elemente. Ihren Endpunkt habe sie im »Innern des Menschen« (besser: im Innern der Person) – und genau dort befinde sich das, »was die Terminologie der Ethik und Jurisprudenz als ›Wille‹ bezeichnet.«550 Erst von diesem Fundament aus näherte sich Kelsen dem Kern seiner Untersuchung, dem Willen des Staates. Kelsen unterschied hier die sog. anorganische Staatstheorie (Jellinek) von der organischen (Gierke, Preuß), welch letztere den Staatswillen so wie die Völkerpsychologie als etwas ganz Reales ansehe. Kelsen verwarf jedoch alle bisherigen Thesen und erklärte, dass immer dann, wenn der »Staatswille« vollzogen werde, in Wirklichkeit bestimmte menschliche Handlungen dem Staat zugerechnet werden. Der psychische Wille des Staatsorgans sei in diesem Falle »nur Durchgangs‑ und nicht Endpunkt rechtlicher Zurechnung«.551 Diese ende erst in der Person »Staat«. Und insofern könne der Staat ebenso »Person« wie ein Mensch sein, könne ebenso einen juristischen »Willen« bilden wie der Mensch.552 Aus dem Vorherigen ergebe sich aber zwingend der Schluss, dass die herkömmliche Theorie, der Rechtssatz enthalte einen Befehl (Imperativ) des Staates an seine Untertanen, nicht stimmen könne. Im ethisch-juristischen Sinne könne sich ein »Wollen« nämlich immer nur auf ein eigenes Verhalten beziehen; bezüglich eines fremden Verhaltens könne man höchstens wollen, dass der Dritte sich in einer bestimmten Weise verhalten wolle. Dies erfolge im Bereiche des Rechts über die Sanktion. Bei dieser handle es sich aber um eine Tätigkeit des Staates – diese, nicht das normgemäße Verhalten der Rechtsobjekte, ist der eigentliche Gegenstand des »Staatswillens«: Der Staat »will« Sanktionen – Strafen oder Exekutionen – verhängen, und zwar dann, wenn sich die Untertanen normwidrig verhalten; das normwidrige Verhalten ist Bedingung für das Eintreten der Sanktion. »Nicht als Inhalt, sondern als Theorie zwar nachteilig auf das Verständnis der allgemeinen Grundlagen ausgewirkt habe, aber für eine »Wissenschaft der Jurisprudenz« notwendig sei: Kelsen, Hauptprobleme (1911) XI = HKW II, 58 f. Vgl. dazu auch Paulson, Toward a Periodization (1990) 25 f.; Schönberger, Kelsens »Hauptprobleme« (2008) 29. 550 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 145 = HKW II, 251. Vgl. dazu auch Paulson, Zur neukantianischen Dimension (1988) 15–18. 551 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 183 f. = HKW II, 294. Vgl. dazu Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt (2010) 268–276. 552 Wie Schönberger, Kelsens »Hauptprobleme« (2008) 26 f., betont, löste sich Kelsen damit radikal von den Theorien des Positivisten Paul Laband, mit dem er daher zu Unrecht von seinen Gegnern immer wieder in Verbindung gebracht wurde. Korb, Kelsens Kritiker (2010) 65, spricht von einem »unpsychologischen und unpersonalen Staatswillen als zentralem Zurechnungsendpunkt aller Rechtssätze.«
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Bedingung eines Staatswillens, und nicht positiv, sondern unter einem negativen Vorzeichen gleichsam muß das pflichtgemäße Verhalten der Untertanen im Rechtssatze erscheinen.«553 Damit aber ergebe sich, dass der Rechtssatz kein Imperativ, sondern ein hypothetisches Urteil sei.554 Dieses bestehe darin, dass »an ein bestimmtes Verhalten der Gemeinschaftsgenossen die durch das Gericht – das ist das den Willen des Staates realisierende Organ – zu verhängenden Nachteile« geknüpft werden. »Der praktische Wortlaut, dessen sich die konkreten Rechtsordnungen bedienen, ist […] irrelevant. Der Rechtssatz muß aus dem Inhalt der Gesetze herauskonstruiert werden und die Bestandteile, die zu seiner Konstruktion nötig sind, finden sich häufig nicht einmal in demselben Gesetze, sondern müssen aus mehreren zusammengestellt werden.«555 Anders verhalte es sich mit dem Rechtssatz, der den Staat selbst verpflichte. Denn »[d]es Staates Wollen ist sein Sollen, seine Pflicht ist sein Wille.«556 Diese Überlegungen brachten Kelsen dazu, zwischen einem »Rechtssatz im weiteren Sinne« und einem »Rechtssatz im engeren Sinne« zu unterscheiden: Der Rechtssatz im engeren Sinne enthalte sowohl eine Pflicht für das Rechtssubjekt (z. B. nicht zu stehlen) als auch eine Pflicht für den Staat (z. B. Diebstahl zu bestrafen). Der Rechtssatz im weiteren Sinne enthalte nur eine Pflicht für den Staat (z. B. Eisenbahnen zu bauen). Diese Konstruktion bringe auch »die Überzeugung von der staatlichen Natur alles Rechts zum Ausdruck, die gleichbedeutend ist mit der Anschauung von der allrechtlichen Natur des Staates«. Kelsen ging noch weiter, indem er feststellte, »daß alles Recht Staatsrecht ist«, und er die von »der in praktisch-kasuistischer Hinsicht sehr scharfsinnigen, in theoretisch-konstruktiver Richtung dagegen sehr mangelhaften und unentwickelten römischen Jurisprudenz entnommene Einteilung der Rechtssätze in ius privatum und ius publicum« als »unzulänglich« bezeichnete.557 e) Die subjektive Erscheinungsform des Rechtssatzes Das dritte und letzte Buch von Kelsens »Hauptproblemen« befasste sich mit den subjektiven Erscheinungsformen des Rechtssatzes: der Rechtspflicht einerseits, dem subjektiven Recht andererseits. Bewusst behandelte Kelsen zunächst jene, dann diese, 553 Kelsen,
Hauptprobleme (1911) 202, 207 = HKW II, 314, 319. These war nicht vollkommen neu, sondern war u. a. schon 1903 vom Völkerrechtler Alexander Hold v. Ferneck aufgestellt worden. Vgl. Hold v. Ferneck, Rechtswidrigkeit (1903) 206. Kelsen kritisierte jedoch auch dessen Rechtslehre – und zwar mit außergewöhnlich scharfen Worten; vgl. Kelsen, Hauptprobleme (1911) 262 = HKW II, 384. 555 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 236 f. = HKW II, 353. Er führte in der Folge eine Reihe von Fällen auf, in denen der Rechtssatz nur schwierig aus konkreten Gesetzestexten herausgelesen werden kann, leider jedoch keinen, wo er klar und einfach zutage tritt. Es möge hier jedoch als zeitgenössisches Beispiel § 211 des deutschen Reichsstrafgesetzbuches 1871 zitiert werden: »Wer vorsätzlich einen Menschen tödtet, wird, wenn er die Tödtung mit Ueberlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft.« 556 Vgl. dazu Paulson, Toward a Periodization (1990) 26–29. 557 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 250, 253, 269 = HKW II, 368, 371, 388. Vgl. Jestaedt, Von den »Hauptproblemen« zur Ersten Auflage der »Reinen Rechtslehre« (2009) 122. 554 Diese
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zumal die Rechtspflicht die »primäre« subjektive Erscheinungsform sei: denn alle Rechtssätze enthalten eine Rechtspflicht, nur einige von ihnen auch ein subjektives Recht.558 Weshalb ein Mensch letztlich eine ihm obliegende Pflicht erfülle, sei irrelevant. »[D]ie meisten Menschen unterlassen Mord, Diebstahl etc. nicht etwa unter dem Zwange, den die Vorstellung der Unrechtsfolge auf sie ausübt, sondern weil der Trieb zu diesen Delikten in ihnen gar nicht entsteht.« Kelsen verwarf alle Theorien, wonach die Rechtspflicht zu einer »inneren Willensgebundenheit« führe; im juristischen Kontext bedeute »Rechtspflicht« lediglich, dass eine Norm mit »Beziehung auf das einzelne Subjekt« verwendet werde.559 Folge man der Imperativtheorie, so sei es »unvermeidlich, zur Herbeiführung […] der inneren Willensgebundenheit des Subjektes […] noch einen anderen Akt anzunehmen, durch welchen der im Imperativ enthaltene ›Wille‹ des Staates zum Willen des Subjektes wird […] Dieser Akt ist die Anerkennung der Rechtsnorm als solcher«. Diese Anerkennungstheorie sei denn auch herrschende Lehre; allein Kelsen fand zahlreiche Argumente für ihre Unhaltbarkeit. »Man wird in den Staat und seine Rechtsordnung hineingeboren und die allermeisten werden sich wohl über die Frage, ob der Staat rechtsverbindliche Anordnungen erlassen dürfe, kaum viel Gedanken machen.« Die Lehre von der Anerkennung könne nicht auf einer sozialpsychologischen Betrachtung beruhen, sondern sei juristische Funktion – dann aber sei sie zur Erklärung der Rechtspflicht unbrauchbar. Scharf wies Kelsen die von Hold v. Ferneck vertretene Ansicht zurück, dass eine Norm – und zwar nicht nur eine gewohnheitsrechtliche Norm, sondern auch ein vom Gesetzgeber erlassenes Gesetz – anerkannt werden müsse, damit sie überhaupt gelte; eine derartige Theorie hätte eine »den Gedanken des positiven Rechts geradezu vernichtende Konsequenz«. Und Kelsen entlarvte den Ursprung der Anerkennungstheorie: dieser liege in der Vorstellung eines contrat social. »Die Idee der natürlichen Freiheit des Menschen, die das Naturrecht beherrscht, muß notwendig zu dem Gedanken führen, dass alle Verpflichtung nur Selbstverpflichtung sein kann.«560 Daher könne man sich die Geltung einer Anordnung des Monarchen nur so vorstellen, dass Monarch und Untertan einen Vertrag geschlossen hätten, der den Monarchen zur Normsetzung ermächtige. Daher auch sei es notwendig zu fingieren, dass jeder Untertan Kenntnis der Gesetze habe.561 Ausführlich befasste sich Kelsen mit der Frage, ob sich die Rechtsnorm an die Untertanen, oder an die Staatsorgane, oder an den Staat selbst richte, und kritisierte die dazu bestehenden Lehrmeinungen, nur um selbst abschließend festzustellen, dass es sich um ein Scheinproblem handle, zumal die Rechtsnorm, wie schon gezeigt, kein Imperativ, sondern ein hypothetisches Urteil sei und daher gar keinen Adressaten habe. »Darin gleicht das Rechtsgesetz – äußerlich – dem Naturgesetz, das an 558 Vgl.
dazu Hammer, Begriff (2005) 183. Hauptprobleme (1911) 337, 348 = HKW II, 465, 475. 560 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 350, 361, 366, 376 = HKW II, 479, 490, 495, 509. 561 Vgl. etwa § 2 ABGB. 559 Kelsen,
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niemanden gerichtet ist und ohne Rücksicht darauf, ob es gekannt oder anerkannt wird, gilt.«562 Gänzlich müsse die Vorstellung, die Rechtspflicht sei ein realpsychischer Zustand, aufgegeben werden, wenn man sich den Staat als Verpflichteten denke. Denn der Staat ist eine juristische Person, er könne keinen psychischen Willen wie ein Mensch haben. Kelsen wiederholte hier schon zuvor geäußerte Überlegungen, wonach der Staat als Träger von Rechten und Pflichten sich nicht von anderen Personen unterscheide. In diesem Zusammenhang äußerte sich Kelsen auch zum Verhältnis von Staat und Recht: Diese »müssen zweifelsfrei als zwei verschiedene Seiten derselben Tatsache betrachtet werden.« Hier klingen schon erste Überlegungen zu Kelsens Identitätsthese an, zu der er aber erst in späteren Arbeiten kommt. In den »Hauptproblemen« lehnte Kelsen noch eine Identität von Staat und Recht ausdrücklich ab und gestand dem Staat »juristische Persönlichkeit« zu, während er das Recht als »etwas Unpersönliches« ansah und sich gegen »eine Personifizierung dieser unpersönlichen Vielheit von hypothetischen Urteilen« wendete.563 Dagegen führten ihn seine Überlegungen zu einer anderen Identitätsbehauptung: eine juristische Person sei mit ihrem Willen identisch. Dieser aber sei Bedingung – nicht Ursache – für die Rechtsentstehung (so wie auch ein Mord nicht Ursache, sondern Bedingung für eine Todesstrafe sei). Damit wagte sich Kelsen erneut in das Feld der von ihm selbst später so bezeichneten Rechtsdynamik, lehnte aber die Vorstellung ab, dass jene Akte, aus denen sich die Gesetzgebung zusammensetze (Parlamentsbeschluss, Sanktion des Monarchen etc.) dem Staat zugerechnet werden können. Schon allein die Tatsache, dass Parlament und Monarch einen unterschiedlichen Willen haben können, verbiete es, hier von einem »Staatswillen« zu sprechen. Erst wenn das Gesetz in Kraft getreten sei, sei es rechtlich existent. »Alle bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens sich vollziehenden Akte sind mit Beziehung auf das im Werden begriffene Gesetz juristisch unqualifizierbar.« Der Abschnitt über den »Gesetzgebungsprozess« in Kelsens »Hauptproblemen« hat übrigens – als einer von wenigen Abschnitten dieses Buches – unmittelbar politische Relevanz: So, wenn Kelsen keine Rechtspflicht zur Publikation von Gesetzen im positiven österreichischen Recht zu erkennen vermag,564 andererseits aber betont, dass, juristisch gesehen, der Parlamentsbeschluss ebenso wichtig wie die Sanktion durch den Monarchen sei.565
562 Kelsen,
Hauptprobleme (1911) 395 = HKW II, 529. Hauptprobleme (1911) 406, 432 = HKW II, 542, 571 f. Vgl. Jestaedt, Von den »Hauptproblemen« zur Ersten Auflage der »Reinen Rechtslehre« (2009) 125. 564 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 410, 414 = HKW II, 546, 551. Von praktischer Relevanz war dies z. B. beim Verwaltungsgerichtshofgesetz, das am 22. 10. 1875 vom Kaiser sanktioniert, aber erst am 2. 4. 1876, also fast ein halbes Jahr später, im Reichsgesetzblatt (unter RGBl 1876/36) publiziert wurde; vgl. dazu Olechowski, Verwaltungsgerichtsbarkeit (1999) 94 f. 565 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 416 = HKW II, 553. Diese Überlegungen werden wenig später bei Kelsen, Reichsgesetz und Landesgesetz (1914) 204 = HKW III, 362, entscheidend weitergeführt. 563 Kelsen,
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Die rechtstheoretischen Ausführungen Kelsens zur Gesetzgebung sind jener Teil der »Hauptprobleme«, der am meisten von späteren Gesamtdarstellungen der Reinen Rechtslehre abweicht; Kelsen hat nahezu alle Thesen, die er hier noch formulierte, mehr oder weniger stark abgeändert oder schlicht verworfen. So stellte er in seiner Habilitationsschrift die Sinnhaftigkeit von liberalen Grundrechten in Frage, erklärte, dass die »Unterscheidung zwischen der Legislative und der Exekutive« unentbehrlich sei, bezeichnete die These, dass beide Gewalten nur zwei Funktionen desselben Staates seien, als bloße Fiktion und hielt es für unmöglich, dass mit einer Verordnung Rechtssätze statuiert werden können.566 Der Erste Verfassungszusatz (amendment) zur US-Verfassung sei nur ein »politische[s] Glaubensbekenntnis« und könne nicht verhindern, dass ein dem amendment widersprechendes Gesetz, »wenn es nur die allgemeinen Voraussetzungen für das verfassungsmässige Zustandekommen von Gesetzen erfüllt«, formell gültig zustande komme.567 Dass diese Sätze von jenem Mann stammen, der wenige Jahre später als »Vater der Verfassungsgerichtsbarkeit« bezeichnet wurde, ist geradezu unglaublich! Als letztes Thema im Abschnitt über die Rechtspflicht behandelte Kelsen die Rechtspflichten der Staatsorgane. Als Organ bezeichnete er »jene Personen oder Personenmehrheiten […], deren Handlungen als solche des Staates zu gelten haben.« Welche Handlungen dies seien, dürfe nicht nach irgendeinem Zweckkriterium beurteilt werden, es seien einfach solche, die den »Staatswillen zur Tat machen«. Daher sei auch »[e]ine rechtssatz‑ oder gesetzlose Tätigkeit von Staatsorganen […] im modernen Rechts-Staate undenkbar.«568 Diese Aussage war extrem pointiert, zugleich aber geradezu der Grundgedanke von Kelsens Thesen zum Begriff der Verwaltung. Für ihn gab es keine »Verwaltung extra legem«, vielmehr müsse immer dann, wenn ein Verwaltungsorgan, ja auch der Monarch, scheinbar »frei«, nach eigenem »Ermessen« handle, ein Rechtssatz existieren, der es bzw. ihn dazu ermächtige, selbst wenn es sich nur um einen »Blankettrechtssatz«, der zu weitestgehendem Ermessen berechtige, handle.569 Zur Problematik des »freien Ermessens« hatte der Wiener Extraordinarius Rudolf von Laun erst 1910 ein Buch verfasst, das Kelsen für so wichtig hielt, dass er noch in den Druckfahnen seiner Monographie einen Einschub vornehmen ließ. Dies war vielleicht taktisches Kalkül, denn Laun war für Kelsen auch persönlich von Bedeutung: Nur drei Monate nach Kelsen, im Jänner 1882, in Prag geboren, hatte er 566 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 440–442, 556. = HKW II, 581 f., 708. Vgl. dazu auch Jes taedt, Von den »Hauptproblemen« zur Ersten Auflage der »Reinen Rechtslehre« (2009) 125, wonach K elsen diesbezüglich noch ganz in den Bahnen »konventioneller Rechtswissenschaft« wandelt. 567 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 445 = HKW II, 586. 568 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 464 f. = HKW II, 607 f. Damit schloss Kelsen nicht aus, dass ein Organ Unrecht begehen könne. Als Beispiel nannte er das Gesetz v. 6. 4. 1870 RGBl 42 zum Schutz des Brief‑ und Schriftengeheimnisses, das Strafdrohungen gegen Beamte enthielt, die das Briefgeheimnis verletzten: Kelsen, Hauptprobleme (1911) 533 = HKW II, 682. 569 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 501 = HKW II, 649. Vgl. dazu auch Schönberger, Kelsens »Hauptprobleme« (2008) 34.
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gemeinsam mit Kelsen in Wien studiert und knapp vor ihm, im Februar 1906 den JDr. erworben, danach auch noch in Menzels Seminar zum Wahlrecht ein Referat gehalten.570 Dann aber war die Karriere des adeligen Offizierssohnes viel geradliniger erfolgt als jene Kelsens: Als Beamter in der Finanzprokuratur gelang es ihm schon 1908, eine Habilitationsschrift (»Das Recht zum Gewerbebetrieb«) an der Universität Wien einzureichen, und seine zweite Monographie, eben jene zum freien Ermessen, sollte ihm den Weg zu einer außerordentlichen Professur ebnen, auf die Laun 1911 berufen wurde.571 Ahnte Kelsen, dass Laun schon in wenigen Jahren sein schärfster Konkurrent im Kampf um eine ordentliche Professur an der Universität Wien werden sollte? – Jedenfalls unterzog er das taufrische Buch einer scharfen Kritik: Laun habe »eine gewisse Unklarheit« in die Lehre vom freien Ermessen gebracht, weil er nicht zwischen den Akten des freien Ermessens und dem freien Ermessen selbst unterschieden habe. Denn Laun habe nicht nur behauptet, dass freies Ermessen und gesetzliche Gebundenheit einander ausschließen, sondern dass dies auch für die entsprechenden Rechtsakte gelte. Kelsen hielt dem entgegen, dass sich ja auch »das männliche und weibliche Prinzip logisch ausschließen und doch jedes menschliche Individuum eine psychologische Mischung beider Elemente sein kann« (eine Reminiszenz an Weininger?). Nach Kelsen »können sämtliche Staatsakte sich in bezug auf das freie Ermessen niemals prinzipiell, sondern nur graduell, nicht qualitativ, sondern nur quantitativ von einander unterscheiden.«572 Erst nach all diesen Erörterungen wandte sich Kelsen dem Begriff des subjektiven Rechtes zu; es handelte sich dabei um eines der, wie er selbst betonte, schwierigsten Probleme der Staatsrechtslehre, zu der eine Reihe von Theorien entwickelt worden waren, insbesondere die Zweck‑ oder Interessentheorie Jherings und seiner Anhänger, die Willenstheorie Windscheids, Arndts’ und anderer Romanisten, sowie schließlich die von Bernatzik begonnene und von Jellinek fortgeführte Kombination aus Willens‑ und Interessentheorie. Keine dieser Theorien vermochte vor Kelsen stand zu halten. Seiner Ansicht nach war das objektive Recht vom subjektiven Recht nichts »Wesensverschiedenes«; der Unterschied liege nur in ihrer Relation zueinander.573 Geht man davon aus, dass das objektive Recht ein bedingter Wille des Staates sei, so könne von einem subjektiven Recht dann gesprochen werden, wenn der Wille von einer konkreten Person bedingt werde. Der letzte Unterabschnitt von Kelsens Habilitationsschrift war den subjektiven Rechten der Staatsorgane und dem Recht auf Organstellung gewidmet. Es ist bemerkenswert, dass Kelsen hier, fast ganz am Ende seines Buches, auf das Wahlrecht 570 Geb. Prag [Praha/CZ] 1. 1. 1882, gest. Ahrensburg/Schleswig-Holstein 20. 1. 1975, vgl. Biskup, Laun (2010); Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 471; Pauly, Laun (2018). 571 ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 611, Personalakt Laun Rudolf; vgl. Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 471. 572 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 507 = HKW II, 656. 573 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 771, 619 = HKW II, 724 f., 778. Wie Hammer, Begriff (2005) 179, hervorhebt, war für Kelsen »das irreduzible subjektive Moment im Begriff vom subjektiven Recht zugleich das naturrechtliche Moment in diesem Begriff.«
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zu sprechen kam, das er ja auch schon rechtsdogmatisch behandelt hatte und das ihm offenbar ganz besonders am Herzen lag. Ob große Teile seiner Arbeit vielleicht gerade aus einer näheren Beschäftigung mit dem Wesen des Wahlrechts hervorgegangen sind, muss offenbleiben; allein, viele schon vorher gemachte Überlegungen kulminieren hier. So insbesondere, dass der Wähler kein Staatsorgan sei, da seine Tätigkeit keine Staatsfunktion, sondern eine Voraussetzung für die Staatswillensbildung (welche in dem von ihm gewählten Parlament erfolge) sei. Auch kann Kelsen, gestützt auf seine vorherigen Überlegungen, recht einfach beweisen, dass das subjektive Wahlrecht nicht darin bestehe, zu wählen: denn »ein subjektives Recht auf eigenes Verhalten ist unmöglich«.574 Vielmehr müsse nach einer Pflicht gesucht werden, die diesem Recht korrespondiere: Und diese bestehe darin, dass der Staat durch die Wahl zu bestimmten Handlungen (etwa zum Auszählen der Stimmen oder zur Nennung der gewählten Abgeordneten) verpflichtet werde. Strikt lehnte es Kelsen ab, aus der öffentlich-rechtlichen Natur des Wahlrechtes eine Wahlpflicht abzuleiten; eine solche könne nur dann angenommen werden, wenn eine spezifische Strafe für das Nichtwählen statuiert werde, dann aber handle es sich um zwei verschiedene Rechtsverhältnisse. In allerletzten Abschnitt seiner Monographie widmete sich Kelsen den Begriffen »Organschaft« und »Stellvertretung« und wies nach, dass es sich dabei um dasselbe Phänomen handle. Immer seien es zwei verschiedene Personen mit zwei verschiedenen Willen, doch werde der Wille der einen Person der anderen zugerechnet. Die Wurzel für die Unterscheidung zwischen Organschaft und Stellvertretung vermutete Kelsen in der Vorstellung einer Über‑ und Unterordnung, wie sie für das öffentliche Recht typisch sei. Kelsen wies derartige räumliche Vorstellungen zurück (»für die juristische Betrachtung gibt es kein Unten und Oben«575), räumte aber ein, dass ihm damit der Vorwurf gemacht werden könne, dass er eine privatrechtliche Anschauung verfolge. »Diesen Vorwurf kann man getrost auf sich nehmen, wenn einem nur von der anderen Seite die Notwendigkeit einheitlicher juristischer Grundbegriffe für das gesamte Rechtsgebiet zugestanden wird«.576 Und so gelangte Kelsen ganz am Ende seiner vielhundertseitigen Schrift zu einem »Grundpostulat aller juristischen Konstruktion«: der absoluten Einheit bei der Bildung juristischer Begriffe!577 f ) Versuch einer Bewertung Mit seinen »Hauptproblemen« hat Kelsen die Rechtswissenschaft revolutioniert. Er analysiert, ja zerpflückt eine gigantische Menge an Literatur, und zwar nicht nur die der Staatsrechtslehre, sondern auch jene der Privat‑ und Strafrechtswissenschaft. Die damit gewonnene Einheit der Rechtswissenschaft ist geradezu die Kehrseite von 574 Kelsen,
Hauptprobleme (1911) 680 = HKW II, 847. demgegenüber Kelsen, Reine Rechtslehre (1934) 74 (Stufenbau der Rechtsordnung). 576 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 703 f. = HKW II, 872. 577 So schon Kelsen in seinem Vorwort: Kelsen, Hauptprobleme (1911) IX = HKW II, 57. 575 Vgl.
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seinem Bestreben, andere Wissenschaften von seiner Untersuchung fernzuhalten.578 Gerhard Anschütz, Edmund Bernatzik, Ernst Rudolf Bierling, Carl v. Gerber, Otto v. Gierke, Alexander Hold v. Ferneck, Georg Jellinek, Rudolf v. Jhering, Paul Laband und Bernhard Windscheid sind dabei nur die wichtigsten Namen, und kaum einer von ihnen kommt ungeschoren davon; immer wieder wirft er ihnen Methodensynkretismus vor und bemüht sich stets um »Eliminierung des explikativen und [… um] ausschließlich[e] Akzeptierung des normativen Standpunktes für die Konstruktion der juristischen Grundbegriffe«.579 Das subjektive Recht, die Person, das Organ, sie alle werden als Konstrukte der Rechtswissenschaft entlarvt und »büßen nach Kelsens Entwurf ihre Unveränderlichkeit, Substanzialität und Vorgegebenheit ein«.580 An die Stelle der Substanz tritt die Relation, die Zurechnung, die er scharf von der Kausalität trennt und so die Eigengesetzlichkeit der Rechtswissenschaft erkennt.581 Der Rechtssatz, den er dem Kausalgesetz gegenüberstellt, ist für ihn »Fundamentalbegriff einer wissenschaftlichen Rechtslehre«,582 woraus sich auch der Untertitel seiner Arbeit (»… entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze«) erklärt. Bei alledem ist zu bedenken, dass es sich bei den »Hauptproblemen« um ein Erstlingswerk handelt und dass der 30-jährige Kelsen noch nie zuvor eine rechtstheoretische Schrift veröffentlicht hat. Umso gewaltiger ist die Wucht, mit der diese Arbeit alle wissenschaftlichen Gegner angreift. Dass Kelsen in einzelnen Punkten – so insbesondere bei der Frage der Gesetzgebung oder bei seiner Bejahung eines Dualismus von Staat und Recht – noch nicht zu endgültigen Schlüssen kommt und sie in späteren Arbeiten umändert, fällt vergleichsweise wenig ins Gewicht. Größer ist da schon das Problem der Abstraktheit des Themas, das seine im Prinzip große Bedeutung auch für die Rechtspraxis nur schwer erkennen lässt. Wer von Kelsens Zeitgenossen denkt bei einem Buchtitel, der »Hauptprobleme der Staatsrechtslehre« lautet, nicht zunächst an die Probleme des österreichisch-ungarischen Ausgleichs oder an das Nationalitätenproblem im Vielvölkerstaat? Für all dies hat Kelsen keine direkten Lösungen parat; seine Schrift ist ganz der Methodologie der Staatsrechtslehre gewidmet, und er selbst gibt zu, dass »der Titel meiner Arbeit manchem mehr zu versprechen scheint, als die gegenständlichen Untersuchungen zu bieten haben.«583 So ist es auch verständlich, dass das explosive Potential von Kelsens Arbeit zunächst von vielen nicht erkannt wurde.584 Erst spätere, kürzere und leichter lesbare Arbeiten Kelsens machten einer breiteren Leserschaft deutlich, dass mit 578 Kelsen,
Selbstdarstellung (1927) 2 = HKW I, 21. Hauptprobleme (1911) VII = HKW II, 55. Vgl. Schönberger, Kelsens »Hauptprobleme« (2008) 23. 580 Jestaedt, Von den »Hauptproblemen« zur Ersten Auflage der »Reinen Rechtslehre« (2009) 123. 581 Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt (2010) 369 f. 582 Kelsen, Autobiographie (1947) 5 = HKW I, 37. 583 Kelsen, Hauptprobleme (1911) IV = HKW II, 52; Schönberger, Kelsens »Hauptprobleme« (2008) 24. 584 Jestaedt in HKW II, 907. 579 Kelsen,
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dem Jahre 1911 die Moderne in der Staatsrechtslehre Einzug gehalten hatte – und nunmehr ebenso wenig wegzudenken war wie das zur selben Zeit errichtete »Haus am Michaelerplatz«.
7. Die Habilitation Am 12. Juli 1911 berichtete der Dekan der Wiener rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät, der Zivilrechtler Josef Freiherr Schey v. Koromla, dem Unterrichtsministerium, dass ein gewisser »Dr. Hans Kelsen, Konzeptsadjunkt am k. k. österreichischen Handelsmuseum, Mitglied der k. k. staatswissenschaftlichen Staatsprüfungs-Kommission, […] am 6. Februar 1911 um die Habilitierung für allgemeines und österreichisches Staatsrecht und Rechtsphilosophie u. deren Geschichte nachgesucht und die vorgeschriebenen Ausweise beigelegt« habe.585 Bei den »vorgeschriebenen Ausweisen« handelte es sich um ein curriculum vitae sowie um einen Nachweis, dass der Habilitationswerber ein facheinschlägiges Doktorat besitze, ferner um »eine eingehende Darlegung der Art und Weise, wie der Bewerber seine Vorträge einzurichten gedenkt«,586 vor allem aber um »ein durch den Druck veröffentlichtes Werk oder eine durch den Druck veröffentlichte größere Abhandlung (Habilitationsschrift) […], welche nach wissenschaftlicher Methode ein Problem derjenigen Wissenschaft selbständig behandelt, für welche sich der Bewerber zu habilitieren beabsichtigt.«587 Als »Habilitationsschrift« wurde im Falle Kelsens ein »45 Bogen« (= 720 Seiten) umfassendes Werk über »Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze« genannt. Wie Kelsen selbst in seinem Vorwort schrieb, waren »die letzten Bogen dieser Arbeit« aber erst im Februar in Druck gegangen; offenbar wurde die Einreichung einer erst im Druck befindlichen Arbeit akzeptiert.588 Ob es einfach Ungeduld oder ein anderer Grund war, der Kelsen zur Eile antrieb, ist unklar. Ungewöhnlich war die Schrift aber jedenfalls schon durch ihren Umfang: »Mit über 700 Seiten überragen die ›Hauptprobleme‹ […] zeitgenössische rechtswissenschaftliche Qualifikationsschriften um ein Vielfaches. So besitzt, um nur ein prominentes Beispiel herauszugreifen, Carl Schmitts anno 1914 585 Dekan Josef v. Schey, Schreiben an das Unterrichtsministerium v. 12. 7. 1911, Z. 665 ex 1910/11, in ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 611, Personalakt Kelsen. 586 Der Habilitationsakt im AVA (vgl. oben Anm. 585) enthält zwar noch das curriculum vitae, nicht jedoch das Vorlesungsprogramm Kelsens. 587 Verordnung des Unterrichtsministers v. 11. 2 . 1888 RGBl 19 betreffend die Habilitierung der Privatdozenten an den Universitäten (Habilitationsnorm), §§ 3, 5. Ausführlich zum Habilitationsverfahren vgl. Staudigl-Ciechowicz, Dienst-, Habilitations‑ und Disziplinarrecht (2017) 253– 292. 588 Eine Ausnahme von dem genannten Gebot der Drucklegung wurde in § 3 leg cit nicht genannt, gleichwohl existierte hier offenbar bereits ein usus, der später auch eine gesetzliche Regelung fand (§ 4 Abs. 4 Habilitationsnorm 1920 StGBl 415) und heute geradezu den Regelfall bildet. Die Behauptung von Kelsen, Autobiographie 9 = HKW I, 43, er hätte sein Gesuch »unmittelbar nach Erscheinen« der Arbeit eingereicht, ist jedenfalls unrichtig.
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ebenfalls bei J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) erschienene Habilitationsschrift […] mit VI und 110 Seiten gerade einmal ein knappes Sechstel des Umfanges der ›Hauptprobleme‹«.589 Zu Gutachtern wurden Edmund Bernatzik und Adolf Menzel bestellt; ihre Gutachten, die sie in der Fakultätssitzung vom 20. Juni 1911 vorlegten, sind uns – auf Grund der Zerstörung der Fakultätsräume im Jahr 1945 – nicht mehr im Wortlaut erhalten; nach dem erhalten gebliebenen Bericht des Dekans an das Ministerium waren sie aber positiv. Ausführlich berichtet Kelsen in seiner Autobiographie über seine beiden Gutachter, doch seine diesbezüglichen Bemerkungen sind ausgesprochen sarkastisch. Dabei kommt Menzel noch etwas besser weg, da Kelsen schreibt, dass dieser Professor einige ausgezeichnete Arbeiten über die antike Staatsphilosophie veröffentlicht hatte. »Aber die Probleme der Rechtstheorie, die den Hauptgegenstand meiner Habilitationsschrift bildeten, waren ihm fremd. Vielleicht hat er gerade darum ein fuer mich sehr guenstiges Gutachten erstattet. Prof. Bernatzik hat meine Habilitationsschrift wahrscheinlich ueberhaupt nicht gelesen. Sein Gutachten bestand in nichts anderem als in einer Zustimmung zu dem Antrag Prof. Menzel’s mich zu den weiteren Habilitationsschritten zuzulassen. Alle meine Versuche, Bernatzik’s Ansicht ueber die in meinem Buch entwickelten Theorien zu erfahren, blieben vergeblich, da er jeder Diskussion auswich; was mich eben vermuten liess, dass er das Buch gar nicht kannte. Er soll sich in der entscheidenden Sitzung der Fakultaet dahin geaeussert haben, dass er zwar fuer meine Habilitierung sei, dass ich aber fuer eine Professur nicht in Frage komme.«590 Die Verbitterung Kelsens über seinen einstigen Mentor dringt aus diesen, fast vierzig Jahre später geschriebenen Zeilen, deutlich hervor; inwieweit seine Erzählung den Tatsachen entspricht, kann angesichts der geschilderten Quellenlage nicht mehr festgestellt werden.591 Es ist allerdings denkbar, dass die Art und Weise von Kelsens Darstellung auch daher rührt, dass er sich nicht anders erklären konnte, dass seine – aus seiner Sicht bahnbrechende – Arbeit zwar positiv beurteilt wurde, aber lange nicht das Aufsehen erregte, das er sich erhofft hatte.592 Aufgrund der beiden positiven Gutachten wurde Kelsen zu den weiteren Habilitationsschritten zugelassen. Es war dies zunächst ein Kolloquium, d. h. eine mündliche Aussprache mit dem gesamten Professorenkollegium, die nicht nur das Thema der Habilitationsschrift, sondern »das ganze Gebiet« umfassen konnte, »über welches der Kandidat Vorlesungen zu halten beabsichtigt«.593 Das Kolloquium fand am 6. Juli statt und führte »zur Befriedigung des Professorenkollegiums«, welches nunmehr Kelsen 589 Jestaedt
in HKW II, 902. Autobiographie 9 = HKW I, 43. 591 Offensichtlich unrichtig ist jedenfalls die Behauptung Kelsens, Professor Ernst v. Schwind hätte sich gegen seine Habilitierung ausgesprochen, er verwechselte dies offenbar mit dem Widerstand Schwinds gegen Kelsens Ernennung zum ao. Professor 1918; vgl. dazu noch unten 205. 592 Dafür sprechen insbesondere seine oben zitierte Korrespondenz mit dem Verlag, in der er sich einen überdurchschnittlichen Absatz seines Buches erhoffte, sowie die vorhin erwähnte Behauptung, es hätte Widerstand gegen seine Habilitation gegeben. 593 § 9 Habilitationsnorm 1888 RGBl 19. 590 Kelsen,
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aufforderte, einen Probevortrag zu halten; Kelsen durfte drei Themen vorschlagen, von denen die Fakultät einen Vortrag »Zur Lehre vom Gesetz im materiellen und formellen Sinn mit besonderer Berücksichtigung der österreichischen Verfassung« auswählte.594 Hans Kelsen hielt seinen Vortrag am 10. Juli 1911595 und begann, ähnlich wie in seiner Habilitationsschrift, mit einer Betrachtung über die unterschiedliche Verwendung des Wortes »Gesetz« in den Natur‑ und in den Rechtswissenschaften. Als ursprüngliche Wortbedeutung sah er eine juristische, nämlich die »einer bindenden, das heißt rechtspflichtenschaffenden oder einen Rechtssatz formulierenden Vorschrift der kompetenten staatlichen Autorität, ohne Rücksicht auf die besondere Form, in der diese Vorschrift erlassen wurde.« Erst mit Aufkommen des Konstitutionalismus sei eine zweite Wortbedeutung, die des förmlichen Parlamentsbeschlusses, hinzugekommen; Paul Laband habe daraufhin zwischen »Gesetz im materiellen und formellen Sinne« unterschieden, was von der Lehre (Kelsen nannte hier Jellinek und Anschütz, also die beiden Lehrer, deren Lehrveranstaltungen er in Heidelberg inskribiert hatte) fortgeführt worden sei. Insbesondere habe Anschütz gesagt: »Jedes Gesetz im materiellen Sinne muß zugleich ein Gesetz im formellen Sinne sein, außer wenn gleichfalls durch ein formelles Gesetz auf dieses Erfordernis verzichtet ist.«596 Kelsen untersuchte diesen Grundsatz am positiven Verfassungsrecht und kam zum Schluss, dass die »österreichische Verfassung […] die vollkommene Realisierung« dieses Prinzips sei.597 Mit seiner ausdrücklichen Bezugnahme auf die Reichsverfassung 1849,598 das Oktoberdiplom 1860, das Februarpatent 1861 und zuletzt die damals geltende Dezemberverfassung 1867 begegnete Kelsen vielleicht auch dem Vorwurf, dass sich seine Habilitationsschrift zu wenig mit der Dogmatik des positiven Rechts befasse. Rückblickend zeigt sich, dass Kelsen noch in vielen hier angesprochenen Punkten erst am Anfang seiner Überlegungen stand; in späteren Schriften sollte er nicht mehr von einem Staatswillen sprechen, die Dominanz der Gesetzgebung betonen oder den Umstand leugnen, dass auch die Verordnungsgebung ein Weg der Rechtsschöpfung sein könne. Vor allem aber ging Kelsen in seinem Vortrag nicht auf die Frage ein, ob die Ermächtigung zur Verordnungsgebung durch einfaches Gesetz erfolgen kann oder einer verfassungsmäßigen Grundlage bedarf.599 594 Dekan Josef v. Schey, Schreiben an das Unterrichtsministerium v. 12. 7. 1911, Z. 665 ex 1910/11, in ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 611, Personalakt Kelsen Hans. 595 Er wurde zwei Jahre später, am 18. 5. 1913, in den »Juristischen Blättern« veröffentlicht; vgl. dazu Jestaedt in HKW III, 701–705, der Text ebenda: Kelsen, Gesetz (1913). 596 Zit. n. Kelsen, Gesetz (1913) 229, 230 = HKW III, 237, 240 = WRS 1256, 1258. Vgl. dazu auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II (1992) 370 f. 597 Kelsen, Gesetz (1913) 232 = HKW III, 246 = WRS 1263. 598 Von Kelsen, Gesetz (1913) 231 = HKW III, 244 = WRS 1261, irrtümlich mit »1848« datiert. Dass es sich aber nicht um die Verfassung 1848, sondern die Verfassung 1849 handelt, geht aus der Bezugnahme auf die Landesgesetzgebung, die erst 1849 geregelt wurde, klar hervor, unrichtig daher die editorische Notiz in HKW III 244 Anm. 16 und Anm. 18. 599 Vgl. demgegenüber elf Jahre später seine Kommentierung von Art. 18 B-VG in Kelsen/ Froehlich/Merkl, Verfassungsgesetze V (1922) 85 f.
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Das Fakultätskollegium aber war mit dem Vortrag zufrieden. Noch in derselben Sitzung, am 10. Juli 1911, wurde der Beschluss gefasst, »es werde Dr. Hans Kelsen für allgemeines und österreichisches Staatsrecht, Rechtsphilosophie und deren Geschichte habilitiert.«600 Dieser Beschluss wurde vom k. k. Unterrichtsminister, Karl Graf Stürgkh, am 26. Juli bestätigt.601
8. Privatdozent Hans Kelsen a) Die ersten Vorlesungen Mit der Habilitation war zwar die Lehrbefugnis, aber keine Anstellung an der Universität Wien verbunden; beruflich blieben Handelsmuseum und Exportakademie Kelsens Wirkungsstätten. Bereits im April 1911 hatte das Professorenkollegium der Exportakademie – unter Hinweis auf die dreijährige erfolgreiche Verwendung Kelsens – seine Ernennung zum nebenamtlichen Dozenten für Verfassungs‑ und Verwaltungslehre beantragt, was am 21. Juli (also nur knapp zwei Wochen nach der Habilitation an der Wiener juridischen Fakultät) auch erfolgte. Mit 23. Dezember 1911 wurde Kelsen parallel dazu »systemmäßiger Konzeptsadjunkt« im Handelsmuseum und behielt diese Doppelstellung bis zum 10. Juni 1914, als er zum hauptamtlichen Dozenten an der Exportakademie ernannt wurde. Die Bezeichnung »Dozent« darf hier nicht mit der des »Privatdozenten« an der Universität verwechselt werden: Im Falle der Exportakademie handelte es sich um ein echtes Anstellungsverhältnis.602 Kelsen hielt also auch weiterhin Vorlesungen an der Exportakademie. Es waren dies nunmehr regelmäßig die bereits erwähnte Vorlesung über das Osmanische Reich und die zusammen mit Seidler gehaltene Lehrveranstaltung über Verfassungs‑ und Verwaltungslehre; hinzu kamen 1912/13 ein Kurs aus »Bürgerkunde«, in dem er sich mit den Grundbegriffen der Staats‑ und Gesellschaftslehre, der Verfassungsgeschichte und der Verfassung Österreich-Ungarns auseinandersetzte, ferner ein Kurs, in dem er die politischen Verhältnisse der »wichtigsten Kulturstaaten (Deutsches Reich, Frankreich, Russland, England, Italien, USA, Türkei und Balkanstaaten)« enzyklopädisch darstellte, sowie ein zweistündiger Handelsrechtskurs.603
600 Dekan Josef v. Schey, Schreiben an das Unterrichtsministerium v. 12. 7. 1911, Z. 665 ex 1910/11, in ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 611, Personalakt Kelsen Hans. 601 Erlass des Ministers für Kultus und Unterricht v. 26. 7. 1911, Z. 30728/1911 in ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 611, Personalakt Kelsen Hans. Die Notwendigkeit der Bestätigung ergab sich aus § 11 Habilitationsnorm 1888 RGBl 19; vgl. dazu Staudigl-Ciechowicz, Dienst-, Habilitations‑ und Disziplinarrecht (2017) 281–285. 602 Métall, Kelsen (1969) 14; Busch, Kelsen an der Exportakademie (2010) 81 f. Das Adjektiv »systemmäßig« bedeutet hier, dass sich Kelsens Dienstverhältnis nach den allgemeinen, bestehenden Vorschriften für Konzeptsadjunkten richtete. 603 Busch, Kelsen an der Exportakademie (2010) 93.
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Auch hielt Kelsen weiterhin Vorträge im Volksheim und an anderen Orten604 im Rahmen der »Volkstümlichen Universitätsvorträge«. Themen waren das österreichische Verfassungsrecht und dessen Geschichte sowie die politischen Theorien der Neuzeit; auch gab Kelsen Kurse, in denen er mit seinen Teilnehmerinnen und Teilnehmern Klassiker der politischen Theorie, wie etwa Rousseaus »Gesellschaftsvertrag«, besprach. Parallel dazu aber nahm Kelsen im Wintersemester 1911/12 seine Vorlesungstätigkeit an der Universität Wien auf und las zunächst eine »Allgemeine Staatslehre, mit besonderer Berücksichtigung der Soziologie« (im Umfang von drei »Semesterwochenstunden«, d. h. drei Stunden pro Woche, im Folgenden: 3 SSt), ferner eine »Einführung in die Methodologie der Rechtswissenschaften« (1 SSt) sowie eine Vorlesung über den »Österreichisch-Ungarischen Ausgleich« (1 SSt).605 Es folgte im Sommersemester 1912 eine einstündige Vorlesung über »Das parlamentarische Wahlrecht« (1 SSt), vor allem aber die sechsstündige Hauptvorlesung aus »Allgemeinem und österreichischen Staatsrecht«. Wie der dienstjüngste Dozent des Staatsrechts zu dieser Ehre kam, ist unbekannt, doch scheint die Vorlesung ein Erfolg gewesen zu sein, weil Kelsen in den Sommersemestern 1913 und 1914 das Staatsrecht zwar nur mehr als dreistündiges »Repetitorium und Konversatorium« hielt (diese Form des Unterrichts lässt darauf schließen, dass es sich um eine Art »Paukerkurs« unmittelbar für die Prüfungsvorbereitung handelte), jedoch »mit dem Honorar eines 6 stünd. Kollegiums«606 bezahlt wurde. Die Vorlesung über den »Ausgleich« wiederholte Kelsen in den Wintersemestern 1912/13 und 1913/14; im zuletzt genannten Semester hielt er auch eine Vorlesung über »Allgemeine Staatslehre« (3 SSt). Schließlich ist noch seine Vorlesung über »Die Entwicklung der politischen Theorien im 19. Jahrhundert (Liberalismus, Anarchismus, Sozialismus)« hervorzuheben, die er in den Sommersemestern 1913 und 1914 hielt. Kelsen berichtete später von den »nicht sehr zahlreichen« Hörern, die sich anfangs in seinem Hörsaal einstellten, unter denen sich aber auch sein wichtigster Schüler überhaupt, der damals 21jährige Adolf Julius Merkl, befand.607 Merkl, am 23. März 1890 in Wien geboren, jedoch »als Sohn eines Forstakademikers« in Naßwald 604 Des Öfteren diente ihm ein Privatlokal im IX. Wiener Gemeindebezirk, Bindergasse 2, als Vortragsort; im November/Dezember 1912 trug Kelsen in der Volksschule von Möllersdorf im südlichen Niederösterreich, im Februar/März 1913 auch im Gemeindehaus für den III. Bezirk am Karl-Borromäus-Platz 3 vor; vgl. Ehs, Hans Kelsen und politische Bildung (2007) 61. 605 Öffentliche Vorlesungen an der k. k. Universität zu Wien im Winter-Semester 1911 (Wien 1911); vgl. demgegenüber Kelsen, Autobiographie 10 = HKW I, 44, wo er nur die Vorlesung über den Ausgleich erwähnt. 606 Öffentliche Vorlesungen an der k. k. Universität zu Wien im Sommer-Semester 1913 (Wien 1913) und Sommer-Semester 1914 (Wien 1914). 607 Kelsen, Merkl (1959/60) 313. Die einzige von Merkl ordnungsgemäß inskribierte Lehrveranstaltung Kelsens war die Vorlesung über das parlamentarische Wahlrecht im SS 1912, vgl. Grussmann, Merkl (1989) 19. Doch zitiert Merkl 1923 in einem Brief aus zwei seiner Vorlesungsmitschriften, die er mit 13. 1 2. 1911 (vermutlich Vorlesung aus Allgemeiner Staatslehre) und 23. 1. 1912 (vermutlich Methodologie-Vorlesung) datiert: UA Wien, Akademischer Senat, Sonder-
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Abb. 16: Adolf Julius Merkl, 1927.
an der Raxalpe im südlichen Niederösterreich aufgewachsen, hatte 1908 am Staatsgymnasium in Wiener Neustadt die Matura abgelegt, worauf er mit dem Studium der Rechts‑ und Staatswissenschaften begonnen hatte, am 31. Mai 1913 wurde er an der Universität Wien zum JDr promoviert. Nach einer kurzen Zeit in der Justiz trat Merkl 1915 in den Verwaltungsdienst der Stadt Wien ein, von dem er 1917 in das k. k. Handelsministerium wechselte, wo er bis 1918 blieb.608 Als Merkl Kelsen kennen lernte, befand er sich somit bereits in einem fortgeschrittenen Stadium seines Studiums. Schon bald wurde er ein unbedingter Anhänger von Kelsens Rechtslehre und sollte maßgeblich zu ihrer Weiterentwicklung und Verbreitung beitragen. Merkl war es auch, der seinen fast gleichaltrigen Studienkollegen Alfred Verdroß Edlen von Droßberg auf Kelsen aufmerksam machte. Dieser war am 22. Februar 1890 in Innsbruck als Sohn des Hauptmannes (und späteren Generals) Ignaz Verdroß v. Droßberg zur Welt gekommen und studierte in Wien, München und Lausanne die Rechts‑ und Staatswissenschaften.609 Noch kurz vor Merkl, am 9. Mai 1913, wurde er in Wien promoviert. Verdroß berichtet, dass er »bald nach Absolvierung [s]einer Studien […] den damaligen Priv.-Doz. Dr. Hans Kelsen kennen« lernte, und dieser ihn »in herzlicher Weise zur Teilnahme an seinem Privatseminar« einlud. »Noch heute denke ich gerne reihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, nach ONr. 13: Adolf Merkl, Schreiben an Alexander Löffler v. 30. 5. 1923. 608 Merkl, Selbstdarstellung (1952) 137; Grussmann, Merkl (1989) 15 ff. Olechowski/Ehs/ Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 484 f.; Schambeck, Merkl (2018). 609 Vgl. zu ihm Busch, Verdross (2012); Marboe, Verdross (2012); Simma, Verdroß (2018).
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an diese schönen Stunden zurück, in denen vorwiegend rechtstheoretische Probleme, wie z. B. Verfassung und Gesetz, Gesetz und Verordnung, Gesetz und Richterspruch behandelt wurden.«610 Bei diesem Privatseminar handelte es sich um keine Lehrveranstaltung der Universität Wien, sondern um private Einladungen in Kelsens Wohnung in der Wickenburggasse. Hier sprach Kelsen sehr offen über die juristischen Probleme, mit denen er sich aktuell beschäftigte und las den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zuweilen aus seinen Manuskripten vor, sodass diese oft schon Jahre vor einer entsprechenden Publikation von ihnen wussten.611 Wann das erste derartige Privatseminar stattfand, ist unbekannt. Kelsen hatte wahrscheinlich schon bald nach Beginn seiner Vorlesungstätigkeit an der Universität damit begonnen, frischgebackene Absolventinnen und Absolventen sowie – sehr selten – auch einige talentierte Studierende zu sich einzuladen und mit ihnen zu diskutieren. Diese zwanglosen Unterhaltungen werden sich vermutlich erst allmählich zu einer regelmäßig stattfindenden Institution – Verdroß spricht von einmal monatlich, an einem Sonntagnachmittag stattfindenden Treffen612 – entwickelt haben. Einer der wenigen weiblichen Teilnehmer dieses Seminars, Henda Silberpfennig (nachmals Helen Silving), beschrieb in ihren Memoiren Kelsens Arbeitszimmer wie folgt: Es »hatte nur ein Fenster und einen Schreibtisch von mittlerer Größe, und war entgegen allen meinen Erwartungen weder verstaubt noch mit verstreuten Papieren übersät. Es befand sich ein großes Bücherregal mit Büchern darinnen sowie ein kleiner Tisch mit zwei Armsesseln. Alles war gutbürgerlich und ordentlich. […] Ein Dienstmädchen kam herein und brachte Kaffee mit Zucker und Schlagobers sowie das berühmte Wiener Kipferl. Kelsen füllte seine Tasse mit so viel Zucker, dass es jeden Diätberater schockieren würde, rührte sehr lange um, tauchte sein Kipferl in den Kaffee, lehnte den Kopf nach hinten und ließ das nasse Kipferl langsam in seinen Mund gleiten.«613 Abseits von diesen Kaffeepausen wollte der »Kreis um Kelsen« nicht gestört werden, was dem Dienstpersonal sogar durch ein elektrisch beleuchtetes Schild an der verschlossenen Zimmertür bedeutet wurde.614 Die 1906 geborene Silberpfennig/Silving wurde allerdings erst Mitte der 1920er Jahre Teilnehmerin des Kelsen-Seminars, als dieses bereits internationale Berühmtheit erlangt hatte. Sie erzählt uns also von einer sehr viel späteren Zeit. Der ursprüngliche Kreis um Kelsen, der sich schon vor dem Ersten Weltkrieg gebildet hatte, war wohl sehr klein; nach den Aufzeichnungen von Verdroß waren »ursprünglich« außer ihm auch »die heutigen Professoren Dr. Adolf Merkl und Dr. Leonidas Pitamic (Laibach), sowie der 1939 verstorbene Prof. Fritz Sander (Prag)« dabei. Pitamic, der nach 610 Verdross,
Selbstdarstellung (1952) 201. Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 4: Zeugenaussage Leonid Pitamic v. 24. 5. 1923, Seite 1; ebenda ONr. 8: Zeugenaussage Alfred Verdroß v. 26. 5. 1923, Seite 1; ebenda ONr. 10: Zeugenaussage Adolf Merkl v. 28. 5. 1923, Seite 1; ebenda ONr. 12: Zeugenaussage Ernst Seidler jun. v. 1. 6. 1923, 1. 612 Verdross, Radiointerview (1974) 53. 613 Silving, Memoirs (1988) 90. 614 Zeleny, Die Wickenburggasse 23 (2010) 42. 611 UA
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eigenen Angaben erst 1916 zu diesem Seminar stieß,615 erinnerte sich später »mit Vergnügen der Zusammenkunft rechtsphilosophisch interessierter Personen an Sonntagnachmittagen in [Kelsens] Wiener Heim; auf Grund von Referaten entwickelten sich dann interessante Diskussionen.«616 Pitamic selbst war am 15. Dezember 1885 in Adelsberg in der Krain [Postojna/SLO] als Sohn eines Rechtsanwaltes geboren worden, war also nur vier Jahre jünger als Kelsen. Nach Schulbesuch in Görz [Gorizia/IT] und Wien inskribierte er 1903 das Studium der Rechte an der Universität Wien, das er 1908 mit dem JDr. abschloss. Schon kurz vor der Promotion war er in den Dienst der k. k. Statthalterei der Krain getreten, aufgrund eines Reisestipendiums, das er vom Unterrichtsministerium erhalten hatte, unterbrach er jedoch seine dortige Tätigkeit, um Studien in Heidelberg, Wien und München zu unternehmen. Nach seiner Rückkehr wurde er 1912 zum Landesregierungskonzipisten in Laibach [Ljubljana/SLO] ernannt; im Juli 1913 wurde er zur Dienstleistung im staatsrechtlichen Departement des k. k. Ministerratspräsidiums abgestellt und wurde dort im Juni 1914 zum Ministerialkonzipisten ernannt. Wieder in Wien, nahm Pitamic an den Seminaren von Bernatzik und von Kelsen teil.617 Nicht unter den von Kelsen oder Verdroß Genannten befand sich Richard Strigl, obwohl auch er dem Privatseminar 1914–1919 angehörte, wohl, weil für ihn die Rechtstheorie nicht das Hauptgebiet seiner Forschungen bildete: Schon davor war Strigl nämlich auch Teilnehmer des Privatseminars des Ökonomen Eugen Böhm v. Bawerk gewesen und blieb dann dieser Materie treu; 1923 habilitierte er sich an der Universität Wien mit einer Schrift über ökonomische Kategorien.618 Strigl war es aber, der gemeinsam mit Verdroß im Sommer 1915 Fritz Sander in den Kreis um Kelsen einführte.619 Sander war am 8. Juni 1889 in Heiligenstadt bei Wien geboren, also nur wenig älter als Merkl und Verdroß, und hatte zum selben Prüfungstermin wie sie, im Juli 1912, die staatswissenschaftliche Staatsprüfung abgelegt; am 13. November 1912 erfolgte seine Promotion zum JDr.620 Als er zum Kelsen-Kreis stieß, hatte er nach der Erzählung Kelsens »noch nicht die Absicht sich der akademischen Laufbahn zu widmen; er wollte Rechtsanwalt werden.«621 Tatsächlich legte Sander in der Folge auch die 615 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 4: Zeugenaussage Leonid Pitamic v. 24. 5. 1923, Seite 1. 616 Zit. n. Pavčnik, Pitamic (2008) 325. 617 Leonidas Pitamic, eigenhändiges curriculum vitae, undatiert (1915), in: ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 612, Personalakt Pitamic Leonidas; vgl. auch Pavčnik, Pitamic (2008) 326. 618 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 571 f. 619 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 13: Zeugenaussage Richard Strigl v. 1. 6. 1923, Seite 1; Olechowski/Busch, Kelsen als Professor an der Deutschen Universität Prag (2010) 1117. 620 Olechowski/Busch, Kelsen als Professor an der Deutschen Universität Prag (2010) 1116. Biographische Angaben zu Sander auch bei Kletzer, Sander (2008) 445 f.; Korb, Kelsens Kritiker (2010) 166 f.; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 487 f. 621 Kelsen, Autobiographie (1947) 23 = HKW I, 61 f.
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Rechtsanwaltsprüfung ab und war eine Zeit lang anwaltlich tätig. Es war wohl das Zusammentreffen mit Kelsen und die große Förderung, die dieser seinem »begabten Schüler« zuteilwerden ließ, die ihn dann dazu bewogen, so wie die anderen, vor ihm Genannten eine Habilitationsschrift in Angriff zu nehmen, worauf noch ausführlich einzugehen ist. Auch Walter Henrich, 1888 in Hermannstadt in Siebenbürgen [Sibiu/RO] geboren, zählte zu den ersten Schülern Kelsens; er hatte zwar – ebenso wie Sander – keine Lehrveranstaltungen bei ihm besucht, nahm aber schon ab 1914 am Privatseminar teil. Gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Gustav hatte er in Klausenburg [Cluj-Napoca/RO] studiert und 1910 das Doktorat der Staatswissenschaften, 1911 das Doktorat der Rechtswissenschaften erworben; anschließend waren beide nach Wien gezogen. Hier arbeitete Walter Henrich zunächst in einer Bank, ab 1914 in der k. k. Hofbibliothek. Unter Kelsens Einfluss begann er nun auch noch das Studium der Philosophie und erwarb 1917 mit einer Arbeit über Recht und Gesellschaft seinen dritten Doktortitel.622 Danach begann auch er mit der Abfassung einer Habilitationsschrift. Zuletzt sind hier zwei Personen zu nennen, die zwar ebenfalls zu den ersten Teilnehmern des Kelsenschen Privatseminars zählten, die aber letztlich nicht in die Wissenschaft, sondern in den öffentlichen Dienst bzw. in die Privatwirtschaft gingen und von denen nur wenige biographische Daten ermittelt werden können. Bei dem einen handelt es sich um Ernst Seidler jun., den 1893 in Wien geborenen Sohn des gleichnamigen Professors und späteren Politikers, der ja bis 1918 wenigstens formell der Dienstvorgesetzte Hans Kelsens an der Exportakademie war. Seidler jun. wurde 1913 promoviert und diente während des Krieges in der k. u. k. Armee, danach wurde er Vertragsbeamter bei der sog. Sozialisierungskommission und viele Jahre später, nach dem Zweiten Weltkrieg, Generaldirektor der Österreichischen Bundesbahnen (1947–1953).623 Der andere war Franz Havliček, 1886 in Kiew [Kyjiw/UKR] geboren und von Beruf »Industrieller«;624 er ging später nach Berlin und war dort mit Otto Weiningers Bruder Richard, zu dem Kelsen ja nach wie vor Kontakt hielt, befreundet,625 sein weiteres Schicksal ist unbekannt. Auch wenn sein Name und der von
622 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 23: Zeugenaussage Walter Henrich v. 30. 6. 1923, Seite 1. 623 Geb. Wien 6. 1 2. 1893, gest. ebenda 9. 1. 1958, vgl. ÖStA KA, Kriegsministerium, Karton 492, Sign. 21–3/106; https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Ernst_Seidler [Zugriff: 19. 11. 2019] (dort 1888 als Geburtsdatum). Siehe auch Korb, Kelsens Kritiker (2010) 280. Vgl. zu Ernst Seidler sen. schon oben 122. 624 ÖStA, KA, Militärgerichtsarchiv, Personalakten Feldgerichtsarchiv: Präsenzstandes-Verzeichnis über die beim Feldgerichtsarchiv eingeteilten Militärpersonen mit laufenden Einträgen zu Franz Havliček, Fritz Sander und Ernst Seidler; Vormerkblatt für die Qualifikationsbeschreibung Franz Havliček. Vgl. auch ÖStA, KA, Kriegsministerium, Karton 488, Sign. 21–3/106, Verzeichnis Dr. Franz Havliček. 625 Dies geht aus einem Schreiben von Richard Weininger (dem Bruder von Otto Weininger) an Hans Kelsen v. 2. 6. 1923 vor: UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 22: Vernehmung von Hans Kelsen v. 28., 29. u. 30. 6. 1923, Beilage.
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Ernst Seidler jun. gegenüber jenen von Merkl oder Verdroß heute in Vergessenheit geraten sind, so zählten auch sie zum Kreis um Kelsen, und ihr Einfluss bei den damals geführten Diskussionen auf die anderen Teilnehmer ist nicht zu unterschätzen.626 b) Kritik und Anregungen Kelsens eigene Habilitationsschrift erfuhr in verschiedenen wissenschaftlichen Zeitschriften eine kritische Würdigung. Zwei dieser Rezensionen seien hier hervorgehoben, die eine aus biographischen Gründen, die zweite wegen ihrer Wirkmächtigkeit auf die Weiterentwicklung der von Kelsen gerade erst begonnenen »Reinen Rechtslehre«. Bei der ersten Besprechung handelt es sich um jene von Friedrich Tezner für das »Archiv des öffentlichen Rechts«, eine der bedeutendsten Fachzeitschriften im deutschsprachigen Raum.627 Tezner, 1856 in Beraum in Böhmen [Beroun/CZ]628 geboren, war 1870 nach Wien gekommen, wo er 1874, 26 Jahre vor Kelsen, am Akademischen Gymnasium in Wien mit Auszeichnung maturierte.629 Der etwas jüngere Arthur Schnitzler, von dem ja schon erwähnt wurde, dass er über seine Zeit an jenem Gymnasium nur wenig Gutes zu berichten wusste, erinnerte sich an Tezner als an einen »arme[n], häßliche[n], kleine[n] Judenjunge[n]«, dessen Charakter er aber sehr positiv als »[e]rnst, mit Neigung zur Ironie, klug, gewissenhaft und von nie rastendem Fleiß« beschrieb und hinzufügte: »[E]r gilt heute als erste Autorität im Staats‑ und Völkerrecht und amtiert im Verwaltungsgerichtshof als Hofrat Tezner, was ihm unter seinem einstigen Namen, Tänzerles, bei gleichen Verdiensten kaum geglückt wäre.«630 Tatsächlich hatte Tezner, der nach seiner Promotion 1879 in verschiedenen Anwaltskanzleien und einer Sparkasse arbeitete, seinen Namen 1882 ändern lassen. Seinen Ambitionen auf der Universität Wien half dies nur wenig: Zwar gelang ihm 1892 die Habilitation für Verwaltungsrecht, 1893 auch für Staatsrecht. Doch brachte er es, wie Kelsen später über Tezner schrieb, trotz vieler Bemühungen niemals »weiter als bis zum Privatdozenten […]. Der ihm nach jahrelanger erfolgreicher wissenschaftlicher Arbeit verliehene Titel eines Professors war eigentlich nur mehr der Grabstein über seinen akademischen Hoffnungen.«631 Diese Zurücksetzung war umso schmerzhafter, als Tezner eine Vielzahl bedeutender Schriften, insbesondere zum Verwaltungsgerichtshof (VwGH) verfasst hatte; seine Darstellung der Judikatur des 626 Siehe
noch unten 337. »AöR« die Hinweise bei Jestaedt in HKW III, 723. 628 In seinem Nachruf auf Tezner sprach Kelsen – der sich offenbar nicht die Mühe gemacht hatte, den Geburtsort des Verstorbenen festzustellen – von »irgendeinem der deutschmährischen Nester, diesen Quellen für Intelligenz und Charakter im alten Oesterreich«, was nicht nur taktlos, sondern auch falsch war: Kelsen, Tezner (1925) 3. 629 Akademisches Gymnasium, Jahresbericht für das Schuljahr 1873/74 (1874). 630 Schnitzler, Jugend in Wien (1920) 43. 631 Kelsen, Tezner (1925) 4. 1900 wurde Tezner der Titel eines außerordentlichen, 1914 der eines ordentlichen Professors verliehen; vgl. Thomas Olechowski, Tezner Friedrich, in: ÖBL, 65. Lfg. (Wien 2014) 27. 627 Vgl. zum
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VwGH zum Administrativverfahren war sogar wegweisend für die Verwaltungsverfahrensgesetze des Jahres 1925.632 Nichtsdestoweniger blieben auch die Türen des Höchstgerichts für Tezner solange verschlossen, bis er sich 1907 auch der Taufe unterzog. Dann aber erfolgte noch im selben Jahr seine Ernennung zum Hofrat, 1921 zum Senatspräsidenten des VwGH.633 Wann und auf welche Weise Tezner und Kelsen einander kennengelernt hatten, ist unklar, zumal Kelsen während seines Studiums keine Lehrveranstaltungen bei Tezner inskribiert hatte.634 Es mag das erste Zusammentreffen im Rahmen von Bernatziks Seminar oder auf andere Weise erfolgt sein, jedenfalls endet das Vorwort von Kelsens »Hauptproblemen« mit dem Satz: »Mehr als ich mit Worten ausdrücken kann, schulde ich Herrn Hofrat Professor Dr. Friedrich Tezner in Wien, dessen tatkräftige Förderung und warme Anteilnahme mir über manches hinweggeholfen hat, was dem Fortgange meiner Arbeit im Wege lag.«635 Der prominente Platz, an dem diese Danksagung erfolgte, lässt vermuten, dass die Förderung Kelsens durch Tezner von jenem als ganz wesentlich aufgefasst wurde,636 die Wortwahl lässt darauf schließen, dass Kelsen mit Tezner vielfach über seine »Hauptprobleme« (im doppelten Wortsinne) diskutiert, ihm vielleicht auch Entwürfe seines Manuskripts zu lesen gegeben hatte. Ein Vergleich der wissenschaftlichen Positionen der beiden Rechtswissenschaftler macht deutlich, dass in einer Reihe von Punkten Übereinstimmung bestand und Tezner hier wirklich eine Stütze für Kelsen gewesen sein könnte, so insbesondere bei der – eine Vorstufe für die spätere Lehre vom »Stufenbau der Rechtsordnung« bildenden – Theorie, »daß jede Norm zugleich Bewegungsfreiheit und Bindung enthalte.«637 Doch ist nicht zu übersehen, dass in mindestens ebenso vielen Punkten Differenzen bestanden, und in der Rezension, die Tezner 1912 für das »Archiv des öffentlichen Rechts« verfasste, sparte er nicht mit Kritik am jungen Privatdozenten. Es waren ganz prinzipielle Auffassungsunterschiede vom Wesen des Rechts, die Tezner von Kelsen trennten, denn der Ältere war der Ansicht, dass »die Rechtswissenschaft nicht bloß die Wissenschaft von den abstrakten Formen des Rechts« sei, sondern auch eine »Lehre von dem in der Form des Rechts steckenden Inhalte des Rechts.«638 In einer späteren, in weiten Teilen direkt gegen Kelsen gerichteten Arbeit Tezners über »Rechtslogik und Rechtswirklichkeit« 632 Dazu
schon Olechowski, Verwaltungsverfahren (2006) 28. Tezner (1971); Thomas Olechowski, Tezner Friedrich, in: ÖBL, 65. Lfg. (Wien
633 Kremzow,
2014) 27. 634 Unrichtig Jestaedt in HKW II, 64 Anm. 37, wonach Tezner der Taufpate Kelsens gewesen sein soll, was schon aufgrund der Chronologie (Kelsen empfing die Taufe zwei Jahre vor Tezner) unmöglich ist. 635 Kelsen, Hauptprobleme (1911) XIII = HKW II, 64. 636 Nicht dagegen ist anzunehmen, dass die Danksagung aus opportunistischen Gründen erfolgte, zumal Tezner als Privatdozent kaum Einfluss auf das Habilitationsverfahren nehmen konnte. 637 Tezner, Kelsens Lehre vom Rechtssatz (1912) 326. 638 Tezner, Kelsens Lehre vom Rechtssatz (1912) 340. Vgl. dazu auch Goller, Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1997) 181.
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wird deutlich, dass er generell Vorbehalte dagegen hatte, mit den Mitteln der Logik so stark im Bereich des Rechts zu operieren, wie es Kelsen tat; denn Recht sei nun einmal nicht logisch; Kelsen habe »kein System des wirklichen Rechts, sondern einer idealen Rechtsordnung« konstruiert.639 Andererseits stand Tezner nicht an, seine Überzeugung auszusprechen, dass Kelsens »Hauptprobleme« »eine Umwälzung bisher allgemein anerkannter fundamentaler Rechtslehren« sei, und »daß wir es trotz der Jugend des Verfassers mit einem völlig reifen Werk zu tun haben, daß es bei der Bedeutung des Werkes unangemessen wäre, die Phrase von den Hoffnungen für die Zukunft, die der Verfasser erweckt, anzubringen, da er die nicht geringen Erwartungen derer, die ihn kannten, erfüllt hat.« Seine Kritikpunkte seien einfach »die schlichten Bedenken eines über die angeregten Fragen wesentlich praktisch denkenden Juristen« und seien unabhängig von dem Faktum, dass er »Freundschaft […] für den Verfasser hege«.640 Und tatsächlich scheint es, dass Kelsen seinem väterlichen Freund die scharfe Kritik nicht verübelte: Denn als Tezner am 13. Juni 1925, wenige Wochen vor der – sein Lebenswerk krönenden – Beschlussfassung über die Verwaltungsverfahrensgesetze im Nationalrat, starb, gedachte Kelsen auf seine Weise dieses »vornehmlich aufs Historisch-Politische gerichtete[n] Geistes«, indem er schrieb: »Apriorische Erkenntnis und eine auf den systematischen Zusammenhang zielende, mehr oder weniger formale Begriffsbildung, logische Begriffsanalyse lag ihm fern. Dennoch hat er mir, dem viel Jüngeren, der gerade diese Geistesrichtung verfolgte, stets das größte Verständnis entgegengebracht. Ich danke ihm liebevolle Förderung. Von jener Intransigenz kleinlichen Gelehrtendünkels, dieser Berufsschwäche zünftiger Professoren, war Friedrich Tezner frei. Sein Wille zur Gerechtigkeit war zu groß.«641 Das negative Beispiel Jellineks und das positive Beispiel Tezners – beide dürften prägend für Kelsens auch später immer wieder gerühmtes Bemühen gewesen sein, wissenschaftliche Standpunkte und persönliche Gefühle nicht miteinander zu vermengen, sowie auch gerade aus einer Kritik Anregungen und Kraft für die eigene Arbeit zu schöpfen. Die zweite hier zu nennende Rezension von Kelsens »Hauptproblemen« stammte von Oscar Ewald Friedländer. Dieser, 1881 im damals ungarischen Bur Sankt Georgen [Borský Svätý Jur/SK] geboren und somit gleich alt wie Kelsen, hatte in Wien zunächst mit dem Studium der Rechtswissenschaften begonnen, war dann jedoch zum Fach Philosophie gewechselt, in dem er 1903 promoviert wurde und sich 1909 auch habilitierte. Zu seinen Freunden und Studienkollegen zählte Otto Weininger, sodass es gut möglich ist, dass Friedländer Kelsen persönlich kannte, auch wenn es hierfür keine Belege gibt. So wie Kelsen war Friedländer (der sich in seinen Publikationen nur »Oscar Ewald« nannte) Neukantianer, etwa in der Mitte zwischen der Südwestdeutschen und der Marburger Schule zu verorten, und zwischen 1907 und 639 Tezner, Rechtslogik und Rechtswirklichkeit (1925) 11 f. Vgl. Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt (2010) 353. 640 Tezner, Kelsens Lehre vom Rechtssatz (1912) 325 f. 641 Kelsen, Tezner (1925) 4.
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1915 verfasste er für die Zeitschrift »Kant-Studien« jedes Jahr einen Literaturrückblick über bedeutende, im Vorjahr erschienene philosophische Werke. Der Erste Weltkrieg bedeutete für Oscar Ewalds wissenschaftliche Arbeit nicht nur eine zeitliche Unterbrechung, sondern auch einen Bruch in seinen Denkrichtungen; nun wandte sich der 1906 aus der Israelitischen Kultusgemeinde Ausgetretene den »Religiösen Sozialisten« zu. 1938 wurde Oscar Ewald zunächst in das KZ Dachau deportiert, jedoch schon im folgenden Jahr freigelassen, worauf er nach England emigrierte und dort 1940 starb.642 Im 1912 erschienenen XVII. Band der »Kant-Studien« besprach Oscar Ewald eine Reihe sehr verschiedenartiger Publikationen, von der Monographie »Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre« des Heidelberger Neukantianers Emil Lask über einen Aufsatz von Adolph Köster, der »Cohens Logik der reinen Erkenntnis« gedrängt zusammenfasste, bis zu der »[w]eit über den Rahmen des Neukantianismus« hinauswachsenden »Philosophie des Als Ob« des Hans Vaihinger, die ebenfalls 1911 erschienen war. Und in diesem Kontext besprach Oscar Ewald auch Kelsens »Hauptprobleme« als ein »beredtes Zeichen, dass die methodologischen Prinzipien, welche die moderne Erkenntnislehre beherrschen, auch in andre Forschungsgebiete einzudringen beginnen. […] Es ist ein mit logischer Energie und Strenge durchgeführter Versuch, den Transzendentalismus in die Rechtsphilosophie einzuführen.« Die Rezension konzentrierte sich daher auch ganz auf den ersten Teil von Kelsens Habilitationsschrift, auf die Unterscheidung von Sein und Sollen und auf Kelsens Aussage, dass der Wille im juristischen Sinne kein realer Vorgang, sondern eine juristische Konstruktion sei. »Kelsens Willensbegriff deckt sich ja in bemerkenswerter Weise mit dem Cohens in seiner ›Kantinterpretation‹ und in seiner ›Ethik des reinen Willens‹«, bemerkte Oscar Ewald.643 War dieser Satz auch eher en passant geschrieben und befand sich mitten in einer knapp gehaltenen Sammelrezension, so hatte er doch größte Bedeutung für Kelsens weitere rechtstheoretische Arbeiten, zumal diesem die – echten oder vermeintlichen – Parallelen zwischen seinem Werk und der »Ethik des reinen Willens« Cohens bis dahin nicht aufgefallen waren und er erst durch die Besprechung Oscar Ewalds auf diese aufmerksam gemacht worden war.644 »Nunmehr ergab sich mir als bewußte Konsequenz der erkenntnistheoretischen Grundeinstellung Cohens, der zufolge die Erkenntnisrichtung den Erkenntnisgegenstand bestimmt, der Erkenntnisgegenstand aus 642 Vgl. zu ihm Benedikt, Drei Generationen (2005); Korb, Kelsens Kritiker (2010) 15; Staudacher, Austritte (2009) 171. 643 Ewald, Die deutsche Philosophie im Jahre 1911 (1912) 396–398. Vgl. dazu auch Korb, Kelsens Kritiker (2010) 15; Paulson, The Great Puzzle (2013) 54 f. 644 Dieser Punkt wurde später insbesondere von Sander geleugnet, der behauptete, Kelsen habe erst durch ihn von Cohens Philosophie erfahren: UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 20: Vernehmung von Fritz Sander v. 26. u. 27. 6. 1923, Seite 15. Doch bestätigten andere Schüler Kelsens, dass es bereits die Rezension Oscar Ewalds gewesen war, die Kelsen veranlasst hatte, sich näher mit Cohen zu beschäftigen: UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 12: Zeugenaussage Ernst Seidler jun. v. 1. 6. 1923, Seite 1.
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einem Ursprung logisch erzeugt wird, daß der Staat, soferne er Gegenstand juristischer Erkenntnis ist, nur Recht sein kann, weil juristisch erkennen oder rechtlich begreifen nichts anderes bedeutet, als etwas als Recht begreifen«, schrieb Kelsen rückblickend.645 c) Weitere Schriften zur Rechtstheorie bis 1914 In den rechtstheoretischen Arbeiten Kelsens, die zwischen 1911 und 1914 erschienen, ist die allmähliche Weiterentwicklung der Reinen Rechtslehre gut erkennbar. Zu nennen sind hier, abgesehen von der bereits genannten Drucklegung seines Habilitationsvortrages »Zur Lehre vom Gesetz im formellen und materiellen Sinn«, der relativ kurze Aufsatz über »Rechtsstaat und Staatsrecht«, der im Juli 1913 in der »Österreichischen Rundschau« erschien, ferner der Aufsatz »Zur Lehre vom öffentlichen Rechtsgeschäft«, der ursprünglich für das »Jahrbuch des öffentlichen Rechts« gedacht war, aber aufgrund seines mehr als hundertseitigen Umfanges 1913 in zwei Teilen im »Archiv des öffentlichen Rechts« publiziert wurde,646 drittens der nicht viel kürzere Beitrag »Reichsgesetz und Landesgesetz nach österreichischer Verfassung«, den Kelsen 1914 ebenfalls für das »Archiv des öffentlichen Rechts« verfasste, sowie schließlich der 114 Seiten lange Aufsatz »Über Staatsunrecht«, der in der von Carl Samuel Grünhut begründeten »Zeitschrift für das Privat‑ und öffentliche Recht der Gegenwart« erschien, hervorgegangen aus einem gleichnamigen Vortrag, den Kelsen am 20. März 1912 in der Wiener Juristischen Gesellschaft gehalten hatte.647 Die schiere Menge, die Kelsens rechtstheoretischen Schriften schon in jenen Anfangsjahren ausmachen (und dabei sind jene, die er zur selben Zeit zu soziologischen und anderen Fragestellungen verfasste, noch gar nicht mitgezählt), ist beeindruckend; zu berücksichtigen ist freilich, dass sie über weite Strecken Partien von Kelsens umfangreicher, schwer verdaulicher und daher wohl nur wenig gelesener Habilitationsschrift kurzfassten und auch untereinander vielfach ähneln, so etwa, wenn Kelsen sowohl bei »Rechtsstaat und Staatsrecht« als auch beim »Öffentlichen Rechtsgeschäft« die bereits 1880 gehaltene Rektoratsrede Paul Labands über die Bedeutung der Rezeption des römischen Rechts für das öffentliche Recht zitierte. Die alten Römer waren nach Ansicht Kelsens »ein eminent praktisches Volk, aber sie hatten […] überhaupt keine Philosophie, […] auch keine Rechtsphilosophie«, und nur aus didaktischen, nicht theoretischen Gründen hatten sie die bis heute grundlegende Zweiteilung des Rechtsstoffes in öffentliches Recht und Privatrecht gemacht.648 Erst mit der Rezeption 645 Kelsen,
Hauptprobleme (1923) XVII. Herausgeber beider Publikationsorgane waren größtenteils identisch; vgl. Jestaedt in HKW III, 707. 647 Siehe dazu Jestaedt in HKW III, 736 und Julcher, Kelsens »Über Staatsunrecht« (2017). Am 31. 1 2. 1912 erschien in den JBl 1912, 147–149, ein ausführlicher Vortragsbericht. Demnach hatte der Vorsitzende der Juristischen Gesellschaft, Franz Klein (1906–1908 und 1916 Justizminister) Kelsens Ausführungen als »geistvoll« bezeichnet, allerdings auch bemerkt, dass die Jurisprudenz keine »Geometrie der Rechtserscheinungen« sei, wie dies Kelsen offenbar dargestellt hatte. 648 Kelsen, Zur Lehre vom öffentlichen Rechtsgeschäft (1913) 56 = HKW III, 250. 646 Die
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sei dieser Dualismus zu einem Grundprinzip erhoben worden; die politische Zielsetzung dahinter war offensichtlich: Es war der Satz »princeps legibus solutus est«, der die Fürsten von allen rechtlichen Schranken befreite, die ihnen das alte heimische Recht gesetzt hatte, und an die Stelle des alten deutschen Rechtsstaates trat ein Polizeistaat. Insofern sei auch die Äußerung Labands von der Rezeption des römischen Staatsrechts unzutreffend, denn »[s]oweit der Grundsatz galt, dass der den Staat repräsentierende princeps, der mit der Staatsgewalt identische Fürst legibus solutus sei, außerhalb der Rechtsordnung stehe, gab es weder ein römisches noch ein deutsches Staatsrecht, weil insoweit weder der römische noch der deutsche Staat ein Rechtsstaat war.«649 Erst mit der Ausbildung des modernen Rechtsstaates im 19. Jahrhundert konnte sich auch wieder ein Staatsrecht entwickeln. Der Beitrag »Über Staatsunrecht« ist auch deshalb interessant, als Kelsen hier erstmals explizit Bezug auf – nicht näher spezifizierte – Kritiker nahm, welche ihm vorwarfen, dass seine Rechtslehre »die Wirklichkeit des sozialen Lebens nicht erklären« könne: Dieser Vorwurf »trifft sie nicht, weil sie sich diese Aufgabe gar nicht« stelle. »Gegenstand der Rechtslehre und somit auch der Staatsrechtslehre sind Normen und deren gedankliche Beherrschung ihr Ziel. Dem solcher Gegenstand und solches Ziel nicht würdig oder zweckmäßig scheint, mit dem kann ich nicht streiten, denn ich bin anderer Meinung.«650 – Demgemäß wollte er auch im gegebenen Zusammenhang nicht etwa über konkrete Fälle berichten, in denen Staatsunrecht begangen worden sei, sondern sich die Frage stellen, ob solches überhaupt »im Rechtssinne denkbar ist«.651 Er verneinte diese Frage: Denn wenn ein fehlerhafter Akt in einem nachfolgenden Verfahren aufgehoben werde, dann sei er eben nicht der Wille des Staates; könne er aber nicht aufgehoben werden, dann erwachse er in Rechtskraft und sei somit kein Unrecht. Dies führte Kelsen zum allgemeinen Schluss, dass »der Staat juristisch überhaupt nur als Rechtsordnung oder Realisierung der Rechtsordnung begriffen werden« könne.652 Eine Formulierung, die im Vergleich zu späteren Äußerungen noch sehr vorsichtig ist – immerhin lässt es Kelsen zu, dass der Staat anders als juristisch begriffen werden könne – aber doch letztlich den Kern einer von Kelsens berühmtesten Thesen trifft. Noch bedeutender als dieser Aufsatz erscheint Kelsens Abhandlung über das Verhältnis von Reichsgesetz und Landesgesetz, gelang es ihm hier doch stärker als in allen anderen bisherigen Veröffentlichungen, den praktischen Nutzen seiner rechtstheoretischen Einsichten deutlich zu machen und entwickelte er auch seine Lehren in einigen zentralen Punkten ganz entscheidend weiter, sodass in Ansätzen sogar seine spätere Lehre von der Grundnorm erkennbar ist.653 649 Kelsen,
Rechtsstaat und Staatsrecht (1913) 89 = HKW III, 149 = WRS 1526. Über Staatsunrecht (1914) 3 = HKW III, 442 = WRS 959. 651 Kelsen, Über Staatsunrecht (1914) 1 = HKW III, 441 = WRS 957. Vgl. dazu schon die ganz ähnlichen Überlegungen bei Kelsen, Hauptprobleme (1911) 247 = HKW II, 363. 652 Kelsen, Über Staatsunrecht (1914) 113 = HKW III, 531 = WRS 1057. Vgl. dazu Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt (2010) 250. 653 Jestaedt in HKW III, 725; Paulson, Toward a Periodization (1990) 32; Paulson, The Great Puzzle (2013) 48. 650 Kelsen,
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Ausgangspunkt von Kelsens Überlegungen war dabei das Problem, dass ein Reichsgesetz (d. h. ein vom Kaiser unter Mitwirkung des Reichsrates erlassenes Gesetz) und ein Landesgesetz (d. h. ein vom Kaiser unter Mitwirkung eines der fünfzehn österreichischen Landtage erlassenes Gesetz) inhaltlich miteinander im Widerspruch stünden. Die herrschende Lehre ging davon aus, dass Reichsrat und Landtage zwar an den Inhalten der Gesetze mitwirkten, dass diese Gesetze ihre verbindliche Kraft aber allein dem Kaiser, mithin ein und derselben Autorität, verdankten, weshalb Normenkonflikte zwischen Reichs‑ und Landesgesetzen nicht anders als zwischen verschiedenen Reichsgesetzen oder verschiedenen Landesgesetzen desselben Landes zu lösen seien; im Besonderen könne auch hier die »klassische« Formel »lex posterior derogat legi priori« (das spätere Gesetz setzt das frühere außer Kraft) angewendet werden.654 Kelsen verneinte zunächst die behauptete Identität des Gesetzgebers, weil der jeweilige Reichsrats‑ bzw. Landtagsbeschluss eine ebensolche conditio sine qua non für das Zustandekommen des Gesetzes sei wie die kaiserliche Sanktion. Dies stellte ihn freilich vor nicht geringe Probleme: Denn ein »rechtslogisches Prinzip« für eine Normenkonkurrenz – als welche er die »lex-posterior-Regel« damals noch ansah – könne es nur geben, wenn das Normensystem eine Einheit bilde, nicht aber zwischen zwei völlig verschiedenen Normensystemen wie z. B. Recht und Moral, wo es nur einen Pflichtenkonflikt im Inneren des Normadressaten, aber keine normlogische Lösung geben könne. Zur Lösung des Problems entwickelte Kelsen hier erstmals den Gedanken, dass die Einheitlichkeit von Reichs‑ und Landesrecht wie überhaupt jeglicher Rechtsordnung durch eine gemeinsame, oberste »normsetzende Autorität« hergestellt werde, deren Normen »einer weiteren Rechtfertigung durch höhere Normen […] für nicht bedürftig und unfähig angesehen werden.«655 Hier entwickelt Kelsen also erste Ansätze für eine Theorie des Bundesstaates, wie er sie erst 1927 in seiner berühmten »Drei-Kreise-Theorie« voll entwickeln wird. Aber auch der Gedanke einer »Grundnorm« ist hier schon erstmals greifbar, wenn auch nicht offen ausgesprochen, wie vor allem der nachfolgende Abschnitt zeigt: Da sowohl die Landesordnungen als auch das Grundgesetz über die Reichsvertretung mit dem sog. Februarpatent von 1861 in Geltung gesetzt worden waren, sah Kelsen zunächst dieses als Ausgangspunkt seiner Überlegungen an, musste aber feststellen, dass damals überhaupt keine Regeln für Kompetenzkonflikte zwischen Reichsrat und Landtagen getroffen worden waren, vielmehr hatte jedes der Parlamente seinen eigenen Wirkungskreis zugewiesen bekommen, sodass jede eigenmächtige Ausdehnung dieses Wirkungskreises, mochte es auch durch Reichs‑ bzw. Landesverfassungsgesetz geschehen, eine Verfassungswidrigkeit für die jeweils andere 654 Kelsen, Reichsgesetz und Landesgesetz (1914) 203 = HKW III, 361. Er kommt in diesem Aufsatz zum Schluss, dass es sich bei dieser Regel nicht um ein rechtslogisches Prinzip, sondern um eine Norm handle, vgl. dazu Wiederin, Bundesstaat (2005) 227. 655 Kelsen, Reichsgesetz und Landesgesetz (1914) 210 = HKW III, 366. Vgl. dazu Wiederin, Bundesstaat (2005) 226.
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Rechtsordnung bedeute. Eine derartige Ausdehnung hatte nun aber der Reichsrat mit der Dezemberverfassung 1867 erhalten, die daher als Bruch der Landesordnungen von 1861 angesehen werden müsse. Daher müsse die »Reichsverfassung vom Dezember 1867«, nicht jene vom Februar 1861, zum »Ausgangspunkt der juristischen Konstruktion« gemacht werden. Eine derartige Betrachtung, die also die Februarverfassung 1861 völlig außer Acht lasse, erschien Kelsen durchaus möglich: »Es ist stets eine metajuristische, im Grunde eine politische Frage, welche Norm man derart als letzte oder oberste ansehen will, daß man auf eine weitere juristische Rechtfertigung ihrer Geltung verzichtet. Irgendwo muß jede juristische Betrachtung auf einen solchen letzten Punkt stoßen, auf dem das ganze System der juristischen Konstruktion ruht, gleichsam von außen her gestützt.«656 (Erst) mit diesem neuen Ausgangspunkt war für ihn die (vorläufige) Lösung des ursprünglich gestellten Problems – nur der Reichsgesetzgeber habe die Kompetenzhoheit zwischen Reichs‑ und Landesgesetzgebung – möglich. Vorläufig – denn nun konfrontierte Kelsen den Leser mit dem nächsten Problem: Dieses bestand darin, dass »ein verfassungswidriges Gesetz als ungültig anzusehen ist, richtiger ausgedrückt: daß etwas, was als Gesetz publiziert wird, oder sich sonst irgendwie als Gesetz ausgibt, für ein Nicht-Gesetz, für nichtig zu betrachten ist, wenn es den Bestimmungen nicht entspricht, die in der Reichsverfassung und in den Landesverfassungen für das Zustandekommen und die Abänderung eines Gesetzes, sei es Reichs‑ oder Landesgesetzes, aufgestellt sind.«657 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen – auch wenn Kelsen selbst es leider nicht tat – dass dieses Problem bereits mehr als hundert Jahre zuvor von amerikanischen Gerichten erkannt worden war, und dass der US-Supreme Court in seiner Entscheidung im Fall »Marbury vs. Madison« vom 24. Februar 1803 zum Schluss gekommen war, dass ein legislativer Akt, der gegen die Verfassung verstoße, »nichtig« (void) sei. Das Höchstgericht der Vereinigten Staaten hatte damit letztlich nur die schon seit längerem von den amerikanischen Gerichten geübte Praxis der sog. judicial review, oder, wie es im deutschsprachigen Raum hieß, des »richterlichen Prüfungsrechtes« von Gesetzen und anderen generellen Normen wie v. a. Verordnungen, bestätigt.658 In Europa war dieser Theorie stets mit großer Skepsis begegnet worden; vom preußischen Ministerpräsidenten (und späteren deutschen Reichskanzler) Otto von Bismarck ist ein Ausspruch aus dem Jahr 1863 überliefert, wonach »die politische Zukunft des Landes« nicht »von dem einzelnen Urteilsspruche eines Gerichts, wie er sich nach der subjektiven Ansicht der Stimmenden herausstellt« abhängen dürfe; und auf derselben Linie lag es auch, dass die österreichische Dezemberverfassung 1867 bestimmte, dass »[d]ie Prüfung der Gültigkeit gehörig kundgemachter Gesetze […] den Gerichten nicht zu[stehe]. Dagegen haben 656 Kelsen, Reichsgesetz und Landesgesetz (1914) 241, 413 f. = HKW III, 389, 408; vgl. Walter, Grundnorm (1992) 49. 657 Kelsen, Reichsgesetz und Landesgesetz (1914) 418 f. = HKW III 412. 658 Siehe dazu Haller, Prüfung von Gesetzen (1979) 4–8; Olechowski, constitutional justice (2014) 80–82.
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die Gerichte über die Gültigkeit von Verordnungen in gesetzlichem Instanzenzug zu entscheiden« (Art. 7 StGG-RiG). Abgesehen von der Verordnungsprüfung – auf die noch näher einzugehen ist – war den Gerichten also ein richterliches Prüfungsrecht verwehrt. Das aber stieß alle vorhin gemachten Überlegungen Kelsens – wie er selbst darlegte – über den Haufen: »Für die gesetzanwendenden Organe und die gesetzbefolgenden Untertanen existiert gar kein Gegensatz von Reichs‑ und Landesgesetzen, keine Konkurrenz normsetzender Autoritäten. Es gibt nur eine Kategorie von Gesetzen, die anzuwenden und zu befolgen sind, nämlich gehörig publizierte Gesetze.« Alles hänge somit von der gehörigen Gesetzespublikation ab, und diese erfolge durch den Kaiser, weshalb Kelsen von einem »legislativen Absolutismus« sprach, der allerdings die zuvor vermisste Einheit des Normensystems garantiere.659 Kelsen war sich des politischen Potentials einer solchen Behauptung wohl bewusst, wenn er schrieb: »Möge dieses Endergebnis ebenso beurteilt werden, wie es entwickelt wurde: rein juristisch und ohne jenen politischen Nebengedanken, der sich nur allzuleicht hier aufdrängen mag.«660 Und er betonte einmal mehr, dass sich der Jurist bei der Erkenntnis positiven Rechts weder davon leiten lassen solle, wie es sich »in Wirklichkeit« oder »faktisch« verhalte, noch davon, welche Rechtslage ihm aus welchem Grunde immer wünschenswert scheine.661 Es ist aber durchaus möglich, dass Kelsens Überlegungen beeinflusst waren von den damaligen Diskussionen um einen – in diesem Sinne »wirklichen« – Verfassungskonflikt, der eben zu jener Zeit die Tagesnachrichten beherrschte, und zu dem sich auch Kelsen kurz zuvor – anonym – in einem Zeitungsartikel geäußert hatte. In Böhmen hatten nämlich die Differenzen zwischen Deutschen und Tschechen ein Ausmaß angenommen, das ein Arbeiten der verfassungsmäßigen Organe praktisch unmöglich machte. Die Deutschen boykottierten den böhmischen Landtag; der die autonome Landesverwaltung besorgende Landesausschuss war nicht mehr im Stande, seinen Aufgaben nachzukommen, die Landeskasse nahezu leer.662 Am 12. Juli 1913 veröffentlichte Friedrich Tezner einen Artikel in der »Neuen Freien Presse«, in der er von einem »Verfassungsnotstand« sprach und den offenbar auch in Regierungskreisen kolportierten »Gedanken einer provisorischen Fürsorge für die Fortführung der Landesverwaltung im Königreiche Böhmen« äußerte, indem mithilfe einer Notverordnung eine »Landesverwaltungskommission« anstelle des regierungsunfähigen Landesausschusses eingesetzt werden sollte. Tatsächlich kam es zwei Wochen später, am 26. Juli (Tag der Hl. Anna), zu ebendieser Maßnahme – jedoch nicht durch eine 659 Kelsen, Reichsgesetz und Landesgesetz (1914) 423 f., 434 = HKW III, 415, 422. Vgl. dazu auch Haller, Prüfung von Gesetzen (1979) 32. 660 Kelsen, Reichsgesetz und Landesgesetz (1914) 435 = HKW III, 423. 661 Wie Haller, Prüfung von Gesetzen (1979) 33, betont, bringt Kelsen keine Lösungsmöglichkeit für das Problem, etwa indem er nach dem Vorbild Jellineks einen Verfassungsgerichtshof zur Prüfung von Gesetzen fordert. Ihm geht es – vorerst – nur um die »klare juristische Konstruktion«. Zu Kelsens Arbeiten an einer Verfassungsgerichtsbarkeit, die allerdings wesentlich auf seinen 1914 angestellten Überlegungen beruhen, siehe noch unten 254, 292 ff.. 662 Urban, Der böhmische Landtag (2000) 2052.
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kaiserliche Notverordnung, sondern durch ein kaiserliches, von sämtlichen Ministern gegengezeichnetes »Patent«, das sog. Annenpatent.663 »Daß das kaiserliche Patent vom 26. Juli 1913 der Verfassung widerspricht, aus der Verfassung in keiner Weise gerechtfertigt werden kann, bedarf keiner ernstlichen Erörterung«, betonte Kelsen in einem am 5. November 1913 in der »Neuen Freien Presse« erscheinenden Artikel: »Die Verfassung kennt keine vom Kaiser zu ernennende Landesverwaltungskommission, sondern ausschließlich nur einen aus dem Landtag zu wählenden Landesauschuß.«664 Vor allem aber kannte die Verfassung auch nicht die Rechtsform eines »Patentes«; es handelte sich um eine »aus vorkonstitutioneller Zeit« stammende Rechtsform und entzog sich der in der Verfassung vollzogenen Trennung zwischen (vom Parlament zu erlassenden) Gesetzen und (von der Regierung zu erlassenden) Verordnungen. Dies war auch ganz offensichtlich die Absicht des Kaisers gewesen; mit Berufung auf einen »Staatsnotstand« hatte er auf ein außerverfassungsrechtliches Instrument zurückgegriffen. Wie aber mit diesem ganz offensichtlich verfassungswidrigen Patent rechtlich umgehen? Diese Frage stellte sich einem der österreichischen Höchstgerichte, dem Verwaltungsgerichtshof (VwGH), als der böhmische Grundbesitzer František Kudrnáč im September 1913 eine verwaltungsgerichtliche Beschwerde gegen eine baurechtliche Entscheidung erhob. Die Angelegenheit selbst war – jedenfalls nach Ansicht Kelsens – ganz unbedeutend; viel wichtiger war, dass Kudrnáč direkt gegen eine Entscheidung der zweiten Instanz (des Bezirksausschusses Pardubitz [Pardubice/CZ]) Beschwerde erhob, obwohl noch eine dritte Instanz (die Landesverwaltungskommission) angerufen hätte werden müssen, bevor eine Beschwerde vor dem VwGH zulässig gewesen wäre. Diese dritte Instanz aber erachtete der Beschwerdeführer als illegal; der Bezirksausschuss war nach seiner Ansicht die letzte Instanz, die er rechtmäßigerweise anrufen hatte können, seine Beschwerde an den VwGH daher zulässig. Das Gericht hatte also, noch bevor es sich meritorisch mit der Baurechtsangelegenheit befassen konnte, zu befinden, ob die Beschwerde überhaupt zulässig war – was indirekt bedeutete, dass es über die Rechtmäßigkeit des »Annenpatents« entscheiden musste!665 Hier kam nun dem vorhin erwähnten Art. 7 StGG-RiG entscheidende Bedeutung zu, wonach Gerichte – auch der VwGH – zwar nicht über die Gültigkeit von Gesetzen, wohl aber über die Gültigkeit von Verordnungen befinden konnten, was immer dann erfolgte, wenn Gerichte in einem Verfahren eine solche Verordnung anzuwenden hatten. Inzidenter erfolgte dann eine Verordnungsprüfung; das Gesetz über den Verwaltungsgerichtshof nahm darauf ausdrücklich Rücksicht, indem es vorsah, dass der erkennende Senat aus sieben (statt aus fünf ) Mitgliedern bestehen solle.666 Tatsächlich setzte der Präsident des VwGH für die Angelegenheit einen siebenköpfigen Senat ein; 663 Ks Patent v. 26. 7. 1913 böhm LGBl 36; vgl. Stourzh, Verfassungsbruch (1992) 139; Urban, Der böhmische Landtag (2000) 2053. 664 Kelsen, Verwaltungskommission (1913) 3 I = HKW III, 107. 665 Eingehend Stourzh, Verfassungsbruch (1992) 140 f. 666 Verwaltungsgerichtshofgesetz 1875 RGBl 1876/36, § 13 Abs. 3.
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von seinen Mitgliedern ist hier der Tiroler Stephan Falser besonders hervorzuheben, der später bei der Entstehung der Bundesverfassung von 1920 eine bedeutende Rolle spielen sollte, gerade auch hinsichtlich der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit. Im »Fall Kudrnáč« war Falser der Ansicht, dass das »Patent«, weil es sich der eindeutigen Qualifikation als Gesetz oder Verordnung entziehe, als rechtswidrig angesehen werden müsse. Durchsetzen konnte sich in der Diskussion jedoch eine andere Meinung, nämlich jene des Referenten Ferdinand Pantůček (1918–1925 Präsident des Obersten Verwaltungsgerichts der Tschechoslowakei). Dieser war der Ansicht, dass das »Annenpatent« keine Verordnung im Sinne der Verfassung sei und daher vom VwGH nicht überprüft werden könne; die Landesverwaltungskommission bestehe daher zu Recht, die Beschwerde sei als unzulässig zurückzuweisen.667 Zu diesem Beschluss verfasste nun Kelsen seinen bereits genannten Zeitungsartikel vom 5. November 1913 und verurteilte die Rechtsansicht des VwGH scharf: »[W]as soll denn ›Patent‹ anderes bedeuten als ›Verordnung‹?« Die Bezeichnung sei ganz irrelevant; wesentlich sei, dass das Patent vom Kaiser unter Gegenzeichnung sämtlicher Minister, nicht jedoch vom Parlament erlassen worden sei und daher kein Gesetz im formellen Sinne sei. »Mit diesem Gesetzesbegriff steht und fällt das konstitutionelle Prinzip. Wenn noch etwas anderes ›Gesetz‹ sein kann, dann ist die ganze Terminologie unserer Verfassungsgesetze sinnlos«. Kelsen übersah nicht »die außerordentliche schwierige Lage«, in der sich der VwGH befunden hatte. Seiner Argumentation zu folgen, würde aber »für jedes juristische Gewissen geradezu eine Folter bedeuten«, und was er angerichtet hatte, sei schlimmer, als was die Regierung gemacht habe. Denn diese »hat mit ihren Maßnahmen vom 26. Juli 1913 die Verfassung einmal und an einer einzigen Stelle durchbrochen. Der Verwaltungsgerichtshof hat aber mit seinem Versuche, diesen Verfassungsbruch juristisch zu rechtfertigen, unsere ganze Verfassung auf den Kopf gestellt, deren wichtigste Schranken verschoben, deren klarste Bestimmungen verwirrt.«668 Kelsen konnte sich diesen unglaublich scharfen Angriff auf ein Höchstgericht nur deshalb leisten, weil er den Artikel, wie erwähnt, anonym veröffentlichte; laut »Neuer Freier Presse« war er einfach »von einem Staatsrechtslehrer« verfasst; die Autorenschaft Kelsens wurde erst 1915 von Merkl gelüftet, als er sich dem »Annenpatent« in einem wissenschaftlichen Aufsatz über das »richterliche Überprüfungsrecht« ausführlich widmete;669 es ist gut möglich, dass Kelsen – der selbst zu dieser konkreten Problematik nicht noch einmal Stellung nahm – ihm in seinem Privatseminar dazu eine Anregung gegeben hatte; das Problem der richterlichen Überprüfung genereller Normen sollte ihn jedoch sein Leben lang nicht loslassen.
667 Beschluss des VwGH vom 6. 10. 1913, Z. 9709 (unveröffentlicht). Der Prozessakt ist im Národni archiv in Prag erhalten; vgl. Stourzh, Verfassungsbruch (1992) 141. 668 Kelsen, Verwaltungskommission (1913) 3 II–3 III = HKW III, 109–111. 669 Merkl, Das kaiserliche Patent vom 26. Juli 1913 (1915) 301 = MGS III/1, 10.
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d) Die Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht Der eben genannte Aufsatz Merkls670 erschien im zweiten Jahrgang der »Österreichischen Zeitschrift für öffentliches Recht«. Diese 1914 begründete Zeitschrift (die infolge des Ersten Weltkrieges ihr Erscheinen bereits nach dem dritten Band wieder einstellen musste) wurde von den beiden Professoren des Staats‑ und Verwaltungsrechts, Edmund Bernatzik und Adolf Menzel, dem emeritierten Völkerrechtler Heinrich Lammasch und dem 1911–1917 amtierenden Unterrichtsminister Max Ritter Hussarek von Heinlein (der zuvor das Kirchenrecht an der Universität Wien gelesen hatte671) herausgegeben.672 Laut Titelei der ersten Ausgabe wurden sie dabei von einem Redaktionskomitee unterstützt, das aus sieben weiteren Angehörigen des Lehrkörpers der Wiener rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät bestand. In alphabetischer Reihenfolge waren dies Fritz Hawelka, Ministerialsekretär im k. k. Handelsministerium und Privatdozent für Verwaltungsrecht, Alexander Freiherr Hold v. Ferneck, ao. Professor für Völkerrecht, Hans Kelsen, Privatdozent für Staatsrecht und Rechtsphilosophie, Rudolf Köstler, ao. Professor für Kirchenrecht, Rudolf Edler v. Laun, ao. Professor für Verwaltungsrecht, Hans Nawiasky, Privatdozent für Verwaltungsrecht sowie Emmanuel Hugo Vogel, Ministerial-Vizesekretär im k. k. Finanzministerium und Privatdozent für Finanzrecht.673 Dem korrespondiert die knappe Bemerkung Kelsens aus dem Jahr 1927, dass er die Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht (lediglich) »redigiert« hatte, wogegen er bei ihrer Nachfolgezeitschrift, der 1920 begründeten »Zeitschrift für Öffentliches Recht«, Herausgeber war.674 Etwas anders liest sich jedoch Kelsens Autobiographie aus dem Jahr 1947: Hier behauptet Kelsen nämlich, er selbst »gruendete die Oesterreichische Zeitschrift fuer Oeffentliches Recht. Als Herausgeber gewann ich die Professoren Bernatzik, Menzel, Lammasch und Hussarek, als Verlag die Firma Manz. Obgleich die Idee ausschließlich von mir ausgegangen war und ich die ganze Organisation und Redaktionsarbeit allein und ohne jede Bezahlung leistete, hielt ich es fuer richtig meinen Namen nicht auf dem Titelblatt erscheinen zu lassen. Nur auf der Innenseite des Titelblattes war ich als Redaktionssekretaer angegeben.«675 Mangels sonstiger Quellen zur Gründungsgeschichte kann die Richtigkeit dieser Aussage nicht überprüft werden;676 die allerdings durchaus glaubwürdig ist. Angesichts der strikten hierarchischen Ordnung der Universität wäre eine Mitherausgeberschaft des jungen Privatdozenten Kelsen neben den vier arrivierten Professoren auch 670 Merkl,
Das kaiserliche Patent vom 26. Juli 1913 (1915) = MGS III/1, 3–17. ihm Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 327–331. 672 Spörg, Zeitschrift für Öffentliches Recht (2009) 149 f.; Puff, 100 Jahre ZÖR (2014) 608. 673 Puff, 100 Jahre ZÖR (2014) 612; vgl. zu den meisten der genannten Personen auch Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 472 f. 674 Kelsen, Selbstdarstellung (1927) 8 = HKW I, 27. 675 Kelsen, Autobiographie (1947) 10 = HKW I, 44 f. Vgl. dazu auch Spörg, Die Zeitschrift für Öffentliches Recht (2009) 149. 676 Zweifel an dieser Darstellung hat etwa Puff, 100 Jahre ZÖR (2014) 607. 671 Vgl. zu
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
ganz und gar undenkbar gewesen; indem der Initiator aber selbst in den Hintergrund trat und unbezahlte Arbeit übernahm, sicherte ihm dies die Dankbarkeit der »Großen Vier«, was ihm später von Nutzen sein konnte. Dass Kelsen jedenfalls in der Redaktion die Hauptlast trug, wird daran sichtbar, dass er ab 1915 nicht mehr als Mitglied des Redaktionskomitees, sondern als »Redakteur« besonders genannt wurde. Im Übrigen war die Zusammenstellung der vier Herausgeber – zwei Verfassungsrechtler, ein Völkerrechtler, ein Kirchenrechtler – ebenso gut gewählt wie der Verlag und der Name der Zeitschrift. Inspirierend für Letzteren war wohl das schon mehrmals erwähnte »Archiv des öffentlichen Rechts« (bis 1911: »Archiv für öffentliches Recht«), das bei Mohr Siebeck in Deutschland (also beim selben Verlag, der Kelsens »Hauptprobleme« veröffentlicht hatte) erschien; für die ÖZÖR wurde der Wiener Verlag Manz gewählt, den Kelsen schon von seiner Publikation des Wahlrechtskommentars 1907 her kannte. Bis dahin hatten Österreichs Öffentlichrechtler nur entweder in deutschen Medien, wie etwa dem »AöR«, oder aber in vorwiegend privatrechtlich ausgerichteten Zeitschriften wie den »Juristischen Blättern« (JBl) publizieren können; das Bedürfnis nach einem derartigen neuen Medium war also durchaus groß. Das erste Heft umfasste 260 Seiten und enthielt fünf große Abhandlungen (die erste davon nicht eben zufällig von Kelsens Freund Friedrich Tezner), einen Judikaturteil sowie einen Literaturteil.677 Ganz am Ende dieser ersten Nummer, als Rezensent eines tschechischsprachigen Buches zum Völkerrecht, schien »Prof. Dr. Franz Weyr« auf, der dann auch in der zweiten Nummer selbst einen kleinen Beitrag, und zwar »Zum Unterschiede zwischen öffentlichem und privatem Recht« verfasste. Es sind dies die chronologisch ältesten Hinweise auf eine Zusammenarbeit zwischen den beiden so bedeutenden Rechtstheoretikern Kelsen und Weyr. Die Biographie von František (Franz) Weyr liest sich zum Teil geradezu komplementär zu jener Hans Kelsens: Während jener in Prag geboren wurde und in Wien studierte, kam Weyr, obwohl aus einer tschechischsprachigen Familie stammend, am 25. April 1879 in Wien zur Welt und wurde an der tschechischen Universität Prag zum JDr. promoviert; 1908 erfolgte ebenfalls in Prag seine Habilitation, zunächst für das Fach Verwaltungsrecht, dann auch für Statistik. 1912 wurde Weyr Professor an der Technischen Hochschule in Brünn [Brno/CZ].678 Als nach dem Ersten Weltkrieg, 1919, die Masaryk-Universität Brünn gegründet wurde, wurde Weyr zum Professor an 677 Bemerkenswert ist, dass Kelsen in der gesamten Zeit des Bestehens der »alten« ÖZÖR (1914– 1918) keinen einzigen Aufsatz, sondern lediglich vier Buchbesprechungen veröffentlichte. Namentlich rezensierte er eine Sammlung von Aufsätzen des Prager Professors Ludwig Spiegel (Kelsen, Buchbesprechung Spiegel [1914] = HKW III, 427–438), die Habilitationsschrift von Leonid Pitamic (Kelsen, Buchbesprechung Pitamic [1915/16] = HKW III, 543–550), eine rechtspolitische Schrift von Rudolf v. Laun zur Nationalitätenfrage (Kelsen, Buchbesprechung Laun [1918] = HKW IV, 83–85; vgl. dazu Rub, Kelsens Völkerrechtslehre [1995] 61) sowie eine Abhandlung des Grazer Dozenten Norbert Wurmbrand zur Rechtsstellung Bosniens und der Herzegowina (Kelsen, Buchbesprechung Wurmbrand [1918] = HKW IV, 87–96). 678 Merkl, Weyr (1953) 5 = MGS III/2, 467; Domej, Weyr und Kelsen (2003) 46, 51.
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der dortigen juristischen Fakultät ernannt und begründete hier die »Brünner rechtstheoretische Schule«, das tschechische Pendant zu der in vieler Hinsicht ähnlichen »Wiener rechtstheoretischen Schule« Hans Kelsens.679 Schon 1908 hatte Weyr im AöR eine Abhandlung veröffentlicht, in der er die traditionelle Lehre von der Wesensverschiedenheit des öffentlichen Rechts vom Privatrecht abstritt, eine These, die ja auch Kelsen in seinen »Hauptproblemen« sowie auch in seinem 1913 erschienenen Aufsatz über das »öffentliche Rechtsgeschäft« aufstellte.680 Weyr berichtet in seinen Memoiren, dass er Kelsen erst über dessen Buch kennengelernt, dieses »gierig gelesen« und die vielen Parallelen zu seinen eigenen Gedankengängen erkannt habe, weshalb er unbedingt ein Treffen mit dem Autor wünschte. Dieses vermittelte ihm sein Freund Dr. Emil Perels und fand im Gebäude der Wiener Universität statt; unmittelbar darauf habe ihn Kelsen in seine Wohnung eingeladen, wo er auch seine Frau und seine Töchter kennengelernt habe.681 Dies kann frühestens nach der Geburt von Kelsens zweiter Tochter im Dezember 1915 gewesen sein. Das letzte persönliche Treffen wird vermutlich stattgefunden haben, als Kelsen im Februar 1938 von Prag nach Genf reiste; insgesamt standen Weyr und Kelsen also »nur« 23 Jahre lang miteinander in persönlichem Kontakt, versuchten aber, ihre Verbindung, so gut es eben aufgrund der politischen Verhältnisse ging, per Briefwechsel aufrecht zu halten und blieben so bis zu Weyrs Tod 1951 freundschaftlich miteinander verbunden. Jedenfalls sind diese Memoiren für uns eine besonders wertvolle Quelle, da sie uns auch einige recht private Einblicke in die Persönlichkeit Kelsens und sogar eine Beschreibung seines Äußeren bieten: »[Kelsen] hatte eine filigrane Figur, ein regelmäßiges Gesicht, dunkle Haare und einen Schnurrbart und ein unglaublich lebhaftes Temperament, das sich schon im Blick seiner Augen äußerte.«682 Nicht alles, was Weyr über Kelsen zu berichten wusste, war positiv, was aber die Glaubwürdigkeit dieser Quelle nur noch steigert: So berichtet Weyr, dass er Kelsen einmal, als dieser einen Vortrag in Brünn hielt, einlud, das ehemalige Schlachtfeld von Austerlitz [Slavkov/CZ] mit seinen Gedenkstätten zu besuchen, worauf ihm Kelsen entgegnete, dass er an derartigen historischen Denkmälern kein Interesse habe. Weyr bezeichnete dies als typisch für Kelsen, dessen Interessen auch sonst »offensichtlich einseitig« und »ziemlich begrenzt« gewesen seien; auch für Kunst hatte Kelsen nach Ansicht Weyrs »keinen Sinn«.683
679 Vgl.
Goller, Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1997) 172.
680 Kelsen, Hauptprobleme (1923) VIII. Vgl. dazu auch Merkl, Weyr (1953) 9 = MGS III/2, 472. 681 Weyr,
Paměti I (1999) 415.
682 Weyr, Paměti I (1999) 415. Die a. a. O. von Weyr überlieferte Behauptung, Kelsen sei sephar-
discher Herkunft gewesen, ist ein Irrtum und bezieht sich wohl eher auf die Herkunft von Grete Kelsen. 683 Weyr, Paměti I (1999) 415 f.
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e) Kelsen und die Soziologie Am 31. Jänner 1911, also noch kurz bevor Kelsen seine Habilitationsschrift eingereicht hatte, hatte er in der Soziologischen Gesellschaft zu Wien einen Vortrag »Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode« gehalten. Die Soziologische Gesellschaft war 1907 mit dem Ziel gegründet worden, die Soziologie als Studienfach sowie als Bestandteil der politischen Bildung an den Schulen zu etablieren, was ja ganz auf der Linie von Kelsen lag.684 Zu den Gründern der Gesellschaft gehörten Ludo Hartmann – der vermutlich Kelsen in diesen Kreis eingeführt hatte – sowie einige weitere profilierte Vertreter des Austromarxismus wie Max Adler und Karl Renner, die Kelsen möglicherweise hier kennenlernte.685 Der Vortrag wurde später in Form einer 64 Seiten starken Broschüre auch veröffentlicht.686 Im Wesentlichen war er, wie Kelsen im Vorwort selbst einbekannte, ein Exzerpt von »verschiedenen Partien« seiner Habilitationsschrift, aus denen z. T. wörtlich Textpassagen übernommen wurden; hauptsächlich ging es hier erneut um die Trennung von Sein und Sollen – wobei er der Naturrechtslehre vorwarf, in unzulässiger Weise normative und explikative Betrachtungsweise zu vermengen – und um die Unterscheidung des Willens im psychologischen Sinne vom Willen im juristischen Sinne. Ganz ähnlich war auch der Aufsatz Kelsens »Sociologická a právnická idea státni [Die soziologische und die juristische Staatslehre]« gehalten, den er 1913/14 in dem von der rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät der tschechischen Universität Prag herausgegebenen »Sborník věd právních a státních« [Rechts‑ und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen] publizierte; die Übersetzung seines deutschen Manuskripts ins Tschechische hatte Karel Engliš besorgt, zu jener Zeit ao. Professor an der Technischen Hochschule Brünn und neben Weyr eines der wichtigsten Mitglieder der »Brünner rechtstheoretischen Schule«, zu der nun schon offenbar gute Kontakte bestanden. Auch hier unterschied Kelsen scharf zwischen »normativer« und »explikativer« Erkenntnis und sah das »Wesen der Normwissenschaften« darin, dass sie »Normen […] erkennen und begreifen«, ohne selbst Normen zu erzeugen.687 Deutlich kommt heraus, dass Kelsen den Staat nur als eine rechtliche Entität erfassen kann und will: »Der Versuch der organischen Staatstheorie, den Staat, also das rechtlich aus irgendeinem Grund als Einheit anzusehende Gebilde, zugleich als soziologische Einheit zu begreifen, die auf dem Prinzip der Parallelität sozialpsychischer Interessen beruht, ist gescheitert und muss stets notwendig scheitern.«688 Mit derartigen Äußerungen erntete Kelsen wohl Beifall bei den Anhängern der »Brünner Schule«, aber kaum bei jenen der »Freirechtslehre«, einer anderen 684 Siehe
oben 127. in HKW III, 24; Potacs, Marxismus (2014) 82. 686 Kelsen, Über Grenzen (1911) = HKW III, 22–55 = WRS 3–30. 687 Kelsen, Sociologická a právnická idea státni (1913/14) 71 = HKW III, 174 (dt. Übers. HKW III, 205). 688 Kelsen, Sociologická a právnická idea státni (1913/14) 82 = HKW III, 184 (dt. Übers. HKW III, 216). 685 Jestaedt
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2. Kapitel: Die Anfänge der Wiener Schule
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juristischen Strömung jener Zeit, die gerade die Bedeutung des »tatsächlich gelebten Rechts« für die Rechtswissenschaft hervorhob.689 Als eine Schule im klassischen Sinne kann sie nicht bezeichnet werden; vielmehr entstanden ihre Thesen in einem eher losen Dialog zwischen drei quer über Europa verstreuten Professoren: Hermann Kantorowicz in Freiburg i. Br. und Ernst Fuchs in Karlsruhe sowie Eugen Ehrlich in Czernowitz, ganz am östlichen Rand der Habsburgermonarchie. Bereits 1912 hatte sich Kelsen mit Kantorowicz’ Schrift »Rechtswissenschaft und Soziologie« kritisch auseinandergesetzt und dessen Ausführungen über die Aufgabe der Rechtswissenschaft und die Rolle, welche die Soziologie hierbei spielen könne, zurückgewiesen. Kantorowicz hatte die Behauptung aufgestellt, dass die »herrschende Rechtswissenschaft« – worunter er die sog. Begriffsjurisprudenz verstand – ihre Lösungen nur aus dem Buchstaben des Gesetzes heraussuche, ohne nach dem Zweck einer Regelung zu fragen; dieser aber könne nur mit einem Blick in die Rechtswirklichkeit erkannt werden. Nun hatte Kelsen ganz und gar nichts dagegen einzuwenden, wenn ein Richter sich Gedanken über den Zweck einer Regelung mache; im Gegenteil sei dies zu allen Zeiten erfolgt, wenn das Gesetz dem Richter einen Spielraum, ein Ermessen einräumte. Aber dieses Ermessen ging doch immer nur so weit, als es das Gesetz zuließ; von einem »Judizieren sine lege«, wie es Kantorowicz forderte, könne keine Rede sein.690 Etwa zur selben Zeit, 1913, veröffentlichte Eugen Ehrlich sein wissenschaftliches Hauptwerk, »Grundlegung der Soziologie des Rechts«, in dem er die Behauptung aufstellte, »daß ein großer Teil des Rechts in der Vergangenheit nicht vom Staate geschaffen worden ist, und daß es auch heute noch zu einem großen Teil aus anderen Quellen fließt.«691 Der Czernowitzer Professor spielte damit auf das Gewohnheitsrecht an (dessen angeblich nichtstaatliche Herkunft er nicht als beweisbedürftig erachtete). Aber Ehrlich ging es um mehr, als nur die reale Bedeutung des Gewohnheitsrechts aufzuzeigen: Er wollte die Bedeutung der »Rechtstatsachen« hervorheben, die seines Erachtens älter waren als die »Rechtssätze« (worunter er eine »allgemeinverbindliche Fassung einer Rechtsvorschrift in einem Gesetze oder einem Rechtsbuch« verstand): »Der Staat war früher da als die Staatsverfassung, die Familie ist älter als die Familienordnung, der Besitz ging dem Eigentum voraus, es gab Verträge, bevor noch ein Vertragsrecht vorhanden war, und selbst das Testament, wo es urwüchsig entstanden ist, reicht über das Testamentsrecht hinaus.« Sogar die Rechtspflege war nach Ansicht Ehrlichs am Anfang nicht staatlichen Ursprunges – welchen Ursprungs sie sein sollte, erklärte Ehrlich nicht, sondern verwies in farbigen Worten auf die »Gerichtsszene auf dem Schilde des Achilleus« –, und erst lange nach 689 Vgl. zum Folgenden Goller, Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1997) 134–139.
690 Kelsen, Zur Soziologie des Rechtes (1912) 605 = HKW III, 83. Vgl. Goller, Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1997) 146. 691 Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts (1913) 8. Vgl. zu ihm Johnston, Geistesgeschichte (2006) 102–105.
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
der »Verstaatlichung der Rechtspflege« ging der Staat schließlich auch daran, selbst Recht zu erzeugen.692 Derartige Behauptungen mussten natürlich den entschiedenen Widerspruch Kelsens hervorrufen, und 1915 veröffentlichte er im »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« eine mit fast 40 Seiten sehr ausführliche und, wie Ehrlich später meinte, »durchaus abfällige Anzeige meines Buches«.693 Denn Kelsen empfand es als einen »schwere[n] Mangel des Ehrlichschen Werkes […], daß seine Grundlegung der Rechtssoziologie von allem Anfang an die klare und deutliche Scheidung von Wert‑ und Wirklichkeitsbetrachtung vermissen läßt.«694 Er warf ihm also »Methodensynkretismus«, im Besonderen eine unzulässige Vermengung von normativer und explikativer Methode vor. Dies etwa, wenn Ehrlich behaupte, dass eine Regel des Handelns »selbstverständlich eine Regel, nach der nicht nur gehandelt wird, sondern auch gehandelt werden soll« sei.695 »Dieser Satz ist aber offenbar falsch!«696 Es führe kein logischer Schluss vom Einen zum Anderen. Und wenn Ehrlich behaupte, es habe Verträge noch vor einem Vertragsrecht gegeben, so handle es sich um eine »primitive Verwechslung von zeitlicher und logischer Relation«. Denn warum jemand verpflichtet sein soll, das zu leisten, was er im Vertrag versprochen habe, könne überhaupt nicht kausal erklärt werden, sondern nur dann, »wenn ich einen Satz voraussetze, der aussagt, daß unter bestimmten Bedingungen bestimmte Personen sich in bestimmter Weise verhalten sollen, also unter Voraussetzung einer Norm«. Abgesehen von diesem Hauptfehler Ehrlichs warf ihm der junge Privatdozent viele kleinere Mängel vor, wie vor allem eine »willkürliche« Terminologie, so etwa bei der oben zitierten Definition des Rechtssatzes, die natürlich völlig von der Definition, die Kelsen selbst in seiner Habilitationsschrift unternommen hatte, abwich. Abschließend musste Kelsen feststellen, dass »[d]er Versuch Ehrlichs, für die Soziologie des Rechts eine Grundlegung zu schaffen, […] als völlig gescheitert gelten [müsse]: vor allem infolge des gänzlichen Mangels einer klaren Problemstellung und einer präzisen Methode.«697 Kelsens Kritik war so scharf, dass Ehrlich sich genötigt sah, in derselben Zeitschrift eine »Entgegnung« zu schreiben, in der er Kelsen vorwarf, dass dieser versucht habe, »ihn nahezu für einen Idioten zu erklären.« Denn er, Ehrlich, habe niemals »Seinsregeln« und »Sollensregeln« miteinander vermengt und »das Recht immer nur als Sollregel […] behandelt.« Nun ging Ehrlich zum Gegenangriff über und war in seinem Tonfall nicht weniger scharf als zuvor Kelsen: »Und nun fordre ich Kelsen allen 692 Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts (1913) 28 f., 112, 115. Mit der von ihm zitierten Gerichtsszene ist Homer, Ilias, 18. Gesang, Verse 497–508, gemeint. Inwiefern diese Verse irgendetwas beweisen sollen, bleibt unklar. 693 Ehrlich, Entgegnung (1916) 57. 694 Kelsen, Rechtssoziologie (1914/15) 842 = HKW III, 322. Vgl. dazu auch die Verteidigung Ehrlichs durch Lüderssen, Ehrlich (2005) 272 sowie Goller, Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1997) 147. 695 Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts (1913) 7. 696 Kelsen, Rechtsoziologie (1914/15) 843 = HKW III, 323. 697 Kelsen, Rechtssoziologie (1914/15) 849 f., 876 = HKW III, 329 f., 357.
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2. Kapitel: Die Anfänge der Wiener Schule
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Ernstes, nach den Sollregeln des literarischen Anstandes, auf, zu erklären, wo er eine solche Lehre [die Seinsregel und Sollregel vermenge] bei mir gefunden hat.«698 Die Unterscheidung zwischen »Rechtssatz« und »Rechtsnorm« sei keineswegs neu, sondern schließe »an die Bindingsche Unterscheidung von Strafgesetz und Strafnorm an«, und auch Gierke habe den Rechtssatz im Wesentlichen so definiert wie er selbst. Freilich verwende Kelsen in seinen eigenen Werken den Begriff in anderer Art und Weise. »Aber eines dürfte er nicht: mir seine eigene Terminologie zu unterschieben, und das, was ich sage, als Unsinn zu bezeichnen, weil es zum Kelsenschen terminologischen Eigenbau nicht stimme.«699 Genau dies habe Kelsen aber getan: »An Stelle dessen, was ich gesagt habe, wird irgend eine Kelsenerie gesetzt, und dann wird drauf los argumentiert«. Es sei dies eine Art von Polemik, die »schon die ›Hauptprobleme der Staatsrechtswissenschaft‹ zu einem so erquickenden Buche gemacht« habe.700 Damit war Kelsen plötzlich der Angegriffene, und er zögerte nicht, eine »Replik« zu schreiben, die um die Jahreswende 1916/17, abermals im »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik«, veröffentlicht wurde. Von Ehrlich direkt angesprochen, wo er denn in Ehrlichs Buch eine »Vermengung der Seins‑ und Sollens-Bedeutung der Rechtsregel begangen habe […] antworte [ich] ihm darauf: In jedem Satze seines Buches, das als Ganzes nur durch diese Vermengung möglich wurde.«701 Ehrlich begreife einfach nicht, dass die generelle Rechtsnorm »logisch (und nicht zeitlich, wie er irrtümlich der herrschenden Auffassung imputiert) jedem konkreten Rechtsverhältnis vorausgesetzt werden [müsse], damit dieses als Rechts-Verhältnis erkannt werde«.702 Kelsen hatte geglaubt, mit dieser Replik das letzte Wort in seinem Streit mit dem Czernowitzer Professor gehabt zu haben.703 Doch noch einmal griff Ehrlich zur Feder und verfasste eine Replik der Replik. Allerdings war sie viel kürzer und auch kraftloser als seine erste Entgegnung: Nun beschränkte er sich darauf zu behaupten, dass ihn Kelsen falsch zitiert habe, und beteuerte noch einmal, »daß ich unter Regeln des Handelns nicht Naturgesetze, sondern Sollregeln verstehe.«704 Worauf Kelsen seinerseits noch ein kurzes »Schlusswort« verfasste und behauptete, Ehrlich richtig zitiert zu haben.705
698
Ehrlich, Entgegnung (1916) 57 f. Entgegnung (1916) 61. 700 Ehrlich, Entgegnung (1916) 62, 64. 701 Kelsen, Replik (1916) 850 = HKW III, 608 f. 702 Kelsen, Replik (1916) 852 f. = HKW III, 611. 703 Jestaedt in HKW III, 608 Anm. 5. 704 Ehrlich, Replik (1916/17) 76. 705 Kelsen, Schlusswort (1916/17) = HKW III, 613–614. Die Wahrheit lag natürlich in der Mitte: Der inkriminierte Satz (»Auch hier erfüllt die Wissenschaft als Lehre vom Recht ihre Aufgabe sehr schlecht, wenn sie bloß darstellt, was das Gesetz vorschreibt, und nicht auch, was wirklich geschieht«: Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts [1913] 398) wurde von Kelsen in seiner ursprünglichen Buchbesprechung (Kelsen, Rechtssoziologie [1914/15] 873 = HKW III, 354) komplett, in seiner Replik (Kelsen, Replik [1916/17] 851 = HKW III, 609) dagegen verkürzt – oder nach Ansicht Ehrlichs: verstümmelt – wiedergegeben. 699 Ehrlich,
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
Die Debatte zwischen Ehrlich und Kelsen hatte sich über vier Jahre, von 1913 bis 1917, hingezogen. Eugen Ehrlich unterließ es, auf dieses »Schlusswort« seines Kontrahenten noch irgendwie zu reagieren. Es hätte wohl keinen Sinn gehabt. Kelsen war der Sieger in dem Duell, und seine Kritik an Ehrlichs Rechtsvorstellungen hatte maßgeblichen Anteil daran, dass sich die Freirechtsbewegung in Österreich niemals durchsetzen konnte. Für Kelsen dagegen bedeutete der literarische Zweikampf mit dem viel älteren, arrivierten Professor, der immerhin 1906/07 Rektor der Franz-JosephsUniversität zu Czernowitz gewesen war, einen ungeheuren Popularitätsschub. Ehrlich dagegen war zu jener Zeit von ganz anderen Problemen geplagt, zumal er 1914 fluchtartig vor den heranrückenden russischen Truppen aus Czernowitz fliehen und große Teile seines wissenschaftlichen Materials hatte zurücklassen müssen.706 Seine »Entgegnung« und seine »Replik« zu Kelsen hatte Ehrlich daher im Exil geschrieben; er lebte während des Krieges teils in Wien und Niederösterreich, teils in Genf, Zürich, Bern und Neapel. Nach dem Krieg wurde die 1914 geschlossene Universität Czernowitz – nunmehr im Königreich Rumänien gelegen – wiedereröffnet, jedoch mit Beginn des Wintersemesters 1919/20 auf die rumänische Sprache umgestellt. Da die Versuche Ehrlichs, an einer deutschsprachigen Universität unterzukommen, gescheitert waren, bemühte er sich nun als einer der wenigen »Vorkriegsprofessoren«, die rumänische Sprache soweit zu erlernen, dass er an seine Universität zurückkehren konnte, und zog nach Bukarest, starb jedoch am 2. Mai 1922, noch nicht sechzig Jahre alt, in Wien. »Die materielle Not hat sicher zur Beschleunigung seines Todes beigetragen.«707 Übrigens ist nicht bekannt, ob sich Ehrlich und Kelsen jemals persönlich begegnet sind, oder ob ihr Streit ausschließlich auf publizistischer Ebene ausgetragen wurde. Dagegen erwähnt Kelsen in seiner Autobiographie, dass er einen anderen bedeutenden Soziologen, nämlich Max Weber, »während der kurzen Zeit kennen« lernte, als dieser »hervorragende Mann […] in Wien nach dem I. Weltkrieg taetig war.«708 Auch hier handelt es sich um eine Passage in Kelsens Autobiographie, bei der ihn seine Erinnerung im Stich ließ: Denn Weber lehrte nicht nach, sondern während des Krieges ein Semester lang an der Universität Wien: Im September 1917 hatte ihn die Wiener rechts‑ und staatswissenschaftliche Fakultät »unico loco« als Nachfolger für den drei Monate zuvor verstorbenen Eugen v. Philippovich dem Ministerium vorgeschlagen, und im April 1918 kam Weber aus Heidelberg an die Alma Mater Rudolphina. Er hielt es hier nicht lange aus, sondern reichte schon im Juni sein Entlassungsgesuch ein und zog weiter nach München.709 Vielleicht war daran die 706 Während
des Ersten Weltkrieges wurde Czernowitz nicht weniger als sechsmal von der russischen Armee erobert und jedesmal von der k. u. k. Armee zurückerobert. Mit dem Zerfall der Habsburgermonarchie 1918 gelangte Czernowitz für wenige Tage an die Ukraine, dann an Rumänien; vgl. Lüderssen, Einführung (2003) X; Staudigl-Ciechowicz, Universitäten (2014) 229. 707 Kawakami, Ehrlich (1987) 256; vgl. auch Rehbinder, Ehrlich (1986) 28. 708 Kelsen, Autobiographie (1947) 8 = HKW I, 41; vgl. auch Métall, Kelsen (1969) 12. 709 Marianne Weber, Max Weber (1926) 616–619; Girtler, Weber in Wien (2013) 3, 14.
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2. Kapitel: Die Anfänge der Wiener Schule
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österreichische Unterrichtsverwaltung schuld, die sich viel Zeit mit der Gehaltsauszahlung ließ, oder ein – sehr emotional geführtes – Streitgespräch mit dem Nationalökonomen Joseph Schumpeter, einem Freund Kelsens, im Café Landtmann, oder es waren andere Gründe ausschlaggebend.710 Auch ist unbekannt, wann und auf welche Weise konkret Weber und Kelsen miteinander in Kontakt kamen und über welche Themen sie damals sprachen – vielleicht über den Wertrelativismus, der sie beide verband?711 Dass Weber nur so kurz in Wien blieb, hatte jedenfalls bedeutende Folgen für die Fakultät: Denn nun wurde auf den wieder frei gewordenen Lehrstuhl für »Politische Ökonomie« (in dessen Rahmen auch die Soziologie gelesen wurde) Othmar Spann aus Brünn berufen. Er trat sein Amt im Oktober 1919 an und sollte sich zu einem erbitterten Gegner der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, wie sie u. a. von Kelsens Freunden Ludwig Mises und Hans Mayer vertreten wurde, entwickeln. Seine eigenen soziologischen Thesen aber wurden zu einem Nährboden des Austrofaschismus.712 f ) Miscellanae Die berufliche Tätigkeit Kelsens für Handelsmuseum und Exportakademie fand schließlich auch in mehreren Publikationen ihren Niederschlag, die wohl zu den ungewöhnlichsten im Œuvre Kelsens zählen: Zu nennen ist hier zunächst sein Aufsatz über »Industrieförderung in Rumänien«,713 der im Februar 1912 in der von der Direktion des Handelsmuseums herausgegebenen Wochenzeitschrift »Das Handelsmuseum« erschien. Er befasst sich mit der Regierungsvorlage zu einem (zum Zeitpunkt der Drucklegung schon beschlossenen) rumänischen Gesetz, das u. a. die finanzielle Förderung gewisser Unternehmungen sowie die Einhebung neuer Zölle vorsah; Kelsen gab einen Überblick über die wesentlichsten Inhalte dieses Gesetzes (dessen Entwurf ihm wahrscheinlich in Form einer deutschen Übersetzung vorlag), ohne sie in irgendeiner Weise zu bewerten.714 Es ist anzunehmen, dass es sich beim Aufsatz um eine höchstens geringfügig überarbeitete Fassung eines Memorandums handelte, das Kelsen für das Handelsmuseum, vielleicht für Hemme Schwarzwald, zu verfassen hatte. Noch im selben Jahr folgte die Besprechung eines Buches, das sich mit den »Aufgaben der Elektrizitätsgesetzgebung« beschäftigte, in der »Zeitschrift für 710 Girtler,
Weber in Wien (2013) 7, 12, 67. Kelsens Schriften finden sich auffallend wenig direkte Bezugnahmen auf Max Weber, vgl. aber Kelsen, Staatsbegriff (1921), wo er den Staatsbegriff der von Weber entwickelten »verstehenden Soziologie« kritisierte und die Soziologie als »unvollständige Wissenschaft« bezeichnete, da sie ihre Grundbegriffe aus anderen Disziplinen (so etwa den Staatsbegriff aus der Jurisprudenz) entlehnen müsse. 712 Beschluss des Staatsratsdirektoriums vom 30. 1. 1919, Z. 1681, in: ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 614, Personalakt Spann Othmar. Vgl. Johnston, Geistesgeschichte (2006) 313– 317; Hülsmann, Mises (2007) 368; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 581. 713 Kelsen, Industrieförderung (1912) = HKW III, 65–72. 714 Jestaedt in HKW III, 649. 711 In
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung«.715 Und im Juni 1913 erschien, wiederum in der Zeitschrift »Das Handelsmuseum«, der Aufsatz »Der Buchforderungseskont und die inakzeptable deckungsberechtigte Tratte«. Dabei ging es um das Phänomen, dass besondere »Eskontinstitute« – von denen es laut Kelsen schon über 80 in Österreich gab – noch nicht fällige Wechsel verbilligt ankauften (eskontierten), damit die Gläubiger rascher zu ihrem Geld kamen, auch wenn diese damit einen gewissen Verlust, den sog. Eskont, hinnehmen mussten. In der Praxis handelte es sich vielfach um Kredite, die über Eskontinstitute überhaupt erst vermittelt wurden und bei denen jene Personen, die das Geld benötigten, nicht als Aussteller, sondern als Akzeptanten auftraten, »während der Warenschuldner, der bei einem gesunden Kreditverkehr als Akzeptant zu erscheinen hätte, in der von dem Eskontinstitute ausgestellten Tratte überhaupt nicht ersichtlich gemacht ist.«716 Ein Gesetzentwurf sah daher auch vor, dass der Aussteller eines Wechsels durch einen entsprechenden Vermerk die Präsentation zum Akzept ausschließen konnte – und dies wurde als »inakzeptable Tratte« bezeichnet. Kelsen konnte dieser geplanten Neuerung durchaus einiges abgewinnen und versprach sich von ihr insbesondere eine »Verbesserung der Zahlungssitten und Verbilligung des Kredits.«717 Wichtiger vermutlich als diese Aufsätze war ein Gutachten, das Kelsen Anfang 1913 im Auftrag der Exportakademie verfasste und das sich mit der rechtlichen Stellung derselben beschäftigte, insbesondere mit der Frage, ob sie sich als eine »Handelshochschule« bezeichnen dürfe.718 Er bejahte diese Frage und unterstützte damit die Bemühungen der Exportakademie um Aufwertung ihrer rechtlichen Position, die – allerdings erst 1919 – zur Umwandlung in eine »Hochschule für Welthandel« führten.719 Kelsen selbst dürfte schon vor Erstellung seines Gutachtens Anerkennung in der Exportakademie gefunden haben; bereits im April 1913 bemühte sich sein Vorgesetzter Prof. Seidler gemeinsam mit dem Zivilrechtler Prof. Rudolf Pollak um die Schaffung eines Balkan‑ und Orientinstituts samt Professur, für die Kelsen vorgesehen war. Im Herbst 1913 wurde Kelsen von den Dozenten zu ihrem Sprecher gewählt; mit Wirkung vom 10. Juni 1914 wurde er, wie bereits erwähnt, hauptamtlicher Dozent für öffentliches Recht an der Exportakademie. »Das war fuer mich ein hoechst bedeutungsvoller Schritt, da ich nun meine ganze Zeit dem Gegenstande widmen konnte, dem meine wissenschaftliche Arbeit galt. Meine Freude ueber diesen Erfolg waehrte nicht lange. Denn kurz nach meiner Ernennung zum Dozenten an der Exportakademie brach der Krieg aus, und ich musste als Reserveoffizier zu meiner Truppe einruecken.«720
715 Kelsen,
Buchbesprechung (1912) = HKW III, 73–75. Buchforderungseskont (1913) 290 = HKW III, 97. 717 Kelsen, Buchforderungseskont (1913) 291 = HKW III, 102. 718 Kelsen, Exportakademie-Gutachten 1913. 719 Busch, Kelsen an der Exportakademie (2010) 91. 720 Kelsen, Autobiographie (1947) 10 f. = HKW I, 46 f. 716 Kelsen,
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Drittes Kapitel
Der Erste Weltkrieg 1. Die Einberufung Am 28. Juni 1914 waren der österreichisch-ungarische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin in Sarajewo von einem serbischen Nationalisten ermordet worden. Das Attentat wurde in Wien und Budapest als Angriff auf die Doppelmonarchie selbst gewertet, der mit einem Militärschlag gegen Serbien erwidert werden müsse – wohl wissend, dass hinter Serbien das Russische Kaiserreich stand und die Bündnispolitik der europäischen Mächte den ganzen Kontinent, ja die ganze Welt in diesen Krieg ziehen würde. Die Chancen, ein globales Mächteringen, einen Weltkrieg, zu verhindern, wurden aber geradezu mit Absicht vertan, da die überall vorherrschende Kriegslust auf einen Anlass wie das Attentat von Sarajewo nur gewartet hatte.721 Der gemeinsame österreichisch-ungarische Ministerrat beschloss am 19. Juli, eine »Démarche« an Serbien zu richten, die Forderungen enthalten sollte, welche für Serbien unerfüllbar waren, um so einen casus belli zu erhalten. Tatsächlich antwortete Serbien auf das Ultimatum in ausweichender Art und Weise, worauf Österreich-Ungarn am 28. Juli 1914, einen Monat nach dem Attentat, an Serbien den Krieg erklärte. Wie erwartet, hatte dieser Schritt die gegenseitigen Kriegserklärungen fast aller europäischen Staaten zur Folge. Am 5. August erklärte Österreich-Ungarn den Krieg auch an Russland; am 11. und 12. August folgten Frankreich und Großbritannien mit Kriegserklärungen an Österreich-Ungarn, das seinerseits Rückendeckung vom Deutschen Reich erhielt.722 Dieser zeitversetzte Kriegsbeginn führte in der k. u. k. Armee zu verhängnisvollen Komplikationen, da zunächst die – schon seit langem vorbereiteten – Aufmarschpläne für den »Kriegsfall B« (d. h. für einen nur auf dem Balkan geführten Krieg) zur Anwendung kamen, jedoch noch während dieses Aufmarsches der »Kriegsfall R« (Krieg gegen Russland und am Balkan) eintrat, weshalb bedeutende Truppenteile erst nach Süden, dann nach Osten geworfen wurden, was wertvolle Zeit kostete, während Russland seine Truppen überraschend schnell mobilisieren konnte.723 Bereits am 721 Die Literatur zu diesem Thema ist uferlos. Vgl. aus österreichischer Sicht etwa: Bihl, Der Erste Weltkrieg (2010) 43 ff.; R auchensteiner, Der Erste Weltkrieg (2013) 85 ff.; Höbelt, »Stehen oder Fallen?« (2015) 11 f.; Moll, Mentale Kriegsvorbereitung (2016). 722 R auchensteiner, Der Erste Weltkrieg (2013) 137 f. 723 Wagner, Der Erste Weltkrieg (1993) 41–45; Bihl, Der Erste Weltkrieg (2010) 49; R auchen steiner, Der Erste Weltkrieg (2013) 163 ff.; Jeřábek, Kriegsverlauf (2016) 211 ff.
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
Abb. 17: Kelsen als Oberleutnant, ca. 1915.
23. August nahm die russische Armee Brody ein, am 6. September mussten die k. u. k. Truppen Lemberg räumen, zeitweise befand sich der größte Teil Galiziens in russischer Hand, was nicht zuletzt einen Strom von Flüchtlingen, viele von ihnen jüdischer Herkunft, in den Westen zur Folge hatte.724 Die schlecht auf den Krieg vorbereitete, mangelhaft ausgerüstete und zahlenmäßig unterlegene k. u. k. Armee musste riesige Verluste hinnehmen: Bis zum Jahresende 1914 waren bereits rund eine Million k. u. k. Soldaten gefallen, verwundet, erkrankt, gefangen oder vermisst. Während des gesamten vierjährigen Krieges konnte sich die Monarchie vom Blutzoll der ersten Monate nicht mehr erholen.725 Dazu kam noch, wie Kelsen später hervorhob, dass es gerade »die präsent dienenden Jahrgänge, die subalternen Berufsoffiziere und Berufsunteroffiziere«, also die am besten ausgebildeten Soldaten waren, die schon in den ersten Schlachten »zum großen Teile infolge Tod oder Verwundung ausgeschieden sind, sodaß dieser Krieg hauptsächlich mit Truppen geführt wurde«, die erst während des Krieges in aller Eile ausgebildet worden waren.726 Geradezu eine Schlüsselrolle kam 724 Die
Gesamtzahl der österreichischen Flüchtlinge bis 1. Oktober 1915 betrug 385.645, davon galten 157.630 als Israeliten: Rumpler, Habsburgermonarchie XI/2 (2014) 138. 725 Rumpler, Habsburgermonarchie XI/2 (2014) 161; Schramm, Die letzte Bewährungsprobe des Zarenreiches (1983) 489; R auchensteiner, Der Erste Weltkrieg (1993) 200; Wagner, Der erste Weltkrieg (1993) 54. 726 Kelsen, Wehrmacht (1917) 11 = HKW III, 619. Er sah dies als einen Beweis für die Zweckmäßigkeit eines Milizsystems.
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3. Kapitel: Der Erste Weltkrieg
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hier den Reserveoffizieren zu, die sehr bald und in hohem Maße zur aktiven Kriegsdienstleistung verpflichtet wurden.727 Hans Kelsen war bereits am 1. August aktiviert worden. Er hatte sich innerhalb von drei Tagen bei der k. u. k. Traindivision Nr. 14 in Innsbruck als Zugskommandant der Mannschaftsersatzabteilung zu präsentieren. Diese Division war dem XIV. Armeekorps, dem »Edelweißkorps« zugeordnet, dem auch die »Kaiserjäger« angehörten, eine Elitetruppe, die nach Galizien geschickt und dort schon innerhalb weniger Wochen regelrecht aufgerieben wurde. Hans Kelsen jedoch gelangte niemals an die Front: »Eine schwere Lungenentzuendung brachte mich so herunter, dass ich [am 19. September] ›superarbitriert‹ [= für dienstuntauglich erklärt] und ›nur zu Kanzleidiensten faehig‹ erklaert wurde.«728 Nachdem er halbwegs genesen war, wurde Kelsen am 1. Dezember 1914, mit dem Range eines Oberleutnants versehen, in das k. u. k. Kriegsfürsorgeamt versetzt.729 Wir haben keinen Anlass daran zu zweifeln, dass Hans Kelsen zu seinem eigenen Glück ausgerechnet in jenen Tagen schwer erkrankte, doch berichtet Métall, dass die Versetzung an das Kriegsfürsorgeamt nicht möglich gewesen wäre, hätte Kelsen nicht einen mächtigen Fürsprecher gehabt: den bereits pensionierten, aber für den Krieg reaktivierten Generalmajor Ignaz Verdroß Edlen von Droßberg, den nachmaligen (letzten) Kommandanten des Edelweißkorps.730 Dessen Sohn Alfred Verdroß war so wie sein Lehrer Kelsen 1914 superarbitriert worden und konnte während des Krieges seine Richterausbildung abschließen; ab März 1916 war er als »Landsturmoberleutnantauditor«731 am k. u. k. Obersten Militärgerichtshof tätig, bevor er im Jänner 1918 in die staats‑ und völkerrechtliche Abteilung des k. u. k. Außenministeriums versetzt wurde.732 Seine beiden Brüder, die Zwillinge Ernst und Paul, waren jedoch an die russische Front geschickt worden, wo Paul bereits im August 1914 fiel, während Ernst schwer verwundet wurde. »Als man jedoch in weiterer Folge dem schwergeprüften Vater riet, sich dafür einzusetzen, daß Ernst zu einem Kommando hinter der Front versetzt werde, wies Verdroß, der treue, herzhafte, kaiserliche Soldat, solch Ansinnen entrüstet zurück: ›Nein! Ich will keine Ausnahme. Wie es Gott will, so kommt es!‹«733 Ernst Verdroß überlebte und wurde nach dem Krieg Magistratsdirektor in Hall in Tirol. 727 Deák,
Der k.(u.)k. Offizier (1995) 233. KA, Qualifikationslisten, Karton 1343, Kelsen Hans; Kelsen, Autobiographie (1947) 47 = HKW I, 46, vgl. dort Anm. 97 zur Datierung. Vgl. auch Rumpler /Schmied-Kowarzik, Habsburgermonarchie XI/2 (2014) 192, wonach 1914–1917 insgesamt 8.324 Offiziere der k. k. Landwehr und des k. k. Landsturms für den Feld‑ bzw. Truppendienst untauglich und nur »zu Lokaldiensten geeignet« erklärt wurden. 729 ÖStA, KA, Qualifikationslisten, Karton 1343, Kelsen Hans; Métall, Kelsen (1969) 18. 730 Métall, Kelsen (1969) 18. 731 Dem »Landsturm« gehörten zufolge des Gesetzes v. 6. 6. 1886 RGBl 90 alle wehrfähigen Männer an, die nicht in Heer, Marine oder Landwehr dienten; auf ihn durfte nur im äußersten Verteidigungsfall zurückgegriffen werden. »Oberleutnant« bezeichnete den Dienstgrad, »Auditor« war der Begriff für einen Militärjustizbeamten. 732 Verdross, Selbstdarstellung (1952) 201 f.; Busch, Alfred Verdross (2012) 148. 733 Seelos, General Verdroß (1957) 15. 728 ÖStA,
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
Auch wenn der Wahrheitsgehalt solcher Anekdoten immer zu hinterfragen ist, so wäre es doch bemerkenswert, falls sich dieser alte k. u. k. Offizier wirklich für Kelsen eingesetzt hatte. Andererseits ist es aber gut möglich, dass Verdroß vor Kelsen eine gewisse Hochachtung hatte und davon überzeugt war, dass dieser seinem Vaterland am Schreibtisch besser nützen konnte als an der Front. Zumindest ist noch eine zweite Anekdote überliefert, wonach Generalmajor Verdroß seinerzeit Kelsen persönlich in dessen Wohnung aufgesucht haben soll, um sich bei ihm für die Aufnahme seines Sohnes in das Kelsensche Privatseminar zu bedanken.734 Das Kriegsfürsorgeamt war unmittelbar nach Kriegsbeginn, am 28. Juli 1914, mit einem Erlass des k. u. k. Kriegsministeriums geschaffen worden, um sowohl den Soldaten im Feld als auch den Invaliden, nicht zuletzt aber auch den im Krieg zu Witwen und Waisen gemachten Frauen und Kindern zu helfen, und zwar vor allem durch Sammlungen von Geld und Naturalien, von Tee und Zwieback über Bekleidung und Zigaretten bis hin zu wiederverwertbaren Altstoffen (Metall, Wolle, Kautschuk u. a.). Unter der Leitung von Feldmarschallleutnant Johann Löbl arbeiteten hier vor allem frontdienstuntaugliche Militärpersonen, wie etwa Hugo von Hofmannsthal,735 sowie Freiwillige und einige bezahlte Hilfskräfte, im späteren Verlauf auch Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter.736 Kelsen wurde zum Leiter der XIV. Gruppe, die für die Statistik und den Verkehr mit den Zweigstellen in den einzelnen Kronländern zuständig war, ernannt.737 Vielleicht hatte Kelsen daneben auch in anderen Gruppen, wie etwa der »Wollabteilung« (Gruppe VI) zu tun, vielleicht war es auch einfach böser Spott, wenn Métall später Kelsens Zeit im Kriegsfürsorgeamt wie folgt beschreibt: »Hier oblag es ihm Wolle zu verteilen, welche von Damen der Gesellschaft zum Stricken von Stutzen für die an der Winterfront in Galizien befindlichen Truppen verwendet wurde. Diese nicht gerade sehr befriedigende Tätigkeit hat Kelsen dennoch oft schweres Kopfzerbrechen verursacht, denn dem für Mathematik begabten und als Juristen ausgebildeten Reserveoffizier gelang es fast niemals, die Kasse richtig zu füllen, so daß er Fehlbeträge aus eigenem ersetzen mußte!«738 Vertraut war Kelsen zumindest sein Arbeitsplatz: Denn das Kriegsfürsorgeamt war – wohl aus purem Zufall – in den Räumen der k. k. Exportakademie in der Berggasse 16 einquartiert worden;739 vielleicht saß er also nun sogar am selben Schreibtisch, 734 Herbert Schambeck, Interview v. 28. 2 . 2007; vgl. auch Busch, Kelsen im Ersten Weltkrieg (2009) 63. 735 Vgl. dazu Kaluga, Österreichs Antwort (2014) Kapitel 5 sowie auch die ironische Darstellung bei Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, I. Akt, 19. Szene http://gutenberg.spiegel.de/buch/dieletzten-tage-der-menschheit-4688/3 [Zugriff: 26. 04. 2019]. 736 Bericht über die Tätigkeit des Kriegsfürsorgeamtes während der Zeit von seiner Errichtung bis zum 31. März 1917 (Wien 1917) 5 f.; Christoph Egger, Löbl von Tauernstorff Johann, in: ÖBL, 23. Lfg. (Wien 1971) 270 f. 737 ÖStA, KA, Qualifikationslisten, Karton 1343, Kelsen Hans; Busch, Kelsen im Ersten Weltkrieg (2009) 63. 738 Métall, Kelsen (1969) 18. 739 Bericht über die Tätigkeit des Kriegsfürsorgeamtes (wie Anm. 755) 5. – Die Exportakademie erhielt am 20. 3. 1917 ein neues Gebäude in Wien XIX., Exportakademiestraße 1 (heute
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3. Kapitel: Der Erste Weltkrieg
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an dem er noch vor wenigen Monaten seine Lehrveranstaltungen vorbereitet hatte! Und wenn auch das Verteilen von Wolle oder das Abrechnen von Ein‑ und Ausgaben keine Tätigkeit nach seinem Geschmack sein mochte, so scheint Kelsen auch nach seinem Ausscheiden aus dem Kriegsfürsorgeamt mit diesem verbunden geblieben zu sein (was auch damit zusammenhängen könnte, dass sein Nachfolger in der XIV. Gruppe sein Freund Franz Xaver Weiß war, auf den weiter unten noch einzugehen ist). Als jedenfalls am 10. Mai 1917 ein »Kaiser und König Karl-Kriegsfürsorgefonds« errichtet wurde, der die vom Kriegsfürsorgeamt erworbenen Gelder verwalten sollte, entwarf Kelsen für diesen Fonds Statuten und Geschäftsordnung.740 Im Juli 1915 musste sich Hans Kelsen einer neuerlichen Musterung unterziehen und wurde nun für »frontdiensttauglich« erklärt. Eine Versetzung an die galizische Front stand unmittelbar bevor. Kelsen traf dies nicht unvorbereitet: Schon im Juni hatte er einen Antrag gestellt, in die Justizabteilung des Kriegsministeriums versetzt zu werden. Allerdings hielt das k. k. Landesverteidigungsministerium dem entgegen, dass Kelsen nicht die dafür vorgesehenen militärstrafrechtlichen Praxiszeiten erbracht hatte.741 Kelsen argumentierte, dass er »auf strafrechtlichem Gebiet theoretisch« – und zwar »zur Theorie der Schuldformen« – gearbeitet habe (offenbar bezog sich Kelsen hier auf seine Habilitationsschrift), ferner mit dem »Verwaltungsdienst bei Zentralbehörden durch meine fünfjährige Praxis als Konzipist beim k. k. österreichischen Handelsmuseum vollständig vertraut« sei und überdies als »Mitglied der juristischen Fakultät Wien […] die Qualifikation zum Verteidiger in Strafsachen« besitze.742 Das Schreiben wurde mit einer Befürwortung durch Kelsens Vorgesetzten, Feldmarschallleutnant Löbl, versehen; doch abermals bedurfte es weiterer persönlicher Beziehungen, um Kelsens Gesuch zum Erfolg zu verhelfen, wie Métall berichtet: Demnach hatte ein Kollege Kelsens »im Kriegsfürsorgeamt, Hauptmann von Belmont [sic! recte: Bellmond], einen Bruder im Kriegsministerium, an den er Kelsen, der dort zu arbeiten wünschte, mit den Worten ›Sag ihm, ich schick’ dich‹ wies. Auf die Frage, ob er lieber in Wien oder in Budapest stationiert sein wollte, erklärte Kelsen sich selbstverständlich für Wien.«743 So gelang es Kelsen, dass er mit Wirkung vom 1. August 1915 als
Franz-Klein-Gasse 1), wo sie bzw. ihre Nachfolgeinstitutionen (1919–1975: Handelshochschule Wien, 1975 ff.: Wirtschaftsuniversität Wien) noch bis 1982 verblieben. Vgl. NFP Nr. 18886 v. 21. 3. 1917, 8. 740 Busch, Kelsen im Ersten Weltkrieg (2009) 63. 741 Busch, Kelsen im Ersten Weltkrieg (2009) 64. 742 Hans Kelsen, Schreiben an die Abteilung IV des k. u. k. Kriegsministeriums (Militärjustizverwaltung) vom 24. 6. 1915, zit. n. Oberkofler /R abofsky, Kelsen im Kriegseinsatz (1988) 19. Gemäß § 39 Abs 3 Strafprozessordnung 1873 RGBl 119 hatte jeder Angehörige des Lehrkörpers einer rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät das Recht, in die Verteidigerliste für Strafprozesse aufgenommen zu werden. 743 Métall, Kelsen (1969) 18. Wiederum handelt es sich um eine Anekdote, deren Wahrheitsgehalt schwer zu verifizieren ist. Beim »Bruder im Kriegsministerium« dürfte es sich aber höchstwahrscheinlich um Feldmarschallleutnant Anton Bellmond Edler von Adlerhorst gehandelt haben, der 1914/15 die 11. Infanterie-Division kommandiert hatte und dann dem Kriegsminister
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
»Oberleutnant-Auditor«744 zum Stellvertreter des Militäranwaltes des k. u. k. Militärkommandanten von Wien, Hauptmann-Auditor Dr. Karl Gruber, ernannt wurde.745 Damit war die Gefahr, an die Front abkommandiert zu werden, wiederum gebannt. Dennoch war Kelsen auch mit diesem neuen, juristisch anspruchsvolleren Wirkungsfeld nicht glücklich, ja, Métall berichtet sogar von einem gewissen »Widerwille[n] gegen die ihm dort obliegende Tätigkeit, die hauptsächlich darin bestand, Anklagen wegen politischer Delikte zu erheben. So hatte er unter anderen einen tschechischen Offizier anzuklagen, weil dieser erklärt hatte, der Weltkrieg sei ein Krieg der Germanen gegen die Slawen; pflichtgemäß sammelte Kelsen nicht nur das belastende, sondern auch das entlastende Material und erwähnte einen ähnlichen Ausspruch des Wiener Bürgermeisters Dr. Richard Weiskirchner, so daß der angeklagte Offizier freigesprochen wurde. Da sich die Zahl der Freisprüche in den von Kelsen vertretenen Fällen mehrte, wurde er vom Divisionsgericht in die Justizabteilung des k. u. k. Kriegsministerium versetzt«.746 Dort arbeitete Kelsen vom 1. August 1915 bis 31. Mai 1916 in der von Generalauditor Josef Killian geleiteten Abteilung 4/I,747 wo ihm u. a. das »Gnadenreferat« übertragen wurde. Métall zufolge handelte es sich um eine »interessante und menschlich höchst befriedigende Arbeit, in deren Verlauf er auch von der Militärjustiz standrechtlich verhängte Todesurteile in Freiheitsstrafen umzuwandeln wußte«.748 So etwa im Falle des Infanteristen Rudolf König, der nach einer Verwundung an der Front Urlaub erhielt, die Gelegenheit aber zur Desertion nützte und im Zuge eines Einbruchsdiebstahls verhaftet wurde, worauf der 28-Jährige zum Tode durch Erschießen verurteilt wurde. Während sich der Generalmilitäranwalt für eine Umwandlung der Strafe in eine Kerkerstrafe aussprach, erklärte sich der Oberste Militärgerichtshof gegen diesen Antrag, worauf die Sache in der Abteilung 4/I des Kriegsministeriums landete und Kelsen sich für die Umwandlung der Strafe einsetzte, zumal der Verurteilte ja bereits für das Vaterland geblutet habe und die Desertion nicht an der Front, sondern im dienstzugeteilt wurde, wo er das Präsidialbüro leitete: ÖStA, KA, Kriegsministerium, Karton 2000, Z. 5/16/8. 744 Zum Begriff des »Auditors« vgl. schon oben Anm. 731. 745 ÖStA, KA, Qualifikationslisten, Karton 1343, Kelsen Hans. Vgl. auch Oberkofler /R abofsky, Kelsen im Kriegseinsatz (1988) 56, wonach der k. k. Landesverteidigungsminister Kelsens Argumentation zwar nicht gelten ließ, aber auf ein »Visum der Militärkanzlei seiner Majestät« verwies, weswegen er »ausnahmsweise« der Versetzung Kelsens – die auch eine Überstellung von der k. k. Landwehr in die k. u. k. Armee bedeutete – zustimmte. 746 Métall, Kelsen (1969) 18. Ähnliche Gedanken wie der angeklagte tschechische Offizier und der Wiener Bürgermeister hatte auch z. B. der Staatssekretär im Außenamt des Deutschen Reiches, Gottlieb von Jagow, geäußert: Bihl, Der Erste Weltkrieg (2010) 83. 747 ÖStA, KA, Qualifikationslisten, Karton 1343, Kelsen Hans; Oberkofler /R abofsky, Kelsen im Kriegseinsatz (1988) 56; Jestaedt in HKW I, 47 Anm. 105. 748 Métall, Kelsen (1969) 18. Es sei die Bemerkung gestattet, dass Oberkofler /R abofsky, Kelsen im Kriegseinsatz (1988), die recht ausführlich auf die Gräuel des Krieges und der in seinem Rahmen durchgeführten standrechtlichen Verfahren, in deren Verlauf es auch oft zu Justizirrtümern kam, eingehen, nichts über die Tätigkeit Kelsens im Gnadenreferat zu berichten wissen.
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Hinterland erfolgt sei, weshalb »nicht die äusserste Grenze des Abschreckungszwecks erfüllt« werden müsse.749 Mit 1. Juni 1916 wurde Kelsen in die Abteilung 4/II überstellt, wo er die statistische Gruppe übernahm und auch ein »Feldgerichtsarchiv« aufbaute, wofür er später, am 15. August 1917 eine »Allerhöchste belobende Anerkennung für vorzügliche Dienstleistung während der Kriegszeit« erhielt.750 In diesem Archiv brachte Kelsen auch drei seiner Schüler, Ernst Seidler jun., Fritz Sander und Franz Havliček unter, was, wie sich später herausstellen sollte, von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Reine Rechtslehre war: Denn Havliček war ein begeisterter Cohen-Anhänger und hatte, noch bevor er in das Seminar Kelsens eingetreten war, begonnen, eine Monographie über die (neu)kantianische Rechtsphilosophie zu verfassen, die dann aber aus unbekannten Gründen niemals fertiggestellt wurde. Sander dagegen lehnte Cohen ursprünglich ab, erst durch lange Gespräche mit Havliček – zu denen ihnen die gemeinsame Arbeit im Feldgerichtsarchiv offenbar viel Zeit ließ – wurde er von der Richtigkeit der transzendentalen Methode Cohens überzeugt, und beschloss, das Werk Havličeks zu vollenden.751 Davon wird noch mehr zu berichten sein.752 Kelsen erwähnte später aber auch, dass sich Sander in seiner Zeit im Archiv »einer groben Ungehörigkeit schuldig [machte], derentwegen ich die Beziehungen mit ihm abgebrochen hatte und nur über Bitte des Kollegen Verdroß wieder aufnahm.«753 Worin diese »Ungehörigkeit« bestanden hatte, verschwieg Kelsen. Neben diesen Hauptaufgaben war Kelsen zwischen 1915 und 1917 auch mit anderen juristischen Angelegenheiten befasst. Diese reichten von der Legitimierung unehelicher Kinder gefallener Soldaten über die Legalisierung von Totenscheinen bis zum rechtsgeschäftlichen Verkehr ausländischer Kriegsgefangener. Auch »Deserteursangelegenheiten« gehörten – wie schon zuvor im »Gnadenreferat« ‑zum Wirkungsbereich Hans Kelsens in der Abteilung IV/2.754 Etwas näher einzugehen ist auf ein Gutachten, das Kelsen im Frühjahr 1917 verfasste und in dem er sich zum Problem der »formellen und materiellen Rechtskraft von Militärverwaltungsakten« äußerte. Den Anlass dazu hatte ein Rechtsstreit im Gefolge der Requirierung von Pferden für die Armee gegeben, worauf Kelsen jedoch keinen Bezug nahm, sondern sich ganz dem juristischen Kernproblem widmete, nämlich »[o]b und inwieweit Militärverwaltungsakte aufgehoben oder abgeändert werden dürfen bzw. ob und 749 Busch,
Kelsen im Ersten Weltkrieg (2009) 65. KA, Kriegsministerium, Karton 2000, Z. 5/16/8. Vgl. auch Oberkofler /R abofsky, Kelsen im Kriegseinsatz (1988) 18. 751 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 8: Zeugenaussage Alfred Verdroß v. 26. 5. 1923, Seite 2; ebenda ONr. 12: Zeugenaussage Ernst Seidler jun v. 1. 6. 1923, Seite 2. Vgl. auch die kurzen Hinweise bei Métall, Kelsen (1969) 18; Busch, Kelsen im Ersten Weltkrieg (2009) 65. 752 Unten 337. 753 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Eingabe Prof. Kelsens v. 7. 5. 1923, Anhang S. 27. 754 Busch, Kelsen im Ersten Weltkrieg (2009) 65 f. 750 ÖStA,
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inwieweit die Militärbehörde an ihre eigenen Akte gebunden ist.«755 Der Wiener Staatsrechtslehre war dieses Problem spätestens seit Bernatziks Habilitationsschrift »Rechtsprechung und materielle Rechtskraft« sattsam bekannt. Bemerkenswert ist es bereits, dass Kelsen in seinem Gutachten den Terminus »formelle Rechtskraft« als einen »unpräzisen«, »irreführenden« und für Nichtjuristen »unverständlichen« Ausdruck brandmarkte. Stattdessen schlug er vor, doch einfach von »Aufhebung oder Änderung von Militärverwaltungsakten« zu sprechen – eine Terminologie, die auch später von der Reinen Rechtslehre beibehalten wurde. In der Sache stellte Kelsen fest, dass man – mangels entgegenstehender gesetzlicher Vorschriften – in der Regel davon ausgehen müsse, dass ein rechtswidriger Akt der Militärverwaltung, auch wenn er von der Partei nicht angefochten werden könne, von Amts wegen jederzeit aufgehoben oder abgeändert werden könne. Eine scheinbare Ausnahme von diesem Fall bilden absolut nichtige Akte – »man denke etwa an die Fälle in der Art des Hptm. v. Köpenick«756 –, jedoch nur scheinbar, weil es sich hier eben um gar keine Akte der Militärverwaltung handle. Ansonsten aber müsse jeder fehlerhafte Verwaltungsakt förmlich vernichtet werden können. Diese Auffassung sei, so Kelsen, »nicht nur theoretisch gerechtfertigt, sondern auch den praktischen Bedürfnissen [der Militärverwaltung] einzig und allein entsprechend.« Freilich gab er zu bedenken, dass diesen Bedürfnissen das Interesse an Rechtssicherheit entgegenstehe. Dennoch sprach er sich auch de lege ferenda dafür aus, die derzeitige Rechtslage nicht zu ändern, weil es aus seiner Sicht unmöglich war, durch Gesetz von vorneherein jene Fälle zu nennen, »in denen das öffentliche Interesse an der Rechtssicherheit das ihm entgegenstehende öffentliche Interesse an einer eventuellen Aufhebung oder Abänderung eines normwidrigen Verwaltungsakts überwiegt.« Vielmehr sollte es im Ermessen der Militärbehörde bleiben, »zwischen diesen beiden Interessen im einzelnen Falle« abzuwägen.757 Eine solche Rechtsmeinung musste der Militärverwaltung natürlich höchst willkommen sein.
2. Kelsen und die österreichische Sozialdemokratie Am 23. November 1914 brachte Grete Kelsen eine Tochter zur Welt. Sie wurde am 6. Februar 1915 in der evangelischen Stadtpfarre A. B. auf die Namen Anna Renata 755 Das Gutachten in: ÖStA, KA, Kriegsministerium, Karton 426, Sign. 42–2/8, abgedruckt bei Oberkofler /R abofsky, Kelsen im Kriegseinsatz (1988) 154–158, das Zitat a. a. O. 156. Die erläuternden Bemerkungen der beiden Autoren, a. a. O. 57–62, sind unbrauchbar, da sie – offenbar in Unkenntnis der Bedeutung der Begriffe »formelle und materielle Rechtskraft« – versuchen, eine Parallele zu Kelsens Vortrag über das »Gesetz im formellen und materiellen Sinn« zu ziehen. 756 Im Jahre 1906 hatte sich ein Schuhmacher namens Friedrich Wilhelm Voigt als Hauptmann verkleidet, gemeinsam mit (echten, aber von ihm getäuschten) Soldaten das Rathaus des Berliner Vorortes Köpenick besetzt und die Stadtkasse geraubt. Die Affäre ist vor allem aufgrund der auf den historischen Fakten basierenden, 1930 geschriebenen Tragikomödie »Der Hauptmann von Köpenick« von Carl Zuckmayer bis zum heutigen Tag bekannt. 757 Zit. n. Oberkofler /R abofsky, Kelsen im Kriegseinsatz (1988) 158.
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Abb. 18: Hans und Grete Kelsen mit ihren Töchtern, 1916.
getauft, wobei Hans Kelsens Schwester Gertrude Weiss als Taufpatin fungierte.758 Am 15. Dezember 1915 gebar Grete Kelsen eine zweite Tochter, Maria Beate. Auch ihre Taufe erfolgte in der evangelischen Stadtpfarrkirche A. B., und zwar am 20. Februar 1916. Die Taufpatinnen hießen Viola Broda und Dr. Aline Furtmüller.759 Während die Patenschaft von Kelsens evangelisch getaufter Schwester naheliegend war, ist die Patenschaft der beiden anderen Frauen bemerkenswert und lässt einige Rückschlüsse auf die gesellschaftlichen Kontakte Hans Kelsens in den Kriegsjahren zu, die für seine spätere Karriere von besonderer Wichtigkeit waren. Furtmüller war die am 20. Oktober 1883 in Wien geborene Tochter des jüdisch-russischen Emigranten Samuel Klačko, der u. a. seinem Landsmann Lev Bronstein – besser bekannt unter seinem Decknamen Trotzki – während dessen Zeit in Wien (1907–1914) Unterkunft gewährt hatte; und auch Aline selbst stand mit Trotzki und dessen Familie in einem engen, freundschaftlichen Verhältnis.760 1908 wurde sie an der philosophischen Fakultät der Universität Wien promoviert und heiratete ein Jahr später den Reformpädagogen Carl Furtmüller (der gemeinsam mit ihr aus diesem Anlass zur evangelischen Kirche A. B. konvertierte). In ihrer Wohnung fanden regelmäßige Treffen 758 UA
Köln, Zug 17/III, 1869a, 336: Kopie des Geburts‑ und Taufscheins von Anna Renata Kelsen, aus dem Taufbuch der Evangel. Gemeinde Augsb. Bekennt. in Wien, Jahr 1914, Seite 128/III, Zahl 256. 759 UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 337: Kopie des Geburts‑ und Taufscheins von Maria Beate Kelsen, aus dem Taufbuch der Evangel. Gemeinde Augsb. Bekennt. in Wien, Jahr 1915, Seite % Zahl 207. 760 Trotzki, Mein Leben (1930) 221 f.; vgl. auch Kutos, Russische Revolutionäre (1993) 68 f.; Gassner, Kelsen und die sowjetische Rechtslehre (2016) 142.
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führender Sozialdemokraten statt, von Otto Bauer über Max Adler bis zu Otto Glöckel – und wohl auch Hans Kelsen. Als verheirateter Frau war Aline Furtmüller bis 1918 der Lehrberuf verwehrt, den sie erst nach Ausrufung der Republik ausübte – und zwar in der Schwarzwaldschule.761 1919 zog sie für die Sozialdemokraten in den Wiener Gemeinderat, wo sie sich bis zu ihrer Verhaftung während des Bürgerkriegs 1934 vor allem für Bildungsfragen einsetzte. 1938 zur Emigration gezwungen, starb sie im Dezember 1941 in New York.762 Mit Kelsen war sie wahrscheinlich über das Ehepaar Broda in Kontakt gekommen, zumal auch dieses Trotzki in Wien geholfen hatte und daher wohl schon seit längerem auch mit der Familie Klačko/Furtmüller Kontakte pflegte.763 Viola Broda, die Schwester des Filmregisseurs G. W. Pabst, war am 25. Mai 1884 in Raudnitz an der Elbe [Roudnice nad Labem/CZ] geboren, also etwa gleich alt wie Aline Furtmüller und hatte zunächst den Schauspielberuf ergriffen. 1909 hatte sie den Juristen Ernst Broda geheiratet, dem sie zwei Söhne schenkte: den 1910 geborenen Engelbert, der später ein berühmter Physiker und Chemiker wurde, sowie den 1916 geborenen Hans Christian Broda, der 1960–1966 und 1970–1983 österreichischer Justizminister war.764 Er selbst nannte sich zwar zumeist »Christian«, doch ist sein erster Vorname gerade im gegebenen Zusammenhang nicht unwichtig: Denn so wie Viola Broda die Taufpatin von Maria Kelsen war, so war der Taufpate von Hans Christian Broda – Hans Kelsen.765 Ernst Broda war am 27. Oktober 1885 in Wien zur Welt gekommen und hatte so wie Kelsen das Akademische Gymnasium besucht, wo er 1903 maturiert hatte.766 Am Tage seiner Hochzeit mit Viola Pabst in der Lutherischen Stadtkirche, dem 23. März 1909, wurde er an der Universität Wien zum JDr. promoviert. Sein Vater, ein Zuckerfabrikant, hatte ihm ein beträchtliches Vermögen hinterlassen, und die Familie pflegte Kontakte zu einem sehr ausgedehnten und vielseitigen Freundeskreis, der sich mit dem der Familie Furtmüller teilweise deckte. Auch in ihrem Haus in der Prinz Eugen-Straße gingen Otto Bauer, Karl Renner und Hans Kelsen ein und aus.767 Ernst Broda wurde später von seinem Enkel Paul als eher »liberal«, Viola als eher »sozial761 Vgl. den Hinweis zu ihr in den Erinnerungen ihrer Schülerin Ruth Kestranek-Varda (einer
Schulkollegin von Anna Kelsen) in Streibel, Schwarzwald (1996) 94 f.; biographische Angaben zu ihr ebenda 105. 762 Vgl. zum Ehepaar Furtmüller, v. a. aus schulgeschichtlicher Perspektive, ausführlich Achs, Zwischen Gestern und Morgen (2017), leider ohne Erwähnung von Kelsen. 763 Vgl. Broda, Aufzeichnungen (1985) 304, und, ihm folgend, Wirth, Broda (2011) 44, wonach das Ehepaar Broda eine Zeit lang als »Postfach« für Trotzki fungiert haben soll. Ein entsprechender Hinweis in der Autobiographie Trotzkis fehlt. 764 Wirth, Broda (2011) 38. 765 Broda, Radiointerview (1974) 71. Vgl. auch Wirth, Broda (2011) 37; sie führt die Vornamen Hans Christian allerdings auf die Vorliebe der Mutter für Hans Christian Andersen zurück – was dem Zusammenhang mit der Patenschaft Kelsens nicht widerspricht. 766 Akademisches Gymnasium Wien, Protokoll der am k. k. akadem. Gymnasium zu Wien im Monate Juli 1903 abgehaltenen Maturitätsprüfung, Nr. 2. 767 Wirth, Broda (2011) 44.
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Abb. 19: Otto Bauer.
demokratisch« eingestuft; erst ihre Söhne Engelbert und (Hans) Christian wandten sich später – zeitweise – den Kommunisten zu. Da war das großväterliche Erbe infolge der Inflation von 1922 schon längst dahingeschmolzen.768 1914 wurde Ernst Broda, der bis dahin in der Finanzprokuratur gearbeitet hatte, zum Militär einberufen, gelangte jedoch, so wie Hans Kelsen, niemals an die Front, sondern wurde zunächst für verschiedene Überwachungstätigkeiten im Hinterland verwendet; im Oktober 1915 wurde er in das Kriegsministerium versetzt, zunächst als persönlicher Mitarbeiter des Generalintendanten Josef Rainer, dann schließlich als Referent für Gerbstoffe in der »Textil‑ und Ledergruppe«.769 Möglicherweise war es die Tätigkeit von Broda und Kelsen im Kriegsministerium, die den persönlichen Kontakt zwischen beiden Familien so intensivierte, dass sie beschlossen, einander als Taufpaten zu dienen. Kennengelernt aber hatten sie sich höchstwahrscheinlich schon früher, vielleicht in der Soziologischen Gesellschaft oder über Otto Bauer, wodurch Kelsen immer enger vertraut mit der austromarxistischen Szene wurde. Umgekehrt bezog Kelsen auch Broda in sein rechtstheoretisches Seminar ein, wie lange Broda dieses besuchte, ist allerdings nicht bekannt.770 Leider erwähnt Trotzki in seiner Autobiographie seine Kontakte zu Ernst Broda nicht; und es ist auch unbekannt, ob er jemals mit Kelsen zusammentraf, was aufgrund 768 Broda,
Aufzeichnungen (1985) 305–307. KA, Qualifikationslisten, Karton 283, Broda Ernst; ÖStA KA, Kriegsministerium, Karton 2000, Z. 5/16/8. 770 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 12: Zeugenaussage Ernst Seidler jun. v. 1. 6. 1923, Seite 2. 769 ÖStA,
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des gemeinsamen Bekanntenkreises immerhin möglich gewesen wäre.771 Dagegen beschreibt er in diesem Buch eine Reihe von Austromarxisten sehr ausführlich, wenn auch durchaus kritisch. Schon bald nach seiner Ankunft in Wien im Oktober 1907 war Trotzki in einem Wiener Kaffeehaus mit ihrer Avantgarde – Otto Bauer, Max Adler und Karl Renner – bekannt gemacht worden. »Das waren sehr gebildete Menschen, die auf verschiedenen Gebieten mehr wußten als ich«, berichtete Trotzki von diesem ersten Zusammentreffen. »Ich habe mit lebhaftestem, man kann schon sagen mit ehrfurchtsvollem Interesse ihrer ersten Unterhaltung im Café ›Zentral‹772 zugehört. Doch schon sehr bald gesellte sich zu meiner Aufmerksamkeit ein Erstaunen. Diese Menschen waren keine Revolutionäre. Mehr noch: sie stellten einen Menschentypus dar, der dem Typus des Revolutionärs entgegengesetzt war. Das äußerte sich in allem: in der Art, wie sie an Fragen herangingen, in ihren politischen Bemerkungen und psychologischen Wertungen, in ihrer Selbstzufriedenheit […]. Im alten, kaiserlichen, hierarchischen, betriebsamen und eitlen Wien titulierten die Marxisten einander wonnevoll mit ›Herr Doktor‹. Die Arbeiter redeten die Akademiker oft mit ›Genosse Herr Doktor‹ an.«773 Ein besonders typisches Exemplar dieser »Doktoren-Genossen« war Karl Renner. Am 14. Dezember 1870 in Unter-Tannowitz in Mähren [Dolní Dunajovice/CZ] geboren, hatte Renner in Wien Jus studiert, war 1898 zum JDr. promoviert worden und hatte die Stellung eines Bibliothekars des Reichsrates erlangt.774 Als solcher war er k. k. Beamter und daher schon von Berufs wegen zu Loyalität gegenüber dem Kaisertum verpflichtet, weshalb er politische Schriften, z. B. zur Wahlrechtsreform 1907, nur unter Pseudonymen veröffentlichen konnte.775 Seit der auf diese Reform folgenden Wahl saß Renner für die Sozialdemokraten im Reichsrat und gehörte dort dem rechten, gemäßigten Flügel an. Trotzki berichtet in seiner Autobiographie von einem gemeinsamen nächtlichen Spaziergang durch die Wiener Innenstadt, bei dem Renner seiner Überzeugung Ausdruck gab, dass das konstitutionelle Regime, welches im Juni 1907 in Russland an die Macht gekommen war, »Chancen habe, bestehen zu bleiben«, während Trotzki ihm eine neuerliche Revolution voraussagte, die das Proletariat an die Macht bringen werde. »Ich sehe unter der nächtlichen Straßenlaterne noch den flüchtigen, fassungslosen und herablassenden Blick Renners. Er hielt sicherlich meine Prognose für die Phantastereien eines politischen Analphabeten, etwa in der Art der 771 Vgl. Gassner, Kelsen und die sowjetische Rechtslehre (2016) 145 f., die ein Zusammentreffen Kelsens mit Trotzki für »höchst wahrscheinlich«, ein Zusammentreffen mit Nikolai Bucharin in dessen Wiener Jahren (1912–1914) dagegen lediglich für »möglich«, ein Zusammentreffen mit Lenin oder Stalin während deren Wien-Aufenthalten (1913/14) für »nahezu ausgeschlossen« hält. 772 Gemeint ist das Café Central in der Herrengasse. 773 Trotzki, Mein Leben (1930) 198–200. Vgl. dazu bes. Leser, Reformismus und Bolschewismus (1985) 26. 774 Johnston, Geistesgeschichte (2006) 118 f.; Nasko, Karl Renner (2016). 775 Vgl. etwa Austriacus [= Renner], Reichsratswahlrecht (1894) und dazu Strejcek, Nachwort (2007) 226. Die Bedeutung Renners als Rechtswissenschaftler sowie als Theoretiker des Austromarxismus wird nach wie vor von seiner politischen Tätigkeit überschattet; vgl. hierzu Leser, Hans Kelsen und Karl Renner (1978).
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Prophezeiungen jenes australischen Mystikers, der einige Monate vorher [im August 1907] auf dem internationalen Sozialistenkongreß zu Stuttgart Tag und Stunde der kommenden Weltrevolution vorausgesagt hatte. ›Glauben Sie‹s?’ fragte Renner. ›Es ist möglich, daß ich die russischen Verhältnisse nicht genügend übersehe‹, fügte er mit vernichtender Höflichkeit hinzu. Wir hatten keinen gemeinsamen Boden für die Fortsetzung des Gesprächs. Mir wurde klar, daß dieser Mensch von der revolutionären Dialektik ebenso weit entfernt war wie der konservativste der ägyptischen Pharaonen.«776 Lediglich von Viktor Adler, dem Begründer der österreichischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SdAP), sprach Trotzki mit einer gewissen, wenn auch enden wollenden Hochachtung. Doch insgesamt war sein Urteil über die »Austromarxisten« vernichtend: »Der Austromarxist […] erwies sich zu oft als ein Philister, der den einen oder den anderen Teil der Marxschen Theorie studiert, wie man Jus studiert, und von den Prozenten vom ›Kapital‹ lebt.«777 Trotzki war vielleicht zuwenig philosophisch geschult, als dass er diese richtige Beobachtung näher spezifizieren hätte können: Tatsächlich hatten sich die Austromarxisten zu diesem Zeitpunkt schon von ganz entscheidenden Partien des »orthodoxen Marxismus«, namentlich von seinen hegelianischen Fundamenten, abgewendet und versucht, dem Marxismus mit Hilfe des Neukantianismus eine neue philosophische Basis zu geben.778 Der Anstoß dazu war aus Deutschland gekommen, wo Eduard Bernstein, neben Karl Kautsky einer der Autoren des Erfurter Programms der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), in seinem Buch »Die Voraussetzungen des Sozialismus« 1899 eine Hinwendung zu Kant gefordert hatte, nicht zu seinen Inhalten, sondern zu seiner Methode, in deren Licht die sozialistischen Lehren neu bewertet werden sollen. Seine Hegel-Kritik führte ihn dabei soweit, dass er die marxistische These, es sei eine notwendige Folge des Kapitalismus, dass sich das Kapital in immer weniger Händen konzentriere, nicht als Schlussfolgerung aus den ökonomischen Analysen, sondern als bloße Spekulation bewertete, was natürlich wütende Proteste bei den orthodoxen Marxisten hervorrief.779 Unterstützung bekam Bernstein dagegen vom Philosophen Karl Vorländer, der versuchte, den historischen Materialismus mit der Ethik und der Erkenntnistheorie Kants zu harmonisieren. Die Tatsache, dass Marx die Unterscheidung zwischen Tatsachen und Werten, zwischen Sein und Sollen nicht anerkannte, sah er als ein »Relikt des Hegelianismus« an, das von untergeordneter Bedeutung sei.780 In Österreich fielen diese neuen Entwicklungen auf fruchtbaren 776 Trotzki, Mein Leben (1930) 198 f. Vgl. dazu auch Nasko, Karl Renner (2016) 81; allgemein zum mangelnden revolutionären Willen der österreichischen Sozialdemokratie Leser, Reformismus und Bolschewismus (1985) 92 f. 777 Trotzki, Mein Leben (1930) 199 f. 778 Sandkühler /De la Vega, Austromarxismus (1970) 9. Vgl. auch Jabloner, Kelsen and his Circle (1998) 376. 779 Pascher, Neukantianismus (1997) 108–110. 780 Nicht zu den neukantianischen Marxisten können Hermann Cohen und Paul Natorp gezählt werden, die sich zwar als Sozialisten sahen, den Marxismus aber ablehnten. Sie postulierten
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Boden: So griff z. B. Otto Bauer zur Begründung ethischen Verhaltens auf den kategorischen Imperativ von Kant zurück, wenn er zu erklären versuchte, weshalb sich ein Arbeiter im Falle eines Streikes solidarisch mit seiner Klasse erklären solle, obwohl er im Falle eines Ausbruches (als Streikbrecher) Vorteile ziehen würde.781 Und Max Adler meinte, dass eine Ethik unnütz sei, wenn alle historischen Prozesse vom menschlichen Willen unabhängig und vielmehr Folge äußerer Zwänge seien.782 Es muss offenbleiben, inwieweit diese Hinwendung der Austromarxisten zum Neukantianismus von Gesprächen mit Hans Kelsen beeinflusst war. Bekannt ist lediglich, dass Kelsen zu praktisch allen genannten Personen freundschaftliche Kontakte pflegte, die wenigstens zum Teil schon in die gemeinsame Studienzeit zurückreichten.783 Otto Bauer war am 5. September 1881 in Wien geboren, also gleich alt wie Kelsen, hatte aber ein Jahr vor ihm mit dem Studium der Rechte begonnen, da er sein Einjährig-Freiwilligen-Jahr erst 1902/03 absolvierte, was mit ein Grund gewesen sein wird, dass Bauer und Kelsen keine Vorlesungen gemeinsam besuchten. Doch ist z. B. bekannt, dass Bauer im Sommersemester 1905 gemeinsam mit Ludwig v. Mises, Rudolf Hilferding, Joseph Schumpeter und Emil Lederer die »volkswirtschaftlichen Übungen« bei Eugen Böhm v. Bawerk besuchte und daher mit einer Reihe von Freunden Kelsens und wohl auch mit Kelsen selbst schon während dem Studium zusammen kam.784 1907 veröffentlichte Bauer ein umfangreiches Buch über »Nationalitätenfrage und Sozialdemokratie« und wurde daraufhin von der SdAP in den Reichsrat entsendet, wo der erst 26jährige mit der Funktion eines Klubsekretärs betraut wurde und die Monatsschrift »Der Kampf« herausgab. Im Vergleich zu Renner war seine Rhetorik wesentlich kämpferischer, Bauer war eher dem »linken«, Renner dem »rechten« Flügel der Partei zuzuordnen. Dennoch verband die beiden ein freundschaftliches Verhältnis. Gemeinsam mit Max Adler, einem Rechtsanwalt, der in Floridsdorf bei Wien eine »Arme-Leute-Advokatur«785 betrieb und der sich später – mit Kelsens Hilfe – auch an der Universität Wien für »Gesellschaftslehre« (Soziologie) habilitierte, begründeten sie den Verein »Zukunft«, der als Wiege des Austromarxismus angesehen werden kann.
einen »ethischen Sozialismus« mit universellen, nicht nur für einzelne Klassen geltenden Geboten, welche sie aus dem kategorischen Imperativ abzuleiten suchten: Ollig, Neukantianismus (1979) 127, 130. 781 Bauer, Marxismus und Ethik (1906). Vgl. Ollig, Neukantianismus (1979) 131. 782 Ollig, Neukantianismus (1979) 130. 783 So erzählte Kelsen am 12. 5. 1965 im Parlamentsklub der Sozialistischen Abgeordneten und Bundesräte, dass er in jungen Jahren mit Max Adler und dessen Frau Jenny »gut befreundet« war und dadurch weitere Bekanntschaften schloss, so insbesondere mit Karl Renner, mit dem er viele interessante Gespräche im Café Reichsrat führte: Vortragsnotiz von Heinz Fischer in HKI, Bestand Kelsen Persönliches. Das heute nicht mehr existierende Café Reichsrat in der Stadiongasse 2, schräg vis-à-vis zum Parlament, erlangte später Berühmtheit dadurch, dass Kurt Gödel hier 1930 erstmals seinen Unvollständigkeitssatz präsentierte. 784 Johnston, Geistesgeschichte (2006) 115 f.; Hanisch, Illusionist (2011) 38, 69. 785 Pfabigan, Adler (1982) 44.
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3. Lehr‑ und Forschungstätigkeit im Kriege Bemerkenswerterweise war es Kelsen – der offenbar während des ganzen Krieges nicht kaserniert, sondern »Heimschläfer« war – möglich, auch in den Jahren 1914–1918 Lehrveranstaltungen abzuhalten.786 So scheint er in den Vorlesungsverzeichnissen der Exportakademie für 1914/15 und 1915/16 mit denselben Lehrveranstaltungen wie in den Jahren davor auf: mit der gemeinsam mit Prof. Seidler vorgetragenen »Verfassungs‑ und Verwaltungslehre«, sowie mit den von ihm alleine abgehaltenen Lehrveranstaltungen über die Balkanstaaten und über Handelsrecht. Von Vorteil war es hier sicher, dass die beiden zuletzt genannten Vorlesungen Abendveranstaltungen waren. 1916/17 konnte er nur diese beiden abhalten; 1917/18 schließlich hielt er die »Verfassungs‑ und Verwaltungslehre« alleine ab, da Prof. Seidler in der Zwischenzeit in die Politik gegangen war (wovon weiter unten mehr zu berichten sein wird).787 Stark einschränken musste Kelsen dagegen seine Vortragstätigkeit für das Volksheim und konnte lediglich Anfang 1916 zwei »Kriegskurse« über »Die Lehre von den Staatenverbindungen« und über die »Österreichische Verfassung« abhalten – letzteres immerhin wieder vor 134 Teilnehmerinnen und Teilnehmern.788 Eine dieser Teilnehmerinnen war die Telefonistin Hilda Schärf, die ihrem eingerückten Gatten Adolf an die Front schrieb: »Der Vortrag von Dr. Kelsen ist ausgezeichnet; mit einfachster Art behandelt er ein ziemlich schwieriges Thema, macht es so interessant, daß man den Wunsch hat, die Stunde möchte sich verdoppeln. Von einem Kurs freue ich mich auf den anderen.«789 45 Jahre später schrieb Adolf Schärf, mittlerweile Bundespräsident der Republik Österreich, einen Brief an Kelsen zu dessen 80. Geburtstag und bedankte sich noch nachträglich im Namen seiner bereits verstorbenen Frau für den glänzenden Vortrag.790 Eingeschränkt war durch den Weltkrieg auch Kelsens Lehrtätigkeit an der Universität Wien. Hier hatte er für das Wintersemester 1914/15 noch ein Seminar für Rechtsphilosophie angekündigt, konnte dies aber infolge seines Einzuges zum Militär nicht abhalten.791 Auch im Sommersemester 1915 ruhte seine Lehrtätigkeit. Erst im Wintersemester 1915/16 konnte er wieder Lehrveranstaltungen an der Universität 786 Allerdings sind die Vorlesungsverzeichnisse alleine hier keine zuverlässige Quelle. Immerhin erschien an der Universität Wien infolge des Kriegsausbruchs noch eine »berichtigte« Ausgabe für das Wintersemester 1914/15, mit der auf die Veränderungen im Lehrangebot infolge der Einberufung so vieler Lehrender reagiert werden konnte. Andere Quellen fehlen zumeist. Nur ausnahmsweise ist den Akten zu entnehmen, dass Kelsen aufgrund seines Militärdienstes an der Abhaltung von Lehrveranstaltungen verhindert war; vgl. Busch, Exportakademie (2010) 94 Anm. 105. 787 Busch, Exportakademie (2010) 94; ungenau daher auch hier wieder Métall, Kelsen (1969) 114 f. 788 Ehs, Kelsen und politische Bildung (2007) 61. 789 Hilda Schärf, Brief an Adolf Schärf v. 4. 3. 1916, zit. n. Métall, Kelsen (1969) 88. 790 Métall, Kelsen (1969) 88. 791 Vgl. das Verzeichnis der Öffentlichen Vorlesungen an der k. k. Universität zu Wien im Winter-Semester 1914/15 (Wien 1914) 11, sowie das richtiggestellte Verzeichnis der Öffentlichen Vorlesungen an der k. k. Universität zu Wien im Winter-Semester 1914/15 (Wien 1914) 8.
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Wien abhalten. Kelsen las in diesem sowie auch in den Wintersemestern 1916/17 und 1917/18 jeweils eine dreistündige Vorlesung aus »Allgemeiner Staatslehre mit besonderer Berücksichtigung der Soziologie« und hielt auch ein einstündiges »Seminar für Rechtsphilosophie« ab, während er in den Sommersemestern 1916, 1917 und 1918 keine Lehrveranstaltungen ankündigte. Die vor dem Krieg regelmäßig gehaltene, einstündige Vorlesung über den »Österreichisch-Ungarischen Ausgleich« hielt Kelsen zum letzten Mal im Wintersemester 1915/16; zwar kündigte er sie für das Wintersemester 1918/19 erneut an, doch ist es angesichts der politischen Ereignisse des Jahres 1918 zu bezweifeln, dass er sie auch wirklich las. Die Zahl der Studierenden war drastisch zurückgegangen; Rektor Wettstein hatte große Teile des Universitätsgebäudes zu einem Hilfslazarett umfunktioniert, in den Räumen der rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät war eine Quarantänestation untergebracht.792 Dort aber, wo noch der Vorlesungsbetrieb aufrecht erhalten wurde, fielen – aufgrund des Fehlens so vieler männlicher Studierender – die Studentinnen umso mehr auf, freilich nur an der philosophischen Fakultät, wo sie seit 1897, und an der medizinischen Fakultät, wo sie seit 1900 zugelassen waren. Dort aber stellten sie 1917 schon mehr als die Hälfte aller Hörerinnen und Hörer.793 Umso deutlicher wurde der Umstand spürbar, dass Frauen an der theologischen sowie an der rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät noch immer nicht zugelassen waren. Bereits im Jahr 1900 hatte Edmund Bernatzik in der Fakultät den Antrag gestellt, auch das Studium der Rechts‑ und Staatswissenschaften Frauen zugänglich zu machen und auch ein ausführliches Gutachten verfasst, in dem er das Verbot des Frauenstudiums als verfassungswidrig bezeichnete.794 Die Fakultät schloss sich der Forderung Bernatziks an, doch lehnte das Ministerium ab. Begründend wurde u. a. ausgeführt, dass Frauen ohnehin der Richter‑ und der Rechtsanwaltsberuf verwehrt sei, ein Rechtsstudium ihnen also nichts nützen würde (!). Diese Argumentationen mündeten schließlich in der Idee, ein eigenes Studium der Staatswissenschaften einzuführen, welches weniger auf die Bedürfnisse der österreichischen Justiz zugeschnitten war und – im Gegensatz zum Studium der Rechts‑ und Staatswissenschaften – auch Frauen zugänglich sein sollte, womit man den emanzipatorischen Forderungen etwas den Wind aus den Segeln nehmen wollte. Allerdings erfolgte dann, mit Sommersemester 1919, die Einführung des Studiums der Staatswissenschaften zeitgleich mit der Zulassung der Frauen zum Rechtsstudium.795 Noch während des Krieges beschloss indessen Bernatzik, die weitere Entwicklung an der Universität nicht abwarten zu wollen, sondern tat sich mit Eugenie Schwarzwald zusammen, um gemeinsam eine »Rechtsakademie für Frauen« zu gründen. Er 792 Taschwer,
Universität im Krieg (2013) 387; Ash, Die Universität Wien (2015) 57 f. Universität im Krieg (2013) 388. 794 Er stützte sich dabei besonders auf Art. 18 StGG-ARStB; vgl. dazu und zum Folgenden ausführlich Ehs, (Studium der) Rechte für Frauen 252 f.; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 160–164. 795 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 166. 793 Taschwer,
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handelte dabei sicherlich auch aus persönlichen Motiven, zumal auch seine Tochter Marie zu jenen Frauen gehörte, die Jus studieren wollten. Für Eugenie Schwarzwald passte eine derartige Ausbildung gut in ihr umfangreiches Konzept, und gerne öffnete sie ihre Schule – die sich seit 1914 an der Adresse Wien I., Wallnerstraße 9 befand796 – für die neue Akademie. Ein »geschäftsführender Ausschuss« wurde gebildet, dem außer Bernatzik als Vorsitzendem und den beiden Schwarzwalds eine Reihe weiterer Professoren und Dozenten, darunter auch Hans Kelsen angehörten, und am 9. Dezember 1917 erfolgte die feierliche Eröffnung der »Rechtsakademie für Frauen«.797 Vorgesehen war ein viersemestriges Studium in Form von Abendkursen, in denen natürlich nur ein Bruchteil des regulären Jusstudiums unterrichtet werden konnte. Ob diese Rechtsakademie daher solchen Frauen, die eine echte juristische Ausbildung wollten, wirklich von Nutzen sein konnte, war auch innerhalb der Befürworter des Frauenstudiums sehr umstritten. Immerhin scheint die Rechtsakademie – soweit die dürftige Quellenlage Aussagen hierzu ermöglicht – zwei Jahre lang aktiv gewesen zu sein, bis sie mit der Zulassung von Frauen zum Rechtsstudium an der Universität 1919 ihre Bedeutung verlor und ihre Tätigkeiten einstellte.798 Dass auch Kelsen zu den Aktivisten rund um das Frauenstudium gehörte, verwundert nicht. Seine Kontakte zu Eugenie Schwarzwald waren über die Jahre immer enger geworden, und spätestens ab 1917 zählte er – so wie Arnold Schönberg, Adolf Loos, Oskar Kokoschka oder Wilhelm Jerusalem – zu jenen Wissenschaftlern und Künstlern, die im Rahmen von Schwarzwalds »Fortbildungskursen« unterrichteten; nach Aussagen der ehemaligen Schülerin Alice Herdan-Zuckmayer waren es die Fächer Soziologie und Volkswirtschaft, sodass es nur eine Frage der Zeit war, bis er den Schwarzwald-Schülerinnen auch Rechtsinhalte vermitteln würde. Allerdings wurde Kelsen nur im ersten, nicht auch im zweiten Jahr der Tätigkeit der Rechtsakademie zu den Lehrern gezählt, es waren wohl weniger inhaltliche Differenzen als seine starke berufliche Anspannung in anderen Gebieten, die ihn davon abhielt, seine Lehrtätigkeit auch im zweiten Jahr fortzusetzen.799 Was die Publikationstätigkeit Kelsens während der Kriegsjahre betrifft,800 so unterlag diese starken Einschränkungen, und zwar schon deshalb, weil Veröffentlichungen von Militärpersonen – worauf weiter unten noch einzugehen ist – genehmigungspflichtig waren. Dennoch waren »[d]ie drei-ein-halb Jahre, die ich im Kriegsministerium taetig war, […] fuer meine wissenschaftliche Arbeit nicht verloren.«801 Denn er arbeitete in dieser Zeit an einer umfangreichen Schrift über »das Verhältnis von Recht 796 Holmes, Langeweile ist Gift (2012) 176. Im selben Gebäude, jedoch mit der Adresse Herrengasse 10, befand sich das »Café Herrenhof«, in dem Kelsen oft zu Gast war; vgl. dazu noch unten 375. 797 Holmes, Langeweile ist Gift (2012) 214; Ehs, (Studium der) Rechte für Frauen (2012) 257; Kalb, Bernatzik (2018) 102. 798 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 169 f. 799 Holmes, Langeweile ist Gift (2012) 216. 800 Schon erwähnt wurden seine Auseinandersetzungen mit Rickert (oben 105) und mit Ehrlich (oben 166). 801 Kelsen, Autobiographie (1947) 18 = HKW I, 55.
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und Staat«. Der von der traditionellen Lehre angenomme Dualismus zwischen Staat und Recht war geradezu das Fundament für die beiden anderen, von ihm schon in seiner Habilitationsschrift als bloß scheinbar entlarvten Gegensätze von subjektivem und objektivem, von privatem und öffentlichem Recht. Nunmehr gelang es Kelsen, auch noch die Unrichtigkeit dieses dritten Dualismus aufzudecken und er gelangte zur »Einsicht der Einheit von Staat und Recht«.802 Leider ist die von Kelsen erwähnte Arbeit als solche nicht mehr erhalten; ihre Ergebnisse gingen aber in seine Monographie über »Das Problem der Souveränität« ein, die er nach eigenen Angaben im Wesentlichen schon 1916 fertig gestellt hatte, die aber – wohl infolge des Krieges – erst 1920 publiziert wurde.803 Auch während des Weltkrieges fanden regelmäßige Treffen von Kelsen mit seinen Schülern in der Wickenburggasse statt; und von diesen gingen allmählich erste bedeutende Impulse zur Weiterentwicklung von Kelsens (erst ab 1920 so bezeichneter) »Reiner Rechtslehre« aus. Den unmittelbaren Anstoß gab dabei die – nur auf den ersten Blick harmlos wirkende – Neuregelung der Wappen und Fahnen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie im Oktober 1915, mit der »Österreich« und »Ungarn« heraldisch und vexillologisch erstmals als zwei gleichberechtigte, souveräne Staaten dargestellt wurden.804 Eine Besprechung dieser Neuregelung durch Verdroß in den »Juristischen Blättern« führte zu einer regen literarischen Auseinandersetzung zwischen ihm, Weyr und Merkl in der genannten Zeitschrift, die von der Frage, inwieweit ein Staat (Österreich) durch Beschlüsse eines anderen Staates (Ungarn) gebunden werden könne, über die Frage, ob eine Verfassung geändert werden könne, wenn sie selbst keine Regelungen für ihre Abänderung vorsehe, schließlich zur generellen Frage führte, inwieweit überhaupt Gesetze abänderbar seien.805 »Es gibt kaum eine positivrechtliche Frage, hinter der sich nicht ein sogenanntes allgemeines Rechtsproblem verbergen würde«, resümierte Merkl.806 Diese Diskussion war in mehrfacher Hinsicht äußerst fruchtbringend: Denn Verdroß formulierte in diesem Zusammenhang die These, dass ein Jurist zur Erfassung des Rechtsstoffes eine bestimmte »hypothetische Annahme« tätigen müsse – womit er einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Grundnorm leistete.807 Für Merkl war die Debatte ein Anstoß dafür, dass er sich mit dem Problem der Entstehung und 802 Kelsen,
Selbstdarstellung (1927) 22 = HKW I, 22. Kelsen, Souveränität (1920) VIII. 804 Die Neuregelung des Wappens erfolgte durch ein ah. Handschreiben v. 11. 10. 1915, die Neuregelung der Fahnen durch einen Armee‑ und Flottenbefehl vom selben Tag, beide abgedruckt in der Wiener Zeitung Nr. 236 v. 12. 10. 1915, 1–3, das ah. Handschreiben auch in RGBl. Nr. 327/1915. Vgl. oben 34 das zum Verhältnis zwischen Österreich und Ungarn Gesagte sowie unten 199 zu den ungarischen Selbständigkeitsbestrebungen. 805 Verdross, Neuregelung (1916) = VGS 61–74; Weyr, Abänderlichkeit (1916); Verdross, Rechtsunterworfenheit (1916) = WRS 1265–1275; Merkl, Die Unveränderlichkeit von Gesetzen (1917) = MGS I/1, 155–168 = WRS 883–892. 806 Merkl, Die Unveränderlichkeit von Gesetzen (1917) 97 = MGS I/1, 155 = WRS 883. 807 Verdross, Rechtsunterworfenheit (1916) 472 = VGS 80 = WRS 1266; vgl. Walter, Grundnorm (1992) 51. 803
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des Unterganges von Normen befasste, was er dann in seiner Abhandlung über »Das doppelte Rechtsantlitz«808 fortsetzte und damit den Grundstein für die von ihm allmählich entwickelte Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung legte. Schon zuvor, im Februar 1915, hatte Leonid Pitamic eine Schrift über »Die parlamentarische Mitwirkung bei Staatsverträgen in Österreich« bei der Wiener rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät als Habilitationsschrift eingereicht.809 Nach Absolvierung des Kolloquiums am 15. Juni und des Vortrages zum damals brandaktuellen Thema »Das österreichische Verfassungsrecht und der Krieg« am 7. Juli wurde Pitamic für allgemeines und österreichisches Staatsrecht habilitiert.810 Zwei Jahre später, 1917, veröffentlichte er eine Arbeit über »Denkökonomische Voraussetzungen der Rechtswissenschaft«,811 in der er sich u. a. mit der wissenschaftstheoretischen Frage beschäftigte, ob die Methode den Gegenstand bestimme (was die Ansicht der Neukantianer und auch Kelsens war), oder ob es nicht doch eher umgekehrt sei, weil man ja nicht völlig willkürlich eine Methode wähle. Pitamic wurde für diese Ansicht von Kelsen und Weyr kritisiert, aber dennoch konstatierte Kelsen später, dass Pitamic »wertvolle Beiträge zur Frage der Bestimmung der Grundnorm als der Voraussetzung juristischer Erkenntnis geliefert« habe.812 Die Wiener rechts‑ und staatswissenschaftliche Fakultät beschloss am 27. Februar 1918 auf Antrag von Bernatzik und Strisower, Pitamics venia auch auf die Rechtsphilosophie auszudehnen.813
4. Nichtberufung nach Graz Am 22. September 1915 vermeldete die »Wiener Zeitung« in ihrem amtlichen Teil, dass Kaiser Franz Joseph I. acht Tage zuvor eine Reihe von Staats‑ und Verwaltungsrechtlern ausgezeichnet hatte. Der Hofrat des VwGH Dr. Rudolf Hermann von Herrnritt und der Professor an der Technischen Hochschule Wien Dr. Josef Redlich, die beide als Privatdozenten auch an der Universität Wien lehrten, erhielten den Titel eines »ordentlichen Universitätsprofessors«, der Ministerialsekretär im Handelsministerium Priv. Doz. Dr. Fritz Hawelka, der Ministerialvizesekretär im selben Ministerium Priv. Doz. Dr. Leo Wittmayer sowie der Adjunkt an der Exportakademie Priv. Doz. Dr. Hans Kelsen erhielten den Titel eines »außerordentlichen Universitätsprofessors«.814 808 Merkl,
Das doppelte Rechtsantlitz (1918) = MGS I/1, 227–252 = WRS 893–911. die Rezension von Kelsen in HKW III, 543–550. 810 Dekan Wieser an Unterrichtsministerium v. 9. 7. 1915 Z. 145 und Bestätigung durch das Ministerium v. 19. 7. 1915 Z. 21.134, in ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 612, Personalakt Pitamic Leonidas. 811 Pitamic, Denkökonomische Voraussetzungen (1917). 812 Kelsen, Hauptprobleme (1923) XV; vgl. Walter, Grundnorm (1992) 52; Pavčnik, Pitamic (2008) 332. 813 Dekan Voltelini an Unterrichtsministerium v. 5. 3. 1918 Z. 1.387 und Bestätigung durch das Ministerium 21. 3. 1918 Z. 8.519 in ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 612, Personalakt Pitamic Leonidas. 814 Ah. Entschließung vom 14. 9. 1915 Z. 28.493, in ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, 809 Vgl. dazu
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
Derartige Titelverleihungen waren reine Ehrungen, an die sich keine weiteren Rechte knüpften,815 und Kelsen selbst schreibt über diesen Akt, dass dieser nur »der ueblichen Routine gemaess« erfolgt war, was angesichts der Massenhaftigkeit des Phänomens nicht ganz unrichtig ist. Ihm, Kelsen, musste »diese Position […] eigentlich bei meiner juedischen Abstammung als das aeusserste« erscheinen, »das mir unter den gegebenen Verhaeltnissen erreichbar war.«816 Was veranlasste Kelsen zu dieser Mutmaßung? Aufschlussreich für die Beantwortung dieser Frage sind dazu möglicherweise die Vorgänge an der Karl-Franzens-Universität Graz wenige Monate später, als am 11. November 1915 der dortige Ordinarius des Staatsrechts Franz Hauke817 starb und die juridische Fakultät eine Kommission zur Nachbesetzung der Lehrkanzel einsetzte. Ihr gehörte u. a. der Ökonom Joseph Schumpeter an, der in Wien gemeinsam mit Mises und Kelsen 1901–1906 die Rechtswissenschaften studiert und sich 1909 bei Eugen Böhm v. Bawerk und Friedrich v. Wieser habilitiert hatte. Im selben Jahr war er nach Czernowitz, 1911 auf Betreiben Böhm-Bawerks nach Graz berufen worden; nach dem Krieg, 1919, wurde er Staatssekretär für Finanzen.818 1925 sollte Hans Kelsen der Trauzeuge Schumpeters bei dessen Hochzeit mit Anna Reisinger sein;819 ob ihre persönlichen Kontakte schon 1916 so ausgeprägt waren, dass sich dies auf Kelsens Karriere auswirken konnte, ist unbekannt. Bedeutender aber noch für Kelsen war das Kommissionsmitglied Max Layer, neben Hauke der zweite Ordinarius für Staatsrecht in Graz. Auch Layer war für Kelsen kein Unbekannter: Hatte der gebürtige Grazer doch 1903–1908 in Wien gelehrt und dort auch, wie bereits erwähnt, am 7. Mai 1906 den Studenten Kelsen im Fach Kirchenrecht geprüft (was Layer allerdings 1916 wohl kaum noch erinnerlich war).820 Von der Berufungskommission der juridischen Fakultät Graz zum Referenten gewählt, erstattete Layer am 23. Februar 1916 seinen Bericht und schlug dabei vor, Otto v. Dungern, Hans Kelsen und Max Kulisch pari passu (= gleichrangig) für den freigewordenen Lehrstuhl zu nominieren. Der 1870 in Böhmen geborene Kulisch war seit 1909 Ordinarius in Innsbruck und wurde von Layer als Vertreter der »juristischen staatsrechtlichen Schule (Laband – v. Seydel – Jellinek)« bezeichnet, der aber dank seiner mehrjährigen Tätigkeit im Verwaltungsdienst »vor Einseitigkeiten der juristischen Methode« frei sei. Der fünf Jahre jüngere Preuße v. Dungern war sowohl im Fach Staatsrecht als auch in der Rechtsgeschichte (wo ebenfalls ein Ordinariat zu besetzen war) bewandert; Layer meinte, dass er unmöglich in beiden Fällen Karton 610, Personalakt Herrnritt Rudolf; vgl. auch Wiener Zeitung Nr. 219 vom 22. 9. 1915, 1 (amtlicher Teil). Biographische Angaben zu den Genannten bei Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 473. 815 Staudigl-Ciechowicz, Dienst-, Habilitations‑ und Disziplinarrecht (2017) 305 f. 816 Kelsen, Autobiographie (1947) 17 = HKW I, 54. 817 ÖBL, 8. Lfg. (Wien 1958) 213. 818 Harald Hagemann, Schumpeter Joseph Alois, in: NDB XXIII (Berlin 2007) 755–756. 819 McCraw, Prophet of Innovation (2007) 123. 820 Siehe oben 90. Vgl. zu Layer auch Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 470, 503 f.
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übergangen werden dürfe, zumal er ein »ausserordentlich fruchtbarer und vielseitiger Schriftsteller« und »für die Grazer Universität unzweifelhaft ein schätzenswerter Gewinn« sei. Was schließlich Kelsen anbelangte, so hob Layer vor allem dessen »Hauptprobleme« hervor, bei denen es sich geradezu um »eine systematische Grundlegung des ganzen Rechtes mit grosser Folgenrichtigkeit [sic] und Scharfsinn […], wurzelnd auf einer geschlossenen Weltanschauung«, handle. Dass die Endergebnisse von Kelsens Untersuchungen »vergleichsweise dürftig« seien, ändere nichts daran, »dass wir ein wahrhaft grosszügiges Werk vor uns haben, an dem kein Staatsrechtslehrer, überhaupt kein Jurist achtlos vorübergehen kann.« Layer versäumte es auch nicht, Kelsens sonstige Schriften zu nennen und darauf hinzuweisen, dass er »in Wien ausserordentliche Lehrerfolge« und namentlich »einen bei einem Privat-Dozenten noch kaum dagewesenen Zulauf von Hörern« vorweisen könne. Von den sonstigen Professoren und Dozenten, die Layer als in Frage kommend erwähnte, doch letztlich verwarf, ist hier noch Rudolf v. Laun zu nennen, dessen Schrift über das freie Ermessen von Layer als »in der Hauptsache verfehlt, weil sich der Autor zu einer einheitlichen Auffassung nicht durchringen konnte«, bezeichnet wurde.821 Die Kommission nahm den Vorschlag Layers, was die Personen betraf, einstimmig an; auf Betreiben des Finanzrechtlers Alfred Gürtler wurde jedoch eine Reihung vorgenommen, wonach Kulisch primo loco, Dungern secundo loco und Kelsen erst tertio loco genannt wurden. In der Fakultätssitzung selbst sorgte die Besetzung der staatsrechtlichen und der rechtshistorischen Lehrkanzel für eine dreistündige Debatte, wobei anscheinend sowohl die Frage, ob Kelsen in den Dreiervorschlag überhaupt aufgenommen werden sollte, als auch, an welcher Stelle, die Hauptstreitpunkte waren, leider ohne dass die Argumente pro und contra bekannt wären. Layer verfasste ein Minoritätsvotum, in dem er gegen die vorgenommene Reihung protestierte, leider auch hier, ohne dass substantielle Argumente erkennbar wären; Layer insistierte lediglich darauf, dass »die Tüchtigsten« an erster Stelle zu nennen wären – sollte dies nicht selbstverständlich sein? Kann die Stellungnahme Layers dahin gedeutet werden, dass bei den Diskussionen an der Fakultät nicht alleine fachliche Argumente gebracht wurden und Layer die Diskussion wieder versachlichen wollte? Wenn ja, so wäre der Schluss naheliegend, dass die Gegner Kelsens sich gar nicht so sehr gegen die von ihm vertretenen rechtstheoretischen Positionen, sondern gegen seine jüdische Abstammung wandten. Freilich bleibt dies eine Mutmaßung. Jedenfalls wurde das Minoritätsvotum zwar von Schumpeter und auch vom Rechtshistoriker Paul Puntschart unterstützt, blieb aber wirkungslos. Der Ruf ging schließlich an Otto v. Dungern, welcher ab 1916 bis zu seiner Emeritierung 1941 in Graz lehrte.822 Immerhin ist die Episode in Graz ein Zeichen dafür, dass Kelsen schon zu Beginn seiner Karriere ein äußerst umstrittener Wissenschaftler war. 821 Max Layer, Besetzungsvorschlag v. 23. 2 . 1916, UA Graz, Jur. Fak. Zl. 304 ex 1195/16. Vgl. dazu schon Olechowski, Kelsen und die Berufungen nach Graz, Czernowitz und Wien (2014) 258. 822 Goller, Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1997) 186; Olechowski, Kelsen und die Berufungen nach Graz, Czernowitz und Wien (2014) 259.
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
5. Die Oktoberrevolution Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914 war allseitig mit einem kurzen Krieg gerechnet worden, der spätestens im Winter desselben Jahres vorbei sein würde. Mittlerweile waren jedoch schon drei Winter vorübergezogen, und ein Frieden schien in weiter Ferne zu liegen. Die »Mittelmächte« – Österreich-Ungarn, das Deutsche Reich, das Osmanische Reich und Bulgarien – standen einer an Menschen und Material weit überlegenen Allianz gegenüber: der »Entente«, einem von Russland, Großbritannien und Frankreich geführten Bündnis, dem sich im Verlauf des Krieges viele weitere Staaten – Serbien, Belgien, Italien, Rumänien und andere – angeschlossen hatten und das dennoch seine Überlegenheit lange Zeit nicht in einen Sieg umwandeln konnte. Vielmehr hatten die Feldzüge fast überall in einen zermürbenden Stellungskrieg gemündet, sodass sich Schützengräben quer durch Europa zogen, wo verbissen um jeden Meter gekämpft wurde, und es gab Gegenden, wie etwa das Schlachtfeld von Verdun, wo auf jeden Quadratzentimeter eine Granate fiel. Im Februar 1917 waren Belgien, Luxemburg und der Nordosten Frankreichs, Serbien, Montenegro und das nördliche Albanien, fast ganz Rumänien sowie riesige Teile des Russischen Reiches von den Mittelmächten besetzt, sodass es beinahe schien, als seien sie der Entente militärisch überlegen.823 Doch konnte dies nicht über den schwerer wiegenden Umstand hinwegtäuschen, dass die Mittelmächte von der Entente umzingelt und von den internationalen Handelswegen abgeschnitten waren, was sich schon bald in Knappheit an so gut wie allen Wirtschaftsgütern bemerkbar machte. Der Kriegseintritt der USA auf Seiten der Entente im Frühjahr 1917 schließlich führte etwas mehr als ein Jahr später zum vollständigen Zusammenbruch der Mittelmächte.824 Siebzehn Millionen Menschen kamen im Ersten Weltkrieg gewaltsam ums Leben: Männer und auch Frauen, Soldaten und Zivilisten, Bauern und Bürger, Adelige und Arbeiter. Der aus Wadowitz in Galizien [Wadowice/PL] stammende Neukantianer Emil Lask, neben Rickert der bedeutendste Schüler Windelbands, der sich bei ihm mit einer Schrift über »Rechtsphilosophie« habilitiert hatte und selbst seit 1911 Professor in Heidelberg gewesen war, hatte sich, in einem Anfall von nationalem Pflichtgefühl, freiwillig zur deutschen Armee gemeldet. Er starb am 26. Mai 1915, noch nicht vierzigjährig, in der Nähe seines Geburtsortes an der galizischen Front.825 Von allen beteiligten Mächten hatte kaum ein Land so schwer unter den Kriegseinwirkungen zu leiden wie Russland. Nach anfänglichen Erfolgen und einer Reihe von schweren Niederlagen hatte sich die russische Armee im Sommer 1915 ins Landesinnere zurückgezogen und ganz Polen, Litauen und Kurland dem Gegner 823 Vgl. den Überblick über den Kriegsverlauf aus österreichisch-ungarischer Sicht bei Jeřábek, Kriegsverlauf (2016). 824 Wagner, Der Erste Weltkrieg (1993) 244 ff.; R auchensteiner, Der Erste Weltkrieg (2013) 503 ff., 827 ff.; Deák, Der k.(u.)k. Offizier (1995) 232. 825 Rickert, Geleitwort (1923) V–XVI, bes. XIV; Friedbert Holz, Lask Emil, in: NDB XIII (Berlin 1982) 648–649.
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3. Kapitel: Der Erste Weltkrieg
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preisgegeben. Obwohl strategisch richtig, hatte dieser »Große Rückzug« doch katastrophale innenpolitische Folgen, nicht zuletzt einen Flüchtlingsstrom von über 1,5 Millionen Menschen und damit verbunden einen Prestigeverlust für Armee, Regierung und Kaiserhaus.826 Am 8. März 1917 (dem 23. Februar nach dem in Russland noch geltenden julianischen Kalender) brach in der Hauptstadt Petrograd, wie St. Petersburg zu jener Zeit genannt wurde, die »Februarrevolution« aus, eine Woche später dankte der Zar ab. Das konstitutionelle Parlament, die Duma, bildete eine provisorische Regierung, doch stand deren Autorität von Anfang an in Konkurrenz zu den sich überall bildenden Arbeiter‑ und Soldatenräten, den »Sowjets«, die eine Teilhabe an der Macht und überdies das Ende des Krieges gegen die Mittelmächte forderten.827 Die provisorische Regierung dagegen versuchte einen neuen Angriff gegen Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich, der aber scheiterte, was ihr Ansehen noch weiter sinken ließ. Die Lage war äußerst instabil, eine neuerliche Revolution drohte. In Wien wird eine Anekdote erzählt, wonach der österreichische Ministerpräsident Heinrich Graf Clam-Martinic, angesprochen auf die Möglichkeit einer Revolution in Russland, die Frage stellte: »Wer soll denn schon Revolution machen? Vielleicht der Herr Bronstein aus dem Café Central?« Der Ministerpräsident konnte nicht ahnen, wie Recht er mit seiner scherzhaften Bemerkung hatte. Denn Lev Bronstein, wie Trotzki mit bürgerlichem Namen hieß, hatte das Schachspielen im Café Central gleich nach Ausbruch des Weltkrieges aufgegeben und war aus Österreich geflohen, um einer Verhaftung zu entgehen. Nach knapp drei Jahren kommunistischer und gegen den Krieg gerichteter Agitation in der Schweiz, in Frankreich und Nordamerika war er im Mai 1917 nach Petrograd zurückgekehrt und wurde im September zum Vorsitzenden des Petrograder Sowjet gewählt.828 Noch kurz vor ihm war auch Lenin, der Vorsitzende der »Bolschewistischen Fraktion« (= Mehrheitsfraktion) der Sozialdemokratischen Partei Russlands, mit deutscher Hilfe aus seinem Schweizer Exil nach Petrograd zurückgekehrt, zumal sich Deutschland von einer Machtübernahme Lenins das Ausscheiden Russlands aus dem Krieg erhoffte. Gemeinsam planten Lenin und Trotzki die Machtübernahme. In der Nacht vom 6. auf den 7. November (24./25. Oktober nach julianischem Kalender) nahm das Militärrevolutionäre Komitee des Petrograder Sowjet in der gesamten Stadt strategisch wichtige Plätze ein; eine Nacht später besetzte es den Winterpalast, wo die Provisorische Regierung amtierte und verhaftete die meisten ihrer Mitglieder, während Lenin als »Vorsitzender des Rates der Volkskommissare« zum neuen Regierungschef gewählt wurde.829 Kurz und fast unblutig war diese »Oktoberrevolution« verlaufen; sie war freilich nur der Auftakt zu 826 Schramm, Die letzte Bewährungsprobe des Zarenreiches (1983) 491; R auchensteiner, Der Erste Weltkrieg (2013) 721. 827 Erler /Schramm, Februar bis Oktober 1917 (1983) 538 ff. 828 Trotzki, Mein Leben (1930) 226, 306 f.; Erler /Schramm, Februar bis Oktober 1917 (1983) 549. 829 Trotzki, Mein Leben (1930) 307 ff.; Erler /Schramm, Februar bis Oktober 1917 (1983) 578.
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
einem langen und grausam geführten Bürgerkrieg, in dem die von Trotzki geschaffene Rote Armee erst allmählich bis 1922 die Macht fast im gesamten vormaligen Russischen Reich erlangte, auf dessen Boden nun die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken entstand. Die Rechnung der deutschen Militärführung indes ging schon früher auf: Bereits am 15. Dezember 1917 trat ein Waffenstillstand an der Ostfront in Kraft; am 3. März 1918 wurde in Brest-Litowsk Frieden zwischen Sowjetrussland und den Mittelmächten geschlossen. Die Aufforderung Trotzkis an die Entente, sich an den Friedensverhandlungen zu beteiligen, verhallte wirkungslos. Wie schnell der Umsturz in Russland Wirkungen auch in Österreich-Ungarn zeigte, macht das Schicksal Otto Bauers deutlich. Dieser war im November 1914 als Leutnant der k. u. k. Armee in russische Kriegsgefangenschaft geraten und hatte mehr als zwei Jahre in Sibirien zugebracht. Bereits kurz nach der Februarrevolution 1917 konnten die österreichischen Sozialdemokraten bei den russischen Arbeiter‑ und Soldatenräten für ihren Parteigenossen intervenieren, und im Sommer 1917, noch vor der Machtübernahme Lenins, wurde Bauer aus der Gefangenschaft entlassen. Nach kurzem Urlaub am Semmering – wo er unter einem Pseudonym die Schrift »Die russische Revolution und das europäische Proletariat« verfasste – trat er am 1. Oktober 1917 seinen Dienst in der kriegswirtschaftlichen Abteilung des k. u. k. Kriegsministeriums an.830 Dies war nicht unproblematisch, zumal sein politisches Wirken der Staatspolizei nicht verborgen bleiben konnte, und als im Jänner 1918 überall in der Habsburgermonarchie Streiks ausbrachen, Arbeiter‑ und Soldatenräte nach russischem Vorbild gegründet wurden und Ministerpräsident Seidler mit den Führern der Sozialdemokratie – Adler, Seitz, Renner – in Verhandlungen treten musste, um die Lage zu beruhigen, ging im Kriegsministerium eine Anzeige ein, wonach hier ein Mann sitze, der für eine »allgemeine Volksrevolution« agitiere.831 Kelsen – der zu jener Zeit bereits als rechte Hand des Kriegsministers Rudolf Stöger-Steiner in dessen Büro arbeitete – erfuhr vom Minister, dass dieser überlegte, den unbequemen Bauer einfach wieder an die Front zu schicken. Kelsen entgegnete, dass dies bei den Freunden Bauers nur zu Verbitterung, Bauer selbst aber weder zu einem Gesinnungsumschwung noch zu einer Einstellung seiner publizistischen Tätigkeit führen würde.832 »Ich erlaubte mir den Vorschlag, der Herr Kriegsminister möge sich Herrn Dr. Otto Bauer kommen lassen und sich ein persönliches Bild von ihm machen, bevor er eine solche Entscheidung treffe. Dies geschah auch, Otto Bauer wurde zum Kriegsminister vorgeladen – und nicht an die Front geschickt.«833
830 Bauer, Die österreichische Revolution (1923) 66; Hanisch, Illusionist (2011) 85, 89; R auchensteiner, Der Erste Weltkrieg (2013) 686. 831 Hanisch, Illusionist (2011) 91. 832 Métall, Kelsen (1969) 21; Hanisch, Illusionist (2011) 38. 833 Fischer, Überzeugungen (2006) 139.
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6. Im Büro des Kriegsministers Der Eintritt Kelsens in das vorhin genannte Büro des Kriegsministers (3. Oktober 1917) muss als der entscheidende Schritt in seiner gesamten beruflichen Laufbahn angesehen werden: Kelsen kam auf diese Weise in direkten Kontakt mit den Schaltstellen der Macht und wusste diese Position für sich auch derart zu nutzen, dass seine akademische Karriere wieder neuen Schwung erhielt und er letztlich zum Professor an der Universität Wien ernannt wurde. Wie es dazu kam, schildert Kelsen sehr ausführlich in seine Autobiographie: Demnach hatte ein »Justizoffizier des Armee-Oberkommandos, Major-Auditor Schager« eine »Zeitschrift für Militärrecht« gegründet und suchte nach Beiträgen für diese. »Nun hatte ich schon vor einiger Zeit eine groessere Abhandlung geschrieben, die sich mit der Frage einer nach dem Kriege durchzufuehrenden Verfassungsreform befasste, mit der Absicht, sie nach Friedensschluss in meiner Oesterreichischen Zeitschrift fuer Oeffentliches Recht zu publizieren. In dieser Abhandlung war ein Kapitel, das sich mit der von ungarischer Seite betriebenen Trennung der gemeinsamen Armee beschaeftigte. Dieses Kapitel schnitt ich – buchstaeblich – aus dem Manuscript heraus und uebergab es meinem Chef als Beitrag fuer die neue Zeitschrift. Da ich nichts weiter erfuhr, vergass ich die ganze Angelegenheit, der ich keinerlei Bedeutung zumass.«834 Ein paar Tage später wurde Kelsen zum Rapport beim Kriegsminister beordert. Wie Kelsen viel später berichtete, hatte er ein schlechtes Gewissen, da ihm kurz zuvor ein fataler Fehler passiert war: »Ich hatte bei einem Akt des Feldgerichtes den Beschuldigten und den Geschädigten verwechselt. Der Geschädigte war aber ein hochgestellter Herr, nämlich ein Bürgermeister, der trotz seines heftigen Protestes, prompt eingesperrt wurde.«835 Doch war dies nicht der Grund dafür, dass ihn der Minister, Generaloberst Rudolf Freiherr Stöger-Steiner von Steinstätten, »mit hochgezogenen Augenbrauen empfing«. Vielmehr war es der Aufsatz über die Trennung der österreichisch-ungarischen Armee, den Kelsen ohne Wissen des Ministers publiziert hatte. Wie Kelsen in seiner Autobiographie behauptete, hatte er vor seinem Gespräch mit dem Minister noch gar nicht gewusst, dass der Aufsatz bereits veröffentlicht sei. Nun verteidigte er sich, indem er »erklaerte, dass ich das Manuscript im ordentlichen Dienstwege, durch meinen Vorgesetzten dem Herausgeber der Zeitschrift uebermittelt habe, und dass ich nicht annehmen koennte, dass die Publikation in einer von einem Offizier des Armee-Oberkommando herausgegebenen Zeitschrift irgendetwas anstoessiges an sich haben koennte. Im weiteren Verlauf meines Verhoers fand ich heraus, dass der Minister mich im Verdacht hatte, im Dienste des Armee-Oberkommando zu arbeiten, das mit dem Kriegsministerium in einem staendigen, durch persoenliche Eifersuechteleien vergifteten Kompetenzkonflikt stand. […] Es gelang 834 Kelsen, Autobiographie (1947) 11 = HKW I, 47. Vgl. auch die Darstellung bei Knight, Der Vater der Verfassung (1994) 110 f.; beachte, dass Knight im Besitz der damals noch nicht veröffentlichten Autobiographie war: Jestaedt in HKW I, 590. 835 Kelsen, zit. n. Fischer, Überzeugungen (2006) 139.
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
mir leicht den Minister zu ueberzeugen, dass mir der politische Hintergrund der Affaire voellig unbekannt gewesen sei, und dass ich keinen groesseren Ehrgeiz haette als meine bescheidenen Kenntnisse auf dem Gebiet des oesterreichisch-ungarischen Staatsrechts zu seiner und ausschließlich zu seiner und keines andern Verfuegung zu stellen. Das Ergebnis war dass er mich sofort ins Praesidium berief und mir ein Bureau in naechster Naehe seines eigenen anweisen liess.«836 Soweit die Autobiographie, deren Angaben freilich gerade hier besonders kritisch zu prüfen sind. Beim »Justizoffizier« handelte es sich um den 1877 in Mürzzuschlag in der Steiermark geborenen Albin Schager, der nach seinem Rechtsstudium die Militärlaufbahn eingeschlagen und ab 1910 im Kriegsministerium gearbeitet hatte, wo er u. a. an der Entstehung der Militärstrafprozessordnung 1912 mitwirkte.837 1914–1917 diente Schager an der Balkan‑ und an der Italienfront, bevor er in die Militärkanzlei Kaiser Karls berufen wurde und sich im gleichen Jahr 1917 an der Universität Innsbruck für Militärstrafprozessrecht habilitierte. Schager zählte gerade in den Tagen des Zusammenbruchs der Monarchie zum engsten Umfeld des Kaisers (der ihn noch am 10. November 1918 zum »Freiherrn von Eckartsau« ernannte), spielte allerdings bei dessen erfolglosen Restaurationsbestrebungen in Ungarn 1921 eine etwas undurchsichtige Rolle; später arbeitete Schager in einer Anwaltskanzlei und war Präsident der monarchistischen Konservativen Volkspartei Österreichs (die niemals ein Mandat erlangte)838 – ein Umstand, auf den Kelsen wohl anspielte, wenn er in seiner Autobiographie schrieb, dass Schager damals »einen erheblichen Einfluss auf den Monarchen ausuebte und nach dem Zusammenbruch der Monarchie ein schmaehliches Ende nahm«.839 Die publizistische Tätigkeit von Militärpersonen war tatsächlich engen rechtlichen Grenzen unterworfen,840 doch hatte Kelsen, den Dienstweg einhaltend, sich hier formal sicher nichts zuschulden kommen lassen. Eher lag es am Inhalt seines Aufsatzes, der einigen »Zündstoff« barg. Dass dieser Aufsatz ursprünglich Teil einer größeren Arbeit über eine allgemeine Verfassungsreform der Monarchie gewesen sein soll, ist durchaus möglich;841 dies würde auch erklären, weshalb er zwei eigentlich nur lose miteinander zusammenhängende Themen behandelte; beachtenswert ist jedenfalls auch unter diesem Gesichtspunkt, dass Kelsen im Rahmen dieses Artikels eine Demokratisierung des Staates für die Nachkriegszeit nicht nur prophezeite, sondern auch 836 Kelsen, Autobiographie (1947) 11 f. = HKW I, 47–49. Großteils wörtlich übernommen bei Métall, Kelsen (1969) 19 f. 837 Schager, Militär-Strafprozeßordnung (1917) 39. 838 K. A. Majer, Schager von Eckartsau Albin, in: ÖBL, 46. Lfg. (Wien 1990) 30. 839 Kelsen, Autobiographie (1947) 11 = HKW I, 47. 840 Circular-Verordnung des Kriegsministeriums v. 11. 7. 1864 RGBl 80; vgl. Olechowski, Preßrecht (2004) 596. 841 Der größere, für die ÖZÖR bestimmte Aufsatz, erschien niemals, über seinen Inhalt, insoweit er über den hier zu besprechenden Text hinausging, ist nichts bekannt; vgl. den Editorischen Bericht von Jestaedt in HKW III, 761. Dass Kelsen die Passagen »buchstaeblich« aus dem Manuskript schnitt, wird niemanden, der Kelsens Arbeitsweise kennt, verwundern.
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dafür – konkret: für eine Demokratisierung der Verwaltung, eines seiner späteren Lieblingsthemen – eintrat.842 Das erste, weniger spektakuläre Themenfeld war Kelsens Kritik am traditionellen System der wehrgesetzlich beschränkten Rekrutierungskontingente, d. h. dass die Parlamente festlegten, wieviele Rekruten pro Jahr auszuheben seien. Dieser »Überrest aus der Zeit der ständischen Monarchie« sei mit dem Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht unvereinbar. Er plädierte für eine Wehrpflicht, die den Namen »allgemein« auch tatsächlich verdiene: »Alle wirklich Tauglichen sind schon im Frieden tatsächlich militärisch auszubilden.« Der Preis dafür wäre eine wesentliche Verkürzung der Präsenzdienstzeit, was aber durchaus möglich sei, wie nicht zuletzt die Erfahrungen des Weltkrieges zeigen.843 Kelsen entwickelte damit zwar ähnliche Gedanken wie so manche marxistische Staatstheoretiker, doch niemand hätte ihm wegen dieser Ideen in irgend eine Richtung einen Vorwurf machen können. Anders verhielt es sich jedoch mit dem zweiten Themenfeld, der Organisation der Heeresverwaltung, in dessen Rahmen sich Kelsen für eine »möglichste Einschränkung der parlamentarischen Kompetenz auf dem Gebiete des Heereswesens« aussprach.844 Diese erstaunliche, auf den ersten Blick erschreckend antidemokratische Forderung wird verständlich, wenn man sich die rechtliche Situation des österreichisch-ungarischen Heerwesens zu jener Zeit ansah. Die den sog. Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn regelnden Gesetze hatten nämlich eine äußerst komplizierte und rechtlich unklare Situation geschaffen, indem zwar das Militärwesen an sich zu den von Österreich und Ungarn gemeinsam zu behandelnden Angelegenheiten zählte, »aber nur insoferne, als eine gemeinsame Armee und Flotte und eine gemeinsame Führung, Leitung und innere Organisation der Wehrmacht in Betracht kommen. Die Wehrgesetzgebung ist jedoch eine sogenannte dualistische Angelegenheit«, d. h. der österreichische Reichsrat und der ungarische Reichstag hatten hier zwei formell voneinander unabhängige, inhaltlich gleich lautende Gesetze zu erlassen (sog. paktierte Gesetzgebung), was in der Praxis kaum funktionierte und immer schwieriger wurde, je mehr Ungarn für sich die Unabhängigkeit vom Rest der Monarchie verlangte. Tatsache war, dass nicht nur für die Österreichisch-Ungarische Monarchie ein gemeinsames k. u. k. Kriegsministerium, sondern zusätzlich für das Kaisertum Österreich ein k. k. Landesverteidigungsministerium und für das Königreich Ungarn ein königlich ungarisches Landesverteidigungsministerium [magyar királyi honvédelmi miniszterré] existierte, somit drei oberste Behörden, die praktisch in allen wichtigen Belangen stets zusammenarbeiten mussten.845 Dabei waren alle drei Minister den jeweiligen parlamentarischen Körperschaften gegenüber rechtlich verantwortlich, konnten also im Falle einer Gesetzesübertretung unter Anklage gestellt werden; die rechtliche Verantwortlichkeit des k. u. k. Ministers gegenüber den 842 Kelsen,
Wehrmacht (1917) 15 = HKW III, 622. Wehrmacht (1917) 8, 11 = HKW III, 616, 619, 620. 844 Kelsen, Wehrmacht (1917) 13 = HKW III, 620. 845 Schmetterer, Kelsens Vorschläge (2016) 130. 843 Kelsen,
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Abb. 20: Rudolf Freiherr v. Stöger-Steiner. Foto mit handschriftlicher Widmung an Hans Kelsen: »Herrn Professor Kelsen in dankbarer Erinnerung an die mir geleisteten vorzüglichen Dienste auf staatsrechtl. Gebiete. 14. 11. 1918 Rudolf Frhr. v. Stöger-Steiner. K. u. K. Kriegsminister a. D.«.
österreichischen und ungarischen Parlamentsdelegationen war aber eine rein theoretische, weil es in Österreich an einem Ausführungsgesetz mangelte. Auch existierte zwar für Österreich und für Ungarn jeweils ein VwGH, nicht jedoch ein gemeinsamer VwGH für die Österreichisch-Ungarische Monarchie, sodass die Akte des k. u. k. Ministers keiner Rechtskontrolle unterworfen waren.846 Die eigentliche Kriegsführung oblag indessen keinem dieser drei Ministerien, sondern dem Armee-Oberkommando, und dieses handelte direkt im Auftrag des Monarchen847 ohne irgendeine Bindung an ministerielle oder sonstige Verantwortlichkeiten, 846 Schmetterer, Kelsens Vorschläge (2016) 132. Nach § 3 lit c und lit d Verwaltungsgerichtshof-
gesetz RGBl 1876/36 waren nicht nur alle gemeinsamen, sondern auch alle sog. dualistischen Angelegenheiten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie von der österreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgenommen, was insbesondere den größten Teil der Heeresverwaltung betraf; vgl. dazu Olechowski, Verwaltungsgerichtsbarkeit (1999) 177 f. und 220 f. 847 Formeller Chef des Armeeoberkommandos war bis zum 2. 1 2. 1916 Erzherzog Friedrich (ein Enkelsohn des »Siegers von Aspern«, Erzherzog Karl), danach Kaiser Karl I.(IV.) persönlich.
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weil die Kriegsführung zu den sog. Prärogativen der Krone zählte.848 Kelsen kritisierte diesen – aus rechtsstaatlicher Sicht bedenklichen – Umstand keineswegs; es entspreche »dem innersten Wesen dieser Staatsfunktion«, dass die Armee selbst »autokratisch« organisiert sei. Dagegen sei die Militärverwaltung unbedingt »in das System ministerieller Verantwortung einzubeziehen.«849 Seine Lösung für dieses Problem war ebenso einfach wie radikal: Das k. u. k. Kriegsministerium sollte aufgelöst und seine Agenden teils dem Armee-Oberkommando, teils den beiden Landesverteidigungsministerien (die bei dieser Gelegenheit in »Kriegsministerien« umzubenennen wären) zugeordnet werden! Dieser Plan hatte eine Reihe von Vorteilen: Nicht nur wäre das Kompetenzwirrwarr vereinfacht, sondern es unterlägen beide verbliebenen Minister sowohl einer persönlichen, rechtlichen Verantwortlichkeit gegenüber den jeweiligen Parlamenten als auch einer Rechtskontrolle ihrer Verwaltungsakte durch die jeweiligen Verwaltungsgerichtshöfe. Dies mochte schwerer wiegen als das Faktum, dass auch das monarchische Armee-Oberkommando, das auch weiterhin keinerlei Kontrolle unterliegen würde, gestärkt aus der Reform hervorgehen würde. Notwendig wäre freilich eine klare »Scheidung zwischen Militärverwaltung‑ und Armee-Kommando-Angelegenheiten«, woran es derzeit noch fehle.850 Es musste Kelsen klar sein, dass er sich mit diesen Vorschlägen auf hochpolitisches Terrain begab, zumal die Auflösung des k. u. k. Kriegsministeriums auch einem lange gehegten Wunsch einflussreicher ungarischer Kreise entsprach, die sich eine Verselbständigung des ungarischen Militärwesens wünschten.851 Und tatsächlich hatte nach dem Tode Kaiser Franz Josephs I. (21. November 1916) der neue Monarch (der in Österreich als Kaiser Karl I., in Ungarn als König Károlyi IV. bezeichnet wurde), der ungarischen Regierung entsprechende Zugeständnisse gemacht852 und, nachdem er am 12. April 1917 Generaloberst Rudolf Freiherr Stöger-Steiner von Steinstätten zu seinem neuen k. u. k. Kriegsminister ernannt hatte, diesen beauftragt, die Sache zu prüfen und vorbereitende Schritte zu setzen. »Nun hatte der Minister auf irgendeine Weise erfahren, dass die erste Nummer der unter den Auspizien des Armee-Oberkommando herausgegebenen Zeitschrift fuer Militaerrecht als ersten Artikel eine Abhandlung ueber die Armeetrennung bringen werde, was ihn befuerchten liess, dass sich das Armee-Oberkommando der Angelegenheit bemaechtigen wolle.«853 Tatsächlich war Kelsen nicht ganz so blauäugig, wie er es in seiner Autobiographie vorgab. Vielmehr hatte er sich schon 1915 an Überlegungen des Armeeoberkommandos zu einer Neuorganisation der obersten Militärbehörden nach dem Krieg 848 Schmetterer,
Kelsens Vorschläge (2016) 131 f. Wehrmacht (1917) 16 f. = HKW III, 624. 850 Kelsen, Wehrmacht (1917) 16 = HKW III, 623. 851 Höbelt, »Stehen oder Fallen?« (2015) 179; Schmetterer, Kelsens Vorschläge (2016) 134 f. 852 Dazu Ress, Das Königreich Ungarn im Ersten Weltkrieg (2016) 1157. 853 Kelsen, Autobiographie (1947) 12 = HKW I, 48; zu den Hintergründen näher Busch, Kelsen im Ersten Weltkrieg (2009) 67. 849 Kelsen,
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beteiligt, und schon hier hatte sich Kelsen für eine bessere Trennung von Armeekommando und Militärverwaltung eingesetzt.854 Als dann zwei Jahre später sein Aufsatz mit weitgehend identen Forderungen erschien, stieß dieser auch außerhalb von Militärkreisen auf großes Aufsehen,855 und wurde auch keineswegs von seinem Autor »vergessen«; vielmehr übermittelte Kelsen selbst am 28. August 1917 »ergebenst« ein handschriftlich gewidmetes Exemplar dem Vorstand des Präsidialbüros des Ministers, Generalmajor Livius Borotha von Trstenica.856 Dass er wenige Tage später vom Minister zum Rapport bestellt wurde, war also nichts Verwunderliches; erstaunlich war vielmehr die Reaktion Stöger-Steiners, nämlich dass er den in der eigentlichen Kriegsführung völlig unerfahrenen Kelsen in seinen engsten Mitarbeiterstab holte, obwohl dieser zuvor die Existenzberechtigung des k. u. k. Kriegsministeriums öffentlich in Frage gestellt hatte. Der Minister hatte offenbar schnell erkannt, dass Kelsen zwar ambitioniert, aber kein Agent des Armeeoberkommandos oder sonst einer konkurrierenden Stelle war und er daher mit ebensolchem Elan wie zuvor gegen ihn, nunmehr für ihn arbeiten könnte. Dazu mag gekommen sein, dass sich Kelsen auch bei allen bisherigen Aufgaben bewährt hatte und dass es generell von Vorteil sein konnte, einen Dozenten des Staatsrechtes – noch dazu einen, der Vorlesungen über die Verfassungen der Balkanstaaten und der Türkei gehalten hatte – in seinen Diensten zu haben. Aber noch ein Faktor ist hier zu bedenken: Prof. Ernst Seidler (sen.), der Vorgesetzte Kelsens in der Exportakademie, war am 1. Juni 1917 zum k. k. Ackerbauminister, am 23. Juni 1917 gar (als Nachfolger von Clam-Martinic) zum k. k. Ministerpräsidenten ernannt worden,857 sodass Stöger-Steiner damit auch seine Kontakte zum neuen österreichischen Regierungschef verbessern konnte – für letzteres gibt es allerdings quellenmäßig keinen Beweis. Wie auch immer: Am 3. Oktober 1917 wurde Kelsen in das Präsidium des k. u. k. Kriegsministers versetzt;858 am 26. Dezember erfolgte – rückwirkend mit 1. November – seine Beförderung zum Hauptmann-Auditor. In der Begründung dazu hieß es, dass Kelsen – ebenso wie der damals gleichermaßen zum Hauptmann-Auditor ernannte Strafrechtsprofessor Wenzeslaus Graf Gleispach – immer wieder als Vertreter des Kriegsministers zu »interministeriellen Beratungen« entsendet werden sollte, weshalb diesen beiden Professoren ein ihrer Aufgabe angemessener Offiziersrang zu verleihen sei.859
854 Busch, Kelsen im Ersten Weltkrieg (2009) 69. – Vgl. auch die Erwähnung eines »Wissenschaftlichen Komitees für Kriegswirtschaft« im k. u. k. Kriegsministerium, zu dessen Teilnehmern u. a. Ludwig v. Mises, Ernst Broda und Hans Kelsen zählten, bei Hülsmann, Mises (2007) 274. 855 Vgl. etwa Josef Redlich, Tagebucheintrag vom 15. 10. 1917, in Fellner /Corradini, Tagebücher II (2011) 348. 856 Oberkofler /R abofsky, Kelsen im Kriegseinsatz (1988) 73; Busch, Kelsen im Ersten Weltkrieg (2009) 68. 857 Höbelt, »Stehen oder Fallen?« (2015) 183 f. 858 Oberkofler /R abofsky, Kelsen im Kriegseinsatz (1988) 73. 859 Oberkofler /R abofsky, Kelsen im Kriegseinsatz (1988) 18.
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Damit war der entscheidende Karriereschritt Kelsens vollzogen; als Vertreter des Kriegsministers kam Kelsen nun nacheinander mit allen politischen Größen seiner Zeit, auch mit dem Kaiser selbst,860 in Kontakt, und der Umstand, dass nach dem Rücktritt des Ministerpräsidenten Seidler (25. Juli 1918861) auch die beiden letzten Regierungschefs der österreichischen Reichshälfte, Max Freiherr Hussarek von Heinlein (Juli bis Oktober 1918) und Heinrich Lammasch (Oktober/November 1918), Angehörige des Lehrkörpers der juristischen Fakultät der Universität Wien, ja diese beiden sogar Herausgeber der von Kelsen redigierten »Österreichischen Zeitschrift für Öffentliches Recht« waren, wird das seine dazu beigetragen haben, dass Kelsens politischer Einfluss in diesen letzten Monaten der Monarchie stetig wuchs. Dass der Kriegsminister Stöger-Steiner »zu mir Vertrauen hatte, zeigte sich darin dass er mich bald auch in andern staats‑ und voelkerrechtlichen Fragen zu Rate zog und gelegentlich auch in rein politischen Dingen um meine Ansicht fragte.«862 Hauptaufgabe Kelsens war jedoch die Reform der Organisation der Wehrmacht, die nach Kriegsende durchgeführt werden sollte, und hier gelang ihm tatsächlich das vom Minister erhoffte Husarenstück, den Entwurf für ein »Militärgesetz« zu verfassen, das zwar fast alle von ihm in seinem Aufsatz genannten Reformvorschläge übernahm, aber dennoch an der Existenz eines k. u. k. Kriegsministeriums festhielt.863 Dieser Entwurf samt Motivenbericht wurde vermutlich zur Jahreswende 1917/18 dem Kaiser persönlich präsentiert; am 8. Jänner 1918 erteilte dieser dem k. u. k. Kriegsminister den allerhöchsten Befehl, in Verbindung mit dem österreichischen Ministerpräsidenten Seidler und seinem ungarischen Amtskollegen Sándor Wekerle zu treten, um das Weitere zu veranlassen, und auch diese Schreiben wurden von Kelsen konzipiert. Das Zusammenwirken sowohl der österreichischen als auch der ungarischen Regierung war notwendig, zumal das Militärgesetz von beiden Parlamenten – gleichlautend – verabschiedet werden sollte, um völlige Übereinstimmung in dieser Materie zu erreichen.864 Wichtigster Punkt war die genaue, taxative Aufzählung des Wirkungsbereiches der obersten Kommandogewalt (§ 4), während die Militärverwaltung teils einem österreichischen bzw. ungarischen Kriegsminister (§ 5), teils aber auch einem gemeinsamen (österreichisch-ungarischen) Kriegsminister zukommen sollte (§ 7). Denn erstens, so argumentierte Kelsen, war eine völlige Trennung der Militärverwaltung nur im Bereich der Armee, nicht aber im Bereich der Marine (wo jedes 860 So schreibt Métall, Kelsen (1969) 20, dass Kelsen öfters »Kaiser Karl selbst in Reichenau und im Hauptquartier [der Armee] in Baden bei Wien Bericht zu erstatten hatte, was jeweils erst nach der befohlenen Teilnahme am [katholischen] Frühgottesdienst erfolgte.« Dass Kelsen seit 1911 ein Sohn der evangelischen Kirche A. B. war, bildete hier offenbar keinen Hindernisgrund. 861 Höbelt, »Stehen oder Fallen?« (2015) 254. 862 Kelsen, Autobiographie (1947) 12 f. = HKW I, 49; Métall, Kelsen (1969) 20. 863 Kelsen, Militärgesetz-Entwurf 1917. 864 Mit Recht hebt allerdings Busch, Kelsen im Ersten Weltkrieg (2009) 69, hervor, dass das Gesetz mit Absicht so formuliert war, dass es auch im Falle einer gänzlichen staatsrechtlichen Neugestaltung der Monarchie nach dem Krieg ohne große Veränderungen hätte in Kraft gesetzt werden können.
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einzelne Schiff gemeinschaftlich bleiben musste865) möglich; zweitens musste die Verwaltung des gemeinsamen Budgets einem verantwortlichen Minister überantwortet werden (wobei Kelsen verschwieg, dass die Verantwortlichkeit des k. u. k. Kriegsministers, wie erwähnt, praktisch nicht wahrgenommen werden konnte); drittens musste eine »Verwaltungsstelle« existieren, die auf eine Einheitlichkeit der Militärverwaltung in beiden Teilen der Doppelmonarchie achtete; viertens aber musste eine gemeinsame Militärverwaltung für die (von Österreich und Ungarn 1908 gemeinsam annektierten) Länder Bosnien und Herzegowina existieren.866 Die weiteren Verhandlungen über diesen Gesetzesentwurf zögerten sich hinaus; erst am 5. und 7. Oktober 1918 – zu einem Zeitpunkt also, als der Krieg schon so gut wie verloren war und der Zerfall der Monarchie unmittelbar bevorstand – kam es im Kriegsministerium zu zwei Konferenzen, bei denen Kelsen seine Ideen vor hohen Militärs, darunter dem Chef des Generalstabes Artur Arz von Straußenburg persönlich, präsentieren konnte. Diese Gespräche endeten ohne konkretes Ergebnis und wurden durch die weitere politische Entwicklung obsolet.867 Ein glühender Militarist wurde Kelsen aber wohl niemals, was die folgende Anekdote vermittelt: Als er im August 1918 mit einem Bekannten auf dem Weg ins Ministerium war, begegnete ihm ein k. u. k. Hauptmann namens Friedrich Kirchert, der ihn sofort vorschriftsmäßig grüßte. »Der Dank des Hauptmannauditor Kelsen bestand darin, dass er blitzschnell den rechten Unterarm in der Richtung des Kappenschirms bewegte, diesen kaum mit einem Finger berührend. […] Ich kann ruhig behaupten, dass mir während der fast 18 Jahre, während der ich die Offizierscharge bekleide, noch nie in einer derart verletzenden, im vollkommenen Widerspruch mit den Dienstvorschriften und dem militärischen Takte stehenden Weise mein Gruss erwidert wurde«. Kirchert stellte Kelsen zur Rede, erfragte Name und Einteilung und erhob Beschwerde beim Landesbeschreibungsbureau des k. u. k. Generalstabes über den »Hauptmannauditor Rudolf Kelsen« (sic). Der so Beschuldigte musste seine Sicht des Vorfalles schildern und gab an, dass er ins Gespräch vertieft gewesen war, nicht die Charge des grüßenden Offiziers bemerkt hatte und sich auch nicht bewusst gewesen war, »wie viel Finger ich zum Gruß verwendete.«868 Disziplinäre Folgen für das Verhalten Kelsens sind nicht bekannt.
865 Dies war keine Naturnotwendigkeit (vgl. Schmetterer, Kelsens Vorschläge [2014] 134), entsprach aber einer Forderung der ungarischen Regierung: Höbelt, »Stehen oder Fallen?« (2015) 179. 866 Kelsen, Militärgesetz-Entwurf 1917, 144. 867 Ausführlich dargestellt bei Oberkofler /R abofsky, Kelsen im Kriegseinsatz (1988) 135–151. Die (wie immer) gehässigen und gegen Kelsen gerichteten Kommentierungen der beiden Autoren entbehren erneut jeder sachlichen Grundlage; insbesondere war es nicht Kelsen zuzuschreiben, dass seine schon ab 1915 entwickelten Reformvorschläge erst viel zu spät in den maßgeblichen Kreisen diskutiert wurden. 868 Friedrich Kirchert, Schreiben an das Landesbeschreibungsbureau des k. u. k. Generalstabes 22. 8. 1918; Dienstzettel Hans Kelsens an das Präsidialbureau vom 22. 8. 1918, beides in HKI, Bestand Kelsen Persönliches. Vgl. auch den Hinweis bei Schmidl, Habsburgs jüdische Soldaten (2014) 290.
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7. Die Ernennung zum Extraordinarius Immerhin schien im Jahre 1918 eine Militärkarriere für Kelsen ernstlich möglich zu sein, denn der Kriegsminister hatte ihm »angeboten, auch nach dem Krieg im Ministerium mit ziemlich hohen Rang weiterzubleiben.«869 Welcher Art diese Position sein hätte sollen, können wir nur vermuten. So verfasste Kelsen – vermutlich parallel zu seinen Entwürfen an einem neuen Militärgesetz, um die Jahreswende 1917/18 – auch ein Memorandum über »Die Aufgaben der Heeresverwaltung bei einer Verfassungsreform«. Darin betonte er die Notwendigkeit, dass die Heeresverwaltung in die großen Verfassungsreformen, die nach dem Krieg auf die Monarchie zukommen würden, eingebunden werde. Es müsse daher eine »Stelle« eingerichtet werden, die alle staatsrechtlichen Reformvorschläge zu untersuchen hätte. »Diese Stelle muss – wo immer sie errichtet wird – in innigstem Kontakte mit allen maßgebenden militärischen Behörden, muss innerhalb des militärischen Organismus selber stehen.«870 Die Stelle solle sich aber auch um die Verbreitung der Kenntnis über das Militärwesen kümmern und insbesondere prüfen, wie das Militärrecht »zum Gegenstand des Unterrichtes insbesondere an den Hochschulen gemacht werden kann.«871 Hatte Kelsen hier mit Absicht die Pläne des Ministers in eine Richtung gelenkt, die seine eigene akademische Karriere befördern würde? Tatsächlich richtete der k. u. k. Kriegsminister Rudolf Stöger-Steiner am 7. März 1918 ein Schreiben an den k. k. Unterrichtsminister Ludwik Ćwikliński, in dem er seinem Bedauern darüber Ausdruck verlieh, dass die Militärjuristen, mit denen er arbeite, zwar im (Militär‑)Strafrecht, nicht jedoch in der Militärverwaltung ausgebildet seien. Es wäre »im militärischen Interesse dringend zu wünschen, daß an den juristischen Fakultäten wenigstens der beiden größten Universitäten der Monarchie – Wien und Budapest – sobald als möglich ordentliche Professuren für Militärrecht errichtet werden.« Wen sich Stöger-Steiner dabei als Professor wünschte, unterlag keinem Zweifel: »Bemerken möchte ich nur, daß es im Interesse der Sache zu wünschen wäre, daß der mit den Vorlesungen zu betrauende Dozent neben seiner wissenschaftlichen Qualität als Theoretiker des öffentlichen Rechtes auch über entsprechende Kenntnisse der militärischen Verwaltungspraxis verfüge.«872 Vor allem aber erwähnte Stöger-Steiner, dass die beiden Fakultäten in Wien und Budapest auch selbst schon Interesse in diese Richtung gezeigt hätten. Vergleichen wir dies mit dem, was Kelsen in seiner Autobiographie schreibt: Demnach hatte er außer vom Kriegsminister auch ein zweites, »sehr guenstiges« Angebot aus dem k. k. Ministerium für soziale Verwaltung bekommen. »Bevor ich mich in der einen oder anderen Richtung entschied, wollte ich meine Chancen an der Universitaet 869 Kelsen,
Autobiographie (1947) 17 = HKW I, 54. Heeresverwaltungs-Gutachten 1918, 152. 871 Kelsen, Heeresverwaltungs-Gutachten 1918, 154. Vgl. zu diesem Gutachten auch Schmetterer, Kelsens Vorschläge (2016) 135 f. 872 Rudolf Stöger-Steiner, Schreiben an den k. k. Unterrichtsminister Ludwik Ćwikliński v. 7. 3. 1918 Z. 7.426, in ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 607. 870 Kelsen,
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feststellen. Ich ging zu Bernatzik, teilte ihm meine Aussichten mit und sagte ihm, dass ich keines dieser Angebote anzunehmen beabsichtigte wenn ich eine wirkliche873 ausserordentliche Professur erhalten wuerde. Nach allem was ich bisher von der Haltung wusste, die Bernatzik in der Fakultaet in bezug auf mich eingenommen hatte, musste ich auf eine direkte oder indirekte Ablehnung gefasst sein. Wie gross war mein Erstaunen als Bernatzik – als Antwort – mich einfach fragte, fuer welche Faecher ich die Professur haben wolle. Ich schlug oeffentliches Recht mit besonderer Beruecksichtigung des Militaerrechts vor. Daraufhin stellte er in Aussicht einen solchen Antrag in naechster Zeit der Fakultaet stellen zu wollen. Das tat er auch und die Fakultaet nahm den Antrag ohne weiteres an. Ich zweifle nicht daran dass Bernatzik’s Haltung ganz entschieden durch meine Stellung im Kriegsministerium bestimmt war. Diese Stellung hatte auf ihn mehr Eindruck gemacht als alle meine bisherigen Publikationen.«874 Wir haben keinen Anlass, an der Wahrheit dieser schonungslos offenen Erzählung zu zweifeln, umso mehr, als sie sich gut mit den vorhandenen Akten der Unterrichtsverwaltung in Einklang bringen lässt.875 Es war offenbar wirklich Bernatzik, der Anfang 1918 im Fakultätskollegium den Antrag stellte, Dr. Kelsen zum »Extraordinarius für Militärrecht« zu ernennen. Ein Komitee wurde unter Vorsitz des Dekans Hans von Voltelini gebildet, dem außer Bernatzik auch der zweite Ordinarius des Staatsrechts, Adolf Menzel, und außerdem der Rechtshistoriker Ernst Freiherr von Schwind sowie der Zivilprozessualist Hans Sperl angehörten, und das am 25. Februar Bericht über seine Beratungen erstattete.876 Demnach habe es schon vor Jahren Bestrebungen gegeben, dass das Militärrecht an der Universität gelehrt, z. B. von Offizieren vorgetragen werde, wogegen sich allerdings die Fakultät »aus organisatorischen Gründen« ausgesprochen hatte. Die Notwendigkeit, dieses Fach wissenschaftlich zu bearbeiten, wurde aber durchaus anerkannt. »Unsere Fakultät ist in der glücklichen Lage, in Dr. Kelsen ein Mitglied zu besitzen, dessen wissenschaftliche und Lehrbefähigung ausser Zweifel steht und der ausserdem als Reserveoffizier und Hauptmann des Auditoriates zur speziellen Dienstes verwendung unmittelbar dem Kriegsminister zugewiesen ist und somit als dessen Vertrauensmann betrachtet werden kann, und die Qualitäten des Universitätslehrers und Offiziers in sich vereinigt.« Das Komitee sprach sich daher – mit allen gegen eine Stimme – dafür aus, Kelsen zum »außerordentlichen Professor des Staats‑ und 873 Gemeint: eine außerordentliche Professur im Sinne eines Anstellungsverhältnisses – denn den Titel eines außerordentlichen Professors (Extraordinarius) trug Kelsen ja schon seit 1915! 874 Kelsen, Autobiographie (1947) 17 = HKW I, 54. 875 So berichtet ein – nicht namentlich bekannter – Referent des k. k. Unterrichtsministeriums, dass Kelsen bei ihm erschienen sei, ihm davon berichtet habe, dass ihm eine Stellung als Ministerialsekretär im Sozialministerium sowie auch eine dauernde Stellung im Kriegsministerium angeboten worden sei und nun um eine »dezisive Mitteilung« bitte, ob er »im Sinne des gegenständlichen Fakultätsvorschlages in allernächster Zeit zum Extraordinarius befördert zu werden, Aussicht habe«: ÖStA AVA Untericht Allg., Univ. Wien, Karton 607, Z. 9583/1918. 876 ÖStA, AVA, Untericht Allg., Univ. Wien, Karton 607, Z. 9583/1918.
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Verwaltungsrechtes und der Rechtsphilosophie« zu ernennen und ihm eine dreistündige Lehrverpflichtung für militärisches Staats‑ und Verwaltungsrecht anzuvertrauen. Das Fakultätskollegium billigte am 27. Februar diesen Antrag, wieder mit allen gegen eine Stimme.877 Die eine Gegenstimme war von Schwind gekommen, und nachdem er in beiden Abstimmungen alleine geblieben war, verfasste er am 11. März ein schriftliches Separatvotum.878 Darin erkannte er »ohne weiteres Kelsens große Begabung, sowie die Tatsache, daß seine wissenschaftlichen Arbeiten Produkte einer sehr scharfen logischen Geistesarbeit und zum Teile sehr großen Fleisses sind«, an. Doch kritisierte Schwind, dass Kelsen »im Rechte nur etwas formales erblickt« und sich »einen Rechtsstaat, der nur aus den Geweben der Rechtsordnung und Rechtssätze aufgebaut ist« konstruiere. Er, Schwind, sehe im Recht »ein Stück des Lebens«, und das wichtigste desselben sei sein Inhalt – was aber Kelsen völlig ausblende. Gerade für einen Rechtshistoriker sei das unerträglich. »Wiederholt hat man den Eindruck als lehnte Kelsen ängstlich jeden Blick ins Historische ab, weil da die Unmöglichkeit seiner Auffassungen an der Macht der Tatsache sogleich klar hervortreten würde.« War diese Kritik noch relativ vorsichtig formuliert, so ließ Schwind im weiteren Text jede Zurückhaltung fallen: Die »Hauptprobleme« Kelsens seien eine »Gedanken-, Turn‑ und Akrobatenkunst« und die von ihm verfolgte Richtung sei nur »destruktiv und zersetzend, im Rahmen der akademischen Lehre für die Studierenden vielfach blendend, aber im Erfolge verwirrend und höchst bedenklich.« Kelsen untergrabe in seinen Vorlesungen – wie ihm »ernste Studenten« erzählt hätten – »jede Achtung vor dem positiven Rechte« und fördere nur bei den Hörern »die ohnedies schon viel zu stark vorhandene Neigung nach unfruchtbarer Dialektik«, zumal diese auch sonst »zu Nihilismus in ökonomischen und sozialen Fragen« neigen würden. Eine vernichtende Kritik also, die unvermittelt zur Frage führt, wie der Rechtshistoriker Schwind, der sich bis dahin noch nie mit Fragen der Rechtsphilosophie befasst hatte, zu ihr kam. Bemerkenswert ist immerhin sein Hinweis, dass ähnliche abstrakte Spekulationen, wie sie Kelsen in der Rechtstheorie vollführe, auch für die Österreichische Schule der Nationalökonomie feststellbar seien (mit deren jüngeren Vertretern, wie etwa Mises, Mayer oder Schumpeter, Kelsen ja auch persönlich befreundet war); die Terminologie, die Schwind wählte (»Nihilismus«, »zersetzend« etc.), zeichnet seine Kritik aber eindeutig als antimarxistisch und antisemitisch motiviert aus. Dies wird nicht zuletzt daran ersichtlich, dass Schwind mit ganz ähnlichen Worten 23 Jahre zuvor die 877 Schreiben des Dekans Hans von Voltelini an das Unterrichtsministerium v. 13. 3. 1918 Z. 355, ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 610, Personalakt Herrnritt Rudolf. – Auch in anderen Fächern, wie etwa Chemie, wurden zu jener Zeit »kriegsrelevante Forschungen« forciert; vgl. dazu Ash, Die Universität Wien (2015) 58. 878 ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 610, Personalakt Herrnritt Rudolf, Z. 9.583/1918. Das Separatvotum ist abgedruckt bei Oberkofler /R abofsky, Kelsen im Kriegseinsatz (1988) 198–201. Vgl. dazu schon Olechowski, Rechtsphilosophie gegen Rechtsgeschichte? (2008) 432; Olechowski, Kelsen und die Berufungen nach Graz, Czernowitz und Wien (2014) 260.
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
Habilitation des Zivilrechtlers Armin Ehrenzweig – der methodisch auf einer ganz anderen Seite als Kelsen stand, aber gleichfalls jüdischer Herkunft war – verhindern hatte wollen.879 Parallel dazu hatte das Schreiben des Kriegsministers einen regen Schriftverkehr zwischen nicht weniger als fünf Ministerien ausgelöst. Denn betroffen von der bevorstehenden Ernennung waren nicht nur das k. u. k. Kriegsministerium als derzeitiger Dienstherr Kelsens und das k. k. Unterrichtsministerium als die für die Universitäten zuständige Behörde, sondern auch das k. k. Finanzministerium wegen der finanziellen Bedeckbarkeit eines neuen Extraordinariats sowie das k. k. Handelsministerium als bisheriger Arbeitgeber Kelsens, und schließlich war das k. k. Landesverteidigungsministerium zwar nicht unmittelbar betroffen, aber sachlich doch auch von der bevorstehenden Maßnahme berührt und musste daher informiert werden.880 Irgendwie, »vermutlich nur durch Uebereifer eines Presidialbeamten«, wie Kelsen später räsonnierte, wurde der Akt auch an die Militärkanzlei des Kaisers weitergeleitet. Als dort Major-Auditor Schager von der Sache erfuhr – wie erwähnt, hatte er sich 1917 in Innsbruck für Militärstrafrecht habilitiert – »setzte er Himmel und Hoelle – d. h. den Chef der Militaerkanzlei – in Bewegung um diese Professsur selbst zu erhalten.«881 Und tatsächlich richtete dieser am 22. März ein Schreiben an den k. k. Ministerpräsidenten, wonach für die zu schaffende Lehrkanzel »vor allem der der Militärkanzlei Sr. Majestät zugeteilte Majorauditor Dr. Albin Schager in Betracht kommen könnte.«882 Hans Kelsen hatte von diesen Vorgängen keine Ahnung. »Als ich eines Tages auf der Fahrt vom Hauptquartier in Baden nach Wien den damaligen Unterrichtsminister – Czwicklinsky [sic! recte: Ćwikliński] – traf, sagte er mir, dass meine Ernennung nicht erfolgen koenne, da eine sehr hohe Persoenlichkeit sich fuer einen anderen Kandidaten einsetze. Auf meine Bemerkung, dass doch niemand andrer als ich von der Fakultaet vorgeschlagen sei, machte er lachend eine Andeutung, aus der ich ersah um wen es sich handelte. Das teilte ich dem Kriegsminister mit, der sofort die Angelegenheit mit der Militaerkanzlei zu meinen Gunsten erledigte.«883 Stöger-Steiner setzte umgehend ein Schreiben an den Unterrichtsminister auf, in dem er darauf drängte, dass der von der Wiener juristischen Fakultät gemachte Vorschlag, Kelsen auf die neue Stelle zu ernennen, »sobald als möglich und wenn es irgend angeht, noch in diesem Sommersemester, erfolgen kann. Die von dem Majorauditor Dr. Schager der Militärkanzlei angestrebte Übertragung seiner venia legendi von Innsbruck nach Wien und die Erweiterung auf Militär-Verwaltungsrecht sowie eine 879 Oberkofler, Ehrenzweig (1987) 262. Das Separatvotum Schwinds war nur der Auftakt zu einer zehnjährigen Feindschaft zwischen ihm und Kelsen; siehe dazu Olechowski, Rechtsphilosophie gegen Rechtsgeschichte? (2008). 880 Dies geht aus dem Au. Vortrag v. 25. 6. 1918 (siehe unten Anm. 907) hervor. 881 Kelsen, Autobiographie (1947) 18 = HKW I, 55. 882 Schreiben des Ministerpräsidenten Ernst Seidler an den Unterrichtsminister v. 28. 3. 1918 mit Abschrift des Schreibens des Chefs der Militärkanzlei an den Ministerpräsidenten v. 22. 3. 1918, in ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 607. 883 Kelsen, Autobiographie (1947) 18 = HKW I, 55.
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3. Kapitel: Der Erste Weltkrieg
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eventuelle Titulierung befürworte ich auf das Wärmste, zumal diese Aspiration mit der Ernennung des Professors Kelsen durchaus vereinbar sind. Besonderen Wert würde ich nur darauf legen, daß die eine Aktion nicht durch die andere verzögert werde.«884 »Schützenhilfe« bekam der k. u. k. Kriegsminister dabei auch noch vom k. k. Landesverteidigungsminister, Karl Freiherr Czapp von Birkenstetten, der darauf hinwies, dass das Militärstrafrecht – für das allein sich Schager habilitiert hatte – in Wien ja schon von drei Vortragenden gelehrt werde, daher nur eine Professur für Militärverwaltungsrecht – also Kelsens Gebiet – nötig sei.885 Letztlich kam die Überstellung Schagers von Innsbruck nach Wien nicht zustande, dafür wurde am Plan, Kelsen auf eine Professur für Militärrecht (und nicht bloß Militärverwaltungsrecht) zu berufen, festgehalten. Am 25. Juni 1918 hielt Unterrichtsminister Ćwikliński einen Vortrag vor dem Kaiser, in dem er berichtete, dass die Kriegsverwaltung die »baldigste Errichtung einer der Pflege des Militärverfassungs‑ und Verwaltungsrechtes gewidmeten Lehrkanzel an der Universität in Wien« angeregt und unabhängig davon auch schon die Wiener rechts‑ und staatswissenschaftliche Fakultät die Ernennung des »mit dem Titel eines ausserordentlichen Universitätsprofessors bekleideten Privatdozenten Dr. Hans Kelsen zum Extraordinarius allerunteränigst« erbeten habe. Kelsen habe »sowohl in lehramtlicher als wissenschaftlicher Beziehung vorzügliche Erfolge aufzuweisen und besitz[e] namentlich auch die entsprechende Eignung für die von der Heeresverwaltung gewünschte Behandlung des Heeresrechtes im vollen Masse.«886 Aber noch ein dritter Punkt wurde angeführt: die Universität Czernowitz habe einen Besetzungsvorschlag für eine erledigte Lehrkanzel für allgemeines und österreichisches Staatsrecht, Verwaltungslehre und Verwaltungsrecht erstattet und dabei primo loco Kelsen, secundo loco Leonidas Pitamic nominiert. Der Minister schlug daher vor, Kelsen auf das neue Extraordinariat in Wien, Pitamic aber auf dasjenige in Czernowitz zu ernennen. Und so geschah es: Mit Allerhöchster Entschließung vom 8. Juli 1918 ernannte Kaiser Karl I. den Privatdozenten Hans Kelsen zum »außerordentlichen Professor für Staats‑ und Verwaltungsrecht unter besonderer Berücksichtigung des Militärrechts, sowie für Rechtsphilosophie« an der Universität Wien mit den »systemmäßigen Bezügen«. Kelsen sowie der gleichfalls zum Extraordinarius ernannte Pitamic hatten ihre neuen Ämter mit 1. Oktober 1918 anzutreten.887 Doch sollte Kelsen auch weiterhin im 884 Schreiben des Kriegsministers Rudolf Stöger-Steiner an den Unterrichtsminister v. 25. 4. 1918, in ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 607. 885 Schreiben des k. k. Landesverteidigungsministers Karl Freiherr Czapp v. Birkenstetten v. 22. 3. 1918, ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 607. 886 Au. Vortrag v. 25. 6. 1918 Z. 23.478, in ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 612, Personalakt Pisko Oskar. Der Fundort erklärt sich daraus, dass bei derselben Gelegenheit auch die Ernennung des Handelsrechtlers Oskar Pisko (1876–1939) zum ao. Universitätsprofessor erfolgreich beantragt wurde, vgl. Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 390. 887 Ah. Entschließung v. 8. 7. 1918, angefügt an den au. Vortrag v. 25. 6. 1918 Z. 23.478, in ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 612, Personalakt Pisko Oskar. Bemerkenswerterweise schreibt Kelsen, Autobiographie (1947) 18 = HKW I, 55 – und, ihm folgend Métall, Kelsen (1969) 17, sowie viele andere Autoren –, dass seine Ernennung zum ao. Professor bereits 1917 erfolgte. Eine
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1. Teil: In der Habsburgermonarchie
Nebenamt als »juristischer Referent« im k. u. k. Kriegsministerium arbeiten; für diese Tätigkeit wurde ihm eine Remuneration zugesagt, die der Differenz des Gehaltes eines ao. Professors zu dem eines o. Professors entsprach.888
prinzipiell denkbare Erklärung dafür liefert Winkler, Rechtswissenschaft als empirische Sozialwissenschaft (1999) 103, wenn er schreibt, dass Seidler, als er 1917 zum Minister ernannt wurde, seine Stelle als außerordentlicher Professor an der Exportakademie an Kelsen weitergab, welcher dieses Amt bis zur Ernennung als außerordentlicher Professor an der Universität Wien 1918 innehatte. Winkler, ebd. Anm. 2, verweist dazu pauschal auf »die Dokumente im Österreichischen Staatsarchiv und die einschlägigen, leicht mißzuverstehenden Hinweise bei Rudolf Aládar Métall«. Tatsächlich aber konnten keine einschlägigen Dokumente gefunden werden, und die Ernennungsurkunde vom 8. 7. 1918 erwähnt eine allfällige Professur an der Exportakademie nicht. Was aber die Autobiographie Kelsens betrifft, so bezieht sich die Jahreszahl 1917 eindeutig auf seine Ernennung zum ao. Professor an der Universität Wien, nicht an der Exportakademie – und ist somit unrichtig. Vgl. zuletzt auch Métall, Kelsen (1969) 28, der in Widerspruch zu seiner anderen, eigenen Angabe ebenfalls den Juli 1918 nennt. 888 Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 141.
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Zweiter Teil
Als Professor an der Universität Wien
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Erstes Kapitel
Von der Monarchie zur Republik 1. Das Völkermanifest Am 10. September 1918 übersandte Hauptmann-Auditor Hans Kelsen seinem Dienstvorgesetzten, dem k. u. k. Kriegsminister Rudolf Stöger-Steiner, das Konzept für eine Rede zum Thema »Abrüstung«. Die militärische Lage der Doppelmonarchie und ihrer Verbündeten war mittlerweile hoffnungslos geworden. Im Juni war die letzte große Offensive der k. u. k. Armee an der italienischen Front gescheitert, im Juli jene der deutschen Armee an der Westfront. Kriegsmüdigkeit und Erschöpfung machten sich breit, die Desertionen häuften sich.1 Genährt wurden diese Tendenzen von einem Propagandakrieg der Ententemächte, die insbesondere die pazifistische Parole ausgaben, »[d]aß dieser Krieg der letzte aller Kriege sei«, wie Kelsen in seinem Schreiben hervorhob: »Ein wirksames Schlagwort, klug gewählt mit Rücksicht auf die Empfindungen der breitesten Massen, auf deren geduldige Schultern die furchtbaren Lasten dieses Kampfes gewälzt werden, ein Schlagwort, das umso wirksamer werden muß, je länger dieses sinnlose Morden andauert.«2 Wie aber dagegen ankämpfen? Kelsen schlug vor, aus der Not eine Tugend zu machen und selbst in die Debatte einzusteigen, damit die Entente nicht behaupten könne, allein die Mittelmächte stünden einem Frieden im Wege. Der Minister solle eine Rede halten, in der er selbst ganz konkrete Schritte für eine Abrüstung vorschlug, sobald der Krieg zu Ende sei. So legte er dem Kriegsminister Worte in den Mund, mit denen er sich als glühender Pazifist bekennen sollte – wahrhaft ein kühnes Unterfangen. Und dabei schlug Kelsen nicht nur vor, Kanonen und Kriegsschiffe zu verschrotten, sondern es sollte der »Militarismus« selbst überwunden werden, durch Beseitigung einer »militärischen Kaste […], in der kriegerischer Angriffsgeist lebendig erhalten wird, und [die] gegenüber den bürgerlichen Schichten des Staates durch eine Vorzugsstellung bewußt isoliert [sei], einen entscheidenden Einfluß auf die Leitung des Staates, insbesondere 1 Vgl. die eindrucksvolle Schilderung der Zustände durch Bauer, Die österreichische Revolution (1923) 75 sowie aus der Sekundärliteratur: Bihl, Der Erste Weltkrieg (2010) 260, 266 f.; R auchen steiner, Der Erste Weltkrieg (2013) 927 f.; Höbelt, »Stehen oder Fallen?« (2015) 254; Jeřábek, Kriegsverlauf (2016) 274 f. 2 Hans Kelsen, Konzept für eine Rede des Kriegsministers, 10. 9. 1918, in: ÖNB Cod. Ser. n 54575, fol. 2. – Er nimmt offenbar Bezug auf das Buch von H. G. Wells, The War That Will End War (1914), in dem der berühmte Schriftsteller den Mittelmächten die Schuld am Kriegsausbruch zuschob und die Notwendigkeit des Krieges, um künftig alle Kriege zu vermeiden, behauptete. Der Buchtitel wurde bald zu einer stehenden Redewendung in alliierten Kreisen.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
auf die auswärtige Politik [besitze].«3 Als Mittel zur Behebung dieses Mankos schlug Kelsen vor: die Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht unter gleichzeitiger Verkürzung des Wehrdienstes, sowie die Integration der Militärverwaltung in die zivile Verwaltung. »Das Heer der Zukunft kann nichts anderes sein, als die Organisation der männlichen Jugendkraft des Staates. Die Gefahr, daß es zum Staat im Staate werde, ist für immer verschwunden.«4 Vor allem aber müsse die Militärverwaltung dem Gedanken des Rechtsstaats unterworfen werden, etwa durch Unterstellung unter die Kontrolle des Verwaltungsgerichtshofes. Es waren dies bemerkenswerte Forderungen – ob sie zu jener Zeit noch irgendwo die Chance auf Gehör besaßen, mag füglich bezweifelt werden. Denn die Ereignisse an der Front und im Hinterland überschlugen sich in jenen Herbsttagen und machten alle Planungen des Frühjahrs zunichte. Am 15. September 1918 gelang es serbischen und französischen Truppen, die bulgarische Armee vernichtend zu schlagen; am 29. September musste Bulgarien einen Waffenstillstand unterzeichnen und wurde von Ententetruppen besetzt. Damit war nicht nur der Landweg von Wien nach Konstantinopel abgeschnitten, sondern die Front, die sich zuvor noch im Raum von Saloniki befunden hatte, musste innerhalb weniger Wochen an die Donau zurückgenommen werden; die k. u. k. Armeen am Balkan befanden sich in heilloser Auflösung.5 »Nach dem Durchbruch der Bulgarischen Front war es jedermann, der die Verhaeltnisse in der Armee kannte klar, dass der Krieg endgueltig verloren war«, vermerkte Kelsen in seiner Autobiographie.6 Angesichts der katastrophalen Situation übermittelten Österreich-Ungarn und Deutschland am 4. bzw. 6. Oktober Waffenstillstandsangebote an US-Präsident Woodrow Wilson. Dabei nahm Österreich-Ungarn ausdrücklich auf Wilsons Rede vor dem US-Kongress vom 8. Jänner 1918 Bezug, in der dieser in 14 Punkten seine Forderungen für eine Friedensordnung nach dem Ersten Weltkrieg zusammengefasst hatte. Die deutsche Note wurde innerhalb weniger Tage beantwortet, jedoch in dem Sinne, dass die USA sich außerstande erklärten, in einen Waffenstillstand einzuwilligen, solange sich die Truppen der Mittelmächte noch im Feindesland befänden. Dies war zwar nicht die Antwort, die man sich gewünscht hatte, doch immerhin entwickelte sich in den folgenden Tagen ein intensiver Notenaustausch zwischen den USA und dem Deutschen Reich.7 Mit einer offiziellen Antwort an Österreich-Ungarn hingegen wurde in Washington noch zugewartet, was den k. u. k. Außenminister Stefan Graf Burián v. Rajecz auf eine harte Geduldsprobe stellte und ihn zu Überlegungen veranlasste, wie man den USA beweisen könnte, dass er es mit der Annahme der 14 Punkte durchaus ernst gemeint hatte. Er wurde dabei noch bestärkt vom k. k. Ministerpräsidenten Max Freiherr Hussarek v. Heinlein, der »Meldungen namentlich aus der 3 ÖNB
Cod. Ser. n 54575, fol. 6. Cod. Ser. n 54575, fol. 7. 5 Bihl, Der Erste Weltkrieg (2010) 273; Jeřábek, Kriegsverlauf (2016) 278. 6 Kelsen, Autobiographie (1927) 4 = HKW I, 50. 7 R auchensteiner, Der Erste Weltkrieg (2013) 1031. 4 ÖNB
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1. Kapitel: Von der Monarchie zur Republik
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Schweiz« empfangen hatte, wonach die USA auf konkrete verfassungsrechtliche Reformen in der Habsburgermonarchie warteten.8 Angesprochen waren damit insbesondere Punkt 10 der »14 Punkte«, der »den Völkern Österreich-Ungarns […] die freieste Gelegenheit zu autonomer Entwicklung« zugesichert, und Punkt 13, der die Wiedererrichtung eines unabhängigen polnischen Staates propagiert hatte.9 Eine Lösung des Nationalitätenproblems, schon vor Kriegsbeginn die causa prima der österreichischen Innenpolitik, wurde nun zur Überlebensfrage der Habsburgermonarchie. Freilich handelte es sich dabei um die Quadratur des Kreises, und die Zahl der Politiker und Juristen, die bereits mit Lösungsvorschlägen für das Nationalitätenproblem hervorgetreten waren, war unüberblickbar.10 Umschloss die Monarchie doch nicht weniger als elf verschiedene Nationen unterschiedlicher Größe, die auch kaum räumlich zu trennen waren, sondern teils völlig versprengt mitsammen lebten, und selbst dort, wo klare geographische Sprachgrenzen zu erkennen waren, diese fast nie mit den Grenzen der historischen Kronländer übereinstimmten, somit fast alle Länder gemischtsprachig waren: So lebten in Böhmen sowohl Tschechen als auch Deutsche, in Galizien sowohl Polen als auch Ukrainer, im Küstenland sowohl Italiener als auch Slowenen und Kroaten, und so weiter und so fort. Der österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867 hatte die Sache noch einmal verkompliziert, indem sich nun einige Völker, wie insbesondere die Serben und die Kroaten, teils auf österreichischem, teils auf ungarischem Gebiet befanden. Die südslawischen Abgeordneten des österreichischen Reichsrates hatten daher 1917 unter der Führung des Slowenen Anton Korošec11 einen »südslawischen Klub« (jugoslovanski klub) gebildet, der die Vereinigung aller Slowenen, Kroaten und Serben »unter habsburgischem Zepter« forderte.12 Eine ähnliche Problematik bestand bei den (in Österreich lebenden) Tschechen und den mit ihnen sprachlich eng verwandten (aber in Ungarn lebenden) Slowaken, weshalb Vertreter dieser beiden Volksgruppen am 30. Juni 1918 in Pittsburgh in den USA eine Übereinkunft schlossen, wonach der bereits zuvor von den tschechischen Reichsratsabgeordneten gebildete »Tschechische Nationalrat« künftig auch für die slowakische »Brüdernation« sprechen solle.13 Wie sollte angesichts dieser Entwicklungen noch eine Lösung gefunden werden, die alle Nationen gleichermaßen befriedigte und sie im Verband der Habsburgermonarchie hielt? Im November 1916 hatte »die Redaktion« der »Österreichischen 8 Rumpler,
Völkermanifest (1966) 66 f.
9 Woodrow Wilson, Rede vor dem US-Kongress v. 8. 1. 1918, in: Schwabe, Quellen (1997) Nr. 3. 10 Vgl.
näher Schmetterer, Kelsens Überlegungen (2016) 3 f. Korošec (Geb. St. Georgen a. d. Stainz [S. Jurij ob Ščavnici/SLO] 12. 5. 1872; gest. Belgrad [Beograd/SRB] 14. 1 2. 1940) war seit 1906 Reichsratsabgeordneter; vom 29. Oktober bis 30. November 1918 war er Präsident des »Staates der Slowenen, Kroaten und Serben« (siehe noch unten 226); 1928/29 jugoslawischer Ministerpräsident; vgl. Feliks Bister /Reinhold Lorenz, Korošec Anton, in: ÖBL, 17. Lfg. (Wien 1967) 135 f. 12 Lukan, Die slowenische Politik (2007) 162. 13 Schelle/Tauchen, Tschechoslowakische Rechtsgeschichte (2009) 14. 11 Anton
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Zeitschrift für Öffentliches Recht« – mit anderen Worten Hans Kelsen, wohl, nachdem er sich mit den vier Herausgebern (Bernatzik, Hussarek, Lammasch und Menzel) abgesprochen hatte – eine Rundfrage an alle österreichischen Professoren des Staats‑ und Verwaltungsrechts geschickt: »Ob die Autonomie der Länder als historischer Individualitäten fort‑ oder rückgebildet, oder ob sie gänzlich beseitigt werden und welche Änderung der Organisation vorgeschlagen werden soll«.14 Immerhin vierzehn Professoren und Dozenten deutscher, tschechischer, polnischer, ukrainischer und slowenischer Nationalität (Brockhausen, Dnistriańskyj, Frisch, Herrnritt, Lamp, Laun, Layer, Nawiasky, Rauchberg, Spiegel, Starzyński, Tezner, Weyr und Žolger) erstatteten Gutachten, die in einem Sonderheft der ÖZÖR abgedruckt waren, und fast alle (außer dem polnischen Professor Stanisław Ritter v. Starzyński) beklagten die traditionelle Ländereinteilung aufgrund der unterschiedlichen Größen, vor allem aber aufgrund der »nationalen Mischungsverhältnisse«, und namentlich der Tscheche František Weyr, der Ukrainer Stanisław Dnistriańskyj und der Deutsche Rudolf v. Laun forderten, dass die Volksstämme Nationalstaaten bilden sollten, die an die Stelle der traditionellen Kronländer zu treten hätten, während sich die übrigen Autoren für mehr nationale Autonomie innerhalb der Kronländer aussprachen.15 Auch Hans Kelsen selbst – der in der Zeitschrift keinen eigenen Beitrag veröffentlicht hatte – hatte sich schon mehrfach in Memoranden für seinen Kriegsminister mit dem Nationalitätenproblem und einer allfälligen Gesamtreform Österreich- Ungarns beschäftigt.16 In einem Gutachten, das wohl Anfang 1918, als die militärische Lage der Monarchie noch nicht so hoffnungslos erschien, verfasst worden sein muss, sprach sich Kelsen für einen radikalen Umbau der Monarchie aus. Dabei ließ er keinen Zweifel daran, dass die »historisch-politischen Individualitäten der Kronländer […] geopfert werden« müssten, um ethnisch weitestgehend homogenen Bundesländern Platz zu machen, wobei Minderheiten in diesen zwar unvermeidlich seien, aber »den weitestgehenden Schutz, der rechtstechnisch überhaupt noch durchführbar ist, erhalten« sollen. Kühn skizzierte Kelsen, wie eine derartige Neuordnung der Monarchie aussehen könnte, und bot den Tschechen die slowakischen Gebiete als »Kompensation« für den Verlust der deutschböhmischen und deutschmährischen Länder, die von den tschechischen getrennt werden müssten.17 Die südslawischen Gebiete sollten zu einem »Königreich Illyrien« vereint werden,18 wobei auch daran 14 Kelsen,
Rundfrage (1917/18). Siehe auch Stourzh, Kelsen (1982) 311. die Zusammenfassung der Gutachten durch R auchberg, Die Rundfrage (1917/18). Dass Starzyński die traditionelle Länderstruktur verteidigte, lag sicherlich auch daran, dass die polnische Nation im Kronland Galizien die dominierende war und gerade seine Heimatstadt Lemberg [polnisch Lwów/ukrainisch Ľvív] eine polnische Sprachinsel inmitten des vorwiegend ukrainisch besiedelten Gebietes darstellte. Vgl. auch Merkl, Weyr (1953) 6 f. 16 Zu diesen beiden Memoranden eingehend Schmetterer, Kelsens Überlegungen (2016), der Text derselben ebenda 11–24 (im Folgenden zitierrt: Kelsen, Memorandum 1917; Kelsen, Gutachten Verfassungsreform 1918). 17 Kelsen, Gutachten Verfassungsreform 1918, 21 f. 18 Kelsen, Gutachten Verfassungsreform 1918, 19. In den Jahren 1814–1849 hatte ein »Königreich Illyrien« als Teil des Kaisertums Österreich bestanden, welches deutsch-, slowenisch-, 15 Vgl.
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1. Kapitel: Von der Monarchie zur Republik
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gedacht werden könnte, die (damals noch von Österreich-Ungarn okkupierten) Staaten Serbien und Montenegro in dieses zu integrieren, entweder freiwillig oder zwangsweise. Und schließlich sprach Kelsen die Hoffnung aus, dass sich auch das (von den Mittelmächten 1916 als Satellitenstaat gegründete) Königreich Polen19 nicht der »Anziehungskraft« eines auf diese Weise erstarkten Habsburgerreiches entziehen würde; es solle eine Personalunion und ein Wirtschaftsbündnis mit der Habsburgermonarchie schließen.20 Der österreichisch-ungarische Ausgleich werde damit natürlich obsolet, das Reich solle vielmehr zu einem »Nationalitäten-Bundesstaat«21 umgewandelt werden, wobei der Zentralorganisation nur wenige Kompetenzen ( Äußeres, Kriegswesen, Außenhandelspolitik, bestimmte Verkehrsangelegenheiten, Steuern) zu belassen seien, während Strafrecht, Zivilrecht, Handels‑ und Gewerberecht nur dort, wo es »unumgänglich notwendig« sei, zu vereinheitlichen seien.22 Aber wie diese große Reform bewältigen? Kaiser Karl hatte den Reichsrat, der seit Kriegsausbruch 1914 nicht mehr getagt hatte, im Frühjahr 1917 wiedereinberufen. Kelsen hielt es für »indiskutabel«, von dieser Versammlung die Initiative zu einer Reform zu erwarten. Die Reform müsse vielmehr von der Regierung ausgehen. Ihre Aufgabe sei es, »das Parlament mit sich fortzureissen und um die Fahne einer großen Idee einen Großteil der Parteien zu einigen.« Wenn das jedoch nicht gelinge, so sei »die moralisch-politische Legitimation für einen Oktroi« – also für einen Staatsstreich! – gegeben.23 Es ist ungewiss, inwieweit Kelsen hier seine eigenen Wünsche präsentierte oder nur das ausformulierte, was ihm der Minister zuvor skizziert hatte; ebenso ist fraglich, ob
kroatisch‑ und italienischsprachige Gebiete umfasste; den Titel eines »Königs von Illyrien« führte der österreichische Kaiser noch bis 1918. Vgl. zu den Plänen einer (Wieder‑)Vereinigung der südslawischen Gebiete Lukan, Die slowenische Politik (2007) bes. 166 ff.; Höbelt, »Stehen oder Fallen?« (2015) 256 ff. 19 Am 5. 11. 1916, nachdem Russisch-Polen von den Mittelmächten okkupiert worden war, wurde von diesen ein »Königreich Polen« ausgerufen, ohne dass dessen Grenzen (und insbesondere das Verhältnis zu den polnisch besiedelten Teilen Deutschlands und Österreich-Ungarns) geklärt waren und ohne dass ein König bestimmt worden war. Im Gespräch war u. a. der habsburgische Prinz Karl Stephan, aber auch an eine Personalunion mit Österreich-Ungarn wurde zeitweise gedacht. Vgl. dazu Gaul, Polish Kingdom (2007); Höbelt, »Stehen oder Fallen?« (2015) 109 ff.; 200 ff. 20 Kelsen, Gutachten Verfassungsreform 1918, 23. Diese geradezu erstaunlichen Expansionspläne sind im Zusammenhang mit dem Friedensschluss mit Russland zu sehen, der bei den Mittelmächten für kurze Zeit großen Optimismus auslöste; vgl. dazu Bauer, Die österreichische Revolution (1923) 50. 21 Dieser Terminus war auch – Zufall oder nicht? – im Brünner Nationalitätenprogramm der Sozialdemokratischen Partei von 1899 verwendet worden; vgl. Schmetterer, Kelsens Überlegungen (2016) 9. 22 Kelsen, Gutachten Verfassungsreform 1918, 17 f. Kelsen ist freilich bewusst, dass eine Revision des österreichisch-ungarischen Ausgleiches noch um ein Vielfaches schwieriger als eine rein österreichische Verfassungsreform sei; sein Memorandum enthält daher regelmäßig Alternativlösungen für den Fall, dass die Reform ohne Revision des Ausgleiches zustande kommen soll; vgl. Schmetterer, Kelsens Überlegungen (2016) 6. 23 Kelsen, Memorandum 1917, 13.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
er selbst an eine Realisierung dieses großen Konzepts glaubte.24 Zu betonen ist jedenfalls, dass seine Reformvorschläge nicht auf der Linie des Armeeoberkommandos lagen, das eher eine deutsch-zentralistische Lösung, mit Einschränkung der Länderautonomie und Durchsetzung der deutschen Sprache als Staatssprache, favorisierte.25 Vielmehr deckten sich viele seiner Vorschläge mit dem Nationalitätenprogramm der Sozialdemokraten, und hatte schon 1916 Karl Renner ganz ähnliche Überlegungen, etwa zur südslawischen oder zur polnischen Frage angestellt.26 Die persönliche Handschrift Kelsens war u. a. dort zu erkennen, wo er für ein allgemeines Wahlrecht in allen Teilen der Monarchie eintrat,27 aber auch dort, wo er den Staatsstreich, den Verfassungsbruch, für einen »sittlich« gerechtfertigten Weg, die Verfassungsänderung zu bewirken, hielt.28 In seiner Autobiographie ging Kelsen auf die beiden hier skizzierten, sich nunmehr im persönlichen Nachlass Stöger-Steiners befindlichen Memoranden nicht ein – sicherlich nicht nur deshalb, weil die geopolitischen Rahmenbedingungen seine Vorschläge, wenn sie denn überhaupt jemals realistisch waren, schon nach kurzer Zeit vollkommen utopisch hatten werden lassen. Vielmehr berichtete Kelsen in dieser Autobiographie ausführlich von einer anderen Denkschrift, die er angesichts des völligen militärischen Zusammenbruchs, also wohl Ende September/Anfang Oktober 1918, verfasste, und »die in den Vorschlag muendete, der Kaiser solle eine Kommission einsetzen, zusammengesetzt aus Vertrauensmaennern der verschiedenen Nationalitaeten, mit dem Auftrag, die Liquidation der Monarchie und die Bildung von Nationalstaaten auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Voelker in geordneter Weise durchzufuehren, um eine oekonomische und politische Katastrophe zu vermeiden. Der Kaiser solle in dem zu erlassenden Manifest erklaeren, dass seine Person und die Dynastie kein Hindernis sein werde, dass er aber bereit sei, wenn ein Bund der neugebildeten Staaten aus wirtschaftlichen und politischen Gruenden geboten erscheine, in irgendeiner Form an die Spitze dieses Staaten-Bundes zu treten. Die oekonomischen und politischen Faktoren, die bisher die Existenz der Monarchie im 24 Nach den Erinnerungen des späteren österreichischen Botschafters in Paris, Johann Andreas (Freiherr von) Eichhoff, arbeitete Kelsen auch an Entwürfen des Innenministers Friedrich von Toggenburg mit, der aber eine nationale Autonomie ohne Veränderung der traditionellen Ländergrenzen anstrebte; vgl. Höbelt, »Stehen oder Fallen?« (2015) 226. Dies spricht dafür, dass Kelsen bei all diesen Überlegungen nicht persönliche Vorstellungen sondern Wünsche der jeweiligen Auftraggeber ausformulierte, ähnlich, wie es dann 1919 bei den Vorentwürfen zur österreichischen Bundesverfassung erfolgte. 25 Schmetterer, Kelsens Überlegungen (2016) 5. An einer zumindest formalen Urheberschaft Hans Kelsens kann aufgrund der handschriftlichen Ausbesserungen und mancher Formulierungen aber kein Zweifel bestehen. 26 Saage, Die deutsche Frage (2008) 70, 72 f. 27 Kelsen, Gutachten Verfassungsreform 1918, 18, 22. 28 Beachte Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 76, wonach es Kelsen noch 1923 für einen schweren Fehler des sog. Oktobermanifestes vom 16. 10. 1918 hielt, dass Kaiser Karl die Monarchie »auf gesetzlichem Wege«, d. h. mit einem formellen Verfassungsgesetz, ändern hatte wollen, was aufgrund der damaligen »parlamentarischen Verhältnisse« ganz unmöglich gewesen wäre.
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1. Kapitel: Von der Monarchie zur Republik
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Herzen Europas notwendig gemacht hatten, wuerden vielleicht stark genug sein sie als einen zentraleuropaeischen Voelkerbund am Leben zu erhalten. Dies koenne jedoch nicht durch Zwang, sondern nur auf Grundlage eines freiwilligen Entschlusses der Nationalitaeten geschehen. Der Plan bezog sich zunaechst nur auf die oesterreichische Haelfte der Monarchie, um nicht von vornherein auf den Widerstand der ungarischen Regierung zu stossen, die jeder nationalen Autonomie der nicht-magyarischen Volksstaemme feindlich gegenueber stand.«29 Wahrhaft eine Kehrtwendung um 180 Grad! Aber angesichts der völlig veränderten militärischen und politischen Lage schien dies nun der einzige Ausweg, Mitteleuropa vor einem Chaos zu bewahren. Kelsen berichtete später, dass er einen ihm bekannten Feldmarschall, Franz Höfer von Feldsturm, fragte, wie er sein Memorandum direkt dem Kaiser zeigen könne. Dieser aber »meinte allen Ernstes, dass ich den Text in einen Kriminalroman legen sollte. Auf diese Art bestehe eine Chance, dass es sich der Kaiser wirklich ansehe. Dieser Plan schien mir aber nicht zielführend und so bat ich Dr. Lammasch, diesen Plan persönlich dem Kaiser vorzutragen.«30 Leider konnte das Original von Kelsens Denkschrift weder im Kabinettsarchiv des Kaisers noch im Nachlass Stöger-Steiners gefunden werden.31 Aber ihr Inhalt (der von Kelsen in seiner mehr als ein Vierteljahrhundert später verfassten Autobiographie wohl nur ungefähr wiedergegeben werden konnte) hat auffallende Ähnlichkeiten mit einer anderen Denkschrift, welche 1962 von Heinrich Benedikt gefunden und veröffentlicht, damals jedoch dem Millionär und Philanthropen Julius Meinl II. zugeschrieben wurde.32 Diese, auf den 7. Oktober 1918 datierte Denkschrift fordert gleichermaßen die Bildung einer aus Vertretern aller »nationaler Gruppen« bestehenden Regierung, die »das Selbstbestimmungsrecht jeder Nation« anerkennen und als »Liquidierungskomitee« die Aufgabe haben solle, den Zerfall Österreichs in geregelte Bahnen zu lenken – woran sich die Hoffnung knüpft, dass es nach der Friedenskonferenz wieder zu einem »freiwilligen Zusammenschluß der österreichischen Nationen« kommen
29 Kelsen,
Autobiographie (1947) 14 = HKW I, 50 f. Kelsen, zit. n. Fischer, Überzeugungen (2006) 140. Beachte aber Kelsen, Autobiographie (1947) 14 = HKW I, 51, wonach er nicht Lammasch, sondern den Kriegsminister bat, die Denkschrift dem Kaiser zu unterbreiten. 31 Einzige Quelle für die Initiative Kelsens bleibt also Kelsen selbst, der die Ereignisse im September/Oktober 1918 nicht nur in seiner Autobiographie schilderte, sondern – im Wesentlichen wortgleich – auch in einem Text, den er auf Bitten des Professors der UC Berkeley, Charles A. Gulick, verfasste, und den dieser in seiner Monographie »Austria from Habsburg to Hitler« auszugsweise veröffentlichte (Gulick, Austria I [1948] 45 f.); dies wird auch bei Rumpler, Völkermanifest (1966) 16 kurz erwähnt, aber nicht kommentiert oder in Zweifel gezogen. 32 Julius Meinl II., geb. Wien 18. 1. 1869, gest. Alt-Prerau/NÖ 16. 5. 1944, hatte von seinem Vater, Julius Meinl I., ein Handelsunternehmen geerbt, dessen Filialnetz v. a. aufgrund seiner Teeimporte »für Österreich-Ungarn eine ähnliche Bedeutung wie die A & P [Atlantic and Pacific Tea Company] Niederlagen in Amerika hatte«: Benedikt, Die Friedensaktion der Meinlgruppe (1962) 9 f. Schon kurz nach Kriegsbeginn setzte er sich für einen Frieden ein und fand damit bei vielen politisch einflussreichen Politikern Gehör; vgl. Lehrbaumer, Julius Meinl (2000) 35 f. 30
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
werde.33 Mangels weiterer Quellen34 muss es offen bleiben, ob es sich bei einem dieser beiden Memoranden direkt um die Vorstufe zum anderen handelt; sehr wahrscheinlich ist es jedoch, dass das eine vom anderen beeinflusst wurde. Wie eng die Kontakte Kelsens zur »Meinlgruppe«, also jener Gruppe von – politisch zum Teil sehr einflussreichen – Pazifisten rund um Julius Meinl II. zu jener Zeit waren, ist unbekannt. Das bedeutendste Mitglied dieser Gruppe, der emeritierte Völkerrechtsprofessor Heinrich Lammasch, der schon seit 1917 immer wieder für das Amt des Ministerpräsidenten gehandelt wurde,35 war immerhin Mitherausgeber der von Kelsen redigierten »Österreichischen Zeitschrift für Öffentliches Recht«, und in einem Brief von Lammasch an Meinl vom 9. September 1917 wurde Kelsen als potentielles Mitglied für die von Meinl 1915 gegründete »Österreichische Politische Gesellschaft«, dem Diskussionsforum der Meinlgruppe erwähnt.36 Der genannten Gesellschaft gehörten auch viele andere Professoren, vom Verfassungsrechtler Josef Redlich bis zum Moraltheologen Ignaz Seipel an, und es ist anzunehmen, dass Kelsen, der, wie erwähnt, auch mit den beiden k. k. Ministerpräsidenten Seidler und Hussarek, vor allem aber mit dem k. u. k. Kriegsminister Stöger-Steiner in persönlichem Kontakt stand, gerade aufgrund dieser Verbindungen ein wichtiges Mitglied dieser Gesellschaft war oder doch zumindest das Bindeglied zwischen Meinl und Lammasch einerseits, dem Kriegsministerium andererseits darstellte. Was die Denkschrift Kelsens betraf, so wurde diese zwar – so Kelsen – dem Kaiser weitergeleitet, aber: »Es verstrichen Wochen ohne dass der Kaiser in der Sache irgendetwas verlauten liess.«37 Hier war Kelsen etwas zu optimistisch gewesen, denn er war nicht der einzige, der in diesen Tagen Denkschriften verfasste, vielmehr entstand eine ganze Flut an Papieren, wie und auf welche Weise die Monarchie gerettet werden könne. Am ehesten zuständig für solche Fragen war wohl das 1917 von Ministerpräsident Seidler geschaffene »Departement für die Verfassungsrevision« des Ministerratspräsidiums unter der Leitung des Völkerrechtsprofessors Alexander Hold v. Ferneck, in der auch der Staatsrechtler Rudolf v. Laun arbeitete; daneben bestand jedoch auch das »staatsrechtliche Departement«, in dem u. a. die beiden Kelsen-Schüler Adolf J. Merkl und Leonidas Pitamic arbeiteten, und letzterer erarbeitete gerade in jenen Tagen in offiziellem Auftrag eine »Untersuchung über das Wesen und die wichtigsten Merkmale des Staatenbundes«,38 doch auch diese Denkschrift blieb 33 Abgedruckt
in Benedikt, Die Friedensaktion der Meinlgruppe (1962) 269–273. Das Original der Denkschrift befindet sich anscheinend nach wie vor im Besitz der Familie Meinl. Eine schriftliche Anfrage von mir bei Julius Meinl V., dem Urenkelsohn von Julius Meinl II., blieb unbeantwortet; vgl. dazu schon Busch, Kelsen im Ersten Weltkrieg (2009) 71. 35 Redlich, Lammasch als Ministerpräsident (1922) 160; vgl. auch Zweig, Die Welt von Gestern (1942) 296. 36 Heinrich Lammasch, Schreiben an Julius Meinl II. v. 9. 9. 1917, in: Benedikt, Die Friedensaktion der Meinlgruppe (1962) 163 f. Vgl. zur österreichischen pazifistischen Bewegung auch Bauer, Die österreichische Revolution (1923) 64. 37 Kelsen, Autobiographie (1947) 14 = HKW I, 51. 38 Vgl. dazu Rumpler, Völkermanifest (1966) 18. Die Autorenschaft von Pitamic ergibt sich aus dem Passus, in dem er sich auch zur Autorschaft der Abhandlung »Denkökonomische 34
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1. Kapitel: Von der Monarchie zur Republik
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unberücksichtigt. Vielmehr lud der Kaiser am 12. Oktober die Führer der einzelnen Parlamentsfraktionen zu sich, um ihre Ansichten über die Neugestaltung der Monarchie zu hören. »Als positives Ergebnis kann gelten, daß die Idee eines Völkerministeriums zur Vorbereitung eines Staatenbundes sich als undurchführbar erwiesen hat«, verkündete die »Neue Freie Presse« freudig.39 »Es scheint, dass der Kaiser damals ganz andere, von deutschnationaler Seite stammende Plaene zur Rettung der Monarchie in Erwaegung zog«, bemerkte Kelsen später.40 Er spielte damit auf die Initiative des deutschnationalen Abgeordneten Oskar Teufel an, dessen Entwurf zur Grundlage jenes Textes wurde, den Kaiser Karl schließlich am 16. Oktober 1918 als kaiserliches Manifest veröffentlichte.41 In diesem Manifest versprach er zwar Reformen, hielt aber an der Fortexistenz der Doppelmonarchie fest. Österreich (nicht aber Ungarn) solle, »dem Willen seiner Völker gemäß, zu einem Bundesstaate werden, in dem jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiete sein eignes staatliches Gemeinwesen bildet«; zu diesem Zwecke sollten sich die Abgeordneten des österreichischen Reichsrates jeweils nationenweise zu »Nationalräten« zusammenfinden und »an dem großen Werke« mitwirken.42 Mit der Wahrung der »Integrität« des Vielvölkerstaates Ungarn wollte Karl die Magyaren beruhigen, brüskierte aber alle anderen Nationalitäten Transleithaniens.43 Mit dem gleichzeitigen Verzicht auf die Integrität der übrigen Kronländer kam er u. a. den Wünschen der Deutschen und der Ukrainer nach, empörte aber die Tschechen und die Polen, die nun auf die deutsch bzw. ukrainisch besiedelten Teile Böhmens, Mährens und Galiziens verzichten sollten. Wie bereits festgehalten: die Lösung des Nationalitätenproblems war die Quadratur des Kreises. Und dennoch kann gesagt werden, dass von allen möglichen Entscheidungen die vom Kaiser am 16. Oktober 1918 getroffene eine besonders schlechte war, die den Zerfall des Reiches nur noch beschleunigte.
2. Der Zusammenbruch der Monarchie In seiner Autobiographie berichtet Kelsen, dass er »mitten in der Nacht« – vermutlich in der Nacht auf Samstag, den 19. Oktober 1918 – »telephonisch zum Minister gerufen« wurde. »Er empfing mich im Schlafrock in seinem Privat-Arbeitszimmer in Voraussetzungen der Rechtswissenschaft« bekennt, was von Rumpler seinerzeit nicht zugeordnet werden konnte; vgl. zu dieser Abhandlung oben 189. 39 NFP Nr. 19445 v. 13. 10. 1918, 3. Vgl. Haider, Wien 1918 (2018) 322. 40 Kelsen, Autobiographie (1947) 14 = HKW I, 51. 41 Umfassend Rumpler, Völkermanifest (1966). Vgl. auch R auchensteiner, Der Erste Weltkrieg (2013) 1029 f. 42 Völkermanifest Kaiser Karls I. v. 16. 10. 1918, Wiener Zeitung, Extra-Ausgabe Nr. 240 v. 17. 10. 1918, abgedruckt auch bei Kovacs, Untergang oder Rettung der Donaumonarchie (2004) II Nr. 112. 43 Vgl. Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 76, wonach dieser Passus »unter dem rücksichtslosen Druck der magyarischen Regierung in den Text des Manifestes aufgenommen worden war«.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
der Amtswohnung, die er im Gebaeude des Kriegsministeriums hatte, und uebergab mir den Text des Telegramms, das President Wilson als Antwort auf das Angebot der oesterreichisch-ungarischen Regierung gesandt hatte, den Nationalitaeten der Monarchie das Selbstbestimmungsrecht zu gewaehren, und ersuchte mich die Äusserung Wilson’s zu kommentieren.«44 Diese war vernichtend: Der US-Präsident stellte fest, dass sich seit seiner Erklärung der 14 Punkte am 8. Jänner so viel ereignet habe, wie insbesondere die Anerkennung der Tschechoslowakei (ČSR) als kriegführende Macht durch die USA, dass er sich »nicht mehr in der Lage« sah, die im zehnten Punkt geforderte »bloße ›Autonomie‹ dieser Völker als eine Grundlage für den Frieden anzuerkennen, sondern er ist gezwungen, darauf zu bestehen, daß sie und nicht er Richter darüber sein sollen, welche Aktion auf Seite der österreichisch-ungarischen Regierung die Aspirationen und die Auffassung der Völker von ihren Rechten und von ihrer Bestimmung als Mitglieder der Familie der Nationen befriedigen wird.«45 »Waehrend ich die Antwort Wilson’s las«, so Kelsen weiter, »zog der Minister seinen Waffenrock an und lud mich ein mit ihm in sein Dienstzimmer zu gehen. Auf dem Weg dahin mussten wir den Ballraum passieren, der zur Wohnung des Ministers gehoerte.46 Da sagte der Minister zu mir, es sei doch peinlich in einer so furchtbaren Zeit in so praechtigen Raeumen zu wohnen. ›Besonders, Excellenz, wenn man weiss, dass man der letzte Kriegsminister der Monarchie ist.‹ ›Sind Sie verrueckt‹, erwiderte er, ›wie koennen Sie so etwas schreckliches sagen!‹ ›Nach der Antwort, die President Wilson auf unser Angebot gegeben hat‹, erwiderte ich, ›sehe ich keine Moeglichkeit mehr die Monarchie zu erhalten.‹ Der alte Offizier konnte es bis zum letzten Augenblick, trotzdem er ueber das Ausmass der militaerischen Niederlage keinerlei Illusionen hatte, nicht fuer moeglich halten, dass ein vielhundert-jaehriges Reich einfach vom Schauplatz der Geschichte verschwinden koenne. – Als ich kurze Zeit darauf« (am 31. Oktober47) »von ihm persoenlich Abschied nahm, stand er totenblass in seinem Amtsraum. Auf der Fahrt ins Ministerium hatte der Mob seinen Wagen mit Steinen beworfen, ein Glasscherben hatte ihm die Wange verletzt. Er drueckte mir die Hand und sagte bewegt: Sie haben recht gehabt. Ich bin der letzte Kriegsminister der Monarchie.«48 44 Kelsen, Autobiographie (1947) = HKW I, 49. Vgl. dazu auch Boyer, Die Gründung der Republik (2018) 20. 45 Wiener Abendpost [Abendausgabe der Wiener Zeitung] Nr. 242 v. 21. 10. 1918, 1; AZ Nr. 287 v. 21. 10. 1918, 1; vgl. Redlich, Lammasch als Ministerpräsident (1922) 168; R auchensteiner, Der Erste Weltkrieg (2013) 1034. 46 Das Gebäude des k. u. k. Kriegsministeriums (Wien I., Stubenring 1) war erst 1913 nach Plänen von Ludwig Baumann im Stil des Historismus fertiggestellt worden. Es verfügt über einen zweigeschoßigen, fünfachsigen Festsaal, der heute aufgrund seiner Kunstmarmorverkleidung als »Marmorsaal« bezeichnet und von den derzeit drei Bundesministerien, die sich das riesige Bauwerk teilen, für Veranstaltungen benützt wird. 47 Die Verletzung des Kriegsministers an diesem Tag wird erwähnt bei Josef Redlich, Tagebucheintrag vom 31. 10. 1918, in Fellner /Corradini, Tagebücher II (2011) 460. Vgl. zu dieser Begebenheit auch Haider, Wien 1918 (2018) 336. 48 Kelsen, Autobiograpahie (1947) = HKW I, 49 f.
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1. Kapitel: Von der Monarchie zur Republik
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Am Tag der Veröffentlichung des Völkermanifestes in den Zeitungen, am 17. Oktober, hatten Vertreter der deutschsprachigen Parteien im Abgeordnetenhaus den Beschluss gefasst, für den nächsten Montag, den 21. Oktober, eine »Vollversammlung aller deutschen Abgeordneten« einzuberufen, und zwar bewusst nicht im Parlamentsgebäude auf der Ringstraße, sondern im niederösterreichischen Landtagssitzungssaal in der Herrengasse, wo 1848 die bürgerlich-deutschnationale Revolution ihren Ausgang genommen hatte.49 So schien es fast, als würden zumindest die deutschen Abgeordneten der Aufforderung Kaiser Karls, die »Reichsratsabgeordneten jeder Nation« mögen »Nationalräte« bilden, nachkommen. Doch erklärte der Abgeordnete Viktor Waldner, der die Sitzung vom 21. Oktober eröffnete, gleich zu Beginn, dass die Einberufung erfolgt sei, damit diese Versammlung »auch für das deutsche Volk in Österreich als seine gewählte Gesamtvertretung das Recht auf Selbstbestimmung und eigene unabhängige Staatlichkeit feierlich erklären und für den Staat Deutsch österreich in einer zu konstituierenden Nationalversammlung die grundlegenden Beschlüsse fassen« solle, was von der Versammlung – es handelte sich um 104 deutschnationale, 65 christlichsoziale, 38 sozialdemokratische und einen fraktionslosen Abgeordneten50 – mit Beifall quittiert wurde.51 Die Versammlung konstituierte sich sodann als »Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich« (im Folgenden: ProvNV ) und wählte den Deutschnationalen Franz Dinghofer, den Christlichsozialen Jodok Fink und den Sozialdemokraten Karl Seitz zu drei gleichberechtigten52 Präsidenten. Auch wurde ein »Vollzugsausschuss« gewählt, dem außer den drei Präsidenten zwanzig weitere Abgeordnete, darunter Karl Renner, angehörten, und der alle weiteren Schritte, von der Vertretung Deutschösterreichs gegenüber anderen Regierungen bis hin zur Vorbereitung einer »Verfassung des deutschösterreichischen 49 NFP Nr. 19450 v. 18. 10. 1918, Morgenblatt 3; der Beschluss ist auch abgedruckt bei Kelsen, Verfassungsgesetze I (1919) 5 = HKW V, 33. Zu diesen Ereignissen ausführlich Brauneder, Deutsch-Österreich (2000) 32–42. Pläne zur Bildung einer deutschen Nationalversammlung bestanden schon zumindest seit Anfang Oktober 1918, vgl. Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 75; Schmitz, Vorentwürfe (1981) 11; Owerdieck, Parteien und Verfassungsfrage (1987) 19 ff.; Neschwara, Entwicklung (1993) 86. 50 Über die Zahl der Mitglieder der ProvNV gibt es in der Literatur bemerkenswerterweise deutlich voneinander abweichende Angaben, möglicherweise deshalb, weil nicht alle von ihnen aus dem »geschlossenen deutschen Siedlungsgebiet«, sondern von Sprachinseln stammten, oder bei manchen die Nationalität zweifelhaft war; auch waren einige Abgeordnete seit der letzten Wahl (1911) verstorben. So listet R athkolb, Erste Republik (2015) 487, insgesamt 220 Abgeordnete auf, während Kelsen, Verfassungsgesetze I (1919) 5 = HKW V, 33, erklärt, dass zur Versammlung »alle 210 deutschen Abgeordneten geladen waren«. Der offizielle Index zu den StPProvNV zählt schließlich nur 208 Abgeordnete; diesem folgen sowohl Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 13, als auch die vorliegende Darstellung, auch hinsichtlich der Klubzugehörigkeit der Abgeordneten. 51 Sitzung der ProvNV 21. 10. 1918, StPProvNV 3; vgl. auch Kelsen, Verfassungsgesetze I (1919) 5 = HKW V, 34. Den revolutionären Charakter der Versammlung relativierend: Owerdieck, Parteien und Verfassungsfrage (1987) 34. 52 Die Gleichberechtigung der drei Präsidenten wurde erst mit der sog. Verfassungsnovelle v. 19. 1 2. 1918 StGBl 139 ausdrücklich festgelegt, entsprach jedoch von Anfang an der Praxis: Kelsen, Verfassungsgesetze II (1919) 138 = HKW V, 244; Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 84.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Staates«, setzen sollte.53 Zu einem derartigen Schritt aber hatte der Kaiser keinen Auftrag gegeben: Ein Verfassungsbruch bahnte sich an; er war in der Sitzung der ProvNV vom 21. Oktober noch nicht vollzogen, wohl aber vorbereitet worden. Diese Entwicklungen zerstörten die letzten Hoffnungen des Kaisers auf einen Erhalt seines Reiches,54 und offenbar griff er nun auf den von Kelsen unterbreiteten Vorschlag einer »Liquidations-Kommission« zurück: Wieder wurde Kelsen »nachts« (wohl am späten Abend des 21. Oktober55) angerufen: »Major Schager – der vermutlich den Kaiser dazu gebracht hatte die Denkschrift zu lesen – war am Telephon und teilte mir mit, dass der Kaiser schliesslich den Plan gebilligt habe und mich beauftragte, mich sofort mit Hofrat Lammasch in Verbindung zu setzen, ihm den Plan vorzulegen und ihn zu fragen, ob er bereit sei an die Spitze der zu bildenden Liquidations-Kommission zu treten.« Kelsen fuhr noch in derselben Nacht zu Lammasch, der sich eben zu jener Zeit als Gast von Julius Meinl II. in Wien aufhielt und legte ihm sein »Aktionsprogramm« vor. Diesem »fuegte er mit eigener Handschrift nur einen Punkt hinzu, dessen Inhalt ich vergessen habe. Am naechsten Tag fuhr ich mit Lammasch zum Kaiser in das Hauptquartier nach Baden, wo er den offiziellen Auftrag erhielt.«56 Ministerpräsident Hussarek wurde erst nachträglich von diesem Beschluss informiert; die Tage seiner Amtszeit waren schon gezählt. Kelsen berichtet, dass sich die »Verhandlungen, die Lammasch mit den Fuehrern der verschiedenen Nationalitaeten fuehrte, […] anfangs nicht unguenstig« gestalteten.57 Offenbar war sowohl einer der wichtigsten Wortführer der Tschechoslowaken, Karel Kramář,58 als auch der bereits erwähnte Vertreter der Südslawen Anton Korošec,59 zumindest zu Gesprächen bereit; für den 24. Oktober war ein Treffen mit beiden zugleich geplant. An diesem Tag war Kelsen zum Mittagessen bei Meinl und Lammasch in der Meinl-Villa in Hernals60 eingeladen, wo er auch 53 Sitzung der ProvNV v. 21. 10. 1918, StPProvNV 5 f.; vgl. Kelsen, Verfassungsgesetze I (1919) 6 = HKW V, 34; Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 13. 54 So etwa die Einschätzung von Josef Redlich, Tagebucheintrag vom 8. 11. 1918, in Fellner / Corradini, Tagebücher II (2011) 465. 55 Kelsen selbst (Autobiographie (1947) 14 = HKW I, 51) spricht von »Mitte Oktober«, vgl. aber die wahrscheinlicheren Angaben bei Josef Redlich, Tagebucheintrag vom 22. 10. 1918, in Fellner / Corradini, Tagebücher II (2011) 452. 56 Kelsen, Autobiographie (1947) 15 = HKW I, 51. Etwas abweichend sind die Tagebücher von Josef Redlich, wonach es am 22. 10. zwar zu einer Aussprache zwischen Lammasch und dem Kaiser gekommen war, dass er aber erst danach auf telegraphischem Weg damit betraut worden war, eine Regierung zu bilden, »in welche die Nationalräte ihre Vertreter senden sollen.«: Josef Redlich, Tagebucheintrag vom 24. 10. 1918, in Fellner /Corradini, Tagebücher II (2011) 455. 57 Kelsen, Autobiographie (1947) 15 = HKW I, 51. 58 Karel Kramář (Geb. Hochstadt a. d. Iser [Vysoké nad Jizerou/CZ] 27. 12. 1860; gest. Prag [Praha/CZ] 26. 5. 1937) war seit 1891 Reichsratsabgeordneter; er wurde 1915 – unter Aufhebung seiner Immunität – des Hochverrats angeklagt und zum Tode verurteilt, dann zu Kerkerstrafe begnadigt und 1917 freigelassen. 1918–1919 war er erster Ministerpräsident der ČSR. Vgl. Walter Goldinger, Kramář Karel, in: ÖBL, 18. Lfg. (Wien 1968) 202–204. 59 Vgl. zu ihm schon oben 213. 60 Nach Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger 1918, wohnte Julius Meinl II. in Wien XVII., Pointengasse 6.
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1. Kapitel: Von der Monarchie zur Republik
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ein weiteres Mitglied der »Meinl-Gruppe«, den vorhin erwähnten Ignaz Seipel,61 kennenlernte. Am Nachmittag fuhr Lammasch, offenbar alleine, ins Hotel Continental auf der Praterstraße, wo er mit Kramář und Korošec zusammentraf und ihnen den Vorschlag unterbreitete, ein »Exekutivkomitee der Nationalregierungen in Österreich« zu bilden. Dieses sollte die »ruhige Überführung der Zentralverwaltung in die Verwaltung der Nationalstaaten«, die »Aufrechterhaltung der Ordnung« und die Ernährung der Bevölkerung sicherstellen sowie auch einen Waffenstillstand herbeiführen und die Friedenskonferenz vorbereiten.62 Das Ergebnis des Gespräches war niederschmetternd: »Beide lehnten ab, Kramář sagte, er könne jetzt nichts mehr tun, was irgendwie den Plänen der Entente zuwiderlaufe.«63 Unverrichteter Dinge fuhr Lammasch zu seinem Freund, dem deutschnationalen Abgeordneten Prof. Josef Redlich64, ins Wiener Parlament und von dort gemeinsam zu Kelsen in die Wickenburggasse. Während Redlich im Auto wartete, ging Lammasch hinauf in Kelsens Wohnung, um ihm mitzuteilen, dass die Verhandlungen gescheitert seien. »Er teilte mir mit«, erinnerte sich Kelsen, »Kramarz [sic] habe ihm gesagt, er persoenlich sei zwar Royalist, koenne aber in dieser Hinsicht keine Bindung eingehen. Ohne die Tschechen war natuerlich der ganze Plan unmoeglich.« Lammasch ersuchte Kelsen, sein Scheitern dem Kaiser, der sich zur Zeit im ungarischen Gödöllö aufhielt, mitzuteilen, worauf Kelsen vorschlug, gemeinsam ins Kriegsministerium zu fahren, um dort ein Telegramm aufzugeben. »Im Wagen fand ich zu meinem Erstaunen Professor Josef Redlich, der mit Lammasch befreundet war und – vielleicht – von ihm bei seiner Mission zu Rate gezogen wurde.«65 Was sich nun während der Autofahrt ereignete, werden wir wohl nie zuverlässig wissen, da die Berichte Kelsens und Redlichs erheblich voneinander abweichen. Kelsen berichtet, dass Redlich Lammasch auf der Fahrt dazu überredete, »nicht einfach seine Mission dem Kaiser zurueckzulegen, sondern vorzuschlagen, das Kabinett Hussarek zu entlassen und ihn, Lammasch, mit der Bildung einer neuen oesterreichischen Regierung zu betrauen. Lammasch wollte zunaechst nicht darauf eingehen. Auf seine direkte Frage nach meiner Meinung sagte ich, ich koenne nicht sehen, was er – angesichts des Zusammenbruchs der Monarchie – als Chef einer oesterreichischen Regierung noch tun koenne. Aber schliesslich gelang es Redlich ihn mit dem Argument 61 Ignaz Seipel, 3. Tagebuch, Eintrag vom 24. 10. 1918, in: Diözesanarchiv Wien, Selekte/Seipelforschungen Rennhofer, Karton 2. 62 So nach einem bei Redlich, Lammasch als Ministerpräsident (1922) 170 f. abgedruckten Handschreiben Lammaschs vom 23. 10. 1918. 63 Josef Redlich, Tagebucheintrag vom 24. 10. 1918, in Fellner /Corradini, Tagebücher II (2011) 455. Vgl. auch Redlich, Lammasch als Ministerpräsident (1922) 171 f. 64 Josef Redlich (Geb. Göding [Hodonín/CZ] 18. 6. 1869; gest. Wien 11. 11. 1936) war ab 1907 Reichsratsabgeordneter, 1909–1918 Ordentlicher Professor für Verfassungs‑ und Verwaltungsrecht an der Technischen Hochschule Wien, 1918 für wenige Tage letzter k. k. Finanzminister (dazu sogleich) und 1931 für einige Monate Finanzminister der Republik Österreich; 1926–1934 (mit Unterbrechungen) Lehrtätigkeit an der Harvard University. Vgl. Fritz Fellner, Redlich Josef, in: ÖBL, 41 Lfg. (Wien 1984) 10 f. 65 Kelsen, Autobiographie (1947) 16 = HKW I, 52.
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zu ueberreden, dass er als bekannter Pazifist […] bessere Friedensbedingungen erzielen koenne als jeder andere. Das Argument schien mir ziemlich toericht, da der gemeinsame Aussenminister, nicht der oesterreichische Ministerpresident, die Monarchie in den Friedensverhandlungen zu vertreten hatte, und vor allem, da es zu diesem Zeitpunkt bereits hoechst unwahrscheinlich geworden war, dass die Monarchie als solche in den Friedensverhandlungen als Vertragspartner erscheinen werde. Aber da ich sah, dass Lammasch von Redlich’s Argument sichtlich beeindruckt war, und auch nicht weiter gefragt wurde, hielt ich es fuer richtig zu schweigen.«66 Redlich hingegen berichtet, dass »Prof. Kelsen […] meine Bemühungen in dieser Richtung während der Fahrt ins Kriegsministerium lebhaft unterstützte, Lammasch vorstellte, dass Hussarek persönlich und politisch diskreditiert sei, dass er, Lammasch, sogleich seinen ganzen Namen verliere, wenn er mit diesem arbeite.«67 Übereinstimmend berichten dann Kelsen und Redlich, dass Lammasch bei der nun zu bildenden Liste drei Namen nannte: Seipel als Minister für soziale Verwaltung, Redlich als Finanzminister und den Anatomieprofessor Julius Tandler als Minister für Gesundheitswesen. Diese Liste war nicht unproblematisch, zumal »bisher in dem katholischen Oesterreich noch nie ein katholischer Priester aktiver Minister geworden war«, weshalb Kelsen in seiner Autobiographie davon schreibt, dass die Ernennung der beiden Juden Redlich und Tandler ein »Gegengewicht« dazu sein sollte. »Doch kam er, auf Gegenvorstellungen Redlich’s davon ab, da zwei Juden in einem kaiserlichen Ministerium bei dem bestehenden Antisemitismus kaum tragbar schienen.«68 Redlich dagegen hält fest, dass Lammasch »Tandler […] dann auf Kelsens Bitte fallen« ließ.69 Diese Diskrepanz ist so auffällig, dass man, auch wenn die Frage, welcher Bericht näher bei der Wahrheit liegt, nie beantwortet werden kann, zumindest überlegen muss, welche Motive für Kelsen und Redlich ausschlaggebend sein konnten, dass sie die Vorgänge so unterschiedlich darstellten. Vergegenwärtigen wir uns zunächst den Kontext, in dem Kelsen und Redlich ihre Erinnerungen niederschrieben: Redlichs Tagebuchaufzeichnungen wurden erst lange nach seinem Tod, 1954, ediert, sodass nicht ersichtlich ist, vor wem Redlich gelogen haben sollte – außer vor sich selbst. Bereits 1922 veröffentlichte Redlich einen Aufsatz über Lammasch als Ministerpräsidenten,70 der aber keines der umstrittenen Vorkommnisse des 24. Oktober erwähnt. Möglicherweise aber waren Gerüchte entstanden, die Kelsen zu Ohren gekommen waren. Dieser wurde fast dreißig Jahre nach den Ereignissen vom amerikanischen Historiker Charles Adams Gulick gebeten, für dessen Werk »Austria from Habsburg 66 Kelsen, 67 Josef
Autobiographie (1947) 16 = HKW I, 52 f. Redlich, Tagebucheintrag vom 24. 10. 1918, in Fellner /Corradini, Tagebücher II
(2011) 455. 68 Kelsen, Autobiographie (1947) 17 = HKW I, 54. 69 Josef Redlich, Tagebucheintrag vom 24. 10. 1918, in Fellner /Corradini, Tagebücher II (2011) 455. 70 Redlich, Lammasch als Ministerpräsident (1922).
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to Hitler« seine persönlichen Erinnerungen aufzuzeichnen; dieses »Memorandum« wurde dann, 1947, auch ohne größere Veränderungen in Kelsens Autobiographie übernommen, welche zwar bis zu Kelsens Tod unveröffentlicht blieb, aber die Grundlage für das Werk Métalls gab, welcher ausführlich auf die konträren Darstellungen eingeht. Aus der großen zeitlichen Distanz ist manche Ungenauigkeit Kelsens in der Chronologie erklärbar, so etwa, dass die bewusste Autofahrt »zwischen dem 20. und 25. Oktober« erfolgte;71 ansonsten kann er sich an Details noch recht gut erinnern, so etwa, dass es sich um einen »Nachmittag« handelte (nach den Aufzeichnungen Redlichs musste es gegen 18 Uhr gewesen sein), oder dass Kramář sich persönlich als Royalist bezeichnet hatte.72 Demgegenüber hebt Métall hervor, dass Redlich wesentlich stärker in die Angelegenheit involviert war als Kelsen: Sollte er doch selbst zum Finanzminister ernannt werden, und es standen wohl wirklich seine Chancen besser, wenn nicht ein zweiter Jude, nämlich Tandler, dem Kabinett angehören würde. Kelsen dagegen wurde von Lammasch »eine hoehere Stellung im Ministerratspresidium« angeboten, »die ich aber ablehnte«.73 So kommt Métall zum – freilich angesichts seiner Nähe zu Kelsen nicht überraschenden – Schluss, dass der Bericht Redlichs »nicht zutreffend« ist.74 Für Métalls Ansicht spricht jedenfalls auch der (von ihm sonderbarer Weise nicht beachtete) parteipolitische Aspekt: Redlich war Deutschnationaler, Tandler Sozialdemokrat.75 Auch wenn in jenen Tagen selbst ein Karl Renner als möglicher neuer Ministerpräsident gehandelt wurde76 – die Ernennung eines jüdischen Sozialdemokraten zum Minister wäre für den klerikalen Kaiser keine leichte Sache gewesen und hätte wohl auch Redlich einiges an Kopfzerbrechen bereitet. Kelsens Nähe zur Sozialdemokratie ist dagegen hinlänglich bekannt. Wie auch immer – am 27. Oktober 1918 ernannte der Kaiser Lammasch zum k. k. Ministerpräsidenten, Redlich zum k. k. Finanz‑ und Seipel zum k. k. Sozialminister.77 Von den übrigen neu ernannten Ministern ist hier nur noch Paul von Vittorelli zu nennen, der damals das Amt des k. k. Justizministers übernahm (und später als Präsident des Verfassungsgerichtshofes eine wichtige Rolle in Kelsens Biographie spielte);78 ansonsten wurden die meisten anderen Minister auf ihren Posten belassen, darunter auch der für die »Volksgesundheit« zuständige Ivan Horbačevśkyj. Die Regierung 71
Kelsen in Gulick, Austria I (1948) 46. Formulierung hat Lammasch tatsächlich in seinen Aufzeichnungen (abgedruckt bei Redlich, Lammasch als Ministerpräsident [1922] 173), verwendet; dass Kelsen die Veröffentlichung derselben bei Abfassung seines eigenen Memorandums zur Verfügung stand, ist wenig wahrscheinlich. 73 Kelsen, Autobiographie (1947) 17 = HKW I, 54. 74 Métall, Kelsen (1969) 26. 75 Schwarz, Julius Tandler (2017) 18. 76 Vgl. Rumpler, Völkermanifest (1966) 36. 77 Wiener Zeitung Nr. 250 v. 29. 10. 1918, 1 f. Bei R auchensteiner, Der Erste Weltkrieg (2013) 1036 wird unrichtigerweise der 25. 10. als Tag der Ernennung angegeben. 78 Vgl. dazu ausführlich Ladenbauer, Vittorelli 181 ff., insbes. 183, wo Kelsen als »›Adlatus‹ Lammaschs« bezeichnet wurde und zufolge von dessen (unveröffentlichter und nicht zugänglicher) Autobiographie offenbar auch sonst an der Zusammenstellung des Kabinetts Lammasch mitwirkte. 72 Dieselbe
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Lammasch blieb kaum zwei Wochen im Amt. Tandler hingegen wurde 1919 Unterstaatssekretär für Volksgesundheit in der neuen Republik Deutschösterreich und wirkte hier bis 1920, als Wiener Stadtrat für das Wohlfahrts‑ und Gesundheitswesen noch bis 1933.79
3. Die Gründung der Republik Auch der k. u. k. Außenminister Burián war in Reaktion auf das Telegramm Wilsons zurückgetreten, worauf ihm Gyula Graf Andrássy der Jüngere am 24. Oktober als – gleichfalls letzter – k. u. k. Außenminister gefolgt war. Das Bündnis mit Deutschland wurde gelöst, und am 28. Oktober sandte Andrássy ein Telegramm an den US-Präsidenten, in dem er allen Forderungen, die dieser in seinem letzten Telegramm erhoben hatte, zustimmte. Damit aber gab die Österreichisch-Ungarische Monarchie nichts Geringeres als die Zustimmung zu ihrer eigenen Auflösung. Denn Wilson hatte auch verlangt, dass Österreich-Ungarn die Unabhängigkeit der Tschechoslowakei anerkenne.80 Folgerichtig erließ der tschechoslowakische Nationalausschuss in Prag noch am selben Tag, dem 28. Oktober, ein Manifest, mit dem er die Regierungsgewalt übernahm, womit der tschechoslowakische Staat ins Leben trat.81 Einen Tag später, am 29. Oktober, folgte die Gründung des »Staates der Slowenen, Kroaten und Serben« mit Korošec als Präsidenten.82 Und in Wien beschloss der deutschösterreichische Vollzugsausschuss, die Provisorische Nationalversammlung für den 30. Oktober neu einzuberufen und ihr die Bildung einer deutschösterreichischen Regierung vorzuschlagen. Staatsrat Renner wurde beauftragt, den »Entwurf eines Organisationsstatutes für Deutsch-Oesterreich vorzulegen«.83 In seinem Kommentar der »Verfassungsgesetze der Republik Deutschösterreich« schrieb Kelsen später: »In der zweiten Sitzung der Provisorischen Nationalversammlung, die am 30. Oktober stattfand, wurde der für die Organisation des neuen Staates Deutschösterreich entscheidende Beschluß über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt gefaßt. Er ist als die provisorische Verfassungsurkunde
79 Schwarz, 80 Bauer,
18 f.
Julius Tandler (2017) 84–97. Die österreichische Revolution (1923) 85; Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998)
81 Vgl. dazu Kelsen, Tschechoslowakei-Gutachten 1927, 17; Adamovich, Grundriß des tschechoslowakischen Staatsrechtes (1929) 17. 82 Dieser Staat wurde bereits einen Monat später, am 1. Dezember 1918, mit dem Königreich Serbien und dem Fürstentum Montenegro zum »Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen« (nun also in umgekehrter Reihenfolge) mit dem serbischen König Petar I. als Staatsoberhaupt vereint; vgl. Lukan, Die slowenische Politik (2007) 183. 83 Protokoll des Vollzugsausschusses der ProvNV vom 24. 10. 1918, in: Staatsratsprotokolle I, Nr. 4, 23; Protokoll des Vollzugsausschusses der ProvNV vom 28. 10. 1918, in: Staatsratsprotokolle I, Nr. 9, 46; Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 19; Nasko, Karl Renner (2016) 33.
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anzusehen.«84 Denn § 1 dieses Beschlusses erklärte, dass »einstweilen die oberste Gewalt des Staates Deutschösterreich durch die auf Grund des gleichen Wahlrechtes aller Bürger gewählte Provisorische Nationalversammlung ausgeübt« werden solle.85 Während die gesetzgebende Gewalt unmittelbar von der ProvNV ausgeübt werden sollte, wurde der Vollzugsausschuss – der nun in »Staatsrat« umbenannt wurde – mit der Regierungs‑ und Vollzugsgewalt betraut; die eigentlichen Verwaltungsgeschäfte sollten von Staatssekretären geführt werden.86 Alle Gesetze und Einrichtungen Cisleithaniens, die mit der provisorischen Verfassung nicht in Widerspruch standen, blieben »bis auf weiteres in vorläufiger Geltung«.87 Während die Provisorische Nationalversammlung (ProvNV ) im Landhaus tagte, sammelten sich überall in der Innenstadt Menschenmengen an.88 Die Armee erhielt Befehl, auszurücken, doch war auf den Gehorsam der Truppen kein Verlass mehr; der sozialdemokratische Leutnant Julius Deutsch gab die Parole aus: »Ausrückungsbefehl befolgen, aber nicht schießen!« Im Laufe des weiteren Vormittages wurde dann der Ausrückungsbefehl für die meisten Truppenteile widerrufen. Sogar vor dem k. u. k. Kriegsministerium begannen sich tausende Menschen zu versammeln, zu denen sich auch immer mehr Soldaten und Offiziere gesellten, dabei teilweise die schwarz-gelben Rosetten von ihren Kappen abreißend. Der k. u. k. Kriegsminister forderte Militärassistenz vom Militärkommando an, welches dieser Aufforderung nicht mehr Folge leisten konnte, sondern einen Offizier zu Präsident Seitz schickte mit der Bitte, er solle die Menschenmenge beruhigen: Die Armeeleitung hatte die Kontrolle über die Situation verloren.89 Angesichts dieser Umstände trafen sich die drei Präsidenten der ProvNV am folgenden Tag mit der k. k. Regierung, welche die Regierungsgeschäfte, die sie selbst erst drei Tage zuvor übernommen hatte, dem Staatsrat übertrug90 – eine juristisch natürlich völlig unmögliche Handlung, die aber doch insbesondere für den Beamtenapparat von eminenter Wichtigkeit war, damit jeder wusste, von wem er von nun an seine Befehle zu empfangen hatte.
84 Kelsen, Verfassungsgesetze I (1919) 8 = HKW V, 35. Vgl. auch Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 78. 85 Beschluss der ProvNV vom 30. 10. 1918 StGBl 1 über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt, § 1. Vgl. die ausführliche Schilderung bei Brauneder, Deutsch-Österreich (2000) 45–55. 86 Vgl. die Kommentierung durch Kelsen, Verfassungsgesetze I (1919) 17–28 = HKW V, 42–53; vgl. auch Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 82–102. 87 Angesichts der von Kelsen entwickelten These der formellen Diskontinuität des Staates Deutschösterreichs zur Monarchie, auf die weiter unten (231) noch einzugehen ist, hielt Kelsen die in § 16 gewählte Terminologie für »keine sehr glückliche«: Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 82; ebenso Kelsen, Verfassungsgesetze I, 28 = HKW V, 52 f. Richtiger wäre es zu sagen, dass der neue Staat die alten Gesetze etc. übernommen, nicht beibehalten hätte. 88 Bauer, Die österreichische Revolution (1923) 88; Brauneder, Deutsch-Österreich (2000) 58. 89 Plaschka/Haselsteiner /Suppan, Innere Front (1974) 321–323; Boyer, Die Gründung der Republik (2018) 22. 90 Protokoll des Staatsrates vom 31. 10. 1918, in: Staatsratsprotokolle I Nr. 13, 106.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Nur eines blieb noch für das »alte« Österreich zu tun: die Unterzeichnung des Waffenstillstandes mit der Entente. Dies erfolgte am 3. November 1918 in der Villa Giusti bei Padua [Padova/IT]. Seine Bedingungen kamen eigentlich einer Kapitulation gleich, doch angesichts der vollständigen militärischen Niederlage blieb dem k. u. k. Armeeoberkommando nichts anderes übrig, als in das Diktat der Siegermächte einzuwilligen.91 Acht Tage später, am 11. November, musste auch das deutsche Heer die Waffen strecken. Es sei an dieser Stelle ein kurzer Hinweis auf das Schicksal von Ernst und Paul Friedrich Kelsen angebracht, welche ebenso wie ihr Bruder Hans in der k. u. k. Armee dienten. Was ihr Neffe Peter Drucker dazu schreibt, gehört jedenfalls in das Reich der Legende: Demnach habe Hans Kelsen nämlich ursprünglich drei Brüder gehabt, von denen zwei »auf dem Offiziersfriedhof in Südtirol begraben« lägen, der dritte, Ernst mit Namen, wäre »bei lebendigem Leibe von einer russischen Mine verschüttet« worden und könne »heute nur mit Mühe die Rolle eines Jesuiten-Laienbruders ausüben, indem er Geschirr spült und den Tischdienst versieht.«92 Hier werden Halbwahrheiten mit frei erfundenen Geschichten vermischt: Zunächst ist die Anzahl der Brüder schlichtweg falsch. Was Ernst Kelsen betrifft, so diente dieser im Train und war dort Referent für Textilien, weshalb er – so wie Hans Kelsen – niemals direkt in der Linie gestanden haben wird.93 Vielmehr verwendete er sein Geschick darauf, Schuhbänder aus Papier herzustellen, was in einer Zeit allgemeiner Rohstoffknappheit von großer wirtschaftlicher Bedeutung war.94 Der Hinweis auf den »Jesuiten-Laienbruder« bezieht sich wohl auf den jüngsten Bruder Paul Friedrich Kelsen, der nach dem Krieg aber nicht der Gesellschaft Jesu, sondern dem Dritten Orden der Franziskaner beitrat.95 1916 hatte sich der damals Achtzehnjährige nach seiner Matura als Einjährig-Freiwilliger zur Armee gemeldet und war nach Absolvierung seiner Ausbildung in den Krieg geschickt worden. Er gelangte allerdings nicht, wie behauptet, an die russische, sondern an die italienische Front, und blieb – laut Militärakte – unverletzt. 91 Wagner,
Der Erste Weltkrieg (1993) 357. Schlüsseljahre (2001) 150. 93 ÖStA, KA, Qualifikationslisten, Karton 1343, Kelsen Ernst. Nach dem Bericht seiner Enkeltochter war Ernst Kelsen an der Balkanfront (als Mitglied des Train aber wohl nur in der Etappe) im Einsatz und ritt einen Schimmel: Carole Angier, Interview v. 8. 9. 2010. 94 Carole Angier, Interview v. 8. 9. 2010. 95 Der Lebenslauf von Paul Friedrich Kelsen kann nur sehr lückenhaft rekonstruiert werden; die Behauptungen von Drucker sind aber ebenso unrichtig wie die Aussage von Weyr, Paměti I (1999) 415, wonach P. F. Kelsen ein »katholischer Mönch« wurde. Leser, Begegnungen (2011) 117, berichtet, dass P. F. Kelsen »als Dominikanerfrater den Krieg in Trinidad überlebt habe und […] später in das Dominikanerkloster in der Postgasse in Wien [kam], wo er als Pförtner Dienst versah.« Persönliche Anfragen im Dominikanerkloster bei P. Prof. Dr. Isnard Frank OP († 2010) sowie bei meiner eigenen, derzeit im Dominikanerkloster den Pförtnerdienst versehenden Mutter konnten diese Aussage jedoch nicht bestätigen; vielmehr wohnte P. F. Kelsen nur in einer zum Konvent gehörigen Wohnung. Den entscheidenden Hinweis auf den Dritten Orden der Franziskaner verdanke ich Peter Manschein, dem Sohn von Johanna Manschein († 2008), die P. F. Kelsen offenbar in der Dominikanerkirche kennenlernte und die in seinen letzten Lebensjahren zu seiner Kuratorin bestellt wurde: E-mail von Peter Manschein an den Verfasser v. 2. 10. 2008. 92 Drucker,
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Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände hatte das k. u. k. Armeeoberkommando befohlen, die Feindseligkeiten schon in der Nacht vom 2. zum 3. November einzustellen; tatsächlich trat der Waffenstillstand erst am 4. November um 15.00 Uhr in Kraft. Aus diesem Grund geriet Paul Friedrich Kelsen – so wie rund 400.000 andere k. u. k. Soldaten – noch am letzten Kriegstag in italienische Gefangenschaft, aus der er erst ein knappes Jahr später, am 27. August 1919, wieder entlassen wurde.96
4. Eine juristische Revolution Die sich auflösende Österreichisch-Ungarische Monarchie und die im Entstehen begriffene Republik Deutschösterreich bestanden nun für wenige Tage parallel zueinander; die Übergabe der faktischen Macht vollzog sich jedoch weitgehend reibungslos, sodass von einer »Revolution« im politischen Sinne, einem Umsturz, wie er beispielsweise 1789 in Frankreich stattgefunden hatte, kaum gesprochen werden kann.97 Dies sei an einem besonders charakteristischen Beispiel demonstriert: Am 2. November 1918 erteilte der Staatsrat, wie der Vollzugsausschuss der ProvNV seit 30. Oktober hieß, seinem Mitglied Renner den Auftrag, eine »Staatskanzlei« einzurichten, wofür er auch »eine entsprechende Anzahl von Beamten« einberufen sollte.98 Noch am selben Tag wurde Adolf J. Merkl vom staatsrechtlichen Departement des k. k. Ministerratspräsidiums der deutschösterreichischen Staatskanzlei dienstzugeteilt – »ein einzigartiger staatsrechtlicher Tatbestand«, wie er selbst später, angesichts der rechtlich nicht bestehenden Verbindung zwischen k. k. Ministerratspräsidium und republikanischer Staatskanzlei, vermerkte.99 Faktisch aber vollzog sich der Übergang der Macht fast nahtlos; die Behörden, die Beamten und Richter arbeiteten weiter, auch wenn vorerst unklar war, in wessen Namen sie weiter Verwaltungsakte ausfertigten und Urteile fällten. Renners Sekretärin, Amalia Pölzer, erinnerte sich, dass die »Post […] damals von dem späteren großen Juristen Merkl sortiert [wurde].« Und sie fuhr fort: »Kelsen kam erst später.«100 Allzu lange kann dieses Intervall allerdings nicht gewesen sein, denn schon am 3. November schrieb der »Staatskanzler«, wie sich Renner nunmehr nannte, in seinen Tagesbericht: »Professor Kelsen wird Dr. Renner bei legislativen 96 ÖStA, KA, Grundbuchblatt Wien, Geburtsjahr 1898 (Karton 1629) Hauptgrundbuchblatt Nr. 175 (Paul Friedrich Kelsen). Eine allfällige Verwundung wäre im Hauptgrundbuchblatt dokumentiert worden. Zum Zeitpunkt des Waffenstillstandes vgl. Wagner, Der Erste Weltkrieg (1993) 357; R auchensteiner, Der Erste Weltkrieg (2013) 1049 f.; Jeřábek, Kriegsverlauf (2016) 282 f. 97 Eingehend Leser, Reformismus und Bolschewismus (1985) 139–142. 98 Protokoll des Staatsrates vom 2. 11. 1918, in: Staatsratsprotokolle I Nr. 15, 129. Vgl. zum Aufbau der Staatskanzlei auch Owerdieck, Parteien und Verfassungsfrage (1987) 69. 99 Merkl, Selbstdarstellung (1952) 138. Vgl. auch Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 18 f. 100 Amalia Strauss-Ferneböck (geb. Pölzer), Interview mit Siegfried Nasko vom Mai 1981, in: Nasko, Renner in Dokumenten und Erinnerungen (1982) 263–267, hier 264. Vgl. auch das Protokoll des Staatsrates vom 7. 11. 1918, in: Staatsratsprotokolle I Nr. 23, 236, wonach Merkl der Staatsratssitzung zugezogen wurde, um dort den »Einlauf zur Verlesung« zu bringen.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Arbeiten unterstützen.«101 Ein förmlicher Vertrag, mit dem Kelsen (nebenamtlich zu seiner Tätigkeit als Professor an der Universität Wien) in der Staatskanzlei angestellt wurde, wurde erst am 25. November von Renner und Kelsen unterzeichnet; das Gehalt wurde Kelsen allerdings rückwirkend ab 1. November ausgezahlt, zumal Kelsen offenbar bereits seit mehreren Tagen für die Staatskanzlei gearbeitet hatte.102 Kelsen selbst hat später gemeint, dass seine Hauptaufgabe in der Staatskanzlei die Erstellung eines Entwurfes der »definitiven« Verfassung, des Bundes-Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920 (B-VG) war, während er an sonstigen Verfassungsarbeiten nur »gelegentlich« mitgewirkt habe.103 Zu unterschätzen sind seine diesbezüglichen Aktivitäten jedoch nicht: So nahm Kelsen bereits am 8. November an einer Besprechung über die Frage der völkerrechtlichen Stellung des Staates Deutschösterreich im Parlament teil.104 Geleitet wurde die Sitzung vom Staatsrat Stephan Edler v. Licht,105 als »Experten« waren Sektionschef Johann Andreas Baron Eichhoff, Prof. Bernatzik, Prof. Hawelka, Prof. v. Laun sowie Prof. Kelsen geladen.106 Kelsen brachte ein von ihm vorbereitetes Referat zur Verlesung, das die Zustimmung der anderen Besprechungsteilnehmer fand.107 Darin äußerte er die – für den jungen Staat geradezu als überlebenswichtig erscheinende und daher höchst willkommene – These, dass der »Staat Deutsch-Oesterreich […] kein Rechtsnachfolger Oesterreichs bzw. Oesterreich-Ungarns« sei.108 »Er tritt nicht in die Rechtsverhältnisse des alten Staates ein, durch dessen Spaltung er zugleich mit anderen Nationalstaaten entstanden ist. Eine Ausnahme bilden nur die Schulden des alten Staates, die er – allerdings nur zusammen mit den anderen aus Oesterreich-Ungarn entstandenen Staaten pro rate parte 101
Zit. n. Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 20. Vgl. auch Schmitz, Vorentwürfe (1981) 27. übersieht Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 22, wenn er den 25. 11. als den Beginn von Kelsens Tätigkeit als Konsulent annimmt. 103 Hans Kelsen, Interview mit Hans Klecatsky v. 2. 5. 1968; vgl. Schmitz, Vorentwürfe (1981) 39. 104 Im Staatsrat hatte am 6. 11. 1918 eine Debatte zur völkerrechtlichen Stellung Deutschösterreichs stattgefunden, in der Staatsrat Stephan v. Licht die These von der Neutralität Deutschösterreichs geäußert hatte und, da einige andere Staatsräte, wie v. a. Karl Renner, gegenteiliger Ansicht waren, die Einsetzung einer Kommission beantragt hatte: Protokoll des Staatsrates vom 6. 11. 1918, in: Staatsratsprotokolle I Nr. 21, 209. 105 Geb. Brünn [Brno/CZ] 28. 10. 1860, gest. Wien 4. 3. 1932; ab 1901 Reichsratsabgeordneter der Deutsch-Fortschrittlichen Partei, wurde 1918 Mitglied der ProvNV und des Staatsrates, schied aber schon 1919 aus der Politik aus und wurde Verwalter der deutschösterreichischen Pensionsversicherungsanstalt für Angestellte. Vgl. zu ihm Böck, Licht Stephan von, in: ÖBL, 22. Lfg. (Wien 1970) 184; https://www.parlament.gv.at/WWER/PAD_00875/index.shtml [Zugriff: 26. 04. 2019]. Vgl. auch den bei Schmitz, Vorentwürfe (1981) 28 zitierten Brief von Licht an Renner. 106 Protokoll über die am 8. 11. 1918 im Lokal XVII des Parlamentsgebäudes abgehaltene Beratung über die Frage der völkerrechtlichen Stellung des Staates Deutsch-Österreich, in: Staatsratsprotokolle I, Nr. 21, 219 f. 107 Suppan, Außenpolitik 1918/19 (1993) 36 f. Dass dieses Gutachten im Auftrag von Otto Bauer verfasst wurde, wie dies Hanisch, Illusionist (2011) 151, behauptet, findet in den Quellen keine Stütze; vielmehr ist davon auszugehen, dass der Auftraggeber Stephan v. Licht war. 108 Kelsen, Deutschösterreich-Gutachten 1918. Der Text ist nahezu identisch mit Kelsen, Verfassungsgesetze I (1919) 37–40 = HKW V, 61–64 (mit inhaltlich unbedeutender Abweichung im letzten Absatz, wo auf Art. 2 des G 12. 11. 1918 StGBl 5 eingegangen wird). Vgl. auch Suppan, Jugoslawien und Österreich (1996) 122 f. 102 Dies
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1. Kapitel: Von der Monarchie zur Republik
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übernehmen wird.« Ferner trete der neue Staat »auch nicht in das Rechtsverhältnis des Krieges ein, den die österr. ung. Monarchie geführt hat. Der Staat Deutsch-Oesterreich ist neutral und erklärt diese Neutralität ausdrücklich. Er protestiert demgemäss gegen den Einmarsch von Truppen kriegsführender Mächte insbesondere auch von Truppen der Entente in sein Gebiet.«109 Auch der Wunsch der ProvNV, ein Bestandteil der deutschen Republik zu sein, stehe der Neutralität nicht entgegen, da dieser »Willenserklärung keine Rechtswirkung« zukomme, solange »kein völkerrechtlicher Vertrag oder analoge Gesetze der beiden Republiken vorlägen«. Diese Thesen lagen ganz auf der Linie der Wiener rechtstheoretischen Schule, wie insbesondere ein kurz zuvor publizierter Aufsatz von Merkl110 zeigt, vor allem aber auch Kelsens Monographie über »Das Problem der Souveränität«, an der er zu jener Zeit arbeitete.111 Deutschösterreich war am 30. Oktober im Zuge einer »Revolution« – im juristischen Sinne – entstanden, ebenso wie am 28. Oktober die ČSR und am 29. Oktober der Staat der Slowenen, Kroaten und Serben (SHS-Staat). Und ebenso, wie sich auch diese beiden Staaten ausschließlich aus Teilen des Gebietes und der Bevölkerung der Habsburgermonarchie zusammensetzten, ohne dessen Rechtsnachfolge anzutreten, so sollte es sich mit dem Staat Deutschösterreich verhalten. So schlüssig die Argumentation Kelsens auch war, so hatte sie bei den Ententemächten keine Chance auf Anerkennung, zumal diese sonst vor dem Problem gestanden wären, dass ihr ehemaliger Kriegsgegner plötzlich nicht mehr existent, niemand die Kriegsschuld übernehmen könne.112 Aus genau diesem Grund aber wurde auch Kelsens These vom Staatsrat begeistert aufgegriffen und zur offiziellen Doktrin des Staates Deutschösterreich gemacht,113 der sich in der Folge auch weigerte, mit den 109 Diese
Forderung war gerade in diesen Tagen von höchster Wichtigkeit, denn bevor noch die Entente-Mächte deutschösterreichisches Territorium besetzen konnten, war die deutsche Armee am 5. 11. in Salzburg und Tirol einmarschiert, um ihre Südflanke abzusichern, musste sich allerdings nach Unterzeichnung des deutschen Waffenstillstandes am 11. 11. von dort wieder zurückziehen. Vgl. NFP Nr. 19470 v. 7. 11. 1918, Morgenblatt 1–3. 110 Merkl, Rechtseinheit (1918) = WRS 913–953 = MGS I/1, 169–225. Der Aufsatz wurde, wie insbesondere aus den Seiten 103 f. hervorgeht, noch vor den Umbrüchen des Herbst 1918 verfasst. Die von Merkl und Kelsen entwickelte These von der staatsrechtlichen Diskontinuität blieb allerdings innerhalb der Wiener Schule nicht unumstritten, vgl. Sander, Das Faktum der Revolution (1919), bes. 137, dazu noch unten 318. 111 Siehe unten 263. Auch in späteren Schriften, so etwa Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 80, wird die These von der Diskontinuität zwischen Monarchie und Republik als notwendige Folge der Lehre von der Souveränität gesehen. Vgl. auch Kelsen, Verfassungsgesetze I (1919) 10 = HKW V, 37. 112 Waldheim, The Austrian Example (1971) 23; Owerdieck, Parteien und Verfassungsfrage (1987) 37. Es sei darauf hingewiesen, dass ähnliche Gedanken in Bezug auf Deutschland vom sozialistischen Ministerpräsidenten Bayerns, Kurt Eisner, geäußert wurden, was sich natürlich ebensowenig durchsetzen konnte: Schwabe, World War I (2014) 869. 113 Vgl. schon Art. 4 des Gesetzes v. 12. 11. 1918 StGBl 5 über die Staats‑ und Regierungsform von Deutschösterreich (»… unter ausdrücklicher Ablehnung jeder Rechtsnachfolge«) sowie auch die Denkschrift des Staatssekretärs für Äußeres Otto Bauer an die Ententemächte vom 25. 1 2. 1918, ADÖ I/104. Vgl. auch Neschwara, Entwicklung (1993) 91. Auch der VfGH schloss sich der These von der Diskontinuität an: VfGH 11. 3. 1919 Z. 18 VfSlgAF 2. Noch Jahrzehnte später zitierte Kelsen in seinem
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Ententemächten einen »Friedensvertrag« zu schließen, zumal er ja niemals Krieg mit der Entente geführt hatte. Der zu St. Germain-en-Laye letztlich mit den Siegermächten unterzeichnete Vertrag wurde daher hierzulande stets nur als »Staatsvertrag«, niemals als »Friedensvertrag« bezeichnet; und wenn auch die alliierten und assoziierten Mächte in diesem Vertrag Deutschösterreich zwangen, den Staatsnamen in »Österreich« abzuändern und eine Reihe von Verpflichtungen des alten Österreich zu übernehmen, so beharrte letztlich doch die republikanische Staatsführung auf der Richtigkeit von Kelsens These – bis zum heutigen Tag!114 Das Gutachten selbst, wiewohl schon am 8. November mündlich verlesen, wurde erst am 29. November auch in schriftlicher Form dem Staatsrat übermittelt und dabei auch an die in der Zwischenzeit erfolgten Entwicklungen angepasst. Denn am 12. November 1918 hatte sich Deutschösterreich per Gesetz zu einer »Republik« und zugleich zu einem »Bestandteil der deutschen Republik« erklärt.115 Dies war nach Kelsen aber nur der »feierliche Ausdruck eines Wunsches der Nationalversammlung«, da der Beitritt nur durch völkerrechtlichen Vertrag oder paktierte Gesetzgebung erfolgen könne, der völkerrechtliche Status somit unverändert geblieben sei.116 Dem Gesetz vom 12. November war am 11. November eine Erklärung Kaiser Karls vorausgegangen, wonach dieser »die Entscheidung […], die Deutschösterreich über seine künftige Staatsform« treffen würde, »im voraus« anerkannt und »auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften« verzichtet hatte.117 Diese Erklärung war von Seipel formuliert worden118 und wurde von den Zeitgenossen, wie auch von Kelsen, durchaus nicht als eine »formelle Abdankung« angesehen, »denn sie enthält keineswegs einen Verzicht auf die Rechte, die ihm die alte formell nicht aufgehobene Verfassung Österreichs in bezug auf seine Stellung als Monarch einräumt.«119 Dennoch machte sie politisch den Weg frei, dass sich Deutschösterreich am folgenden Tag auch formell zur republikanischen Staatsform bekennen konnte; und im Anschluss an den
Lehrbuch des Völkerrechts im Kapitel »Staatensukzession« einen Abschnitt aus diesem Erkenntnis: Kelsen, Principles (1952) 299 (allerdings mit unrichtiger Quellenangabe). 114 Vgl. insbesondere das Gesetz v. 21. 10. 1919 StGBl 484, mit dem Deutschösterreich den Namen »Republik Österreich« annahm, jedoch betonte, dass es – »unbeschadet der im Staatsvertrage von St. Germain auferlegten Verpflichtungen – keinerlei Rechtsnachfolge nach dem ehemaligen Staate Österreich, das ist den ›im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern‹« übernehme. Vgl. dazu die Kommentierung durch Kelsen, Verfassungsgesetze IV (1920) 9–14 = HKW V, 448– 454. 115 Gesetz v. 12. 11. 1918 StGBl Nr. 5 über die Staats‑ und Regierungsform von Deutschösterreich; vgl. die Kommentierung durch Kelsen, Verfassungsgesetze I (1919) 32–37 = HKW V, 56–61. 116 Nachtrag zum Gutachten Kelsens, in: Staatsratsprotokolle I Nr. 21, 223. Vgl. dazu Brauneder, Deutsch-Österreich (2000) 63. 117 Der Text ist u. a. bei Kelsen, Verfassungsgesetze I (1919) 8 f. = HKW V, 36, abgedruckt. 118 Für diesen in der Literatur oft hervorgehobenen Umstand gibt es erstaunlich wenig Quellenbelege; einen der verlässlichsten verdanken wir Kelsen selbst, als er später angab, dass sich Seipel ihm gegenüber persönlich zur Urheberschaft bekannt habe. Vgl. die Erinnerungen Kelsens in Gulick, Austria I (1948) 47 und dazu Olechowski, Seipel (2012) 325. 119 Kelsen, Verfassungsgesetze I (1919) 9 = HKW V, 36.
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1. Kapitel: Von der Monarchie zur Republik
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Gesetzesbeschluss vom 12. November rief der Präsident der ProvNV Dinghofer, auf der Parlamentsrampe stehend, die Republik aus.120 Der vormalige Kaiser blieb noch mehr als vier Monate in Deutschösterreich; Versuche von Renner und Seipel, ihn zu einer formellen Abdankung zu bewegen, scheiterten.121 Erst am 24. März 1919 ging er ins Schweizer Exil, und am 3. April erging das Gesetz über die Landesverweisung und die Übernahme des Vermögens des Hauses Habsburg-Lothringen. Später entstanden Gerüchte, dass dieses »Habsburgergesetz« von Kelsen formuliert worden war,122 dies ist jedoch nach neueren Forschungen auszuschließen.123 Dies auch deshalb, weil Kelsen in der Absetzung des Kaisers nur eine »politische Demonstration« ohne rechtliche Wirkungen sah: Deutschösterreich hatte sich revolutionär konstituiert, ohne dass es jemals ein monarchisches Staatsoberhaupt gehabt hätte: Wo Karl niemals Kaiser war, konnte er auch nicht abgesetzt werden!124 Und auch was die Ausrufung der Republik am 12. November betraf, so sah Kelsen in ihr lediglich einen »Akt politischer Solennität«125 ohne juristische Bedeutung, war doch die Republik »schon durch den Verfassungsbeschluß vom 30. Oktober 1918 rechtlich geschaffen worden«.126 Doch so gering die juristische Bedeutung dieses zweiten Staatsaktes sein mochte, so verdrängte der 12. November im Bewusstsein der Öffentlichkeit doch schon bald den 30. Oktober als Tag der Republiksgründung. Er wurde 1919 zum Staatsfeiertag erklärt, und der Abschnitt der Wiener Ringstraße, auf dem sich Parlament, Rathaus und Universität befanden, und der bis dahin die Bezeichnung »Franzensring« getragen hatte, wurde in »Ring des 12. November« umbenannt.127 Allerdings – und dies ist hervorzuheben – war der 12. November 1918 selbst kein Freudentag. Die Politiker machten sich Sorgen, ob der neue Staat überlebensfähig sei – die Menschen wussten nicht, wie sie selbst überleben sollten angesichts der katastrophalen Versorgungslage, was Lebensmittel und Kohle betraf, und angesichts des herannahenden, besonders strengen Winters.128 Wie ein böses Omen mochte es erscheinen, dass Viktor Adler, der Gründer und Vorsitzende der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, ausgerechnet am Vortag verstorben war und die Provisorische Nationalversammlung ihre feierliche Sitzung am 12. November daher mit einem Totengedenken beginnen musste.129 Adler war aber nicht der einzige Prominente, der 120 Ausführlich
Brauneder, Deutsch-Österreich (2000) 164 ff. Seipel (2012) 328 f. 122 Métall, Kelsen (1969) 34. 123 Der »Vater« dieses Gesetzes war vielmehr mit größter Wahrscheinlichkeit der sozialdemokratische Rechtsanwalt Dr. Gustav Harpner, vgl. Reiter, Harpner (2008) 372. 124 Gesetz v. 3. 4. 1919 StGBl 209; Kelsen, Verfassungsgesetze III (1919) 389; Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 78. 125 Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 96. Vgl. zu den Ereignissen rund um die Ausrufung der Republik R athkolb, Erste Republik (2015) 488 f. 126 Kelsen, Verfassungsgesetze I (1919) 32 = HKW V, 56. Anderer Ansicht Owerdieck, Parteien und Verfassungsfrage (1987) 42. 127 Brauneder, Deutsch-Österreich (2000) 294. 128 Bauer, Die österreichische Revolution (1923) 122; Johnston, Geistesgeschichte (2006) 88. 129 Sitzung der ProvNV 12. 11. 1918, StPProvNV 63. 121 Olechowski,
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
in jenem Jahr 1918 starb und somit keinen Anteil mehr an der Entwicklung der jungen Republik hatte. 1918 war vielmehr das Todesjahr einer Reihe von Persönlichkeiten, die die letzten Jahre der Donaumonarchie geprägt hatten: des Architekten Otto Wagner und des Schriftstellers Peter Rosegger, des Schauspielers Alexander Girardi und des Eiskunstläufers Alois Lutz, der drei Maler Gustav Klimt, Koloman Moser und Egon Schiele sowie vieler anderer. Schiele war an der »Spanischen Grippe« gestorben, die sich zu jener Zeit in ganz Europa ausbreitete und die mehr Menschenleben kostete als der gesamte Krieg zuvor. Ihre Ausmaße waren vor allem deshalb so furchtbar, weil die Bevölkerung nach vier langen Kriegsjahren physisch und psychisch am Ende war.130 Wien war eine sterbende Stadt, im übertragenen und im wörtlichen Sinne. Hatte die damals fünftgrößte Metropole der Welt kurz vor dem Krieg die Zwei-Millionen-Einwohner-Grenze knapp überschritten, und hatten die zahlreichen Kriegsflüchtlinge, die in die Hauptstadt geströmt waren, nochmals zu einem Bevölkerungsanstieg geführt, so begann die Bevölkerung bereits unmittelbar nach Kriegsende zu sinken, und der Bevölkerungsrückgang sollte bis 1989, als die Stadt nur mehr 1,4 Millionen zählte, praktisch ohne Unterbrechung andauern.131
5. Die Wahlordnung Die Provisorische Nationalversammlung (ProvNV ) hatte in ihrem Staatsgründungsbeschluss vom 30. Oktober angekündigt, dass sie nur so lange im Amt bleiben wollte, bis eine Konstituierende Nationalversammlung (KNV ) zusammentreten könne. Diese Versammlung, deren Hauptaufgabe die Beschlussfassung über die definitive Verfassung für Deutschösterreich war, sollte aus allgemeinen, demokratischen Wahlen hervorgehen, an denen erstmals auch Frauen unter den gleichen Bedingungen wie Männer teilnehmen konnten.132 Mit der Erstellung eines Entwurfes für die Wahlordnung wurde abermals Renner beauftragt, und am 23. November präsentierte er im Staatsrat sein Werk. War es Zufall, dass Kelsen just am nächsten Tag, dem 24. November, in der »Arbeiter-Zeitung«, dem offiziellen Organ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, einen Artikel publizierte, mit dem er vehement in die politische Debatte eingriff ? Kelsen propagierte in diesem Artikel »Ein einfaches Proportionalwahlsystem«, das er mit einfachen Worten dem alten Wahlrecht gegenüberstellte. Nach diesem Wahlrecht – das Kelsen ja schon 1907 eingehend analysiert, sich damals aber von politischer Kritik zurückgehalten hatte – hatte für jeden einzelnen Abgeordnetensitz ein eigener Wahlkreis bestanden, 130 Maderthaner, Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945 (2006) 331 f.; Haider, Wien 1918 (2018) 154 ff. 131 Abfrage bei Statistik Austria: http://statcube.at [Zugriff: 9. 4. 2015]. 132 Die Notwendigkeit, das Frauenwahlrecht einzuführen, wurde 1918 nicht ernsthaft bestritten, auch wenn es hier noch einige Debatten gab: Bader-Zaar, Demokratisierung und Frauenwahlrecht (2018) 34. Vgl. zum Wahlrecht zur KNV ausführlich Strejcek, Wahlrecht (2009) 1–29.
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1. Kapitel: Von der Monarchie zur Republik
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Abb. 21: Die Eröffnung der Konstituierenden Nationalversammlung für Deutschösterreich am 4. März 1919.
und derjenige Abgeordnete galt als gewählt, der in diesem Wahlkreis die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Kelsen plädierte dafür, künftig auf Wahlkreise im Sinne von territorialen Wahlkörpern ganz zu verzichten und eine zentrale Wahlbehörde für das ganze Staatsgebiet zu schaffen, bei der die wahlwerbenden Parteien Listen ihrer Kandidaten (in alphabetischer Reihenfolge) einzurichten hätten. Jeder Wähler solle genau eine Person wählen, wobei er nicht an diese Listen gebunden sein solle, sondern auch »Wilde« wählen könne. Beim Ermittlungsverfahren sollten zunächst »jeder Liste so viele Kandidaten zugewiesen werden, als der Quotient in der auf die Liste […] entfallenden Gesamtstimmenzahl enthalten ist.« Innerhalb einer Liste sollten jene Kandidaten als gewählt gelten, die die meisten Stimmen auf sich vereinigen konnten, die übrigen sollten Ersatzmänner werden. Von den »Wilden« sollten jene als gewählt gelten, die den Quotienten erreicht hatten. Mit diesem Vorschlag werde, so Kelsen, dem Haupteinwand gegen das Proportionalwahlsystem, nämlich der mangelnden Personenbezogenheit der Wahl begegnet, ohne sie unnötig zu verkomplizieren.133 133 Kelsen, Ein einfaches Proportionalwahlsystem (1918) = HKW IV, 75–82; vgl. Strejcek, Wahlrecht (2009) 21. Es war dies – nach seinem 1913 in der NFP erschienenen Artikel zur böhmischen Verwaltungskommission – erst das zweite Mal, dass Kelsen in einer Tageszeitung publizierte, und einer von nur zwei Artikeln in der Arbeiter-Zeitung.
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Währenddessen hatte der Staatsrat zur Beratung von Renners Entwurf eine Kommission eingesetzt, die ihre Arbeiten schon nach wenigen Tagen abschloss und das Ergebnis am 27. November veröffentlichte.134 Für den Folgetag, den 28. November, wurden mehrere Experten, darunter auch Hans Kelsen, vom Staatsrat zu einer Besprechung des Entwurfs eingeladen; über den Verlauf dieser Sitzung existiert kein Protokoll.135 Kelsen veröffentlichte seine Ansichten zum Entwurf aber auch in einem Zeitungsartikel, der am 1. Dezember in der bürgerlichen »Neue Freien Presse« erschien.136 In ihr bescheinigte er dem Staatskanzler in geradezu euphorischer Weise »eine gesetzgeberische Begabung ersten Ranges« aufgrund der gelungenen formalen Gestaltung von Gesetz und Motivenbericht. Allein, was das Meritorische betraf, so hatte Kelsen schwere Einwände: Zwar folgte der Rennersche Entwurf dem Prinzip des Proportionalwahlsystems, doch war diese Maxime wesentlich dadurch eingeschränkt, dass das Staatsgebiet in 41 Wahlkreise aufgeteilt worden war, in denen durchschnittlich 4–7 Mandate zu vergeben waren, sodass, wie Renner bemerkte und Kelsen bestätigte, »der Sprung vom alten zum neuen System kein allzu großer« war.137 Diese Entwicklungen waren der Hintergrund dafür, dass Kelsen noch im Herbst 1918 einen längeren Aufsatz verfasste, der, ausgehend von der Frage, wie das Wahlrecht optimal gestaltet werden könne, auch einige bemerkenswerte demokratietheoretische Überlegungen enthielt, die später in seiner berühmten Schrift »Vom Wesen und Wert der Demokratie« zum Teil auch wörtlich übernommen wurden. Dieser Aufsatz, betitelt »Das Proportionalsystem«, erschien in der Wochenschrift »Der österreichische Volkswirt« in drei Teilen am 23. November, 30. November und 7. Dezember 1918.138 Schon in dieser Schrift bezeichnete Kelsen die »Freiheit« als das eigentliche »Grundprinzip« der Demokratie und die Gleichstellung von Volkswillen und Parlamentswillen als eine »Fiktion«.139 Geradezu typisch für das Frühwerk Kelsens ist es, dass er seine rechtsphilosophischen Überlegungen noch mit rechtshistorischen Belegen untermauerte, so etwa, wenn er erklärte, dass »das Majoritätsprinzip keineswegs zu allen Zeiten und bei allen Völkern geherrscht« 134 NFP
Nr. 19491 v. 28. 11. 1918, 1. Vgl. Anm. 25 zum Protokoll der Sitzung des Staatsrates v. 27. 11. 1918, in: Staatsratsprotokolle II (im Druck); vgl. auch Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 22. 136 Kelsen, Der Proporz im Wahlordnungsentwurf (1918); vgl. dazu Strejcek, Wahlrecht (2009) 20 f. Grund für die Wahl dieser Zeitung könnte eine auf Kelsens Beitrag in der AZ gemünzte Replik in der NFP von Prof. Schiff gewesen sein, wonach für den Gesamtstaat bestehende, einheitliche Listen auf partikuläre Widerstände stoßen könnten: NFP Nr. 19490 v. 27. 11. 1918, 1. 137 Vgl. Strejcek, Wahlrecht (2009) 17–19; Strejcek, Entwicklung (2010) 45. Es ist aufgrund dieser Kritik davon auszugehen, dass Kelsen in die Entstehung der Wahlordnung zumindest anfangs nicht involviert war. 138 Es ist möglich, dass dieser Aufsatz aus einem Vortrag über »Das Proportionalwahlrecht mit besonderer Berücksichtigung des in Deutschösterreich geltenden Rechtes« hervorging, den Kelsen etwa um diese Zeit in der Wiener Urania hielt; vgl. Ehs, Kelsen und politische Bildung (2007) 62. 139 Kelsen, Das Proportionalsystem (1918) 116 = HKW IV, 27. Vgl. die über weite Strecken gleich formulierten Überlegungen bei Kelsen, Demokratie (1920) 14 = VdD 11. 135
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habe, und als Beispiele die Einführung des Majoritätsprinzips für »Beschlüsse des Deutschen Reichstages« 1496 oder die »Wahlen zum englischen Parlament« 1429 anführte. Solche rechtshistorischen Exkurse tauchten in seinem Werk später kaum noch auf. Hingegen wurde seine Kernaussage – »Im Idealfall der Proportionalwahl gibt es keinen Besiegten, weil es keine Majorisierung gibt« – auch in späteren Arbeiten wörtlich beibehalten.140 Kelsen erläuterte diese bemerkenswerte Aussage durch zwei Extrembeispiele: Wenn alle Wähler einer Meinung seien, würde es reichen, wenn alle gemeinsam einen einzigen Abgeordneten wählen. Wenn hingegen jeder Wähler eine andere Meinung habe, müsste man theoretisch ebensoviele Abgeordnete wählen wie Wähler existieren, damit jede Meinung im Parlament berücksichtigt werden könne. »Bis zu diesen Grenzfällen soll die Idee der Proportionalwahl nicht deshalb durchdacht, um ad absurdum geführt zu werden, sondern weil nur die Aufdeckung der dieser Idee innewohnenden letzten Ziele ihren tieferen Sinn und damit den obersten Grundsatz enthält, der vielen das Proportionalsystem als ›gerecht‹ erscheinen läßt. Es ist das individualistische Prinzip der Freiheit, es ist das Prinzip der radikalen Demokratie. So wie ich mich nur einem Gesetz beugen will, das ich selbst mitbeschlossen habe, so kann ich als ›meinen‹ Repräsentanten bei der staatlichen Willensbildung – wenn überhaupt jemanden – so nur den anerkennen, der von mir – und nicht gegen meinen Willen – dazu berufen wurde.«141 Und nach ausführlichen Auseinandersetzungen mit ausländischen Wahlsystemen und verschiedenen Ermittlungsverfahren propagierte er erneut das von ihm schon in der »Arbeiter-Zeitung« vom 24. November empfohlene System einer »einnamige[n] Stimmengebung mit Listenkonkurrenz«.142 Kelsen war allerdings nicht der »Erfinder« dieses Systems; es war u. a. schon 1886 vom Wiener Rechtsanwalt Wilhelm Pappenheim (dem Bruder der Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim) propagiert worden.143 Am 4. Dezember 1918 saß der mittlerweile 58-Jährige unter den Teilnehmern eines Vortragsabends der Wiener Juristischen Gesellschaft, als der Vorsitzende, Franz Klein, erklärte, dass er den heutigen Abend der Wahlordnung widmen wolle und dazu den ehemaligen k. k. Ministerpräsidenten Ernst Seidler geladen habe, der aber erkrankt sei. »[E]s hat sich an seiner Stelle Herr Professor Kelsen bereit erklärt, über dieses Thema zu sprechen. Professor Kelsen ist heute im Verfassungsausschuss beschäftigt und hat uns gebeten, bis zu dieser Stunde auf ihn zu warten.«144 Für Franz Klein musste der zumindest temporäre Ausfall 140 Kelsen, Das Proportionalsystem (1918) 117 = HKW IV, 30; wörtlich auch in Kelsen, Demokratie (1929) 59 = VdD 198. 141 Kelsen, Das Proportionalsystem (1918) 117, 118 = HKW IV, 31, Hervorhebung im Original. 142 Kelsen, Das Proportionalsystem (1918) 150 = HKW IV, 49. 143 So Kelsen selbst: Kelsen, Verhältniswahlrecht (1919) 27 = HKI IV, 171. Vgl. Pappenheim, Vorschlag (1886). 144 Die Ansprache von Franz Klein ist in HKW IV, 170 abgedruckt. – Kelsen wurde in jenen Tagen wiederholt den Sitzungen des Verfassungsausschusses der ProvNV beratend hinzugezogen,
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
seines Ersatzvortragenden wohl sehr unangenehm sein, doch spontan erklärte sich der Nationalökonom Prof. Walter Schiff bereit, aus dem Stegreif einige Worte zum Verhältniswahlrecht zu sagen. Kelsen kam offenbar während dieses improvisierten Vortrages in die Sitzung und konnte nur mehr die Ausführungen Schiffs ergänzen; insbesondere bestätigte er dessen Ansicht, »daß das Prinzip der Wahlkreiseinteilung und das der Proportionalität einfach nicht im Einklange stehen.«145 Danach hielt er ein flammendes Plädoyer für sein eigenes Wahlrechtsmodell, auch wenn er zugab, »daß die politischen Aussichten dieses Systems sehr geringe sind«.146 Damit hatte Kelsen nicht übertrieben, denn just am Vortag, dem 3. Dezember, hatte der Staatsrat den Rennerschen Entwurf angenommen und an das Plenum der ProvNV weitergeleitet.147 Es ist beachtenswert, dass zugleich mit der Vorlage des Staatsrates auch eine Gruppe deutschnationaler Abgeordneter um Gustav Hummer einen alternativen Wahlordnungsentwurf eingebracht hatte und dieser den Vorschlägen Kelsens weitgehend entsprach; insbesondere sollte das ganze Staatsgebiet einen einzigen Wahlkreis bilden.148 Beide Entwürfe wurden dem Wahlgesetzausschuss zugewiesen, doch beschloss dieser, den Entwurf des Staatsrates zur Grundlage seiner Beratungen zu machen, und nahm an diesem nur Änderungen im Detail vor. Am 18. Dezember wurde das Gesetz über die Wahlordnung von der ProvNV im Sinne der Vorschläge Renners beschlossen.149 Die Wahl der Konstituierenden Nationalversammlung (KNV ) erfolgte am 16. Februar 1919. Bei ihr erlangten die Sozialdemokraten 40,8 % der Stimmen und 69 Mandate, die Christlichsozialen 35,9 % und 63 Mandate, die Deutschnationalen 20,8 %, aber nur 25 Mandate. Je ein Mandat konnten auch die Vereinigten tschechoslowakischen Parteien (2,3 %) und die Jüdisch-Nationalen (0,3 %) erwerben.150 Hätte man den so etwa auch am 22. 11. 1918, als über die Regelung der Staatsbürgerschaft beraten wurde, vgl. Hans Haas, Historische Einführung [zu: Staatsratsprotokolle II] Anm. 127 (im Druck). Ich danke den Herren Prof. Dr. Wolfgang Mueller und Dr. Clemens Reisner für die Zurverfügungstellung des noch nicht veröffentlichten Manuskripts. 145 Kelsen, Verhältniswahlrecht (1919) 27 = HKW IV, 171. 146 Kelsen, Verhältniswahlrecht (1919) 28 = HKW IV, 174. 147 62 BlgProvNV. 148 66 BlgProvNV; vgl. insbes §§ 1, 33 f. des Entwurfs; vgl. dazu auch Jestaedt in HKW IV, 588 sowie Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 80. Im Gegensatz zu Kelsens Vorschlägen sollte in diesem Entwurf die Berechnung der Mandate nach dem Hareschen System erfolgen. 149 77 BlgProvNV; StPProv 320 ff.; Gesetz v. 18. 1 2. 1918 StGBl 115 über die Wahlordnung für die konstituierende Nationalversammlung; vgl. zur Gesetzeswerdung Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 78 f.; zum Inhalt die Kommentierung durch Kelsen, Verfassungsgesetze II (1919) 41–131 = HKW V, 161–239. 150 Für die von italienischen bzw. südslawischen Truppen besetzten Gebiete, in denen nicht gewählt hatte werden können, wurden vom Staatsrat noch drei sozialdemokratische, sechs christlichsoziale und ein deutschnationaler Abgeordneter gemäß § 40 Abs. 2 der Wahlordnung in die KNV berufen; keine derartige Maßnahme geschah hingegen in den von der ČSR besetzten Gebieten, sodass die KNV letztlich 170 (statt wie gesetzlich vorgesehen 255) Abgeordnete umfasste. Diese differenzierte Vorgangsweise hatte weniger außenpolitische, als vielmehr parteipolitische Gründe, vgl. Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 140–143; allgemein zur Bedeutung der Wahl für die weitere Entwicklung R athkolb, Erste Republik (2015) 490.
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1. Kapitel: Von der Monarchie zur Republik
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Wahlvorschlag der Wahlgruppe Hummer herangezogen, so hätte dies 65 Mandate für die Sozialdemokraten, 57 für die Christlichsozialen, 33 für die Deutschnationalen und vier für die Tschechoslowaken bedeutet, während die Jüdisch-Nationalen den Einzug in die KNV nicht geschafft hätten.151 Die von Renner vorgeschlagene und von der ProvNV angenommene Wahlkreiseinteilung hatte also die Sozialdemokraten und die Christlichsozialen (die nach der Wahl eine »Große Koalition« eingingen152) massiv begünstigt, und es ist schwer vorstellbar, dass Kelsen diese parteipolitische Wirkung nicht schon vorher abschätzen hatte können. Andererseits ist auch nicht zu vermuten, dass es Kelsens Intention gewesen war, die Deutschnationalen zu unterstützen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass er einfach ganz unabhängig von den parteipolitischen Folgen von der demokratietheoretischen Richtigkeit seines Wahlmodelles überzeugt war und sich selbst als parteipolitisch nicht gebunden sah – immerhin war er weder damals noch zu anderer Zeit Mitglied der sozialdemokratischen oder einer anderen Partei. Was Renner betrifft, so dürfte dieser Kelsens Engagement allem Anschein nach toleriert haben. Wie noch zu zeigen sein wird, konnte er durchaus davon profitieren, dass sein juristischer Berater politisch eigene Wege ging.
6. Kelsen und Renner In der Zwischenzeit hatte Renner seine Position innerhalb der jungen Staatsführung massiv ausbauen können. Dass er vom Staatsrat mit der Leitung der Staatskanzlei beauftragt worden war, hatte genau genommen nur die Bedeutung gehabt, dass er die Protokolle des Staatsrates zu führen hatte; auch war er gemeinsam mit den drei Präsidenten der ProvNV (Dinghofer/Fink/Seitz) und dem Staatsnotar (dem Deutschnationalen Julius Sylvester) Mitglied im Staatsratsdirektorium. Dem Staatsrat kam laut § 3 Staatsgründungsbeschluss die »Regierungs‑ und Vollzugsgewalt« zu, die eigentlichen Verwaltungsgeschäfte sollten aber nicht von ihm, sondern von einer Staatsregierung, bestehend aus 14 Staatssekretären, wahrgenommen werden, wobei einer dieser Staatssekretäre den Vorsitz in der Staatsregierung führen sollte (§§ 8 f., § 15 Staatsgründungsbeschluss). Renner jedoch hatte es zuwege gebracht, dass diese zuletzt genannte Position niemals besetzt wurde, vielmehr er selbst die Leitung der Staatsregierung übernahm und damit »tatsächlich die Stellung eines Ministerpräsidenten« erlangte, wie später Kelsen anmerkte.153 Dazu kam, wie bereits erwähnt, dass sich 151 Die Wahlergebnisse folgen der von der Statistischen Zentralkommission herausgegebenen Broschüre Die Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung (Wien 1919 ‑https://www.bmi. gv.at/412/Nationalratswahlen/files/NRW_1919.pdf [Zugriff: 26. 4. 2019]), nach denen ich auch die alternative Mandatsberechnung selbst durchführte. 152 Zu dieser vgl. Owerdieck, Parteien und Verfassungsfrage (1987) 126 ff. Eine Analyse der Positionen der drei politischen »Lager« gibt Höbelt, Die erste Republik (2018) 59 ff. 153 Kelsen, Verfassungsgesetze I (1919) 27 = HKW V, 52. Vgl. auch Nasko, Karl Renner (2016) 33. Unrichtig daher Jestaedt in HKW IV, 612, wonach Renner jene »Leerstelle ausfüllen sollte, die
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Renner – ohne gesetzliche Grundlage – selbst den Titel eines »Staatskanzlers« zugelegt hatte – einen Titel, den vor ihm zuletzt kein Geringerer als Clemens Wenzel Fürst von Metternich (Staatskanzler von 1821 bis 1848) getragen hatte! Das unklare Verhältnis zwischen Staatsrat und Staatsregierung führte schon rasch zu Reibungskonflikten in der Praxis; besonders problematisch war hierbei § 7 Staatsgründungsbeschluss, wonach allein der Staatsrat das Recht hatte, »Vollzugsanweisungen«, d. h. Verordnungen, zu erlassen, was sich praktisch nicht handhaben ließ. Die Staatssekretäre äußerten bereits am 7. November den Wunsch, dass sich der Staatsrat nicht in einzelne Verwaltungsdetails einmenge,154 und im Auftrag Renners erstellte Hans Kelsen ein Gutachten, in dem er die Kompetenzen von Staatsrat und Staatsregierung voneinander abzugrenzen versuchte.155 In diesem, mit 4. Dezember 1918 datierten Gutachten erklärte Kelsen, dass die »Regierung im eigentlichen Sinne […], d. i. die Festsetzung der obersten Grundsätze und politischen Leitlinie für die Exekutive« dem Staatsrat zukomme und die Staatsregierung ihm untergeordnet, d. h. weisungsgebunden sei. Er hielt dies für sehr problematisch, weil die Staatssekretäre – nicht jedoch die Mitglieder des Staatsrates und auch nicht der Staatskanzler – der Ministerverantwortlichkeit unterlagen. Kelsen sprach sich dafür aus, den einzelnen Staatssekretären mehr Handlungsspielraum zu geben und nur dort, wo mehrere Ressorts betroffen waren, den Staatsrat einzuschalten, etwa indem diesem solche Verordnungen vorbehalten waren, die mehrere Staatsämter zugleich betrafen, während jeder Staatssekretär für den Bereich seines eigenen Staatsamtes selbständig Verordnungen erlassen können sollte. Renner griff diese Vorschläge Kelsens nur zum Teil auf. Am 12. Dezember brachte er eine Vorlage für eine Novellierung der provisorischen Verfassung in die ProvNV ein, die von dieser am 19. Dezember ohne große Änderungen angenommen wurde.156 Mit dieser Novelle wurde das »Verordnungsmonopol« des Staatsrates gänzlich beseitigt. Der Leiter der Staatskanzlei wurde nun auch offiziell als »Staatskanzler« bezeichnet und dem Gesetz über die Ministerverantwortlichkeit unterworfen. Die Staatsregierung sollte künftig von einem der drei Präsidenten der ProvNV, in dessen Vertretung aber vom Staatskanzler geleitet werden. Letzteres wurde zum Regelfall; Renner wurde mit der Novelle also in seiner Funktion als eigentlicher Leiter der Staatsregierung bestätigt und war so zum mächtigsten Mann der Republik geworden.157 Es ist bemerkenswert, dass Kelsen schon einen Tag nach dieser Novelle, am 20. Dezember, in der »Neuen Freien Presse«158 und am 28. Dezember in der »Arbeiter- durch die Abdankung des Kaisers entstanden war.« Vgl. zur zentralen Bedeutung Renners für die Republiksgründung zuletzt Boyer, Die Gründung der Republik (2018) 23. 154 Kabinettsratssitzung v. 7. 11. 1918, TOP 3, in: MRP I/1, 21. 155 ÖStA, AdR, Staatskanzlei, Karton 1, GZ 211/1918. Eine kommentierte Edition dieses Gutachtens habe ich in Bearbeitung. 156 78 BlgProvNV, 92 BlgProtNV, StPProvNV 289, 416–419. 157 Gesetz v. 19. 1 2. 1918 StGBl 139. Vgl. die Kommentierung durch Kelsen, Verfassungsgesetze II (1919) 138–150, bes. 139 = HKW V, 244–255, 245; Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 102 f. 158 Kelsen, Verfassungsnovelle (1918) = HKW IV, 58–67.
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Abb. 22: Die Staatsregierung unter Karl Renner (1. Reihe 4. von links) im März 1919. Links neben Renner der Unterstaatssekretär für Unterricht Otto Glöckel. Stehend, 3. von links: Staatssekretär für Finanzen Josef Schumpeter; 3. von rechts: Staatssekretär für Äußeres Otto Bauer.
Zeitung« diese entscheidende politische Kräfteverschiebung ausführlich kommentierte und dabei das neue System deutlich befürwortete: Der Staatsrat – eindeutig der politische Verlierer der Reform vom 19. Dezember – wurde von ihm ohnehin nur als ein Provisorium angesehen, das schon aufgrund seines »abnormalen Umfang[es]« wenig geeignet war, tatsächlich die Regierungsgeschäfte zu führen, und auch der Idee, »daß der Präsident des Parlaments zugleich auch als Ministerpräsident« fungiere, konnte Kelsen wenig abgewinnen. Vielmehr war die Entwicklung hin zur Dezembernovelle für ihn die Folge einer natürlichen Entwicklung; »die praktischen Verfassungsbedürfnisse, die staatsrechtlichen Forderungen des Alltags haben jenes zentrale Verwaltungsorgan schon vorher im Wege einer allmählichen Verfassungswandlung geschaffen. […] Gewiß, zum Ministerpräsidenten hätte nicht gerade der Leiter der Staatskanzlei werden müssen. Aber ein zentraler Regulator des Verwaltungsapparats war notwendig.« Dass es Renner letztlich geworden ist, »mag […] mit den besonderen Qualitäten jener Persönlichkeit zusammenhängen, die seit der Wirksamkeit der neuen Verfassung an der Spitze der Staatskanzlei gestanden ist.«159 Damit hatte Kelsen ein überdeutliches Zeichen seiner Unterstützung Renners gegeben. In der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SdAP) dagegen war der kometen 159 Kelsen,
Staatskanzler (1918) 2 = HKW IV, 71.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
hafte Aufstieg ihres Parteimitgliedes zum Regierungschef keineswegs unumstritten. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass die Redaktion der »Arbeiter-Zeitung« im Anschluss an Kelsens Beitrag vom 28. Dezember noch einen selbst verfassten Text veröffentlichte, in dem sie die »politische Kräfteverschiebung« und insbesondere die Art und Weise, in der sie erfolgt war, scharf kritisierte.160 Etwa um dieselbe Zeit, noch kurz vor Ende des Jahres 1918,161 erschien im Franz Deuticke Verlag das erste von fünf kleinen Büchern: »Die Verfassungsgesetze der Republik Deutschösterreich« (ab Band 4: »der Republik Österreich«), herausgegeben von Hans Kelsen. Diese handlichen Kommentarwerke – insbesondere das fünfte, umfangreichste und letzte, welches die definitive Verfassung, das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) vom 1. Oktober 1920 zum Inhalt hatte – sollten zu den bekanntesten und einflussreichsten Werken, die Kelsen jemals schrieb, zählen. Das Titelblatt zum ersten Band erwähnte eine »fördernde Mitwirkung« des Staatsrats Dr. Stephan von Licht; vor allem aber enthielt Band 1 auch ein Geleitwort des Staatskanzlers Dr. Karl Renner. Dies ließ die Publikation in einem offiziösen Charakter erscheinen, was sicherlich nicht unbeabsichtigt war und auch prompt im »Neuen Wiener Tagblatt« kritisiert wurde: Am 11. Jänner 1919 erschien dort ein Artikel, der u. a. die Wahlrechtsordnung Renners zum Gegenstand hatte und behauptete, dass Kelsen Renners Ideen unterstützt habe, was dieser damit »belohnt« habe, dass »Herr Professor Dr. Kelsen dem legislativen Bureau der Staatskanzlei« angehöre und eine »Ausgabe der Verfassungsgesetze der Republik Deutschösterreich veranstaltet« habe, aus dessen »umständlichen Angaben des Titelblattes die beruhigende Gewissheit [geschöpft werden könne], daß Byzanz auch in der Republik Deutschösterreich noch unvergänglich fortlebt.«162 Kelsen erhob gegen diese Vorwürfe schärfsten Protest. Am 14. Jänner veröffentlichte er seinerseits einen Beitrag im »Neuen Wiener Tagblatt« und wies zunächst nach, dass seine Wahlrechtsvorstellungen von jenen Renners deutlich differierten; auch äußerte er die Ansicht, dass seine eigenen Aktivitäten wohl kaum zur Freude des Staatskanzlers gereicht haben dürften. Dann aber erklärte er, dass er keinerlei offiziellen Auftrag zur Herausgabe der Verfassungsgesetze besitze. »Wer nur eine Seite meines Kommentars gelesen hat, wird finden, daß eine schärfere Kritik an unsrer Verfassungsgesetzgebung kaum möglich ist. Daß der Staatskanzler als Hauptschöpfer der Verfassung, daß Dr. Renner, mit dem ich seit Jahren in freundschaftlichem Gedankenaustausch stehe, trotz dieser scharfen Kritik ein Geleitwort zu meinem Werke 160 AZ
Nr. 354 v. 28. 1 2. 1918 2 = HKW IV, 74. Vgl. dazu auch Schmitz, Vorentwürfe (1981) 16. 30. 1 2. 1918 schrieb Seipel an Lammasch, dass er soeben von Kelsen dessen »Ausgabe der Neuen Verfassungsgesetze« erhalten habe; er fand übrigens »die Kritik zum Teil ausgezeichnet«: Rennhofer, Seipel (1978) 172. 162 Anonymus, »Der Anschluß«, in: Neues Wiener Tagblatt Nr. 10 v. 11. 1. 1919; abgedruckt in HKW IV, 638 f. – Der Titel des Beitrages ergibt sich daraus, dass in ihm auch der geplante »Anschluß«, d. h. die staatsrechtliche Vereinigung Deutschösterreichs mit dem Deutschen Reich thematisiert wurde. 161 Am
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1. Kapitel: Von der Monarchie zur Republik
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geschrieben hat, kann niemand mißdeuten, der nicht fachliche Gegensätze zu persönlichen werden lassen will.«163 In der Tat handelte es sich beim Verfassungskommentar um eine Privatarbeit, bei der Kelsen zwar als gut informierter, aber doch nicht in alle Einzelheiten der Arbeiten der Staatskanzlei eingeweihter Autor auftrat. Auffällig ist es etwa, wenn Kelsen schreibt, dass Renner der Berichterstatter und »vermutlich« auch Verfasser des Staatsgründungsbeschlusses vom 30. Oktober war: Offensichtlich verfügte Kelsen hier über keinerlei Insiderinformationen, und Renner (der, wie wir heute wissen, tatsächlich der Verfasser dieses Beschlusses war164) hatte ihm diese nicht zukommen lassen. Berühmt ist der Satz geworden, mit dem Renner sein Geleitwort begann: »Die deutschösterreichische Verfassung ist kein Werk der Theorie, sondern der Empirie.« Gleichsam entschuldigend für die Mangelhaftigkeit der provisorischen Verfassung erklärte er, dass »in acht Wochen […] ein Verfassungswerk zu vollziehen [war], zu dem in ruhigen Zeiten in der Regel mehr Monate gebraucht werden, als hier Wochen zur Verfügung standen.« Daher auch die Mängel und Widersprüche innerhalb dieser Verfassung. »Der Herausgeber dieses Buches tut der Öffentlichkeit und dem Staate einen guten Dienst, wenn er diese Widersprüche herausarbeitet.«165 Während der erwähnte Teil I des Verfassungskommentars jene Rechtsvorschriften enthielt, die die ProvNV bis einschließlich 5. Dezember erlassen hatte, brachte der Teil II nicht nur die Verfassungsnovelle vom 19. Dezember, sondern auch die Wahlordnung zur KNV vom 18. Dezember – abermals, wie schon 1907, trat Kelsen als Kommentator einer Wahlordnung auf; im Gegensatz zu damals hielt er sich aber nun, aus den schon genannten Gründen, nicht mit politisch-wertender Kritik zurück.166 Kelsen verfasste den Kommentar in der Rekordzeit von lediglich vier Wochen,167 sodass das Buch schon Ende Jänner – und damit rechtzeitig vor den Wahlen im Februar – erscheinen konnte.168 Erst ein halbes Jahr später, im Oktober 1919, erschien dann Teil III mit Normtexten, die zwischen Jänner und April teils noch von der ProvNV, teils bereits von der KNV beschlossen worden waren; den vorläufigen Abschluss bildete der Teil IV 163 Kelsen, Der Anschluß (1919) 2 = HKW IV, 99. Es ist dies einer der wenigen Belege dafür, dass
zwischen Kelsen und Renner auch eine persönliche Freundschaft existierte; vgl. auch die Aussage des vormaligen Staatssekretärs Andreas Korp aus dem Jahr 1980, wonach ihm Kelsen, offenbar in Reaktion auf die Nachricht vom Tode Karl Renners (31. 1 2. 1950) gesagt haben soll: »Was in uns fortlebt, ist das Bild eines unendlich begabten, ja genialen Mannes, eines lebensfreudigen und gütigen Menschen«. Zit. n. Nasko, Renner in Dokumenten und Erinnerungen (1982) 234. 164 Vgl. oben 226. 165 Renner, Zum Geleite, in: Kelsen, Verfassungsgesetze I (1919) III f. = HKW V, 26 f. 166 So insbesondere, wenn er die »Kombination des Proportionalwahlsystems mit einer Wahlkreiseinteilung [als] in vieler Beziehung sehr bedenklich« bezeichnete: Kelsen, Verfassungsgesetze II (1919) 48 = HKW V, 168. 167 Vgl. ausführlich zur Datierung Jestaedt in HKW V, 631, wonach das Manuskript zu Teil II zwischen 13. und 20. 1. 1919 abgeschlossen wurde. 168 Der Teil II wird im Neuen Wiener Tagblatt Nr. 28 v. 29. 1. 1919, 5, als »soeben erschienen« angekündigt. Ich danke Frau Dr. Kamila Staudigl-Ciechowicz herzlich für diesen Hinweis.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
mit Rechtsvorschriften aus der Zeit zwischen April und August 1919, der aber erst ein Jahr später, im September/Oktober 1920 erschien, somit kurz vor oder womöglich erst nach der Beschlussfassung über die definitive Verfassung, das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920 (B-VG), durch das viele der kommentierten Gesetze ihre Gültigkeit verloren. Das B-VG selbst aber bildete den Gegenstand des erst zwei Jahre später, 1922, erschienenen letzten, fünften, umfangreichsten und mit Abstand bedeutendsten Teils des »Verfassungskommentars«.
7. Die Entstehung des Verfassungsgerichtshofs Eine der Besonderheiten der Habsburgermonarchie war es gewesen, dass nicht einmal für ihre österreichische Reichshälfte ein (einziges) Höchstgericht existierte, dass vielmehr gleich vier oberste Gerichte nebeneinander judiziert hatten. Oberste Instanz für die ordentliche Gerichtsbarkeit (= Zivilrecht und Strafrecht) war der 1848 gegründete Oberste Gerichts‑ und Kassationshof gewesen; er wurde 1918 in »Oberster Gerichtshof« (OGH) umbenannt, erfuhr aber ansonsten – abgesehen von der drastischen Verkleinerung seines räumlichen Wirkungsbereiches – keine Veränderungen.169 Ebenfalls fast unverändert übernommen wurde der seit 1876 tätige Verwaltungsgerichtshof (VwGH), dem die rechtliche Kontrolle individueller Verwaltungsakte zukam.170 Für die Wahrnehmung der rechtlichen Ministerverantwortlichkeit hatte die Verfassung 1867 einen Staatsgerichtshof vorgesehen, der aber niemals tätig wurde. § 9 Staatsgründungsbeschluss 1918 übertrug seine Aufgaben auf einen zwanzigköpfigen Ausschuss der ProvNV, der genausowenig aktiv wie sein Vorgänger war.171 Schwieriger gestaltete sich die Frage, was mit dem vierten ehemaligen Höchstgericht, dem 1867/69 geschaffenen Reichsgericht, geschehen solle, welches eine Reihe sehr verschiedenartiger, politisch bedeutsamer Kompetenzen in sich vereinigt hatte.172 Im besonderen war dem Reichsgericht die Aufgabe zugekommen, individuelle Verwaltungsakte zu kontrollieren, im Gegensatz zum VwGH jedoch nicht am Maßstab einfacher Gesetze, sondern am Maßstab der Verfassung selbst. Damit wurden die verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechte (die Grundrechte) gerichtlich einklagbare Garantien. Allerdings hatte das Reichsgericht (auch hier wieder im Gegensatz zum VwGH) nicht die Befugnis, Verwaltungsakte aufgrund ihrer Verfassungswidrigkeit zu 169 Grundgesetz v. 22. 11. 1918 StGBl 38 über die richterliche Gewalt; vgl. die Kommentierung durch Kelsen, Verfassungsgesetze I (1919) 90–97 = HKW V, 104–111; Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 94. 170 Gesetz v. 6. 2 . 1919 StGBl 88. Vgl. die Kommentierung durch Kelsen, Verfassungsgesetze III (1919) 84–86 = HKW V, 324–325; Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 106; siehe auch Olechowski, Verwaltungsgerichtsbarkeit (1999) 244; Jabloner, Die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts (2011) 214 f. 171 Gesetz v. 25. 7. 1867 RGBl 101; Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 42. 172 Beachte den Bericht der NFP Nr. 19560 v. 7. 1 2. 1918, wonach das Reichsgericht seine für Dezember 1918 anberaumte Session »auf unbestimmte Zeit vertagt« hatte und Mutmaßungen über das weitere Schicksal desselben angestellt werden; vgl. Schmitz, Constitutional Court (2003) 247.
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1. Kapitel: Von der Monarchie zur Republik
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kassieren, sondern lediglich, diese Verfassungswidrigkeit auszusprechen, womit die Hoffnung verbunden blieb, dass die Verwaltungsbehörde von sich aus einen neuen, verfassungskonformen Verwaltungsakt erlassen würde – was in der Praxis zwar zumeist, aber nicht immer der Fall war.173 Zu dieser zentralen Kompetenz – aufgrund ihrer Parallelität zur allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit des VwGH wurde sie als »Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit« bezeichnet – kamen noch zwei weitere Befugnisse: die Entscheidung über Kompetenzkonflikte zwischen verschiedenen Gebietskörperschaften oder zwischen Gerichten und Verwaltungsbehörden sowie drittens die sog. Kausalgerichtsbarkeit, aufgrund der gewisse Forderungen an den Staat gestellt werden konnten, die im ordentlichen Rechtsweg nicht einklagbar waren. Das Reichsgericht bestand aus einem Präsidenten, einem Vizepräsidenten, zwölf Mitgliedern und vier Ersatzmitgliedern, die vom Kaiser ernannt wurden. Dabei hatten das Herren‑ und das Abgeordnetenhaus das Recht, je sechs Mitglieder und zwei Ersatzmitglieder zu nominieren, nur für den Präsidenten und den Vizepräsidenten bestand kein derartiges Nominierungsrecht. Die Mitgliedschaft war ein Ehrenamt und an keine formellen Qualifikationserfordernisse gebunden, doch wurden in der Praxis nur hochqualifizierte Juristen, wie etwa Edmund Bernatzik und Adolf Menzel, zu Mitgliedern ernannt.174 Schon 1875, anlässlich der Errichtung des VwGH, war das Reichsgericht – in bewusster Parallelität zum VwGH – als ein »Verfassungsgerichtshof«175 bezeichnet worden; zehn Jahre später, 1885, veröffentlichte Jellinek seine Schrift »Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich«, in dem er vorschlug, dem Reichsgericht die Kompetenz zu geben, über verfassungswidrige Gesetze zu entscheiden. Eine solche Ausweitung seiner Kompetenzen war für Jellinek nur konsequent: Denn wann immer das Parlament ein Gesetz erlasse, das die Verfassung ändere, ohne selbst ein Verfassungsgesetz zu sein, überschreite es seine Kompetenzen – und die Kompetenzgerichtsbarkeit war schon seit jeher eine Funktion des Reichsgerichts!176 Bis auf Jellinek lässt sich also die Idee zurückverfolgen, dass man das Reichsgericht zu einem Verfassungsgerichtshof ausbauen sollte. Rund dreißig Jahre später, während des Ersten Weltkrieges, schlug 173 Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 66 vermutete, dass es sich hier um »ein gesetzestechnisches Versehen« handelte. Dies war nicht der Fall: Die kassatorische Kompetenz wurde nach einer heftigen Debatte im Reichsrat 1869 durchaus mit Absicht verworfen, vgl. Olechowski, Verwaltungsgerichtsbarkeit (1999) 46 f., sodass es zur geradezu absurden Situation kam, dass Verletzungen von einfachen Rechten vom VwGH behoben werden konnten, Verletzungen von Grundrechten mangels entsprechender Kompetenz des Reichsgerichts aber nicht. Vgl. dazu Epstein, Entscheidungen des Reichsgerichtes (1917/18) sowie zur Handhabung dieses Problems in der Praxis Svoboda, Die tatsächliche Wirkung der Erkenntnisse (1971). 174 Die Zusammensetzung Ende 1918 ist im Index zu den StPAH 22. Sess 801 f. enthalten. 175 Und zwar vom damaligen Minister und späteren Reichsgerichts-Präsidenten Joseph Unger in der Herrenhaus-Debatte vom 22. 1. 1875; vgl. Olechowski, Verwaltungsgerichtsbarkeit (1999) 133; Jabloner, Die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts (2011) 220. 176 Jellinek, Verfassungsgerichtshof (1885) 54. Die Idee wurde u. a. 1913 auch von Weyr übernommen; vgl. Haller, Prüfung von Gesetzen (1979) 26, 31. Siehe auch Olechowski, Grundrechte und ihr Schutz (2010) 35 f., sowie Wiederin, Verfassungsgerichtshof (2014) 289, der aber darauf hinweist, dass der Vorschlag Jellineks auf wenig positives Echo stieß.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Karl Renner die Umwandlung Österreich-Ungarns in einen Bundesstaat vor. Immer dann, wenn eine der Landesregierungen oder ein Landesparlament seine Kompetenzen überschreite, sollte die Bundesregierung bzw. das Bundesparlament einen besonderen Gerichtshof anrufen können.177 Auch dies war eine Idee, die letztlich bei der Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit Österreichs 1920 verwirklicht wurde. Jetzt aber, im Winter 1918/19, ging es vorerst nur darum, die schon bestehenden Regelungen über das Reichsgericht an die neuen staatsrechtlichen Verhältnisse anzupassen, weshalb das Staatsamt für Justiz einen Gesetzesentwurf über ein »Reichsgericht« erstellte.178 Dieser Entwurf ist leider nicht erhalten; offenbar hielt er an den meisten bisherigen Bestimmungen, auch an der Bezeichnung »Reichsgericht«, fest und bestimmte lediglich, dass die zwölf Mitglieder künftig von der ProvNV zu wählen seien; in administrativer Hinsicht sollte das Reichsgericht nicht mehr dem Ministerratspräsidenten, sondern dem Staatsamt für Justiz unterstellt sein. Der Entwurf wurde an die Staatskanzlei weitergeleitet und dort Hans Kelsen zugewiesen, der in einer Stellungnahme vom 9. Dezember 1918 scharfe Kritik am Entwurf übte und einen Gegenentwurf ausarbeitete.179 Stellungnahme und Gegenentwurf sind uns – im Gegensatz zum Entwurf des Staatsamtes für Justiz – erhalten und inhaltlich in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Zum einen war auch Kelsen der Ansicht, dass die ProvNV nur das unbedingt Notwendige verfügen dürfe und weitreichende verfassungsrechtliche Reformen der demokratisch legitimierten KNV vorbehalten müsse. Dies ging sogar so weit, dass – auch im offiziellen Motivenbericht – ganz offen gesagt wurde, dass man in der derzeitigen Situation keine Neuwahl von Mitgliedern wünsche, sondern jene bisherigen Mitglieder, die deutschösterreichische Staatsbürger waren, beibehalten wolle – dies war auch der eigentliche Grund, weshalb das republikanische Verfassungsgericht nicht, wie bisher, aus zwölf, sondern lediglich aus acht Mitgliedern bestehen solle.180 Ungeachtet dieses provisorischen Charakters des Verfassungsgerichtshofgesetzes 1919 hielt Kelsen aber doch schon jetzt fest, dass die »Reformbedürftigkeit« des Reichsgerichtes »allgemein bekannt und das Bedürfnis nach einem Gerichte, das nach jeder Richtung dem Schutze der Verfassung dient, sehr fühlbar« sei;181 konkret überlegte er, ob man dem Reichsgericht nicht auch die Kompetenz zur Ministeranklage 177 Renner, Selbstbestimmungsrecht (1918) 292; vgl. dazu Haller, Prüfung von Gesetzen (1979) 38; Stourzh, Kelsen (1982) 313; Jabloner, Die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts (2011) 221; Wiederin, Verfassungsgerichtshof (2014) 291. Jüngst, in einem am 6. 1 2. 2019 gehaltenen Vortrag, hat Ewald Wiederin, gestützt auf neu entdeckte Quellen, die Bedeutung Bernatziks für die Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit hervorgehoben. 178 Schmitz, Constitutional Court (2003) 243. 179 Professor Kelsens Bemerkungen zu dem Entwurfe des Staatsamtes für Justiz für ein Gesetz, betreffend das Reichsgericht, datiert 9. 1 2. 1918, in: Schmitz, Vorentwürfe (1981) 308 f. Vgl. dazu auch Haller, Prüfung von Gesetzen (1979) 41. 180 Motivenbericht, 141 BlgProvNV 4 (dieser Teil ist bei Kelsen, Verfassungsgesetze III [1919] nicht abgedruckt). 181 Motivenbericht, 141 BlgProvNV 3, abgedruckt auch bei Kelsen, Verfassungsgesetze III (1919) = HKW V, 329. Vgl. auch Jabloner, Die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts (2011) 221.
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und zur Prüfung der Wahllegitimation geben solle. Aufgrund der zentralen Stellung, die diesem Gericht für die Verfassung zukomme, aber auch wegen des Umstandes, dass das habsburgische »Reich« nicht mehr existierte, plädierte Kelsen dafür, das Reichsgericht in »Verfassungsgericht« umzubenennen.182 Renner war mit den Vorschlägen Kelsens im Wesentlichen einverstanden, konnte nicht umhin zu bemerken, dass der Entwurf des Staatsamtes für Justiz »im einzelnen legistisch ausgefeilter« als Kelsens Gegenentwurf sei, und schlug vor, dass das neue Gericht, um seinen Rang zu betonen, nicht »Verfassungsgericht«, sondern »Verfassungsgerichtshof« heißen solle.183 In dieser Form wurde der Gesetzesentwurf am 23. Jänner 1919 in die ProvNV eingebracht, in rekordverdächtiger Zeit vom Verfassungsausschuss durchberaten und bereits am 25. Jänner von der ProvNV ohne substantielle Änderungen zum Gesetz erhoben.184 Die Kompetenzen des ehemaligen Reichsgerichts wurden unverändert auf den Verfassungsgerichtshof (VfGH) übertragen; auch bei den Richterernennungen, die am 20. Februar vom Staatsrat vorgenommen wurden, wurde, wie geplant, größtmögliche Kontinuität gewahrt,185 und selbst das Amtsgebäude am Schillerplatz mitsamt seinem nichtrichterlichen Personal und seiner Bibliothek wurde beibehalten. Erst im Mai 1924 übersiedelte der VfGH, wohl aus Kostengründen, in das Parlamentsgebäude, in dem er bis zu seiner Auflösung 1933/34 blieb.186
8. Die Stellung der Länder und die Anschlussfrage Die wohl wichtigste Frage in jenen Tagen war die, ob der neue Staat überlebensfähig sein würde – was von vielen bezweifelt wurde. Das hing nicht zuletzt damit zusammen, 182 Schmitz, Vorentwürfe (1981) 308, 310; Motivenbericht, 141 BlgProvNV 3, abgedruckt auch bei Kelsen, Verfassungsgesetze III (1919) = HKW V, 329. 183 Nasko, Renner in Dokumenten und Erinnerungen (1982) 19; Stourzh, Hans Kelsen (1982) 313 f.; Schmitz, Constitutional Court (2003) 244. 184 Die Gesetzgebungsgeschichte bei Schmitz, Constitutional Court (2003) 245. 185 Bemerkenswerterweise hatte der vormalige Präsident des Reichsgerichtes, der Südtiroler Karl v. Grabmayr, schon vor Inkrafttreten des Gesetzes dem Präsidenten der ProvNV seinen Diensteid geleistet (Motivenbericht zu § 3, 141 BlgProvNV, 4), und zwar nicht nur als Präsident des Reichsgerichts, sondern auch als Präsident des VwGH. Die Leitung des letzteren behielt er bis 1920, während am 20. 2 . 1919 das bisherige Reichsgerichtsmitglied Paul v. Vittorelli zum Präsidenten des VfGH sowie das bisherige Reichsgerichtsmitglied Adolf Menzel zum Vizepräsidenten des VfGH aufrückte. Als Mitglieder übernommen wurden ferner Edmund Bernatzik, Robert Neumann-Ettenreich, Hermann Esser und Julius Sylvester; die bisherigen Ersatzmitglieder August Kolisko und Julius Ofner stiegen zu Mitgliedern auf, weshalb nur drei Neuernennungen notwendig waren. Dabei wurden der Christlichsoziale Viktor v. Fuchs sowie erstmals auch zwei Sozialdemokraten, Gustav Harpner und Friedrich Engel, zu Verfassungsrichtern ernannt. Vgl. den Index zu den StPAH 22. Sess 801 f. sowie den Index zu den StPProvNV 112 f. 186 Vgl. Walter, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 21, wo das Gebäude (Adresse: Wien I., Schillerplatz 4) jedoch mit dem »Schillerhof« verwechselt wird. Dieses, dem VfGH vis-à-vis am Schillerplatz situierte Gebäude, welches aber die Postadresse Wien I., Nibelungengasse 4, hatte, war 1922–1934 die Residenz des VwGH; vgl. Waldstätten, Gerichte in Wien (2011) 167, 231, 234.
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dass mit dem Untergang der Monarchie auch ein jahrhundertealter Wirtschaftsraum zerfiel, dessen Schwerindustrie in Böhmen, dessen Landwirtschaft in Ungarn ihren Schwerpunkt gehabt hatten, während die deutschsprachigen Alpenländer wirtschaftlich unterentwickelt waren, die Millionenstadt Wien aber zur Regierung einer Großmacht, nicht zur Regierung eines Kleinstaates eingerichtet war. Indem die ProvNV die Vertretung für das geschlossene deutsche Siedlungsgebiet in Österreich beanspruchte,187 erhob sie freilich nicht nur auf die deutschsprachigen Alpenländer (Ober‑ und Niederösterreich, Kärnten, Salzburg, Steiermark, Tirol und Vorarlberg) Anspruch, sondern auch auf ausgedehnte Gebiete in Böhmen und Mähren, wo man ebenfalls deutsch sprach, und wo für kurze Zeit die Länder »Deutschböhmen« und »Sudetenland« entstanden. Diese beiden Länder mit zusammen rund zwei Millionen Einwohnern erklärten zwar, so wie die meisten übrigen, ihren förmlichen Beitritt zu Deutschösterreich,188 hingen aber – ebenso wie die deutschsprachigen Sprachinseln in Brünn [Brno/CZ], Iglau [Jihlava/CZ] und Olmütz [Olomouc/CZ] – territorial mit den Alpenländern nicht bzw. kaum zusammen und wurden noch im Herbst 1918 von der ČSR annektiert, wogegen Deutschösterreich nur feierlichen Protest erheben,189 aber keinen militärischen Widerstand leisten konnte. »Die Tschechen, die Polen, die Italiener, die Slowenen hatten ihre Länder weggerissen«, beschrieb Stefan Zweig die Situation, »was übrig blieb, war ein verstümmelter Rumpf, aus allen Adern blutend. Von den sechs oder sieben Millionen, die man zwang, sich ›Deutsch-Österreicher‹ zu nennen, drängte die Hauptstadt allein schon zwei Millionen frierend und hungrig zusammen; die Fabriken, die das Land früher bereichert, lagen auf fremdem Gebiet, die Eisenbahnen waren zu kläglichen Stümpfen geworden, der Nationalbank hatte man ihr Gold genommen und dafür die gigantische Last der Kriegsanleihe aufgebürdet. Die Grenzen waren noch unbestimmt, da der Friedenskongreß kaum begonnen hatte, die Verpflichtungen nicht festgelegt, kein Mehl, kein Brot, keine Kohle, kein Petroleum vorhanden; eine Revolution schien unausweichlich oder sonst eine katastrophale Lösung.«190 Auch Hans Kelsen scheint der Zukunft mit Pessimismus entgegengeblickt zu haben. Am 18. Dezember schrieb Seipel an Lammasch von einem Besuch Kelsens bei ihm: »Er sieht ganz schwarz; doch hoffe ich, ihn ein wenig aufgerichtet zu haben.«191 187 Das Staatsgebiet wurde durch das Gesetz v. 22. 11. 1918 StGBl 40 über Umfang, Grenzen und Beziehungen des Staatsgebietes von Deutschösterreich sowie eine sich auf dieses Gesetz beziehende »Staatserklärung« vom selben Tag, StGBl 1918/41, definiert; vgl. die Kommentierung durch Kelsen, Verfassungsgesetze I (1919) 69–72 = HKW V, 86–89. 188 Vgl. dazu den Beschluß der ProvNV v. 12. 11. 1918 StGBl 23 betreffend die feierliche Beitrittserklärung der Länder, Kreise und Gaue des Staatsgebietes und die Kommentierung durch Kelsen, Verfassungsgesetze III (1919) 69–72 = HKW V, 86–89; Schmitz, Vorentwürfe (1981) 16–25. 189 Gesetz v. 12. 3. 1919 StGBl 175 über das besetzte Staatsgebiet; vgl. die Kommentierung durch Kelsen, Verfassungsgesetze III (1919) 20 = HKW V, 354; Laun, Die tschechoslowakischen Ansprüche (1919). 190 Zweig, Die Welt von Gestern (1942) 321. 191 Ignaz Seipel, Schreiben an Heinrich Lammasch v. 18. 1 2. 1918, in Abschrift in: Diözesanarchiv Wien, Selekte/Seipelforschungen Rennhofer, Karton 2: Seipelbriefe; zitiert auch bei Rennhofer, Seipel (1978) 168.
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Es sind dies erstaunlich freundliche Worte, die der Priester und intellektuelle Kopf der christlichsozialen Partei, der bald danach auch formell zu ihrem Obmann gewählt wurde, für den Agnostiker Kelsen fand, und vielleicht entwickelte sich in jenen Tagen tatsächlich eine gewisse Freundschaft zwischen den beiden so verschiedenen Männern.192 Jedenfalls muss diese – aus deutschösterreichischer Sicht katastrophale – Situation berücksichtigt werden, will man verstehen, weshalb die Provisorische Nationalversammlung schon am 12. November 1918, zugleich mit der Ausrufung der Republik, erklärte, dass Deutschösterreich ein Teil der »Deutschen Republik« sein solle.193 Rechtliche Wirkungen entfaltete dieser Beschluss, wie Hans Kelsen erläuterte,194 nicht; denn eine korrespondierende, verbindliche Erklärung von deutscher Seite blieb vorerst aus, zumal in Berlin die Schwierigkeiten, die ein derartiger »Anschlußwunsch« bei den Pariser Friedensverhandlungen bereiten würde, bereits klar gesehen wurden.195 Die wirtschaftlichen Nöte der kleinen Republik aber reichen nicht aus, um den in jenen Tagen weit verbreiteten, auch von Kelsen und Merkl geteilten Anschlusswunsch an das Deutsche Reich zu erklären.196 Die Länder, aus denen sich Deutschösterreich zusammensetzte, hatten fast tausend Jahre lang zu jenem Reich gehört, das im Mittelalter schlicht als »Sacrum Imperium«, in der Neuzeit als »Heiliges Römisches Reich deutscher Nation« bezeichnet worden war; mehr als das: Sie waren die Erbländer der Habsburger gewesen, welche fast vierhundert Jahre lang, beinahe ohne Unterbrechung, bis zum Reichsende 1806 die Kaiser dieses Reiches gewesen waren. Und mit Rücksicht auf diesen Umstand war Österreich auch 1815–1866 die Präsidialmacht im Deutschen Bund gewesen, bis Preußen am 3. Juli 1866 in der Schlacht von Königgrätz Österreich besiegt und in der Folge ein Deutsches Reich unter Ausschluss Österreichs geschaffen hatte. 1918 waren diese Ereignisse gerade einmal 52 Jahre her, und die ältere Generation erinnerte sich noch recht gut an diesen gewaltsamen Ausschluss Österreichs aus Deutschland.197 192 1961 bat Friedrich Rennhofer Kelsen um Informationen für seine (erst 1978 publizierte) Seipel-Biographie; Kelsen antwortete sehr ausführlich (der Text stimmt großteils wörtlich mit den entsprechenden Passagen aus seiner Autobiographie überein) und kam zur abschließenden Bewertung: »Ich habe Dr. Seipel als eine ueberaus charaktervolle Persoenlichkeit von hoher moralischer Integritaet besonders geschaetzt. Mein Eindruck war, dass er, als tiefglaeubiger Katholik, in erster Linie ein Mann der Kirche war, dass sein staatspolitisches Interesse in zweiter Linie stand.« Hans Kelsen, Schreiben an Friedrich Rennhofer v. 23. 11. 1961, in Beantwortung eines Schreibens Rennhofers v. 3. 11. 1961, beide in: HKI, Nachlass Kelsen 16c10.61. 193 Art. 2 Gesetz v. 12. 11. 1918 StGBl 5 über die Staats‑ und Regierungsform von Deutschösterreich. Vgl. Kann, Die österreichische Bundesverfassung und der Anschluß (1986) 27. 194 Kelsen, Verfassungsgesetze I (1919) 33 = HKW V, 56 f.; vgl. schon oben 232. 195 Olechowski, Das »Anschlußvebot« (2019) 375. 196 Vgl. dazu auch Saage, Die deutsche Frage (2008) 76. 197 Am 14. 11. 1918 richtete der Staatssekretär des Äußeren Otto Bauer ein offizielles Schreiben an US-Präsident Woodrow Wilson, in dem er ihm vom Beschluss der ProvNV berichtete, mit dem »die enge staatsrechtliche Verbindung mit Deutschland« wiederhergestellt worden sei, »die vor 52 Jahren durch das Schwert zerrissen worden« war, und ihn um Unterstützung dafür bat, dass das »deutsche Volk in Österreich« sich ebenso Deutschland anschließen könne, wie es auch die
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Die »Deutsche Republik«, auf die sich die Erklärung der deutschösterreichischen ProvNV vom 12. November bezog, war am 9. November 1918 von Philipp Scheidemann, einem Mitglied der »Mehrheits-Sozialdemokraten«, ausgerufen worden – nur zwei Stunden bevor Karl Liebknecht von den »Unabhängigen Sozialdemokraten« die »sozialistische Republik« ausrief.198 Zwei sozialdemokratische Parteien existierten also in Deutschland, deren eine eine Demokratie nach westlichem Vorbild, deren andere eine Volksdemokratie nach sowjetrussischem Vorbild anstrebte. Friedrich Ebert von der Mehrheits-SPD übernahm provisorisch das Amt des Reichskanzlers, und angesichts der reichlich unklaren politischen Lage bildete er eine Koalition aus Mehrheits-SPD und Unabhängiger SPD, die paritätisch einen Rat der Volksbeauftragten besetzten, der die Staatsspitze bildete.199 Mit den obersten Regierungsgeschäften wurden teils alte, teils neue Staatssekretäre betraut, darunter der Staatsrechtler Hugo Preuß, der am 15. November zum Staatssekretär des Innern ernannt wurde.200 Preuß, 1860 in Berlin geboren und ab 1906 Professor an der Berliner Handelshochschule, wo er 1918 auch das Rektorat versah, war ein Experte für Fragen der kommunalen Selbstverwaltung; unter den deutschen Staatsrechtlern galt er als links stehend, war aber sicherlich kein sozialistischer, sondern ein bürgerlicher Jurist.201 Nun sollte es zu seiner Hauptaufgabe werden, die neue Reichsverfassung für das Deutsche Reich zu konzipieren, und am 3. Jänner 1919 legte er den später sog. Entwurf I vor, »der zwar nicht veröffentlicht wurde, aber dennoch nicht völlig geheim blieb.«202 In diesem Entwurf schlug Preuß insbesondere vor, das Reich bis zu seiner definitiven Neugliederung in »Freistaaten« vorläufig in »Gebiete« einzuteilen, aus welchen die Abgeordneten der Länderkammer zu entsenden wären, womit er aber die territoriale Neugestaltung Deutschlands schon vorwegnahm. Der Staat Preußen, der rund zwei Drittel des deutschen Territoriums umfasste, sollte zerschlagen werden und auf seinem Boden sollten neue »Gebiete« entstehen, auch die übrigen deutschen Staaten wurden zum Teil massiv umgeformt. Die bisherigen deutschösterreichischen Länder Sudetenland und Deutschböhmen sollten an die Gebiete »Schlesien«, »Obersachsen« und »Bayern« angegliedert, Wien, so wie Berlin, zu einem eigenen Gebiet erhoben und der Rest Deutschösterreichs zum Gebiet »Deutsch-Oesterreich, bestehend aus Tirol, Nieder‑ und Oberösterreich ohne Wien, Steiermark, Deutsch-Kärnten und Salzburg mit 5 Millionen Einwohnern« zusammengeschlossen werden.203 polnischen, italienischen und südslawischen Völker in Österreich mit ihren Nationalstaaten getan hatten: Wiener Abendpost Nr. 263 v. 16. 11. 1918, 1. 198 Gusy, Reichsverfassung (1997) 9 ff.; Gusy, Reichsverfassung (2018) 17; Stern, Staatsrecht V (2000) 494 ff. 199 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte V (1978) 709 ff. 200 Dazu und zum Folgenden Gillessen, Preuß (2000) 103 f. 201 Geb. Berlin 28. 10. 1860, gest. ebenda 9. 10. 1925. Vgl. Manfred Friedrich, Preuß Hugo, in: NDB XX (Berlin 2001) 708–710; Schefold, Preuß (2018). 202 W. Jellinek, Revolution und Reichsverfassung (1920) 46. Vgl. zum Entwurf I nunmehr allgemein Gusy, Reichsverfassung (2018) 47. 203 Der Text des Urentwurfes bei: Triepel, Quellensammlung (1926) Nr. 7; vgl. Olechowski,
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Bereits wenige Tage später, am 20. Jänner 1919, erschien im »Deutschen Reichsanzeiger« ein neuer Verfassungsentwurf (»Entwurf II«), der von dieser radikalen Neugestaltung wieder abrückte und es bei der traditionellen Ländergliederung beließ; eine Neugliederung sollte nun lediglich »möglich« sein, wobei aber jeder neue Staat zumindest zwei Millionen Einwohner haben sollte.204 In Wien hatte aber offenbar schon der erste Entwurf vom 3. Jänner eine heftige Reaktion ausgelöst: Der deutschösterreichische Ministerialrat Dr. Friedrich Gärtner verfasste eine Denkschrift über »Die Stellung Wiens im deutschen Verfassungsentwurf«, in der er eine Loslösung Wiens von Deutschösterreich strikt ablehnte: Denn während Berlin – das ja ebenfalls ein eigenes Gebiet darstellen sollte – die Hauptstadt des Deutschen Reiches bliebe, würde Wien jegliche Hauptstadtfunktion verlieren und damit in die Bedeutungslosigkeit versinken. Wien müsse zur Hauptstadt eines föderativ organisierten Staates Deutschösterreich werden, welcher als Gesamtheit »in das Reich eintreten« müsse. »Dieser Bundesstaat kann nach innen selbst föderativ organisiert sein, wobei Wien die ›Staats‹-Unmittelbarkeit erhalten könnte.«205 Die Entwürfe von Preuß und das Gutachten Gärtners waren offenbar Anlass für das von Kelsen im Jänner oder Februar 1919 verfasste Gutachten über »Die Stellung der Länder in der künftigen Verfassung Deutschösterreichs mit besonderer Berücksichtigung des Anschlusses Deutschösterreichs an das Deutsche Reich«,206 welches später in leicht modifizierter Form auch publiziert wurde.207 Schon die Vorgeschichte zeigt, dass Anschlussfrage und Föderalisierung Deutschösterreichs eng miteinander zusammenhingen, was auch Kelsen in seinem Gutachten deutlich machte. Dem Postulat der Reinen Rechtslehre folgend, erklärte er zunächst, dass die NationalverDas »Anschlußverbot« (2019) 377. Es ist anzunehmen, dass Vorarlberg hier als Teil Tirols begriffen wurde. Das Schicksal des Burgenlandes geht aus dem Entwurf nicht hervor. Vgl. zu den Hintergründen Gillessen, Preuß (2000) 119. 204 Triepel, Quellensammlung (1926) Nr. 10, § 11. Vgl. Gusy, Reichsverfassung (1997) 71; Stern, Staatsrecht V (2000) 543. 205 [Friedrich] Gärtner, Die Stellung Wiens im deutschen Verfassungsentwurf, in ÖStA, AdR, NPA, Karton 106, Fasz 1, 262–267. Vgl. dazu auch Schmitz, Vorentwürfe (1981) 25, wonach der damals für die auswärtigen Angelegenheiten zuständige Staatssekretär Otto Bauer am 3. 2 . 1919 Ludo M. Hartmann in den »deutschen Vorläufigen Staatenausschuss« entsandte und ihm etwas später auch Instruktionen mitgab. Zur Position Bauers zum »Anschluss« vgl. Hanisch, Illusionist (2011) 157–162. 206 ÖStA, AdR, NPA, Karton 106, Fasz 1, 344–363; teilweise abgedruckt bei Ermacora, Entstehung II (1989) 3–17. Vgl. zur Datierung Jestaedt in HKW IV, 664. Aufgrund des Fundortes ist davon auszugehen, dass das Gutachten nicht im Auftrag Renners, sondern im Auftrag des damaligen Staatssekretärs des Äußeren, Otto Bauer, entstanden ist; vgl. dazu auch Hanisch, Illusionist (2011) 151. 207 Kelsen, Die Stellung der Länder (1919/1920) = HKW IV, 115–146. Der Aspekt des »Anschlusses« verschwand aus der Überschrift, wurde aber im Artikel weiter verfolgt. Die Druckfassung nimmt insbesondere auf die Verfassungsänderungen vom März 1919 Rücksicht, vgl. Jestaedt in HKW IV, 659. Vgl. zum Gutachten und den in ihm entwickelten Gedanken zu einem »Anschluß« an das Deutsche Reich auch Kann, Die österreichische Bundesverfassung und der Anschluß (1986) 33.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
sammlung rein rechtlich in ihrer Entscheidung, wie sie Deutschösterreich gestalten wolle, völlig frei sei. |a Politisch jedoch müsse der »Machtbereich« der Länder sowie der »Wunsch« nach einem »Anschluss[…] Deutschösterreichs an die Deutsche Republik« beachtet werden.208 Kelsens weitere Überlegungen dazu waren denn auch rein politisch: Wolle man Gesetzgebungskompetenzen an das Reich abtreten und zugleich die Länder »als Gesetzgebungsinstanzen« erhalten, bleibe für den Staat Deutschösterreich »so gut wie nichts übrig.«209 Es gebe daher nur zwei Alternativen: Entweder Deutschösterreich werde als geschlossener Einheitsstaat oder die Länder jedes für sich Länder des Deutschen Reiches. Letzterer Variante stehe freilich schon § 11 des deutschen Verfassungsentwurfes entgegen, wonach kein neuer Gliedstaat unter zwei Millionen Einwohner haben dürfe. Auch wäre es ein »Mißverhältnis«, wenn z. B. Salzburg ein eigenes Land neben Bayern oder Preußen sei. So ließ Kelsen deutlich seine Präferenz für jene Lösung erkennen, die Länder »zu demokratisch organisierten Selbstverwaltungskörpern« nach englischem Vorbild umzuwandeln, die Gesetzgebung aber in der deutschösterreichischen Nationalversammlung zu konzentrieren, welche »zu einem gemeinsamen oder Generallandtage der deutschösterreichischen Länder würde.«210 Ganz anders wäre jedoch die Situation, wenn der Anschluss nicht zustande käme: »Würde Deutschösterreich in Hinkunft als selbständiger und souveräner Staat isoliert bleiben oder sich nur dem einen oder anderen losen Staatenbund anschliessen, dann wäre zweifellos die bundesstaatliche Verfassung nach dem Muster der Schweiz der beste Ausdruck der gegebenen politischen Konstellation.«211 a| Kelsens Argumentation war in sich schlüssig und leicht nachvollziehbar. Problematisch war allerdings, wie sehr er bemüht war, die Beitrittserklärungen der deutschösterreichischen Länder zum Staate Deutschösterreich als juristisch bedeutungslos darzustellen.212 Für ihn war Deutschösterreich am 30. Oktober als zentralisierter Einheitsstaat gegründet worden und hatte (erst) am 14. November durch ein entsprechendes Gesetz die Länder geschaffen;213 die andere Sichtweise, dass nämlich die 208 Kelsen, Die Stellung der Länder (1919/1920) 99 f. = HKW IV, 119; entspricht im oben Anm. 206 genannten Gutachten Ermacora, Entstehung II (1989) 4 f. 209 Kelsen, Die Stellung der Länder (1919/1920) 117 = HKW IV 140. Diese Überlegungen finden sich auch im oben Anm. 206 genannten Gutachten (auf Seite 357v), wurden jedoch von Ermacora, weil sie »nur mehr historische Bedeutung haben« (!) »nicht abgedruckt«. 210 Kelsen, Die Stellung der Länder (1919/1920) 120 = HKW IV, 143; im oben Anm. 206 genannten Gutachten auf Seite 359v (nicht bei Ermacora abgedruckt). 211 Kelsen, Die Stellung der Länder (1919/1920) 115 = HKW IV, 137; im oben Anm. 206 genannten Gutachten auf Seite 356v (nicht bei Ermacora abgedruckt). Die Passage ist wörtlich zitiert auch bei Schmitz, Vorentwürfe (1981) 32 f. 212 Kelsen, Die Stellung der Länder (1919/1920) 107 = HKW IV, 128; entspricht im oben Anm. 206 genannten Gutachten Ermacora, Entstehung II (1989) 10. 213 Diese extrem zentralistische Sichtweise wird auch in einigen anderen Publikationen Kelsens deutlich. Vgl. insbesondere Kelsen, Verfassungsgesetze III (1919) 231 f. = HKW V, 436; Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 84, 97 f. Das Gesetz v. 14. 11. 1918 StGBl 24 wurde in Kelsens Verfassungskommentar nicht von ihm selbst, sondern von Merkl kommentiert, auch er übernahm die
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Länder sich zu einem Staat zusammengeschlossen hatten, war für ihn undenkbar, weil dann ein bloßer Staatenbund zustande gekommen wäre.214 Dies musste nicht unbedingt so sein, und Kelsen wusste dies, arbeitete er doch gerade zu jener Zeit an einer Monographie zum Problem der Souveränität, wo er der hier vertretenen Ansicht widersprach!215 Es muss freilich bedacht werden, dass Kelsen mehr oder weniger gezwungen war, jenen Rechtsmeinungen nicht zu widersprechen, die er schon früher, insbesondere in seinem Gutachten vom 29. November 1918, geäußert hatte, als er den Beschluss der ProvNV vom 30. Oktober als Verfassungsurkunde bezeichnet hatte.216 Schon dieses Gutachten hatte ihn dazu gezwungen, gewissen nachfolgenden Akten, wie etwa dem Gesetz über das Staatsgebiet oder dem Gesetz über das Staatsbürgerrecht, die konstitutive Bedeutung abzuerkennen und ihnen allenfalls die Bedeutung zuzubilligen, dass sie eine »nähere Abgrenzung« des Staatsgebietes und Staatsvolkes, welches ipso iure schon am 30. Oktober bestanden haben musste, vornähmen.217 Schon damals hatte Kelsens Argumentation etwas verkrampft gewirkt; sie setzte sich in seinem Gutachten vom Jänner/Februar 1919 nur noch weiter fort. Die gedankliche Kontinuität zum Gutachten vom November 1918 wird aber nicht der einzige Grund für Kelsens ausgesprochen antiföderale Haltung gewesen sein, sie entsprach wohl auch seiner persönlichen Überzeugung, jedenfalls aber der Haltung seines Auftraggebers Karl Renner, der selbst eine Verwaltungsorganisation nach dem Modell des englischen »selfgovernment« bevorzugte.218 Wenige Tage nach Erstattung von Kelsens Gutachten, am 14. März 1919, erließ die Konstituierende Nationalversammlung (KNV ) das »Gesetz über die Volksvertretung«, das u. a. die laut Kelsen »dringend notwendige Regelung des Verhältnisses zwischen Staats‑ und Landesgesetzgebung« brachte.219 Indem es zum Teil an das bis 1918 bestehende Verhältnis der cisleithanischen Kronländer zum cisleithanischen
These von der Gründung Deutschösterreichs als Einheitsstaat; vgl. Merkl in Kelsen, Verfassungsgesetze III (1919) 103–114 = HKW V, 115–126. 214 Kelsen, Die Stellung der Länder (1919/1920) 99 = HKW IV, 118; entspricht im oben Anm. 206 genannten Gutachten Ermacora, Entstehung II (1989) 4. 215 Kelsen, Souveränität (1920) 281 = HKW IV, 536; vgl. zu diesem Buch noch ausführlich unten 263 ff. Schmitz, Vorentwürfe (1981) 16, weist auch darauf hin, dass die Bildung der Länder im politischen Einvernehmen mit der Zentralgewalt erfolgte, was freilich kein juristisches Argument ist. 216 Vgl. dazu auch Schmitz, Vorentwürfe (1981) 28. 217 Kelsen, Verfassungsgesetze I (1919) 69, 76 = HKW V, 87, 92. 218 Noch kurz vor Ende der Monarchie publizierte Renner ein Buch, in dem er u. a. seine Vorstellungen einer idealen Verwaltung – nach dem »Grundgedanken des Selfgovernments, der englischen Selbstregierung« – präsentierte: Renner, Selbstbestimmungsrecht (1918) 159; vgl. Nasko, Renner in Dokumenten und Erinnerungen (1982) 19. Öhlinger, Bundesstaat (1976) 7–8, und, ihm folgend, Schmitz, Vorentwürfe (1981) 110, haben auch einen Zusammenhang zwischen der persönlichen zentralistischen Haltung Kelsens und der Reinen Rechtslehre feststellen wollen: letztere sei schon aufgrund ihres »Begriffsinstrumentariums« einer einheitsstaatlichen Rechtsordnung gegenüber besonders aufgeschlossen. 219 Kelsen, Verfassungsgesetze III (1919) 136 = HKW V, 366. Vgl. zu diesem Gesetz auch Schmitz, Vorentwürfe (1981) 35.
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Gesamtstaat anknüpfte, wies Deutschösterreich, so wie vordem Cisleithanien, zwar noch keine echt bundesstaatliche Struktur auf, kam dieser aber schon ziemlich nahe.220 Die Gesetzesnovelle ist aber noch aus einem anderen Grund bedeutsam: In seinem Gutachten vom Jänner/Februar 1919 hatte sich Kelsen auch zu der Problematik geäußert, wie der Verwaltungsapparat dezentralisiert und zugleich demokratisiert werden könne. Sichtlich vom russischen Rätesystem beeinflusst, schwebte ihm dabei vor, dass sowohl auf Zentralstaatsebene, wie auch auf Länder‑ und Bezirksebene jeweils demokratisch legitimierte Organe die Exekutive bilden sollten.221 Problematisch erscheine es dabei jedoch, wie die (Zentral‑)Staatsregierung ihren Willen gegen jenen der Landes‑ und Bezirksregierungen durchsetzen könne, und er forderte ein »zentrales Verwaltungsgericht«, das eine Kontrolle der Landesverwaltung gewährleiste.222 Angesichts der bereits existierenden, umfassenden Kontrollbefugnis des VwGH war dies kein großes Problem. Aber die Gefahr eines Auseinanderbrechens des Staatswillens bestand nach Ansicht Kelsens nicht nur in der Verwaltung, sondern auch in der Gesetzgebung. »Als Garantie gegen staatsgesetzwidrige Landesgesetze« müsse »die Judikatur des Staatsverwaltungsgerichtes oder noch besser: eines Staatsverfassungsgerichtshofes« wirken.223 »Es ist selten, Kelsens Denken gleichsam in flüssigem, noch nicht gefestigtem Aggregatzustand zu sehen, fast möchte ich sagen, zu ertappen, wie hier!«224 Diese Überlegungen flossen – vermutlich über Adolf J. Merkl, der anscheinend die Regierungsvorlage ausarbeitete – direkt in die Verfassungsreform vom 14. März 1919 ein: Durch sie wurden die Landesversammlungen verpflichtet, Gesetzesbeschlüsse noch vor ihrer Publikation der Staatsregierung mitzuteilen, und diese hatte das Recht, diese Beschlüsse binnen 14 Tagen wegen Verfassungswidrigkeit beim VfGH anzufechten (Art. 15). Damit war erstmals eine gerichtliche Kontrolle von formellen Gesetzen in Österreich möglich, wenn auch vorläufig nur in bescheidenem Umfang: 220 In seinem oben Anm. 206 genannten, noch vor Inkrafttreten des Gesetzes erstellten Gutachten (Ermacora, Entstehung II [1989] 14) betonte Kelsen nur die bundesstaatsähnliche Struktur Cisleithaniens; in der – wohl im September 1919 erstellten – Druckfassung, hob er auch den Gesetzesbeschluss vom 14. 3. 1919 ausdrücklich hervor: Kelsen, Die Stellung der Länder (1919/1920) 112 f. = HKW IV, 134. Dass Deutschösterreich mit dieser Novelle den allmählichen Übergang zum Bundesstaat begonnen habe, wurde von ihm auch an anderer Stelle deutlich gemacht: Kelsen, Souveränität (1920) 282 = HKW IV, 537, am stärksten bei Kelsen, Verfassungsgesetze III (1919) 140 = HKW V, 370, wonach der Bundesstaat schon verwirklicht sei; vgl. dazu Schmitz, Vorentwürfe (1981) 36. 221 Kelsen, Die Stellung der Länder (1919/1920) 110–112 = HKW IV, 132 f.; entspricht im oben Anm. 206 genannten Gutachten Ermacora, Entstehung II (1989) 12 f. Zu dieser Problematik äußert sich Kelsen in den folgenden Jahren noch mehrmals, wobei er vom Rätegedanken allmählich immer stärker abrückt, vgl. noch unten 362. 222 Kelsen, Die Stellung der Länder (1919/1920) 112 = HKW IV, 133 f.; entspricht im oben Anm. 206 genannten Gutachten Ermacora, Entstehung II (1989) 14. 223 So der ursprüngliche Wortlaut im oben Anm. 206 genannten Gutachten (Ermacora, Entstehung II [1989] 15; die Passage ist bei Kelsen, Die Stellung der Länder (1919/1920) 113 f. = HKW IV, 135, bereits aufgrund der Verfassungsänderung vom 14. 3. 1919 entscheidend umformuliert. 224 Stourzh, Hans Kelsen (1989) 314 f.
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Es sollte keine umfassende Verfassungskontrolle stattfinden, sondern nur geprüft werden, ob der Landesgesetzgeber seine Kompetenzen überschritten hatte; war das Landesgesetz einmal publiziert, war eine Anfechtung nicht mehr möglich; ebenso gab es keine Anfechtung von Gesetzen des Gesamtstaates.225 Immerhin, es war der Anfang zu jener umfassenden Normenkontrolle, die die definitive Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 auszeichnete, und an der Hans Kelsen entscheidenden Anteil hatte. Die KNV nahm an jenem 14. März 1919 noch einige weitere Änderungen an der provisorischen Verfassung vor;226 u. a. wurde der Staatsrat, der ja schon mit der Novelle vom 19. Dezember entmachtet worden war, nun ganz abgeschafft und an seiner Stelle ein »Hauptausschuss« der KNV gebildet, dem aber wesentlich weniger Bedeutung zukam. Die Staatsregierung, bestehend aus Staatskanzler (wie bisher: Renner), Vizekanzler und Staatssekretären, wurde nun direkt von der KNV gewählt. Und während die ProvNV drei gleichberechtigte Präsidenten gehabt hatte, wurde die KNV nunmehr von einem Präsidenten geleitet, der zwei Stellvertreter (Zweiten und Dritten Präsidenten) besaß und neben seiner Funktion als Parlamentspräsident auch die Funktion eines Staatsoberhauptes ausübte. Kelsen stellte die nicht unberechtigte Frage, ob es sinnvoll sei, eine ohnehin nur provisorische Verfassung derart oft zu ändern.227 Er konnte freilich nicht wissen, dass dieses Provisorium noch fast eineinhalb Jahre in Geltung stehen würde.
9. Die Ernennung zum Verfassungsrichter und zum Ordinarius Am 30. März 1919 starb Edmund Bernatzik, ordentlicher Professor des Staats‑ und Verwaltungsrechts an der Universität Wien und Richter am deutschösterreichischen VfGH, an einem Herzanfall.228 Der Präsident des VfGH, Paul Vittorelli, benachrichtigte die Staatskanzlei vom Tod des Verfassungsrichters und bat um Neubesetzung der freigewordenen Stelle im VfGH, wobei er auch gleich Kelsen als »besonders 225 Vgl. zur praktischen Bedeutung dieser Bestimmung Jabloner, Die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts (2011) 224. Wiederin, Verfassungsgerichtshof (2014) 295, 291, bezeichnet dieses Modell als ein »französisches« und weist darauf hin, dass bis zur Märznovelle der Staatsrat das Recht für sich beansprucht hatte, Landesgesetze zu sanktionieren, was bei den Ländern auf vehementen Widerstand gestoßen war. 226 Diese Änderungen wurden teils durch das schon genannte Gesetz v. 14. 3. 1919 StGBl 179 über die Volksvertretung, teils durch das Gesetz v. 14. 3. 1919 StGBl 180 über die Staatsregierung bewerkstelligt; vgl. zu beiden die Kommentierung durch Kelsen, Verfassungsgesetze III (1919) 129–140, 149–160 = HKW V, 359–370, 376–386, sowie auch Kelsen, Die Organisation der vollziehenden Gewalt (1919) = HKW IV, 101–114. 227 Kelsen, Die Organisation der vollziehenden Gewalt (1919) 49 = HKW IV, 103. 228 Kelsen, Autobiographie (1947) 19 = HKW I, 57; vgl. auch [Kelsen], Bernatzik = HKW IV, 149–152.
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qualifizierten Fachmann« vorschlug.229 Da auch Bernatzik nicht aufgrund des Vorschlages einer Partei, sondern als parteipolitisch neutraler Fachmann in den VfGH gekommen war, war der Vorschlag Vittorellis durchaus angemessen und wurde von der Staatskanzlei auch aufgegriffen, jedoch nicht in einem isolierten Akt, sondern im Rahmen einer allgemeinen Umstrukturierung des noch jungen Organs »Verfassungsgerichtshof«. Denn am 3. April 1919 beschloss die KNV eine Novelle zum Verfassungsgerichtshofgesetz, mit dem der VfGH zusätzlich zu den Aufgaben des ehemaligen k. k. Reichsgerichts auch die des ehemaligen k. k. Staatsgerichtshofes (nämlich die Entscheidungen über Ministeranklagen) übernahm. Dies wurde zum Anlass genommen, dass die Zahl der Mitglieder des VfGH von acht auf zwölf und die der Ersatzmänner von vier auf sechs erhöht wurde.230 Ein sicherlich nicht unbeabsichtigter Nebeneffekt war, dass damit die drei politischen Lager die Möglichkeit erhielten, weitere Vertrauensmänner aus ihren Reihen in den VfGH zu schicken. Am 23. April wurde eine entsprechende Parteienvereinbarung getroffen und am 3. Mai wurden die Ernennungen vorgenommen. Präsident des VfGH war danach weiterhin Paul Vittorelli, Vizepräsident Adolf Menzel; sie und sowie die Mitglieder Hans Kelsen und Robert Neumann-Ettenreich231 sowie das Ersatzmitglied Alfred Bloch waren von allen Parteien einvernehmlich nominiert worden. Die Sozialdemokraten hatten vier Mitglieder (Gustav Harpner, Friedrich Engel, Friedrich Austerlitz, Franz Gruener) und zwei Ersatzmitglieder (Arnold Eisler, Fritz Winter), die Christlichsozialen drei Mitglieder (Hermann Esser, Viktor Fuchs, Viktor Kienböck) und zwei Ersatzmitglieder (Stephan Falser, Karl Hugelmann), die Großdeutsche Vereinigung zwei Mitglieder (Julius Sylvester, A ugust Kolisko) und ein Ersatzmitglied (Eduard Erler), die Wiener Freiheitlichen – eine Splittergruppe der Großdeutschen – ein Mitglied (Julius Ofner) nominiert.232 Damit war zwar der VfGH dem parteipolitischen Proporz unterworfen; Kelsen aber verdankte seine Mitgliedschaft im Verfassungsgerichtshof (3. Mai 1919 – 15. Februar 1930) keiner einzelnen politischen Partei, sondern einem Abkommen aller im Parlament
229 Zit. n. Walter,
Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 11; vgl. auch Neschwara, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 357. 230 Gesetz v. 3. 4. 1919 StGBl 212 womit die Aufgabe des ehemaligen Staatsgerichtshofes auf den deutschösterreichischen Verfassungsgerichtshof übertragen wird, Art. II Z. 1; vgl. die Kommentierung durch Kelsen, Verfassungsgesetze III (1919) 95 f. = HKW V, 334 f. sowie auch Schmitz, Constitutional Court (2003) 249. In der Monarchie hatte der – niemals zum Einsatz gekommene – Staatsgerichtshof aus 24 Mitgliedern bestanden; diese große Zahl wurde mit der Wichtigkeit der von ihm zu fällenden Entscheidungen begründet. 231 Geb. Wien 8. 1. 1857, gest. ebd. 26. 3. 1926; ab 1886 Zivilrichter, ab 1904 Rat des Oberlandesgerichts Wien, 1905–1917 Rat bzw. Senatspräsident des VwGH, 1917–1918 Mitglied des Reichsgerichts, 1919–1926 Mitglied des VfGH, vgl. den von Kelsen verfassten Nachruf: Kelsen, Neumann-Ettenreich (1926) sowie https://www.wjg.at/robert-neumann-ettenreich/ [Zugriff: 14. 11. 2019]. 232 Ausführlich Zavadil, Parteienvereinbarungen (1999) 345; vgl. auch Neschwara, Verfassungsgerichtshof (2013) 446–449.
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vertretenen Parteien, ein Umstand, der ihm äußerst wichtig war und den er auch stets betonte.233 Kelsen schildert in seiner Autobiographie, dass er hoffte, Bernatzik nicht nur im VfGH, sondern auch auf dessen Lehrstuhl an der Universität Wien nachfolgen zu können, und dass auch die Fakultät auf Antrag Menzels einen Dreiervorschlag erstellt hatte, bei dem er an erster Stelle stand. Doch befürchtete Kelsen, er habe seine »Chancen«, dass sich der sozialdemokratische Unterstaatssekretär für Unterricht, Otto Glöckel, an den Vorschlag der Fakultät halten werde, »verdorben«.234 Und dies aus folgendem Grund: Noch während des Krieges waren in Österreich-Ungarn, so wie auch in einigen anderen europäischen Staaten, nach dem Vorbild Sowjetrusslands Arbeiter‑ und Soldatenräte entstanden.235 Während jedoch in Bayern die Räte für knapp vier Wochen (6. April – 1. Mai 1919) und in Ungarn gar für mehr als vier Monate (21. März – 1. August 1919) die Herrschaft übernehmen konnten, hatte es die (deutsch‑)österreichische Bürokratie bislang verstanden, einen derartigen Machtwechsel abzuwenden und ihnen lediglich eine Mitwirkung in der wichtigen, doch undankbaren Aufgabe der Lebensmittelversorgung einzuräumen. Dies war nur deshalb möglich, weil die deutschösterreichischen Kommunisten schwach waren, die Sozialdemokraten aber mehr auf eine Mitwirkung in den demokratischen Organen setzten und daher die Räte nur halbherzig unterstützten.236 Erst Anfang 1919 erhielt die Rätebewegung auch in Deutschösterreich neuen Auftrieb, und am 1./2. März tagte in Wien-Favoriten die Erste Reichskonferenz der Arbeiterräte, die auf Vorschlag von Friedrich Adler eine Reorganisation in Angriff nahm: Im gesamten Staatsgebiet sollten Urwahlen für die Betriebs‑ und Ortsräte stattfinden, die die Grundlage für eine hierarchische Struktur aus Räten, bis hinauf zu einem Reichsarbeiterrat, ergeben sollten.237 Zu diesen Urwahlen waren – da das Wort »Arbeit« sehr weit verstanden wurde – so gut wie alle erwachsenen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger aktiv wahlberechtigt, passiv jedoch nur solche Personen, »die in der Beseitigung der kapitalistischen Produktionsweise das Ziel und im Klassenkampf das Mittel der Emanzipation des arbeitenden Volkes erkennen, ihrer Berufsorganisation angehören und das zwanzigste Lebensjahr überschritten haben.«238 Diese Einschränkung brachte es naturgemäß mit sich, dass sich das bürgerliche Lager weigerte, an den Wahlen 233 Vgl. v. a. Kelsen, Autobiographie (1947) 34 f. = HKW I, 76; Ehs, Verfassungsgerichtsbarkeit (2017) 140. 234 Kelsen, Autobiographie (1947) 19 = HKW I, 57. 235 Bauer, Die österreichische Revolution (1923) 126. Zur Bedeutung der Räte in der deutschen Revolution 1918/19 vgl. zuletzt Gusy, Reichsverfassung (2018) 17 ff. 236 Richtig schreibt Hanisch, Illusionist (2011) 35: »Hier nun lag der Kern des Unterschieds zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten: Die Sozialdemokraten glaubten an die Kraft des Parlaments, das von den Kommunisten verachtet wurde.« Vgl. zu dieser Problematik auch Leser, Reformismus und Bolschewismus (1985) 144. 237 Hautmann, Geschichte der Rätebewegung (1987) 290 ff.; Owerdieck, Parteien und Verfassungsfrage (1987) 97 ff.; Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 57–61; Hautmann, Die österreichische Rätebewegung (2007). 238 Zit. n. Hautmann, Geschichte der Rätebewegung (1987) 296.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
teilzunehmen, und insgesamt gingen zwischen April und Juni 1919 nur rund 870.000 Frauen und Männer zu den Urnen. Immerhin war dies der höchste Beteiligungsgrad, der jemals bei Arbeiterratswahlen erreicht werden konnte. Um die Frage, ob auch die Universität Wien ein »Betrieb« sei, an dem gewählt werden solle, brach zwischen Rektor Becke und Unterstaatssekretär Glöckel ein heftiger Streit aus; erst nach zähem Widerstand genehmigte das Rektorat, dass die Studierenden am 24. April 1919 im Großen Festsaal wählen konnten, und wirklich versammelte sich hier eine große Menge an Professoren, Assistenten, Studierenden und nichtwissenschaftlichen Bediensteten, die aber zunächst ausgiebig darüber diskutierte, ob überhaupt eine Wahl stattfinden solle.239 Auch Kelsen kam zu dieser Versammlung, und zwar, wie er selbst berichtet, »in der opportunistischen Absicht mich nicht an der Diskussion zu beteiligen, um nicht durch eine solche Stellungnahme meine Aussichten ernannt zu werden zu verschlechtern.«240 Von der Besprechung sind leider keine Protokolle oder Aufzeichnungen erhalten; die »Arbeiter-Zeitung« berichtete aber später, dass die Professoren Carl Grünberg und Julius Tandler für eine Beteiligung an der Wahl eintraten.241 Diese beiden kann Kelsen jedoch nicht gemeint haben, wenn er schreibt: »Unter denen, die sich in der Versammlung fuer die Beteiligung der Universitaet an den Arbeiterrat-Wahlen aussprachen, war ein Kollege, der fuer die Nachfolge Bernatzik’s ernstlich in Betracht kam. Er hatte sich bisher nicht gerade als Marxist bekannt. Das brachte mich in Harnisch. Entgegen meiner urspruenglichen Absicht ergriff ich das Wort. Ich wies darauf hin, dass die Verfassung der Arbeiterraete mit dem Grundsatz der Freiheit der Wissenschaft unvereinbar sei; ich erinnerte die Kollegen daran dass die Universitaet vor nicht allzu langer Zeit dem Erzherzog Friedrich das Ehrendoktorat in sehr unterwürfiger Weise verliehen hatte,242 und dass dieser Akt schwer mit einem Anschluss an eine marxistische Organisation vereinbar sei; und schloss damit dass die Wiener Universität nicht vor jedem Kreuz niederfallen muesse, das man vor ihr aufrichte. Ich glaube, dass meine Rede sehr dazu beigetragen hat, dass die Beteiligung an der Wahl in den Arbeiterrat abgelehnt wurde.«243 Hier überschätzt Kelsen seinen Einfluss, denn in den Zeitungen, die über die Versammlung berichteten, wurde weder sein Name noch der seines Vorredners angeführt. Dagegen wurden explizit der Rechtshistoriker Ernst Schwind, der Botaniker Richard Wettstein, der Historiker Oswald Redlich, der Gerichtsmediziner Karl Meixner, der Hygieniker 239 Vgl. die durchaus differierenden Berichte in der AZ Nr. 114 v. 26. 4. 1919, 5, einerseits, der Reichspost Nr. 193 v. 25. 4. 1919, 7, andererseits; ferner Zoitl, Student kommt von Studieren (1992) 216–218. Hautmann, Geschichte der Rätebewegung (1987) 347, nennt als Datum der Studentenwahlen den 25. 4., was offenbar auf einer falschen Deutung des Wortes »gestern« in der am 26. 4. erschienenen AZ beruht: Da als Wochentag der Donnerstag genannt wird, muss es sich um den 24. 4. gehandelt haben. Vgl. auch Ash, Universität Wien (2015) 67. 240 Kelsen, Autobiographie (1947) 19 = HKW I, 57. 241 AZ Nr. 114 v. 26. 4. 1919, 5. 242 Vgl. zu dieser Verleihung statt aller wissenschaftlicher Literatur: Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, III. Akt, 23. Szene. 243 Kelsen, Autobiographie (1947) 19 f. = HKW I, 57 f.
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1. Kapitel: Von der Monarchie zur Republik
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Heinrich Reichel und der Anatom Eduard Pernkopf genannt, die für eine Nicht beteiligung an der Wahl eintraten, »hauptsächlich mit dem Einwand, daß das passive Wahlrecht nur Sozialisten zustehe, was die Herren als Terror bezeichneten.«244 Letztlich verweigerten die Professoren und die Assistenten sowie ein Großteil der Studierenden ihre Teilnahme an der Wahl, worauf diese in den kleineren Hörsaal 33 verlegt wurde; laut »Arbeiter-Zeitung« gingen dort aber immerhin 500 Personen zur Urne. Seiner Bewerbung um die Nachfolge Bernatziks hat Kelsens Wortmeldung nicht geschadet, vielleicht trifft sogar das Gegenteil zu. Denn der besagte Dreiervorschlag, bei dem Kelsen an erster Stelle stand, kam nicht vor, sondern erst nach der Arbeiterrätewahl – und nach einem gescheiterten kommunistischen Putschversuch, der zwölf Menschenleben gekostet hatte (15. Juni 1919)245 – zustande: Die Berufungskommission tagte am 18. Juni unter Vorsitz des Dekans Grünberg, die sonstigen Mitglieder waren die Professoren Menzel, Spann, Voltelini und Strisower.246 Menzel legte bei dieser Sitzung ein umfängliches, auf den 15. Juni datiertes Gutachten vor, in dem er sich dafür aussprach, Kelsen an erste Stelle zu setzen. Dabei würdigte Menzel Kelsens wissenschaftliche Leistungen ausführlich und zitierte aus seinem eigenen Referat von 1911, als er die »Hauptprobleme« als ein Werk bezeichnet hatte, »das nicht nur hinsichtlich seines Umfanges, sondern auch in bezug auf seine inhaltlichen Qualitäten das Durchschnittsmass einer Habilitationsschrift überschreitet.« Die Fachwelt, insbesondere Felix Somló247, habe das Werk positiv aufgenommen. Auch die nachfolgenden wissenschaftlichen Arbeiten sowie Kelsens Mitarbeit in der Staatskanzlei (»Die intime Kenntnis dieser legislativen Arbeiten dürfte seiner Lehrtätigkeit jedenfalls sehr zustatten kommen.«) wurden ausführlich gewürdigt; Menzel hielt zusammenfassend fest: »Die ungewöhnliche Begabung, das grosse Lehrtalent, die Vereinigung von theoretischer Vertiefung und Kenntnis der Praxis, wie sie die Person Kelsens darbieten, lassen es gerechtfertigt erscheinen, diesen Gelehrten an erster Stelle zu nennen«. Für die zweite Stelle schlug Menzel Rudolf Laun, Extraordinarius für Verwaltungslehre und Verwaltungsrecht an der Universität Wien vor, für die dritte Stelle nannte er pari passu (gleichrangig) Prof. Hans Nawiasky (München) und den Titularprofessor Leo Wittmayer (Wien). Auch zahlreiche andere Professoren wurden erwähnt, schieden aber aus diesen oder jenen Gründen aus: Die 244 Reichspost Nr. 193 v. 25. 4. 1919, 7; AZ Nr. 114 v. 26. 4. 1919, 5; Zoitl, Student kommt von Studieren (1992) 218. 245 NFP Nr. 19687 v. 16. 6. 1919, 1. Vgl. Bauer, Die österreichische Revolution (1923) 146; Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 59; Leser, Reformismus und Bolschewismus (1985) 143. 246 ÖStA, AVA Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 608, Bogen Rechts‑ u. Staatswissenschaften, Protokoll der Kommissionssitzung vom 18. 6. 1919, 10. Zum Berufungsverfahren vgl. Staudigl- Ciechowicz, Dienst-, Habilitations‑ und Disziplinarrecht (2017) 134–149. 247 Die rechtspositivistische Lehre des ungarischen Juristen Félix [Bódog] Somló (geb. Preßburg [Bratislava/SK] 21. 7. 1873, gest. Klausenburg [Cluj-Napoca/RO] 28. 9. 1920) weist einige Parallelen zur Reinen Rechtslehre auf; vgl. dazu Jakab, Ungarn (2010) 46–48. Zwischen Kelsen und Somló dürfte es zumindest einmal, und zwar 1913, ein persönliches Treffen in Wien gegeben haben: UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 23: Zeugenaussage Walter Henrich v. 30. 6. 1923, Seite 1.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
tschechoslowakischen Professoren, wie etwa Ludwig Spiegel, würden durch eine Berufung nach Wien einen finanziellen Verlust erleiden und schon deshalb nicht kommen, ein reichsdeutscher Professor müsste sich erst in das österreichische Recht einarbeiten (was auf Nawiasky, wie Menzel hervorhob, nicht zutraf, da er schon mehrere Jahre in Wien gewirkt habe).248 Bei der folgenden Diskussion stimmten alle Kommissionsmitglieder mit Menzel darin überein, dass Kelsen an die erste Stelle gesetzt werden solle; Spann war sogar dafür, Kelsen unico loco (als einzigen) zu nennen. Es kam aber dann doch ein Dreiervorschlag zustande, bei dem Kelsen an erster, Max Layer aus Graz an zweiter und Laun erst an dritter Stelle stand.249 Die Liste wurde dem Professoren-Kollegium der Fakultät vorgelegt, welche am 5. Juli 1919 in namentlicher Abstimmung einhellig beschloss, doch nur Kelsen an erster und Laun an zweiter Stelle zu nennen, somit gar keine Person für die dritte Stelle namhaft zu machen. Hold-Ferneck hatte vorgeschlagen, Kelsen und Laun pari passu zu setzen, sich dann aber doch der Meinung seiner Kollegen angeschlossen; ausdrücklich wurde sogar bestimmt, dass »auf den Mitvorgeschlagenen nur dann gegriffen werden solle, falls Prof. Kelsen die Annahme der Lehrkanzel ablehnen sollte.« Grünberg fügte seinem Bericht an das Staatsamt für Unterricht noch hinzu, dass er die Berufung Kelsens »nicht nur für die relativ glücklichste, sondern unter den gegebenen Verhältnissen sowohl als auch schlechthin einzig mögliche erachte« und drängte auf rasche Behandlung.250 Und tatsächlich: Bereits wenige Tage später, am 15. Juli, stimmte auch der Kabinettsrat der Berufung Kelsens zu, am 17. Juli unterbreitete Unterstaatssekretär Glöckel die Akten dem Staatsoberhaupt, dem Präsidenten der Konstituierenden Nationalversammlung Karl Seitz, und dieser ernannte mit Entschließung vom 19. Juli 1919 Kelsen zum »ordentlichen Professor der Rechts‑ und Staatswissenschaften an der Universität Wien mit den systemmäßigen Bezügen.«251 Kelsen hatte, beginnend mit dem WS 1919/20, »in jedem Semester die ordnungsmäßigen Vorlesungen über Staatslehre und Staatsrecht sowie zweistündige Seminarübungen aus diesen Fachgebieten, ferner 248 ÖStA, AVA Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 608, Bogen Rechts‑ u. Staatswissenschaften, Gutachten vom 15. 5. 1919, 13–21. 249 ÖStA, AVA Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 608, Bogen Rechts‑ u. Staatswissenschaften, Protokoll der Kommissionssitzung vom 18. 6. 1919, 10 f. – In der Sitzung wurde noch über andere Gegenstände beraten, welche erst am 3. 7. abschließend behandelt wurden, sie standen mit der Berufung Kelsens in keinem direkten Zusammenhang. 250 ÖStA, AVA Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 608, Bogen Rechts‑ u. Staatswissenschaften, Schreiben des Dekans Grünberg an das Staatsamt für Unterricht 7. 7. 1919. 251 ÖStA, AVA Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 608, Bogen Rechts‑ u. Staatswissenschaften, 6; ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 611, Personalakt Kelsen Hans ad 15646. Diese Bezüge umfassten 6.400 K Grundgehalt plus 1.840 K Aktivitätszulage plus 800 K sog. Wiener Zulage, dazu kamen diverse Teuerungszulagen sowie ein (umfangmäßig nicht genannter) »Mehrbezug«, der mit Erlass vom 21. 6. 1919 Z. 21581 festgesetzt worden war und offenbar bewirkte, dass Kelsen zumindest eine Zeit lang jenes Gehalt erhielt, welches zuletzt Bernatzik bezogen hatte. Allgemein zu Gehaltsbestimmungen von Universitätsprofessoren vgl. Staudigl-Ciechowicz, Dienst-, Habilitations‑ und Disziplinarrecht (2017) 149–184.
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1. Kapitel: Von der Monarchie zur Republik
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in jedem zweiten Semester eine Vorlesung über Rechtsphilosophie und weiters noch nach Bedarf Vorlesungen über Verwaltungslehre und Verwaltungsrecht abzuhalten«. Es kann nach dem Gesagten nicht zweifelhaft sein, wer der »Kollege« war, der bei der Versammlung im April 1919 den Widerspruch Kelsens provoziert hatte: Es handelt sich um dieselbe Person, von der Kelsen an anderer Stelle schreibt, dass »secundo loco ein Extraordinarius vorgeschlagen war, der sich der sozialdemokratischen Partei angeschlossen hatte, was ich nicht getan habe«252: In beiden Fällen meint er, ohne den Namen zu nennen, seinen Fachkollegen Rudolf (bis 10. April 1919: Edler von) Laun, der sich in der politischen Umbruchszeit tatsächlich recht anpassungsfähig gezeigt hatte. 1917/18 hatte er im staatsrechtlichen Departement des k. k. Ministerratspräsidium gewirkt und war dann ins Staatsamt des Äußeren gewechselt,253 wodurch er – nicht anders als Kelsen – Kontakte zu Regierungskreisen hatte und wohl wirklich »ernstlich in Betracht« gekommen war. Die Entscheidung des »Unterrichtsministers« – gemeint ist der Unterstaatssekretär Otto Glöckel – wertete Kelsen als »Zeichen grosser Objektivität.«254 Aufschlussreich zu dieser Begebenheit ist der Brief, den Renners Sekretärin, Amalia Pölzer, am 14. August an ihren Chef, der sich damals bei den Friedensverhandlungen in St. Germain aufhielt, schrieb, und der mit einiger Verspätung von der Ernennung berichtete: »… Eine Neuigkeit! Prof. Kelsen hat die Kanzel von Bernatzik bekommen. Viele ärgern sich darüber, da die Besetzung der Kanzeln oft Monate gedauert haben [sic]. Die Besetzung der Bernatzikschen Kanzel durch Kelsen war in acht Tagen perfekt. Laun ist unglücklich darüber. Wie mir Polizeirat Pollak (Kommunistenreferat) mitteilt, soll Laun deshalb die Kanzel nicht bekommen haben, weil er dem Professorenkollegium zu radikal erschien, das heißt: Grünberg hat ihn seinerzeit als Kandidat für den Arbeiterrat vorgeschlagen. Man sieht: Ein Arier kommt nicht auf.«255
Der antisemitische letzte Satz stammt von Pölzer, wirft aber auch ein bemerkenswertes Licht auf den Adressaten des Schreibens, dem man anscheinend ungestraft derartiges schreiben konnte.256 Ebenso bemerkenswert ist aber auch der Hinweis auf Grünberg (den nachmaligen Gründungsdirektor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung) und den Arbeiterrat: Sollte Laun sich damals tatsächlich so sehr für die Wahl engagiert haben, so schadete er damit seinen Karriereambitionen mehr, als dass es ihm nützte. Jedenfalls zog er die Konsequenzen, verließ noch im Oktober desselben Jahres Österreich und ging an die Universität Hamburg, wohin ihn ein Ruf 252 Kelsen,
Autobiographie (1947) 20 = HKW I, 58. Stadtmüller, Laun Rudolf Edler von, in: NDB XIII (Berlin 1982) 715–717; Biskup, Laun (2010) 75–77. 254 Kelsen, Autobiographie (1947) 20 = HKW I, 58. 255 Zit. n. Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 32. 256 Vgl. auch das bei Nasko, Karl Renner (2016) 96, wiedergegebene Zitat Pölzers, wonach sich Kelsen »bei uns« (d. h. wohl im Büro Renners, was sich nicht unbedingt auch auf Renner selbst beziehen muss) »gar nicht so geschätzt« fühlte, weil er – nach Ansicht Pölzers – »immer geglaubt [habe], er ist etwas Besseres.« 253 Georg
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
ereilt hatte.257 Hier war er maßgeblich am Aufbau der erst kurz zuvor gegründeten Universität beteiligt und wurde später gleich zweimal, 1924–26 sowie 1947–48, zu ihrem Rektor gewählt.258
10. »Das Problem der Souveränität« Angesichts der Fülle an rechtspolitischen Aufgaben, die Kelsen in den Jahren des Umbruchs zu bewältigen hatte, ist es erneut erstaunlich, in welchem Umfang er parallel dazu weiter wissenschaftlich tätig bleiben konnte. So hatte er offenbar noch kurz vor Bernatziks Ableben seinen ehemaligen Lehrer dazu bewegen können, gemeinsam mit den übrigen Herausgebern der ÖZÖR, Hussarek, Lammasch und Menzel, die infolge des Krieges eingestellte Zeitschrift wiederzubeleben. »Zeitschrift für öffentliches Recht« sollte sie nun heißen, was im Geleitwort mit der politisch veränderten Situation erklärt wurde.259 Eigentlicher Grund für den Namenswechsel dürfte allerdings wohl eher der Wechsel des Verlages von Manz zum Franz Deuticke Verlag (Leipzig/ Wien) gewesen sein, der noch vor dem Umbruch 1918 stattgefunden hatte,260 der Verlagswechsel aber war wohl vor allem deswegen erfolgt, weil Franz Deuticke in Teschen in Österreichisch-Schlesien [Cieszyn/PL, Těšín/CZ] drucken ließ und die dortige Druckerei besser mit der Papierrationalisierung während des Weltkrieges zurechtkam als die Manzsche Druckerei in Wien.261 Nach dem Umbruch von 1918 allerdings war der Vertrieb durch einen nicht nur in Österreich, sondern auch in Deutschland ansässigen Verlag geradezu überlebenswichtig für die Zeitschrift, die mit dem Zusammenbruch der Monarchie auch einen großen Teil ihres bisherigen Absatzmarktes verlor. »Die alte Bernatziksche Zeitschrift hat also ein neues Gewand bekommen. Ich bin neugierig, ob sie sich bei dem verkleinerten Absatz wird halten können«, kommentierte Renner dementsprechend die Zeitschriftengründung.262 257 Goller,
Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1997) 187–191. Biskup, Laun (2010) 130–138, 271–274. 259 So auch die Ansicht von Spörg, Die Zeitschrift für Öffentliches Recht (2009) 152. 260 Der 1850 in der Nähe von Leipzig geborene Franz Deuticke war ab 1878 Miteigentümer einer Buchhandlung in Wien. In dem von ihm und seinem Sohn Hans geführten Verlag erschienen v. a. naturwissenschaftliche Werke, wie z. B. Freuds »Traumdeutung«. Der Verlag bestand bis 2003 als eigenständiges Unternehmen, die Marke Deuticke wurde noch bis 2019 vom übernehmenden Paul Zsolnay Verlag fortgeführt. Vgl. https://www.hanser-literaturverlage.de/verlage/zsolnay-deuticke/ verlagsgeschichte [Zugriff: 26. 04. 2019]; https://diepresse.com/home/kultur/literatur/5514200/ Wiener-Deuticke-Verlag-wird-zu-Zsolnay [Zugriff: 02. 05. 2019]. 261 In seiner Eingabe vom 6./7. 5. 1923 an die Disziplinarkammer der Universität Wien, (zu dieser noch unten 336) berichtet Hans Kelsen von Druckfahnen zu einem Aufsatz, die er von der Teschener Druckerei mit dem Datumsstempel 7. 11. 1918 erhielt: UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 1, Seite 7. Zur Papierrationalisierung für Zeitschriften während des Ersten Weltkrieges vgl. Olechowski, Preßrecht (2004) 517 f. 262 Karl Renner, Schreiben an Hans Kelsen vom 6. 7. 1919, in: Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 31. 258
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1. Kapitel: Von der Monarchie zur Republik
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Als am 8. Juli 1919 das erste Doppelheft der ZÖR erschien263 – fast alle seine Beiträge hatten die staatsrechtlichen Neuerungen jener Zeit zum Thema – war Bernatzik zwar noch als Mitherausgeber angeführt, jedoch mit einem Sterbekreuz neben seinem Namen, und gleich auf der ersten Seite erschien ein – vermutlich von Kelsen selbst verfasster – Nachruf auf den Gelehrten.264 Kelsen stand nun als gleichberechtigter Mitherausgeber neben seinem verstorbenen Lehrer und neben den drei arrivierten Professoren – zwei von ihnen immerhin ehemalige k. k. Ministerpräsidenten.265 Als wenige Monate später auch noch Lammasch starb,266 trat Max Layer aus Graz neu in das Herausgebergremium ein. Kelsen aber wurde ab dem zweiten Jahrgang (1920/21) als Hauptherausgeber genannt – eine Position, die seiner tatsächlichen Bedeutung für die ZÖR sicherlich entsprach. Mehr noch als die alte ÖZÖR wurde die neue ZÖR zum eigentlichen Medium der von Kelsen begründeten »Wiener rechtstheoretischen Schule«, und Kelsen war auch als Autor sehr aktiv; für das erste Doppelheft der ZÖR verfasste er – außer dem Nachruf auf Bernatzik – gleich zwei wissenschaftliche Aufsätze.267 Vor allem aber konnte Kelsen inmitten der turbulenten Umbruchszeit des Überganges von der Monarchie zur Republik die Arbeiten an seiner wichtigsten rechtstheoretischen Schrift seit Erscheinen seiner »Hauptprobleme der Staatsrechtslehre« 1911 zum Abschluss bringen. Wie bereits erwähnt, hatte Hans Kelsen ursprünglich vorgehabt, dass die »Hauptprobleme« nur als »Band 1: Die Lehre vom Rechtssatz« bezeichnet werden, zumal bei der damaligen Drucklegung auch schon »Vorarbeiten« für einen »Band 2: Die Lehre von den Staatsformen« existierten. Diese »Vorarbeiten« müssen heute als verschollen angesehen werden.268 Am 12. März 1914 kündigte Kelsen dem Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) eine ca. sieben Bogen (112 Seiten) starke Arbeit »Die Antinomie von Recht und Staat« an, welche »eine wichtige Ergänzung meines in Ihrem geschätzten Verlage erschienenen Buches ›Hauptprobleme der Staatsrechtslehre‹ bildet.«269 Ein Verlagsvertrag wurde aufgesetzt, aber auch dieses 263 Das Datum wird vom Verlag Franz Deuticke in einer Aufstellung genannt: UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 19. 264 [Kelsen], Bernatzik = HKW IV, 149–152. Der Nachruf erschien zwar anonym, kann aber mit guten Gründen Kelsen zugerechnet werden, vgl. dazu Jestaedt in HKW IV, 677–679. 265 Wie berichtet, war Max Hussarek vom 25. 7.–27. 10. 1918, Heinrich Lammasch vom 27. 10.–11. 11. 1918 k. k. Ministerpräsident gewesen. 266 Lammasch verstarb am 6. 1. 1920 (vgl. den von Alexander Hold verfassten Nachruf in der ZÖR 1 [1919/20] Heft 5/6, V–VIII), sodass das Titelblatt des ersten Jahrganges zwei verstorbene und drei lebende Herausgeber zeigte. Mit dem zweiten Jahrgang 1920/21 verschwanden die Namen von Bernatzik und Lammasch aus der Titelei. 267 Und zwar Kelsen, Die Organisation der vollziehenden Gewalt (1919) = HKW IV, 101–114, sowie Kelsen, Die Stellung der Länder (1919/1920) = HKW IV 115–146. Vgl. dazu Spörg, Autoren und Herausgeber (2014) 577 f.; Jestaedt, »Kelsens Zeitschrift« (2014). 268 Möglicherweise handelte es sich dabei um Exzerpte von Büchern, die Kelsen auch für seine »Hauptprobleme« verwendet hatte, wie etwa Jellineks »Allgemeine Staatslehre«, die in beiden Werken Kelsens oft zitiert wird. Aber auch seine Auseinandersetzung mit der dualistischen Völkerrechtstheorie von Heinrich Triepel dürfte schon vor 1911 begonnen haben, vgl. oben 124. 269 Hans Kelsen, Schreiben an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 12. 3. 1914, zit. n. HKW IV, 778.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Buch erschien niemals. Einer späteren Äußerung von Verdroß ist zu entnehmen, dass sich Kelsen während der Kriegsjahre intensiv mit dem Neukantianer Hermann Cohen und dessen Grundgedanken, dass die Erkenntnismethode den Erkenntnisgedanken bestimme, auseinandersetzte, weshalb er seine bisherige Ansicht über das Verhältnis von Recht und Staat änderte und seine bisherigen Arbeiten aufgab.270 1916 standen dann, so Kelsen, die Grundgedanken seiner neuen Monographie, fest.271 Aber erst am 24. August 1919 richtete Kelsen erneut ein Schreiben an den Verlag Mohr. In diesem berichtete er zunächst – nicht ohne Stolz – von seiner Ernennung zum Ordinarius und kündigte sodann ein neues Manuskript an: »Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts«.272 Der Umfang wurde nunmehr mit »za 15–20 Bogen«, also dem Zwei‑ bis Dreifachen des Manuskripts von 1914 angekündigt, wobei die große Schwankungsbreite, die der sonst so penible Kelsen nannte, ein Indiz dafür sein könnte, dass das Manuskript keineswegs schon abgeschlossen war. Und tatsächlich verzögerte sich die Publikation des Buches, von dem Kelsen gehofft hatte, es könne noch 1919 erscheinen, noch einmal bis Juli 1920, und abermals war vor allem der Autor selbst an diesen neuerlichen Verzögerungen schuld, weil er noch während des Satzes »[i]nfolge gewisser Neuerscheinungen […] eine Reihe von Ergänzungen« vornahm.273 Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit waren es aber nicht etwa der Krieg und die durch ihn bewirkten Folgen für das positive Völkerrecht, die all diese Verzögerungen bewirkt hatten. Denn das Buch hatte, ungeachtet seines hohen politischen Potentials, einen ausgesprochen theoretischen und damit überzeitlichen Charakter,274 hierin durchaus den »Hauptproblemen der Staatsrechtslehre« von 1911 vergleichbar, auf denen es vielfach aufbaute,275 ja streckenweise geradezu als dessen Fortsetzung erschien und ihnen an Bedeutung für die Entwicklung der Reinen Rechtslehre kaum nachstand. Dies begann bereits mit dem Untertitel »Beitrag zu einer reinen Rechtslehre«, zumal dies das erste Mal war, dass Kelsen sein eigenes Theorem als »reine Rechtslehre« bezeichnete.276 Zweitens wurde das schon in früheren Schriften kurz angedeutete Konzept der »Grundnorm«, das vielleicht bekannteste (wenn auch nicht unbedingt wichtigste) Element der Reinen Rechtslehre, hier erstmals ausführlich dargestellt. Drittens aber brach Kelsen die Grenzen des Staatsrechts 270 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 8: Zeugenaussage Alfred Verdroß v. 26. 5. 1923, Seite 3. 271 Kelsen, Souveränität (1920) VI = HKW IV, 268. 272 Hans Kelsen, Schreiben an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 24. 9. 1919, zit. n. HKW IV, 780. 273 Hans Kelsen, Schreiben an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 11. 1. 1920, zit. n. HKW IV, 782. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass der Verlag im Zuge der Vertragsverhandlungen das Manuskript an den damals in Freiburg lehrenden Otto Koellreutter, der offenbar gute Kontakte zum Verlag besaß und später Mitherausgeber des AöR wurde, weiterreichte und dieser das Werk offenbar positiv bewertete: HKW IV, 780 f. 274 Nur selten wird auf konkrete positive Rechtsordnungen eingegangen; beachte aber die Erwähung von Art. 4 WRV in Kelsen, Souveränität (1920) 103 = HKW IV, 368. 275 Silverman, Souveränität (2013) 251. 276 Jestaedt in HKW IV, 290.
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auf und wandte sich, insbesondere im zweiten Abschnitt seines Buches, auch dem Völkerrecht zu, einem Fachgebiet, das für ihn auch persönlich immer wichtiger und ab 1930 sogar sein berufliches Hauptarbeitsfeld werden sollte. All dies war letztlich im Problem der Souveränität begründet, dem Kelsen in seinen bisherigen Schriften, wie er nunmehr zugab, »ausgewichen« war, obwohl Gelegenheit zu einer Beschäftigung mit der Thematik mehr als einmal bestanden hatte.277 Das Souveränitätsdogma war der Dreh‑ und Angelpunkt zwischen staatlichem und Völkerrecht. Im Staatsrecht erschien die Souveränität als eine oberste Gewalt, die z. B. von Jean Bodin dem Monarchen zuerkannt worden war, die aber nach der modernen Staatsrechtslehre dem Staat selbst zukam, der daher als »souverän« bezeichnet wurde. Im Völkerrecht aber war die Souveränität insofern von zentraler Bedeutung, als – zumindest nach einer »überspitzten« Lehre – überhaupt nur souveräne Staaten als Adressaten völkerrechtlicher Normen in Betracht kamen.278 Kelsen war zunächst darum bemüht zu zeigen, dass das, was von der traditionellen Lehre als Souveränität bezeichnet werde, ein rechtliches Phänomen sei. Dies führte ihn zunächst zu der – bereits in mehreren Aufsätzen zuvor angedeuteten, jedoch noch nie so offen ausgesprochenen – These, dass Staatsordnung und Rechtsordnung miteinander identisch seien, ja dass »der Staat, insoferne er Gegenstand der Rechtserkenntnis ist, insoferne es überhaupt eine Staatsrechtslehre gibt, von der Natur des Rechtes, d. h. entweder die Rechtsordnung selbst oder ein Teil derselben sein muß, weil eben ›rechtlich‹ nichts anderes begriffen werden kann als das Recht, und den Staat rechtlich begreifen (das ist wohl der Sinn der Staatsrechtslehre) nichts anderes heißen kann, als den Staat als Recht begreifen.«279 Mehr noch: Wolle man sozusagen »neben« dem juristischen Staatsbegriff noch einen anderen, etwa soziologischen Staatsbegriff konstruieren, verstieße das »gegen den Fundamentalsatz aller Erkenntnistheorie, daß der Gegenstand der Erkenntnis durch die Erkenntnisrichtung bestimmt sei und daß daher zwei verschiedene Methoden, wie die naturwisenschaftlich-kausale und die juristisch-normative nicht ein und denselben Gegenstand – etwa den Staat ›an sich‹ – sondern zwei ebenso verschiedene Gegenstände erzeugen müssen, die mit dem gleichen Namen ›Staat‹ zu bezeichnen, nur ein irreführender Fehler sein kann.«280 Für die Souveränität bedeute das aber, dass sie eine »oberste« Rechtsnorm bezeichnen müsse (wobei er sich hier – im Gegensatz zu später – noch gegen die räumlichen Bezeichnungen »oben« und »unten« wehrte). Denn wie schon in den »Hauptproblemen« ausgeführt, könne ein Sollen immer nur aus einem anderen 277 Kelsen,
Souveränität (1920) III = HKW IV, 264. Souveränität (1920) 5, 159 = HKW IV, 276, 420. Es sei hier nur angedeutet, dass Kelsen schon 1920 die Unhaltbarkeit dieser Behauptung nachwies, indem er u. a. auf kriegsvölkerrechtliche Normen zugunsten der Zivilbevölkerung hinwies; vgl. Kelsen, Souveränität (1920) 165 = HKW IV, 426. 279 Kelsen, Souveränität (1920) 11 f. = HKW IV, 282. 280 Kelsen, Souveränität (1920) 10 f. = HKW IV, 281. Besonders hier ist der Einfluss Hermann Cohens deutlich zu bemerken, auch wenn dieser Autor von Kelsen an jener Stelle nicht zitiert wird. 278 Kelsen,
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Sollen folgen. »Das Kind mag sich immerhin auf die Frage, warum es dieses tun, jenes unterlassen solle, mit der eine Seinstatsache aussagenden Antwort begnügen: weil die Eltern es befehlen. Das logische Denken aber muß zu der Erkenntnis dringen: weil man den Geboten der Eltern gehorchen soll; daß über diesen Satz hinaus gefragt werden kann, ist zweifellos, ebenso daß kein logischer Zwang besteht, bei irgendeinem Sollsatz auf weitere Rechtfertigungsfrage zu verzichten. Nur: wenn überhaupt ein letzter Grund für irgendein Sollen angegeben wird, kann dies nur wieder ein Sollen sein.« Dieser Gedanke war – gegenüber den »Hauptproblemen« – neuartig: 1911 hatte er noch kategorisch festgestellt, dass die Kette des Sollens logisch unendlich sei; 1920 zog er die Möglichkeit eines Endes dieser Kette immerhin in Betracht. Wo freilich das Ende dieser Kette zu suchen sei, sei keine juristische Frage; vielmehr erfolge die Wahl des Ausgangspunkts – aus juristischer Sicht – »willkürlich«.281 Es sei ein Gebot der »Erkenntnisökonomie«, dass man jene Norm zur Ursprungsnorm mache, die ein effektiv wirksames positives Normensystem in Geltung setze. Dabei nahm Kelsen ausdrücklich auf Pitamics »Denkökonomische Voraussetzungen der Rechtswissenschaft«, aber auch auf Ernst Machs wissenschaftstheoretische Überlegungen zur Erkenntnisökonomie Bezug.282 Aus all dem folgerte Kelsen, dass »die Norm, die die Wahl der Rechtsvoraussetzung bestimmt, nicht selbst Rechtsnorm, sondern eine Norm ganz anderer Art« sei. Und wie um seine Unsicherheit bei der Formulierung dieser grundstürzenden These zu überwinden, fügt Kelsen noch ein »Gewiß!« hinzu.283 Diese oberste Norm – Kelsens Terminologie war noch schwankend, er nannte sie manchmal »Ursprungsnorm«, manchmal »grundlegende Hypothese«, nur vereinzelt bereits »Grundnorm«284 – sei eine »oberste Erzeugungsregel«. Ihr Inhalt sei der, dass man sich so verhalten solle, wie dieser oder jener oberste Normsetzer – aus denkökonomischer Sicht: der reale Machthaber – befehle. Ein konkreter Inhalt könne aus ihr nicht abgeleitet werden; dieser folge aus dem »Seins-Faktum der Gesetzesbeschlüsse«, welche insoweit eine »conditio sine qua non« für die so erzeugten Normen darstellen. »Conditio per quam« dagegen sei allein die höherrangige Norm.285 Jedenfalls sei es diese Ursprungsnorm, die befehle, sich nur an ein regelmäßig wirksames Normensystem zu halten; in der Definition des Rechts selbst habe die Forderung nach seiner Effektivität keinen Platz – auch dies ein bemerkenswerter Unterschied zu späteren Arbeiten!286 Übrigens erklärte Kelsen die Frage, was das Recht sei, für unbeantwortbar, dabei auf Immanuel Kant bezug nehmend, der schon in seiner 281 Kelsen, Souveränität (1920) 95, 97 = HKW IV, 361, 362. Diese These hatte Kelsen ja schon 1914 in seinem Aufsatz »Reichsgesetz und Landesgesetz« geäußert, vgl. oben 157. 282 Kelsen, Souveränität (1920) 99 = HKW IV, 364 f. Vgl. dazu Walter, Grundnorm (1992) 53; Silverman, Souveränität (2013) 259. 283 Kelsen, Souveränität (1920) 98 = HKW IV, 364. 284 Kelsen, Souveränität (1920) 251 = HKW IV, 509. 285 Kelsen, Souveränität (1920) 97 = HKW IV, 363. Vgl. Paulson, Toward a Periodization (1990) 35. 286 Vgl. noch unten 871.
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1. Kapitel: Von der Monarchie zur Republik
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»Metaphysik der Sitten« gesagt hatte, dass diese Frage den Juristen in ähnliche Verlegenheit bringe wie den Logiker die Frage nach der Wahrheit.287 Erst vor diesem theoretischen Hintergrund kam Kelsen auf das Verhältnis zwischen staatlichem Recht und Völkerrecht zu sprechen, und welche Rolle die Souveränität dabei spiele. Prinzipiell konnte es nur zwei Möglichkeiten geben: entweder waren staatliches Recht und Völkerrecht zwei voneinander unabhängige Normensysteme (Dualismus), oder aber sie bilden ein gemeinsames System (Monismus), wobei wieder zwei Unterfälle zu unterscheiden wären, dass nämlich das staatliche Recht dem Völkerrecht übergeordnet oder aber untergeordnet wäre. Die theoretische dritte Möglichkeit – die Gleichrangigkeit von staatlichem Recht und Völkerrecht – schied aus, weil diese »eine gemeinsam über den beiden koordinierten Ordnungen« existierende Ordnung vorausgesetzt hätte288 – auch hier wieder tauchen Überlegungen zu Kelsens späterer »Drei-Kreise-Theorie« auf ! Genau genommen hatte Kelsen aber mit der Ablehnung einer Gleichrangigkeit von staatlichem Recht und Völkerrecht auch schon die Begründung für die Ablehnung der dualistischen Konzeption geliefert. »Die Einheit des Erkenntnisstandpunktes fordert gebieterisch eine monistische Anschauung.«289 Es könne immer nur eine einzige Normenordnung als geltend angenommen werden; insofern war das Problem ähnlich wie beim Verhältnis von Recht und Moral. Im gegenständlichen Fall aber bestünden, so Kelsen, eindeutig rechtliche Querverbindungen zwischen den beiden Rechtsbereichen, sei ein und dasselbe Normensubjekt (etwa ein Staatsoberhaupt) Gegenstand von völkerrechtlichen und von staatsrechtlichen Normen. Normensubjekt zu sein bedeute aber nichts anderes als Personifikation bestimmter Normen; zwei verschiedene Normensysteme würden daher zwei verschiedene Normensubjekte bedingen (auch wenn sich beide auf dieselbe »biologisch-physiologische Einheit«, denselben Menschen, beziehen).290 Kelsen war somit Monist im völkerrechtlichen Sinn; er vertrat hier sogar einen strengen Monismus, indem er z. B. die Möglichkeit, dass die staatsrechtliche Gültigkeit eines Staatsvertrages unabhängig von seiner völkerrechtlichen Gültigkeit beurteilt werden könne, zurückwies.291 Welcher Rechtsordnung sollte aber der Primat gebühren: dem staatlichen Recht oder dem Völkerrecht? Ersteres hielt Kelsen für durchaus möglich. Der Primat des staatlichen Rechtes sei die logische Konsequenz des Dogmas von der Souveränität, welche damit die Position der »Ursprungsnorm« einnehme. Völkerrecht gelte somit nur dann und nur insoweit, als dies vom staatlichen Recht angeordnet werde. Allerdings funktioniere 287 Kelsen,
Souveränität (1920) 14 = HKW IV, 284. Souveränität (1920) 104, 120 = HKW IV, 369, 383. 289 Kelsen, Souveränität (1920) 123 = HKW IV, 385. 290 Kelsen, Souveränität (1920) 109 = HKW IV, 373. Der Gedanke, dass es sich beim oben genannten Staatsoberhaupt um zwei verschiedene Normensubjekte handeln könnte, wurde von Kelsen erwogen, aber letztlich als absurd verworfen. 291 Kelsen, Souveränität (1920) 174 f. = HKW IV, 435 f. In späteren Arbeiten wurde dieser strenge Monismus deutlich abgeschwächt, vgl. Öhlinger, Einheit (2005) 165 f. 288 Kelsen,
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
diese Konstruktion nur dann, wenn von der Souveränität eines einzigen Staates ausgegangen werde – auch dies wieder eine Folge der Einheit des Erkenntnisstandpunktes. Andere Staaten könnten ihre rechtliche Existenz nur aus dem Völkerrecht ableiten, dessen Existenz wieder aus der Souveränität des eigenen Staates abgeleitet werden könne – in späteren Arbeiten verglich Kelsen diese Betrachtungsweise mit dem geozentrischen Weltbild, bei dem sich die Planeten um die Sonne und diese wiederum um die Erde drehe.292 Möglich sei diese Konstruktion sicherlich, wenn auch reichlich kompliziert. Es sollte ein Charakteristikum der Völkerrechtslehre Kelsens sein, dass er – im Gegensatz etwa zu Verdroß – an der juristischen Gleichrangigkeit beider Hypothesen festhielt und lediglich auf die »ethisch-politische Bedeutung der beiden juristischen Grundhypothesen« hinwies, und so seine persönliche Präferenz für den Primat des Völkerrechts erkennen ließ: Dem Primat des staatlichen Rechts liege nämlich eine subjektivistische Weltanschauung zugrunde, die vom eigenen Ich ausgehe und nur von hier aus die Welt begreifen könne, dem Primat des Völkerrechts dagegen eine objektivistische Weltanschauung, die sich mit einer pazifistischen Lebensanschauung verbinde.293 Freilich sprechen auch juristische Gründe für den Primat des Völkerrechts. Die Völkerrechtswissenschaft gehe ja schon implizit davon aus, wenn sie das Völkerrecht als »eine Gemeinschaft gleichberechtigter Staaten« bezeichne.294 Ferner können – nur – mit dem Primat des Völkerrechts gewisse Phänomene, wie etwa die Bildung neuer Staaten entsprechend der Regeln des Völkerrechts erklärt werden. Indem aber das Völkerrecht u. a. vorschreibe, dass ein revolutionär, und daher juristisch neu entstandener Staat identisch sei mit dem davor bestehenden, wenn Volk und Territorium gleich bleiben,295 sei auch das oben genannte Problem der Faktizität gelöst: Bei der Kontinuität von Staatsvolk und Staatgebiet handle es sich um kein bloßes Faktum, sondern um den Inhalt einer völkerrechtlichen Norm! Die Vorstellung, dass das Völkerrecht über dem staatlichen Recht stehe, hatte bereits 1749 Christian Wolff in seinem Buch »ius gentium« verfolgt und dabei das Konzept einer »civitas maxima« entwickelt. Kelsen – der ja schon in seiner »Staatslehre des Dante« die Idee des »Weltkaisertums« formuliert hatte ‑pflichtete Wolff im Großen und Ganzen bei, dass es Rechtsnormen gebe, die das Zusammenleben der Staaten regeln, Normen ganz prinzipieller Art, die auch überhaupt erst die Voraussetzung dafür bilden, dass Staaten untereinander Verträge abschließen können, wie insbesondere der Satz »pacta sunt servanda«. Und er formulierte die »Ursprungsidee 292 Kelsen,
Begriff (1958) 166 = WRS 1156 f.; Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) 344. Souveränität (1920) 314, 317 = HKW IV, 567, 569. 294 Kelsen, Souveränität (1920) 204 = HKW IV, 463. 295 Siehe dazu schon Kelsens Ausführungen zur völkerrechtlichen Neugründung des Staates Deutschösterreich, oben 230. In seiner Monographie zur »Souveränität« vermied er – wiewohl doch naheliegend – aktuelle Beispiele, was ein weiteres Indiz dafür ist, dass das Manuskript zur »Souveränität« schon vor 1918 abgeschlossen war. Wohl aber zitierte und kritisierte er die Schrift »Das Faktum der Revolution und die Kontinuität der Rechtsordnung« seines Schülers Fritz Sander: Kelsen, Souveränität (1920) 232 = HKW IV, 490. 293 Kelsen,
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1. Kapitel: Von der Monarchie zur Republik
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des Völkerrechts« wie folgt: »eine Rechtsgemeinschaft, in der die Freiheit der Subjekte (der Staaten) durch ihre grundsätzliche rechtliche Gleichheit beschränkt wird.«296 Es war ihm durchaus bewusst, dass er damit eine naturrechtliche Grundlegung des Völkerrechtes vornahm, hielt dies aber für unentbehrlich und betonte, dass es hier ja nur um die grundlegendsten Voraussetzungen gehe, unter denen das positive Recht gestaltet werden könne. Was aber die »civitas maxima« betraf, so äußerte Kelsen die Ansicht, dass es schlicht Definitionssache sei, ob man die Weltrechtsordnung auch schon einen Weltstaat nenne, oder ob man die Bezeichnung »Staat« nur besonders qualifizierten, insbesondere zentralisierten Rechtsordnungen vorbehalte.297 Was aber für das Verhältnis Völkerrechtsordnung – Staaten gelte, könne auch für das Verhältnis Staatenbund – Einzelstaaten oder Bundesstaat – Bundesländer gesagt werden. Immer handle es sich um spezifische Formen der Dezentralisierung einer Rechtsordnung; und insbesondere komme der Unterscheidung von Staatenbund und Bundesstat »keine zulässige logisch-systematische Bedeutung« zu.298
296 Kelsen,
Souveränität (1920) 206, 249, 252 = HKW IV, 465, 507, 509. seine spätere Völkerrechtslehre sollte es bedeutsam sein, dass Kelsen schon hier den Krieg als einen von der Völkerrechtsordnung mitunter angeordneten Zwangsakt ansah, mithin Fälle anerkannte, in denen es nicht nur zulässig, sondern sogar geboten sei, Krieg zu führen: Kelsen, Souveränität (1920) 264 = HKW IV, 521. 298 Kelsen, Souveränität (1920) 286 = HKW IV, 541. 297 Für
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Zweites Kapitel
Das Bundes-Verfassungsgesetz 1. Kelsens Vorentwürfe zur Bundesverfassung a) Renners Verfassungsauftrag Am 12. Mai 1919 reiste Karl Renner als Leiter der (deutsch‑)österreichischen Delegation zu den Friedensverhandlungen mit den Alliierten und Assoziierten Mächten nach St. Germain-en-Laye, einem Vorort von Paris.299 Knapp davor erteilte er an Kelsen den Auftrag, »im Verein mit der Verfassungsabteilung der Staatskanzlei den Entwurf einer Bundesstaatsverfassung auszuarbeiten«,300 und zwar »unter Annahme von Voraussetzungen, wie sie im allgemeinen sich leider in Saint-Germain verwirklichen sollten.«301 Denn am 7. Mai hatten die Alliierten und Assoziierten Mächte der deutschen Delegation in Versailles ihre Friedensbedingungen genannt; Deutschland musste darin u. a. die Unabhängigkeit »Österreichs« sowie die Annexion von Deutschböhmen und Sudetenland durch die ČSR anerkennen.302 Damit war, wie Kelsen in seinem Gutachten vom Februar 1919 vorhergesagt hatte, die Entscheidung für einen Bundesstaat gefallen.303 Kelsen berichtete später, dass er seine Arbeiten, wie von Renner gewünscht, »mit Unterstützung des Verfassungsdepartements«, d. h. jedenfalls mit Hilfe von ihrem Leiter Sektionsrat Georg Froehlich sowie von Ministerialsekretär Egbert Mannlicher, sicherlich aber auch mit Hilfe von Adolf J. Merkl erstellte, wobei Art und Ausmaß dieser Hilfe unbekannt sind.304 »Richtschnur war mir dabei«, so Kelsen über seine 299 Vgl.
dazu Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 3–13. Kelsen/Froehlich/Merkl, Verfassungsgesetze V (1922) 54. 301 Anonymer Artikel »Das Ergebnis der Vereinbarungen über die österreichische Bundesverfassung«, in: Wiener Zeitung Nr. 153 v. 8. 7. 1920, 2–18, auch abgedruckt bei Ermarcora, Quellen (1967) 188–268, hier 188. Die Autorschaft Renners ergibt sich aus einem Brief von Karl Renner an die Redaktion der »Wiener Zeitung« v. 5. 7. 1920, Original im Besitz von Ewald Nowotny, Wien. Wie bereits aus einem Bericht der NFP Nr. 19680 v. 8. 6. 1919, 14, hervorgeht, wollte die Staatsregierung die Frage der definitiven Verfassung erst dann angehen, wenn die »ausschlaggebenden Vorbedingungen unverrückbar feststehen«. Vgl. auch Schmitz, Vorentwürfe (1981) 44. 302 NFP Nr. 19649 v. 8. 5. 1919, 1. Vgl. die Art. 27, 80 u 82 des Versailler Vertrages vom 16. 7. 1919 dRGBl S. 687 sowie Olechowski, Das »Anschlußverbot« (2019) 379. 303 Relativiert werden muss daher insbesondere Kelsens Aussage, dass »die Absicht, die Verfassung der österreichischen Republik bundesstaatlich zu gestalten«, von Anfang an bestanden habe: Kelsen/Froehlich/Merkl, Verfassungsgesetze V (1922) 53. 304 Vgl. den Bericht des Verfassungsausschusses v. 26. 9. 1920, Ermacora, Quellen (1967) 550. Zur »Abteilung für Verfassungsdienst« der deutschösterreichischen Staatskanzlei und zu ihren 300
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Verfassungsarbeiten, »alles Brauchbare aus der bisherigen Verfassung beizubehalten, die Kontinuität der verfassungsrechtlichen Institutionen möglichst zu wahren, das bundesstaatliche Prinzip in das schon Bestehende und Bewährte gleichsam einzubauen und mich dabei – soweit dies mit Rücksicht auf die Verschiedenheit der historisch-politischen Voraussetzungen tunlich war – an die schweizerische, aber mehr noch an die neue deutsche Reichsverfassung anzulehnen.«305 Am 4. Juli wurde der – wenige Tage zuvor fertig gestellte – Entwurf Kelsens von der Staatskanzlei an Renner nach St. Germain weitergeleitet.306 Kelsen konnte nun für einige Tage ausspannen; er verbrachte seinen wohlverdienten Urlaub nach diesem ereignisreichen akademischen Jahr 1918/19 mit seiner Familie in Alt-Aussee.307 Doch noch im Laufe des restlichen Sommers fertigte Kelsen »mehrere andere Entwürfe« an, die sich, wie er selbst später bemerkte, »als Varianten des Grundentwurfs darstellen und den verschiedenen politischen Möglichkeiten Rechnung tragen sollten.«308 Der Zeitraum, in dem Kelsen diese Entwürfe anfertigte, war besonders günstig: Denn etwa zur selben Zeit wurde in Weimar in Deutschland die neue deutsche Reichsverfassung beschlossen. Den Entwurf hiezu hatte Hugo Preuß am 21. Februar 1919 in die Nationalversammlung eingebracht; die Ausschussberatungen fanden vom 4. März bis 18. Juni, die Plenardebatten vom 2. bis 31. Juli statt; am 11. August sanktionierte Reichspräsident Friedrich Ebert die sog. Weimarer
Mitarbeitern vgl. auch Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 26; speziell zu Georg Froehlich (geb. Brünn [Brno] 17. 7. 1872, gest. Wien 21. 9. 1939) vgl. ausführlich Jabloner, Froehlich (2011), zu Egbert Mannlicher (geb. Wien 21. 2 . 1882, gest. Oberalm/Salzburg 5. 10. 1973) vgl. Adamovich, Mannlicher (1987). Beachte, dass Kelsen Mannlicher zu dessen 80. Geburtstag öffentlich in den »Salzburger Nachrichten« gratulierte und ihn als »eine integre Persönlichkeit und einen überaus liebenswürdigen Menschen« bezeichnete: Kelsen, Mannlicher (1963). 305 Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 161. Die Formulierung lässt es offen, ob sich Kelsen diese »Richtschnur« selbst gegeben hat, oder ob es sich dabei um die Direktiven Renners handelte. Spätere Aussagen Kelsens sprechen für die erste Variante: Vgl. Kelsen, Autobiographie (1947) 26 = HKW I, 65, wonach Renner lediglich »bundesstaatliche Struktur und Demokratie«, aber auch das Vorbild der WRV vorgegeben hatte. Angesichts der tragenden Rolle, die Renner beim Aufbau der provisorischen Verfassung gehabt hatte, erscheint eine derartige Zurückhaltung sonderbar; vgl. auch Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 33–49, wonach Renner selbst an einer provisorischen Verfassung gearbeitet hatte. Glaubwürdig jedoch die Aussage Kelsens in einem Brief an Adolf Schärf vom 6. 1 2. 1955 (abgedruckt bei Hannak, Renner [1965] 402–404, auszugsweise auch bei Schmitz, Vorentwürfe [1981] 44), wonach »das nach dem Umsturz gelockerte Gefüge der Länder durch die Übertragung wichtiger Kompetenzen an die Zentralorgane« gefestigt werden und die Staatsform die einer »parlamentarischen Republik« sein sollte. 306 Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 30 f. 307 Hans Kelsen, Schreiben an Karl Renner v. 12. 7. 1919, in: Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 31. – Zwischen Kelsen und Renner entspann sich während des Aufenthaltes des Staatskanzlers in St. Germain eine rege Korrespondenz; vgl. den schon vorhin (Anm. 301) genannten Artikel Renners in Ermacora, Quellen (1967) 189, wonach die »Vorlagen […] durch Kurier zwischen Wien und Saint-Germain […] hin und her« gingen. Leider sind von dieser Korrespondenz nur mehr Bruchstücke erhalten; sie geben keine Hinweise auf den Inhalt von Kelsens Entwürfen oder auf Renners Haltung dazu; vgl. auch dazu Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 30–33. 308 Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 161.
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2. Kapitel: Das Bundes-Verfassungsgesetz
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Reichsverfassung (WRV ).309 Kelsen verfolgte diese Arbeiten mit regem Interesse;310 seine eigenen Entwürfe waren in unterschiedlichem Ausmaß vom Weimarer Vorbild geprägt. b) Die Entwürfe und die Chronologie ihrer Entstehung a Lange
Zeit galten die Entwürfe Kelsens zur Bundesverfassung als verschollen, bis | 1979 Georg Schmitz in der »Österreichischen Juristen-Zeitung« über ihre Wiederauffindung berichtete und sie wenig später auch publizierte.311 Die Entwürfe befanden sich nicht in den Akten der Staatskanzlei, wo man sie wohl am ehesten gesucht hätte, sondern unter den Akten des Präsidenten der KNV, Karl Seitz, gemeinsam mit einem Schreiben Kelsens an Seitz, aus dem hervorgeht, dass er ihm zusammen mit diesem Schreiben die Entwürfe I und II übermittelte und demnächst auch die Entwürfe III– VI übermitteln wollte, sobald diese fertig abgeschrieben seien.312 Der Brief ist mit 19. März 1920 datiert, ein auffallend später Zeitpunkt, da die Verfassungsentwürfe Kelsens zwischen Mai und September 1919, also mehr als ein halbes Jahr zuvor, entstanden waren.a| Während die Entwürfe I und II Schreibmaschindurchschläge sind und Entwurf II auch handschriftliche Ausbesserungen aus der Feder Kelsens aufweist, handelt es sich bei den Entwürfen III–VI um Lithographien von maschingeschriebenen Reinschriften, was darauf hinweist, dass diese Texte in größerer Zahl hergestellt wurden.313 Inhaltlich fällt zunächst auf, |a dass die Entwürfe I und IV nur in einem einzigen Punkt voneinander abweichen: Während Entw I in Art. 1314 die Republik »Deutschösterreich« nennt, heißt sie in Entw IV – so wie in allen anderen Entwürfen – »Österreich«. Dies ist übrigens auch der stärkste Hinweis darauf, dass Entw I der älteste Entwurf ist – wohl jener, der Renner am 4. Juli zugeschickt wurde. Weshalb er neben dem sonst wortidenten Entw IV als eigener Entwurf beibehalten wurde, war für Schmitz unerklärlich und kann auch hier nicht beantwortet werden. Im Übrigen aber ist die Reihenfolge, in der die Entwürfe entstanden sind, unbekannt. Insbesondere ist ihre Nummerierung, wiewohl offenbar von Kelsen selbst stammend, kein zwingender Beweis anzunehmen, dass auf Entw I Entw II, auf diesen Entw III usw. folgte. Ja, es ist sogar nachweisbar, dass die Nummerierung nachträglich noch verändert wurde, 309 Gusy, Reichsverfassung (1997) 73–78; Gusy, Reichsverfassung (2018) 49–65; Stern, Staatsrecht V (2000) 545–553. 310 Am 12. 6. 1920 ersuchte die deutschösterreichische Staatskanzlei das Staatsamt für Äußeres um Beschaffung eines Exemplars des deutschen Verfassungsentwurfes für die »kodifikatorischen Arbeiten«: Schmitz, Vorentwürfe (1981) 59. 311 Schmitz, Die Vorentwürfe von Hans Kelsen (1979); Schmitz, Vorentwürfe (1981). 312 Ein Faksimile des Briefes befindet sich bei Ermacora, Entstehung IV (1990) 61; die sechs Entwürfe sind von ihm a. a. O. 62–243 ediert, zu den Mängeln dieser Edition vgl. schon oben 11. 313 Die Entwürfe sind nunmehr in ÖStA, AdR, Büro Seitz, Karton 7, gelagert. 314 Im Entw I sind – im Gegensatz zu den anderen Entwürfen – die Artikel nicht mit arabischen, sondern römischen Ziffern versehen. Im Interesse leichterer Lesbarkeit werden hier dennoch arabische Ziffern verwendet.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
und der jetzt mit der Nummer VI versehene Entwurf zu einem früheren Zeitpunkt die Nummer V trug.315 a| Will man versuchen, die Entwürfe chronologisch zu ordnen, so erweist sich der Entw II mit seinen handschriftlichen Ausbesserungen geradezu als der »Stein von Rosette«, kann man hier doch davon ausgehen, dass der getippte Text eine ältere Textschicht aufweist als die Handschrift. Dies sei anhand von einigen Beispielen verdeutlicht. Untersucht sei zunächst jener |a Artikel, der hinsichtlich der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern eine Generalklausel zugunsten der Länder vorsieht (im Entw II der Art. 11, später Art. 15 Abs. 1 B-VG 1920).316 Er besteht bei den Entw I, II, IV und V aus einem einzigen Absatz, bei Entw II allerdings mit der handschriftlichen Ergänzung: »Wo der Bundesgesetzgebung lediglich die Regelung von Grundzügen vorbehalten ist, obliegt die nähere Durchführung innerhalb des bundesgesetzlich festgelegten Rahmens der Landesgesetzgebung«. Dieselbe Formulierung taucht dann, in Maschinschrift, bei den zwei übrigen Entwürfen (III und VI) auf, gelangt von dort in den – weiter unten zu behandelnden – »Privatentwurf Mayr« und über diesen in den endgültigen Gesetzestext. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass Kelsen eine Anmerkung zum Entwurf II im Entwurf III übernahm, in den Entwürfen IV und V davon abkam und in Entwurf VI wieder zu dieser Bemerkung zurückkehrte. Aber wahrscheinlicher ist es doch, dass die Entw I, IV und V älter als die handschriftliche Ergänzung in Entw II sind, und dass die Entw III und VI erst danach entstanden.a| Diese These findet ihre Bestätigung in Art. 68 Entw I, der ein wichtiges Glied in der Geschichte der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle darstellt:317 Hier werden Gerichte zunächst nur ermächtigt, beim Bundesverfassungsgericht die Kassation von gesetzwidrigen »Vollzugsanweisungen« (= Verordnungen) zu beantragen; diese Bestimmung wird auch in den Entw IV und V übernommen. Die Entw II, III und VI hingegen enthalten bereits die Bestimmung, dass die Gerichte auch Landesgesetze wegen Bundesgesetzwidrigkeit anfechten dürfen. Eine andere Gruppierung der Entwürfe finden wir allerdings, wenn wir die Regelungen über einen Beharrungsbeschluss gegen Genehmigungsverweigerungen des Bundesrates (Art. 36 des Entw II; vgl. Art. 42 B-VG 1920) betrachten: Hier sehen wir für die Entw I, II und IV ähnliche Formulierungen, während die Entw III, V und VI gleichlautend sind.318 Gehen wir weiter zu einer Ausbesserung, die bloß stilistischer Natur ist. Eine solche findet sich etwa in Art. 165 des Entw II (Wahlanfechtung, vgl. Art. 141 B-VG 1920), wo das Wörtchen »und« handschriftlich durch einen Beistrich und »ferner« ersetzt wird. Die Variante mit »und«, die offenbar die frühere ist, enthalten auch die Entwürfe I, IV 315 Stourzh, Hans Kelsen (1989) 321 Anm. 43; Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 104; Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 208. 316 Schmitz, Vorentwürfe (1981) 136 f. 317 Dazu noch unten 292 ff. 318 Schmitz, Vorentwürfe (1981) 186 f.
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2. Kapitel: Das Bundes-Verfassungsgesetz
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und V, die offenbar spätere Variante mit »ferner« die Entwürfe III und VI. In Art. 95 Entw II (es geht um die Auflösung des Landtages durch den Bundespräsidenten, vgl. Art. 100 B-VG 1920) werden die Worte »neu zu berufen« durch »einzuberufen« ersetzt; diese Fassung findet sich nicht nur in den Entw III und VI, sondern auch im Entw V.319 Ein letztes Beispiel: In Art. 146 des Entw II (es geht um Minderheitenrechte) werden ebenfalls stilistische Ausbesserungen handschriftlich getätigt (»etwa« statt »also«; »sind […] diese Minderheiten mit einem angemessenen Teil zu beteilen« statt »ist […] ein angemessener Teil dieser Minderheiten zu beteilen«). Dieser Artikel existiert in den Entwürfen I, IV und V noch gar nicht, wohl aber in den Entwürfen III und VI, und zwar in der Fassung der handschriftlichen Ausbesserungen. Aus diesen Einzelbefunden lässt sich folgende Chronologie herauslesen: |a Am ältesten ist Entwurf I, es folgt Entwurf II und auf diesen der Entwurf V. Hierauf wurde von diesen drei Entwürfen der Entwurf II weiter bearbeitet, und es folgten handschriftliche Ausbesserungen (falls diese jemals in eine Reinschrift gebracht wurden, so ist diese verloren gegangen). Auf Grundlage dieser Ausbesserungen wurden zwei weitere Varianten erstellt, und zwar der Entwurf III und der Entwurf VI.a| Ob Entw III älter als Entw VI ist oder umgekehrt, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Da sich die beiden Entwürfe v. a. dadurch unterscheiden, dass Entw III Textabschnitte aufweist, die in Entw VI fehlen, würde ich VI vor III reihen, doch ist dies nur eine Vermutung. c) Inhaltliche Analyse der Entwürfe |a Geht man nun von dieser chronologischen Ordnung über zu einer inhaltlichen Analyse der Entwürfe, so muss zunächst festgehalten werden, dass die Ähnlichkeiten zwischen ihnen weit größer sind als die Unterschiede. Dies liegt einmal natürlich an den leitenden Grundprinzipien – dem demokratischen, dem republikanischen, dem bundesstaatlichen, dem rechtsstaatlichen, dem gewaltenteilenden und dem liberalen –, deren Beibehaltung bzw. Einführung Kelsen entweder ausdrücklich aufgetragen worden war oder doch aufgrund der österreichischen Tradition bzw. den Ereignissen seit 1918 als selbstverständlich gelten musste. Doch geht die Ähnlichkeit weit darüber hinaus;a| viele Artikel finden sich wortgleich in allen oder fast allen Entwürfen, und mit Ausnahme von Entw V wird auch bei allen Entwürfen die gleiche Gliederung in sieben Hauptstücke vorgenommen (mit geringfügigen Abweichungen in der Terminologie): 1. Allgemeine Bestimmungen 2. Gesetzgebung des Bundes 3. Vollziehung des Bundes 4. Gesetzgebung und Vollziehung der Länder 5. Rechnungskontrolle 6. Grund‑ und Freiheitsrechte 7. Garantien der Verfassung und Verwaltung 319 Schmitz,
Vorentwürfe (1981) 220 f., 300 f.
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Abgesehen vom Hauptstück über die Grund‑ und Freiheitsrechte, das, wie noch auszuführen ist, letztlich nicht zustande kam, ging diese Gliederung samt Formulierung der Überschriften auch in den endgültigen Verfassungstext ein und ist im Großen und Ganzen auch heute noch aufrecht.320 Alle Entwürfe sahen für Österreich zwar eine bundesstaatliche Struktur vor, doch war das föderalistische Element sehr schwach ausgeprägt: Dies zeigte sich vor allem im 4. Hauptstück, das extrem detaillierte Vorgaben für die Landesverfassungen enthielt, ferner in der Bestimmung, dass »alle Gerichtsbarkeit« – worunter aber offenbar nur die ordentliche Gerichtsbarkeit verstanden wurde – vom Bund auszugehen habe (Art. 61 Entw I etc.)321 und in dem in allen (bis auf Entw I+IV ) anzutreffenden, aus Art. 13 WRV übernommenen Grundsatz »Bundesrecht bricht Landesrecht« (Art. 10 Entw II etc.).322 Den tatsächlichen Machtverhältnissen, wie sie seit 1918 bestanden,323 entsprach es, dass die Organe der Landesverwaltung nicht nur im autonomen Wirkungsbereich der Länder, sondern auch in einem »übertragenen Wirkungskreis« des Bundes tätig werden, d. h. im Wesentlichen jene Aufgaben mitbesorgen sollten, die bis 1918 die k. k. Statthalter erledigt hatten. Zwar standen die Landesorgane in diesen Fällen unter Leitung und Aufsicht des Bundes; dennoch bedeutete diese – später als »mittelbare Bundesverwaltung« bezeichnete – Funktion einen enormen Bedeutungszuwachs für die Länder gegenüber der Situation vor 1918. Extrem umstritten war in diesem Zusammenhang die von Kelsen in die Entwürfe aufgenommene Bestimmung, dass der Bund unter gewissen Vorausetzungen diese Angelegenheiten auch einem »Bundeskommissär« übertragen konnte; im Zuge der weiteren Beratungen wurde diese Option fallen gelassen.324 Sowohl der Bund als auch die Länder sollten parlamentarische Demokratien sein, und zwar in dem Sinne, dass das Bundesparlament (von Kelsen als »Bundesversammlung« oder »Bundestag«, erst im Verfassungsunterausschuss 1920 als »Nationalrat« bezeichnet) und die Landtage die einzigen direkt vom Volk gewählten Organe waren 320 Mit der Verfassungsnovelle 1981 BGBl 350 wurde ein Hauptstück über die Volksanwaltschaft, mit der Verfassungsnovelle 2008 BGBl I/2 ein Hauptstück über die Selbstverwaltung geschaffen. Mit der Verfassungsnovelle 1994 BGBl 1013 wurde das erste Hauptstück deutlich erweitert und in »Allgemeine Bestimmungen. Europäische Union« umbenannt. 321 Im Folgenden wird zur Wahrung der Übersichtlichkeit jeweils nur die Fundstelle in einem der Verfassungsentwürfe genannt; die korrespondierenden Fundstellen in den anderen Verfassungsentwürfen können in der synoptischen Darstellung von Schmitz, Vorentwürfe (1981) leicht gefunden werden. 322 Dieser Grundsatz fand sich schon im Aktionsprogramm der Sozialdemokraten vom 16. 2 . 1919, nicht jedoch in jenem der Christlichsozialen vom 3. 3. 1919; vgl. Schmitz, Vorentwürfe (1981) 34. Die traditionell starke Stellung der Christlichsozialen in den Ländern hing eng mit deren föderalismusfreundlichen Politik zusammen, während die Sozialdemokraten mehr zu einer zentralistischen Politik neigten. Bereits am 14. 5. 1919 hatten die Christlichsozialen einen sehr föderalistischen Verfassungsentwurf dem Parlament vorgelegt, vgl. zu diesem Schmitz, Vorentwürfe (1981) 41–43. 323 Vgl. § 4 Gesetz v. 14. 11. 1918 StGBl 24. 324 Bereits der Entwurf zum vorhin erwähnten Gesetz v. 14. 11. 1918 StGBl 24 hatte einen »Regierungskommissär« vorgesehen, was aber im Zuge der weiteren Beratungen fallen gelassen worden war; vgl. Schmitz, Vorentwürfe (1981) 23.
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und alle anderen Organe ihre demokratische Legitimation von diesen Gremien ableiteten; insbesondere sollten Bundes‑ und Landesregierungen von den entsprechenden Parlamenten gewählt werden (Art. 53, Art. 81 Entw I etc.). Die Parlamente selbst sollten in gleichen, direkten, persönlichen und geheimen Wahlen von allen Bundesbürgern über 20 Jahren ohne Unterscheidung des Geschlechts gewählt werden; der Grundsatz der Verhältniswahl war nur in Entw I+IV (Art. 12) explizit genannt. Föderalismusfreundlich war die Neuregelung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, wonach jedes Land ein Landesverwaltungsgericht und der Bund ein Bundesverwaltungsgericht haben sollte; eine übergeordnete Instanz war nicht vorgesehen (Art. 116 Entw I etc.). Dagegen sollte ein »Bundesverfassungsgericht« existieren, das nicht nur Kompetenzkonflikte, sondern generell »alle Rechtsstreitigkeiten zwischen den souveränen Ländern sowie zwischen einem souveränen Lande und dem Bund« entscheiden sollte (Art. 123 Entw I etc.). Sowohl die Bundesregierung sollte ein Anfechtungsrecht hinsichtlich von Verordnungen der Landesbehörden als auch die Landesregierungen ein Anfechtungsrecht hinsichtlich von Verordnungen der Bundesbehörden haben; dagegen blieb es der Bundesregierung vorbehalten, Landesgesetze wegen »Bundesgesetzwidrigkeit« (Art. 126 Entw I etc.) anzufechten, während den Landesregierungen kein derartiges Recht in Hinblick auf Bundesgesetze zukam; dies war eine Folge des schon vorhin erwähnten Grundsatzes »Bundesrecht bricht Landesrecht«. Das Bundesverfassungsgericht sollte ferner, wie bisher der VfGH, als Wahlgerichtshof und als Staatsgerichtshof tätig werden können; eine Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit in Grundrechtssachen war dagegen nicht vorgesehen.325 Die inhaltlichen Unterschiede zwischen den Entwürfen konzentrierten sich, wie Kelsen auch rückblickend schrieb, vor allem auf drei Problemfelder: Bundespräsident, Bundesrat und Grundrechte.326 Bei der Gründung der Republik hatte der zwanzigköpfige Staatsrat den Großteil jener Rechte übernommen, die bis dahin der Kaiser besessen hatte. Da diese Lösung kaum praktikabel war, fungierte seit der Märznovelle 1919 der Erste Präsident der KNV (Karl Seitz) zugleich als Staatsoberhaupt. Die Kelsen-Entwürfe I–V sahen demgegenüber – wohl nach dem Vorbild des deutschen Reichspräsidenten – einen eigenen »Bundespräsidenten« vor, der allerdings im Gegensatz zu seinem deutschen Pendant fast nur repräsentative Funktionen haben sollte, während Entw VI überhaupt an der Verbindung von Parlamentspräsident und Staatsoberhaupt festhielt. Darauf wird noch zurückzukommen sein. 325 Unrichtig ist es, wenn Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 210, behauptet, dass Kelsen hinsichtlich des Bundesverfassungsgerichts »nicht über die bereits bestehende Rechtslage« hinausgegangen, ja sogar mit Abschaffung der Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit des VfGH »hinter der geltenden Rechtslage« zurückgeblieben sei: Die Abschaffung dieser Spezialkompetenz bedeutete nach Art. 121 Entw I etc. (= Art. 131 Z.1 B-VG 1920) ja nur, dass die Grundrechtsbeschwerde Sache der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit sein sollte, wie dies seit 2014 in der ersten verwaltungsgerichtlichen Instanz auch der Fall ist! 326 Kelsen/Froehlich/Merkl, Verfassungsgesetze V (1922) 54.
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Beim »Bundesrat« handelte es sich um die Länderkammer des österreichischen Parlamentes neben der vom Volk direkt gewählten ersten Kammer, ähnlich, wie auch die Deutsche Reichsverfassung von 1871 einen »Bundesrat« vorgesehen hatte und auch die WRV in ihren Art. 63 ff. einen »Reichsrat« als Länderkammer eingerichtet hatte. Diesem Vorbild folgten vor allem die Entw V, VI und III, denen zufolge |a jedes Land im Bundesrat durch seinen Landeshauptmann oder ein anderes Mitglied der Landesregierung vertreten sein sollte und alle dem Land zustehenden Stimmen einheitlich abgegeben werden sollten. Demgegenüber sahen die Entw I, II und IV vor, dass die Landesversammlungen bzw. Landtage aus ihrer Mitte nach dem Verhältniswahlrecht Vertreter in den Bundesrat entsendeten, deren Zahl von der Größe des Landes abhängig war, eine Regelung, die an die des österreichischen Abgeordnetenhauses zwischen 1861 und 1873 erinnerte. Auch bei den Grundrechten ging es im Wesentlichen um die Frage, ob der Grundrechtskatalog der Monarchie oder jener der Weimarer Reichsverfassung als Grundlage dienen sollte. Letzterer ging nur in Entw V ein,327 die übrigen Entwürfe waren vom Vorbild des österreichischen Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867 geprägt. Originalität war Kelsen aber auch hier nicht abzusprechen: So bestimmte etwa das Grundrecht der »Preßfreiheit« (Art. 110 Entw I) ausdrücklich, dass eine Beschlagnahme von Druckschriften ohne gleichzeitige Verfolgung des Täters ausgeschlossen sei, womit einem der schlimmsten Missstände des monarchischen Preßrechtes, der insbesondere von sozialdemokratischer Seite immer wieder erfolglos bekämpft worden war,328 ein Riegel vorgeschoben werden sollte. Besondere Erwähnung verdient die Problematik sozialer Grundrechte, die im Entw I noch fehlten. Aus einem Brief des Pressechefs der Staatskanzlei Ludwig Brügel an Renner vom 15. Juli 1919 erfahren wir, dass Brügel Kelsen empfohlen habe, »in die Grundrechte auch das ›Recht auf Arbeit‹ […] aufzunehmen«, worauf Kelsen entgegnet habe, er werde »sich bemühen eine geeignete Fassung zu finden.«329 Tatsächlich lesen wir in den Entwürfen II–VI die Bestimmung: »Die Arbeitskraft steht unter dem besonderen Schutz des Bundes. Der Bund schafft ein einheitliches Arbeitsrecht.« (Art. 152 Entw II etc.). Eine derartige Formulierung enthielt natürlich kein subjektives Recht für Arbeitssuchende; wir dürfen annehmen, dass Kelsen dies auch nicht beabsichtigt hatte.a| Vergleicht man als letztes die Entwürfe in ihrer Gesamtheit miteinander, so kann festgestellt werden, dass der älteste Entwurf, Entw I, zugleich auch der länderfreundlichste war.330 Er (sowie auch der praktisch gleichlautende Entw IV ) enthielt noch 327 Unrichtig –
und auch unverständlich in Hinblick auf seine eigenen Arbeiten – ist es daher, wenn Kelsen, Autobiographie (1947) 26 = HKW I, 66, schreibt, dass die Grundrechte der WRV als Vorbild für die österreichischen Arbeiten nicht in Betracht kamen. 328 Dazu näher Olechowski, Preßrecht (2004) 574 ff., 642 ff. 329 Ludwig Brügel, Schreiben an Karl Renner v. 15. 7. 1919, in: Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 32. 330 So auch Schmitz, Vorentwürfe (1981) 49.
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nicht die in den späteren Entwürfen aufgenommene programmatische Bestimmung »Österreich ist eine demokratische Republik.« (vgl. Art. 1 B-VG 1920). Wie Kelsen rückblickend berichtete, war diese programmatische Bestimmung erst nachträglich und auf ausdrücklichen Wunsch Renners aufgenommen worden. Er selbst hatte gemeint, dass sie »eine theoretische Behauptung« sei und ein Gesetz »keine theoretischen Erklärungen über die Natur des Rechts«, sondern Normen enthalten solle. »Darauf sagte mir Dr. Karl Renner, das mag schon richtig sein, was Sie sagen, aber von einem politischen Standpunkt ist es mir außerordentlich wichtig, daß das Volk, das die Verfassung liest, sofort erfährt, sie [gemeint: die Staatsgewalt] geht vom Volke aus.«331 Dementsprechend enthielten die Entw II, III und V die Bestimmung: »Österreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volke eingesetzt.« Die Umformulierung von »Gewalt« zu »Recht« erfolgte dann ganz am Ende der Verfassungsarbeiten auf ausdrücklichen Wunsch Kelsens.332 Von den übrigen Verfassungsentwürfen sticht Entw V hervor, da er einen besonders starken Einfluss der WRV aufweist – was allerdings kaum Rückschlüsse auf die Entstehungszeit dieses Entwurfes zulässt, zumal der Wortlaut der WRV schon im Juli 1919 feststand. Es lässt sich nicht einmal eindeutig klären, wieviele Entwürfe aus der Feder Kelsens schon fertig waren, als Renner noch in Frankreich bei den Friedensverhandlungen weilte, und wieviele erst danach entstanden.333
2. Parteien, Staat und Länder im Streit um die Verfassung Am 10. September 1919 wurde zu Saint Germain-en-Laye der Staatsvertrag mit den Entente-Mächten unterzeichnet. »Autriche – Österreich«, wie der Staat von den Siegermächten konsequent benannt wurde (und sich in weiterer Folge auch selbst so nannte334) wurde neben Ungarn als einer der beiden Nachfolgestaaten der Österreich-Ungarischen Monarchie und daher (im Gegensatz etwa zur ČSR, die auf Seite der Alliierten und Assoziierten Mächte unterzeichnete) als mitschuldig am Ersten 331 Hans
Kelsen, Interview mit Irmgard Bach, Juni 1958. – Um diese Thematik ranken sich in der Literatur viele Legenden, die jedoch kaum jemals quellenmäßig belegt werden können; vgl. etwa Schmitz, Vorentwürfe (1981) 53, der sich auf persönliche Gespräche Kelsens mit dem späteren Justizminister Hans Klecatsky stützt. Nach Robert Walter, zit. n. Moser, Präambeldiskussion (2009) 195, soll Renner zu Kelsen gesagt haben: »Herr Professor, Sie haben Recht, aber irgend etwas Schönes soll doch auch in der Verfassung stehen.« 332 Ermacora, Quellen (1967) 471 f. Vgl. dazu auch Kelsens Ausführungen über das Verhältnis von »Gewalt« und »Recht« in Kelsen, Souveränität (1920) 16 f. = HKW IV, 287. 333 So sprach Renner am 12. 10. 1919 (Ermacora, Entstehung I [1989] 65) von drei Entwürfen in der Staatskanzlei, berichtete aber später in der Wiener Zeitung (Ermarcora, Quellen [1967] 188), dass bei seiner Rückkehr bereits fünf Entwürfe fertig waren. Der Versuch einer Chronologisierung der Entwürfe durch Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 208, der die zweite Quelle hier außer Acht lässt, kann daher angezweifelt werden – ohne dass sich eine Gegenthese aufstellen lässt. 334 Dies erfolgte mit dem Gesetz v. 21. 10. 1919 StGBl 484 über die Staatsform, vgl. die Kommentierung durch Kelsen, Verfassungsgesetze IV (1920) 9–14 = HKW V, 448–454.
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Weltkrieg angesehen, woraus u. a. Reparationsverpflichtungen resultierten, deren Ausmaß von Renner als geradezu absurd bezeichnet wurde. Sie erwiesen sich in der Folge als uneinbringlich und wurden zunächst gestundet, dann, 1929, ganz erlassen. Schwerer als das wog, dass Österreich auf seine Ansprüche auf die deutschsprachigen Gebiete in Böhmen, Mähren und Schlesien, auf alle Tiroler Gebiete südlich des Brennerpasses und einige andere rein oder vorwiegend deutschsprachige Gebiete, vor allem aber auch auf einen »Anschluß« an das Deutsche Reich verzichten musste.335 Die KNV hatte Renner erst nach langer Debatte und nur unter feierlichem Protest die Genehmigung zur Unterzeichnung erteilt. Danach musste der Vertrag noch einmal die KNV passieren, damit das österreichische Parlament auch die formelle Ratifikation genehmigen konnte. Doch diesmal, am 17. Oktober, erfolgte keine weitere Debatte; Österreich fügte sich in sein unvermeidbares Schicksal.336 Eine Woche später wurde der Staatsvertrag von Saint Germain von Karl Seitz in seiner Funktion als Staatsoberhaupt ratifiziert.337 So schlimm die Bedingungen des Vertrages auch sein mochten – sie hatten immerhin Klarheit über die Situation, in der sich Österreich befand, gebracht, und Renner konnte nun in die Beratungen über die definitive Bundesverfassung voll einsteigen. |a Am 11. Oktober fand in der Staatskanzlei eine »zwischenstaatsamtliche Besprechung« statt, zu der jedes Staatsamt einen Beamten entsendete, die bei dieser Gelegenheit ein Exemplar der WRV, nicht jedoch einen Entwurf der österreichischen Verfassung erhielten. Die von Kelsen erstellten Entwürfe blieben »vollständig im Schoße der Staatskanzlei«, wie es Kelsen später vorsichtig formulierte.338 Stattdessen wurde den Beamten ein von Renner339 verfasstes »Exposé« vorgelegt, in dem es hieß, dass der Verfassungsentwurf »dermalen noch nicht reif« zur Versendung sei, »da gewisse politische Vorfragen erst gelöst werden müssen.« Zweck der Besprechung war die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern: Sie war in den Entwürfen Kelsens nicht einzeln angeführt, sondern nur kurz skizziert worden. Nunmehr wurde den Beamten ein »Schema für die von den einzelnen Staatsämtern für den Bereich ihrer Ressorts zu beantwortenden Fragen« vorgelegt, welches die Staatskanzlei in die Lage versetzen sollte, die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern vorzunehmen.340 335 Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 146–153. Siehe zum Inhalt des Vertrages künftig ausführlich: Kalb/Olechowski/Ziegerhofer, St. Germain (in Vorbereitung). 336 »Die Ablehnung ist ausgeschlossen und unter dem eisernen Zwange der Verhältnisse müssen wir annehmen. Wozu dann noch viele Worte? […] Es ist vielleicht der Würde des Parlaments angemessener, stillschweigend das Unvermeidliche zu genehmigen«: Aus der Ansprache des Berichterstatters Richard Weißkirchner in der Sitzung der KNV v. 17. 10. 1919, StPKNV 844. 337 StGBl 1920/303; vgl. Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 186, der jedoch irrtümlich den 25. 10. 1919 als Tag der parlamentarischen Genehmigung nennt. 338 Kelsen/Froehlich/Merkl, Verfassungsgesetze V (1922) 55. 339 So Stourzh, Hans Kelsen (1989) 322. Ihm ist beizupflichten: Das Exposé übernimmt teilweise wörtlich ältere, markante Äußerungen Renners. 340 Ermacora, Entstehung II (1989) 53 ff., bes. 59.
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An der zweiten zwischenstaatsamtlichen Besprechung, die am 31. Oktober stattfand, nahm auch Kelsen teil und antwortete auf Fragen. Am 13. November fand eine drittte, am 22. November eine vierte Sitzung statt. Hier nun wurde ein Entwurf Kelsens präsentiert, allerdings nur auf höchst vorsichtige Weise: Der Vertreter des Staatsamtes für Justiz, Ministerialrat Dr. Rudolf Hermann, berichtete später, dass die »Sitzungsteilnehmer […] Abdrücke des Entwurfes eingehändigt« erhalten hatten, diese »aber nach Schluss der Sitzung wieder abliefern« hatten müssen. Zugleich wurde betont, »dass es sich um einen durchaus unverbindlichen Referentenentwurf handle.«341 Wer dieser Referent war, darüber konnte kein Zweifel bestehen: Denn Hans Kelsen war auch bei dieser Sitzung anwesend und hielt einen Vortrag über die Grundzüge des Entwurfes. a| Schwieriger ist allerdings die Frage, um welchen der Entwürfe es sich handelte: In manchen Punkten (z. B. den Grundrechten) schien es, als ob es sich um Entw III handle, bei anderen (z. B. den Bestimmungen über den Bundespräsidenten) wieder um Entw VI.342 In der Zwischenzeit waren aber auch die Länder aktiv geworden, insbesondere Tirol, das vom Vertrag von Saint Germain am stärksten betroffen war, hatte es doch mehr als die Hälfte seines Territoriums an Italien abtreten müssen. Da diese Entwicklung schon zu Kriegsende absehbar gewesen war, hatte Tirol bislang keinen förmlichen Beitritt zu Deutschösterreich erklärt und auch die Anschlusswünsche Deutschösterreichs an das Deutsche Reich nicht unterstützt, sondern die Selbständigkeit des traditionsreichen Landes betont und auch eine Zeit lang tatsächlich mit einem souveränen Staat Tirol oder mit einem »Anschluß« an die Schweiz spekuliert, in der Hoffnung, so die Einheit Tirols retten zu können.343 Als sich diese Hoffnungen zerschlagen hatten, willigte auch der Tiroler Landtag in die Teilnahme an einem österreichischen Bundesstaat ein, wollte aber selbst aktiv die Bundesstaatsverfassung mitgestalten. Der Grund hierfür war wohl vor allem, dass die Tiroler befürchteten, dass von Wien eine zentralistische Verfassung ausgehen würde; es wurde allerdings von deutschfreiheitlicher Seite auch die Äußerung getätigt, man dürfe die Verfassungsarbeit nicht »polnischen Juden« überlassen,344 wobei unklar ist, ob sich diese Wortmeldung direkt auf Kelsen bezog. Am 27. September stellte der Tiroler Landtag fest, dass die Bundesverfassung »nicht ohne Zustimmung der Länder« beschlossen werden könne, und nahm mit den übrigen Ländern »zwecks Einsetzung eines Länderkomitees« Kontakt auf. Als Diskussionsgrundlage erstellte Stephan Falser345, pensionierter Senatspräsident des 341 Ermacora,
Entstehung II (1989) 81, 85. Entstehung IV (1990) 14; Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 82. 343 Allen Beteiligten war klar, dass die Alliierten einem Deutschen Reich, welches über den strategisch so bedeutsamen Brennerpass hinaus nach Süden gereicht hätte, niemals zugestimmt hätten. Ein kleiner, neutraler Alpenstaat, der Italien von Deutschland trennte, erschien dagegen als realistischere Variante. Vgl. Schmitz, Vorentwürfe (1981) 22; Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 91–95. 344 Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 201. 345 Geb. Innsbruck 30. 8. 1855, gest. ebenda 19. 3. 1944, vgl. https://www.parlament.gv.at/WWER/ PAD_00299 [Zugriff: 26. 04. 2019]; siehe zu Falser schon oben 160. 342 Ermacora,
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VwGH und Ersatzmitglied des VfGH, einen aus lediglich 39 Artikeln bestehenden, stark am Schweizer Vorbild orientierten Entwurf.346 Indem er den Ländern wesentlich mehr Gewicht gab, als es die Kelsen-Entwürfe zu tun gewillt waren, entsprach er auch stärker den Vorstellungen der christlichsozialen Partei.347 Bedeutsam für die weitere Verfassungsdiskussion waren insbesondere Falsers Vorschläge zur Neugestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit: Nicht nur der Bund sollte Landesgesetze, sondern auch die Länder Bundesgesetze »wegen Verfassungswidrigkeit« beim Verfassungsgerichtshof bekämpfen können.348 |a Am 7. Jänner 1920 wurde der Entwurf Falser veröffentlicht; am 10. und 13. Jänner erschien in der »Neuen Freien Presse« eine ausführliche Besprechung »von einem Staatsrechtslehrer«.349 Wir dürfen annehmen, dass es sich hiebei um Kelsen handelte. Der Autor kritisierte jedenfalls, dass »die österreichischen Landtage im offenen Widerspruch zur geltenden Verfassung der konstituierenden Nationalversammlung die Kompetenz zur Verfassungsreform streitig machen« und erklärte bei dieser Gelegenheit die im Herbst 1918 erfolgten Beitrittserklärungen der österreichischen Länder mit dem Staatsgründungsbeschluss vom 30. Oktober 1918 für »unvereinbar. Den letzteren [sic] begründet Deutschösterreich als Einheitsstaat, die Beitrittserklärungen aber entspringen der Ideologie eines Staatenbundes.« Schon die Präambel setze sich mit dem Völkerrecht in Konflikt, wenn sich die Länder gegen den Vertrag von St. Germain verwahren. »Denn gerade für den Staatsvertrag von Saint-Germain existieren keine zu einer solchen Staatsgründung berechtigten Länder, sondern nur eine Republik Österreich.«350 Nun aber ging der Autor zum Gegenangriff über und stellte die Frage, ob eine bundesstaatliche Organisation denn überhaupt zweckmäßig oder nicht vielmehr kompliziert und kostspielig sei? Er persönlich hielt diese Staatsform für »irrational«. a| Von den Details wurde u. a. die »verfassungstechnische Unbeholfenheit« kritisiert, ständig Wien und die Wiener Organe extra zu nennen, »anstatt ein für allemal zu erklären, daß die Stadt Wien die Stellung eines Landes habe«; das Schweizer Vorbild werde noch übertroffen, wenn das Wahlrecht zur Bundesversammlung nicht einheitlich durch Bundesgesetz, sondern nach dem Wahlrecht der einzelnen Länder, d. h. womöglich unterschiedlich, geregelt werde. Was das Länderhaus betreffe, so folge man |a zwar dem Schweizer Vorbild, dass alle Länder gleich viele Vertreter entsenden, doch gebe es gerade in der Schweiz schon seit Jahren Bestrebungen, gerade dies zu ändern. Vorarlberg mit seinen 140.000 Einwohnern wäre damit ebenso stark vertreten 346 Abgedruckt in Ermacora, Quellen (1967) 66–78; vgl. auch Falser, Tiroler Entwurf (1919) 4 f.; Schmitz, Vorentwürfe (1981) 61–63; Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 103. 347 Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 213. 348 Falser-Entwurf, Art. XVII Abs. 1 u 2, Ermacora, Quellen (1967) 71. Beachte dazu Wiederin, Verfassungsgerichtshof (2014) 293 f., wonach Renner unabhängig vom Falser-Entwurf ebenfalls ein solches Anfechtungsrecht der Länder erwogen hatte. 349 [Kelsen], Bundesverfassungsentwurf (1920). Der Beitrag wurde in der NFP in zwei Teilen am 10. 1. und am 13. 1. 1920 veröffentlicht. Ein ebd. angekündigter dritter Teil erschien aus unbekannten Gründen niemals. Der Text ist auch abgedruckt in Schmitz, Vorentwürfe (1981) 311–313. 350 [Kelsen], Bundesverfassungsentwurf (1920), zit. n. Schmitz, Vorentwürfe (1981) 311, 312.
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wie Wien mit 2,5 Millionen! »Gerade in dieser Parität aller Gliedstaaten im Länderorgan liegt die radikal antidemokratische Tendenz des Bundesstaates.«351 Die Kritik Kelsens vermochte freilich nicht zu ändern, dass die Länder nunmehr die Initiative ergriffen hatten und dass sie vereinbarten, Anfang 1920 eine Länderkonferenz in Salzburg abzuhalten. Damit stand die Staatsregierung unter Zugzwang a| und beschloss am 17. Oktober, dem Tag der Genehmigung des Vertrages von Saint Germain, eine Erneuerung des rot-schwarzen Koalitionsabkommens. In diesem wurde u. a. vereinbart, dass die neue Verfassung »möglichst schnell« und unter Hinzuziehung von »Vertreter[n] der Länder« ausgearbeitet werden sollte; auch einige inhaltliche Grundsätze wurden festgelegt; u. a. wurde am Prinzip, dass der Parlamentspräsident auch Staatsoberhaupt sein solle, festgehalten und parallel zur Verfassungsreform eine Verwaltungsreform in Aussicht gestellt, die Selbstverwaltung und Verwaltungsrechtspflege nach preußischem Vorbild zum Ziel hatte.352 Renner wurde in seinem Amt als Staatskanzler bestätigt, nun aber auch ein eigener »Staatssekretär mit dem persönlichen Auftrag, die Verfassungs‑ und Verwaltungsreform vorzubereiten« kreiert und der christlichsoziale Politiker Michael Mayr in diese Position gewählt.353 Mayr, ein gebürtiger Oberösterreicher, jedoch seit 1892 als Archivar im Tiroler Statthaltereiarchiv und seit 1900 auch als ao. Professor für Neuere Geschichte an der Universität Innsbruck tätig, hatte zu den führenden Köpfen der Tiroler Separationsbestrebungen gezählt;354 nun machte er es sich zur Aufgabe, die Länder für die von Renner begonnenen Verfassungsarbeiten zu gewinnen.355 Zu diesem Zweck trat er im Dezember mehrere Reisen an, die ihn zunächst nach Salzburg, Tirol, Oberösterreich, Kärnten und in die Steiermark, später auch in die übrigen Länder führten. Zurück in Wien, berief er für den |a 19. Jänner 1920 die »Funktionäre des Verfassungsgesetzgebungs‑ und Verwaltungsreformdienstes« sowie auch Professor Kelsen in sein Büro, um »das taktische und meritorische Verhalten der Staatsregierung gegenüber der demnächst in Salzburg zur Beratung der Verfassungsfrage zusammentretenden Länderkonferenz« zu erörtern. Immerhin hatte Mayr eine Verschiebung 351 Zit. n. Schmitz, Vorentwürfe (1981) 312 f. Nach dem offiziellen Bericht über die Wahlen zur KNV wies Wien eine Einwohnerzahl von 2.031.421, Vorarlberg eine Einwohnerzahl von 145.408 auf https://www.bmi.gv.at/412/Nationalratswahlen/files/NRW_1919.pdf [Zugriff: 26. 4. 2019]. 352 AZ Nr. 286 v. 18. 10. 1919, 8; auch abgedruckt bei Kelsen/Froehlich/Merkl, Verfassungsgesetze V (1922) 55 f. sowie bei Ermacora, Entstehung I (1989) 350. Vgl. ferner Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 161; Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 65–81; Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 205. Zur preußischen Verwaltungsrechtspflege vgl. Olechowski, Verwaltungsgerichtsbarkeit (1999) 70–77. 353 NFP Nr. 19809 v. 18. 10. 1919, 1; vgl. Kelsen/Froehlich/Merkl, Verfassungsgesetze V (1922) 56; Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 207. 354 Geb. Adlwang/Oberösterreich 10. 4. 1864, gest. Waldneukirchen/Oberösterreich 26. 5. 1922; vgl. Hermann Kuprian, Mayr Michael, in: NDB XVI (Berlin 1990) 565 f. Die Behauptung von Kelsen, Autobiographie (1947) 27 = HKW I, 67 und Hans Kelsen, Interview mit Hans Klecatsky v. 2. 5. 1968, dass Mayr als Historiker »kein Interesse an den spezifisch juristischen Problemen« hatte, erscheint sehr unwahrscheinlich. 355 Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 161.
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dieser Konferenz von Jänner auf Februar erreichen können. »Gleich am Beginne der Besprechungen bei Herrn Staatssekr. Dr. Mayr wurde es übereinstimmend als höchst wichtig und dringend empfehlenswert bezeichnet, dass der genannte Herr Staatssekretär – wenn nur irgend möglich – in die Lage versetzt werde, in Salzburg einen bereits vom Kab. Rate gebilligten Verfassungsentwurf zu produzieren.«356 Es fanden daher bis 31. Jänner 1920 im Büro Mayrs mehrere Besprechungen statt, in denen einer der Kelsen-Entwürfe als »Referentenentwurf« einer Revision unterzogen wurde. Das Protokoll der Beratungen ist uns erhalten, doch geht aus diesem nicht unmittelbar hervor, welcher Entwurf den Gesprächen zugrunde lag. Freilich können mit Hilfe des Protokolls von den sechs Kelsen-Entwürfen wenigstens einige leicht ausgeschlossen werden: So geht aus dem Protokoll etwa hervor, dass der Art. 6 des zugrunde liegenden Entwurfs die Bundesbürgerschaft regelte,357 was nur auf die Entwürfe II, III und VI zutraf, womit die übrigen ausscheiden. Auch wurde über besondere »Bestimmungen über das Bundesheer« diskutiert, welche Kelsen aufgrund des Vertrages von St. Germain als überholt bezeichnete.358 a| Die Entwürfe III und VI enthalten aber nur einen kurzen, ganz allgemein gehaltenen Artikel zum Bundesheer, während die Entwürfe II und V dessen Stellung und Aufgaben ausführlich regeln. Drittens ist hervorzuheben, dass bei den Jänner-Besprechungen eine Bestimmung diskutiert wurde, wonach die Wahl des Landeshauptmannes und seiner Stellvertreter der Bestätigung durch die Bundesregierung bedürfe. Dies war von den Ländern scharf kritisiert worden und wurde nunmehr dahin geändert, dass diese Personen nach ihrer Wahl vom Bundespräsidenten auf die Bundesverfassung vereidigt werden sollten.359 Eine derartige Bestimmung enthielt aber lediglich Entwurf II. Es ist daher davon auszugehen, dass es sich bei dem Entwurf, der den Jänner-Besprechungen zugrunde lag, um den Entwurf II handelte. Dieser Entwurf war demnach derjenige, von dem die weitere Verfassungsentwicklung ihren Ausgang nahm.360
356 ÖStA, AdR, Staatskanzlei, Karton 48, Vorbereitungen für die Länderkonferenz in Salzburg, betreffend die Bundesverfassung, 59v–60r; auszugsweise wiedergegeben auch bei Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 106. Vgl. auch Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 225. 357 ÖStA, AdR, Staatskanzlei, Karton 48, Vorbereitungen für die Länderkonferenz in Salzburg, betreffend die Bundesverfassung, 60v–61r. 358 ÖStA, AdR, Staatskanzlei, Karton 48, Vorbereitungen für die Länderkonferenz in Salzburg, betreffend die Bundesverfassung, 63r–63v. Vgl. Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 110. 359 ÖStA, AdR, Staatskanzlei, Karton 48, Vorbereitungen für die Länderkonferenz in Salzburg, betreffend die Bundesverfassung, 64v. Vgl. heute Art. 101 Abs. 4 B-VG. 360 Schon Schmitz, Vorentwürfe (1981) 69, hat darauf hingewiesen, dass Entwurf II die größten Ähnlichkeiten mit dem Privatentwurf Mayr besitzt. Ich selbst habe dies ursprünglich verneint und einen verschollenen, siebenten Entwurf vermutet (Olechowski, Der Beitrag Hans Kelsens [2009] 223), muss aber nunmehr zugeben, dass die Quellen auch so gelesen werden können, dass Entwurf II der Diskussion zugrunde lag. Ich danke Herrn Priv.-Doz. Dr. Jörg Kammerhofer für ausführliche Gespräche, die mich letztlich zu dieser Festlegung veranlassten, auch wenn Kammerhofer selbst diese Ansicht in den Gesprächen nicht teilte.
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Nunmehr wurden umfangreiche Änderungen vorgenommen. Die Grund‑ und Freiheitsrechte wurden von Mayr persönlich völlig neu gestaltet,361 dagegen wurde Kelsen beauftragt, die Bestimmungen über die Zusammensetzung des Bundesrates neu zu formulieren.362 |a Auch der Satz »Bundesrecht bricht Landesrecht« (Art. 10 Entw II) war von den Ländern kritisiert worden; Kelsen war der Auffassung, dass sich »durch dessen Weglassung […] nichts ändern würde, da er sich aus anderen Verfassungsbestimmungen ableiten« ließe; er wurde in abgeschwächter Form (»Im Zweifel geht Bundesrecht vor Landesrecht«) beibehalten.363 Besonders bemerkenswert ist schließlich, dass Kelsen beauftragt wurde, »den Artikeln der Verfassung […] ein pro-ömium« voranzustellen.364 a| Eine derartige Präambel enthielten zum einen der Tiroler Falser-Entwurf, zum anderen ein von den Großdeutschen eingebrachter Entwurf; beide waren in sehr kämpferischem Stil gehalten und prangerten insbesondere den »Zwang« des Vertrages von St. Germain an – eine Haltung, die zwar verständlich, aber doch wohl wenig geeignet, patriotische Gefühle zu erwecken, weshalb sich beide Formulierungen wenig als Verfassungspräambel eigneten. Kelsens Fassung für eine Präambel, die in den »Privatentwurf Mayr« einging, war hier wesentlich zurückhaltender. Sie lautete: Kraft des Selbstbestimmungsrechtes des deutschen Volkes und seiner geschichtlich gewordenen Glieder und mit feierlicher Verwahrung gegen jede zeitliche Schranke, die der Ausübung dieses unveräußerlichen Rechtes gesetzt ist, vereinigen sich die selbständigen Länder der Republik Österreich zu einem freien Bundesstaat unter dieser Verfassung:
|a Die vielfach in der Literatur anzutreffende Behauptung, Kelsen habe Präambeln abgelehnt,365 ist daher zu relativieren. Wie bereits nachgewiesen, hat Kelsen in seine Entwürfe durchaus auch Bestimmungen mit bloß programmatischem Inhalt aufgenommen, wie etwa den weiter oben genannten Artikel über das Recht auf Arbeit. a| Es war nicht Kelsen, sondern – im späteren Verlauf – der parlamentarische Unterausschuss, der (übrigens auf Antrag Ignaz Seipels) auf die Präambel verzichtete,366 sodass 361 ÖStA, AdR, Staatskanzlei, Karton 48, Vorbereitungen für die Länderkonferenz in Salzburg, betreffend die Bundesverfassung, 65r. Vgl. Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 112. 362 ÖStA, AdR, Staatskanzlei, Karton 48, Vorbereitungen für die Länderkonferenz in Salzburg, betreffend die Bundesverfassung, 61v. 363 ÖStA, AdR, Staatskanzlei, Karton 48, Vorbereitungen für die Länderkonferenz in Salzburg, betreffend die Bundesverfassung, 61r. Vgl. auch Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 107; Schmitz, Constitutional Court (2003) 253. Wie Wiederin, Bundesstaat (2005) 231, hervorhebt, führte die Entstehungsgeschichte des B-VG auch zu einem gewissen Umdenken hinsichtlich von Kelsens rechtstheoretischen Überlegungen zum Bundesstaat; die obige Äußerung stammt offenbar noch aus einer frühen Phase, wo Kelsen der Ansicht war, dass eine Über/Unterordnungsverhältnis von Bundes‑ und Landesgesetzen wesensmäßig zum Bundesstaat gehöre. 364 ÖStA, AdR, Staatskanzlei, Karton 48, Vorbereitungen für die Länderkonferenz in Salzburg, betreffend die Bundesverfassung, 60v. Vgl. auch Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 106. 365 Vgl. etwa Moser, Präambeldiskussion (2009) 195. 366 Ermacora, Quellen (1967) 336 f. Vgl. Kelsen/Froehlich/Merkl, Verfassungsgesetze V (1922) 63.
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das B-VG heute, im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Verfassungen keine Präambel aufweist. Ergebnis dieser Jänner-Besprechungen war der sog. Privatentwurf Mayr. Er wurde in der Staatsdruckerei gedruckt, da er den Verhandlungen mit den Ländervertretern in Salzburg als Diskussionsgrundlage dienen sollte.367 Als »Privatentwurf« wurde er bezeichnet, da Mayr von der Staatsregierung nicht ermächtigt wurde, der Salzburger Länderkonferenz einen offiziellen Entwurf der Staatsregierung vorzulegen.368 Doch der Hinweis auf Mayr im Titel ist irreführend, denn abgesehen vom Grundrechtsteil und einigen wenigen anderen Bestimmungen war auch dieser Entwurf im Wesentlichen von Kelsen verfasst worden. Es ist daher sehr unwahrscheinlich, dass die Kritik, die dieser Entwurf in der NFP erfuhr,369 wie in der Literatur z. T. behauptet,370 von Kelsen stammt. Dagegen sprechen sowohl inhaltliche Gründe – Kelsen wird kaum von ihm selbst gewählte Formulierungen kritisiert haben –, als auch die Tatsache, dass der Autor sich als einen »österreichischen Rechtsgelehrten« bezeichnet, während Kelsen in seiner oben erwähnten, anonymen Kritik des Falser-Entwurfes als »Staatsrechtslehrer« genannt wurde, der Autor also offenbar nicht den Eindruck von Identität erzeugen wollte. An der Salzburger Länderkonferenz (15.–17. Februar) nahm Kelsen nicht teil, und als vom 20.–23. April eine weitere Länderkonferenz in Linz stattfand, schien sein Name zwar auf der Teilnehmerliste auf,371 doch beteiligte er sich nicht an der Diskussion. Zwischen Februar und April 1920 verfasste Kelsen noch (zumindest) einen weiteren Verfassungsentwurf,372 der aber bei den weiteren Beratungen nicht mehr berücksichtigt wurde. Dafür legte der sozialdemokratische Abgeordnete Robert Danneberg auf der Linzer Länderkonferenz einen Entwurf vor, der nach Aussage Kelsens »inhaltlich beinahe vollständig« mit einem von ihm selbst ausgearbeiteten Entwurf übereinstimm367 NFP Nr. 19920 v. 11. 2 . 1920, 2. Es handelt sich um jenen Entwurf, der bei Schmitz, Vorentwürfe (1981) 115–307 in der fünften Spalte, bei Ermacora, Entstehung IV (1990) 290–413 in der ersten Spalte abgedruckt ist. 368 Vgl. das Kabinettsratsprotokoll v. 10. 2 . 1920, Ermacora, Entstehung I (1989) 340; vgl. auch Kelsen/Froehlich/Merkl, Verfassungsgesetze V (1922) 57; Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 161 f.; Schmitz, Vorentwürfe (1981) 79. 369 NFP Nr. 19920 v. 11. 2 . 1920, 2; Nr. 19921 v. 12. 2 . 1920, 2; Nr. 19923 v. 14. 2 . 1920, 2; Nr. 19926 v. 17. 2 . 1920, 3. Auch abgedruckt in Schmitz, Vorentwürfe (1981) 314–322. 370 So insbesondere Schmitz, Vorentwürfe (1981) 76. 371 Ermacora, Entstehung I (1989) 89–195, 197–301, 315. 372 Vgl. den bei Ermacora, Entstehung IV (1990) 244–274, dort so bezeichneten »Ministerial- Entwurf« und den bei Schmitz, Vorentwürfe (1981) 115–307, sechste Spalte, veröffentlichten »Entwurf Mayr«, der ungeachtet seiner dortigen Bezeichnungen abermals aus der Feder K elsens stammen dürfte, weshalb Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 116 vorschlägt, ihn nunmehr »Entwurf VII« zu nennen (womit er m. E. das Wirrwarr um die Bezeichnungen der verschiedenen Entwürfe nur noch weiter steigert). Der Einwand bei Öhlinger, Kelsen (2008) 412, wonach diese beiden Entwürfe geringfügig voneinander abweichen, ist unzutreffend, die Unterschiede rühren daher, dass Ermacora wieder einmal die handschriftlichen Ausbesserungen im Entwurf, die bei Schmitz noch als solche ausgewiesen sind, stillschweigend in den Text eingearbeitet hat – ein Beweis mehr für die technische Unzulänglichkeit seiner Edition!
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te.373 Dies erscheint, zumindest mit Blick auf die uns bekannten Entwürfe, übertrieben: Vielmehr basierte auch der »Entwurf Danneberg« auf dem »Privatentwurf Mayr«,374 den er in einigen Punkten im Sinne der Sozialdemokratischen Partei abänderte, also nur mittelbar auf den (uns bekannten) Kelsen-Entwürfen.375 Und schon bald wurde Kelsen auch wieder direkt in die Verfassungsberatungen miteinbezogen: Gleich nach Ende der Linzer Länderkonferenz setzte die Staatsregierung ein Komitee ein, das aus Staatskanzler Renner, Vizekanzler Jodok Fink, Staatssekretär Mayr – und Professor Hans Kelsen bestand. Dieses Komitee sollte einen Kompromiss zwischen den beiden großen Parteien zustande bringen, was aber nicht gelang: Am 8. Juni hielt das Komitee seine letzte Sitzung ab, ohne in allen Punkten zu einem Ergebnis gelangt zu sein.376 Vor allem die Frage eines neuen Grundrechtskatalogs hatte zu schweren Kontroversen geführt: Wollten doch die Sozialdemokraten u. a. eine komplette Trennung von Staat und Kirche, die Herabstufung der römisch-katholischen Kirche von einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu einem privaten Verein, sowie die Möglichkeit der Ehescheidung auch für Katholiken, während die Christlichsozialen so weit wie möglich am bisherigen, die katholische Kirche privilegierenden System festhalten wollten. Diese hinwiederum strebten eine weitgehende Föderalisierung der staatlichen Verwaltung, insbesondere auf dem Gebiet des Schulwesens, an, was von den Sozialdemokraten entschieden abgelehnt wurde.377 In der Zwischenzeit hatten die Spannungen zwischen Sozialdemokraten und Christlichsozialen auch in anderen politischen Fragen immer mehr zugenommen; am 11. Juni brach die Große Koalition auseinander, Renner trat als Staatskanzler zurück.378 Neuwahlen der KNV wurden gefordert und für Ende Oktober beschlossen; bis dahin sollte eine »Proporzregierung«, gebildet aus allen drei in der KNV vertretenen Parteien, die Geschäfte fortführen. Ein neuer Staatskanzler wurde nicht gewählt, sondern Michael Mayr am 7. Juli mit dem Vorsitz in dieser »Proporzregierung« betraut, während Renner nur noch die Leitung des Staatsamtes für Äußeres oblag.379 Diese Entwicklung führte offenbar auch zu einem Zerwürfnis zwischen Renner und Mayr: Am 25. Juni brachte Mayr, basierend auf den bisherigen Gesprächen, den 373 Kelsen/Froehlich/Merkl,
Verfassungsgesetze V (1922) 58. Ebenso Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 162. 374 Vgl. etwa Art. 66 (Aufgaben des Bundesheeres) oder Art. 75, Art. 156 (richterliches Prüfungsrecht). 375 Vgl. die Analyse durch Schmitz, Vorentwürfe (1981) 93 f. Der Entwurf ist abgedruckt bei Ermacora, Entstehung IV (1990) 291–413 (dritte Spalte). 376 Kelsen/Froehlich/Merkl, Verfassungsgesetze V (1922) 59 f.; Ermacora, Quellen (1967) 16. 377 Vgl. Ermacora, Quellen (1967) 200, 202, 235–237. 378 BlgKNV 2933; vgl. Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 154; Bauer, Die österreichische Revolution (1923) 225; Nasko, Karl Renner (2016) 43, 222. 379 Dies machte eine neuerliche Verfassungsänderung erforderlich, welche mit dem Gesetz vom 6. 7. 1920 StGBl 283 erfolgte. Vgl. die Analyse dieses Gesetzes durch Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 155 f., sowie ausführlich zu den Hintergründen Owerdieck, Parteien und Verfassungsfrage (1987) 167–174; Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 241–245.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Entwurf einer Bundesverfassung als Initiativantrag der Christlichsozialen in der KNV ein,380 was Renner als schweren Verrat an den vertraulich geführten Beratungen empfand. Die Sozialdemokraten antworteten auf diesen Vorstoß nicht nur mit einem eigenen Entwurf,381 sondern Renner veröffentlichte am 8. Juli anonym in der »Wiener Zeitung« einen umfangreichen Beitrag,382 in dem er das Ergebnis der Vereinbarungen der mit Mayr bis dahin geführten Verhandlungen veröffentlichte (sog. Renner-MayrEntwurf ) und dabei auch deutlich aufzeigte, wo keine Übereinstimmung erzielt hatte werden können.
3. Die Verfassungsarbeiten in der Nationalversammlung a) Der Gang der Verfassungsarbeiten im Allgemeinen Bemerkenswerterweise führte die Regierungskrise aber nicht zum Scheitern der Verfassungsverhandlungen, sondern beschleunigte sie sogar. Denn ein Zustandekommen der neuen Verfassung noch vor den Wahlen im Oktober wurde von allen Mitgliedern der KNV als überlebenswichtig für den österreichischen Staat erkannt. »Es drohte die Gefahr, daß von den Ländern unter Ausschaltung des Zentralparlaments und der Staatsregierung eine Bundesverfassung vereinbart und so statt einer bundesstaatlichen eine staatenbündische, d. h. radikal föderalistische Verfassung zustandekommen würde«, erläuterte Kelsen später.383 Am 8. Juli 1920, demselben Tag, an dem Renner in der »Wiener Zeitung« den sog. Renner-Mayr-Entwurf veröffentlichte, trat im Parlament der Verfassungsausschuss unter dem Vorsitz von Otto Bauer zusammen, und dieser erklärte, dass die Parteien vereinbart hatten, über den Sommer die Verfassung zu vollenden.384 Zu diesem Zweck wurde ein Unterausschuss mit sieben stimmführenden Mitgliedern (drei Sozialdemokraten, drei Christlichsoziale und ein Großdeutscher) und drei Ersatzmännern (je einer von jeder Partei) gewählt. So wie im Verfassungsausschuss, so fungierten auch im Unterausschuss Bauer als Obmann, Seipel als Obmann-Stellvertreter. »Darauf, daß sich diese beiden führenden Politiker in der Verfassungsfrage verständigten«, war es nach Kelsen »in allererster Linie zurückzuführen, 380 888
BlgKNV, abgedruckt auch bei Ermacora, Quellen (1967) 141–151. BlgKNV, abgedruckt auch bei Ermacora, Quellen (1967) 152–188. 382 »Das Ergebnis der Vereinbarungen über die österreichische Bundesverfassung«, in: Wiener Zeitung Nr. 153 v. 8. 7. 1920, 2–18, auch abgedruckt bei Ermarcora, Quellen (1967) 188–268, vgl. schon oben Anm. 301. 383 Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 163. Beachte aber auch den Hinweis bei Kelsen/ Froehlich/Merkl, Verfassungsgesetze V (1922) 60, dass sich die »Proporzregierung« politisch nicht stark genug fühlte, einen Verfassungsentwurf als Regierungsvorlage einzubringen. Die Behauptung von Johnston, Geistesgeschichte (2006) 89, die »Länder« hätten »Wien« gezwungen, eine »durch Hans Kelsen geschaffene Bundesverfassung« anstelle eines sozialdemokratischen Entwurfs anzunehmen, entbehrt jeglicher Grundlage. 384 Ermacora, Quellen (1967) 17. 381 904
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2. Kapitel: Das Bundes-Verfassungsgesetz
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Abb. 23: Das Bundes-Verfassungsgesetz.
daß die konstituierende Nationalversammlung nicht unverrichteter Dinge nach Hause ging.«385 Doch man wird hinzufügen dürfen: In zweiter Linie lag es an Hans Kelsen. Denn dieser wurde als parteiunabhängiger Fachmann dem Unterausschuss hinzugezogen.386 Am 11. Juli nahm der Unterausschuss seine Arbeiten auf; Grundlage seiner Verhandlungen war nicht der »Renner-Mayr-Entwurf«, sondern der »auf Grund der Linzer Verhandlungen in Form einer Gegenüberstellung der Entwürfe des Staatssekretärs Dr. Mayr und der soz.dem. Partei (Dr. Danneberg)« erstellte sog. Linzer Entwurf.387 385
Kelsen, Drang zur Verfassungsreform (1929) 6. Vgl. Klemperer, Seipel (1976) 114. Quellen (1967) 18; Walter, Entstehung (1984) 14 f.; Hanisch, Illusionist (2011) 171. Unrichtig daher Métall, Kelsen (1969) 36, wonach Seipel als Obmann fungierte. 387 Die Protokolle des Unterausschusses sind abgedruckt bei Ermacora, Quellen (1967) 268– 500, das Zitat 268. In der Literatur herrscht Uneinigkeit darüber, ob es sich beim »Linzer Entwurf« um das Ergebnis der Linzer Verhandlungen (so Ermacora, a. a. O.) oder um einen von Mayr bei diesen Verhandlungen eingebrachten Entwurf handelt (so Walter, Entstehung [1984] 13). Der bei den Verhandlungen eingebrachte Entwurf ist bei Ermacora, Entstehung IV (1990) 290–413 in der zweiten Spalte, sowie auch bei Kelsen/Froehlich/Merkl, Verfassungsgesetze V (1922) 463–506 abgedruckt, beim Ergebnis handelt es sich um das sog. Evidenzexemplar, abgedruckt bei Ermacora, Entstehung IV, a. a. O., in der vierten Spalte. Diese zuletzt genannte Edition beruht offensichtlich auf dem in ÖStA, AdR, Büro Seitz, Karton 7, überlieferten Text, einer Druckschrift mit maschinschriftlichen Ausbesserungen, sodass davon auszugehen ist, dass von ihm stets nur eine geringe Stückzahl oder gar nur ein einziges Exemplar existierte. Wesentlich wahrscheinlicher ist es daher, dass die – wohl reichlich vorhandenen – gedruckten Texte, wie sie Mayr zu den Linzer Verhandlungen mitgebracht hatte, auch den Beratungen im parlamentarischen Unterausschuss als Tischvorlage zugrunde lagen. Dies, sowie die Tatsache, dass der Text ohne handschriftliche Ausbesserungen auch bei Kelsen abgedruckt wurde, sprechen für die Auffassung Walters. 386 Ermacora,
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Trotz des großen Erfolgsdruckes, unter dem die Abgeordneten standen, gestalteten sich die Verhandlungen sehr mühsam. Erneut stand die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern im Mittelpunkt der Debatten; Beschlüsse über einzelne Punkte wurden zwar gefasst, jedoch immer nur mit wechselnden Mehrheiten, sodass befürchtet wurde, dass die Bundesverfassung in ihrer Gesamtheit die notwendige Zweidrittelmehrheit in der KNV verfehlen würde. Eine Beratung der Grundrechte wurde im Unterausschuss nicht einmal versucht. Auch die außerhalb des Parlaments geführten Verhandlungen der Parteispitzen führten zu keinem Konsens. »Es bleiben daher nur zwei Möglichkeiten: Entweder, die Verfassung überhaupt scheitern zu lassen oder wenigstens den Teil der Verfassung, über den sich die Parteien geeinigt haben, zu beschließen«, erklärte Danneberg.388 Am 18. September beschlossen die Parteivorstände der Sozialdemokraten und der Christlichsozialen, den zweiten Weg zu gehen.389 Es sollte parallel zum »Bundes-Verfassungsgesetz« (diesen »short Titel« [sic] für die Bundesverfassung schlug Kelsen vor390) ein »Verfassungs-Übergangsgesetz« beschlossen werden, und dieses sah vor, dass die bisherige Kompetenzverteilung zwischen »Staat« (nunmehr »Bund«) und Ländern vorläufig beibehalten werden solle.391 Auch auf einen neuen Grundrechtskatalog wurde verzichtet; stattdessen wurden das Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, das Adelsaufhebungsgesetz vom 3. April 1919 und einige andere Gesetze zu Bestandteilen der Bundesverfassung erklärt.392 »Kelsen bedauerte dies aber keineswegs, da das alte Staatsgrundgesetz durchaus nicht das schlechteste Produkt des politischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts war, dessen Einfluß auf ihn noch nachwirkte.«393 Unter diesen Prämissen konnte der Verfassungsunterausschuss am 23. September seine Beratungen abschließen; am folgenden Tag berichtete Seipel dem Verfassungsausschuss vom Ergebnis der Beratungen. Der Verfassungsausschuss selbst schloss seine Arbeiten am 25. September ab.394 Vier Tage später, am 29. September 1920, berichtete Seipel dem Plenum der KNV von den Beratungen im Verfassungsausschuss und Verfassungsunterausschuss.395 Die Plenardebatten nahmen noch drei Tage in Anspruch, ohne dass noch wesentliche Änderungen erfolgten; am 1. Oktober 1920 wurde das »Gesetz, womit die Republik Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird (Bundes-Verfassungsgesetz)« einstimmig von der KNV angenommen.396 388 AZ
Nr. 266 v. 26. 9. 1920, 3. Nr. 259 v. 19. 9. 1920, 1; NFP Nr. 20138 v. 19. 9. 1920, 6. 390 Kelsen in der 17. Sitzung des Verfassungsunterausschusses v. 22. 9. 1920, Ermacora, Quellen (1967) 471. 391 § 42 Verfassungs-Übergangsgesetz v. 1. 10. 1920 StGBl 451. 392 Art. 149 Bundes-Verfassungsgesetz StGBl 450 = BGBl 1. 393 Métall, Kelsen (1969) 36, wobei er sich offenbar auf Kelsen, Autobiographie (1947) 26 = HKW I, 66, stützte. 394 Ermacora, Quellen (1967) 21; Walter, Entstehung (1984) 18. Unrichtig die Datumsangaben bei Métall, Kelsen (1969) 36. 395 991 BlgKNV, auch abgedruckt bei Ermacora, Quellen (1967) 547–557. 396 StPKNV 3375–3470. Das B-VG wurde in StGBl 1920/450 sowie nochmals in BGBl 1920/1 389 AZ
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Knapp drei Wochen später, am 17. Oktober, fanden die ersten Nationalratswahlen in Österreich statt;397 die Christlichsozialen gingen als Sieger aus dieser Wahl hervor. Am 10. November trat der Nationalrat erstmals zusammen, womit das Bundes-Verfassungsgesetz gemäß Art. 151 Abs. 1 in Kraft trat. Michael Mayr bildete eine Koalition aus Christlichsozialen und Großdeutschen und wurde zum ersten Bundeskanzler der Ersten Republik gewählt; die Sozialdemokraten gingen in Opposition. b) Die Rolle Kelsens im Verfassungsunterausschuss Hans Kelsen hatte bei den Arbeiten der KNV kein politisches Mandat, sondern war juristischer Berater der Politiker. Seine Aufgabe war es, die Bedeutung der einzelnen Bestimmungen der Verfassung zu erläutern und über die Folgen einer allfälligen Abänderung zu informieren. Deutlich wird dies vor allem, als der Verfassungsunterausschuss, nachdem die prinzipielle politische Einigung am 18. September erzielt worden war, am 22. und 23. September noch zu einer »technischen Lesung« des Entwurfes überging, bei der Kelsen eine Reihe von Anträgen stellte, die »gemeinsam von ihm und den Herren der Staatskanzlei ausgearbeitet wurden, mit denen er prinzipiell im Einvernehmen stehe.«398 Bei diesen »Herren« handelte es sich offenbar um Michael Mayr, Georg Froehlich und Egbert Mannlicher,399 die auch selbst immer wieder bei den Sitzungen des Verfassungsunterausschusses anwesend waren. Auch übernahm es Kelsen, im Auftrag Bauers mehrere Professoren der österreichischen Juristenfakultäten (Tezner, Kulisch, Lamp, Layer) anzuschreiben und sie um ihre Stellungnahme zu bitten.400 Doch überragte Kelsens Rolle im Prozess der Verfassungsentstehung sowohl die der genannten Professoren als auch die der Beamten der Staatskanzlei bei weitem. Dass er mit Otto Bauer schon seit der gemeinsamen Studienzeit befreundet war, wurde bereits betont, ebenso, dass auch Kelsen und Seipel zu jener Zeit freundschaftliche Kontakte miteinander pflegten. Belegt ist z. B., dass Seipel bei der Abfassung des Ausschussberichtes für die Plenarsitzung noch den Rat Kelsens einholte.401 Damit besaß Kelsen im Verfassungsunterausschuss eine ganz einmalige Vertrauensstellung sowohl zum veröffentlicht. Die letzte Kundmachung war die verbindliche (»authentische«), vgl. Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 163. 397 Vgl. zum Wahlrecht und zu den Wahlen Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 157–160; Strejcek, Wahlrecht (2009) 34–39. 398 Kelsen in der 17. Sitzung des Verfassungsunterausschusses v. 22. 9. 1920, Ermacora, Quellen (1967) 471. 399 Vgl. den Hinweis bei Métall, Kelsen (1969) 36, wonach es einen »Sachverständigenausschuss«, bestehend aus Kelsen, Mayr, Froehlich und Mannlicher gegeben habe. Auch wenn es dafür keine quellenmäßigen Belege gibt, spricht vieles dafür, dass tatsächlich diese Personen die Anträge vom 22. 9. gemeinsam ausgearbeitet haben. 400 Vgl. die entsprechenden Hinweise in den Schreiben von Max Kulisch vom 13. 9. 1920 und von Karl Lamp vom 21. 9. 1920, in: Ermacora, Entstehung II (1989) 192. 401 Siehe die Tagebucheinträge Seipels vom 27. und 29. 9. 1920, Diözesanarchiv Wien, Nachlässe/ Seipel, Ignaz, Karton 2: 4. Tagebuch.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Obmann als auch zum Obmann-Stellvertreter, die es ihm ermöglichte, aktiv in die Gestaltung des B-VG einzugreifen, und Änderungen vorzuschlagen, die bei weitem nicht nur »technisch-juristischer« Natur waren. Als derartig »technisch-juristisch« mögen vielleicht einige stilistische Abänderungsanträge Kelsens gegolten haben: Während es bei den Beratungen zu Art. 1 B-VG zuletzt noch geheißen hatte, dass »[a]lle öffentlichen Gewalten […] vom Volke eingesetzt und in seinem Namen ausgeübt« werden,402 so erwirkte Kelsen eine Änderung dahingehend, dass nicht alle »Gewalt«, sondern alles »Recht« vom Volk ausgehe.403 Dies war für ihn eine notwendige Konsequenz aus seiner rechtstheoretischen Einsicht, dass die Souveränität kein Faktum, sondern ein rechtliches Phänomen sei.404 Von großer politischer Bedeutung war demgegenüber Kelsens Lösungsvorschlag für die Zusammensetzung des Bundesrates: Da die einzelnen Bundesländer von sehr unterschiedlicher Größe waren – das kleinste Land, Vorarlberg, besaß nicht einmal ein Zehntel der Einwohnerzahl Wiens405 –, war für die Sozialdemokraten der Vorschlag, dass jedes Land gleich viel Stimmen haben solle, unannehmbar; für die Christlichsozialen war aber eine rein proportionale Stimmgewichtung nicht akzeptabel, weil dies dem »Roten Wien« eine zu große Stellung im Bundesrat gegeben hätte. Verschiedene vermittelnde Vorschläge hatten keine allgemeine Zustimmung gefunden. In der Sitzung des Verfassungsunterausschusses vom 18. August schlug Kelsen vor, es sei prinzipiell »am Proporzgedanken festzuhalten, bei Festsetzung der Ziffer aber mit dem größten Lande zu beginnen, die übrigen verhältnismäßig zu verteilen, wobei jedoch jedes Land mindestens drei Vertreter erhalten müßte.«406 Erst diese Idee fand breite Zustimmung und ging auch in den endgültigen Verfassungstext ein; die entsprechende Regelung (Art. 34 B-VG) ist bis heute aufrecht. Da das größte Land maximal zwölf Stimmen erlangen konnte, war und ist Wien407 im Bundesrat lediglich viermal (statt zehnmal) so stark wie Vorarlberg vertreten. Besonderes Augenmerk verdient schließlich der Abschnitt des B-VG über die Verfassungsgerichtsbarkeit. Hier schrieb Kelsen später in seiner Autobiographie, dass ihm dieser Abschnitt am meisten bedeutete und dass er ihn »als [s]ein persoenlichstes Werk betrachtete«, sowie vor allem, dass dieser Abschnitt »in den parlamentarischen 402 So der Linzer Entwurf und der Renner-Mayr-Entwurf, jeweils Art. 1, vgl. Ermacora, Quellen (1967) 106, 193; Walter, Entstehung (1984) 21. 403 Ermacora, Quellen (1967) 472. Schon bei anderer Gelegenheit hatte Kelsen erklärt, dass »man prinzipiell bestrebt gewesen [sei], das Wort Gewalt zu vermeiden«: Ermacora, Quellen (1967) 353. 404 Vgl. insbesondere Kelsen, Souveränität (1920) 36 = HKW IV, 306, sowie auch Öhlinger, Kelsen (2008) 408 f., der darauf hinweist, dass die Formulierung des Art. 18 Abs. 1 B-VG (»Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden«) unmittelbar auf Kelsen zurückgeht, vgl. Ermacora, Quellen (1967) 477. 405 Vgl. dazu schon oben 282. 406 Ermacora, Quellen (1967) 308. 407 Die vollständige Trennung Wiens von Niederösterreich erfolgte zwar erst 1922, doch galten Wien und Niederösterreich, soweit es den Bundesrat betraf, von Anfang an als zwei selbständige Länder: Art. 34 Abs. 2 B-VG 1920.
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Verhandlungen ueberhaupt keine Aenderung erfahren« hatte.408 Eine derartige Behauptung ist nicht bloß eine Übertreibung, sondern schlicht und einfach falsch; vielmehr waren die Kelsen-Entwürfe gerade in Hinblick auf die Kompetenzen des VfGH sehr oft und tiefgreifend verändert worden, was hier anhand seiner wichtigsten Kompetenz, der Prüfung von Gesetzen, gezeigt werden soll:409 Kelsens Entwürfe hatten diesbezüglich übereinstimmend bestimmt, dass (nur) die Bundesregierung Landesgesetze wegen »Bundesgesetzwidrigkeit« beim VfGH anfechten können sollte, und zwar zeitlich unbegrenzt, d. h. im Gegensatz zur bisherigen Rechtslage auch dann, wenn die Landesgesetze schon in Kraft waren; ein stattgebendes Erkenntnis sollte zur Kassation des Landesgesetzes führen. Diese »Bundesgesetzwidrigkeit« korrespondierte jener anderen bereits erwähnten Bestimmung, wonach Bundesrecht Landesrecht breche.410 Ein derartiger Vorrang des Bundes vor den Ländern konnte im Zuge der weiteren Debatten nicht beibehalten werden; bereits erwähnt wurde der »Falser-Entwurf«, der keinen Vorrang des Bundesrechtes, dafür aber ein wechselseitiges Prüfungsrecht von Bundes‑ und Landesgesetzen durch die jeweils andere Regierung vorsah. Auch Renner hatte eine derartige Regelung – und zwar unabhängig von Falser – überlegt, sie ging dann in praktisch alle nachfolgenden Entwürfe wie v. a. den »Linzer Entwurf« und den »Renner-Mayr-Entwurf« ein.411 Diese beiden Entwürfe enthielten auch noch die abgeschwächte Formulierung, dass »im Zweifel« das Bundesrecht dem Landesrecht vorgehe, was dann im Verfassungsunterausschuss heftig kritisiert wurde. Kelsen allerdings hielt diese Bestimmung nunmehr für »entbehrlich, da ja ein Gerichtshof für solche Streitfälle vorgesehen sei, sodaß der Grundsatz ›Reichsrecht (sic) bricht Landesrecht‹ durch gerichtliche Garantie gesichert sei«412 – ein offensichtlicher Irrtum, da der VfGH nunmehr Landesgesetze nicht mehr schlicht wegen Bundesrechtswidrigkeit, sondern nur mehr wegen Verfassungswidrigkeit prüfen können sollte! Die Bestimmung »Bundesrecht bricht Landesrecht« wurde jedenfalls gestrichen.413 Was also die heute als sog. abstrakte Normenkontrolle bezeichnete Befugnis des VfGH betrifft, auf Antrag der Bundesregierung Landesgesetze oder auf Antrag einer 408 Kelsen,
Autobiographie (1947) 27 = HKW I, 67. Ebenso Hans Kelsen, Interview mit Hans Klecatsky v. 2. 5. 1968. 409 Es kann im gegebenen Zusammenhang nicht die gesamte Entwicklungsgeschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit dargestellt werden; dies wurde schon mehrfach getan, vgl. zu den übrigen Kompetenzen etwa Schmitz, Constitutional Court (2003) 256–261. Siehe auch Wiederin, Verfassungsgerichtshof (2014), der 298–301 zu Recht die Bedeutung der Entwicklung der Verordnungsprüfung für die Entwicklung der Gesetzesprüfung hervorhebt. 410 Schmitz, Vorentwürfe (1981) 138 f., 300 f. 411 Walter, Entstehung (1984) 267. 412 Kelsen in der 5. Sitzung des Verfassungsunterausschusses vom 17. 8. 1920, Ermacora, Quellen (1967) 303; vgl. Haller, Prüfung von Gesetzen (1979) 54; Schmitz, Constitutional Court (2003) 255. 413 Vgl. auch die nochmalige Debatte in der 14. Sitzung des Verfassungsunterausschusses vom 13. 9. 1920, Ermacora, Quellen (1967) 427, wo auch Bauer und Seipel offenbar der Meinung sind, dass sich der Vorrang des Bundesrechts auch implizit aus der Verfassung ableiten lasse.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Landesregierung Bundesgesetze zu überprüfen, ohne dass es eines konkreten Anlassfalles bedarf, so ist festzuhalten, dass Renner und Falser einen mindestens ebenso großen Anteil an ihr hatten wie Kelsen.414 Doch wäre es vorschnell, hier halt zu machen und Kelsens Bedeutung für die Entstehung der Verfassungsgerichtsbarkeit insgesamt gering zu schätzen: Die abstrakte Normenkontrolle, so hoch ihre theoretische Bedeutung auch sein mag, spielt in der verfassungsgerichtlichen Praxis ja kaum eine Rolle; wesentlich interessanter erscheint die Frage, woher das Recht stammt, dass auch bestimmte Gerichte, insbesondere der VfGH selbst, auf Grund eines konkreten Anlassfalles ein Gesetzesprüfungsverfahren einleiten können (sog. konkrete oder inzidente Normenkontrolle). Es wurde schon oben415 festgehalten, dass der erste der sechs Kelsen-Entwürfe ein derartiges Recht noch nicht enthielt; erst die Entw II–VI gaben den Gerichten (und zwar allen Gerichten) das Recht, Landesgesetze wegen »Bundesgesetzwidrigkeit« beim VfGH anzufechten. Ob Kelsen diese Änderung aus eigenem Antrieb oder auf Anregung, etwa von Renner, vornahm, ist unbekannt. Sie wurde jedenfalls im Zuge der weiteren Verfassungsarbeiten wieder gestrichen.416 Erst 1929 erhielten OGH und VwGH das Recht, Gesetze vom VfGH auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfen zu lassen, und es dauerte bis 2015,417 bis dieses Recht auf alle österreichischen Gerichte ausgedehnt wurde, mithin der Stand der Kelsen-Entwürfe II–VI wieder erreicht war. Aber in anderer Hinsicht konnte Kelsen einen großen Erfolg für sich verbuchen: In der Sitzung des Verfassungsunterausschusses vom 31. August stellte der sozialdemokratische Abgeordnete Karl Leuthner »[i]m Sinne einer […] Anregung Prof. Dr. Kelsens« den Antrag, eine Bestimmung in das B-VG aufzunehmen, wonach der VfGH seine Zuständigkeit zur Gesetzes‑ und Verordnungsprüfung »auch von amtswegen [sic]« wahrnehmen könne. Kelsen sekundierte Leuthner sogleich und hob hervor, dass der VfGH mit dieser Bestimmung »ein objektiver Wahrer der Verfassung werden könnte«, man könne z. B. einen Verfassungsrichter zu einem »Bundesanwalt« machen und ihn ermächtigen, die Verfassungsmäßigkeit der Bundes‑ und Landesgesetze und Verordnungen »ständig zu überprüfen.« Doch konnten Kelsen und Leuthner nicht die Mehrheit der Ausschussmitglieder auf ihre Seite ziehen; der Antrag wurde abgelehnt.418
414 Stourzh,
Hans Kelsen (1989) 332. 277. 416 Die Edition des »Privatentwurfs Mayr« bei Ermacora, Entstehung IV (1990) 356 enthält eine bemerkenswerte Fußnote, in der diese Eliminierung explizit angeordnet wird; die Edition von Schmitz, Vorentwürfe (1981) 213, enthält diese Fußnote nicht. Die Editionsarbeit Ermacoras macht es leider unmöglich, festzustellen, von wem diese Anmerkung gemacht wurde. 417 Verfassungsnovelle 2013 BGBl I 114, in Kraft seit 1. 1. 2015. 418 Ermacora, Quellen (1967) 420 f. Vgl. Haller, Prüfung von Gesetzen (1979) 55; Wiederin, Verfassungsgerichtshof (2014) 295 f. – Fast ein halbes Jahrhundert später berief sich Christian Broda auf Kelsens seinerzeitige Vorschläge, als er mit Erfolg die Einführung eines Volksanwaltes, eines Ombudsmanns für Missstände in der Verwaltung, propagierte: Wirth, Broda (2011) 367. 415 Oben
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Kelsen gab nicht auf: Am 14. September brachte er den »Antrag des Abgeordneten Leuthner« neuerlich zur Sprache und insistierte, dass er »aus technischen Gründen notwendig sei«. Hierauf berichtete Otto Bauer von den Parteienverhandlungen, in denen man übereingekommen sei, dass der VfGH nicht dort als Richter auftreten dürfe, wo kein Kläger existiere. Anderes gelte für den Fall, dass »der Verfassungsgerichtshof im Verlaufe eines Verfahrens auf eine andere Verordnung oder auf ein Gesetz stößt, die verfassungswidrig sind«: Diesfalls »könne man ihm das Recht nicht nehmen, unter einem auch hierüber zu entscheiden.«419 Damit war die entscheidende Weiche gestellt: Einen »objektiven Wahrer der Verfassung« mit uneingeschränkter – und damit unkontrollierbarer – Prüfungskompetenz sollte es nicht geben, wohl aber eine inzidente Normenkontrolle, ähnlich wie es die USA schon seit über hundert Jahren kannten. Ähnlich, aber nicht gleich: Denn die inzidente Normenkontrolle sollte lediglich einem einzigen Gerichtshof, dem VfGH, zukommen, und da die Verfahrensgrundsätze für inzidente und abstrakte Normenkontrolle die gleichen waren, so sollte auch im Falle einer inzidenten Normenkontrolle das verfassungswidrige Gesetz erst mit Rechtskraft des verfassungsgerichtlichen Erkenntnisses aufgehoben sein.420 Bewirkt wurde dies alles in der allerletzten Sitzung des Verfassungsausschusses, als es, wie erwähnt, nur mehr um eine »technische« Lesung des B-VG ging. Mehrere »Abänderungsvorschläge des Gesetzgebungsdienstes der Staatskanzlei« sowie auch »des Experten des Unterausschusses« – also Kelsens – wurden eingebracht; danach sollte die Bestimmung über die Gesetzesprüfung folgenden Wortlaut haben: »Der Verfassungsgerichtshof erkennt über Verfassungswidrigkeit von Landesgesetzen auf Antrag der Bundesregierung, über Verfassungswidrigkeit von Bundesgesetzen auf Antrag einer Landesregeriung, sofern aber ein solches Gesetz die Voraussetzung eines Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes bilden soll, von Amts wegen.«421
Die Bestimmung wurde ohne weitere Diskussion angenommen. »Das war kein Wunder: Wir schreiben den 23. September 1920 und befinden uns am Ende der allerletzten Sitzung, alle sind müde, es gibt Wichtigeres zu tun.«422 Auch im Verfassungsausschuss und im Plenum gab es zu dieser Bestimmung keine Diskussion; er wurde als Art. 140 Abs. 1 B-VG zum Beschluss erhoben. Und dies war der reichlich unspektakuläre Beginn des später weltweit bewunderten »österreichischen Modells« der Normenkontrolle. 419 Kelsen und Bauer in der 15. Sitzung des Verfassungsunterausschusses vom 14. 9. 1920, Ermacora, Quellen (1967) 445. 420 Dazu Kelsen, Judicial Review (1942); Wiederin, Verfassungsgerichtshof (2014) 302. 421 Ermacora, Quellen (1967) 495. Nach Grussmann, Merkl (1989) 256, sowie, ihm folgend, Schmitz, Constitutional Court (2003) 256, Wiederin, Verfassungsgerichtshof (2014) 296 f., stammt die endgültige Formulierung nicht von Kelsen, sondern von Merkl. 422 Wiederin, Verfassungsgerichtshof (2014) 296. Nicht zugestimmt werden kann den Ansichten von Wiederin, ebenda 297 und Öhlinger, Kelsen (2008) 412, wonach die Politiker die Tragweite dieser Bestimmung nicht erkannten: Die Wortmeldung Bauers lässt vielmehr darauf schließen, dass das Problem bei den Parteienverhandlungen durchaus erkannt und intensiv diskutiert wurde.
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4. Demokratie und Sozialismus Kelsen sah es bei den Arbeiten an der Bundesverfassung als seine Aufgabe an, »die mir gegebenen politischen Prinzipien in einer rechtstechnisch moeglichst einwandfreien Weise zu kodifizieren und dabei wirksame Garantien fuer die Verfassungsmaessigkeit der Staatsfunktion einzubauen.«423 Daher spiegeln weder die Kelsen-Entwürfe noch gar der fertige Verfassungstext Kelsens eigene demokratiepolitische Ansichten wider,424 und insofern ist es unzutreffend, ihn – wie vielfach geschehen – als den »Autor«, gar als den »Vater« der Bundesverfassung zu bezeichnen. Seine Rolle war vielmehr die eines Architekten, der die Wünsche seiner Bauherren nach einem Haus, welches diese und jene Funktionen erfüllen sollte, in konkrete Baupläne umwandelte, die nicht nur die Wünsche der Bauherren befriedigten, sondern vor allem auch allen Anforderungen der Technik genügten.425 Kelsens eigene politische Ansichten manifestierten sich – abgesehen von seinen schon 1918 entwickelten Gedanken zum demokratischen Wahlrecht – erstmals in einem Vortrag, den er am 5. November 1919 vor der Wiener Juristischen Gesellschaft hielt und aus dem später auch eine seiner berühmtesten und bedeutendsten Schriften, »Vom Wesen und Wert der Demokratie« hervorging. Diese erschien 1920, im Jahr der Beschlussfassung des B-VG, sowohl als Zeitschriftenaufsatz als auch als eigenständige Broschüre.426 1929, nicht eben zufällig im Jahr der Beschlussfassung der bis dahin bedeutendsten Abänderung des B-VG, erschien eine zweite, stark erweiterte und vom Inhalt der 1920 erschienenen Schrift auch mitunter deutlich divergierende Auflage. So vertrat Kelsen in der ersten Auflage noch einen radikaldemokratischen Ansatz, der u. a. das konstitutionelle Prinzip der Gewaltenteilung als mit der Demokratie nicht vereinbar ansah und dafür deutliche Sympathie mit dem (gewaltenverbindenden) 423 Kelsen, Autobiographie (1947) 27 = HKW I, 66. Ebenso Hans Kelsen, Interview mit Hans Klecatsky v. 2. 5. 1968. 424 Dies missachtet insbesondere auch Schmitz, Vorentwürfe (1981) 109–112, wenn er Kelsen dessen antiföderalistische Haltung ankreidet: Die Stärkung der Zentralgewalt war – nach dem bei Schmitz, Vorentwürfe (1981) 44 selbst abgedruckten Brief Kelsens an Schärf (vgl. oben Anm. 305) – eine jener Direktiven, die der Staatskanzler dem Professor aufgab. 425 Viel später betonte Kelsen selbst, dass es die wichtigste Aufgabe eines Juristen sei, dem Gesetzgeber beim Finden von geeigneten Formulierungen für Rechtsnormen zu assistieren: Kelsen, Law of the United Nations (1950) XIII. Vgl. auch Merkl, Kelsen als Verfassungspolitiker (1931). 426 Der Inhalt des Vortrages vom 5. 11. 1919 ist wohl am getreulichsten in dem am 30. 11. 1919 erschienenen Heft der »Juristischen Blätter« abgedruckt; vgl. den ND in HKW IV, 199–208. Er basierte offenbar auf einem wesentlich längeren Manuskript, an dem Kelsen schon vorher gearbeitet haben dürfte, und von dem eine gekürzte Version in zwei Nummern der Zeitschrift »Gerichtshalle« erschien, der erste Teil zeitgleich mit den »Juristischen Blättern« am 30. 11., der zweite Teil am 28. 1 2. 1919: Kelsen, Demokratie (1919) = HKW IV, 175–198. Der Volltext erschien 1920 als Aufsatz im »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« (Verlag Mohr Siebeck) sowie auch als bibliographisch selbständige Schrift im selben Verlag: Kelsen, Demokratie (1920) = VdD 1–33. Die Versionsgeschichte ausführlich dargestellt von Jestaedt in HKW IV, 705–715, eine synoptische Darstellung von Kelsen, Demokratie (1919) und Kelsen, Demokratie (1920) in HKW IV, 716–759. Zum Inhalt des Vortrages vgl. R athkolb, Demokratiegeschichte (2017) 77.
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Rätesystem erkennen ließ, das er als »echteste Demokratie« bezeichnete,427 auch wenn er schon damals die praktische Undurchführbarkeit dieses Gedankens klar erkannte. In der zweiten Auflage rückte er von diesen Ideen wieder ab, worauf an entsprechender Stelle noch zurückzukommen ist. Kelsens Begründung der Demokratie war deutlich von Rousseau428 und dessen Lehre vom Gesellschaftsvertrag geprägt, wonach die Menschen ihre »ursprüngliche Freiheit« gegen eine »bürgerliche Freiheit« eingetauscht hätten. Aber das Modell vom Gesellschaftsvertrag – das er ja schon 1911 in seinen »Hauptproblemen« von rechtstheoretischer Seite her verworfen hatte429 – vermochte ihn auch aus demokratietheoretischer Sicht nicht zu befriedigen: »Urzeugung der Rechtsordnung oder des Staatswillens kommt ja in der sozialen Erfahrung so gut wie überhaupt nicht in Betracht. Man wird doch zumeist in eine fertige Staatsordnung hineingeboren, an deren Entstehung man nicht mitgewirkt hat, und die einem daher von Anfang an als fremder Wille entgegentreten muß. Nur die Fortbildung, die Abänderung dieser Ordnung steht in Frage.«430 Kelsens demokratietheoretische Überlegungen unterschieden sich schon im Ansatz deutlich von älteren Theorien dieser Art: Es ging ihm nicht um die Entwicklung theoretischer Konzepte für einen utopischen Staat, sondern um die Rechtfertigung jener real existierenden Staatsform, die sich Österreich und Deutschland 1918 gegeben hatten.431 Aber doch war auch für Kelsen die Idee der Freiheit der Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Frei sei derjenige, der »keinem andren als seinem eigenen Willen untertan« sei.432 Daher müsse die Aufrichtung einer staatlichen Ordnung nach dem Prinzip der Einstimmigkeit erfolgen. Aber für die Abänderung – auf die es ja, wie gezeigt, viel mehr ankomme – könne dies nicht gelten: Denn dann könne ein Einziger verhindern, dass der Wille aller übrigen durchgesetzt werde. Damit Freiheit auch bei der Abänderung der staatlichen Ordnung bestmöglich gewahrt sei, müsse diese Abänderung so einfach wie möglich erfolgen können. Nicht mit Einstimmigkeit, nicht mit qualifizierter Mehrheit, sondern mit einfacher Mehrheit müssten neue Gesetze beschlossen werden können.433 So leitete Kelsen das Majoritätsprinzip nicht – wie 427 Kelsen, Demokratie (1920) 16 = VdD 13. Vgl. Gassner, Kelsen und die sowjetische Rechtslehre (2016) 149. 428 Abgesehen von Rousseau werden kaum Klassiker der Demokratietheorie zitiert. Mehrfach findet Lenin Erwähnung (dazu noch unten), einmal auch Max Weber; an damals moderner demokratietheoretischer Literatur werden drei 1912 veröffentlichte Bücher herangezogen, und zwar die Darstellungen des russisch-deutschen Kulturphilosophen David Koigen (1879–1933), des Kieler Staatswissenschaftlers Wilhelm Hasbach (1849–1920) sowie des schwedischen Soziologen Gustaf Frederik Steffen (1864–1929). 429 Siehe oben 131. 430 Kelsen, Demokratie (1920) 8 f. = VdD 6. 431 Vgl. zur Historizität von Kelsens Demokratietheorie auch Herrera, Kelsen als Demokrat (2014) 100. 432 Kelsen, Demokratie (1920) 5 = VdD 3. 433 In einer Fußnote bezieht Kelsen dies ausdrücklich auch auf qualifizierte Mehrheiten für Verfassungsänderungen, die er gleichfalls als »nicht demokratisch« bezeichnet: Kelsen, Demokratie (1920) 10 = VdD 7.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
zuvor vielfach geschehen – aus dem Prinzip der Gleichheit, sondern aus dem Prinzip der Freiheit ab.434 Von Rousseau wie auch von Lenin beeinflusst war Kelsen bei der Ansicht, dass – zumindest vom theoretischen Standpunkt aus – die unmittelbare Demokratie der mittelbaren Demokratie vorzuziehen sei. So wie schon in seinen »Hauptproblemen« äußerte Kelsen auch in »Wesen und Wert der Demokratie« die Überzeugung, dass es sich bei der Vorstellung, die Parlamentarier seien Vertreter des Volkes, um eine »Fiktion« handle. Und die »Fiktion einer Fiktion« sei es, wenn die angeblichen Volksvertreter nicht an die Aufträge ihrer Wähler gebunden seien, sondern ein freies Mandat besäßen.435 Doch sei der Grundsatz der unmittelbaren Demokratie praktisch undurchführbar. Und damit mache die Freiheit eine weitere »Metamorphose« durch: An die Stelle der Freiheit des Einzelnen trete die Freiheit des Staates, der durch seine Organe handle. Ihnen sei der Einzelne unterworfen. Und doch sei auch die repräsentative Demokratie jeder anderen Staatsform vorzuziehen, weil sie die bestmögliche »Führerauslese« garantiere.436 In seiner 1920 erschienenen Schrift begründete er diese Behauptung nur knapp damit, dass die Führerschaft in der Demokratie in einen öffentlichen Wettbewerb gestellt werde; gerade hier sollte er 1929 noch eine Reihe weiterer Argumente liefern.437 Seine Repräsentationsaufgabe könne das Parlament am besten erfüllen, wenn es aufgrund eines Verhältniswahlrechts zusammengesetzt sei, meinte Kelsen und begründete dies im Wesentlichen mit denselben Argumenten, ja denselben Worten wie in seinem Aufsatz von 1918 über das »Proportionalsystem«. Aus der Befürwortung der Proportionalität erklärte sich aber auch Kelsens Befürwortung eines radikal-parlamentarischen Systems gegenüber einer präsidentiellen Demokratie. »Denn wenn dem nach Millionen zählenden Volke der Wähler nur ein einziger als Gewählter gegenübersteht, dann muß der Gedanke einer Repräsentation des Volkes den letzten Schein von Berechtigung verlieren.«438 Und ebenso lehnte Kelsen den aus dem Konstitutionalismus stammenden Grundsatz der Gewaltentrennung für die Demokratie ab. »Nur theoretische Kurzsichtigkeit oder politische Absicht konnte das Prinzip der Trennung der Gewalten als ein demokratisches ausgeben.«439 Die Gewaltentrennung sicherte im Konstitutionalismus dem Monarchen seinen weitgehend uneingeschränkten Zugriff 434 Dreier,
Idee und Gestalt (2014) 141. Kelsen schloss sich mit dieser Kritik sowohl Rousseau als auch Lenin an, die er beide zitierte; vgl. Kelsen, Demokratie (1920) 6 (Rousseau), 16 (Lenin) = VdD 4, 13. Beachte hierzu auch seine Ausführungen in Kelsen, Sozialismus und Staat (1920) 117. 436 Kelsen, Demokratie (1920) 29 = VdD 24. Zur Verwendung der Begriffe »Führer« und »Führerauslese« vgl. noch unten 463. Zu den Metamorphosen der Freiheit bei Kelsen siehe Dreier, Joh 18 (2009) 25; Herrera, Kelsen als Demokrat (2014) 96. 437 Kelsen, Demokratie (1929) 78–92 = VdD 210–220. 438 Kelsen, Demokratie (1920) 13, 20 = VdD 10, 16. 439 Kelsen, Demokratie (1920) 19 = VdD 15. Beachte auch hier wieder die komplementären Äußerungen in Kelsen, Sozialismus und Staat (1920) 117 f., wo die gewaltenverbindenden Elemente der Sowjetverfassung ausdrücklich gelobt werden. Vgl. auch Ehs, Verfassungsgerichtsbarkeit (2017) 142. 435
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auf die Exekutive, während das Volk fast ganz auf die Legislative beschränkt blieb. Dies war nur möglich, so Kelsen, weil man annahm, dass nur die Legislative Recht erzeuge, Exekutive und Judikative dagegen Recht nur vollziehen, weil man das Wesen vom Stufenbau der Rechtsordnung noch nicht erkannte. Auch hier wieder zeigen sich Querverbindungen zwischen Kelsens politischer Theorie und seiner Rechtstheorie! Die »völlige Demokratisierung des Staates« könne nach Kelsen nur erfolgen, wenn auch die Verwaltung demokratisiert werde. Abermals verwies Kelsen auf Sowjetrussland, wo Lenin versucht hatte, die alten bürokratischen Strukturen zu beseitigen und die Verwaltung unmittelbar den Räten anzuvertrauen.440 »Womöglich nur gewählte Ehrenbeamte mit kurzer Funktionsperiode oder Berufung der öffentlichen Funktionäre durch das Los, wenn nicht gar die Bestimmung eines festen Turnus, nach dem jeder Bürger durch eine gewisse Zeit jede staatliche Funktion auszuüben hat« – das war auch nach Kelsens Vorstellungen jene Art von Verwaltung, die ein vollständig demokratisierter Staat haben müsse. Aber zugleich bekannte er ein, dass eine solche Verwaltung zum »Primitivismus« führen müsse: Der einfache Bürger, der nur für kurze Zeit und nur neben seiner Erwerbstätigkeit zu Verwaltungstätigkeiten herangezogen werde, besitze nicht das Fachwissen eines geschulten Beamten. Und so habe auch Lenin »angesichts der völligen Auflösung der Produktion« von diesen demokratischen, aber undurchführbaren Konzepten wieder abweichen und diktatorische Elemente einführen müssen, was einem völligen »Zusammenbruch der bolschewistischen Theorie« gleichkomme.441 Schon aus dem Bisherigen wird deutlich, dass sich Kelsen gerade in jenen Jahren des Umbruchs intensiv mit jener radikalen Form des Sozialismus auseinandersetzte, die in Russland an die Macht gekommen war, und dass Kelsen gerade aus dem Widerspruch zu Marx, Engels und Lenin einen Gutteil seiner eigenen Vorstellungen von der Demokratie schöpfte. Praktisch gleichzeitig442 mit seiner Schrift »Vom Wesen und Wert der Demokratie« veröffentlichte Kelsen daher eine fast dreimal so umfangreiche »Untersuchung der politischen Theorie des Marxismus«, die er »Sozialismus und Staat« benannte.443 Diese Schrift war, so wie etwa auch die »Hauptprobleme« oder die »Souveränität«, so aufgebaut, dass Kelsen erst in einer gründlichen Auseinandersetzung mit den Thesen des »Gegners« zu seinen eigenen Überlegungen kam. Denn anders als »Vom 440 Vgl.
dazu Pircher, Staatsapparat (2005) 291.
441 Kelsen, Demokratie (1920) 26 = VdD 21. Vgl. auch Kelsen, Sozialismus und Staat (1920) 122.
442 Aus Kelsen, Demokratie (1920) 25 Anm 29 = VdD 21, wo er auf Kelsen, Sozialismus und Staat (1920) 44 ff. verweist, ergibt sich, dass diese Schrift noch vor jener erschienen sein muss. »Sozialismus und Staat« baut wiederum auf einer kürzeren Arbeit über »[d]ie ökonomische und die politische Theorie des Marxismus« auf, die im April 1920 im »österreichischen Volkswirt« erschienen war. Vgl. zu dieser heute nahezu unbekannten Schrift eingehend Gassner, Kelsen und die sowjetische Rechtslehre (2016) 147 f. 443 Kelsen, Sozialismus und Staat (1920). Die Arbeit erschien sowohl als Aufsatz in dem von Carl Grünberg herausgegebenen »Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung« als auch als Separatum.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Wesen und Wert der Demokratie« war Kelsens Arbeit über »Sozialismus und Staat« nur zu einem Teil eine politische Auseinandersetzung, zu einem ebenso wichtigen Teil rechtstheoretischer Natur. War Kelsen hier ein Methodensynkretismus unterlaufen? Keineswegs. Vielmehr schien Kelsen zu diesem Weg gezwungen, da ja Marx und Engels versucht hatten, aus der politischen Bewegung des Sozialismus eine Wissenschaft zu machen, und damit Werte für Wirklichkeiten ausgegeben hatten.444 Die Errichtung des proletarischen Klassenstaates ist daher nach Kelsen keine »naturnotwendige Entwicklung«, wie dies Marx vorgegeben hatte, sondern ein politisches Ziel der Sozialisten, ein vorläufiges Ziel, weil am Ende ja die Aufhebung aller Klassengegensätze stehen müsse, mit denen der Staat dann überhaupt »absterbe«. Kelsen qualifizierte dies als eine »individualistisch-anarchische« Zukunftsperspektive, die umso bemerkenswerter sei, als sich der Marxismus stets scharf von Anarchisten abgegrenzt habe.445 Die These vom Absterben des Staates war nur vor dem Hintergrund des marxistischen Staatsbegriffes verständlich, der im Staat – offenbar ausschließlich – ein Instrument zur Ausbeutung der Arbeiterklasse sah und für den kein Bedarf mehr bestünde, wenn alle Produktionsmittel in der Hand der Gesellschaft seien. Kelsen musste einer derartigen Behauptung – vor dem Hintergrund seines eigenen Staatsverständnisses – auf das Heftigste widersprechen.446 Dabei wies er auch darauf hin, dass die These vom Absterben des Staates durchaus nicht allgemein anerkannt unter den sozialdemokratischen Parteien sei, dass etwa die deutsche Sozialdemokratie den Staat durchaus bejahe und dass der Österreicher Karl Renner sogar »in die erste Reihe jener sozialistischen Schriftsteller [gehöre], die den Staat als ein unentbehrliches Mittel sozialer Technik erkennen und dieser Erkenntnis unumwunden Ausdruck geben.«447 Die These vom Absterben des Staates stand nach Kelsen aber auch im Widerspruch zu anderen Behauptungen von Marx und Engels, wonach sie die kapitalistische Wirtschaftsordnung als »anarchisch« kritisiert und eine Zentralisierung und Rationalisierung der Wirtschaft gefordert hatten: Derartiges sei nur mit einer Zwangsordnung – nach Kelsen: einer staatlichen Ordnung – möglich.448 Die staatliche Ordnung, die Lenin auf dem Boden des ehemaligen Zarenreiches errichtet hatte, war nach Kelsen – theoretisch – »radikaler Demokratismus«. Indem die Arbeiter vermittelst ihrer Arbeiterräte sogar an der Leitung der einzelnen Wirtschaftsbetriebe beteiligt wurden, wurde auch die Wirtschaft demokratisiert – Kelsen meldete freilich Zweifel an, dass eine derartige Wirtschaftsverfassung der Produktivität 444 Kelsen, Sozialismus und Staat (1920) 3. Dieser Punkt wird auch schon bei Kelsen, Marxismus (1920) 560 kritisiert. 445 Kelsen, Marxismus (1920) 560 f.; Kelsen, Sozialismus und Staat (1920) 20; vgl. Gassner, Kelsen und die sowjetische Rechtslehre (2016) 148. 446 Vgl. Pircher, Staatsapparat (2005) 279. 447 Kelsen, Sozialismus und Staat (1920) 67. Vgl. dazu Leser, Hans Kelsen und Karl Renner (1978) 48; Potacs, Marxismus (2014) 86; Nasko, Karl Renner (2016) 210. 448 Kelsen, Marxismus (1920) 560 f. Vgl. zum unterschiedlichen Staatsbegriff von Marx und Kelsen Pfabigan, Hans Kelsens und Max Adlers Auseinandersetzung (1978) 69.
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2. Kapitel: Das Bundes-Verfassungsgesetz
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förderlich sei. Und auch all jene Maßnahmen, die Lenin in bewusstem Gegensatz zum westlichen Parlamentarismus getroffen hatte – »die kurze Mandatsdauer, die Möglichkeit jederzeitiger Abberufung der in die verschiedenen Sowjets vom Volke Abgeordneten und die damit verbundene völlige Abhängigkeit von den Wählern, der innige Kontakt mit dem Urmaterial des Volkswillens – [sei] echteste Demokratie.«449 Freilich stehe diesem Vorteil der Nachteil gegenüber, dass der Volkswille erst mehrfach »gebrochen« an die Staatsspitze gelange, weil es keine direkten Wahlen zu einer gesamtstaatlichen Räteversammlung, sondern »mehrere Schichten pyramidisch übereinander aufgetürmter Vertretungskörper« gebe.450 Höchsten Respekt zollte Kelsen dem Artikel 20 der sowjetrussischen Verfassung von 1918, wonach auch Ausländer, die sich zu Arbeitszwecken in Russland aufhalten, der politischen Rechte teilhaft sein sollten. »Allein die Einschränkungen des demokratischen Prinzips sind nach anderer Richtung um so empfindlicher.«451 Denn eine Reihe von Personen – u. a. solche, die Lohnarbeiter anstellten – waren vom Wahlrecht ausgeschlossen, obwohl sie Tätigkeiten ausübten, die nicht nur erlaubt, sondern, zumindest für eine Übergangszeit, zum Funktionieren der Wirtschaft notwendig waren. Kelsen sparte nicht mit Kritik an den praktischen Auswirkungen, die die Entrechtung der Bourgeoisie in Russland zur Folge gehabt hatte, und kam, dem deutschen Sozialdemokraten Karl Kautsky452 folgend, zum Schluss, dass das in Sowjetrussland bestehende System nicht, wie von Lenin behauptet, »die höchste Form der Demokratie«, sondern »in Wahrheit ›die Diktatur einer Partei‹ sei und schließlich – nach dem Zeugnis Lenins selbst – zur Diktatur einzelner Personen werden muß.«453 So kam Kelsen – sowohl am Ende seiner Schrift über »Wesen und Wert der Demokratie« als auch am Ende seiner Schrift über »Sozialismus und Staat« – zu dem Punkt, der den »höchsten Wert« der Demokratie zeige: Die Sowjetdiktatur beruhe auf einer bestimmten Ideologie, einem politischen Dogma, das als absoluter Wert hochgehalten werde. Die Demokratie dagegen schätze jede politische Meinung gleich ein, sie toleriere nicht nur eine Opposition zur jeweils regierenden Majorität, sondern setze diese sogar begrifflich voraus. Und insofern sei »[d]er Relativismus […] die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetze.«454 Und gleichsam um dieses Eintreten für die Demokratie durch einen Verweis auf das Buch der Bücher zu krönen, erzählte Kelsen ganz am Schluss seiner Untersuchung 449 Kelsen,
Demokratie (1920) 16, 17, 25 = VdD 13, 21.
450 Kelsen, Sozialismus und Staat (1920) 114. Vgl. Gassner, Kelsen und die sowjetische Rechts-
lehre (2016) 149. 451 Kelsen, Sozialismus und Staat (1920) 107. 452 Der bereits an anderer Stelle (oben 183) genannte Mitverfasser des Parteiprogramms der deutschen Sozialdemokratischen Partei von 1891 hatte 1918 in seiner Schrift »Die Diktatur des Proletariats« die Zustände in Sowjetrussland scharf kritisiert; Kelsen zitierte einen längeren Abschnitt dieser Schrift wörtlich. 453 Kelsen, Sozialismus und Staat (1920) 111. 454 Kelsen, Demokratie (1920) 36 = VdD 31. Vgl. dazu auch Hanisch, Illusionist (2011) 239.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
über »Wesen und Wert der Demokratie« vom Verhör Jesu Christi durch Pontius Pilatus, wie es im Johannesevangelium berichtet wird. Dabei gab Kelsen aber der bekannten Geschichte eine neue Deutung: Als Jesus vor Pilatus bekennt, dass er in die Welt gekommen sei, damit er der Wahrheit Zeugnis gebe, sagte »Pilatus, dieser Mensch einer alten, müde und darum skeptisch gewordenen Kultur: Was ist Wahrheit? – Und weil er nicht weiß, was Wahrheit ist und weil er – als Römer – gewohnt ist demokratisch zu denken, appelliert er an das Volk und veranstaltet – eine Abstimmung.«455 Bei dieser Abstimmung aber sollen die Juden entscheiden, ob Pilatus Jesus oder den Räuber Barabbas freilassen soll; sie aber stimmen für Barabbas. »Vielleicht wird man, werden die Gläubigen, die politisch Gläubigen einwenden, daß gerade dieses Beispiel eher gegen als für die Demokratie spreche. Und diesen Einwand muß man gelten lassen; freilich nur unter einer Bedingung: Wenn die Gläubigen ihrer politischen Wahrheit, die, wenn nötig, auch mit blutiger Gewalt durchgesetzt werden muß, so gewiß sind, wie – der Sohn Gottes.«456 Horst Dreier hat es mit Recht als einen »bemerkenswerten Befund« festgehalten, »daß eine der wichtigsten Demokratiebegründungsschriften des 20. Jahrhunderts mit den Worten ›der Sohn Gottes‹ schließt.«457 Diese Tatsache ist umso erstaunlicher, als Kelsens Demokratieverständnis weniger auf die Christlichsozialen, als vielmehr auf die Sozialdemokraten einen großen Einfluss hatte: So wie Kelsen lehnte auch die SdAP ein Rätesystem nach sowjetrussischem Vorbild ab und bejahte das westlich-parlamentarische System mit Parteienpluralismus und Minderheitenschutz; und auch die Skepsis Kelsens gegenüber der Vorstellung, ein Präsident könne Repräsentant eines ganzen Volkes sein, korrespondierte mit der Forderung der Sozialdemokraten, auf ein eigenes Amt eines Bundespräsidenten überhaupt zu verzichten.458 Letzteres hatten sie zwar nach zähem Ringen den Christlichsozialen zugestehen müssen – aber ansonsten entsprach das Demokratiemodell des B-VG weitgehend den Vorstellungen der Sozialdemokraten und auch Kelsens, während es später, 1929, die bürgerlichen Parteien waren, die gegen den zähen Widerstand der Sozialdemokraten entscheidende Änderungen an diesem System vornehmen konnten, worüber noch zu berichten sein wird. Jedenfalls ist davon auszugehen, dass Kelsen in mindestens ebensolchem Maße wie durch seine praktischen Verfassungsarbeiten auch durch seine theoretischen Schriften zur Demokratie, die 1919 und 1920 erschienen, einen bedeutenden Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung des B-VG hatte.
455 Kelsen,
Demokratie (1920) 38 = VdD 32. Demokratie (1920) 38 = VdD 32 f. 457 Dreier, Joh 18 (2009) 14. 458 Owerdieck, Parteien und Verfassungsfrage (1987) 104 f. 456 Kelsen,
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2. Kapitel: Das Bundes-Verfassungsgesetz
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5. »Hans Kelsen – Verfassungsmacher« Doch war es vor allem Kelsens Verfassungsarbeit als Konsulent der Staatskanzlei, die im Gedächtnis der Österreicherinnen und Österreicher haften blieb. Dazu trugen natürlich auch Kelsens spätere rechtsdogmatische Schriften zu dieser Verfassung ganz wesentlich bei; hier sei v. a. der Kommentar zum B-VG erwähnt, der 1922 – als fünfter und letzter Band der »Verfassungsgesetze« – erschien und der bis heute in der österreichischen Jurisprudenz einen ähnlichen Stellenwert besitzt wie der 1811–1813 verfasste Kommentar Franz von Zeillers zum ABGB: Scheint es doch in beiden Fällen, als habe der »Autor« des Gesetzes dieses selbst kommentiert, womit das Kommentarwerk als »authentische Interpretation«459 im buchstäblichen Wortsinne angesehen werden kann. Inwieweit dies auf Zeiller zutrifft, soll hier nicht erörtert werden – bei Kelsen ist es, wie die vorstehenden Ausführungen gezeigt haben, sicherlich unzutreffend, ihn als den Autor des B-VG anzusehen, wohl aber zutreffend, als einen Mann, der – im Gegensatz zu Renner, Mayr, Falser, Bauer, Seipel, Danneberg oder sonst einem Politiker, die jeweils nur ein Stück des Weges mitgingen – die Verfassung von ihren ersten Plänen und Entwürfen über fast alle weiteren Stadien bis zur endgültigen Beschlussfassung begleitete. Kelsen war daher über die Bedeutung der einzelnen Artikel bestens im Bilde, und aus diesem Grund gibt das Kommentarwerk die Intentionen des Verfassungsgebers wohl tatsächlich recht zuverlässig wieder. Hervorhebenswert ist es allerdings auch, dass Kelsen ausgerechnet diesen Band der »Verfassungsgesetze« nicht alleine verfasste, sondern »in Verbindung mit Dr. Georg Froehlich und Dr. Adolf Merkl«.460 Auch diese beiden Juristen hatten hervorragenden Anteil an der Entstehung der Bundesverfassung, und es darf auch als Zeichen von menschlicher Größe gesehen werden, dass Kelsen sie hier nicht völlig in den Schatten stellen wollte.461 Dennoch blieb an Kelsen, wie bereits erwähnt, das Etikett des »Autors«, des »Vaters« der Verfassung hängen; angeblich wurde ihm nahegelegt, an seiner Wohnung ein Türschild mit der Aufschrift »Hans Kelsen – Verfassungsmacher« zu montieren.462 Und ebenso anekdotenhaft wirkt es, wenn Métall davon schreibt, dass »sogar einmal eine Verfassung bei Kelsen ›bestellt‹« wurde: Demnach sei eines Tages ein Vertreter der Freien Stadt Fiume zu Kelsen gekommen und habe ihn um eine Verfassung auch für seine Heimat gebeten. Kelsen habe diesen Wunsch zunächst nicht ernst 459 Also weder im Wortsinn der traditionellen Jurisprudenz noch in dem Sinne, den Kelsen selbst diesem Begriff gab: Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) 351. 460 Kelsen/Froehlich/Merkl, Verfassungsgesetze V (1922). Vgl. auch den Hinweis im Vorwort, wonach der damalige Landesregierungssekretär im Bundeskanzleramt und spätere Präsident des VfGH Ludwig Adamovich (sen.) das Sachregister erstellt hatte. 461 Die Mitautorenschaft von Froehlich und Merkl wurde von Kelsen in einem Brief an Herbert Schambeck v. 15. 3. 1968, HKI, Nachlass Merkl, ausdrücklich bestätigt. 462 Fischer, Überzeugungen (2006) 147; vgl. auch Métall, Kelsen (1969) 47.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
genommen und den Mann gefragt, ob er »eine Verfassung ›nach Maß oder in Konfektion‹« wünsche; erst später stellte sich heraus, dass das Ansinnen durchaus seriös war, weshalb Kelsen auch wirklich eine derartige Verfassung erstellte.463 Lange Zeit war es nicht klar, ob diese Anekdote auf irgendwelchen realen Fakten basierte.464 Erst kürzlich konnten zumindest einige Mosaiksteine zusammengetragen werden, aus denen sich folgendes Bild ergibt: Die Hafenstadt Fiume [Rijeka/HR] an der nordöstlichen Adriaküste war seit 1466 Teil der Habsburgermonarchie, seit 1867/68 Teil Ungarns; ihre Bevölkerung wies ein buntes Gemisch aus Italienern, Kroaten, Magyaren und anderen Nationalitäten auf. Dementsprechend chaotisch waren die Zustände, nachdem der letzte ungarische Statthalter im Oktober 1918 die Stadt verlassen hatte.465 Noch während sich Italien und der neu gebildete SHS-Staat auf der Pariser Friedenskonferenz um das Schicksal der Stadt stritten, hatten italienische Nationalisten den Dichter Gabriele D’Annunzio zu ihrer Gallionsfigur gemacht, Fiume im Handstreich erobert und ein Regime errichtet, das aber nicht von Dauer war. Nach einer kurzen kriegerischen Auseinandersetzung mit Italien musste D’Annunzio zurücktreten, und im April 1921 wurden Wahlen abgehalten, aus denen die »Autonomisten« unter Ricardo Zanella siegreich hervorgingen; für kurze Zeit übte Zanella nun eine demokratische Herrschaft über die Stadt aus, die – darauf hatten sich die Großmächte letztlich geeinigt – weder zu Italien noch zum SHS-Staat gehören, sondern einen souveränen Stadtstaat bilden sollte.466 D’Annunzio hatte im August 1920 eine Verfassung für Fiume erlassen, die – abgesehen von recht originellen, wohl direkt auf die Persönlichkeit des Poeten zurückgehenden romantisch-kulturellen Bestimmungen467 – doch eher (prä‑)faschistische Züge trug.468 Zanella war demgegenüber bestrebt, Fiume eine demokratische Verfassung zu geben, und sandte mehrere Vertreter ins Ausland, um Erkundigungen und Ratschläge einzuholen. Zu diesen »Emissären« zählte auch der Rechtsanwalt Giulio Szegö, der im Oktober 1921 nach Wien kam, was der österreichischen Bundesregierung auch offiziell mitgeteilt wurde. Am 17. Oktober 1921 berichtete Szegö an Zanella, dass er »eine lange Besprechung mit Prof. Kelsen gehabt« habe und dieser bereit sei, eine Verfassung auszuarbeiten, wenn Zanella es wolle. Offenbar kam es wirklich zu diesem Verfassungsauftrag, wie wir leider nur aus nachträglichen Honorarabrechnungen 463 Métall, Kelsen (1969) 47; die Passage ist auch wörtlich wiedergegeben bei Wedrac, Fiume (2016) 25. 464 Einige Bemerkungen Métalls, die diese Anekdote ausschmückten, erschwerten die »Spurensuche«, vgl. noch unten Anm. 469. 465 Wedrac, Fiume (2016) 26. 466 Wedrac, Fiume (2016) 33–35. 467 So sollten sich besondere »Ädile« um die Stadtverschönerung kümmern, und jeder Bürger wurde angehalten, jeden Tag seine Tugend neu zu schaffen: Wedrac, Fiume (2016) 32. 468 Dies zeigte sich etwa in den ständestaatlichen Bestimmungen sowie im Amt des Diktators, das – nach dem Vorbild des dictator in der altrömischen Republik – für Krisenzeiten gedacht war: Wedrac, Fiume (2016) 31 f.
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2. Kapitel: Das Bundes-Verfassungsgesetz
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wissen. Der Verfassungsentwurf selbst konnte – trotz intensiven Suchens – nicht gefunden werden; er ist offenbar verschollen.469 In Kraft trat dieser Verfassungsentwurf jedenfalls nicht. Die bis 1921 in Fiume regierenden Nationalisten verbündeten sich mit den italienischen Faschisten, und nach einer Reihe von Gewalttätigkeiten übernahmen sie im März 1922 wieder die Macht in Fiume; Zanella musste ins Exil geben. Nachdem Benito Mussolini im Oktober 1922 die Macht in Italien erlangt hatte, wurde Fiume am 27. Jänner 1924 von Italien annektiert.470
469 Wedrac, Fiume (2016) 39 f. Das Gespräch mit Kelsen fand also nicht vor, sondern lange nach D’Annunzios Machtergreifung statt, insofern unrichtig – und irreführend – Métall, Kelsen (1969) 47. 470 Wedrac, Fiume (2016) 37 f.
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Drittes Kapitel
Akademisches 1. Dekan und Ordinarius a) Allgemeines Am 12. Juni 1920 wurde Hans Kelsen zum Dekan der Wiener rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät für das akademische Jahr 1920/21 gewählt.471 Als solcher war er der Vorsitzende der Fakultät, leitete das Professorenkollegium (in das er erst ein Jahr zuvor aufgenommen worden war472) und vertrat die Fakultät im Akademischen Senat der Universität Wien, letzteres gemeinsam mit dem Prodekan (dem Dekan des vorangegangenen Jahres), Wenzel Gleispach, und einem weiteren zum Senator gewählten Fakultätsmitglied, Hans Voltelini.473 Kelsen trat sein Amt am 1. Oktober 1920 an, somit am selben Tag, an dem das Bundes-Verfassungsgesetz von der KNV beschlossen wurde. Es war dies sicherlich ein Höhepunkt, wenn nicht der Höhepunkt in Kelsens beruflichem Leben. Bemerkenswert ist seine Wahl nicht zuletzt deshalb, als die Fakultät mit ihr von der sonst bestehenden Tradition der Anciennität abging, wonach die Professoren strikt in der Reihenfolge ihrer Ernennung auch zu Dekanen gewählt wurden – für die Wahl Kelsens wurden die vor ihm gereihten Professoren Josef Hupka und Othmar Spann übersprungen. Ob dies erfolgte, um (was eher unwahrscheinlich sein dürfte) Kelsen als Vater der Bundesverfassung zu ehren, oder um die beiden genannten Professoren explizit zu vermeiden (was v. a. bei Spanns polarisierender Stellung in der Fakultät denkbar wäre), ist unbekannt, zumal keine Akten von der Wahl erhalten sind. Kelsen berichtete der Staatskanzlei von seiner Wahl und erklärte, dass sein neues Amt mit seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Staatskanzlei unvereinbar sei, und bat um Entlassung aus dieser Tätigkeit, welchem 471 Wiener Neues Journal Nr. 9556 v. 14. 6. 1920, 2; vgl. Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 43. Einmal mehr spielt das Gedächtnis Kelsen einen Streich, wenn er selbst angibt, dass er »1922, oder 1923« zum Dekan gewählt worden sei: Kelsen, Autobiographie (1947) 22 = HKW I, 60. 472 Dem Professorenkollegium gehörten zwar alle ordentlichen, aber maximal halb so viele außerordentliche Professoren an; als dienstjüngster ao. Professor war Kelsen daher 1918 (noch) nicht in das Professorenkollegium aufgenommen worden: Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 45. 473 Gesetz v. 27. 4. 1873 RGBl 73, bes. § 18. Im Studienjahr 1921/22 gehörten dem Akademischen Senat der neue Dekan Ernst Schwind, ferner Hans Kelsen als Prodekan, und weiterhin Hans Voltelini als Senator an; vgl. Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 43.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Abb. 24: Hans Kelsen mit seinen Töchtern, 1919.
Ansuchen auch entsprochen wurde.474 Ausgerechnet die entscheidenden Beratungen des Verfassungs-Unterausschusses im September erlebte Kelsen also nicht mehr als offizieller Mitarbeiter der Staatskanzlei (was seine Unabhängigkeit und damit sein Ansehen im Kreis der Ausschussmitglieder wohl nur noch weiter gestärkt haben wird). Ob seine Tätigkeit als Dekan wirklich der ausschlaggebende Grund für Kelsens Rückzug aus seiner beratenden Tätigkeit für die Staatskanzlei war, oder ob dies nicht eher mit Renners Rücktritt als Staatskanzler am 7. Juli 1920 zusammenhing, ist ungewiss. Jedenfalls erklärte auch der neue, christlichsoziale Bundeskanzler Michael Mayr schon bald nach seinem Amtsantritt im November 1920, dass es »außerordentlich wünschenswert« sei, »Kelsen auch jetzt, da es sich um die praktische Durchführung und den Ausbau [der Verfassungsgesetze] handelt, zur Mitarbeit heranzuziehen.« Ja, diese Tätigkeit sollte »eine weitaus größere sein […] als bisher«, und Kelsen sollte auch »an den vielfach in späten Abend‑ und Nachtstunden stattfindenden Sitzungen der parlamentarischen Körperschaften« teilnehmen, weshalb ihm auch ein nominell höheres Honorar als bisher, nämlich 2.500 K anstelle der bisherigen 1.000 K pro Monat versprochen wurde475 (was damals allerdings nicht einmal die Inflation abdeckte476). Endgültig endete Kelsens beratende Tätigkeit für das Bundeskanzleramt 474 Schmitz,
Karl Renners Briefe (1991) 142 und 155 f. Karl Renners Briefe (1991) 158. 476 Im Oktober 1918 kostete ein Abonnement der »Neuen Freien Presse« für ein Jahr 90 Kronen, zwei Jahre später 660 Kronen. Eine seriöse Angabe, was dies nach heutiger Kaufkraft bedeuten würde, ist angesichts dieser Inflation unmöglich. 475 Schmitz,
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3. Kapitel: Akademisches
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erst am 2. Dezember 1921, nachdem er vom Verfassungsgerichtshof zum ständigen Referenten gewählt worden war, was Kelsen erneut als mit seiner Tätigkeit für das Bundeskanzleramt nicht vereinbar ansah. Sein Nachfolger im Bundeskanzleramt wurde Adolf Merkl.477 Merkl hatte sich in der Zwischenzeit – als erster von insgesamt acht Schülern Kelsens – an der Universität Wien habilitiert, und zwar auf Grundlage seiner Schrift »Die Verfassung der Republik Deutschösterreich«, die in der ersten Jahreshälfte 1919 erschienen war.478 Am 5. Dezember 1919 hielt Merkl seinen Probevortrag über die Rechtskraft rechtswidriger Verwaltungsakte und erhielt hierauf die venia legendi für allgemeines und deutschösterreichisches Staatsrecht, Verwaltungslehre und deutschösterreichisches Verwaltungsrecht.479 Schon kurze Zeit später (so berichtete es zumindest die Wiener Fakultät dem österreichischen Staatsamt für Unterricht480) erhielt Merkl eine Berufung an die Deutsche Technische Hochschule in Prag, was bemerkenswert ist, zumal diese – wie alle deutschsprachigen Hochschulen in der ČSR – in den Jahren nach 1918 unter Repressalien zu leiden hatte und Berufungen dorthin oft von den politischen Stellen verzögert wurden.481 Es ist zweifelhaft, ob Merkl jemals ernsthaft die Absicht hatte, nach Prag zu gehen, oder ob er die Berufung nicht eher als Argument nützte, um mit den österreichischen Stellen »Gegenverhandlungen« zu führen; jedenfalls betonte die Wiener Fakultät gegenüber dem Staatsamt für Unterricht die Unverzichtbarkeit Merkls, und dieser wurde am 30. November 1920 zum ao. Professor daselbst ernannt.482 Hatte Kelsen also schon unmittelbar nach seiner eigenen Ernennung zum Ordinarius erste und starke personalpolitische Akzente an der Fakultät setzen können, so bemühte er sich als Dekan derselben besonders um die Stärkung des Völkerrechts, das durch die Pariser Vororteverträge stark an praktischer Bedeutung gewonnen hatte, für das aber noch kein eigener Lehrstuhl existierte. Nunmehr sah es Kelsen, wie Métall formulierte, »als seine Pflicht, alles daranzusetzen, dass sein alter Lehrer Leo Strisower, der seit 1901, also seit 20 Jahren noch immer Extraordinarius war, endlich zum Ordinarius ernannt wurde.«483 Sachlich war dieses Bestreben sicherlich 477 Schmitz,
Karl Renners Briefe (1991) 140, 161, 163.
478 Merkl, Verfassung (1919). Wie Walter, Merkl (1990) 20, hervorhebt, erscheint es zwar merk-
würdig, dass eine lehrbuchartige Darstellung der Verfassung als Habilitationsschrift angenommen wurde; doch existierten ja auch schon eine Reihe tiefgehender rechtstheoretischer Arbeiten Merkls, wie auch die Habilitationsschrift selbst eine Reihe bedeutender rechtstheoretischer Einsichten, etwa zum Problem der Diskontinuität der Verfassung, enthielt. 479 Grussmann, Merkl (1989) 30; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 486. Die Verwendung des Wortes »deutschösterreichisch« erscheint angesichts der noch vor Erteilung der venia erfolgten Unterzeichnung des Vertrages von St. Germain bemerkenswert. 480 ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 612, Personalakt Merkl Adolf, ad Z. 21888/20. 481 Boehm-Pilsen, Die Deutsche Technische Hochschule in Prag (1991) 232. 482 Für diese These spricht auch, dass Merkl selbst später irrtümlich die Deutsche Technische Hochschule in Brünn nannte: Merkl, Selbstdarstellung (1952) 480. Vgl. Grussmann, Merkl (1989) 30; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 486. 483 Métall, Kelsen (1969) 43.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
gerechtfertigt, zumal Strisower ein international anerkannter Wissenschaftler, u. a. seit 1891 Associé des Institut de Droit International in Gent/BE war.484 Das einzige Hindernis, das einer Ernennung Strisowers zum Ordinarius entgegenstand, war, dass sich der bereits 64jährige Völkerrechtler noch immer nicht taufen hatte lassen, sondern an der Religion seiner Väter festhielt, ein Umstand, der zu jener Zeit ausreichte, um erbitterten Widerstand in der Fakultät hervorzurufen. Aufgrund der schlechten Quellenlage können auch hier wieder nur Vermutungen aufgestellt werden. Wie der schließlich, am 9. Juli 1921 zustande gekommene Antrag zeigt, war die Schaffung zumindest eines Ordinariats für Völkerrecht an der Fakultät im Prinzip von allen gewünscht, doch schlugen Strisowers Gegner vor, dass Alexander Hold-Ferneck – der 1920 nach Prag gegangen, jedoch noch im selben Jahr wieder von dort zurückgekehrt war – auf diese Stelle ernannt werde. Der von Voltelini, Kelsen, Menzel, Sperl und Spann unterzeichnete Vorschlag nahm schließlich beide Wissenschaftler auf, und tatsächlich wurden beide mit Wirksamkeit vom 1. März 1922 zu ordentlichen Professoren des Völkerrechts ernannt.485 Ein besonderes Anliegen Kelsens als Dekan war ferner die Stärkung der Autonomie der Universität in Hinblick auf die Verwendung der Kollegiengelder, d. h. der von den Studierenden für den Besuch der einzelnen Lehrveranstaltungen eingehobenen Gelder.486 Gemeinsam mit dem damaligen Rektor, dem Historiker Alfons Dopsch, setzte sich Kelsen dafür ein, dass die Universität über diese Mittel frei verfügen könne, und begründete dies in mehreren Zeitungsartikeln damit, dass die Universität Wien aufgrund ihrer finanziellen Not nicht einmal mehr in der Lage sei, ihren Professoren auch nur die Hälfte dessen zu bezahlen, was sie in Deutschland oder der ČSR verdienen würden, weshalb viele gute Kräfte abwanderten.487 Ein als »lex Kelsen« bezeichneter Gesetzesentwurf zur Novellierung des universitären Organisationsgesetzes 1873 wurde im Februar 1921 von Abgeordneten der Großdeutschen Partei im Nationalrat eingebracht und initiierte dort eineinhalb Jahre später tatsächlich eine bedeutende Novellierung des Gesetzes in vielen Punkten, ausgerechnet das ursprüngliche Anliegen der »lex Kelsen«, die finanzielle Autonomie der Universitäten, wurde jedoch nicht verwirklicht.488 Möglicherweise hatte die vorhin erwähnte Inflation der Diskussion ihren Boden entzogen. Manchmal musste sich Kelsen als Dekan mit Problemen herumschlagen, die wohl mindestens so alt sind wie die Universität selbst. So vermeldete die »Wiener Zeitung« 484 Olechowski,
Strisower (2010) 406. AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 607, Internationales Privatrecht; Métall, Kelsen (1969) 43; Busch/Staudigl-Ciechowicz, Kelsen und Hold-Ferneck (2009) 117; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 526; Zeman, Leo Strisower (2018) 379. 486 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 39. 487 Kelsen, Die Not der Universität (1921); Kelsen, Der Verfall der Wiener Universität (1921). Vgl. Ash, Die Universität Wien (2015) 71; Staudigl-Ciechowicz, Dienst-, Habilitations‑ und Disziplinarrecht (2017) 167. Zur Diskussion um die »lex Kelsen« an den anderen österreichischen Universitäten vgl. Höflechner, Geschichte des Hochschulwesens (1988) 172–191. 488 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 41. 485 ÖStA
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im Februar 1921: »Der Dekan der juristischen Fakultät Professor Kelsen hat namens des Professorenkollegiums der juristischen Fakultät eine Mahnung an die Studierenden dieser Fakultät gerichtet […]: Das wissenschaftliche Niveau, welches die Rigorosen ergeben, hat einen Tiefstand erreicht, der zu ernstesten Besorgnissen Anlaß bietet. […] Das Professorenkollegium legt den Studierenden dringend nahe, die von der Universität zur Verfügung gestellten Lehrbehelfe, Bibliotheken, Seminare usw., soweit dies irgend möglich ist, zu benützen, vor allem aber die Vorlesungen und Übungen zu besuchen. […]«489 Wie Klagen der auf Kelsen folgenden Dekane zeigen, hatte dieser Appell kaum Erfolg; 1922 wurde die Absolvierung von jeweils einer »Pflichtübung« aus jedem der drei Studienabschnitte verpflichtend vorgeschrieben,490 womit freilich ein gewisses Stück der akademischen Freiheit, wie sie Kelsen selbst als Student noch genossen hatte, verloren ging. Zu den erfreulicheren Aufgaben, die Kelsen als Dekan der rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät wahrzunehmen hatte, zählte demgegenüber die Verleihung von Ehrendoktoraten. Ein solches erhielt 1921 der Professor für Nationalökonomie an der Universität Wien, Friedrich Wieser, nach Carl Menger und Eugen Böhm von Bawerk der dritte bedeutende Vertreter der »Österreichischen Schule der Nationalökonomie«, wie Kelsen auch in einem Artikel der »Neuen Freien Presse« hervorhob: »War Menger der erstmalige Entdecker, der die zündende Idee der subjektiven Wertlehre der traditionellen wirtschaftshistorischen Richtung entgegensetzte, war Böhm-Bawerk der geniale Kritiker der Schule, so ist Wieser der schöpferische Systematiker, der die Lehre soziologisch und philosophisch vertieft hat.«491 Es sei an dieser Stelle die Bemerkung angebracht, dass zwischen der Wiener Rechtstheoretischen Schule Hans Kelsens und der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, wie sie in der Zwischenkriegszeit insbesondere von Kelsens Schul‑ und Studienkollegen Ludwig Mises weiterentwickelt wurde, auffällige Parallelen bestanden. Beide gingen von einem liberalen, individualistischen Weltbild aus und standen namentlich dem Marxismus ablehnend gegenüber. Für beide war die »Zurechnung« ein Schlüsselbegriff, der es ihnen ermöglichte, Wechselwirkungen abseits der Kausalität zu erklären. Sah die Reine Rechtslehre im Staat ein System von Normen, so konnte Vergleichbares über die Sicht der Österreichischen Schule auf das Preissystem gesagt werden.492 Und auch dort, wo es Unterschiede gab – so befasste sich Kelsen zwar mit dem Wesen der Gesellschaft, entwickelte aber keine Theorie des Handelns, während für Mises genau das Gegenteil gilt –, bedeutet dies nicht unbedingt einen Widerspruch ihrer Theoreme. Vielmehr kann man geradezu sagen, dass
489 Wiener Zeitung Nr. 35 v. 13. 2 . 1921, 6; vgl. auch Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 155. 490 BG 24. 7. 1922 BGBl 556; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 141. 491 Kelsen, Wieser (1921) 5. Vgl. zu Menger und Wieser auch Johnston, Geistesgeschichte (2006) 90–96. 492 Silverman, Law and Economics (1984) 415, 568.
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die beiden Lehren einander ergänzten und sogar unterstützten.493 Dabei ist es wichtig zu betonen, dass Kelsen sich recht wenig für Nationalökonomie interessierte und auch umgekehrt wenig direkte Einflüsse der Reinen Rechtslehre auf die Österreichische Schule zu erkennen sind.494 Es scheint eher das allgemeine intellektuelle Umfeld von Kelsen und Mises gewesen zu sein, das beide zu ähnlichen Gedanken veranlasste. Schließlich ist zu betonen, dass die persönliche Freundschaft zwischen Kelsen und Mises keineswegs zu beruflichen »Seilschaften« führte. Dies wurde insbesondere deutlich, als 1922 Wieser emeritiert wurde und sich die Fakultät, wie Kelsen später berichtete, darum bemühte, dass auch sein Nachfolger aus der »Österreichischen Schule« komme.495 Zwei Bewerber kamen hier besonders in Frage, und der Zufall wollte es, dass Kelsen mit beiden die Schulbank gedrückt hatte: Auf der einen Seite Hans Mayer, der 1912, aufgrund seines Aufsatzes »Theorie und Preisbildung«, ohne formell habilitiert zu sein, nach Freiburg in der Schweiz berufen worden war und danach Lehrstühle in Prag und in Graz innehatte.496 Auf der anderen Seite Mises, der seit 1909 im Sekretariat der niederösterreichischen Handelskammer arbeitete und sich 1913 in Wien mit einer »Theorie des Geldes und der Umlaufmittel« habilitiert hatte.497 Wieser selbst favorisierte eindeutig Mayer, der auch von Othmar Spann und – aus welchen Gründen auch immer – von Kelsen unterstützt wurde.498 Aus diesen Gründen entschied sich auch die Fakultät »mit einer in erster Linie bei Besetzungsfragen selten weitgehenden Uebereinstimmung in erster Linie für Professor Hans Mayer«, und Kelsen verteidigte diese Wahl in der »Neuen Freien Presse« wie folgt: »Bei der Berufung Mayers war vor allem der ganz außerordentliche Lehrerfolg maßgebend, den Mayer kraft seines seltenen pädagogischen Talents, vor allem aber durch seine starke, faszinierende Persönlichkeit an allen Hochschulen errungen hat, an denen er bisher tätig war. […] Gerade mit solchen Persönlichkeiten ist aber einer Fakultät mehr gedient als mit Schreibern dickleibiger Kompendien.«499 Dass ein Besetzungsvorschlag einer Fakultät von einem ihrer Mitglieder in der Tagespresse verteidigt wurde, war äußerst ungewöhnlich und ist Indiz dafür, dass das Votum der Fakultät außerhalb ihrer Mauern durchaus nicht nur Zustimmung gefunden hatte. Rückblickend betrachtet, handelte es sich sogar um eine klassische Fehlentscheidung. Hans Mayer konnte die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen, vielmehr zerstritt er sich schon bald mit Othmar Spann und ging in den daraus
493 Silverman,
Law and Economics (1984) 377. Law and Economics (1984) 28. Beachte aber die Kritik an Friedrich v. Hayek, einem weiteren Vertreter der »Österreichischen Schule«, bei Kelsen, Foundations of Democracy (1955) 75 = VdD 357, vgl. noch unten 844. 495 Kelsen, Besetzung (1922) 7. 496 Silverman, Law and Economics (1984) 74; Klausinger, Hans Mayer (2015). 497 Hülsmann, Mises (2007) 468; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 560 f., 569 f. 498 Klausinger, Hans Mayer (2015) 274. 499 Kelsen, Besetzung (1922) 7. 494 Silverman,
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resultierenden Querelen förmlich auf.500 Mises dagegen avancierte zwar zum eigentlichen Haupt der »Österreichischen Schule«, konnte jedoch niemals einen Lehrstuhl an einer österreichischen Universität erlangen und emigrierte 1934 in die Schweiz, 1940 in die USA. Er scheint es Kelsen nicht übel genommen zu haben, dass dieser 1922 Mayer den Vorzug gegeben hatte; denn die beiden Wissenschaftler blieben weiterhin befreundet. Nach der Emeritierung Mayers aber sollte nie wieder ein Vertreter der »Österreichischen Schule« zum Professor an der Wiener rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät berufen werden. b) Lehr‑ und Prüfungstätigkeit 1918–1930 Kelsens Lehrtätigkeit an der Universität Wien war infolge seiner Ernennung zum ordentlichen Professor deutlich angestiegen und betrug bis zu 10 Semesterwochenstunden (SSt).501 Ein Fixpunkt war dabei die »Allgemeine Staatslehre«, die Kelsen ja schon seit 1911 regelmäßig unterrichtete und bis 1929 in jedem Wintersemester ankündigte, in der Regel als dreistündige Vorlesung, zuweilen auch kombiniert mit einer Übung. Dazu kam schon seit dem Sommersemester 1919 – also unmittelbar nach Ableben Bernatziks und noch vor Ernennung Kelsens zum Ordinarius – die fünfstündige Hauptvorlesung aus allgemeinem und österreichischem Staatsrecht (1919: deutschösterreichischem Staatsrecht).502 Auch zu dieser Vorlesung gesellten sich »Proseminare« bzw., ab 1923, »Pflichtübungen«,503 in denen der Vorlesungsstoff vertieft werden sollte. Auch Seminare aus allgemeiner Staatslehre und Staatsrecht, in denen die Studentinnen und Studenten Referate hielten, veranstaltete Kelsen ab dem Sommersemester 1920 mit ziemlicher Regelmäßigkeit. Die Hauptvorlesung aus Verwaltungslehre und österreichischem Verwaltungsrecht (6 SSt), die ansonsten zumeist von Menzel vorgetragen wurde, hielt Kelsen nur in den Sommersemestern 1927 und 1928. Wir können davon ausgehen, dass Kelsens Hauptvorlesungen aus »Österreichischem Staatsrecht« und aus »Allgemeiner Staatslehre« im Wesentlichen jenen Inhalt hatten, den die gleichnamigen Bücher Kelsens aus den Jahren 1923504 bzw. 1925505 aufweisen, und die (nicht nur, aber auch) zum Zweck des Hochschulstudiums verfasst 500 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 752; Klausinger, Hans Mayer (2015) 271. 501 Das Folgende nach: Öffentliche Vorlesungen an der Universität zu Wien im Winter-Semester 1918 – Sommer-Semester 1930 (Wien 1918–1930). Vgl. auch Métall, Kelsen (1969) 116. 502 Kelsen hielt auch diese Vorlesung bis 1928 v. a. im Wintersemester, nur 1919 und 1921 auch im Sommersemester. Möglicherweise im Zusammenhang mit der Emeritierung Menzels trat 1929 ein Wechsel ein, sodass Kelsen in diesem und dem folgenden Jahr die Vorlesung aus Staatsrecht nicht mehr im Winter-, sondern im Sommersemester hielt. Im WS 1920/21 und im SS 1930 verknüpfte er die Allgemeine Staatslehre mit dem österreichischen Staatsrecht zu einer gemeinsamen Vorlesung. 503 Zur Einführung von Pflichtübungen vgl. Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 140 f. 504 Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923). 505 Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925).
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
worden waren.506 Bezüglich der Vorlesung aus Verwaltungslehre und Verwaltungsrecht kann nur vermutet werden, dass Kelsen hier ähnlichen Gedanken folgte, wie sie Merkl in seiner systematischen Darstellung über »Allgemeines Verwaltungsrecht« 1927 zusammenfasste.507 Wie bereits berichtet, war Kelsen ein glänzender Vortragender und seine Vorlesungen waren entsprechend gut besucht; um einen freien Platz in seiner »Allgemeinen Staatslehre« zu erhalten, musste man zumindest eine Stunde vor Vorlesungsbeginn im Hörsaal sein.508 Über die genannten Lehrveranstaltungen hinaus hielt Kelsen eine Reihe von Spezialvorlesungen: Im Sommersemester 1920 las er »Die Verfassung des Deutschen Reiches« (2 SSt),509 in den Sommersemestern 1922, 1923 und 1924 kündigte er je eine Vorlesung über »Die politische Theorie des Sozialismus« (2 SSt) und eine »Über Demokratie« (2 SSt) an, beides für Hörerinnen und Hörer aller Fakultäten. Im Sommersemester 1926 hielt Kelsen eine Vorlesung über »Die politischen Hauptströmungen der Neuzeit«; in den Sommersemestern 1929 und 1930 über »Gerechtigkeit und Recht im Geist der Antike«. Die Seminare aus »Rechtsphilosophie (Theorie der Rechtswissenschaft)«, die Kelsen schon während des Krieges gehalten hatte und auch in den ersten Nachkriegsjahren jedes Semester ankündigte (im Wintersemester 1920/21 übrigens gemeinsam mit seinem Schüler Fritz Sander, worauf noch zurückzukommen ist), wurden allmählich seltener. Ab 1921 veranstaltete er sie nur mehr in den Wintersemestern, 1924 stellte er sie ganz ein, im Sommersemester 1925 hielt Kelsen zum ersten (und einzigen) Mal eine zweistündige Vorlesung über »Grundbegriffe einer Reinen Rechtslehre«. Es kann nur vermutet werden, dass es nicht mangelnder Erfolg dieser Seminare war, sondern geradezu im Gegenteil der übergroße Andrang von Studierenden (von denen wohl nur ein kleiner Teil ausreichend qualifiziert für eine sinnvolle Teilnahme war), der Kelsen dazu veranlasste, sich ausgerechnet mit jenem Thema, dem 506 Über den Inhalt von Kelsens Vorlesung aus Allgemeiner Staatslehre sind wir auch informiert durch die Mitschrift eines Studenten der Staatswissenschaft namens Markus Tennenbaum aus dem WS 1921/22 (hinterlegt in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches). Sie enthält freilich nur rudimentäre Notizen, die keine Gewähr für Vollständigkeit bieten. Der Aufbau der Vorlesung dürfte aber im Großen und Ganzen dem Aufbau des 1925 erschienenen Buches entsprochen haben. Gegenstände der Vorlesung waren demnach: Individuum, Staat und Gesellschaft (vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925) 15 ff.)/Entstehung des Staates (vgl. a. a. O. 21 ff.)/Verhältnis von Staat und Recht (a. a. O. 47 ff.)/Das Problem der Selbstverpflichtung des Staates (a. a. O. 74 ff.)/Öffentliches Recht und Privatrecht (a. a. O. 80 ff.)/Die Elemente des Staates (a. a. O. 95 ff.)/Die Souveränität (a. a. O. 102 ff.)/Die Lehre von der Staatsverfassung (a. a. O. 248 ff.)/Die Lehre von den Staatsformen (a. a. O. 320 ff.). 507 Merkl, Verwaltungsrecht (1927). 508 Silving, Memoirs (1988) 99. Kelsen hielt seine Vorlesungen im heute nicht mehr existierenden Hörsaal 28; er bot vermutlich Raum für über 100 Studierende. 509 Vorlesungen über ausländisches Staatsrecht wurden vielfach gehalten, eine Vorlesung über deutsches Staatsrecht findet sich in der Zwischenkriegszeit geradezu regelmäßig im Vorlesungsverzeichnis der Universität Wien; vgl. Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 519.
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er die größte Popularität verdankte, ganz von der Universität zurückzuziehen und die »Reine Rechtslehre« nur mehr einigen wenigen Absolventinnen und Absolventen, nur mehr ganz vereinzelt auch besonders talentierten Studentinnen und Studenten, persönlich nahezubringen und diese in seine Privatwohnung einzuladen. Mit Beginn des Wintersemesters 1919/20 war an der rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät das Studium der Staatswissenschaften neben dem traditionellen Studium der Rechts‑ und Staatswissenschaften eingerichtet worden, sodass die Fakultät nach mehr als einem halben Jahrtausend ihres Bestehens zwei Studienrichtungen anstelle einer zu betreuen hatte.510 Das neu eingerichtete Studium enthielt kaum rechtshistorische und nur wenige justizrechtliche Vorlesungen, war damit für die Bedürfnisse der österreichischen Juristenausbildung ungeeignet, dafür ein attraktives Angebot für alle an den Staatswissenschaften Interessierten, die sowieso nicht in die Justiz gehen wollten oder konnten, wie insbesondere Ausländer. Auf die Vorlesungstätigkeit Kelsens hatte die Neueinführung des Studiums der Staatswissenschaften keinen Einfluss, da die Studentinnen und Studenten dieses Faches nur solche staatsrechtlichen Vorlesungen besuchten, die auch für Studierende der Rechts‑ und Staatswissenschaften angeboten wurden. Bedeutsam war allerdings, dass die Studierenden der Staatswissenschaften – im Gegensatz zu jenen der Rechtswissenschaften – zur Erlangung des Doktorates eine Dissertation verfassen mussten, die jeweils von zwei Professoren zu begutachten war, weshalb nun auch Kelsen eine große Zahl511 derartiger Arbeiten beurteilte, so etwa 1922 jene des – später v. a. in den USA tätigen – Politologen Eric(h) Vögelin über »Wechselwirkung und Gezweigung«512 oder, 1926, jene des späteren Grazer Nationalökonomen Josef Dobretsberger über den »Staatsbegriff der reinen Rechtslehre« 1926.513 Der Kommunist Alfred Klahr wurde 1928 mit einer von Kelsen und Merkl begutachteten Arbeit »Über das Verhältnis zwischen Parlament und Regierung in parlamenarischen Republiken« promoviert514 – und der spätere Nobelpreisträger 510 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz,
Fakultät (2014) 132 f.; 175. Rigorosenakten sind im Universitätsarchiv nur lückenhaft erhalten; eine interne Aufstellung nennt 66 Dissertationen, die von Kelsen begutachtet wurden. Anzumerken ist dabei, dass diese Dissertationen in der Regel nicht sehr umfangreich waren (weit weniger als 100 Seiten). 512 UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Rigorosenakten für das Studium der Staatswissenschaften, J RA St 37. Zu Erich Vögelin (ab 1942 Eric Voegelin, geb. Köln 3. 1. 1901, gest. Palo Alto/CA 19. 1. 1985; 1929 Habilitation für Gesellschaftslehre an der Universität Wien; 1942–1958 Professor for Political Science an der Louisiana State University; 1958–1969 Professor am Lehrstuhl Max Webers in München) vgl. Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 601. 513 UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Rigorosenakten für das Studium der Staatswissenschaften, J RA St 314. Zu Josef Dobretsberger (geb. Linz 28. 2 . 1903, gest. Graz 23. 5. 1970; 1933–1936 und ab 1946 Professor an der Universität Graz) vgl. Olechowski/Ehs/Staudigl- Ciechowicz, Fakultät (2014) 578. 514 UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Rigorosenakten für das Studium der Staatswissenschaften, J RA St 656. Zu Alfred Klahr (geb. Wien 16. 9. 1904, gest. Warschau Juli 1944; 1933 stellvertretender Chefredakteur der österreichischen kommunistischen Zeitung »Die Rote Fahne«) vgl. http://www.klahrgesellschaft.at/Klahr_Leben.html [Zugriff: 26. 04. 2019]. 511 Die
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Friedrich August Hayek 1923 mit einer Dissertation »Zur Problemstellung der Zurechnungslehre«, für welche Spann und Kelsen die Gutachten verfasst hatten.515 Was die Staatsprüfungen und Rigorosen anbelangt, zu denen die Studierenden der Rechtswissenschaften wie auch der Staatswissenschaften anzutreten hatten, so galt Kelsen als sehr milder Prüfer. Eine Anekdote berichtet, dass er einmal einem Studenten nach nur einer Frage eine positive Note geben wollte, worauf dieser sagte: »Herr Professor, ich habe mich aber so gründlich vorbereitet, daß ich Sie bitten würde, mich auf Auszeichnung zu prüfen.« Darauf Kelsen: »Wenn das so ist, dann haben Sie eben mit Auszeichnung bestanden.«516 Und der spätere Bundeskanzler Bruno Kreisky, der 1929 mit dem Studium der Rechts‑ und Staatswissenschaften an der Universität Wien begann, berichtet in seinen Memoiren von einer Prüfung, die eigentlich Spann hätte abnehmen sollen, für den aber aus irgendeinem Grund Kelsen als Ersatzprüfer eingesprungen war: »Er verstand zwar ein wenig von Nationalökonomie, war aber auf diesem Felde nicht sehr versiert. In seiner Not fragte er den Kandidaten: ›Sagen Sie, was ist denn eigentlich der Merkantilismus?‹ Und der Kandidat, der natürlich ganz auf Spann eingestellt war, hat so geantwortet, wie es Spann gern gehört hätte. Da hat Kelsen nur den Kopf geschüttelt und gemeint: ›Komisch, zu meiner Zeit war das ganz was anderes.‹«517
2. Kelsen und seine Schüler 1918–1925 a) Die »jungösterreichische Schule« Im Juni 1918 erschien in den »Juristischen Blättern« ein Aufsatz über »Die jungösterreichische Schule der Rechtswissenschaft und die naturwissenschaftliche Methode«. Verfasser war ein gewisser Dr. Bernhard Stark, von dem ansonsten nur bekannt ist, dass er selbst zwei Jahre zuvor eine monographische »Analyse des Rechts […] Auf Grund der Psychophysiologie des Organismus« unternommen hatte, die von Alfred Verdroß sehr kritisch rezensiert worden war.518 Es nimmt daher nicht wunder, dass Stark nunmehr den Versuch einer »Anzahl junger österreichischer Juristen«, »die Probleme der Rechtswissenschaft mit den Methoden und dem wissenschaftlichen Apparat zu lösen, welche von Kant und den sogenannten Neu-Kantianern als Philosophie bezeichnet werden«, seinerseits in Grund und Boden verdammte.519 Erwähnenswert 515 UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Rigorosenakten für das Studium der Staatswissenschaften, J RA St 59. Zu Friedrich August (Edler von) Hayek (geb. Wien 8. 5. 1899, gest. Freiburg i. Br. 23. 3. 1992; erhielt 1974 den Alfred Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften) vgl. Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 572 f. 516 Heindl/Schambeck, Juristen (1979) 150 f. 517 Kreisky, Zwischen den Zeiten (1987) 169. 518 Stark, Analyse des Rechts (1916); Verdross, Analyse des Rechts (1917). 519 Stark, Die jungösterreichische Schule (1918) 301. Fünf Jahre später publizierte Stark erneut einen äußerst kritischen Aufsatz zu den »Grundfehlern in Kelsens Rechtstheorie«: Stark, Grundfehler (1923) 19.
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Abb. 25: Hans Kelsen, vor 1925.
ist dieser Aufsatz deswegen, als sich die Kritik nicht gegen Kelsen selbst, sondern gegen die Schule, die er begründet hatte, richtete und die offenbar erstmals Stark als die »jungösterreichische« bezeichnete, vor allem aber aufgrund der Entgegnung, die Starks Aufsatz durch einen anderen Schüler Kelsens, Fritz Sander, erfuhr. In dieser verteidigte Sander das Hauptanliegen von Kelsens Schule, die »Begründung eines reinen rechtsdogmatischen Positivismus«,520 vehement gegen die Kritik Starks – auch wenn er Zweifel daran erkennen ließ, ob es sich bei diesem Anliegen überhaupt um ein »erreichbares Ziel« handle und sogar die Gelegenheit dazu benützte, seinerseits Kritik an einem dritten »Jungösterreicher«, nämlich Adolf Merkl, zu üben.521 Fritz Sander war – so schien es zumindest eine Zeit lang – der aufgehende Stern unter Kelsens Schülern, nachdem die erste Generation bereits »flügge« geworden war und sich verselbständigt hatte. Leonidas Pitamic hatte die Professur in Czernowitz, auf die er 1918 ernannt worden war, infolge des Zusammenbruchs des Monarchie niemals angetreten, vielmehr war er im November 1918 in seine slowenische Heimat zurückgekehrt, wo er Mitglied der Verwaltungskommission der slowenischen Nationalregierung wurde und sich auch am Aufbau der neuen Universität in Laibach [Ljubljana/SLO] beteiligte, deren erster Juristendekan er 1920 wurde.522 Auch 520 Sander, Rechtswissenschaft und Materialismus (1918) 350. Vgl. dazu auch Kletzer, Sander (2008) 449. 521 Siehe dazu auch Korb, Kelsens Kritiker (2010) 168. 522 Pitamic war auch politisch tätig, u. a. war er 1919 Teilnehmer der jugoslawischen Delegation bei den Pariser Friedensverhandlungen und 1929–1934 jugoslawischer Botschafter in den USA. Vgl. Pavčnik, Pitamic (2008) 342; Pavčnik, Pitamic (2014) 266 f.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Alfred Verdroß hatte im November 1918 Wien verlassen, da ihn die deutschösterreichische Regierung als Legationssekretär nach Berlin schickte, wo er zwei Jahre, bis Anfang Dezember 1920, blieb.523 Hier, in Berlin, verfasste er seine Monographie »Die völkerrechtswidrige Kriegshandlung und der Strafanspruch der Staaten«, die 1920 im Druck erschien, und mit der er sich unmittelbar nach seiner Rückkehr, im Februar 1921, an der Universität Wien, für das Fach »Völkerrecht« habilitierte. Im Gegensatz zu seinen früheren Schriften – und im Gegensatz zu Kelsens Monographie zur »Souveränität« – ging Verdroß hier von einem notwendigen Vorrang des Völkerrechts vor dem staatlichen Recht aus. Beruflich war Verdroß nach seiner Rückkehr zunächst Sektionsrat in der Rechtsabteilung des österreichischen Außenministeriums und lehrte ab 1923 auch nebenamtlich in der Konsularakademie.524 Was Adolf Merkl betrifft, so war dieser, wie bereits erwähnt, im November 1920 zum ao. Professor an der Universität Wien ernannt worden; wissenschaftlich blieb er Kelsen auf das Engste verbunden, aber das Privatseminar in der Wickenburggasse besuchte er nur mehr unregelmäßig.525 Fritz Sander hatte dagegen, nachdem Kelsen 1918 an die Universität Wien gewechselt war, dessen Position als Dozent an der Exportakademie erhalten und war, wie Kelsen noch 1947 berichtete, »einer meiner begabtesten Schueler, von grossem Fleiss, mit originelle[n] Einfaellen und ungewoehnlicher geistiger Energie.«526 Dabei hatte sich Sander – nach den übereinstimmenden Berichten der übrigen Mitglieder der »jungösterreichischen Schule« – in den ersten drei Jahren seiner Teilnahme an den Seminaren sehr ruhig verhalten, »er war mit den behandelten Problemen augenscheinlich nicht sehr vertraut«.527 Erst im Frühjahr 1918 hielt Sander sein erstes eigenes Referat in der Wickenburggasse. Kelsen war von ihm geradezu begeistert und begann, ihn massiv zu fördern. Aus dem Referat erwuchs der Aufsatz »Das Faktum der Revolution und die Kontinuität der Rechtsordnung«, der im ersten Heft der von Kelsen herausgegebenen ZÖR erschien. In ihm untersuchte Sander ebenso wie Merkl das Problem der Rechtsdynamik, warf diesem aber einen »juristischen Occasionalismus« vor, da Merkl bei jedem revolutionärem Umsturz behaupte, dass die neue Rechtsordnung nicht aus der anderen abgeleitet werden könne, somit »ein jedesmaliges unerklärbares Wunder« annehme.528 Sander dagegen ging von einem kontinuierlichen
523 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 25: Zeugenaussage Alfred Verdroß v. 30. 6. 1923, Seite 3. 524 Busch, Verdross (2012) 148; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 534. 525 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 10: Zeugenaussage Merkl v. 28. 5. 1923, S. 1. 526 Kelsen, Autobiographie (1947) 23 = HKW I, 62. 527 So nach Adolf Merkl, ähnliche Aussagen auch bei Pitamic, Verdroß, Seidler jun. und Strigl, zusammengestellt bei UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 18: Bericht des Untersuchungsführers v. 6. 6. 1923, Seite 4. 528 Sander, Das Faktum der Revolution (1919) 137.
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»Rechtsverfahren« aus, das die einzelnen Rechtssätze miteinander verbinde, diese hätten zueinander lediglich »Tatbestandsfunktion«.529 Ein Jahr nach Merkl, im Sommersemester 1920, reichte auch Sander einen Antrag auf Habilitierung ein, und zwar für die Fächer Allgemeine Staatslehre, Rechtsphilosophie und deren Geschichte. Grundlage war das Manuskript »Die transzendentale Methode der Rechtsphilosophie und der Begriff des Rechts«, das später von Sander – wesentlich erweitert – unter dem Titel »Staat und Recht« publiziert wurde. Nur »gegen grosse Widerstaende«, so berichtet Kelsen,530 konnte er die Habilitation auch seines zweiten Schülers durchsetzen.531 Schon im darauf folgenden Semester hielt Kelsen, wie bereits erwähnt, gemeinsam mit Sander ein Seminar an der Universität Wien ab – eine Gunst, die bis dahin weder Merkl, noch Verdroß, noch sonst einem anderen Kelsen-Schüler zuteil geworden war! Damit nicht genug, unterstützte Kelsen Sanders Bemühungen um eine außerordentliche Professur an der Deutschen Technischen Hochschule in Prag (vermutlich dieselbe Professur, die zuvor Merkl abgelehnt hatte532), und zwar sowohl, indem er ein formelles Gutachten verfasste, als auch, indem er informell Weyr bat, für Sander zu intervenieren. Zum 1. Oktober 1921 konnte Sander sein neues Lehramt antreten.533 Die Lücken, die der Weggang der ersten Generation von Kelsen-Schülern aufgerissen hatte, wurden durch jüngere Männer geschlossen. Zu ihnen zählte etwa der 1897 in Wien geborene Fritz Schreier, der 1920 zum JDr. promoviert wurde und über Vermittlung Kelsens ein Reisestipendium erhielt, mit dem er 1922 das Seminar des Phänomenologen Edmund Husserl in Freiburg im Breisgau besuchen konnte und hierauf eine Habilitationsschrift in Angriff nahm.534 Ebenfalls stark von Husserl geprägt war der 1895 in Wien geborene Felix Kaufmann, der nach Abschluss seines juristischen Studiums 1920 auch noch Philosophie an der Universität Wien studierte und 1924 mit einer Dissertation über »Die Kriterien des Rechts. Untersuchungen über die Prinzipien der juristischen Methodenlehre« sein zweites Doktorat erwarb, nachdem er schon 1922 an der rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät die venia docendi für Rechtsphilosophie erlangt hatte, und zwar aufgrund seiner Schrift »Logik und Rechtswissenschaft«.535 529 Sander, Das Faktum der Revolution (1919) 149. Vgl. dazu Somek, Ermächtigung und Verpflichtung (2005) 66; Kletzer, Sander (2008) 450 f.; Korb, Kelsens Kritiker (2010) 169. 530 Kelsen, Autobiographie (1947) 23 = HKW I, 62. Vom Habilitationsverfahren sind keine Akten erhalten. 531 Bestätigt mit Erlass des Unterrichtsministers v. 24. 7. 1920, Z. 13322, vgl. UA Wien, Akademischer Senat, Personalblatt Fritz Sander. 532 Vgl. oben 309. 533 Vgl. dazu schon Olechowski/Busch, Kelsen als Professor an der Deutschen Universität Prag (2010) 1116. 534 Lukas, Schreier (2008) 471; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 491. 535 Kaufmann, Logik und Rechtswissenschaft (1922); vgl. Kristoferitsch/Orator, Kaufmann (2008) 153; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 490; Stadler, Der Wiener Kreis 450 f.
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Praktisch gleichzeitig mit Kaufmann habilitierte sich der schon oben genannte536 Walter Henrich 1922 mit seiner Schrift »Theorie des Staatsgebietes« – laut Kelsen in seinem Gutachten eine »gute wissenschaftliche Durchschnittsleistung« (!) – für Allgemeine Staatslehre, Rechtsphilosophie und deren Geschichte.537 Zuletzt ist hier noch der 1890 in Wien geborene Josef Laurenz Kunz, zu nennen, der bereits vor dem Krieg die Rechtswissenschaften studiert und dann vier Jahre lang in der k. u. k. Armee als Kavallerieoffizier gedient hatte. Er zählte zu den allerersten, die eine staatswissenschaftliche Dissertation an der Universität Wien einreichten, und zwar zum Problem der Verletzung der belgischen Neutralität durch das deutsche Heer 1914; die Arbeit wurde 1920 von den beiden Begutachtern, Strisower und Hold, positiv bewertet.538 Als Kunz jedoch noch vor Promotion zum Dr.rer.pol. auch gleich noch eine Habilitationsschrift einreichte, kam ernster Widerstand von Hold. Dieser konnte die Habilitation von Kunz (und auch jene von Schreier) zwar nicht verhindern, wusste jedoch beide empfindlich zu verzögern, worauf an anderer Stelle noch ausführlich einzugehen ist.539 Bis dahin hatte es Kelsen jedoch verstanden, praktisch im Jahresrhythmus einen Schüler zu habilitieren: 1919 Merkl, 1920 Sander, 1921 Verdroß und 1922 sowohl F. Kaufmann als auch Henrich. Über Pitamic, der sich ja schon 1915 habilitiert hatte, wurde Kelsens Lehre auch in Jugoslawien verbreitet, und vermutlich hoffte Kelsen, mit der Berufung Sanders nach Prag auch das Wirken der methodisch ähnlich ausgerichteten Brünner rechtstheoretischen Schule in der ČSR verstärken zu können. Die »jungösterreichische Schule«, wie der Kreis um Kelsen damals noch genannt wurde540 (die heute geläufigere Bezeichnung »Wiener rechtsphilosophische Schule« wurde erstmals wahrscheinlich 1923 von Fritz Schreier verwendet541), strahlte jedenfalls schon weit über das klein gewordene Österreich hinaus und war eine wissenschaftliche Schule von internationaler Bedeutung geworden. Es nimmt daher nicht Wunder, dass Merkl, Kelsens ältester und treuester Schüler, schon bald auch Überlegungen für eine Festschrift zu Ehren von Hans Kelsen anstellte; erstaunlich ist nur, dass er dazu offenbar schon Kelsens 40. Geburtstag im Oktober 1921 zum Anlass nehmen wollte, wo solche Ehrungen doch sonst, wenn überhaupt, erst Professoren zum 70. Geburtstag oder noch später zuteil wurden. Als sich Merkl im Frühjahr 1921 im Café Herrenhof mit Sander traf, um die Sache zu 536 Oben
149. AVA Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 610, Personalakt Herrnritt Rudolf; Perthold-Stoitzner, Henrich (2008) 135; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 490. 538 Kelsen, Kunz (1959/60) 324; Kammerhofer, Kunz (2008) 243; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 539. 539 Unten 400 f. 540 Außer dem schon erwähnten Stark, Die jungösterreichische Schule (1918), verwendete insbesondere noch Philipp Heck, der Begründer der Interessenjurisprudenz, diesen Terminus: Heck, Die reine Rechtslehre und die jungösterreichische Schule (1924). 541 Vgl. Schreier, Die Wiener rechtsphilosophische Schule (1923). 537 ÖStA,
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3. Kapitel: Akademisches
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besprechen, lehnte dieser, so Merkl später, »mit der Begründung seine Mitwirkung ab, daß er nicht gemeinsam mit Henrich an einer solchen Festschrift mitwirken wolle (Frühjahr 1921). Gleich danach hat er indiskreter Weise Kelsen in den Plan eingeweiht und dadurch dessen weitere Verfolgung zunichte gemacht.«542 Henrich selbst erfuhr erst viel später von diesen Geschehnissen; zwischen ihm und Sander hatte zwar niemals Freundschaft, aber auch kein Konflikt bestanden, weshalb er die Begründung Sanders für eine Ausrede hielt, und Merkl mutmaßte, dass Sander einfach vermeiden wollte, durch die Festschrift als ein Schüler Kelsens »abgestempelt« zu werden.543 Wie Merkl später erklärte, war es »charakteristisch für die Art Sanders, einen Schüler Kelsens gegen den anderen auszuspielen.«544 b) Der Konflikt mit Fritz Sander Dass Schüler, nachdem sie selbst auf eigenen Beinen stehen, sich von ihrem Lehrer emanzipieren wollen und aus diesem Grund etwas auf Distanz zu ihm gehen, ist ja bis zu einem gewissen Grad verständlich; dass Sanders Ablehnung etwa zur selben Zeit erfolgte, als Kelsen für Sanders »Ernennung in Prag auf seine Bitten ununterbrochen wirksam sein musste« und Sander »in besonderer Weise meine [Kelsens] Freundschaft suchte und mich in nachdrücklichster Weise seiner Ergebenheit und Dankbarkeit versicherte«, wirft allerdings ein erstes, bedenkliches Licht auf den Charakter Sanders.545 Sachliche Kritik an Kelsen kam ja auch von anderen Schülern: So beklagte sich etwa Verdroß einmal gegenüber Kelsen, dass dieser in seinem Buch über »Das Problem der Souveränität« einige Aussagen von Verdroß, namentlich zur monistischen Auffassung von Staats‑ und Völkerrecht, die er, Verdroß, »im Kreise Kelsens zuerst und im Gegensatze zu Kelsens früherer Auffassung vertreten und auch als erster publiziert habe, nicht entsprechend würdige. Kelsen verwies zwar in Anmerkungen auf meine Arbeiten, aber ohne so eindringlich auf ihren Einfluss zu verweisen, wie ich es mir gewünscht hätte. Das wurmte mich und gestützt auf mein freundschaftliches Verhältnis zu Kelsen« kündigte ihm Verdroß an, die wahren 542 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 10: Zeugenaussage Adolf Merkl v. 28. 5. 1923, Seite 4; der Ort des Gesprächs geht aus der zweiten Zeugenaussage Adolf Merkl v. 30. 6. 1923 hervor; vgl. ebenda ONr. 24, Seite 1. 543 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 23: Zeugenaussage Walter Henrich v. 30. 6. 1923, Seite 4; ebenda ONr. 24: Zeugenaussage Adolf Merkl v. 30. 6. 1923, Seite 2. Sander selbst gab später offen zu, dass er nicht mitmachen wollte, weil er zu diesem Zeitpunkt bereits »in offenem sachlichen Gegensatz zu Kelsens Lehre stand«: UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 20: Vernehmung von Fritz Sander v. 27. 6. 1923, Seite 29 f. 544 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 10: Zeugenaussage Adolf Merkl v. 28. 5. 1923, Seite 4. 545 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 22: Vernehmung Hans Kelsen v. 28. 6. 1923, Seite 5. Vgl. auch Kelsen, Autobiographie (1947) 24 = HKW I, 63, wo Kelsen davon berichtet, dass Sander ihn immer wieder als seinen geistigen Vater betrachtete, während er seinen leiblichen Vater gehasst hatte; Kelsen diagnostizierte geradezu einen »Oedipus Komplex« bei Sander, der sich in weiterer Folge gegen ihn, Kelsen, richtete.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Entwicklungszusammenhänge seiner Gedanken in einem neuen Buch darstellen zu wollen, während Kelsen sich einsichtig zeigte und ankündigte, im Vorwort zur bevorstehenden Neuauflage seiner »Hauptprobleme« die Sache »richtigstellen« zu wollen.546 Damit war die Angelegenheit für Verdroß erledigt. Der Konflikt Sanders mit Kelsen aber ging wesentlich tiefer. Und die Wurzel zu diesem Konflikt reichte zurück bis zu Sanders Habilitationsvortrag, den dieser im Juli 1920 zum Thema »Gott und Staat« gehalten hatte.547 Es ging hier um ein Problem, welches Kelsen schon 1914 in einem Aufsatz kurz angeschnitten und danach, wie von vielen Zeugen bestätigt, immer wieder in seinem Seminar thematisiert hatte: So wie der Staat als die Personifikation der Rechtsordnung erscheine, so könne auch die Idee eines persönlichen Gottes als Personifikation der »Ordnung des Universums« angesehen werden.548 Diese Parallelisierung war nicht bei allen Schülern des Kelsen-Kreises auf ein positives Echo gestoßen; Pitamic, Verdroß und Henrich etwa lehnten sie ab.549 Sander aber griff den Gedanken auf und vertiefte sich darin, indem er sich auch mit theologischer Literatur befasste; Kelsen förderte dies und ermöglichte es, dass Sander im Herbst 1920 einen zweiten Vortrag zu diesem Thema in der Nationalökonomischen Gesellschaft hielt, naturgemäß führte dies zu einem regen Gedankenaustausch zwischen Sander und Kelsen. Es ist gut möglich, dass Sander dabei auch einige theologische Werke nannte, die Kelsen bis dahin nicht kannte. »Im Dezember 1920«, so berichtet Sander, »fand ich gelegentlich eines Besuches [bei Kelsen] auf dem Schreibtisch von Kelsen eine Anzahl von theologischen Werken, eines, das ich nicht kannte, aber auch mehrere, über die ich zuerst mit Kelsen gesprochen hatte. Auf meine Frage sagte Kelsen, er schreibe ein Buch, darin werde ein Kapitel über das Thema »Gott – Staat« enthalten sein. […] Ich sagte, das gehe doch nicht an, er wisse, daß ich über diese Literatur mit ihm gesprochen habe und ebenso über die daran sich anknüpfenden Gedanken.«550 546 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 25: Zeugenaussage Alfred Verdroß v. 30. 6. 1923, Seite 4 f. Vgl. auch die Darstellung durch Sander ebenda, ONr. 20: Vernehmung von Fritz Sander v. 27. 6. 1923, Seite 28. Bei der von Verdroß angekündigten Monographie handelte es sich offenbar um Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes (1923), vgl. bes. Vorwort, Seite VII; es ist bemerkenswert, dass dieses Buch Hans Kelsen gewidmet ist, vgl. dazu Walter, Kelsen und Verdroß (2004) 41. Zur Neuauflage von Kelsens »Hauptproblemen« siehe noch unten 342 f. 547 Die diesbezüglichen Unterlagen sind nicht mehr erhalten; sogar Sander selbst konnte sich nicht mehr an das genaue Datum erinnern: UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 20: Vernehmung von Fritz Sander v. 26. 6. 1923, Seite 2. 548 Kelsen, Über Staatsunrecht (1914) 9 = HKW III, 447 = WRS 964. Im nachfolgenden Disziplinarverfahren gegen Hans Kelsen wird immer wieder auf diesen Aufsatz Bezug genommen, die Arbeit jedoch auf das Jahr 1913 datiert, was möglicherweise der Zeitpunkt der Entstehung des Aufsatzes war. 549 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 8: Zeugenaussage Alfred Verdroß v. 26. 5. 1923, Seite 3; ebenda ONr. 23: Zeugenaussage Walter Henrich v. 30. 6. 1923, Seite 3; Pitamic, Kritische Bemerkungen (1923). 550 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 20: Vernehmung von Fritz Sander v. 26. 6. 1923, Seite 2 f. Vgl. auch die Darstellung dieses Gesprächs bei
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3. Kapitel: Akademisches
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Als Kelsen Jahre später zu diesen Ereignissen befragt wurde, stritt er vehement ab, Literaturempfehlungen von Sander nachgegangen zu sein, er habe einfach mittels einschlägiger Handbücher die theologische Spezialliteratur gefunden, was man auch daran erkennen könne, dass Kelsen und Sander in ihren Publikationen, die letztlich zu diesem Thema erschienen, durchaus verschiedene Werke benutzten.551 Was jenen Abend im Dezember 1920 betraf, so hatte auch Kelsen ihn sehr genau in Erinnerung, stellte das Gespräch jedoch etwas anders dar: Sander habe ihm gegenüber gemeint, »er finde es merkwürdig dass ich über das Thema ›Gott und Staat‹ arbeite, wo ich doch wisse, dass er sich damit beschäftige. Ich hielt dies erst für einen Scherz und meinte lachend, dann müsste ich ja überhaupt aufhören wissenschaftlich zu arbeiten, da er ja so ziemlich über alle Probleme arbeitet, die bisher den Gegenstand meiner Untersuchung gebildet haben. Als ich merkte, dass es ihm tatsächlich Ernst sei, machte ich ihm in dem gleichen Er[n]st darauf aufmerksam, dass es ein beispielloser Übergriff sei, mir zuzumuten, die Arbeit über ein Thema aufzugeben, das ich nicht nur längst vor ihm in Angriff genommen, sondern das er nur als mein Schüler, nur auf Grund meiner ausdrücklichen Anregung und Belehrung, behandle. Es sei wohl genug, dass ich nicht mir ausschließlich dieses Thema reserviere, sondern jedem meiner Schüler freie Hand liesse. Es sei wohl das Wenigste was ich von meinen Schülern erwarten dürfe, dass sie das Gleiche für mich gelten lassen.« Auch erklärte ihm Kelsen, dass die Ausführungen zu Gott und Staat nur ein Kapitel einer größeren Arbeit – der 1922 veröffentlichten Monographie »Der soziologische und der juristische Staatsbegriff« – seien, »und dass ich gerade in diesem Abschnitt seinen literarischen Verdiensten vollauf Rechnung tragen werde.«552 Nach dem damaligen Stand der Dinge schien es sicher, dass Sanders Habilitationsschrift noch vor Kelsens Monographie gedruckt erscheinen würde, sodass Sander auch in dieser Hinsicht Sander, Kampfschrift (1923) 64. – Dass Sander Kelsen Literaturtipps gab, ist durchaus plausibel; bei der eben zitierten Vernehmung erklärte er sogar, noch immer jenes Exemplar eines Buches von Cassirer zu besitzen, welches er seinerzeit Kelsen geliehen habe – samt dessen handschriftlichen Notizen im Buch! UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 20: Vernehmung von Fritz Sander v. 27. 6. 1923, Seite 15. Bei diesem Buch wird es sich vermutlich um »Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit« gehandelt haben, welches von Kelsen, Das Verhältnis von Staat und Recht [1921] 458 = WRS 81 und Kelsen, Staatsbegriff [1922] 206 zitiert wurde. 551 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 22: Vernehmung von Hans Kelsen v. 28. 6. 1923, Seite 2. Das Argument Kelsens ist zutreffend: Bei Kelsen, Das Verhältnis von Staat und Recht (1921) sowie Kelsen, Staatsbegriff (1922), werden die evangelischen Dogmatiker Julius Kaftan (1848–1926) und Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782), die katholischen Dogmatiker Joseph Pohle (1852–1922) und Herman Schell (1850–1906) sowie der Kirchenhistoriker Adolf v. Harnack (1851–1930) zitiert; vgl. Voigt, Religion (2017) 154. Sander, Rechtsdogmatik (1921), geht wesentlich stärker auf die Bibel und die Kirchengeschichte selbst ein, gibt aber gerade hier erstaunlich wenige Belege an und nennt einen einzigen modernen Theologen, nämlich Gustav Krüger (1862–1940). In seinem Hauptwerk (Sander, Staat und Recht [1922]) wird schließlich auf keinen einzigen modernen Theologen Bezug genommen. 552 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 1: Eingabe Hans Kelsens v. 7. 5. 1923, Beilage, Seite 22 f. Vgl. auch die ergänzenden Angaben Kelsens ebenda, Nr. 7, ONr. 22: Vernehmung von Hans Kelsen v. 28. 6. 1923, Seite 2 f.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
keine Sorgen haben musste, dass Kelsen Gedanken veröffentlichen würde, die er von Sander übernommen habe. Doch blieb Sander misstrauisch und zog sich von da an von den »geselligen Nachmittagen« in der Wickenburggasse zurück.553 Etwa ein halbes Jahr später sprach er mit Pitamic, Verdroß und Strigl über das Problem, »dass bei der Art des Zusammenarbeitens es leicht vorkomme, dass der eine Gedanken des andern übernehme« und deutete zumindest Pitamic gegenüber auch an, dass er damit insbesondere auch Kelsen meine. Pitamic kontaktierte sofort Kelsen, der wiederum Sander anrief und ihn telefonisch zur Rede stellte.554 Wie Kelsen später berichtete, stritt Sander alles ab, sprach von einem Missverständnis oder einer Intrige – für die er später Verdroß verantwortlich machte – und schrieb am 16. Juli 1921 einen Brief an Pitamic, den er in Abschrift auch Kelsen zukommen ließ, und in dem er beteuerte, »daß mir die auch nur andeutende Beschuldigung eines Plagiates gegen Kelsen schon deshalb vollkommen fernliegt, weil sie sachlich eine lächerliche Absurdität bedeuten würde. Wenn überhaupt von einer Gedankenanlehnung die Rede sein kann, so bin nur ich es, der Gedanken Kelsens verwendet und allerdings – unter seiner intensivsten Förderung radikal weitergeführt habe.«555 Wie Kelsen weiter berichtet, bemühte sich Sander nun mit allen Kräften, das Verhältnis zu ihm wieder zu verbessern, und bat ihn, »den Zwischenfall durch seine Aufklärung als beigelegt zu betrachten«; als Kelsen Sander in seinem Haus in Wien besuchte,556 »brach Sander in sichtlicher Bewegung im Garten seines Hauses eine Rose von einem Strauch und überreichte sie mir in der deutlichen Absicht, damit einen symbolischen Freundschaftsakt zu setzen.« Kelsen, im Glauben, dass der Konflikt nun beendet sei, nahm dies zum Anlass, um Prof. Ludwig Spiegel in Prag zu schreiben, dass Sander, wenn er nun den Lehrstuhl an der Deutschen Technischen Hochschule erhalte, sich auch an der Deutschen Universität in Prag habilitieren solle.557 Diese eigenartigen Entwicklungen fanden parallel zu Folgendem statt: Etwa im April oder Mai 1921 übergab Sander Kelsen eine zehn Druckbogen starke Schrift, betitelt »Staat und Völkerrecht«. Entstanden war diese Schrift aus einer Rezension, die Sander zu Kelsens Buch »Das Problem der Souveränität« für die ZÖR hatte schreiben wollen. Kelsen erklärte später, dass er es bis dahin immer abgelehnt hatte, dass eines seiner Bücher durch einen seiner Schüler in seiner eigenen Zeitschrift rezensiert 553 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 20: Vernehmung von Fritz Sander v. 26. 6. 1923, Seite 4. 554 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 4: Zeugenaussage Leonid Pitamic v. 24. 5. 1923, Seite 2; ebenda, ONr. 8: Zeugenaussage Alfred Verdroß v. 26. 5. 1923, Seite 3; ebenda, ONr. 13: Zeugenaussage Richard Strigl v. 1. 6. 1923, Seite 2; ebenda, ONr. 20: Vernehmung von Fritz Sander v. 26. 6. 1923, Seite 4 f. Vgl. dazu auch Kletzer, Sander (2008) 446; Korb, Kelsens Kritiker (2010) 277. 555 Fritz Sander, Schreiben an Leonid Pitamic v. 16. 7. 1921, abgedruckt in ZÖR 3 (1922/23) 500 f. 556 Nach Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger wohnte Sander in Wien XVIII., Sternwartestraße 47. 557 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 6: Hans Kelsen, Rechtfertigungsschreiben v. 22. 5. 1923, Seite 1 f.
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3. Kapitel: Akademisches
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werde.558 »Erst bis [Sander] erklärte, er werde mich in dieser Rezension keineswegs bloß loben, sondern sich mit mir sehr entschieden auseinandersetzen, willigte ich ein, da ich mir nicht den Vorwurf machen lassen wollte, eine gegen mich gerichtete Rezension zu unterdrücken.«559 Auch dieses Manuskript behandelte die Parallele zwischen Staat/Recht einerseits, Gott/Natur andererseits, vielleicht, so mutmaßte Kelsen später, weil Sander schon damals fürchtete, dass Kelsen mit seiner – im Entstehen begriffenen – Monographie »Der soziologische und der juristische Staatsbegriff« schneller sein würde, als er selbst mit der Drucklegung seiner Habilitationsschrift, »Staat und Recht«. Kelsen, vielleicht durch die bisherigen Entwicklungen misstrauisch geworden, entschloss sich, jenen Teil seines Buches, der die Parallelen Gott–Staat behandelte, und der offenbar schon fertig war, zum Gegenstand eines eigenen Aufsatzes zu machen, der im gleichen Heft der ZÖR erscheinen sollte wie Sanders Aufsatz.560 Dieser Aufsatz Kelsens, betitelt »Das Verhältnis von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik«, enthielt auch eine längere Auseinandersetzung mit Sander: Wohl anerkannte Kelsen das »Verdienst Sanders«, den »Begriff des Staates erkenntnistheoretisch als Substanzbegriff« und »als erster die erkenntnistheoretische Parallele [des Rechts] zur Naturwissenschaft« nachgewiesen zu haben.561 Doch ging Kelsen an anderen Stellen deutlich auf Distanz zu Sander und bezweifelte dessen These, dass die transzendentale Methode auf das »Faktum des Rechts« anzuwenden sei – ohne die Gegenmeinung, die transzendentale Methode sei auf das »Faktum der Rechtswissenschaft« anzuwenden, klar zu favorisieren.562 »Da ich Sander hier in jeder Weise gerecht werden wollte, sandte ich ihm die Fahnen dieses Teiles mit der Ermächtigung, mir eventuelle Ergänzungen bekanntzugeben.« Dieser nahm tatsächlich einige Korrekturen vor, welche Kelsen auch berücksichtigte.563 Kern von Kelsens Aufsatz war eine eingehende Untersuchung der Parallelität des Verhältnisses zwischen Gott und Natur sowie Staat und Recht. Wenn die christliche Theologie die Transzendenz Gottes behaupte und sich damit gegen den Pantheismus 558 Dies ist unrichtig: Bereits 1919 hatte Sander Kelsens »Verfassungsgesetze« gemeinsam mit Merkls »Grundriß« der Verfassung 1919 in der ZÖR rezensiert und dabei hauptsächlich die von beiden Autoren vertretene Diskontinuitätsthese kritisiert: Sander, Buchbesprechung (1919). 559 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 1: Eingabe Hans Kelsens v. 7. 5. 1923, Beilage, Seite 23. Anders stellt Sander später den Vorfall dar; demnach habe er den Aufsatz ursprünglich im »Archiv für Rechts‑ und Wirtschaftsphilosophie« veröffentlichen wollen und erst auf Drängen Kelsens bei der ZÖR eingereicht: UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 20: Vernehmung von Fritz Sander v. 26. 6. 1923, Seite 4. Die Angaben bei Kelsen, Autobiographie (1947) 24 = HKW I, 62, sind zu stark verkürzend. 560 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 22: Vernehmung von Hans Kelsen v. 29. 6. 1923, Seite 5 f. 561 Kelsen, Das Verhältnis von Staat und Recht (1921) 459, 467 = WRS 81, 88. 562 Kelsen, Das Verhältnis von Staat und Recht (1921) 471 = WRS 90. 563 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 6: Hans Kelsen, Rechtfertigungsschreiben v. 22. 5. 1923, Seite 3. – Sander erklärte später, dass er nur das zehnte, nicht aber das elfte Kapitel (welches die Parallele Gott–Staat behandelte) bekommen hatte, dies aber nicht monierte: UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 20: Vernehmung von Fritz Sander v. 27. 6. 1923, Seite 11.
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richte, so gerate sie, so Kelsen, »in die gleiche Schwierigkeit wie die Staatsrechtslehre angesichts der von ihr behaupteten metarechtlichen Natur des Staates.« Kelsen zog aber noch weitere Parallelen, nämlich zwischen dem christlichen Dogma von der Menschwerdung Gottes und der ihr »haargenau« entsprechenden juristischen Lehre von der Selbstverpflichtung des Staates im sog. Rechtsstaat!564 Indem Kelsen den Dualismus von Staat und Recht auflöste und den Staat als identisch mit dem Recht erklärte, sprach er auch einer Identifizierung von Gott mit der Natur, mithin einem Pantheismus das Wort. Tatsächlich aber kann im ganzen Aufsatz Kelsens eigene, agnostische Weltsicht erkannt werden, die Gott nicht als real existierend, sondern als eine bloße »Projektion« der Menschen betrachtete. Erst während seines Sommerurlaubes, so erklärte Kelsen später, las er auch den fertig gesetzten Aufsatz Sanders (das »überaus unleserliche Manuskript« hatte Kelsen nach eigenen Angaben »nur flüchtig durchgesehen«, was angesichts der bisherigen Entwicklung geradezu fahrlässig, jedoch mit Blick auf die schwer lesbare Handschrift Sanders durchaus plausibel klingt) und erschrak zutiefst »über die beispiellosen Entstellungen meiner Theorie in der Sander’schen Darstellung.«565 Kelsen griff zu einem bedenklichen Schritt und ließ den Druck des Aufsatzes stoppen – wozu er als Herausgeber der ZÖR zweifellos berechtigt war. Über Vermittlung von Verdroß (der die Kritik Sanders noch durchaus im Rahmen des Sachlichen fand) traf er sich im August mit Sander, in der Hoffnung, ihn in einem mündlichen Gespräch von der Unrichtigkeit seiner Behauptungen überzeugen zu können, hatte jedoch keinen Erfolg. Verdroß erklärte Kelsen gegenüber, wenn er nun schon die Unvorsichtigkeit begangen habe, einen ungelesenen Aufsatz zum Druck anzunehmen, so müsse er ihn wohl auch wirklich drucken lassen.566 Also ordnete Kelsen die Fortführung des Drucks an, kündigte Sander aber auch an, dass er nun eine »scharfe Erwiderung« schreiben müsse. »Die Antwort, die mir darauf Sander gab, es war die dunkle Andeutung einer Drohung, veranlaßte mich, seinen Abschiedsbesuch – er war inzwischen nach Prag ernannt worden – durch meine Hausgehilfin telefonisch abzulehnen. Ich habe seither mit Sander weder gesprochen, noch seine Briefe beantwortet«, erklärte Kelsen zwei Jahre später.567 Tatsächlich war jene Unterredung zwischen Sander und Kelsen im Sommer 1921 die letzte persönliche Begegnung für fast vier Jahre. Das Dezemberheft 1921 der ZÖR enthielt also, wie geplant, sowohl Kelsens Aufsatz über »Das Verhältnis von Staat und Recht« als auch Sanders Aufsatz, der nunmehr den Titel »Rechtsdogmatik oder Theorie der Rechtserfahrung. Kritische Studie zur Rechtslehre Hans Kelsens« trug. Auch Sanders Aufsatz behandelte die Parallele 564 Kelsen,
Das Verhältnis von Staat und Recht (1921) 479 f. = WRS 96 f.
565 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 6: Hans
Kelsen, Rechtfertigungsschreiben v. 22. 5. 1923, Seite 3. 566 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 8: Zeugenaussage Alfred Verdroß v. 26. 5. 1923, Seite 4. 567 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 6: Hans Kelsen, Rechtfertigungsschreiben v. 22. 5. 1923, Seite 3. Vgl. auch Kelsen, Autobiographie (1947) 24 = HKW I, 62.
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von Gott und Staat sowie von der Menschwerdung Gottes und dem Rechtsstaat.568 Aber dies erfolgte nur auf den letzten Seiten; in seinem Hauptteil war der Aufsatz Sanders eine radikale Kritik an der traditionellen, von ihm als »Rechtsdogmatik« bezeichneten Rechtswissenschaft, zu der er auch Kelsen rechnete. Zwar habe dieser »[m]it bisher unbekannter Klarheit und Schärfe« gegen die bisherige »Metajurisprudenz der herrschenden Rechtsdogmatik die Forderung nach Reinheit der Methode der juristischen Erkenntnis erhoben«, doch sei Kelsen damit gescheitert. Denn auch Kelsen betrachte das Recht statisch, als ein System von Normen. Eine »Norm« aber könne nach Sander nur ethischer Natur sein, womit auch Kelsen Recht und Moral vermenge! Sander konzentrierte sich im Gegensatz dazu ganz auf die Rechtsdynamik, auf die stufenförmige Entstehung des Rechtes, dabei aber ganz und gar die einschlägigen Arbeiten Merkls ignorierend (was ihn nicht hinderte, Merkl an anderer Stelle gleichfalls der traditionellen Rechtsdogmatik zuzuordnen).569 Die traditionelle Rechtsdogmatik, so Sander weiter, habe immer den Anspruch erhoben, selbst ein Recht zu erzeugen, welches »neben und über dem ›Rechte der Rechtssätze‹« stehe, woraus sich ein »Dualismus zweier Rechte« ergebe.570 Diesen Dualismus auszumerzen, war Sanders Hauptanliegen:571 In einer extremen Überspannung von Cohens Lehre, dass die Methode (das Verfahren) ihren bzw. seinen Gegenstand erzeuge, kam er zum Schluss, dass das Analogon der Naturwissenschaft nicht die Rechtswissenschaft sei (denn diese erzeuge ja nur das eben erwähnte »Recht der Rechtswissenschaft«), sondern – das Recht selbst! Das »Rechtsverfahren«, d. h. das Verfahren der Verfassungsgebung, der Gesetzgebung etc. sei ein Verfahren, welches – ganz im Sinne der Transzendentalphilosophie – synthetische Sätze bilde, eben die Rechtssätze. Zu dieser (von Kelsen später als »lächerlich« eingestuften) Erkenntnis kam Sander nicht zuletzt dadurch, dass ja auch das Recht selbst »Gesetze« und »Urteile« erzeuge, so wie ja auch die Naturwissenschaften »Gesetze« und »Urteile« bilden.572 Es war also eine Gleichheit der Worte, die Sander zu einer Parallelisierung der Bedeutungen verleitet hatte lassen; und dieser Fehler führte zu einer Reihe weiterer, verhängnisvoller Konsequenzen (auf die hier nicht näher eingegangen werden muss). All diese Entwicklungen spielten sich ab, während Sander und Kelsen immer noch an ihrem gemeinsamen, zu besseren Zeiten entwickelten Plan festhielten, dass auch Sanders Hauptwerk, die grundlegend überarbeitete und erweiterte 568 Sander, Rechtsdogmatik (1921) 662. Vgl. auch oben Anm. 551 zu der unterschiedlichen Literatur, die von Kelsen und Sander zu diesem Thema verwendet wurde. 569 Sander, Rechtsdogmatik (1921) 511; vgl. dazu auch die Kritik durch Kelsen, Rechtswissenschaft und Recht (1922) 219, sowie Korb, Sander gegen Kelsen (2009) 196; Korb, Kelsens Kritiker (2010) 58. 570 Sander, Rechtsdogmatik (1921) 593. 571 Vgl. dazu Korb, Kelsens Kritiker (2010) 59 sowie auch die Gegenkritik von Kelsen, Rechtswissenschaft und Recht (1922) 180 f. 572 Kelsen, Rechtswissenschaft und Recht (1922) 126. Vgl. dazu auch Kletzer, Sander (2008) 451 f.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Habilitationsschrift, unter dem Titel »Staat und Recht« von Kelsen herausgegeben werden sollte. Denn Kelsen hatte es zuvor geschafft, dass die Schriftenreihe »Wiener Staatswissenschaftliche Studien«, in der er 1905 sein eigenes erstes Buch, die »Staatslehre des Dante Alighieri«, publiziert hatte, nach dem Krieg wiederbelebt wurde. Die seinerzeitigen Herausgeber, Edmund Bernatzik und Eugen v. Philippovich, waren mittlerweile verstorben; Kelsen begründete gemeinsam mit den beiden Ökonomen Friedrich Wieser und Othmar Spann eine »Neue Folge« der »Wiener Staatswissenschaftlichen Studien«, und diese sollte mit Sanders Habilitationsschrift eröffnet werden – auch dies ein Beweis für die große Gunst, in der Kelsens Schüler anfangs noch gestanden hatte.573 Ursprünglich hätte Sanders Buch auch eine Widmung an »Hans Kelsen, den Begründer der Theorie der Rechtserfahrung« enthalten sollen; nach Abbruch der persönlichen Kontakte zwischen Kelsen und Sander wies Kelsen diese Widmung jedoch zurück,574 weshalb Sander die Schrift schließlich seiner Mutter widmete, während er Kelsen im Vorwort »für die Ermöglichung der Drucklegung« nur kurz dankte. Diese Drucklegung war insbesondere deswegen möglich, weil die drei Herausgeber – offenbar von staatlicher Seite – eine Subventionierung ihrer Schriftenreihe erhielten, und zwar für den Druck von 50 Druckbögen (= 800 Seiten) pro Jahr. Kelsen stellte Sander ein ganzes Jahrespensum für die Drucklegung von dessen Habilitationsschrift zur Verfügung. Der Haken bei der Sache war, dass der Druck von Sanders Monographie für die Druckerei – es handelte sich um die in staatlichem Besitz befindliche Druckerei der »Wiener Zeitung« in der Bäckerstraße575 – keineswegs Priorität besaß: Vorrang hatte zum einen die ebenfalls hier produzierte ZÖR, die als Zeitschrift ja mehr oder weniger regelmäßig erscheinen musste; Vorrang hatten aber auch gewisse andere Aufträge, insbesondere, wenn sie von staatlicher Seite kamen. Just in der Zeit, in der das Sander’sche Werk gedruckt werden sollte, erhielt die Druckerei einen großen Auftrag von der Postsparkasse, der allen anderen Aufgaben vorangestellt werden musste, womit sich die Herstellung der Monographie empfindlich verzögerte; mehrmals musste Kelsen den Leiter der Druckerei, Karl Berghold, drängen, den Druck von Sanders Buch zu beschleunigen.576 Erst im Jänner 1922 konnte mit der Drucklegung von »Staat und Recht« begonnen werden. Kelsen hatte sich auch hier wieder das Recht ausbedungen, jeden Druckbogen 573 In weiterer Folge erschienen hier auch Schriften anderer Kelsen-Schüler, so etwa Schreier, Grundbegriffe (1924), Ross, Theorie (1929) und Kaufmann, Grundprobleme (1929), aber auch von Juristen, die nicht der Reinen Rechtslehre zuzurechnen waren, wie z. B. Adamovich oder Tezner, sowie von Wirtschaftswissenschaftlern wie etwa Wilhelm Winkler. 574 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 1: Eingabe Hans Kelsens v. 7. 5. 1923, Beilage, Seite 3; ebenda Nr. 7 ONr. 6 Beilage J: Fritz Sander, Schreiben an Hans Kelsen v. 27. 2 . 1922. 575 1859–1934 organisatorisch von der Österreichischen Staatsdruckerei getrennt. Vgl. https:// www.geschichtewiki.wien.gv.at/Staatsdruckerei [Zugriff: 20. 11. 2019]. 576 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 11: Zeugenaussage Karl Berghold v. 1. 6. 1923, Seite 1.
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3. Kapitel: Akademisches
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persönlich zu kontrollieren und die Druckgenehmigung (das »Imprimatur«) zu erteilen.577 »Als ich schon den 48. Bogen des Werkes von der Druckerei zum Imprimatur erhielt und mir auffiel, daß das Ende noch gar nicht abzusehen sei«, so berichtet Kelsen, »erkundigte ich mich bei der Druckerei, wieviel Manuskriptmaterial noch vorliege. Zu meinem maßlosen Erstaunen erhielt ich die Auskunft, daß noch circa 30 Bogen zu setzen seien, das Werk also insgesamt über 80 Druckbogen ausmache.«578 Kelsen ließ den Druck auch in diesem Fall stoppen und Sander ausrichten, dass eine »Fortführung des Druckes« nur möglich sei, wenn Sander die Mehrkosten selbst übernehme. Dieser jedoch weigerte sich und schrieb am 23. Februar 1922 an Verdroß, dass diese Zumutung einer Unterdrückung seines Werkes gleichkomme und dass sie in ihm »Gefühle des Hasses« erwecke, die Kelsen »aus persönlichen und sachlichen Gründen nicht erwünscht sein dürften. Wenn man mir Prügel zwischen die Füße wirft […], so werde ich meinem Charakter gemäß keineswegs ruhig zusehen, sondern so loslegen, daß demjenigen, der dies tut, Hören und Sehen vergehen wird.«579 Das war eine unverhohlene Drohung, auch wenn über ihre Bedeutung im Konkreten nur mehr gerätselt werden kann! Am 2. April 1922 kam Sander von Prag nach Wien, um bei der Druckerei zu urgieren. Dort erklärte ihm Berghold, dass er nichts tun könne, solange Kelsen einen Druckstopp verfügt habe, und dass Kelsen überdies das Manuskript wieder zum Verlag zurückschicken habe lassen, wo es in einer »eisernen Kasse« versperrt liege, weshalb er ihm dieses nicht ausfolgen könne.580 Sander, höchst erregt, ging durch die Wiener Innenstadt, als er – wohl zufällig – Kelsen im Café Herrenhof sitzen sah. Er ging jedoch nicht ins Café, sondern ins nahe gelegene Außenministerium am Ballhausplatz, wo Verdroß arbeitete, und brachte diesen dazu, an seiner Stelle ins Kaffeehaus zu gehen, damit Verdroß erneut zwischen Kelsen und Sander vermittle. »Ich teilte Kelsen mit«, so berichtete Verdroß später, »daß Sander sehr aufgeregt [sei] und mit Klage drohe für den Fall, daß der Druck nicht fortgesetzt werde.«581 Auf Bitten 577 Sander beklagte sich später, dass es dadurch immer wieder zu Verzögerungen kam: UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 20: Vernehmung von Fritz Sander v. 27. 6. 1923, Seite 11 f. Kelsen dagegen konnte sich nur an einen einzigen Fall erinnern, wo das Manuskript bei ihm liegen geblieben war: Ebenda, ONr. 22: Vernehmung von Hans Kelsen v. 29. 6. 1923, Seite 9. Die Ansicht Sanders wurde jedoch von Deuticke in einem Brief an Sander v. 7. 1. 1922 bestätigt, vgl. ebenda, ONr. 26. 578 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 6: Hans Kelsen, Rechtfertigungsschreiben v. 22. 5. 1923, Seite 4 f. Der 48. Bogen (= die Seiten 753–768) war Teil einer mehr als 70 Seiten langen Auseinandersetzung mit Paul Laband; mit seiner Kritik an Kelsen hatte Sander an dieser Stelle noch nicht einmal begonnen! 579 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 6: Hans Kelsen, Rechtfertigungsschreiben v. 22. 5. 1923, Seite 5 f., sowie Fritz Sander, Schreiben an Alfred Verdroß v. 23. 2 . 1922, ebenda, Beilage C. 580 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 20: Vernehmung von Fritz Sander v. 26. 6. 1923, Seite 6 f. Vgl. auch ebenda, ONr. 22: Vernehmung von Hans Kelsen v. 29. 6. 1923, Seite 7. 581 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 25: Zeugenaussage Alfred Verdroß v. 30. 6. 1923, Seite 1.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Sanders schlug Verdroß Kelsen vor, dass das Buch in zwei Halbbände geteilt und wenigstens der erste Band sofort gedruckt werde, was jedoch Kelsen ablehnte, zumal die beiden Halbbände jeweils für sich kein geschlossenes Ganzes bildeten, der Band vielmehr »einheitlich angelegt« war und durch die Teilung zerrissen worden wäre.582 »Als ich diesen Bescheid Sander überbrachte, war er sehr niedergeschlagen, er meinte, Kelsen wolle ihn vernichten, ich neckte ihn damals noch mit den Worten: Sie haben ja gesagt, Sie wollen ihn klagen.«583 Sander war natürlich in dieser Situation für derartige Witze nicht empfänglich, vielmehr erzählte er später, dass ihn Verdroß allen Ernstes dazu ermuntert habe, einen Rechtsanwalt zu konsultieren.584 Letztlich aber unterließ Sander diesen Schritt und versprach stattdessen, die Kosten für die 30 Bogen, die von der Subvention nicht gedeckt waren, selbst zu bezahlen. Durch diese und andere Ereignisse immer wieder aufgehalten, zog sich der Druck des Buches noch fast das ganze Jahr 1922 über hin. Erst am 29. November 1922 erschien »Staat und Recht« im Buchhandel; aus bindetechnischen Gründen war das 1304 Seiten starke Werk nun doch in zwei Teile geteilt worden, vom ersten Halbband hatte sich Sander mit Erlaubnis Kelsens für private Zwecke schon Ende September einige Exemplare aus der Druckerei holen können. Die Druckfassung von Sanders Habilitationsschrift war fast doppelt so dick wie jene Kelsens aus dem Jahr 1911; ihr Aufbau erinnerte frappant an jene, indem sie, so wie die »Hauptprobleme«, fast zur Gänze aus einer Aneinanderreihung der verschiedensten Lehrmeinungen und ihrer Kritik durch Sander bestand. Zu den kritisierten Staatsrechtlern gehörte natürlich auch Kelsen selbst, doch war die Kritik Sanders wesentlich maßvoller als im zuvor erschienenen Aufsatz; Sander behauptete sogar, dass sich Kelsen »zu meinem [= Sanders] Begriffe des Staates als ›Substanz‹ des Rechts« bekenne.585 Doch anders als Kelsens »Hauptprobleme« erschöpfte sich Sanders »Staat und Recht« fast ausschließlich in der Kritik anderer Staatsrechtler. Die eigenen Ansichten Sanders waren praktisch unauffindbar mit den Kritiken verwoben; nur die letzten beiden Seiten enthielten Sanders eigenes Credo vom Staat als Rechtsordnung, als »Erhaltung des Rechtsverfahrens«.586 Die Monographie in ihrer Gesamtheit, durch lediglich acht Überschriften gegliedert und ohne Sachregister oder Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse, war so gut wie unlesbar. Vor allem aber war »Staat und Recht« schon bei seinem Erscheinen veraltet, da seine Hauptergebnisse – die Identität von Staat und Recht, die Parallelität des Verhältnisses von Staat und Recht mit dem Verhältnis von Gott und Natur – schon ein halbes 582 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 22: Vernehmung von Hans Kelsen v. 29. 6. 1923, Seite 8. 583 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 25: Zeugenaussage Alfred Verdroß v. 30. 6. 1923, Seite 1. 584 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 20: Vernehmung von Fritz Sander v. 26. 6. 1923, Seite 9. 585 Sander, Staat und Recht (1922) 1180. 586 Sander, Staat und Recht (1922) 1299.
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3. Kapitel: Akademisches
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Jahr früher,587 und viel besser, dargestellt worden waren in Kelsens Monographie »Der soziologische und der juristische Staatsbegriff«, die bei Mohr Siebeck erschienen war. Auch Kelsen kritisierte in diesem – lediglich 257 Seiten starken – Buch eingehend eine Reihe von Staatsrechtlern, darunter auch viele, die bereits den Gegenstand der Untersuchung von Sander gebildet hatten: So wie Sander lehnte auch Kelsen die »Zwei-Seiten-Theorie« Jellineks ab: »Der Versuch, eben dasselbe Objekt: den Staat, zum Inhalt zweier verschiedener Begriffe, eines sozialen und eines Rechtsbegriffs zu machen und dabei die Identität des Erkenntnisgegenstandes aufrechtzuerhalten, muß natürlich zu den schwersten Widersprüchen und Verrenkungen führen.«588 So wie Sander anerkannte auch Kelsen die Bemühungen des deutschen Staatsrechtslehrers Edgar Loening, den Staat als ein »Rechtsverhältnis« zu verstehen, und übte nur in Detailfragen Kritik an Loening. Und auch der Holländer Hugo Krabbe, der – gleich Kelsen – versuchte, die traditionelle »Gewaltenterminologie« aus der Staatsrechtslehre zu verbannen, zumal jede Gewalt, die Geltung beanspruche, »einzig und allein Rechtsgewalt« sei, findet sich sowohl in Kelsens wie auch in Sanders Werk.589 Aber in Summe war das Ausmaß und die Intensität der Beschäftigung mit anderen Staatsrechtslehrern bei Kelsen doch wesentlich geringer als bei Sander. Dafür ließ Kelsen auch eine Reihe von Soziologen, von Herbert Spencer und Émile Durkheim bis zu Max Weber und Othmar Spann, zu Wort kommen. Vor allem aber gab Kelsen seinen eigenen Ansichten weit mehr Raum, als dies Sander tat. Diese Ansichten aber waren – in aller Kürze zusammengefasst – die folgenden: Der Staat sei ein ausschließlich mit juristischen Methoden zu erfassendes Phänomen; wolle man neben dem »juristischen« Staat auch den Staat als »soziales Phänomen« erfassen, so habe man es mit zwei verschiedenen Objekten zu tun. Eine nähere Betrachtung dieses »juristischen« Staates aber zeige, dass Staat und Recht miteinander identisch seien; es handle sich immer um ein und dasselbe Ordnungssystem. Wolle man den bisherigen, »dualistischen« Sprachgebrauch aufrechterhalten, so könne man dies höchstens insoweit tun, als vom Staat eher dann gesprochen werde, wenn diese Ordnung erst geschaffen werde, der Staat also »dynamisch« handle (z. B.: der Staat erlässt ein neues Gesetz), das Recht selbst werde dagegen als eine »geordnete Ordnung« angesehen, habe also eher einen »statischen« Charakter (im Beispiel: das Recht bildet den Inhalt jenes Gesetzes).590 Wie bereits berichtet, hatte Kelsen die letzten Kapitel seines Buches – sie enthielten sowohl den Vergleich Gott – Staat als auch seine Kritik an Sander – schon im Herbst 1921 in der ZÖR abdrucken lassen, und sie fanden sich in der Monographie 587 Bereits am 7. 6. 1922 erscheint eine erste Buchbesprechung: Mayer-Mallenau, Ein neues Werk (1922). 588 Kelsen, Staatsbegriff (1922) 117; Sander, Staat und Recht (1922) 665. Siehe dazu auch Goller, Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1997) 110; Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt (2010) 279. 589 Kelsen, Staatsbegriff (1922) 171–178, 184–191; Sander, Staat und Recht (1922) 699–701, 1078–1114. 590 Kelsen, Staatsbegriff (1922) 204.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
nun nahezu unverändert wieder, allerdings waren insbesondere einige Fußnoten, in denen Sander kritisiert wurde, deutlich erweitert worden.591 Diese – sehr maßvoll gehaltene – Kritik nahm aber nur auf Sanders ältere Aufsätze sowie auch auf das »im Erscheinen begriffene Buche« »Staat und Recht« Bezug, nicht auf Sanders Aufsatz »Rechtsdogmatik oder Theorie der Rechtserfahrung«. Denn die Kritik Kelsens an diesem Aufsatz war, wie angekündigt, Gegenstand eines eigenen Aufsatzes, der im praktisch gleichzeitig, im September 1922, erscheinenden, neuen Heft der ZÖR erschien: »Rechtswissenschaft und Recht. Erledigung eines Versuchs zur Überwindung der ›Rechtsdogmatik‹«. Schon das Wort »Erledigung« zeigte, dass Kelsen, nachdem er schon persönlich mit Sander gebrochen hatte, sich nun auch wissenschaftlich zum allerletzten Mal mit ihm auseinandersetzen und ihn vollständig widerlegen wollte, hatte es doch Sander selbst zuvor in seinem Aufsatz »auf nichts weniger als eine radikale Vernichtung« von Kelsens Theorie abgesehen gehabt.592 Dabei stand Kelsen nicht an, erneut die Verdienste Sanders um die Rechtstheorie zu würdigen. Doch habe er einen grundlegenden Fehler begangen, indem er die Parallele nicht zwischen Naturwissenschaften und Rechtswissenschaften, sondern zwischen Naturwissenschaften und dem Recht selbst gezogen habe.593 »Zu dieser, dem Sinn der Transzendentalphilosophie hohnsprechenden Verrenkung ist Sander offenbar nur dadurch verleitet worden, daß im juristischen Material etwas ›Gesetz‹ und ›Urteil‹ heißt, was jedoch nicht das Entfernteste mit dem Gesetz und Urteil der transzendentalen Logik, d. h. mit dem Gesetz und Urteil wissenschaftlicher Erkenntnis zu tun hat! Diese [Ä]quivokation ist für ihn […] zum Verhängnis geworden.« Gesetze, Urteile und Verordnungen bilden ja bloß das Material für die Rechtssätze, und diese seien tatsächlich von der Rechtswissenschaft zu bilden. In seinem Bemühen, das Dogma von der Rechtswissenschaft als Rechtsquelle zu widerlegen, habe er die »Rechtswissenschaft kurzerhand negiert. Dafür hat er aber die Rechtsquelle zur – Wissenschaft, zu einer Wissenschaft qualifiziert, die – wenngleich sie nach der Sanderschen Darstellung eine mathematische Naturwissenschaft ist – so doch als Rechtswissenschaft – die Sandersche Rechtswissenschaft – bezeichnet werden muß.«594 Die Auseinandersetzung mit Sander zwang Kelsen, sich weit stärker, als es in allen bisherigen Arbeiten erfolgt war, sowohl mit Kant selbst als auch mit Hermann Cohen und dessen neukantianischer Transzendentalphilosophie auseinanderzusetzen.595 Das Urteil sei demnach eine spezifische Funktion der Erkenntnis, die Transzendental 591 Vgl.
Kelsen, Staatsbegriff (1922) 215 Anm. 1, 216, Anm. 3, und besonders 218–221, Anm. 3. Rechtswissenschaft und Recht (1922) 103. 593 Kelsen, Rechtswissenschaft und Recht (1922) 106, 110, 227. 594 Kelsen, Rechtswissenschaft und Recht (1922) 117, 179–181; vgl. Kletzer, Sander (2008) 456–458. 595 Allerdings auch hier, ohne konkrete Seiten aus ihren Werken zu zitieren. Deutlich wird der neukantianische Einfluss aber z. B. dort, wo Kelsen die »Grund‑ oder Ursprungsnorm« als eine »juristische Hypothese« bezeichnet: Kelsen, Rechtswissenschaft und Recht (1922) 231. Vgl. zum neukantianischen Aspekt der Kelsen-Sander-Kontroverse insbesondere Paulson, Zur neukantianischen Dimension (1988); Korb, Kelsens Kritiker (2010) 55 ff. 592 Kelsen,
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3. Kapitel: Akademisches
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philosophie sei Erkenntniskritik, die Frage, wie synthetische Urteile möglich seien. Es sei Cohen gewesen, der versucht habe, »die transzendentale Methode über das Gebiet der Naturwissenschaft hinaus anzuwenden und die Ethik transzendentalphilosophisch zu konstituieren« und synthetische Urteile der Ethik zu analysieren. Kelsen ließ es dahingestellt, ob dies für den Bereich der Rechtswissenschaften möglich sei und pflichtete hier auch der Kritik Sanders an Cohen bei. »Allein was er an dessen Stelle setzen will, muß im höchsten Maße für problematisch erklärt werden«. Kelsen kam zum Schluss, dass das, was Sander »Rechtserfahrung« nenne, nichts anderes als ein System synthetischer Urteile, damit aber eine Wissenschaft im Sinne der Kant’schen Transzendentalphilosophie sei.596 Obwohl im Ganzen sachlich gehalten, sparte Kelsen nicht mit scharfen Formulierungen (»groteske Irrung«, »beispiellose Entgleisung«, »absurd«) und zeigte auch seine persönliche Verbitterung über Sander, insbesondere, wenn dieser Kelsens eigene Lehre falsch darstellte: Ein »solches Mißverständnis kann ich jedem zubilligen, nur nicht Sander, der durch Jahre hindurch dem engsten Kreise meiner wissenschaftlichen Freunde und Schüler angehört und hier reichlich Gelegenheit hatte, meine Lehrmeinung soweit kennen zu lernen, daß er gerade hinsichtlich des hier in Frage stehenden Punktes [= der Gleichrangigkeit der beiden monistischen Theorien des Völkerrechts] auch nicht den geringsten Zweifel hegen konnte.« Was Sanders von ihm selbst so bezeichnete »Rechtsdynamik« betreffe, so gehe diese »in keinem Punkte auch nur um Haaresbreite über Merkls Theorie« vom rechtlichen Stufenbau hinaus; er habe sie lediglich »in eine prätentiöse, Sinn und Quelle verdunkelnde Terminologie« eingekleidet. Und bezüglich der Parallele Gott–Staat erklärte Kelsen, dass er sich nunmehr »leider gezwungen« sehe, »ausdrücklich festzustellen, daß Sander diesen Gedanken von mir restlos übernommen hat.«597 Glaubte Kelsen tatsächlich, mit diesem Aufsatz die Lehre Sanders »erledigt« zu haben? Das letzte Wort in der Auseinandersetzung war noch nicht gesprochen, vielmehr bat Sander, auch auf diesen Aufsatz Kelsens mit einem eigenen Aufsatz in der ZÖR antworten zu dürfen. Kelsen ließ ihm ausrichten, dass er nicht pauschal einen Aufsatz akzeptieren könne, dessen Inhalt er noch nicht kenne. Sander verzichtete daher auf diese Option und fuhr stattdessen Ende 1922 von Prag nach Tübingen, wo er dem Verlag Mohr Siebeck persönlich das Manuskript für eine 177 Seiten starke Monographie überreichte, die im Frühjahr 1923 gedruckt erschien: »Kelsens Rechtslehre. Kampfschrift wider die normative Jurisprudenz.«598 Ganz offensichtlich gekränkt von der vernichtenden Kritik, mit der Kelsen Sanders Rechtslehre »erledigt« hatte, und dem spöttischen Ton, in dem dies geschehen war, beschränkte sich Sander nicht nur darauf, argumentativ-wissenschaftlich Kelsens 596 Kelsen,
Rechtswissenschaft und Recht (1922) 128, 131. Rechtswissenschaft und Recht (1922) 133, 175, 201, 204, 224, 229. 598 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 6: Hans Kelsen, Rechtfertigungsschreiben v. 22. 5. 1923, Seite 6; ebenda ONr. 8: Zeugenaussage Alfred Verdroß v. 26. 5. 1923, Seite 4. 597 Kelsen,
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Lehren zu bekämpfen, sondern erklärte auch, dass Kelsen sein ursprüngliches rechtstheoretisches Konzept selbst »zersetzt« habe, indem er »in steigendem Maße, ausdrücklich und stillschweigend, Elemente meiner Theorie der Rechtserfahrung in seine Lehre einzubauen versuchte, ein Versuch, der wegen völliger Unvereinbarkeit [dieser Lehren] mißlingen musste«.599 Stillschweigende Übernahme seiner Lehren? Klang dies nicht nach einem Plagiatsvorwurf ? Diesen Vorwurf wollte Sander »keineswegs« erheben; vielmehr war er davon »überzeugt, daß Kelsen, der – um Merkls Worte zu gebrauchen – ›im Banne meiner Gedanken stand‹, sich allmählich selbst über die Grenzen zwischen normativer Jurisprudenz und Theorie der Rechtserfahrung täuschte und das, wovon ich ihn in langen, oft mühevollen Diskussionen überzeugt hatte, schließlich von den Gedanken seiner Lehre nicht mehr zu unterscheiden vermochte.«600 Sanders Einfluss auf Kelsen habe sich insbesondere darin gezeigt, dass er die transzendentale Methode nur aus Sanders Schriften kenne, zumal er es »nicht der Mühe wert gefunden« habe, Cohen im Original zu lesen! Sander dagegen sei schon von Anfang an ein Anhänger Cohens gewesen; seine im Wesentlichen schon 1918 feststehenden »Grundgedanken« waren Kelsen aus »Gesprächen und Vorträgen« bekannt; er, Sander, war jene »Quelle«, »aus der Kelsen durch Jahre getrunken hat, bis er, von der Quelle weggewiesen, entdeckte, daß sie Gift enthalte«.601 Wie aber war es möglich gewesen, dass Kelsen – scheinbar als erster – in seinem »juristischen und soziologischen Staatsbegriff« auf die Parallele Gott–Staat hinweisen konnte, obwohl Sander die diesbezüglichen Gedanken schon viel früher entwickelt und auch in seiner Habilitationsschrift zu Papier gebracht hatte? Ganz einfach dadurch, dass »Kelsen trotz meiner lebhaften Proteste immer wieder durch Einschiebung anderen Druckes das Erscheinen meines Werkes verzögerte.«602 Somit warf Sander Kelsen vor, bewusst das Erscheinen von »Staat und Recht« hinausgezögert zu haben, um sich die »Priorität« zu sichern. Im übrigen waren Sanders Äußerungen, er wolle Kelsen nicht des Plagiats beschuldigen, eine »protestatio facto contraria«, zumal er hier, wie an vielen anderen Stellen seiner »Kampfschrift«,603 wieder und wieder 599 Sander, Kampfschrift (1923) 2. Der Einschätzung von Kletzer, Sander (2008) 446, dass der
Ton von Sanders Kampfschrift »sachlich«, lediglich der Inhalt »etwas konfus« gewesen sei, kann nicht beigepflichtet werden. 600 Sander, Kampfschrift (1923) 30 f. Im nachfolgenden Disziplinarverfahren vor der Universität Wien (dazu sogleich) erklärte Merkl, eine derartige Äußerung niemals getätigt zu haben: UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 10: Zeugenaussage Adolf Merkl v. 28. 5. 1923, Seite 3 f. Erst Sander klärte das Missverständnis auf: Er habe auf die Ausführungen zum Gesetzgebungsverfahren bei Merkl, Verfassung (1919) 75, Bezug genommen, wo Merkl erklärt hatte, selbst im Banne der Gedanken Sanders zu stehen: Ebenda, ONr. 20: Vernehmung von Fritz Sander v. 27. 6. 1923, Seite 21 f. Aus dem Zusammenhang gerissen, wirkte das Zitat allerdings tatsächlich so, dass Kelsen im Banne Sanders gestanden sei – und dies war wohl auch so beabsichtigt! 601 Sander, Kampfschrift (1923) 23, 79. 602 Sander, Kampfschrift (1923) 65. 603 Vgl. insbesondere noch Sander, Kampfschrift (1923) 59.
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Sachverhalte behauptete, die den Tatbestand des Plagiats erfüllten!604 Damit war der Boden der rein wissenschaftlichen Kontroverse endgültig verlassen worden. c) Das Disziplinarverfahren gegen Hans Kelsen Wer Wien und seine Sehenswürdigkeiten liebt, der sollte spätestens bei seinem zweiten Besuch in der Stadt auch den Wiener Zentralfriedhof, bis heute eine der größten Nekropolen der Welt, besichtigen. Der Weg dorthin ist weit, doch wird der Tourist schon allein durch den Anblick der monumentalen, 1908–1911 nach Plänen von Max Hegele errichteten Kirche, die das Zentrum des Friedhofes darstellt, belohnt. Mit ihrer riesigen, an barocke Vorbilder erinnernden Kuppel und mit ihrer secessionistischen Ornamentik weiß sie alte und neue Architektur geschickt zu verbinden.605 Die Ähnlichkeit der Kirche am Zentralfriedhof mit der 1904–1907 nach Plänen von Otto Wagner erbauten »Kirche am Steinhof«, ganz im Westen von Wien, ist offensichtlich, und der unvoreingenommene Betrachter muss zum Schluss kommen, dass sich der 1873 geborene Max Hegele massiv vom mehr als dreißig Jahre älteren Wagner und von dessen wenige Jahre zuvor gebauter Kirche beeinflussen ließ. Doch der Schein trügt: Hegele entwarf seine Pläne schon 1899 und reichte sie bei einem Wettbewerb ein, aus dem er als Sieger hervorging; verschiedene Umstände waren dafür verantwortlich, dass der Bau der Kirche am Zentralfriedhof erst acht Jahre später begonnen wurde. Wagner waren die Pläne Hegeles bereits bekannt, als er seine Kirche am Steinhof entwarf, und wenn tatsächlich einer der beiden Architekten sich vom anderen inspirieren ließ, dann war es der alte Meister selbst. Dass Lehrer von ihren Schülern Gedanken übernehmen, ist also gar nicht so ungewöhnlich – man denke etwa in der Rechtswissenschaft an Puchtas Lehre vom »Volksgeist«, die später von seinem Lehrer Savigny aufgegriffen und zu einem Zentralbegriff der Historischen Rechtsschule wurde.606 Ein Plagiat jedoch war gerade in diesen Fällen besonders verwerflich, da sich ein Schüler ja nur schlecht gegen seinen Lehrer wehren kann. Sollte tatsächlich Kelsen das geistige Eigentum Sanders gestohlen haben? Wenige Tage, nachdem Sanders »Kampfschrift« in Tübingen bei Mohr Siebeck erschien, brachte der Verlag Deuticke in Wien eine nur vier Seiten starke Schrift Kelsens, betitelt »In eigener Sache«, als Sonderdruck der ZÖR heraus.607 In ihr erklärte Kelsen, 604 So auch die Feststellung des Untersuchungsführers, Prof. Alexander Löffler, beim nachfolgenen Disziplinarverfahren: UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 17: Fritz Sander, Schreiben an Hans Sperl v. 1. 6. 1923; ebenda ONr. 18: Bericht des Untersuchungführers v. 6. 6. 1923, Seite 2 f. Unrichtig daher die Einschätzung durch Kletzer, Sander (2008) 447. 605 http://www.architektenlexikon.at/de/216.htm [Zugriff: 26. 0 4. 2019]. 606 Der 1828 in Puchtas »Gewohnheitsrecht« verwendete Begriff wurde erst 1840 von Savigny aufgegriffen: Welker, Volksgeist (1998) 987. Genauere Untersuchung zeigt freilich auch hier, dass die Beeinflussung gegenseitig war; so verwendete Savigny bereits 1809 in einem Brief an Feuerbach den Begriff »Nationalgeist«: Haferkamp, Puchta (2004) 185. 607 Die Chronologie ergibt sich aus Sander, In eigener Sache (1923) 1.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
weder auf »[p]ersönliche Beschimpfungen« noch auf die sachlichen Argumente Sanders in dessen »Kampfschrift« eingehen zu wollen (»Die sachliche Diskussion ist für mich abgeschlossen.«).608 Nur gegen den Vorwurf des Plagiats und der bewussten Verzögerung des Druckes von Sanders Hauptwerk wollte er sich verwahren. Er tat dies, indem er sich »einstweilen« darauf beschränkte, Sanders Brief an Pitamic vom 16. Juli 1921, in dem Sander schon damals alle Plagiatsvowürfe abgestritten hatte, kommentarlos und im Volltext zu veröffentlichen.609 Daran schloss sich eine von Henrich, F. Kaufmann, Merkl, Schreier, Seidler jun. und Verdroß unterschriebene, auf den 7. Mai 1923 datierte »Erklärung« an, in der sich die Genannten »mit Stolz« als »Hans Kelsens Schüler« bezeichneten, sich von Sander distanzierten, betonten, wie sehr er, so wie auch sie selbst, stets von ihrem Lehrer profitiert hatte, und Kelsen ihrer dankbaren »Verehrung und Anhänglichkeit« versicherten.610 Am selben Tag, dem 7. Mai 1923, erstattete Kelsen Selbstanzeige an die Disziplinarkammer der Universität Wien. Die »Verdächtigungen«, die Sander gegen ihn erhoben habe, seien, »wenn sie wahr wären, mit der Standesehre eines akademischen Lehrers unvereinbar«, erklärte Kelsen.611 Eine derartige Vorgangsweise war zu jener Zeit durchaus üblich: Immer wieder wurde die Disziplinarkammer der Universität Wien mit Fällen konfrontiert, in denen ein Wissenschaftler den anderen eines ehrenrührigen Verhaltens zieh oder umgekehrt ein Wissenschaftler Selbstanzeige erstattete, um sich von einem solchen Vorwurf in aller Form reinzuwaschen.612 In seinem 28-seitigen Schreiben – das am 22. Mai noch durch eine siebenseitige, ergänzende »Rechtfertigungsschrift« Kelsens sowie zahlreiche Briefe von und an Sander ergänzt wurde – stellte Kelsen sein persönliches und wissenschaftliches Verhältnis zu Sander umfassend dar und wies alle Anschuldigungen zurück. Seine persönliche Verbitterung ist deutlich spürbar, wenn er zusammenfassend feststellte, dass er Sander seinerzeit im Archiv des Kriegsministeriums untergebracht, »gegen einen grossen Widerstand« an der Universität Wien habilitiert und ihm bei der Berufung nach Prag geholfen habe. »Ich stelle schliesslich fest, dass ich mit Ausnahme seines letzten gegen mich gerichteten Pamphletes so gut wie alle seine Arbeiten in meiner Zeitschrift und in meinen Studien veröffentlicht habe. Ich habe für diesen meinen Schüler mehr getan, als für alle anderen.«613 Und das sei nun der Dank? Der Vorsitzende der Disziplinarkammer, der Zivilprozessualist Hans Sperl, sah es angesichts der Schwere der erhobenen Vorwürfe und der Bedeutung der betroffenen 608 Kelsen,
In eigener Sache (1923) 499 f.
609 Fritz Sander, Schreiben an Leonidas Pitamic v. 16. 7. 1921, abgedruckt bei Kelsen, In eigener
Sache (1923) 500 f. 610 Erklärung v. 7. 5. 1923, abgedruckt bei Kelsen, In eigener Sache (1923) 501 f. 611 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 1: Eingabe Hans Kelsens v. 7. 5. 1923, Seite 1. 612 Vgl. dazu umfassend Staudigl-Ciechowicz, Dienst-, Habilitations‑ und Disziplinarrecht (2017). 613 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 1: Eingabe Hans Kelsens v. 7. 5. 1923, Beilage, Seite 27 f. Die »Rechtfertigungsschrift« ebenda unter Nr. 7, ONr. 6.
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3. Kapitel: Akademisches
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Personen als unumgänglich an, zumindest förmliche »Erhebungen« anzustellen, die klären sollten, ob tatsächlich ein Disziplinarverfahren gegen Hans Kelsen einzuleiten sei.614 Auch der Disziplinaranwalt, der Strafrechtler Wenzel Gleispach, pflichtete dem bei und schlug vor, Merkl, Verdroß, Seidler jun., Strigl und Sander sowie auch den Leiter der Druckerei der »Wiener Zeitung«, Karl Berghold, als Zeugen zu vernehmen; Adolf Menzel solle ein Gutachten zum Plagiatsvorwurf erstellen.615 Mit der Durchführung der Zeugeneinvernahmen wurde der Strafrechtler Alexander Löffler beauftragt.616 In den folgenden Tagen fanden die Vernehmungen von Verdroß, Merkl, Berghold, Seidler jun. und Strigl sowie auch von Pitamic, der offenbar eigens zu diesem Zweck nach Wien gereist war, statt.617 Sämtliche Zeugen unterstützten die Aussagen Kelsens und entlasteten ihn in allen Punkten: Kelsen habe über die transzendentale Methode Cohens, über die Unhaltbarkeit der Zwei-Seiten-Theorie, über die Parallele Gott– Staat etc. schon jahrelang in seinem Seminar gesprochen, dort auch bereitwillig noch unveröffentlichte Manuskripte seinen Schülern vorgelesen, während Sander es gewesen war, der sich in diesem Seminar – von seinem kurzen »Aufblühen« im Jahre 1918 abgesehen – zuerst wegen Unwissenheit, dann offenbar aus anderen Gründen, merkwürdig zurückgehalten habe. Cohen sei von Sander ursprünglich abgelehnt worden, erst der Kelsen-Schüler Franz Havliček sei es gewesen, der Sander während ihrer gemeinsamen Zeit im Feldgerichtsarchiv zu Cohen »bekehrt« habe, sodass dieser später sogar einmal zu Verdroß gesagt habe: »Ich schreibe jetzt das Buch des Havliček, aber ich kann ihm nicht helfen.«618 Franz Havliček hatte sein eigenes Buch tatsächlich niemals fertiggestellt, sondern der Wissenschaft den Rücken gekehrt; er lebte mittlerweile in Berlin619 und wurde offenbar aus diesem Grund von der Universität Wien nicht als Zeuge einvernommen, obwohl gerade er sicher viel hätte sagen können. Auch Sander wurde zu einer Einvernahme »eingeladen« (da er als Professor der Deutschen Technischen Hochschule Prag nicht mehr der Disziplinargewalt der Wiener Universität unterstand, konnte er nicht förmlich »geladen« werden).620 Dieser 614 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, nach Nr. 1, Aktenvermerk des Vorsitzenden v. 10. 5. 1923. 615 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 2; die entsprechenden Verfügungen des Vorsitzenden ebenda Nr. 3, die Beauftragung Menzels ebenda Nr. 5. 616 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 4. 617 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 8: Zeugenaussage Alfred Verdroß v. 26. 5. 1923; ebenda ONr. 10: Zeugenaussage Adolf Merkl v. 28. 5. 1923; ebenda ONr. 11: Zeugenaussage Karl Berghold v. 1. 6. 1923; ebenda ONr. 12: Zeugenaussage Ernst Seidler jun. v. 1. 6. 1923; ebenda ONr. 13: Zeugenaussage Richard Strigl v. 1. 6. 1923; ebenda ONr. 4: Zeugenaussage Leonid Pitamic v. 24. 5. 1923. 618 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 8: Zeugenaussage Alfred Verdroß v. 26. 5. 1923, Seite 2. 619 Dies geht aus zwei Schreiben von Richard Weininger an Hans Kelsen sowie aus einer an Kelsen gerichteten Postkarte Havličeks hervor: UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 22: Vernehmung von Hans Kelsen v. 29. 6. 1923, Beilagen A–C. 620 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 6: Hans Sperl, Schreiben an Fritz Sander v. 16. 5. 1923.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
jedoch erklärte sich für unabkömmlich und gab zunächst nur schriftliche Stellungnahmen ab, bei denen er sich immer weiter in Widersprüche verwickelte: So schrieb Sander am 15. Mai an Verdroß, dass ihm der seinerzeitige Brief an Pitamic »abgezwungen« worden sei, eine Woche später an Löffler jedoch, dass er jenen Brief »mit Vergnügen« verfasst habe.621 Wie auch immer: Eine Reise nach Wien, so erklärte Sander, sei nicht vor dem 20. Juni möglich.622 Der Untersuchungsführer aber wollte nicht so lange warten: Schon am 6. Juni fasste Löffler das Ergebnis seiner Ermittlungen in einem Bericht zusammen und erachtete eine Zeugenaussage Sanders für überflüssig. Eine solche habe nur dann einen Wert, »wenn die Persönlichkeit des Zeugen irgend eine Gewähr dafür [biete], daß seine Aussage aufrichtig und wahrhaftig sein werde.« Die bisherigen Erhebungen aber hatten ihn eines anderen belehrt: Sander sei »ein haltungsloser Mann […], von dem eine aufrichtige und wahrheitsgetreue Zeugenaussage nicht zu erwarten ist. Ich glaube, daß wir auf sein Erscheinen in Wien verzichten und das Verfahren mit tunlichster Beschleunigung abschließen sollten.«623 Wahrhaft ein bedenklicher Umgang eines Strafrechtsprofessors mit einem elementaren prozessualen Grundsatz wie dem des rechtlichen Gehörs! Aber auch der zweite beteiligte Strafrechtsprofessor, der Disziplinaranwalt Gleispach, billigte diese Vorgangsweise und stellte seinen Schlussantrag, auch ohne Anhörung Sanders von einem Disziplinarverfahren gegen Kelsen abzusehen, zumal Sander »ein Mann von moralischer Farbenblindheit« sei, »wie sie selten angetroffen wird, ein Mann, dessen Angaben kein Glaube beigemessen werden kann.«624 Denn in der Zwischenzeit, am 19. Juni, hatte auch Adolf Menzel sein Gutachten erstellt, welches Kelsen vollkommen vom Plagiatsvorwurf entlastete. Dies schon einmal deshalb, als dieser Vorwurf im Widerspruch zu den behaupteten Gegensätzen zwischen Kelsens und Sanders Rechtslehre stand. »Selbst wenn Kelsen Sanders Sätze ›umgebogen‹ habe, dann wären es eben keine Sätze Sanders mehr, und somit liege kein Plagiat vor.«625 Darüber hinaus aber seien die Vorwürfe, so Menzel, »unglaubwürdig«. Aus den Zeugenaussagen, auf die sich Menzel bei seinem Gutachten stützte, ergab sich eindeutig, dass Kelsen seine Thesen noch lange vor ihrer 621 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 3: Fritz Sander, Schreiben an Alfred Verdroß v. 15. 5. 1923; ebenda ONr. 5: Fritz Sander, Schreiben an Alexander Löffler v. 21. 5. 1923, Seite 15 f. – Im Juni veröffentlichte Sander im Selbstverlag eine sieben Seiten starke Schrift (Sander, »In eigener Sache« [1923]), in der er erneut erklärte, dass Kelsen von ihm Gedanken übernommen habe – und erneut erklärte, Kelsen nicht des Plagiats zu bezichtigen! 622 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 5: Fritz Sander, Schreiben an Alexander Löffler v. 21. 5. 1923; ebenda ONr. 17: Fritz Sander, Schreiben an Hans Sperl v. 1. 6. 1923. 623 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 12: Bericht des Untersuchungsführers v. 6. 6. 1923, Seiten 2, 16. 624 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 12: Schluss antrag des Disziplinaranwaltes v. 20. 6. 1923. 625 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 10: Gutachten Prof. Menzels v. 19. 6. 1923, Seite 9.
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Publikation im Seminar bekannt machte; insbesondere die Parallele Gott – Staat hatte Kelsen schon vor Jahren mit seinen Schülern diskutiert, sie sei daher seine Idee und nicht diejenige Sanders. »Ich gelange zu dem Schlusse, dass die von Sander in seiner Kampfschrift wider Kelsen erhobenen Plagiatsbeschuldigungen vollkommen unbegründet sind, dass im Gegenteil Kelsen sich in seinem literarischen Verhalten der grössten Korrektheit befleissigt hat, und dass nicht einmal von einer fahrlässigen Übernahme fremder Gedanken ohne Kennzeichnung ihres Ursprunges die Rede sein kann«, schloss Menzel sein Gutachten.626 Somit war es gewiss, dass die für Dienstag, den 26. Juni, einberufene Disziplinarkammer zugunsten Kelsens entscheiden würde. Doch offenbar in letzter Sekunde erfuhr Sander vom bevorstehenden Ausgang des Verfahrens und telegrafierte noch am 25. Juni, dass er am morgigen Tag um fünf Uhr im Dekanat sein werde: »verlange einvernehmung. sander«.627 Die am Dienstag um halb vier zusammentretende Disziplinarkammer beschloss daher, die Sitzung bis zur Einvernahme Sanders zu vertagen.628 Tatsächlich traf dieser zum angegebenen Zeitpunkt in der Universität ein und gab seine Sicht der Vorgänge zu Protokoll, die Einvernahme zog sich in die Länge und wurde am nächsten Tag fortgesetzt.629 Sander bekräftigte bei dieser Einvernehmung seine bisherigen Behauptung, betonte, dass er schon seit seinem 18. Lebensjahr ein »Anhänger Kants« gewesen sei, und dass es Kelsen war, der ihn gebeten habe, ihm die transzendentale Methode »genau zu erklären, da er mit den Problemen der Kant’schen Philosophie nicht so vertraut sei.«630 Erst als Kelsen »im Sommer 1920 von den Ferien zurückkam sagte er mir: ›Sie werden zufrieden sein, ich habe jetzt endlich Kant studiert.‹«631 Als Beweis dafür führte Sander an, dass Kelsen tatsächlich in keiner seiner vor 1920 erschienenen Schriften Cohen zitiert oder etwas über die transzendentale Methode geschrieben hatte. Sander behauptete allerdings auch, Kelsen habe in seinem Seminar nur ein einziges Mal aus 626 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 10: Gutachten Prof. Menzels v. 19. 6. 1923, Seiten 13 f. 627 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, nach ONr. 20: Fritz Sander, Telegramm an Alexander Löffler v. 25. 6. 1923. 628 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 14, Protokoll der Sitzung vom 26. 6. 1923. 629 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 20: Vernehmung von Fritz Sander v. 26. u. 27. 6. 1923. 630 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 20: Vernehmung von Fritz Sander v. 27. 6. 1923, Seite 24. 631 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 20: Vernehmung von Fritz Sander v. 27. 6. 1923, Seite 24 f. Es ist darauf hinzuweisen, dass Kelsen in seiner Habilitationsschrift 1911 sowohl Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« als auch dessen »Kritik der praktischen Vernunft« und dessen »Kritik der reinen Vernunft« mehrmals sinngemäß, aber niemals ausdrücklich zitierte: HKW II, 924; Gleiches gilt für seinen 1916 erschienenen Aufsatz »Die Rechtswissenschaft als Norm‑ oder als Kulturwissenschaft«: HKW III, 798. Das erste ausdrückliche Kant-Zitat (allerdings aus der »Metaphysik der Sitten«) erfolgte in seiner 1920 erschienenen »Souveränität«: Kelsen, Souveränität (1920) 13 = HKW IV, 283. Cohen wurde bis 1922 niemals ausdrücklich zitiert.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
einem seiner Manuskripte vorgelesen, und dass auch Verdroß ihm nach seinem eigenen Vortrag gesagt habe, er »möge mit Äußerungen meiner Gedanken vorsichtig sein, er [Verdroß] habe den Eindruck, sie würden von anderen aufgegriffen.«632 Sanders Aussagen widersprachen denen der übrigen Zeugen so diametral, dass zumindest zwei von ihnen, Merkl und Verdroß, erneut geladen und einvernommen werden mussten; diese allerdings blieben bei ihren Aussagen.633 Auch Walter Henrich wurde nunmehr geladen und unterstützte die bisherigen Aussagen gegen Sander.634 Vor allem aber wurde nun, am 28., 29. und 30. Juni, Kelsen selbst einvernommen; auch er bekräftigte seine bisherigen Ausführungen, nahm zu den Aussagen Sanders Stellung und brachte erneut Briefe sowie auch unveröffentlichte Manuskripte Sanders als Beweisstücke mit.635 Am 3. Juli erstattete Untersuchungsführer Löffler einen zweiten Bericht, der den ersten zwar um einige Details ergänzte, jedoch nichts an der Hauptsache änderte.636 Am 16. Juli 1923, somit weniger als drei Monate nach Erstattung der Selbstanzeige durch Kelsen, kam die Disziplinarkammer der Universität Wien zum Schluss, dass die Anschuldigungen Sanders haltlos waren, dass Kelsen »nicht der geringste Vorwurf […] gemacht werden« könne und die Selbstanzeige zurückzulegen sei. Ebenso ungewöhnlich wie die Geschwindigkeit, mit der das Verfahren durchgeführt worden war, war die Ermächtigung an Hans Kelsen, den Beschluss der Disziplinarkammer zu veröffentlichen, was im nächstfolgenden Heft der ZÖR auch erfolgte.637 Die »Affäre Sander« war damit noch nicht völlig ausgestanden. Mehrere Kelsen-Schüler ließen es sich nicht nehmen, die Kontroverse literarisch aufzuarbeiten.638 Unter ihnen befand sich auch der erst 25 Jahre alte Emanuel Winternitz; er hatte als Student redaktionelle Tätigkeiten für Kelsen erledigt,639 jedoch bislang noch nie wissenschaftlich publiziert. Nun veröffentlichte er in den »Juristischen Blättern« eine kurze und in der ZÖR eine längere, gegen Sander gerichtete Abhandlung.640 Auf beide 632 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 20: Vernehmung von Fritz Sander v. 27. 6. 1923, Seite 25. 633 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 24: Zeugenaussage Adolf Merkl v. 30. 6. 1923; ebenda ONr. 25: Zeugenaussage Alfred Verdroß v. 30. 6. 1923. 634 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 23: Zeugenaussage Walter Henrich v. 30. 6. 1923. 635 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 22: Vernehmung von Hans Kelsen v. 28., 29. u. 30. 6. 1923. 636 UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten, S. 185.296, Nr. 7, ONr. 28: Zweiter Bericht des Untersuchungsführers v. 3. 7. 1923. 637 Kelsen, In eigener Sache (Schluß) (1923) 699–700. Vgl. Olechowski/Ehs/Staudigl- Ciechowicz, Fakultät (2014) 85 f. 638 Zu nennen sind v. a. Kunz, Sander contra Kelsen (1922); Merkl, Ein Kampf gegen die normative Jurisprudenz (1924) = MGS I/1, 339–364. 639 Vgl. seine Erwähnung im Vorwort zu Kelsen, Verfassungsgesetze IV (1920) III = HKW V, 440. 640 Winternitz, Zum Streit (1923) 120; Winternitz, Zum Gegenstandsproblem (1923). Vgl. zu diesen Aufsätzen und zur Person des Autors Kletzer, Winternitz (2008).
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suchte Sander mit einer Entgegnung zu reagieren. Der Herausgeber der »Juristischen Blätter«, Ernst Blum, druckte Sanders Entgegnung nur mit dem Hinweis darauf ab, dass man immer beiden Seiten Gehör schenken müsse.641 Und die »Schriftleitung« der ZÖR druckte Sanders Aufsatz mit der Begründung ab, dass sie »ihre Objektivität unter allen Umständen zu wahren weiß«, die Diskussion jedoch sei nunmehr aber »endgültig abgeschlossen«.642 Die Kontroverse zwischen Sander und Kelsen fand international Beachtung und führte mittelbar auch dazu, dass die Reine Rechtslehre in Deutschland breit diskutiert wurde und Anhänger fand. Einer ihrer Gegner, der Leipziger Staatsrechtler Erwin Jacobi, schrieb 1926 an seinen Kollegen Carl Schmitt: »Weiß der Teufel, warum auf diese Lehre alle Gesetzmäßigkeiten der Reklametechnik so zutreffen.«643 Was aber Sander betraf, so hatte er nicht nur einen wissenschaftlichen Disput verloren. Vielmehr war sein Ruf als Wissenschaftler dauerhaft beschädigt. Dies zeigte sich insbesondere, als er sich zwischen 1923 und 1926 dreimal bemühte – wie von Kelsen seinerzeit angeregt –, sich auch an der Deutschen Universität in Prag zu habilitieren: Das Professorenkollegium verwies auf seine Kontroverse mit Hans Kelsen und lehnte die Habilitation ab.644 Möglicherweise unter dem Eindruck dieser Entwicklung veröffentlichte Sander am 4. April 1925 im »Brünner Tagesboten« eine Erklärung, in der er sowohl den Vorwurf, Kelsen habe die Drucklegung seiner Habilitationsschrift hinausgezögert und sich damit die Priorität für sein Buch gesichert, als auch den Vorwurf des Plagiats zurückzog und sein Bedauern aussprach. Damit war der Weg dafür geebnet, dass es am 30. April in Wien, im Beisein Weyrs, zum ersten persönlichen Zusammentreffen zwischen Kelsen und Sander seit fast vier Jahren kam. Wie Hans Kelsen berichtet, war er in weiterer Folge auch wieder bereit, ein Gutachten für Sander zu verfassen, damit dieser 1930 zum Professor für Allgemeine Staatslehre und tschechoslowakische Verfassungs‑ und Verwaltungsrecht an der Deutschen Universität Prag ernannt wurde.645 Inwiefern Sander dies seinem einstigen Lehrer später dankte, als Kelsen selbst eine Berufung nach Prag anstrebte, wird weiter unten zu behandeln sein.646 d) »nullius addictus iurare in verba magistri«647 Auch nach der schmerzlichen Erfahrung mit Fritz Sander hielt Kelsen an seiner Überzeugung fest, dass »ein Lehrer keinen groesseren Fehler begehen kann als von 641 Sander,
Zum Streit (1923); vgl. die editiorische Bemerkung in JBl 52 (1923) 139. Staat und Recht (1923); vgl. die Bemerkung der Schriftleitung in ZÖR 4 (1923) 165. 643 Erwin Jacobi, Brief an Carl Schmitt v. 13. 1. 1926, zit. n. Korb, Sander gegen Kelsen (2009) 203. 644 Olechowski/Busch, Kelsen als Professor an der Deutschen Universität Prag (2010) 1119. 645 Kelsen, Autobiographie (1947) 24, 25 = HKW I, 63; Olechowski/Busch, Kelsen als Professor an der Deutschen Universität Prag (2010) 1118–1119. 646 Unten 564, 568. 647 »[Ich bin] nicht verpflichtet, auf die Worte des Meisters zu schwören«: Horaz, Epistel I, 1, 14. 642 Sander,
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
seinen Schuelern nur ein jurare ad verba magistri [sic!] zu erwarten. Wenn es mir gelungen ist so etwas wie eine Schule der Rechtstheorie zu gruenden«, erklärte Kelsen, »so wahrscheinlich vor allem darum, weil wirklich produktive Geister sich innerhalb der Gemeinschaft frei entfalten konnten, die sich um mich gebildet hatte.«648 Tatsächlich war die große, ja übergroße Toleranz, mit der Kelsen anderen Meinungen begegnete, legendär; sie wird nicht zuletzt an der großen Zahl staatswissenschaftlicher Dissertationen deutlich, die er gemeinsam mit dem ideologisch so ganz anders positionierten (jedoch persönlich mit Kelsen befreundeten649) Soziologen Othmar Spann betreute. Einer dieser Dissertanten, August Maria Knoll (er war später, 1950–1963, Professor für Soziologie an der Universität Wien650), hatte 1924 eine Dissertation über »Karl von Vogelsang als Nachfahre der Romantik – Beiträge zu Problemen der Methodologie und Soziologie« verfasst und wurde dabei so stark von Kelsen gefördert, dass er selbst überrascht war. »Eines Tages, so berichtet Knoll, sei er zu Kelsen in seine Wohnung in die Wickenburggasse gegangen und habe ihn direkt gefragt: ›Herr Professor Kelsen! Sie sind Republikaner, ich bin Monarchist; Sie sind Liberaler, ich bin Konservativer; Sie sind Jude, ich bin Katholik, warum fördern Sie mich?‹ Daraufhin soll Kelsen Knoll umarmt und ihm geantwortet haben: ›Lieber Freund! Eben weil Sie alles das nicht sind, was ich bin, schätze und fördere ich Sie.‹«651 Wilhelm Jöckel, ein Schüler des Gießener Professors Hans Gmelin, unterzog 1930 Kelsens transzendentale Methode einer fundamentalen Kritik. Nichtsdestoweniger schrieb er in seinem Vorwort: »Schließlich fühle ich mich verpflichtet, Herrn Professor Dr. Kelsen für das wirklich selbstlose persönliche Entgegenkommen, das er mir trotz der tiefgreifenden sachlichen Verschiedenheit unserer Ansichten bewiesen hat, auch an dieser Stelle meinen aufrichtigen Dank zu sagen.«652 Und Métall berichtet, dass einmal Felix Kaufmann in Kelsens Privatseminar ein Referat mit den Worten begann: »›Wie Kelsen zwar sagt …‹, worauf er von Kelsen unterbrochen wurde: ›Lieber Dozent Kaufmann, sagen Sie doch lieber gleich, daß ich unrecht habe und Sie mir nicht zustimmen!‹«653 Kelsen löste aber auch das 1920 Verdroß gegebene Versprechen ein, anlässlich einer Neuauflage seiner Habilitationsschrift »Hauptprobleme der Staatsrechtslehre« auf die wissenschaftlichen Verdienste seiner Schüler einzugehen. Zu dieser Neuauflage kam es 1923, sie war lediglich ein photomechanischer Nachdruck, da Kelsen zur 648 Kelsen, Autobiographie (1947) 23 = HKW I, 62. Bemerkenswerterweise erklärte sieben Jahre nach Abfassung der Autobiographie ein ehemaliger Schüler Kelsens, Eric Voegelin, in Unkenntnis derselben, »dass die besten Schüler nicht unbedingt die sind, die in verba magistri schwören«: Eric Voegelin, Schreiben an Hans Kelsen v. 10. 2 . 1954, in: HKI Nachlass Kelsen 21ac.70, in Kopie auch in: Stanford University, Hoover Institution Archives, Eric Voegelin Papers, Box 20. 649 Métall, Kelsen (1969) 32. 650 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 597–599. 651 Leser, Grenzgänger (1981) 56. 652 Jöckel, Kelsens rechtstheoretische Methode (1930) VI. Vgl. die Antikritik von Weyr, Buchbesprechung Jöckl (1931) und dazu Merkl, Weyr (1953) 10. 653 Métall, Kelsen (1969) 11.
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Überzeugung gelangt war, dass »eine Neubearbeitung doch ein anderes Werk ergeben hätte«.654 Doch in einer ausführlichen »Vorrede« skizzierte er die wichtigsten Änderungen, die seine 1911 erstmals präsentierte Lehre in der Zwischenzeit erfahren hatte. Hier bekannte er ein, dass er zum Gedanken der Einheit von staatlichem Recht und Völkerrecht wesentlich durch Verdroß gekommen war.655 Auch erklärte Kelsen, dass sein Freund Weyr schon vor ihm die Wesensgleichheit von öffentlichem und privatem Recht erkannt hatte und würdigte die Beiträge von Felix Kaufmann und Fritz Schreier, die sie unter dem Einfluss Husserls zur Unterscheidung des »juristischen Willens« vom »psychischen Akt des Wollens« sowie auch zur »Weiterführung der Rechtssatzlehre« verfasst hatten. Als eine »bedeutsame Änderung«, die seine Rechtslehre seit 1911 erfahren hatte, bezeichnete Kelsen in diesem Vorwort die »dynamische Betrachtung« des Rechts, zu der eine Reihe von Schülern beigetragen hatten. Er selbst war in seinen »Hauptproblemen« ja noch von einer rein statischen Betrachtung des Rechtes ausgegangen und hatte das Gesetzgebungsverfahren, wie gezeigt, als »unjuristisch« abgetan, eine Ansicht, die er nunmehr revidieren musste. Zwar »ist dieser Gedanke von der metarechtlichen Natur der Rechtserzeugung nicht ganz irrig. Der Fehler der ›Hauptprobleme‹ besteht nur darin, daß sie ihn zu früh einsetzen.« Denn wenn auch das Recht seine Erzeugung selbst regle, so müsse doch die aus logischer Sicht erste Norm eine vorausgesetzte, keine gesetzte Norm sein. »Den Gedanken der Grundnorm als der Verfassung im rechtslogischen Sinne hat Alfred Verdross […] wesentlich weitergeführt, [indem] er sie als eine auf das Material des positiven Rechtes bezogene Hypothesis nach Analogie der naturwissenschaftlichen Hypothese erkannte.« Aber auch Leonidas Pitamic hatte zur »Frage der Bestimmung der Grundnorm […] wertvolle Beiträge geliefert. […] Das Verdienst, die Rechtsordnung als ein genetisches System von Rechtsnormen erkannt und dargestellt zu haben, die in stufenweiser Konkretisierung von der Verfassung über Gesetz und Verordnung und sonstige Zwischenstufen bis zu den individuellen Rechtsakten der Vollziehung fortschreiten, gebührt Adolf Merkl.«656 Zuletzt kam Kelsen in seinem Vorwort auf die Frage der Identität von Recht und Staat zu sprechen und betonte einmal mehr, dass die Voraussetzungen zu dieser erst später gewonnenen Erkenntnis bereits in den »Hauptproblemen« grundgelegt waren, und dass er die Zweiseitenlehre Jellineks mit Hilfe der Erkenntnistheorie Cohens überwinden konnte, wozu er durch die Besprechung Oscar Ewalds in den »Kant-Studien« gekommen war.657 Doch stand er nicht an, auch hier die Verdienste 654 Kelsen,
Hauptprobleme (1923) V. Hauptprobleme (1923) XXIII. 656 Kelsen, Hauptprobleme (1923) VIII–XI, XV; vgl. Merkl, Weyr (1953) 10. 657 Siehe zu dieser Besprechung schon oben 153. Die diesbezüglichen Ausführungen Kelsens in seinem Vorwort [Kelsen, Hauptprobleme (1923) XVII] sind weitgehend identisch mit jenen in seinem Schreiben an die Disziplinarkammer vom 7. 5. 1923, vgl. oben 336. – In der Sekundärliteratur ist schon mehrfach hervorgehoben worden, dass die Einflüsse des südwestdeutschen Neukantianismus 655 Kelsen,
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Fritz Sanders zu würdigen; daran »wird mich weder der sachliche Gegensatz noch die persönliche Feindschaft verhindern, in die der genannte Autor in seinen späteren, die Richtung der reinen Rechtslehre verlassenden Schriften sich gegen mich stellen zu sollen geglaubt hat.«658
3. Neukantianismus gegen Neuhegelianismus Der Streit zwischen Sander und Kelsen war ein Streit zwischen zwei Neukantianern gewesen; es ging im Wesentlichen darum, wie man die transzendentale Methode Cohens richtig im Bereich der Rechtswissenschaft anwenden könne. Dabei musste beiden Juristen klar sein, dass der Neukantianismus in den 1920er Jahren seine einst so dominierende Bedeutung in der Philosophie längst verloren hatte, ja, dass er in den Jahren des Weltkrieges so plötzlich verschwand, wie er rund vierzig Jahre zuvor aufgetaucht war; es scheint fast so, als wäre mit dem Tode Emil Lasks 1915 auch die von ihm – aber auch von vielen anderen – vertretene Lehre vollständig untergegangen. Und tatsächlich können die Einflüsse des Krieges und der furchtbaren Verhältnisse der Nachkriegsjahre mitsamt Hungersnöten, Epidemien und Hyperinflation auf die Geistesgeschichte Europas gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.659 Vor allem aber die kommunistische Oktoberrevolution in Russland und die zahlreichen Versuche der Kommunisten, auch in anderen Staaten an die Macht zu gelangen, mussten dazu führen, dem Kommunismus auch wissenschaftlich entgegenzutreten. Und so wie der (orthodoxe) Marxismus seine philosophische Grundlage letztlich in den Schriften G. W. F. Hegels hatte, so wurde – Zufall oder nicht? – der Neuhegelianismus zur bestimmenden Richtung für viele Philosophen und Rechtsphilosophen der Zwischenkriegszeit, und zwar gerade auch für solche, die den Marxismus zutiefst ablehnten und ihr Heil auf der genau entgegengesetzten Seite suchten.660 Es ist insofern nicht ganz unrichtig, wenn einer der wichtigsten Vertreter dieser neuen philosophischen Strömung auf dem Gebiet der Jurisprudenz, Erich Kaufmann, später meinte, dass sich der (Rechts‑)Positivismus eben nur in Zeiten stabiler Verhältnisse entfalten könne, wie es die Jahre vor 1914 gewesen waren.661 Die Umbruchsjahre der Zwischenkriegszeit hingegen forderten ganzheitliche Erklärungsmuster, umfassende Deutungen des komplexen Weltgeschehens, wie sie nur unter auf Kelsen viel stärker waren als die der Marburger Schule Cohens, weshalb die Betonung Cohens an dieser Stelle verwunderte; vgl. etwa Paulson, Zur neukantianischen Dimension (1988) 11; Korb, Kelsens Kritiker (2010) 16 f. Nach dem hier Gesagten kann es jedoch nicht zweifelhaft sein, dass sich Kelsen auch hier v. a. gegen die Vorwürfe Sanders, er habe Cohen erst über ihn kennengelernt, verwahren wollte. 658 Kelsen, Hauptprobleme (1923) XXII. 659 Schulte, Methodenstreit (2005) 249. 660 Vgl. dazu auch Korioth, Kelsen im Diskurs (2013) 33. 661 Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz (1927) 3.
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3. Kapitel: Akademisches
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Zuhilfenahme von Metaphysik möglich schienen. Und damit kehrte die Rechtswissenschaft – im Gewand des Neuhegelianismus – wieder zu naturrechtlichen Vorstellungen zurück.662 Der soeben erwähnte – mit Kelsens Schüler Felix Kaufmann nicht verwandte – Erich Kaufmann war 1880 in Pommern geboren und hatte sich 1907 in Kiel habilitiert.663 Als sein Hauptwerk kann die 1911 veröffentlichte Monographie »Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sic stantibus« angesehen werden; sie war 1920 von Kelsen in dessen »Problem der Souveränität« scharf kritisiert worden. Kaufmann hatte in dieser Schrift erklärt, dass jeder Staat das Recht auf Selbsterhaltung besitze, und dass Macht und Recht dazu bestimmt seien, einander zu finden, weil sie erst von da aus moralische Energien entfalten können. Er fasste dies in der prägnanten Formel zusammen: »Nur der, der kann, darf auch.«664 Kelsen war der Ansicht, dass damit überhaupt nur mehr den Machtverhältnissen gehuldigt werde, und mutmaßte, dass Kaufmann, auch wenn er es nicht direkt ausspreche, so doch letztlich die Rechtsnatur des Völkerrechts leugne.665 1921 veröffentlichte Erich Kaufmann, mittlerweile Professor an der Universität Bonn, die Schrift »Kritik der neukantianischen Rechtsphilosophie«. Trotz ihres allgemein gehaltenen Titels war sie doch über weite Strecken eine Kampfschrift gegen Kelsen, zumal er ihn als paradigmatisch für die negativen Auswüchse des Neukantianismus auf die Rechtswissenschaften ansah.666 Dabei konzedierte er Kelsens Werken durchaus, dass sie »Halbwahrheiten« bekämpft haben – »nur korrigieren sie diese Halbwahrheiten nach der verkehrten Richtung.« Seine Arbeiten seien nur negative Kritik, an die keine positive Aufbauarbeit anschließe, sie »haben darum die größere Konsequenz und den geringeren positiven Erkenntniswert.« Dies sei auch gar nicht anders möglich, denn mit einer »reinen«, »normlogischen« Wissenschaft können auch keine positiven Ergebnisse erzielt werden; wer aus dem Recht nur die »reinen Relationen des formalen Sollens« herausdestilliere, der könne keinen Unterschied zwischen Privat‑ und öffentlichem Recht oder zwischen Staatenbund und Bundesstaat erkennen. »Das ist die Trivialität, die große Tautologie, über die Kelsen als ›reiner Rechtstheoretiker‹ nicht hinauskommt«, so Erich Kaufmann.667 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Kaufmann die Behauptung aufstellte, Hans Kelsens Forderung nach einer Einheit des rechtlichen Weltbildes sei von
662 Dazu
und zum Folgenden auch Gusy, Reichsverfassung (2018) 79 ff. Demmin/Pommern 21. 9. 1880, gest. Karlsruhe 5. 11. 1972; vgl. Hans Liermann, Kaufmann Erich, in: NDB XI (Berlin 1977) 349 f.; Rozek, Kaufmann (2018). 664 Kaufmann, clausula rebus sic stantibus (1911) 151; vgl. Korb, Kelsens Kritiker (2010) 113 f.; Schale, Kaufmann (2011) 52. 665 Kelsen, Souveränität (1920) 200 = HKW IV, 459; vgl. Korb, Kelsens Kritiker (2010) 114 f. 666 Korb, Kelsens Kritiker (2010) 34, 109. Neumann, Schmitt (2015) 15, bezeichnet diese Schrift als den »Startschuss für den ›Weimarer Methoden‑ und Richtungsstreit‹« und spricht sogar von einem regelrechten »Kelsen-›Bashing‹«, das auf diese Schrift folgte. 667 Kaufmann, Kritik (1921) 21 f., 79 f. 663 Geb.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Ernst Machs Gebot der Denkökonomie bestimmt gewesen. Kelsen selbst wies diesen Vorwurf später in seiner Monographie über den »Staatsbegriff« zurück.668 Kaufmanns Kritik war aber nicht nur eine transzendente, sondern auch eine immanente: Kelsen sei es nämlich gar nicht gelungen, Sein und Sollen vollständig voneinander zu trennen, vielmehr habe auch er »dem Sein, der Faktizität, dem Soziologischen doch opfern müssen.«669 Er bezog sich hier auf eine Stelle aus Kelsens »Souveränität«, in der dieser auf die Problematik eingegangen war, dass es im Bereich des Völkerrechts immer wieder vorkomme, dass »das Faktische zum Inhalt einer Norm wird«, wobei er weniger von einer »normativen Kraft des Faktischen« als von einer »Metamorphose des Faktischen zum Normativen« sprechen hatte wollen.670 Kaufmann anerkannte die »Ehrlichkeit, mit der der unermüdliche Streiter gegen die Verquickung von Sein und Sollen« kapituliert hatte; »ich senke zum Gruße meinen Degen vor ihm.«671 Der schwerste Vorwurf aber, den Kaufmann Kelsen machte, war, dass Kelsen auf den letzten Seiten seiner Monographie zur »Souveränität« den »reinen« Standpunkt vollkommen aufgegeben und nur mehr seine eigenen politischen Ansichten präsentiert habe, und zwar, als er von der »Weiterentwicklung der Völkerrechtsgemeinschaft« zu einer »civitas maxima« geschrieben habe; hier habe er nicht mehr »formale Begriffe«, sondern ein »absolutes Ideal« dargestellt.672 Die Monographie über den »soziologische[n] und de[n] juristische[n] Staatsbegriff« gab Kelsen Gelegenheit, auf Kaufmanns Kritikpunkte zu antworten. Doch waren seine Erwiderungen zumindest teilweise merkwürdig schwach, etwa, wenn er sich lediglich damit verteidigte, dass Kaufmann einzelne Zitate Kelsens aus dem Zusammenhang gerissen hatte oder dass er sich so sehr auf die letzten Seiten von Kelsens Buch konzentriert habe: Tatsächlich war das Schlusskapitel Kelsens in dessen Monographie zur »Souveränität« schwer anders zu deuten als ein persönliches, leidenschaftliches Bekenntnis zu einem pazifistischen Weltbild, zu einem rechtsdogmatischen Primat des Völkerrechts vor dem staatlichen Recht und zu einem Aufruf zur Errichtung einer civitas maxima.673 Möglicherweise war dies mit ein Grund dafür, dass Kelsen in seiner Monographie zum »soziologische[n] und juristische[n] Staatsbegriff« das Völkerrecht wieder in den Hintergrund rückte und die Grundnorm hier v. a. als eine Norm beschrieb, welche die Grundlage für eine staatliche Ordnung 668 Kaufmann, Kritik (1921) 26; er bezog sich dabei wahrscheinlich auf Kelsen, Souveränität (1920) 99 = HKW V, 365. Die Gegenkritik: Kelsen, Staatsbegriff (1922) 100; vgl. Korb, Kelsens Kritiker (2010) 37. Siehe zur »Wahlverwandtschaft« zwischen Mach und Kelsen sowie auch Sigmund Freud: Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt (2010) 301 ff. 669 Kaufmann, Kritik (1921) 30. 670 Kelsen, Souveränität (1920) 241 = HKW IV, 498. 671 Kaufmann, Kritik (1921) 31. Vgl. dazu die Antwort von Kelsen, Staatsbegriff (1922) 102. 672 Kaufmann, Kritik (1921) 24. Er bezieht sich auf Kelsen, Souveränität (1920) 320 = HKW IV, 572. Vgl. dazu auch Korb, Kelsens Kritiker (2010) 209. 673 Demgegenüber erklärte Kelsen neuerlich, dass die Theorien vom Primat des staatlichen Rechts und von dem des Völkerrechts juristisch gleichwertig seien: Kelsen, Staatsbegriff (1922) 99.
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darstelle und daher nach jedem revolutionären Umbruch der staatlichen Rechtsordnung neu anzunehmen sei.674 Freilich sparte Kelsen auch hier nicht mit bösem Spott, wenn er – etwas verkürzt, aber in der Sache wohl zutreffend – Kaufmann die Ansicht unterstellte, Deutschland habe den Weltkrieg verloren, weil es nicht die richtige Staats‑ und Rechtsphilosophie hatte.675 Kelsen wollte das nicht einmal anzweifeln – aber, so gab er zu bedenken, war es nicht zumindest genauso richtig, dass so mancher Autor »nicht die richtige Staats‑ und Rechtsphilosophie ha[be], weil wir den Weltkrieg verloren haben?«676 Mit dieser verblüffenden Frage rückte Kelsen den eigentlichen Hintergrund von Kaufmanns entschiedenem Auftreten gegen den Neukantianismus ins Rampenlicht: die Irritation, die die deutsche Staatsrechtslehre durch die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg erfahren hatte. Hatte Kaiser Wilhelm II. bei Kriegsausbruch 1914 noch verkündet: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche«,677 und damit erfolgreich an die Einheit der deutschen Nation appelliert, so war Deutschland nach dem Krieg zutiefst zerrissen zwischen Monarchisten und Republikanern, zwischen kommunistischen, demokratischen und präfaschistischen Bewegungen, war von einer Einheit der deutschen Nation nichts mehr zu bemerken. Paradoxerweise traf dies Deutschland schwerer als Österreich, wo eine derartige Einheit zwischen Staat und Nation niemals bestanden hatte. Viele Jahre später, in seiner 1947 geschriebenen Autobiographie, räsonnierte Kelsen, inwiefern dieser Umstand auch Einfluss auf seine Staatsrechtslehre gehabt haben könnte: »Angesichts des oesterreichischen Staates, der sich aus so vielen nach Rasse, Sprache, Religion und Geschichte verschiedenen Gruppen zusammensetzte, erwiesen sich Theorien, die die Einheit des Staates auf irgendeinen sozial-psychologischen oder sozial-biologischen Zusammenhang der juristisch zum Staat gehoerigen Menschen zu gruenden versuchten, ganz offenbar als Fiktionen. Insofern diese Staatstheorie ein wesentlicher Bestandteil der Reinen Rechtslehre ist, kann die Reine Rechtslehre als eine spezifisch oesterreichische Theorie gelten.«678 674 Kelsen, Staatsbegriff (1922) 98. – Offenbar eine Reaktion auf Kaufmann war es auch, wenn Kelsen 1922 in einem in den »Kölner Vierteljahresheften für Sozialwissenschaften« erschienenen Aufsatz erneut vom Primat des Völkerrechts und einer »civitas maxima« sprach und dabei betonte, das er »nicht die geringste Digression ins Ethisch-Politische« begehre: Kelsen, Staat und Recht (1922) 36 = WRS 135. 675 Kelsen, Staatsbegriff (1922) 103. Die betrefffende Stelle bei Kaufmann heißt tatsächlich: »Weil wir keine Staats‑ und Rechtsphilosophie hatten […] [standen] Staat und Gesellschaft […] letztlich auf tönernen Füßen und zerbrachen in der großen geschichtlichen Probe, die der deutsche Geist wie der deutsche Staat im Weltkriege zu bestehen hatten«: Kaufmann, Kritik (1921) 2. 676 Kelsen, Staatsbegriff (1922) 103. 677 Wilhelm II., Eröffnungssitzung des Deutschen Reichstages v. 4. 8. 1914, Reichstagsprotokolle 1914/18, 2 http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003402_00013.html [Zugriff: 26. 04. 2019]. 678 Kelsen, Autobiographie (1947) 21 f. = HKW I, 60. Vgl. dazu Jabloner, Kelsen and his Circle (1998) 373; Schönberger, Kelsens »Hauptprobleme« (2008) 31; Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt (2010) 280–282. Vgl. aber auch das bei Osterkamp, Kelsen in der
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Die geradezu unglaubliche Reduktion des Staatsbegriffes durch Kelsen hatte natürlich auch seine positive Seite: Indem der Staat weder mit einer Nation, noch einer Religion, noch einem sozialen Gebilde gleichgesetzt wurde, war er eben auch offen für ein Nebeneinander verschiedener Nationen, verschiedener Religionen, verschiedener Menschengruppen und Parteien. Kelsens Staatsbegriff in seinen juristischen Schriften war derselbe, den er schon 1920 in seiner demokratietheoretischen Arbeit »Vom Wesen und Wert der Demokratie« propagiert hatte: ein Staat, der offen war für eine pluralistische Gesellschaft, wo von einem »Staatswillen« nur als »Resultante« verschiedener Partikularinteressen gesprochen werden konnte.679 Insofern hingen Kelsens Rechtstheorie und Kelsens Demokratietheorie eng miteinander zusammen. Methodisch jedoch, dies muss wieder und wieder betont werden, hielt Kelsen an einer strikten Trennung von Rechtslehre und Politiklehre fest. Aus diesem Grund bezeichnete Kelsen auch die traditionelle Allgemeine Staatslehre, die sich (jedenfalls im gleichnamigen Buch von Jellinek) aus Staatssoziologie und Staatsrechtslehre zusammensetzte, als eine »methodologisch höchst fragwürdige[..] Wissenschaft.« Es verhalte sich mit ihr seiner Meinung nach ebenso, wie wenn man die »Privatrechtslehre mit der Biologie und Psychologie des Menschen zu einer einheitlichen Wissenschaft«, der »Wissenschaft vom Einzelmenschen« verbinden wolle.680 Und genau dies stieß auf die massive Kritik der Neuhegelianer, die Sein und Sollen als »dialektische Gegensätze« auffassten, die immer auf das Ganze zurückbezogen werden müssten. Jede isolierte Betrachtung des einen oder des anderen Aspekts würde das »Bild der Wirklichkeit« verfälschen.681 So entwickelte etwa der 1922–1935 in Berlin lehrende Rudolf Smend682 eine »Integrationslehre«, die gerade umgekehrt auf eine ganzheitliche Betrachtung des Staates abstellte. Sein Ziel war ein »Oszillieren des Gedankens«, mit dem Lebens‑ und Sinnordnung gleichzeitig erfasst werden könne.683 Als dritter bedeutender Kelsen-Kritiker ist hier der 1891 im damals österreichischen Teschen geborene Hermann Heller zu nennen; er hatte 1912 in Wien bei Kelsen Vorlesungen gehört, war dann jedoch nach Leipzig gegangen, wo er ganz in den Bann des neuhegelianischen Philosophen und Pädagogen Theodor Litt geriet und sich 1921 mit einer Arbeit über »Hegel und de[n] Machtstaatsgedanke[n] in Deutschland« Tschechoslowakei (2009) 305, wiedergegebene Zitat von Weyr, wonach dessen – so ganz ähnliche – Rechtstheorie eine typisch tschechische sei. 679 So schon Kelsen, Hauptprobleme (1911) 479 = HKW I, 625; vgl. van Ooyen, Staat und pluralistische Gesellschaft (2009) 18. 680 Kelsen, Staat und Recht (1922) 19 f. = WRS 122. Richtig betont aber Gusy, Reichsverfassung (2018) 82, dass Kelsen besonders dafür kritisiert wurde, dass er auch für nichtjuristische Disziplinen einen »außerjuristischen Staatsbegriff« ablehnte. 681 Korb, Kelsens Kritiker (2010) 40. 682 Geb. Basel/CH 15. 1. 1882, gest. Göttingen 5. 7. 1975; vgl. Peter Landau, Smend Rudolf, in: NDB XXIV (Berlin 2010) 510 f.; Schulze-Fielitz, Smend (2018). 683 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III (1999) 174; Korb, Kelsens Kritiker (2010) 46.
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3. Kapitel: Akademisches
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Abb. 26: Die Tagung der Staatsrechtslehrervereinigung in Münster 1926. Erste Reihe, von links: 5. Fritz Stier-Somlo, 6. Heinrich Triepel, 7. Gerhard Anschütz, 8. Hans K elsen, 9. Richard Thoma, 11. Hans Nawiasky. Zweite Reihe, von links: 3. Walter Jellinek, 7. Edgar Tatarin-Tarnheyden, 8. Erich Kaufmann, 9. Otto Koellreutter, 10. Hermann Heller (?), 15. Ernst v. Hippel. Dritte Reihe, von links: 4. Rudolf Smend, 7. Godehard Josef Ebers, 8. Rudolf Laun.
habilitierte.684 Für ihn wie auch für den (gleichfalls stark von Litt beeinflussten) Smend erschien Kaufmanns Schrift wie ein Befreiungsschlag gegen die – zumindest scheinbar – dominierende Stellung des Rechtspositivismus im deutschsprachigen Raum.685 Der »Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre« (zu der auch der Österreicher Kelsen gezählt wurde) ist in der Forschungsliteratur wieder und wieder dargestellt worden, prägte er doch die Entwicklung des deutschen (weniger des österreichischen) Staatsrechts bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.686 Seinen weithin sichtbaren Höhepunkt fand er 1926 auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Münster. Diese Vereinigung war 1922 auf Initiative des Berliner Professors Heinrich Triepel gegründet worden, um ein Forum für Staatsrechtler aller politischer Richtungen und aller rechtstheoretischer Strömungen zu schaffen; die Neutralität der Vereinigung als solcher war geradezu Leitidee bis zu ihrer zwangsweisen Auflösung im Jahre 1933. Nach dem Vorbild des Deutschen Juristentages traf sich die Vereinigung jährlich in einer anderen Stadt und »verhandelte« (d. h. diskutierte) zu zwei verschiedenen aktuellen Themen, indem jeweils 684 Geb. Teschen [Cieszyn/PL] 17. 7. 1891, gest. Madrid 5. 11. 1933; vgl. Korb, Kelsens Kritiker (2010) 149 und passim; Volkmann, Heller (2018). 685 Korioth, Kelsen im Diskurs (2013) 34. 686 Gangl, Die Weimarer Staatsrechtslehre (2011) 9.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
zwei Professoren einen »Bericht« erstatteten (d. h. einen Vortrag hielten), woran sich eine rege Diskussion anschloss.687 An der Gründung 1922 in Berlin waren nur reichsdeutsche Professoren beteiligt gewesen, doch wurde beschlossen, nicht nur alle Staats‑ und Verwaltungsrechtler des Deutschen Reiches, sondern auch jene Österreichs und der Deutschen Universität Prag zum Beitritt aufzufordern.688 Kelsen muss dieser Aufforderung sofort nachgekommen sein, denn |b schon bei der ersten, auf die Berliner Gründungsversammlung folgenden Tagung, die 1924 in Jena stattfand, tauchte sein Name nicht nur im Mitgliederverzeichnis, sondern auch als Diskutant auf. Der Tagungsbericht hält allerdings lediglich fest, dass sich Kelsen beim Thema »Föderalismus« zu Wort meldete, ohne etwas über den Inhalt seiner Wortmeldung zu sagen.689 b| Anders verhielt es sich bei der nachfolgenden Tagung, die am 29. und 30. März 1926 in Münster stattfand. Smend hatte schon im Vorfeld Briefe an eine Reihe von Staatsrechtlern, namentlich an Karl Bilfinger (Halle a. d. Saale), Günther Holstein (Greifswald), Carl Schmitt (Bonn) sowie an Triepel geschrieben, in dem er sie darum ersucht hatte, gemeinsam Front gegen den Positivismus zu machen, wobei es ihm anscheinend weniger um den »Kelsensche[n] Unfug« als vielmehr um einen Kampf gegen »Anschütz und Genossen« ging.690 Dennoch wurde die Münstersche Tagung Kulmination der Auseinandersetzung mit Kelsen. Thema des ersten Tages war »Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung«. |b Die Idee, dass der Gleichheitssatz nicht nur die Verwaltung, sondern auch den Gesetzgeber binden könne, war damals noch relativ neu und umstritten.691 Erich Kaufmann, der um ein Referat gebeten worden war, hielt hingegen fest, dass sich der Gleichheitssatz »vor allem und in erster Linie an die Adresse des Gesetzgebers« wende.«692 Dies hätte schon für sich allein mehr als genug Stoff für eine lebhafte Diskussion gegeben. b| Aber Kaufmann nützte die Gelegenheit seines Referates zu einem Frontalangriff gegen den Rechtspositivismus.693 Denn dieser sei völlig ungeeignet, zu einer richtigen Interpretation des Art. 109 WRV zu gelangen. Den 687 Dazu und zum Folgenden Stolleis, Vereinigung (1997); Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III (1999) 186 f.; Gangl, Die Weimarer Staatsrechtslehre (2011) 11. 688 Vgl. zu dieser Versammlung die Darstellung von Triepel, Staatsrechtslehrer (1922), die auch eine Teilnehmerliste enthält, ferner Hesse, Staatsrechtslehrer (1972) 345, sowie auch Stolleis, Vereinigung (1997) 341, und Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III (1999) 187, wonach zu dieser Tagung auch Österreicher geladen (aber nicht gekommen) waren. 689 Hans Kelsen, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 1 (Berlin–Leipzig 1924) 60, 137. 690 Rudolf Smend, Schreiben an Carl Schmitt v. 16. 2 . 1926, in: Mehring, Briefwechsel (2010), 53; Korb, Kelsens Kritiker (2010) 117. 691 Siehe für den österreichischen VfGH insbesondere Walter, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 32: Kelsen war Anhänger einer »traditionellen Gleichheitsprüfung«, wonach eine Benachteiligung von Bundesbürgern aus den in Art. 7 B-VG genannten Gründen (Geburt, Geschlecht, Stand etc.) unzulässig war, doch wollte er aus dem Gleichheitssatz kein allgemeines Sachlichkeitsgebot herauslesen, wie dies die Rechtsprechung nach Kelsens Weggang aus Wien tat; vgl. insbesondere VfGH 1. 6. 1932 VfSlg 1451. 692 Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz (1927) 5 f. 693 Nach Stolleis, Geschichte III (1999) 189 war die Tagung 1926 die erste, bei der Positivisten und Anti-Positivisten »in aller Schärfe aufeinander« trafen.
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Gleichheitssatz richtig anzuwenden, heiße, nur dann Gleichheit bzw. Nichtgleichheit anzunehmen, wenn dies gerecht sei. Dies aber führte ihn in eine breite Auseinandersetzung mit den Gerechtigkeitslehren des Naturrechtes, während er den »Positivismus […] als erledigt« ansehen konnte.694 Hans Nawiasky, der im Anschluss das Co-Referat hielt, war von der Schärfe, mit der Kaufmann seinen methodologischen Standpunkt erläutert hatte, sichtlich verblüfft. Er selbst bekannte ein, dass er Positivist sei, »vielleicht ein noch nicht ganz erledigter«, und erklärte, dass die Ergebnisse, zu denen er (bei der Suche nach dem juristischen Gehalt von Art. 109 WRV ) gelange, bei weitem nicht so verschieden von denen Kaufmanns seien wie der Weg dorthin.695 Auch in der nachfolgenden Diskussion war die methodologische Frage mindestens so umstritten wie die materielle Frage nach der Gleichheit vor dem Gesetz. Rudolf Laun (Hamburg), Heinrich Triepel (Berlin), Günther Holstein (Greifswald) und Hermann Heller (Leipzig) ließen ebenfalls ihre antipositivistische Haltung erkennen.696 Was aber Gerhard Anschütz, gegen den sich die antipositivistische Phalanx ja vor allem richtete, betraf, so bezeichnete dieser Kaufmanns einleitende Ausführungen zum Naturrecht als ein bloßes »Bekenntnis«. »Ich stelle dem ein anderes Bekenntnis entgegen. Diskutieren kann man darüber nicht.«697 Dies war im Grunde genommen dasselbe, was Kelsen schon 1911 im Vorwort zu seinen »Hauptproblemen« geschrieben hatte. Auch er hätte sich eigentlich aus der Diskussion völlig zurücknehmen können; denn dass er seine Gegner in wenigen Sätzen von seinem persönlichen Bekenntnis überzeugen könnte, durfte er nicht ernstlich hoffen. Aber andererseits schien Kelsen – vielleicht gerade, weil sein einstiger Lehrer Anschütz sich inhaltlich weigerte, auf die Positivismuskritik zu antworten – dazu genötigt, deutlich Farbe zu bekennen. So erhob auch er sich und erklärte, dass seiner Ansicht nach der Positivismus niemals »erledigt« sein werde, ebensowenig wie das Naturrecht es sein werde: »Dieser Gegensatz ist ein ewiger«.698 Er stimmte den Ausführungen Kaufmanns insofern zu, dass das Naturrecht, die »juristische Metaphysik«, derzeit im Aufwind sei; er konstatierte allerdings dabei, dass damit die Autorität des positiven Gesetzgebers herabgedrückt werde. Und an seine Stelle werde nicht etwa ein Naturrecht, sondern deren gleich mehrere gesetzt, da jeder seine eigenen, subjektiven Gerechtigkeitsvorstellungen habe. Ein einziges, objektives Naturrecht sei nämlich nur »auf dem Boden einer positiven Religion möglich«; damit aber setze man nur an die »Stelle des positiven Rechts […] die positive Religion als höchste Autorität.« Und er schloss seinen – schon bis dahin sehr farbenreichen – Diskussionsbeitrag wie folgt: 694 Kaufmann,
Die Gleichheit vor dem Gesetz (1927) 3. Die Gleichheit vor dem Gesetz (1927) 25. Vgl. Korb, Kelsens Kritiker (2010) 119; Gangl, Die Weimarer Staatsrechtslehre (2011) 15. 696 Korb, Kelsens Kritiker (2010) 120. 697 Gerhard Anschütz, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 3 (Berlin–Leipzig 1927) 47. Vgl. zur methodischen Positionierung von Anschütz zuletzt Waldhoff, Anschütz (2018) 130–132. 698 Hans Kelsen, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 3 (Berlin–Leipzig 1927) 53. 695 Nawiasky,
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
»Die Frage, die auf das Naturrecht zielt, ist die ewige Frage, was hinter dem positiven Recht steckt. Und wer die Antwort sucht, der findet, fürchte ich, nicht die absolute Wahrheit einer Metaphysik noch die absolute Gerechtigkeit eines Naturrechts. Wer den Schleier hebt und sein Auge nicht schließt, dem starrt das Gorgonenhaupt der Macht entgegen.«699 Im folgenden Jahr, 1927, wurde die Auseinandersetzung zwischen Neuhegelianern und Neukantianern in München fortgeführt, und abermals waren die Neuhegelianer die Angreifer.700 Am ersten Tag – Karl Rothenbücher aus München sowie Rudolf Smend sprachen zum Recht der freien Meinungsäußerung – meldete sich Kelsen nicht zu Wort. Dafür geriet der Diskussionsbeitrag Kelsens am folgenden Tag zu einem dritten Referat.701 Das war auch kein Wunder, hatten doch Max Wenzel aus Rostock sowie Hermann Heller zum »Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung« referiert, also zu einem Zentralproblem der Reinen Rechslehre, und dabei scharfe Attacken gegen die Wiener Schule geritten. Es ist bemerkenswert, dass Kelsen diesmal sehr um Konsens bemüht war. Das Referat Wenzels bezeichnete er als »ausgezeichnet« und erklärte, dass die von Wenzel kritisierte Stufenbautheorie im Grunde nichts anderes sei als seine eigene Lehre von der »Rechtspyramide«.702 Und was Heller anbelangt, so erklärte er sogar, dass er, hätte er das Referat zu erstatten gehabt, »kaum zu anderen Ergebnissen gelangt« wäre. Dennoch habe dessen Referat bei ihm, Kelsen, »sehr zwiespältige Gefühle ausgelöst«, und dies wohl vor allem wegen der Art und Weise, mit der Heller Kelsen und Merkl »als Repräsentanten einer ganz und gar verrotteten ›herrschenden Lehre‹« hingestellt hatte.703 Tatsächlich hatte Heller in einem besonders scharfen Tonfall u. a. die Vorstellung kritisiert, dass alle Rechtssetzung in der Gesetzgebung konzentriert sein solle, während die Justiz lediglich »la bouche qui prononce les paroles de la loi [der Mund, der die Anordnungen des Gesetzes verkündet]« sein solle und die Verwaltung die Aufgabe habe »de faire un syllogisme dont la loi est la majeure [einen Syllogismus zu machen, in dem das Gesetz das Wichtigste ist]«. Derartiges werde »heute außer von Kelsen und seinen Schülern wohl von keinem Staatstheoretiker mehr vertreten«.704 (Man beachte
699 Hans Kelsen, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 3 (Berlin–Leipzig 1927) 53–55. Vgl. Scheuner, Vereinigung (1972) 368; Korb, Kelsens Kritiker (2010) 119 u. 210; Gangl, Die Weimarer Staatsrechtslehre (2011) 17. 700 Dazu Gangl, Die Weimarer Staatsrechtslehre (2011) 19. 701 Die Schriftfassung, die sicherlich gegenüber der mündlichen Rede ausgearbeitet wurde, umfasste nicht weniger als zwölf Seiten: Hans Kelsen, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 4 (Berlin– Leipzig 1928) 168–180. 702 Hans Kelsen, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 4 (Berlin–Leipzig 1928) 168–170. 703 Hans Kelsen, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 4 (Berlin–Leipzig 1928) 176. 704 Heller, Der Begriff des Gesetzes (1928) 117. Er zitierte hier Charles-Louis de Montesquieu (1689–1755) sowie Marie Jean Antoine de Condorcet (1743–1794); schon vor ihm hatte Schmitt, Parlamentarismus (1923) 55, diese beiden Zitate angeführt und scharf die dahinter stehende Vorstellung kritisiert, dass sich das ganze staatliche Leben »in Gesetz und Anwendung des Gesetzes« erschöpfe.
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das Wörtchen »mehr«, mit dem er Kelsen & Co. vollends auf das Abstellgleis abzuschieben versuchte.) Der so Angegriffene verwahrte sich schärfstens gegen eine derartige Unterstellung, vertrete doch die von ihm geführte Schule geradezu die gegenteilige Auffassung, dass nämlich auch Akte der Verwaltung und der Rechtsprechung als rechtsschöpfende Tätigkeit angesehen werden müssen. Hierin stimme die Reine Rechtslehre sogar mit der – von ihr sonst so bekämpften – Freirechtstheorie überein.705 Kelsens Gegenangriff war so erfolgreich, dass sowohl Heller als auch Wenzel in der nachfolgenden Diskussion die Vorstellung, sie hätten ihre Arbeiten auf Ergebnissen der Reinen Rechtslehre aufgebaut, zurückweisen mussten.706
4. Marxismus – Parlamentarismus – Föderalismus a) Die Auseinandersetzungen mit Max Adler und Otto Bauer Kelsens Staatsbegriff wurde nicht nur von den Neuhegelianern, sondern auch von den Austromarxisten scharf kritisiert, und etwa in dieselbe Zeit wie die Auseinandersetzung Kelsens mit Erich Kaufmann fällt auch jene mit Max Adler. Dieser hatte sich 1919 mit Kelsens Hilfe an der Universität Wien habilitiert und 1921 den Titel eines ao. Professors erhalten.707 Gleichwohl veröffentlichte er 1922 ein Buch über »Die Staatsauffassung des Marxismus«, in dem er Kelsens Monographie »Sozialismus und Staat« einer eingehenden Kritik unterzog. Im Vorwort drückte Adler sein Bedauern darüber aus, dass er Kelsens neuestes Buch »Der soziologische und juristische Staatsbegriff« erst nach Abschluss seines eigenen Manuskriptes erhalten habe, weshalb er hoffte, auf dieses und andere »zu spät« erschienene Schriften in einer Neuauflage seines Werkes eingehen zu können.708 Dies war ihm nicht vergönnt, doch konnte umgekehrt Kelsen bereits ein Jahr später eine zweite Auflage seines Buches »Sozialismus und Staat« veröffentlichen, in der er auf die Kritikpunkte Adlers antwortete.709 705 Hans Kelsen, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 4 (Berlin–Leipzig 1928) 179. Vgl. zur Freirechtslehre schon oben 164 f. 706 Hermann Heller, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 4 (Berlin–Leipzig 1928) 202; Max Wenzel, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 4 (Berlin–Leipzig 1928) 205. 707 Kelsen, Autobiographie (1947) 22 f. = HKW I, 61 und, ihm folgend, Métall, Kelsen (1969) 44 f., berichten ausführlich von dieser Habilitation, für die sich Kelsen »energisch« einsetzte, was ihm von einigen Kollegen »niemals verziehen« wurde. Die naheliegende Vermutung, dass es sich um ein sehr umstrittenes Habilitationsverfahren handelte, findet allerdings im Habilitationsakt (ÖStA, AVA Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 609, Personalakt Adler Max) keine Deckung. Vielmehr hatte nicht nur der Erstgutachter, der Austromarxist Carl Grünberg, sondern auch der Zweitgutachter, der Protofaschist Othmar Spann, ein positives Gutachten erstellt, letzterer hatte sogar ausdrücklich das hohe wissenschaftliche Niveau der Arbeiten Adlers gelobt, worauf das Fakultätskollegium »mit allen gegen zwei Stimmen« die Habilitation Adlers befürwortet hatte. Dies schließt freilich nicht aus, dass jene beiden Professoren, die gegen Adler votiert hatten (Hold? Schwind?), Kelsen tatsächlich dessen Eintreten für Max Adler nachtrugen. 708 Adler, Staatsauffassung (1922) 7, 316. 709 Kelsen, Sozialismus und Staat (1923).
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Abb. 27: Max Adler.
Die Auseinandersetzung Kelsens mit Max Adler war von anderer Art als jene mit Kaufmann oder mit Sander. Respektvoll bezeichnete Adler Kelsen als seinen »Freund« und konzedierte ihm, dass sich sein Buch »wohltuend« von anderen antimarxistischen Schriften abhebe, und zwar »durch den redlichen, ja leidenschaftlichen Willen zur Wahrheit, der so wie alle Schriften dieses wahrhaften Forschers auch seine Marxkritik erfüllt.«710 Kelsens seinerseits stand nicht an, auch Adler als seinen »Freund und hochgeschätzten Kollegen« zu bezeichnen,711 und enthielt sich diesmal völlig des für ihn sonst so typischen spöttischen Untertons. Adlers Habilitation war die erste in Wien gewesen, die für das Fach »Gesellschaftslehre« (wie die Soziologie damals noch bezeichnet wurde) erfolgt war; und in seiner Polemik gegen Kelsen bemühte sich Max Adler denn auch aufzuzeigen, dass der Marximus eine Soziologie und somit eine Wissenschaft sei – und nicht etwa eine politische Ideologie, wie von Kelsen behauptet.712 Kelsen warf Adler daraufhin einen Methodensynkretismus vor, wie es zwar für den – auf Hegel basierenden – orthodoxen 710 Adler, Staatsauffassung (1922) 8. Es ist daher bemerkenswert, wenn Pircher, Staatsapparat
(2005) 277, darüber staunt, »wie verzerrt Kelsen die marxistische Theorie zur Kenntnis nahm«, und hinter dieser angeblichen Verzerrung politische Motive vermutet. 711 Kelsen, Sozialismus und Staat (1923) V. Vgl. Mozetič, Stellenwert (2005) 304. 712 Adler, Staatsauffassung 17 f. Vgl. zu den Anfängen der Soziologie an der Universität Wien, unter Hervorhebung des Beitrages von Kelsen: Norden/Reinprecht/Froschauer, Frühe Reife (2015) 167.
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Marxismus typisch sei, nicht jedoch für den Kantianer Adler, der den Dualismus von Sein und Sollen anerkenne.713 Er beharrte darauf, dass der Marxismus nicht nur Aussagen über Kausalereignisse enthalte. »Wenn aber der Marxismus allen Ernstes darauf verzichten sollte, für die politische Bewegung des Sozialismus, für ihre Zielsetzung die Rechtfertigung zu liefern, indem er die Frage nach dem Sollen zu stellen und zu beantworten, ablehnte, so bedeutete das nicht mehr und nicht weniger als die Loslösung des Marxismus vom Sozialismus!«714 Auch sonst gelang es Kelsen, geschickt auf die Vorwürfe Max Adlers zu reagieren und umgekehrt diesen in die Enge zu treiben, so insbesondere, wenn Adler versuchte, Hegel neu zu interpretieren: Adler zufolge hätte Hegel nicht die Gesellschaft schlechthin dem Staat entgegengehalten, sondern nur die bürgerliche Gesellschaft. Die Gesellschaft schlechthin sei mit dem Staat identisch.715 Bemerkenswerterweise war es hier Kelsen, der an der Differenzierung von Staat und Gesellschaft festhielt und Adler vorwarf, dass er »die Begriffe Staat und Gesellschaft in jedem Satz in einer anderen Bedeutung« verwende.716 Kelsen nützte die Gelegenheit der Neuauflage seiner Schrift »Sozialismus und Staat« aber nicht nur zu einer Antwort auf Max Adler, sondern ging auch auf zwei andere kurz zuvor erschienene Bücher ein – just auf jene, auf die Adler in seiner Schrift noch hingewiesen hatte, die er aber nicht in seinen Text nicht mehr einarbeiten hatte können: »Die Marxsche Geschichts-, Gesellschafts‑ und Staatslehre« des preußischen SPD-Abgeordneten Heinrich Cunow (1920/21) sowie »Die proletarische Revolution und ihr Programm« von Karl Kautsky (1922). Letzteren hatte Kelsen ja schon in der ersten Auflage als einen Kritiker von Lenin ausführlich behandelt und ihm in weiten Teilen zugestimmt. Auch nun besprach Kelsen das neue Buch Kautskys äußerst wohlwollend. Denn dieser hatte das Marx’sche Diktum vom »Absterben des Staates« in ein »Absterben der heutigen Formen des Staates« umgewandelt und so zugegeben, dass es auch nach Überwindung der Klassenkämpfe noch einen Staat – wenn auch ganz anderer Art als bisher – geben werde.717 Und auch Cunow hatte diese These von Marx abgelehnt und ihr die »Staatsidee des Arbeiterstandes« von Ferdinand Lassalle entgegengehalten: Der Zweck des Staates sei es, »eine solche Stufe des Daseins zu erreichen, die [die in ihm vereinten Menschen] als einzelne nie erreichen könnten, sie zu befähigen, eine Summe von Bildung, Macht und Freiheit zu erlangen, die ihnen sämtlich als einzelnen schlechthin unersteiglich wäre.«718 Schon Lassalle sei es gewesen, so Kelsen, der den Staat als Mittel zur Erreichung der sozialistischen Ziele erkannte. Und wenn so bedeutende marxistische Theoretiker 713 Dazu Pfabigan, Hans Kelsens und Max Adlers Auseinandersetzung (1978) 65; Mozetič, Stellenwert (2005) 310 f. 714 Kelsen, Sozialismus und Staat (1923) 7 f. Vgl. dazu auch Potacs, Marxismus (2014) 84 f. 715 Adler, Staatsauffassung (1922) 38. 716 Kelsen, Sozialismus und Staat (1923) 33. 717 Kelsen, Sozialismus und Staat (1923) 196 f. 718 Ferdinand Lassalle, Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes (1862), zit. n. Kelsen, Sozialismus und Staat (1923) 203.
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wie Kautsky und Cunow erneut an ihn, nicht an Marx anknüpfen, dann »bereitet sich eine Umstellung der Ideologie vor in der Richtung zu einer nicht mehr schlechthin staatsfeindlichen, nicht mehr ganz nationalblinden, nicht mehr ethisch-indifferenten, ›soziologischen‹, sondern bewußt ethischen, weil wirklich politischen Theorie«, sodass Kelsen sein Buch mit dem Schlagwort enden ließ: »Zurück zu Lassalle«.719 Ferdinand Lassalle (1825–1864), Mitbegründer des »Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins«, und somit nach Kelsen »der eigentliche Begründer der deutschen Arbeiterbewegung«,720 war sechzig Jahre nach seinem Tod schon weitgehend in Vergessenheit geraten; Kelsen selbst hatte ihn offenbar durch die erst unmittelbar vor seiner eigenen Arbeit erschienene Schrift »Die politische Theorie Lassalles« des Rabbiners Sally Baron näher kennengelernt.721 Der Gedanke, dass Lassalle und nicht das Zweigestirn Marx–Engels die Grundlage für eine sozialistische Staatslehre geliefert hatte, die mit seinem eigenen Staatsverständnis weitgehend kompatibel erschien, ließ ihn aber nicht mehr los. In zwei Zeitungsartikeln zum 99. bzw. 100. Geburtstag des »frühverstorbenen Feuergeistes« gedachte Kelsen 1924/25 des Menschen Ferdinand Lassalle und dessen politischer Theorie.722 Auch veröffentlichte Kelsen in Carl Grünbergs »Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung«, wo ja schon die erste Auflage von »Sozialismus und Staat« erschienen war, einen Aufsatz mit dem expliziten Titel »Marx oder Lassalle«. In diesem hob er hervor, dass ja auch Karl Renner und Otto Bauer sich vom orthodoxen Marxismus abgewandt und eine spezifisch »sozialistische Staatstheorie« geschaffen hätten. Und erneut wies Kelsen auf die Schriften Kautskys und Cunows hin und schloss auch diese Schrift mit dem Ausruf: »Zurück zu Lassalle!«723 Aber diesem Aufruf wollte keiner der führenden Sozialdemokraten in Österreich folgen. So sehr sich Adler, Bauer und Renner auch bereits von den Ideen des orthodoxen Marxismus entfernt hatten (und dafür von russischen und deutschen Marxisten heftig kritisiert wurden724), so wenig konnten sie sich dazu entschließen, auch förmlich auf Distanz zu Marx und Engels zu gehen. Die beiden deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts waren längst zu Ikonen der Arbeiterklasse des 20. Jahrhunderts geworden, wobei aber ihre Thesen notwendigerweise verflacht und zu einem »Vulgärmarxismus«725 verkommen waren. Eine Fundamentalkritik an ihnen konnte niemals mehr rein wissenschaftlich sein, sondern musste immer in einer politischen Kritik an den Zielen der Sozialdemokratie münden. 719 Kelsen,
Sozialismus und Staat (1923) 208. Vgl. dazu Pircher, Staatsapparat (2005) 277. Lassalle (1924) 4. 721 Kelsen, Sozialismus und Staat (1923) 206 f. 722 Kelsen, Lassalle (1924) 4; Kelsen, Lassalle (1925) 4. 723 Kelsen, Marx oder Lassalle (1924) 272 ff., 285, 298. 724 So insbesondere von Lenin selbst, der das »Pendeln« der Austromarxisten »zwischen Reformismus und Bolschewismus« scharf kritisierte: Sandkühler /de la Vega, Austromarxismus (1970) 12; Leser, Reformismus und Bolschewismus (1985). 725 Bauer, Das Gleichgewicht der Klassenkräfte (1924) 90. 720 Kelsen,
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Dies wurde offenbar, als Otto Bauer 1923 sein Buch »Die österreichische Revolution« veröffentlichte, in dem er seine Sicht der Ereignisse seit 1918 darlegte, und Kelsen dies zum Anlass nahm, um in der sozialdemokratischen Monatsschrift »Der Kampf« die politischen Theorien Bauers zu analysieren. Dass es in Österreich 1918 überhaupt eine »Revolution« gegeben habe, war ja keineswegs eine allgemein anerkannte Tatsache; verglichen etwa mit dem Spartakus-Aufstand in Deutschland mit seinen tausenden Toten waren die Monate des staatsrechtlichen Umbruchs in Österreich vergleichsweise ruhig vor sich gegangen, fielen die beiden Wiener Todesopfer des 12. November sozusagen nicht ins Gewicht.726 Vor allem aber hatten die österreichischen Sozialdemokraten – im Unterschied zu Russland oder auch zu Deutschland – in keinem Moment die alleinige politische Macht in der Hand gehabt, sondern waren von Anfang an in eine Koalition mit bürgerlichen Parteien getreten, 1920 gar in die Opposition gegangen. Bauer jedoch war der Ansicht, dass sich Grundstürzendes ereignet hatte, dass sich Österreich zu einer »Volksrepublik« gewandelt hätte, in der keine »Klassenherrschaft« mehr bestünde, vielmehr ein »Gleichgewicht der Klassenkräfte« herrsche.727 Kelsen hielt demgegenüber fest, dass die Republik (Deutsch‑)Österreich im Wesen kein anderer Staat als das monarchische Österreich vor 1918 war. Auch die angebliche »Volksrepublik« schützte das Privateigentum, sogar das Privateigentum an den Produktionsmitteln.728 »Wer in der deutschösterreichischen Republik von 1918 bis 1923 keinen Klassenstaat mehr sieht, der darf den ganzen modernen Staat, so wie er sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt, nicht mehr als Klassenstaat bezeichnen, der hat aber auch die marxistische Methode überwunden, die qualitative, prinzipielle Gegensätze behauptet, wo nur quantitative Differenzen bestehen«, so Kelsen. Und er schloss auch diesen Artikel nicht, ohne erneut auf eine angebliche »Wendung von Marx zu Lassalle« hinzuweisen.729 Otto Bauer antwortete noch im selben Heft von »Der Kampf« auf Kelsen und wies dessen Ideen entrüstet von sich. Schon Marx habe 1850, in seiner Analyse der französischen Revolution von 1848, aufgezeigt, dass es immer wieder vorkommen könne, dass keine Klasse alleine stark genug sei, um ihre Alleinherrschaft zu etablieren, sodass es immer wieder zu Arrangements kommen müsse. Er, Bauer, befinde sich mit Marx also durchaus im Einklang. Das Gleichgewicht der Klassenkräfte aber war für ihn einfach eine Ausdrucksform für eine »allgemeine Krise des traditionellen Parlamentarismus«.730
726 Bauer, Die österreichische Revolution (1923) 109 betont mit Stolz, dass die Revolution »ohne
Straßenkampf und Bürgerkrieg, ohne Gewaltanwendung und Blutvergießen« erreicht worden sei. 727 Bauer, Die österreichische Revolution (1923) bes. 248 ff. Vgl. dazu Pircher, Staatsapparat (2005) 281. 728 Kelsen, Otto Bauer (1924) 53. 729 Kelsen, Otto Bauer (1924) 55 f. 730 Bauer, Das Gleichgewicht der Klassenkräfte (1924) 91. Vgl. Hanisch, Illusionist (2011) 199.
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b) »Das Problem des Parlamentarismus« Hans Kelsen antwortete nicht mehr direkt auf Otto Bauer, und auch seine Rufe nach einer Rückkehr zu Lassalle verstummten nach 1925. Aber die von Bauer aufgezeigte Krise des Parlamentarismus war auch für Kelsen ein ernstes Problem, dem er in der Folge eine kleine, aber wichtige Schrift widmete. »Das Problem des Parlamentarismus« erschien 1925 in der Schriftenreihe der Soziologischen Gesellschaft in Wien und ging vermutlich auf einen gleichnamigen Vortrag Kelsens in dieser Gesellschaft zurück. Sie stellt eine wichtige Ergänzung und Fortführung jener Gedanken dar, die Kelsen 1920 im »Wesen und Wert der Demokratie« äußerte. Denn der Parlamentarismus war für Kelsen »die einzig mögliche reale Form […], in der die Idee der Demokratie innerhalb der sozialen Wirklichkeit von heute erfüllt werden kann.«731 Einmal mehr ging Kelsen vom Ideal der Freiheit als Paradigma der Demokratie aus und erklärte die Idee der Repräsentation des Volkes durch die Abgeordneten als eine »Fiktion«. Wolle man wirklich den Parlamentarismus mit der Volkssouveränität rechtfertigen, so gerate man in unlösbare Schwierigkeiten, insbesondere wegen des Prinzips des freien Mandats, das hauptursächlich dafür sei, dass der Parlamentswille durchaus nicht mit dem Volkswillen identisch sei. Für ihn war der Parlamentarismus einfach »ein Kompromiß zwischen der demokratischen Forderung der Freiheit und dem allen sozialtechnischen Fortschritt bedingenden Grundsatz differenzierender Arbeitsteilung«.732 Dennoch anerkannte Kelsen das Problem der »Entfremdung« der Abgeordneten von ihren Wählern. Auch hier wieder ließ er Sympathien für die sowjetrussische Verfassung erkennen, die es ermögliche, dass die Abgeordneten von ihren Wählern wieder abberufen werden könnten, wenn sie die Aufträge der Wähler missachten. Zumindest dann, wenn der Abgeordnete aus der Partei ausscheide, für die er kandidiert habe, sollte er sein Mandat verlieren, forderte Kelsen.733 Auch das »Privilegium der Immunität«, im 18. Jahrhundert aus damals verständlichen Gründen geschaffen, sei heutzutage, wo kein Abgeordneter befürchten müsse, von Polizeiwillkür an seiner parlamentarischen Tätigkeit gehindert zu werden, unzeitgemäß und gehöre beseitigt. Eine Reform des Parlamentarismus sei durchaus im Interesse des Parlamentarismus selbst, um dem »Argument der Volksfremdheit« zu begegnen. So könnte insbesondere das Volk durch Verfassungs‑ und Gesetzesreferenden stärker in die Willensbildung eingebunden werden. Auch Fachparlamente, die neben das aus allgemeinen Wahlen hervorgegangene Parlament treten, könnten mit ihrer Fachkompetenz zu einer besseren Gesetzgebung beitragen.734 Eine Absage erteilte Kelsen aber den schon damals 731 Kelsen, Parlamentarismus (1925) 5 = WRS 1362. Diese Passage findet sich später wortident auch bei Kelsen, Demokratie (1929) 27 = VdD 175. 732 Kelsen, Parlamentarismus (1925) 7, 10 = WRS 1363, 1365; gleichlautend Kelsen, Demokratie (1929) 29, 32 = VdD 176, 178. 733 Kelsen, Parlamentarismus (1925) 16 f. = WRS 1368 f.; gleichlautend Kelsen, Demokratie (1929) 42 f. = VdD 187. 734 Kelsen, Parlamentarismus (1925) 12, 14 = WRS 1366, 1367; gleichlautend Kelsen, Demokratie (1929) 38 f., 45 = VdD 184, 188 f.
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bestehenden Plänen nach einer berufsständischen Organisation.735 Dass die einzelnen Berufsgruppen interne Angelegenheiten untereinander regeln, möge ja noch angehen (wobei auch hier darauf geachtet werden müsse, dass nicht die Schwächeren innerhalb des Standes ungeschützt seien). Aber Landwirt zu sein oder Rechtsanwalt zu sein, bedeute ja nicht, in allen gesellschaftspolitischen Angelegenheiten, auch abseits von Standesfragen, stets die Meinung der Landwirte bzw. der Rechtsanwälte schlechthin teilen zu müssen. Vor allem aber: Wie soll man, wie kann man Interessengegensätze zwischen den berufsständischen Gruppen entscheiden? Wolle man Rechtsanwälte gegen Landwirte abstimmen lassen? »Aus der Ideologie des berufsständischen Prinzipes selbst heraus ist eine Antwort auf diese Grundsatzfrage nicht zu finden.«736 Kelsen blieb aber bei diesem Punkt nicht stehen, sondern ging zum Gegenangriff über: Es sei bemerkenswert, dass der Ruf nach einer berufsständischen Ordnung, nach einer Überwindung der parlamentarischen Demokratie eben in dem Moment geäußert werde, »da sich die Möglichkeit ergibt, daß das bisher in der Minorität gebliebene Proletariat zur Mehrheit wird«. Wer aber die parlamentarische Demokratie verdränge, der nähere sich einem »autokratischen Typus«, er errichte »die diktatorische Herrschaft der einen Klasse über die andere«.737 So spiegelt Kelsens Schrift über »Das Problem des Parlamentarismus« einen bedeutsamen Wandel im demokratietheoretischen Diskurs der 1920er Jahre wider: Die Auseinandersetzung mit dem Marxismus spielt nur mehr eine untergeordnete Rolle; das Aufkommen ständestaatlicher, faschistischer Strömungen dagegen wird immer bedeutsamer. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass Kelsen in einer Fußnote auch die Schrift über »Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus« des deutschen Staatsrechtlers Carl Schmitt zitiert. Schmitt hatte die Vorstellung, dass aus dem Widerstreit der Meinungen im Parlament eine »wahre und richtige Gesetzgebung« entstehen könne, abgelehnt, ja geradezu von einer »Metaphysik des Zweiparteiensystems« gesprochen.738 Kelsen dagegen bekannte sich erneut dazu, dass eine »kritisch-relativistische Grundeinstellung« zur Demokratie führen müsse, dass eine Diktatur nur denkbar sei, wenn die Normunterworfenen vom Glauben getragen seien, dass ihr »Diktator auf irgendeine geheimnisvolle Weise in den Besitz der – irgendwie erkennbaren – absoluten Wahrheit, des – irgendwie greifbaren – absoluten Wertes gelangt sei.« Verliere das Volk diesen Glauben, »kann sich keine Diktatur auf die Dauer gegen den unzerstörbaren Drang nach Freiheit behaupten.«739 735 Kelsen nennt hier mehrere deutsche Staatsrechtler wie z. B. Edgar Tartarin-Tarnheyden, nicht jedoch den eigentlich naheliegenden Othmar Spann. 736 Kelsen, Parlamentarismus (1925) 23 = WRS 1371 f.; gleichlautend Kelsen, Demokratie (1929) 49 = VdD 191. 737 Kelsen, Parlamentarismus (1925) 27 = WRS 1373; gleichlautend Kelsen, Demokratie (1929) 52 = VdD 193. 738 Schmitt, Parlamentarismus (1923) 29; vgl. Kelsen, Parlamentarismus (1925) 39 = WRS 1380. 739 Kelsen, Parlamentarismus (1925) 41 f. = WRS 1381.
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c) Die Verfassungsreform 1925 In der Zwischenzeit war es den beiden christlichsozialen Bundeskanzlern Ignaz Seipel (1922–1924, 1926–1929) und Rudolf Ramek (1924–1926) gelungen, die Hyperinflation in Österreich zu stoppen und mithilfe einer Staatsanleihe eine Währungsreform durchzuführen; mit 1. Jänner 1925 löste der Schilling – mit einem Umrechnungsfaktor 1:10.000 – die noch aus der Monarchie stammende Kronenwährung ab. Dies war nur möglich, weil das UK, Frankreich, Italien und die ČSR – unter Vermittlung des Völkerbundes – in den sog. Genfer Protokollen vom 4. Oktober 1922 Garantieerklärungen abgegeben hatten. Im Gegenzug hatte sich Österreich zu einem umfassenden »Reform‑ und Sanierungsprogramm« verpflichtet.740 Otto Bauer sah hierin einen Versuch der Bourgeoisie, »mit Hilfe des ausländischen Goldes ihre Klassenherrschaft in der Republik aufzurichten«,741 worauf Kelsen entgegnete, dass auch eine Koalitionsregierung mit den Sozialdemokraten nicht auf diese ausländischen Kredite verzichten hätte können und dass auch das sozialdemokratisch geführte Land Wien von diesen Krediten profitierte.742 Die Regierung Seipel entschloss sich nun zu einer umfassenden Verwaltungsreform, und im Juni 1924 wurde eine Reihe von Gesetzesvorlagen in den Nationalrat eingebracht.743 Aus dieser Initiative gingen etwa ein Jahr später, am 21. Juli 1925, eine Reihe bedeutender, zu einem guten Teil noch heute in Kraft stehender Gesetze hervor, so v. a. das Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz, welches das Verfahrensrecht sowohl der Bundes‑ als auch der Landesbehörden einheitlich regelte.744 Kelsen – der an der Entstehung dieser Gesetze keinen Anteil gehabt hatte – begrüßte am 6. Juli 1924 in einem Zeitungsartikel die in Angriff genommene Verwaltungsreform, betonte aber zugleich, dass eine Verfassungsreform ebenso dringlich sei, eine Reform, die weniger eine Abänderung als vielmehr eine Vollendung der 1920 beschlossenen Bundesverfassung bedeuten würde: »An dem Hause unserer Republik soll ein Stockwerk umgebaut werden; aber die Grundmauern sind noch nicht fertig, von ihnen fehlt noch ein wichtiges Stück.«745 Damit legte er einen Finger 740 Genfer Protokolle I, II und III v. 4. 10. 1922 BGBl. Nr. 842; vgl. auch das Bundesgesetz v. 27. 11. 1922 BGBl. Nr. 843 über zur Aufrichtung der Staats‑ und Volkswirtschaft der Republik Österreich zu treffende Maßnahmen (Wiederaufbaugesetz). Vgl. zu den Hintergründen ausführlich Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 348 ff. Vgl. auch die scharfe Analyse des Reformpakets durch Merkl, Das Sanierungswerk (1922) = MGS II/1, 487–498. 741 Bauer, zit. n. Kelsen, Marx oder Lassalle (1924) 285. Vgl. Hanisch, Illusionist (2011) 214– 217. 742 Kelsen, Marx oder Lassalle (1924) 285; Kelsen, Otto Bauer (1924) 54 f. Vgl. Leser, Reformismus und Bolschewismus (1985) 216. 743 116 BlgNR 2. GP, vgl. Mayer, Verwaltungsverfahren (1993) 523. 744 BGBl. 1925/273–277. Vgl. zur Entstehungsgeschichte Olechowski, Verwaltungsverfahren (2006) bes. 39. 745 Kelsen, Für die Vollendung der Verfassung (1924) 2. Die Regierungsarbeiten wurden von ihm noch in einer Reihe weiterer Zeitungsartikel für die »Neue Freie Presse« eingehend kommentiert, vgl. Kelsen, Der Bund und die Länder (1924); Kelsen, Die Vollendung der Bundesverfassung (1925).
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3. Kapitel: Akademisches
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auf eine klaffende Wunde im B-VG: Die Bundesverfassung war ja, wie berichtet, nur auf Grundlage eines Kompromisses zwischen Sozialdemokraten und Christlichsozialen zustande gekommen, wonach die Neuverteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern (Art. 10–15 B-VG) erst dann in Kraft treten solle, wenn einige besonders strittige Punkte, wie insbesondere die Kompetenzverteilung im Bereich des ideologisch so umstrittenen Schulwesens, aber auch die Organisation der allgemeinen staatlichen Verwaltung in den Ländern geklärt seien. Bis dahin sollte noch die Kompetenzverteilung aus der Zeit der Monarchie weiter aufrecht bleiben (§ 42 Verfassungs-Übergangsgesetz 1920).746 Kelsen forderte die ersatzlose Aufhebung des § 42 als einen ersten wichtigen Schritt für die »Vollendung der Verfassung«. Tatsächlich brachte die Bundesregierung am 22. Mai 1925 ein ganzes Bündel von Regierungsvorlagen im Nationalrat ein, mit denen eine umfassende Verfassungs‑ und Verwaltungsreform bewerkstelligt werden und insbesondere die Kompetenzartikel des B-VG 1920 jetzt gleich in Kraft gesetzt werden sollten, auch wenn die meisten der oben genannten strittigen Punkte noch immer nicht geklärt waren und daher ausgespart bleiben sollten. Allerdings nützte die Bundesregierung die Gelegenheit, um an der Kompetenzverteilung noch einige Änderungen im Detail, und zwar zugunsten des Bundes vorzunehmen.747 Kelsen kommentierte diese Änderungsbestrebungen in einem Zeitungsartikel für die »Neue Freie Presse« und sah sie als ein »recht gewagtes Unternehmen« an.748 Die Frage der Kompetenzbestimmungen war aber, wie gesagt, nur eine von vielen Punkten der Verfassungsreform 1925. Politisch noch bedeutsamer war die Beseitigung der berüchtigten »doppelgleisigen Verwaltung«, womit die Bundesregierung einem ausdrücklichen Wunsch des Völkerbundes nachkommen wollte.749 Das Problem der »Doppelgleisigkeit« ging letztlich bis auf die theresianischen Reformen des 18. Jahrhunderts zurück, als die Monarchin in den Ländern neue, nur ihr unterstellte Behörden errichtete, aber die autonome Verwaltungstätigkeit durch die Landstände nicht vollkommen beseitigte, sodass seitdem zwei Verwaltungsapparate nebeneinander bestanden. 1918 hatten die republikanischen Landesregierungen beide Apparate übernommen, jedoch nicht fusioniert, sodass in jedem Land teils Bundesbeamte, teils Landesbeamte für Landeshauptmann und Landesregierung arbeiteten, jeweils nach unterschiedlichem Dienstrecht und mit unterschiedlichen Ressourcen, und oft nicht einmal nebeneinander, sondern eher gegeneinander agierend. Dass damit unzählige Unzulänglichkeiten und unnötige Kosten verbunden waren, liegt auf der Hand. Die Lösung konnte entweder in der Vereinheitlichung der Verwaltung in der Hand des Bundes oder in der Hand der Länder liegen, bedeutete also entweder eine wesentliche Zentralisierung oder Föderalisierung der österreichischen Verwaltungsstruktu746 Vgl. dazu schon oben 290, sowie auch die Darstellung durch Kelsen, Die Verfassung Österreichs (1927) 51. 747 StPNR 2. GP 2431, 327 BlgNR 2. GP; vgl. Berchtold, Verfassungsgeschichte (1999) 394 ff. 748 Kelsen, Kompetenzbestimmungen (1925). 749 Berchtold, Verfassungsgeschichte (1999) 374.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
ren. Fünf Jahre früher, 1920, wäre noch eine andere Option offen gestanden und hätte Kelsen wohl auch diesen dritten Weg gewählt: Die vollkommene Beseitigung des hierarchischen Beamtenapparates zugunsten einer vollständig »demokratisierten« Verwaltung, wonach auf jeder Ebene (Bund – Land – Bezirk – Gemeinde) gewählte Volksvertreter die Gesetze vollziehen sollten. Eine derartige Verwaltungsstruktur hätte Ähnlichkeiten mit dem russischen Rätesystem gehabt; Kelsen hatte sie in seinen 1920 erschienenen Schriften »Vom Wesen und Wert der Demokratie« und der ersten Auflage von »Sozialismus und Staat«, wie berichtet, ausführlich gewürdigt.750 Und auch vielen österreichischen Sozialdemokraten erschien eine »Demokratisierung der Verwaltung« nur der nächste Schritt, der auf die 1918 erfolgte Demokratisierung der Gesetzgebung folgen musste.751 Tatsächlich hatten diese Ideen auch im B-VG 1920 selbst ihren Niederschlag gefunden: Dieses sah vor, dass ein künftig zu erlassendes, besonderes Bundesverfassungsgesetz die Länder in »Gebietsgemeinden« (die wohl an die Stelle der Bezirke getreten wären) gliedern solle; Länder, Gebietsgemeinden und Ortsgemeinden sollten nicht nur Verwaltungssprengel der jeweils übergeordneten Einheit, sondern auch Selbstverwaltungskörper sein (Art. 116 B-VG 1920).752 Aber schon 1921 war Kelsen von dieser Idee wieder abgerückt: In der – von seinem Schüler Merkl herausgegebenen – österreichischen »Zeitschrift für Verwaltung« veröffentlichte er einen Beitrag, in dem er die Grenzen einer möglichen »Demokratisierung der Verwaltung« deutlich aufzeigte: Die Verwaltung sei ihrem Wesen nach »Vollziehung von Gesetzen«, und »[n]ur die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung garantiert dem in der Gesetzgebung sich manifestierenden Volkswillen seine Durchführung«. Dazu seien aber »unpolitische« Beamte weit besser geeignet als gewählte Volksvertreter. Beweis dafür sei gerade das einzige Beispiel einer schon existierenden demokratischen Verwaltung: die vom Gemeinderat gewählten Bürgermeister, die immer wieder Schwierigkeiten mit der korrekten Gesetzesvollziehung haben – gerade weil sie sich in erster Linie ihren Wählern, erst in zweiter Linie den übergeordneten Bundes‑ oder Landesorganen verpflichtet fühlten. So führe eine vollständige Demokratisierung der Verwaltung letztlich zu einer »Auflösung des Staates«, und es sei »gerade im Interesse der Erhaltung der Demokratie selbst« geboten, auf eine vollständige Demokratisierung der Verwaltung zu verzichten und stattdessen die »autokratisch-bürokratische Verwaltung« aus der Monarchie beizubehalten.753 Zwei Jahre später, 1923, widmete Adolf Merkl eine ganze Monographie der Problematik »Demokratie und Verwaltung«, und kam zum gleichen Schluss: dass ein hierarchisch geführter Beamtenapparat, mithin eine autokratische Verwaltung »innerhalb einer in 750 Oben
297. Demokratisierung der Verwaltung (1921) 8 = WRS 1297; Merkl, Demokratie und Verwaltung (1923) 5; Bauer, Die österreichische Revolution (1923) 227. 752 Siehe dazu schon Polaschek, Bezirksvertretungen (1997) 83 ff.; Olechowski, Demokratie (2009) 123; Wiederin, Bezirkshauptmannschaft (2018) 39 f. 753 Kelsen, Demokratisierung der Verwaltung (1921) 12, 14 f. = WRS 1301, 1302 f. Vgl. dazu Pircher, Staatsapparat (2005) 292. 751 Kelsen,
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3. Kapitel: Akademisches
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ihrer Gesamtstruktur demokratischen Staatsorganisation im Grunde demokratischen Charakter annehmen« könne.754 Es waren nicht zuletzt diese Schriften Kelsens und Merkls, die auch die Sozialdemokraten dazu brachten, von ihrer ursprünglich verfolgten Idee einer Demokratisierung der Verwaltung wieder abzugehen; die Bundesverfassungsnovelle 1925 brachte das faktische Ende dieser Pläne.755 Vielmehr wurden die Bezirkshauptmannschaften zu Landesbehörden umfunktioniert756 und in jedem Land ein »Amt der Landesregierung« geschaffen, das unter Leitung der Landesregierung bzw. des Landeshauptmannes sowohl die Geschäfte der autonomen Landesverwaltung als auch der mittelbaren Bundesverwaltung führen sollte. Nur die Spitze der Verwaltung war somit demokratisch legitimiert, doch konnte sie – wenigstens in der Theorie – mittels Weisungen den demokratischen Staatswillen bis in die letzten Winkel der Verwaltung transportieren. Dieses Verwaltungsmodell, das jahrzehntelang bestimmend für Österreich war, ging als das »Kelsen-Merklsche Konzept« in die Verwaltungsrechtsgeschichte ein.757 d) Bundesstaat und Anschlussgedanke Die Bundesverfassungsnovelle 1925 hatte nicht nur eine deutliche Absage an eine »Verwaltungsdemokratie«, sondern auch und vor allem eine wesentliche Stärkung des Föderalismus gebracht, letzteres nicht unbedingt zur Freude Hans Kelsens. Denn dass Kelsen kein Freund des österreichischen Föderalismus war, wird in vielen Schriften deutlich. Schon 1918/19 hatte er ja in seinen rechtsdogmatischen Schriften, die rund um die Gründung der Republik entstanden waren, die viel umstrittene These aufgestellt, dass die Republik allein von der revolutionär entstandenen ProvNV gegründet worden sei, während die (nach ihrem Selbstverständnis ebenfalls revolutionär entstandenen) Landesregierungen ihre rechtliche Existenz alleine der Anerkennung durch die ProvNV verdankten. Dies mochte noch mit rechtstheoretischen Überlegungen gerechtfertigt werden. 1922 aber ließ Kelsen in einer kleinen Schrift, »Österreich als Bundesstaat«, keinen Zweifel an seiner persönlichen Haltung zum Föderalismus offen: Dieser sei »kompliziert und kostspielig«, die traditionelle Ländergliederung »wirtschaftspolitisch ganz sinnlos und verwaltungstechnisch höchst mangelhaft«.758 Selbst wenn man der Ansicht Kelsens zustimmen sollte, so bleibt es offen, ob die von ihm vorgebrachten Argumente auch seine eigentlichen Gründe waren, warum er 754 Merkl,
Demokratie und Verwaltung (1923) 77; vgl. Pircher, Staatsapparat (2005) 294 f.
755 Die Art. 115–120 B-VG blieben bis 1962 unverändert, und noch heute deutet Art. 120 B-VG die
Möglichkeit der Zusammenlegung von Ortsgemeinden zu Gebietsgemeinden an, doch blieb diese Bestimmung bislang unausgeführt. 756 Die in diesen Behörden tätigen Bundesbeamten traten zwar in den Landesdienst über, behielten aber ihre (vorteilhaftere) dienstrechtliche Stellung als Bundesbedienstete; vgl. dazu Kelsen, Das Kompromiß (1925). 757 Dazu Olechowski, Demokratie (2009) 126. 758 Kelsen, Österreich als Bundesstaat (1922) 421.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
den Föderalismus so vehement ablehnte. Hier ist zum einen auf die parteipolitische Situation in Österreich hinzuweisen: Zwischen 1918 und 1933 stellten die Christlichsozialen und die Großdeutschen in acht von neun Bundesländern den Landeshauptmann; nur das »rote Wien« war unter sozialdemokratischer Führung. Allerdings waren die Sozialdemokraten seit 1920 auch in der Bundesregierung nicht mehr vertreten; eine Stärkung des Föderalismus nützte ihnen also tendenziell mehr, als dass sie ihnen schadete. Angesichts von Kelsens Sympathie für die Sozialdemokratie erscheint hier ein Zusammenhang eher unwahrscheinlich. Daher sei ein Blick auf das Jahr 1919 zurückgeworfen, als Kelsen zum ersten Mal die Problematik des Bundesstaates breit diskutierte. Dies geschah, wie bereits hervorgehoben, im Zusammenhang mit Überlegungen, wie der geplante »Anschluß« Österreichs an das Deutsche Reich am besten zu bewerkstelligen sei. Schon damals hatte er auf die Problematik hingewiesen, dass ein Bundesstaat (Österreich) nicht gut einem anderen Bundesstaat (dem Deutschen Reich) beitreten könne, ohne dass es zu heillosen Komplikationen komme. 1927 veröffentlichte Kelsen in der ZÖR einen Aufsatz über »Die staatsrechtliche Durchführung des Anschlusses an das Deutsche Reich« und wiederholte seine Ansicht.759 Die Publikation dieser Schrift fiel in eine Zeit, als der »Anschlußgedanke«, der während der Zeit der Wirtschaftskrise an Attraktivität verloren hatte, allgemein wieder in Österreich und Deutschland auflebte.760 Das Zehnte Deutsche Sängerbundfest, das im Juli 1928 in Wien stattfand, hatte wegen des 100. Todestages Franz Schuberts (19. November 1828) besondere Bedeutung; hunderttausende Menschen »aus allen Ländern, in denen Deutsche wohnen«, strömten in den Wiener Prater, wo auf der ausgedehnten Jesuitenwiese eine riesige Holzhalle errichtet worden war. Deutsche und österreichische Politiker aller Parteien gaben bei diesem Zusammentreffen ein klares Bekenntnis zur deutschen Nation ab.761 Der sozialdemokratische deutsche Reichskanzler Hermann Müller kündigte an, die »Beziehungen zu Oesterreich« künftig »noch enger […] gestalten« zu wollen.762 Im Herbst desselben Jahres präsentierte der österreichische Justizminister Franz Dinghofer von der Großdeutschen Volkspartei im Nationalrat den Entwurf für ein gemeinsames Strafgesetzbuch für Österreich und das Deutsche Reich, an dem eine gemischte Kommission gearbeitet hatte.763 Daneben entstand der Plan, Österreich möge das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch, Deutschland aber die österreichische Zivilprozessordnung übernehmen, womit eine Einheit in weiten Gebieten der deutschen und österreichischen Rechtsordnung erreicht worden wäre. Auch die juristischen Fakultäten Österreichs betonten gerade in dieser Zeit 759 Kelsen,
Durchführung des Anschlusses (1927) 331.
760 R auscher, Briandplan und Zollunionsprojekt (2006) 14; Saage, Die deutsche Frage (2008)
80.
761 Das Zitat in AZ Nr. 200 v. 20. 7. 1928, 1; vgl. ferner AZ Nr. 201 v. 21. 7. 1928, 5; NFP Nr. 22933 v. 20. 7. 1928, 1 und Nr. 22934 v. 21. 7. 1928, 1. 762 NFP Nr. 22935 v. 22. 7. 1928, 1. 763 Franz Dinghofer in der Nationalratssitzung vom 20. 9. 1927, StPNR 5. GP 289.
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ihre besondere Verbundenheit mit ihren Schwesterfakultäten in Deutschland: Vom 23.–24. April 1928 fand in Wien die 5. Versammlung der Deutschen Staatsrechtslehrer statt, vom 14.–28. September 1928 in Salzburg der 35. Deutsche Juristentag, und vom 27.–29. Oktober tagte in Wien die Vereinigung deutscher Zivilprozessrechtler.764 Nichtsdestoweniger ist anzumerken, dass sich nur wenige Juristen auch persönlich so vehement für den »Anschluß« einsetzten wie Hans Kelsen.765 Schon 1923 hatte Kelsen sein für Studenten konzipiertes Lehrbuch »Österreichisches Staatsrecht« mit einem leidenschaftlichen Appell für einen »Anschluß« an das Deutsche Reich beendet und den schweizerischen (!) Dichter Conrad Ferdinand Meyer zitiert: Geduld, es kommt die Zeit, da wird gespannt Ein einig Zelt ob allem deutschen Land. […] Geduld, was langsam reift, das altert spat. Wenn andere welken, werden wir ein Staat.766
Und 1927, im eben erwähnten Aufsatz, stimmte Kelsen erneut eine »Zukunftsmusik« an, von der er hoffte, »daß der Grundakkord dieser Musik, der heute nur als leiser Klang aus unbekannten Fernen zu uns herübertönt, daß dieser Zusammenklang der Stimmen aller deutschen Stämme einst gewaltig durch die Welt brausen wird, zur Ehre und zum Ruhm einer Völkergemeinschaft, die auch dem deutschen Volke sein Recht, weil seinen Staat gewährt.«767 Hier, in diesem Aufsatz, fand Kelsen auch weitere Argumente gegen den innerösterreichischen Föderalismus: Es besäßen die österreichischen »Länder – mit Ausnahme Tirols – keine hinreichende historische oder völkische Eigenart, die sie zu jenem hohen Grade von Selbständigkeit berechtigen würde, den ein Gliedstaat im Rahmen des Deutschen Reiches hat«. Was aber das österreichische Bundesland Tirol betreffe, so handle es sich ja nur um den Rest des zum größeren Teil an Italien gefallenen, historischen Landes.768 Österreich müsse als Einheitsstaat Teil des Deutschen Reiches 764 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 759. Zur Staatsrechtslehrertagung siehe noch unten 416, 449. 765 Zu den Befürwortern zählten auch z. B. Luwig Mises (vgl. Silverman, Law and Economics [1984] 69) und Adolf J. Merkl: Merkl, Rechtsform (1925) = MGS II/1, 583–586; Merkl, Anschluß (1927) = MGS II/1, 607–618. Vgl. aber auch Merkl, Anschluß (1955) = MGS II/2, 719–723, in dem er die »Geschichtslegende«, im Jahr 1938 hätte ein derartiger »Anschluß« stattgefunden, als solche entlarvt. Kelsen und Merkl gehörten auch einer »österreichisch-deutschen Arbeitsgemeinschaft« an, die sich für den »Anschluß« engagierte, jedoch 1933 ihre Tätigkeit einstellte, »weil die Vereinigung der Staaten ab diesem Zeitpunkt den meisten Mitgliedern – und zwar aller politischer Richtungen – nicht mehr erstrebenswert« schien: Schartner, Staatsrechtler (2011) 221. 766 Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 238. Die Verse stammen aus dem 1872, kurz nach Gründung des Deutschen Reiches, veröffentlichten Gedicht »Huttens letzte Tage« von Conrad Ferdinand Meyer, http://gutenberg.spiegel.de/buch/huttens-letzte-tage-1873/1 [Zugriff: 26. 04. 2019]. Vgl. Kann, Die österreichische Bundesverfassung und der Anschluß (1986) 34. 767 Kelsen, Durchführung des Anschlusses (1927) 352. 768 Kelsen, Durchführung des Anschlusses (1927) 334 f.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
werden. »In Österreich lebt heute noch die alte Ostmark fort, und nur mit Österreich, dem deutschen Österreich, nicht aber mit seinen willkürlich abgegrenzten Ländern, kehrt die alte deutsche Ostmark, nachdem sie ihre geschichtliche Aufgabe erfüllt hat, wieder in das Reich zurück.«769 Was aber die Durchführung des »Anschlusses« betreffe, so sprach sich Kelsen für zwei miteinander korrespondierende Gesetze – ein deutsches und ein österreichisches – aus. Art. 2 WRV sehe ja vor, dass das Deutsche Reich um Gebiete erweitert werden könne, wenn dies die dortige Bevölkerung »kraft des Selbstbestimmungsrechts« begehre. Und in Österreich wäre eine Volksabstimmung nicht nur politisch, sondern auch rechtlich notwendig, zumal es sich um eine Gesamtänderung der Verfassung handle, und nach Art. 44 B-VG in einem solchen Fall eine Volksabstimmung zwingend vorgeschrieben sei. Einen völkerrechtlichen Vertrag hielt Kelsen dagegen für überflüssig.770 Es gehört zu den Tragödien der Geschichte, dass die Nationalsozialisten, nachdem sie 1933 in Deutschland und 1938 in Österreich an die Macht gekommen waren, eben diesen Weg für einen »Anschluß« Österreichs an das Deutsche Reich wählten: Zwei korrespondierende Gesetze771 und eine in beiden Staaten durchgeführte (demokratischen Anforderungen in keiner Weise genügende) Volksabstimmung. Ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen Österreich und dem Deutschen Reich wurde dagegen im Jahre 1938 nicht abgeschlossen. Von allen politischen Forderungen Kelsens ist jene nach einem »Anschluß« Österreichs an Deutschland für einen Leser oder eine Leserin des 21. Jahrhunderts die vielleicht am schwersten zu begreifende. Und diese Schwierigkeit kommt daher, dass man heute einen solchen »Anschluß« nicht anders sehen kann als durch die Brille des Jahres 1938, weil man den »Anschluß« assoziiert mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich, mit der Etablierung eines Terrorregimes und der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges sowie mit dem größten Genozid in der Geschichte der Menschheit. Derartiges hatte Kelsen nicht im Sinne.772 Seine Anschlussvorstellungen werden verständlich, wenn man sie im Kontext seiner anderen Arbeiten liest. Und hier ist 769 Kelsen, Durchführung des Anschlusses (1927) 335. Der Begriff »Ostmark« wurde in der Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts – nicht jedoch in den mittelalterlichen Quellen – für die von Karl I. dem Großen zur Abwehr der Awaren und von Otto I. dem Großen zur Abwehr der Magyaren gebildeten Marken verwendet, auf die das spätere (Erz‑) Herzogtum Österreich zurückgeführt wurde; vgl. Zöllner, Der Österreichbegriff (1988) 15. Später, ab 1938, wurde der Begriff von den Nationalsozialisten zur Umschreibung Österreichs benützt, vgl. insbesondere das »Ostmarkgesetz« v. 14. 4. 1939 dRGBl I 1939, S. 777. 770 Kelsen, Durchführung des Anschlusses (1927) 334 f. 771 Deutsches Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich v. 13. 3. 1938 dRGBl I, S. 237; österreichisches Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich v. 13. 3. 1938 BGBl 75. 772 In einem Brief an Mario Losano v. 9. 9. 1966, HKI, Nachlass Kelsen 16b2.59, hebt Kelsen hervor, dass er seinerzeit »für den Anschluss Österreichs an die Weimarer Republik, nicht aber an ein nationalsozialistisches Deutschland war.«
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nicht nur auf seine kritischen Schriften zum österreichischen Bundesstaat, sondern auch erneut auf seine Schrift »Sozialismus und Staat« zurückzukommen. Hier zitierte er nämlich Lassalle, der bereits gut hundert Jahre zuvor seine Vision eines »Großdeutschland moins les dynasties« (also eines republikanischen Staates für das gesamte deutsche Sprachgebiet) ausgebreitet hatte. Marx hatte die Vereinigung der Proletarier aller Länder gefordert, Lassalle hingegen hatte, so Kelsen, erkannt, »daß die nationale Einigung in der historischen Entwicklung zu höheren, internationalen Formen eine Stufe ist, die nicht übersprungen werden kann, gerade weil sich heute mit voller Deutlichkeit zeigt, welche Nachteile die mangelnde nationale Einheit auch für die Arbeiterklasse hat«.773 Kelsens Nationalismus stand also in keinem Gegensatz zu der von ihm an vielen anderen Stellen erhobenen Forderung nach einer »civitas maxima«. Vielmehr erwies er sich auch hier ganz und gar als Anhänger Lassalles. e) Die Drei-Kreise-Theorie Rechtstheoretisch setzte sich Kelsen nur verhältnismäßig selten mit den Problemen des Bundesstaates auseinander.774 Umso bedeutender war sein Beitrag über »Die Bundesexekution«, den er 1927 in der Festschrift für den schweizerischen Verfassungsrechtler Fritz Fleiner775 zu dessen 60. Geburtstag veröffentlichte. Kelsen hatte bis dahin noch nie einen Beitrag für eine Festschrift verfasst. Was nun seine Motivation für einen solchen Beitrag war, ist ungewiss, persönliche Kontakte zu Fleiner, der damals in Zürich lehrte, sind nicht bekannt. Kelsens Bundesstaatslehre war natürlich ganz wesentlich geprägt durch seinen Standpunkt, dass der Staat nur eine Hypostase der Rechtsordnung sei; die bundesstaatliche Organisationsform war für ihn daher nur eine ganz besondere Art, eine Rechtsordnung zu dezentralisieren. Für Kelsen war ein Bundesstaat dann gegeben, wenn eine »Gesamtverfassung und von ihr delegiert zwei Arten von Teilordnungen in Geltung stehen: eine Teilordnung mir räumlicher Geltung für das Gesamtgebiet (Teilordnung, weil nur für einen sachlichen Teilbereich kompetent); und mehrere Teilordnungen mit räumlicher Geltung nur für Teilgebiete.«776 Dieses Modell wurde später als das »Drei-Kreise-Modell« bezeichnet: Ein Kreis stehe für den »Bund«, einer 773 Kelsen, Sozialismus und Staat (1923) 206. Siehe auch die Ausführungen Otto Bauers, ebenfalls eines begeisterten Anhängers der großdeutschen Idee: Bauer, Die österreichische Revolution (1923) 106 f. 774 Siehe aber den entsprechenden Abschnitt in seinem Lehrbuch: Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925) 163–225 (dazu noch unten 387) oder den in einer rumänischen Zeitschrift sowohl auf deutsch als auch auf rumänisch veröffentlichten Aufsatz: Kelsen, Die räumliche Gliederung/ Impărțirea teritorială (1926). 775 Geb. Aarau/CH 24. 1. 1867, gest. Ascona/CH 26. 10. 1937, lehrte in Zürich, Basel, Tübingen und Heidelberg, verfasste 1923 eine Monographie zum schweizerischen Bundesstaatsrecht. Vgl. Alfred Kölz, Fleiner, Fritz, in: Historisches Lexikon der Schweiz http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/ D15841.php [Erstellt: 15. 1 2. 2010/Zugriff: 26. 04. 2019]; Biaggini, Fleiner (2018). 776 Kelsen, Bundesexekution (1927) 130 f. Vgl. dazu Wiederin, Bundesstaat (2005) 232, wonach diese Idee schon zuvor von Verdroß entwickelt worden war. Vgl. zur Bundesstaatsdiskussion vor 1914 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II (1992) 365 f.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
für das »Land«, ein beide Kreise umfassender Kreis für den »Gesamtstaat«, der also über Bund und Ländern stehe. Es sei ein Fehler, so Kelsen, den Bund selbst als einen »Oberstaat« darzustellen, er sei vielmehr den übrigen Teilordnungen (den Ländern) gleichgeordnet. Nur sei es in der Praxis fast immer so, dass bestimmte Bundesorgane identisch seien mit Organen der Gesamtverfassung (so etwa das zur Verfassungsänderung berufene Organ).777 Dennoch müsse immer streng unterschieden werden, ob es sich um eine Kompetenz des »Bundes« oder des »Gesamtstaates« handle. Die sog. Kompetenz-Kompetenz z. B., also die Frage, wer kompetent sei, die Kompetenzen zwischen Bund und Ländern aufzuteilen, sei eine Kompetenz des Gesamtstaates. Damit wich Kelsen von der ganz herrschenden Lehre ab, dass der Bund den Ländern übergeordnet sei, schon allein deswegen, weil er die Kompetenz-Kompetenz besitze.778 Auch bei der sog. Bundesexekution handle es sich um eine Funktion des Gesamtstaates, zumal die Gesamtstaatsverfassung verletzt worden sei. Kelsen sah in ihr einen »in ihrem äußeren Tatbestand dem Kriege gleichartige[n] Zwangsakt« Der entscheidende Unterschied zwischen einem Krieg des Völkerrechtes und einer Exekution des Bundesstaatsrechtes liege darin, dass nur im zweiten Fall ein besonderes Organ existiere, das über die Rechtmäßigkeit bzw. Unrechtmäßigkeit dieses Zwangsaktes entscheide. Da dieses in aller Regel nicht nur Organ des Gesamtstaates, sondern auch zugleich Bundesorgan sei, könne der Gliedstaat niemals eine rechtmäßige Exekution oder einen rechtmäßigen Krieg gegen den Bund bzw. den Gesamtstaat führen. Nach Art. 19 WRV war ein »Staatsgerichtshof« für gewisse Streitigkeiten zwischen dem Deutschen Reich und den deutschen Ländern zuständig; nach Art. 48 Abs. 1 WRV konnte der Reichspräsident ein Land »mit Hilfe der bewaffneten Macht [dazu] anhalten«, seine Pflichten zu erfüllen. Das Verhältnis dieser beiden Bestimmungen zueinander war unklar und umstritten: Konnte der Reichspräsident alleine feststellen, dass ein Land seine Pflichten verletzt hatte, oder musste er dazu eine Entscheidung des Staatsgerichtshofes abwarten? »Vom Standpunkt wissenschaftlicher Interpretation muß man zugeben, daß beide Auffassungen möglich sind«, befand Kelsen.779 Insgesamt kritisierte Kelsen die deutschen Regelungen als unbefriedigend und mangelhaft. Das österreichische B-VG sah die Möglichkeit einer Bundesexekution – wenigstens auf den ersten Blick – überhaupt nicht vor. Aber es kannte verschiedenste Möglichkeiten, dass der VfGH und in geringerem Maße auch der VwGH Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern entschieden: Gesetze und Verordnungen und auch Bescheide konnten auf Antrag aufgehoben, Kompetenzkonflikte entschieden, Landeshauptleute (in Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung) verurteilt 777 Kelsen,
Bundesexekution (1927) 131 f. Einordnung von Kelsens Bundesstaatslehre in den damaligen Stand der Wissenschaft vgl. Wiederin, Bundesstaat (2005) 223–225. Kelsen wich damit aber auch von seiner eigenen, anlässlich der Beratungen zum B-VG 1920 geäußerten Ansicht ab, wonach es zum Wesen des Bundesstaates gehöre, dass sein Recht dem der Länder vorangehe; vgl. oben 285. 779 Kelsen, Bundesexekution (1927) 156, 169. 778 Zur
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werden. Art. 146 B-VG aber bestimmte ganz lapidar: »Die Exekution der Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes liegt dem Bundespräsidenten ob.« Kelsen lobte diese rechtstechnich gelungene Lösung, mit der überhaupt »die primitive Rechtstechnik der Bundesexekution […] restlos überwunden« sei.780 Kelsens Schrift war in vielerlei Hinsicht bedeutsam: Zunächst für die Bundesstaatstheorie selbst, die von Kelsens hier entwickelter sog. »Drei-Kreise-Theorie« nachhaltig geprägt wurde.781 Dann aber auch wegen seiner zwanglosen Gleichsetzung von Problemen des Bundesstaates mit Problemen des Völkerrechts, was ihm später den Weg in die Völkerrechtslehre ebnen sollte. Im Besonderen verrät Kelsens Arbeit über »Die Bundesexekution« viel über Kelsens Ansichten vom Krieg als eines Rechtsaktes; aber auch die von ihm vielfach betonte Gleichartigkeit zwischen Bundesstaat und Staatenbund war bemerkenswert. Zuletzt ist hervorzuheben, dass Kelsen bereits hier auf die großen Unterschiede zwischen den bundessaatlichen Konzeptionen Österreichs und des Deutschen Reiches hinwies. Diese Unterschiede machen es z. T. verständlich, weshalb einige Jahre später Carl Schmitt den Reichspräsidenten als den »Hüter der Verfassung« bezeichnete, während Kelsen diese Rolle dem VfGH zumaß!782 Was aber Fritz Fleiner betrifft, so brachte dieser seine eigenen Ansichten zum Bundesstaat recht prägnant bei der sechsten Tagung der Deutschen Staatsrechtler, 1929 in Frankfurt a. M., zum Ausdruck, wobei er sich allerdings Kelsens »Drei-Kreise-Theorie« nicht zu eigen machte. Vielmehr sah er ganz traditionell die »Souveränität des Reichsrechtes« dadurch gegeben, dass das Reich die Kompetenz-Kompetenz besitze und auch einseitig die Organe bezeichne, die über Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern zu entscheiden haben.783 Immerhin waren auch nach Ansicht Fleiners Reichs‑ und Landesrecht innerhalb der Grenzen ihrer Kompetenzbereiche im Prinzip gleichwertige Rechtsordnungen; der Art. 13 Abs. 1 WRV (»Reichsrecht bricht Landesrecht«) sei keine notwendige Folge des bundesstaatlichen Prinzips, sondern bewusst vom Verfassungsgeber gesetzt worden, um das Verhältnis zwischen Reich und Ländern zu verschieben – eine Ansicht, der sich Kelsen bei der nachfolgenden Diskussion anschließen konnte.784 Er entfaltete auch bei dieser Gelegenheit seine »Drei-Kreise-Theorie«, doch schien er damit wenig Anklang zu finden; Nawiasky z. B. hielt es nicht für einen »Zufall«, dass »dieser konstruierte Oberstaat« sowohl in Deutschland als auch in Österreich und der Schweiz »mit dem Zentralstaat zusammenf[alle]«,785 und Anschütz warf Kelsen überhaupt vor, »den Gegensatz von Staatenbund und Bundesstaat« zu verkennen: »Art. 13 [W]RV ist ein altes Wahrzeichen bundesstaatlicher Rechtseinheit, an dem nicht gerüttelt werden darf.«786 780 Kelsen,
Bundesexekution (1927) 187. Wiederin, Bundesstaat (2005) 242–246. 782 Dazu noch ausführlich unten 507. 783 Fleiner, Bundesstaatliche und gliedstaatliche Rechtsordnung (1929) 8. 784 Hans Kelsen, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 6 (Berlin–Leipzig 1929) 57. 785 Hans Nawiasky, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 4 (Berlin–Leipzig 1928) 61. 786 Gerhard Anschütz, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 4 (Berlin–Leipzig 1928) 65. 781 Dazu
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
5. Hans Kelsen und die Psychoanalyse Zur Zeit der Monarchie hatte der Kaiser sowohl in der k. k. Hofoper als auch im k. k. Hofburgtheater über eine prächtige Mittelloge verfügt; beide fielen später dem österreichischen Bundespräsidenten zu, der sie aber nur selten selbst benützte, sondern – wie sich Hans Kelsen noch dreißig Jahre später, in einem 1953 geführten Interview, zu erinnern wusste – anderen Personen zur Verfügung stellte, darunter auch Universitätsprofessoren, die nach einem »gewisse[n] Turnus« in den Genuss dieses Privilegs kamen. »Und eines Tages wurde auch ich – ich war damals der Dekan der juristischen Fakultät, glaub’ ich – eingeladen, in die Burgtheaterloge zu gehen.« Man gab den »Spiegelmensch« von Franz Werfel.787 Kelsen teilte sich die riesige Loge mit zwei Professoren der philosophischen Fakultät (an deren Namen er sich in dem 1953 geführten Interview nicht mehr erinnern konnte), mit denen er auf diese Weise ins Gespräch kam. Als Kelsen dabei den Namen Sigmund Freud erwähnte, fragte ihn einer der beiden Professoren, wer das sei, weil er in Amerika gewesen sei, und da hatten ihn alle nach Freud befragt. Kelsen erläuterte dazu später im Interview: »Der Freud war ja nicht Professor, Freud war ja Privatdozent. Er hatte nur später den Titel eines Professors bekommen, und das ist in akademischen Kreisen ein himmelweiter Unterschied zwischen einem Professor und einem nur mit dem Titel bekleideten Privatdozent[en]. Aber er [= der Professor von der philosophischen Fakultät] hat keine Ahnung gehabt, dass Freud überhaupt ein Mann von Bedeutung ist, dass der Mann an der Universität ist, keine Ahnung!«788 Es wäre reizvoll, diese Anekdote tiefenpsychologisch zu deuten. Hatte der 72-jährige Kelsen, der in seinem Leben an vier Universitäten (Wien, Köln, Prag und Berkeley) als ordentlicher Professor unterrichtet hatte, es tatsächlich nötig, zu betonen, dass er seinerzeit eine höhere akademische Position innegehabt hatte als der wesentlich berühmtere Sigmund Freud, der es tatsächlich an der Wiener Universität nur bis zum Titularprofessor gebracht und auch sonst nirgends einen Lehrstuhl erlangt hatte?789 Bemerkenswert sind auch die Ausführungen Kelsens in besagtem Interview über seine persönlichen Kontakte zur Familie Freud, wonach nicht nur er selbst mit dem Psychiater interdisziplinär diskutierte, sondern auch Grete Kelsen sich mit Anna Freud über Kinderanalyse unterhalten und Kelsens Töchter Anna und Maria mit einem Enkelsohn Sigmund Freuds gespielt haben sollen.790 Da das Privatleben der 787 Der »Spiegelmensch« hatte am 22. 4. 1922 am Wiener Burgtheater Premiere; vgl. NFP Nr. 20706 v. 22. 4. 1922, 9. Zu jener Zeit war Kelsen Prodekan der Wiener Juristenfakultät. 788 Hans Kelsen, Interview mit Kurt Eissler v. 19. 1 2. 1953. 789 Sigmund Freud habilitierte sich 1885 an der Universität Wien für Nervenpathologie, vgl. das Habilitationsgesuch im Anhang zu Freud, Bericht (1886). Mit ah. Entschließung vom 5. 3. 1902 wurde ihm der Titel eines ao. Universitätsprofessors verliehen, vgl. Wiener Zeitung Nr. 64 v. 18. 3. 1902, 1. In der Sekundärliteratur werden diese akademischen Feinheiten immer wieder außer Acht gelassen oder durcheinander gebracht, vgl. etwa Johnston, Geistesgeschichte (2006) 84. 790 Hans Kelsen, Interview mit Kurt Eissler v. 19. 1 2. 1953. Kelsen nennt den Enkelsohn nicht beim Namen, sondern bezeichnet ihn als einen Sohn von Freuds Tochter Sophie (Halberstadt),
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Freuds außerordentlich gut erforscht ist, diese Kontakte aber nirgends erwähnt werden, sind die Äußerungen Kelsens mit großer Vorsicht zu behandeln, suggerieren sie doch eine persönliche Nähe, die von keiner anderen Seite her bestätigt werden kann.791 Aktenkundig ist immerhin, dass Hans Kelsen Sigmund Freud zumindest schon seit dem Jahr 1911 kannte, als er – insgesamt sechsmal – als Zuhörer an Freuds »Mittwochsgesellschaft«, d. h. an den immer Mittwochs stattfindenden Vortragsabenden der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung teilgenommen hatte. Angelockt wurde er dazu durch Hanns Sachs,792 einen Rechtsanwalt, der sich eben zu jener Zeit mehr und mehr der Psychoanalyse zuwandte und den ersten jener Vorträge, bei denen Kelsen zu Gast war, hielt. Das Interesse Kelsens, der sich bei jenen Versammlungen nicht sonderlich hervortat, flaute aber offenbar nach etwa einem Jahr wieder ab.793 Erst rund zehn Jahre später, vermutlich 1921, kam es wieder zu einem intensiveren Kontakt zwischen Kelsen und Freud, als zufälligerweise beide ihren Sommerurlaub in Seefeld in Tirol verbrachten.794 Hier unternahmen sie mehrere Spaziergänge gemeinsam, und Kelsen berichtet, dass er damals die Gelegenheit benützte, um Freud von einem »Kollegen« zu erzählen, der regelmäßig vom Tod seiner Kinder träume, was ihn aber nur tagsüber, nicht während der Träume selbst störe. Freud hatte es wird sich vermutlich um Ernst Halberstadt (geb. 1914, gest. 2008), der etwa im selben Alter wie Kelsens Töchter war, gehandelt haben. 791 Vgl. dazu Adamovich, Kelsen und die Tiefenpsychologie (1997) 130. 792 Geb. Wien 10. 1. 1881, gest. Boston 10. 1. 1947; vgl. Reiner Wild, Sachs Hanns, in: NDB XXII (Berlin 2005) 332 f. Kelsen und Sachs hatten einander über Sachs’ Schwester Olga, verehelichte Barsis, kennengelernt: Hans Kelsen, Interview mit Kurt Eissler v. 19. 1 2. 1953. Vgl. auch Métall, Kelsen (1969) 40. 793 Die erste Teilnahme fand am Mittwoch, dem 13. 1 2. 1911 statt; Hanns Sachs hielt einen Vortrag »Über Naturgefühl«, Kelsen beteiligte sich nicht an der Diskussion: Nunberg/Federn, Protokolle III (1979) 331. Ein zweites Mal kam Kelsen am 3. 1. 1912 in die Vereinigung, als Isidor Sadger »Aus Hebbels Kindheit« vortrug, und richtete auch eine Verständnisfrage an den Vortragenden. Der dritte Vortrag, den Kelsen besuchte, war jener von Paul Federn »Über die Flugsensation im Traume« vom 31. 1. 1912; der vierte jener von Eduard Hitschmann »Über Schopenhauer«, den er am 8. 5. 1912 gemeinsam mit Hemme Schwarzwald besuchte. Bei seinem fünften Abend in der »Mittwochsgesellschaft« hielt Sigmund Freud selbst einen Vortrag, und zwar »Über das Tabu«. Zum letzten Mal kam Kelsen am 30. 10. 1912 in die Berggasse, als Sigmund Freud »Eine kasuistische Mitteilung mit polemischen Bemerkungen« machte, d. h. einen seiner aktuellen Fälle präsentierte und diskutierte. Mit der einen genannten Ausnahme meldete sich Kelsen niemals zu Wort: Nunberg/Federn, Protokolle IV (1981) 1, 5, 26, 94 f., 104. Vgl. auch R athkolb, Kelsens Perzeptionen Freudscher Psychoanalyse (2000) 88; Avscharova/Huttar, Ohne Seele, ohne Staat (2009) 175. Im genannten Interview von 1953 spricht Kelsen auch von einem »Seminar« Freuds, das er kurz nach dem Ersten Weltkrieg etwa ein Semester lang besucht hätte und wo es auch zu einer Begegnung mit dem Psychoanalytiker Wilhelm Stekel gekommen sei; seine Angaben sind hier aber sehr vage, er selbst gibt auch an, sich an Vieles nicht mehr erinnern zu können. 794 Vgl. dazu und zum Folgenden Hans Kelsen, Interview mit Kurt Eissler v. 19. 1 2. 1953; Jones, Freud (1982) 102 f.; R athkolb, Kelsens Perzeptionen Freudscher Psychoanalyse (2000) 89. Kelsen selbst nennt die Jahre »1921 oder 1920«; 1920 jedoch verbrachte er, wie oben erwähnt, seinen Urlaub in Altaussee; auch Métall, Kelsen (1969) 40, nennt das Jahr 1921. Nach Weissweiler, Die Freuds (2008) 273, verbrachte Sigmund Freud jedoch den Sommer 1921 in Bad Gastein, Anna in Altaussee.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Vorbehalte dagegen, nur auf Grundlage der Erzählung eines Dritten eine Art Ferndiagnose abzugeben, aber er äußerte seine Vermutung, dass dieser Mann in einer unglücklichen Beziehung lebe und die Kinder als Hindernis für eine Scheidung ansehe. Dies erschien Kelsen als eine gute Deutung der Träume seines Freundes, zumal dieser damals ein Verhältnis mit seiner Sekretärin unterhielt. Es ist unklar, wie es zu diesem sonderbaren Gespräch zwischen Kelsen und Freud gekommen war,795 und insbesondere, ob sich Kelsen von Freud irgendwelche Hilfestellungen erhoffte. Wenn ja, so wurde er ziemlich sicher enttäuscht. Denn Kelsen erzählte später in diesem Zusammenhang, dass Freud »in allererster Linie ein Gelehrter, ein Forscher« war, der unbedingt wissen wollte, was in den Menschen vorgehe, nur in zweiter Linie war er auch ein Arzt, dem es um die Heilung seiner Patienten ging.796 Daher waren auch die privaten Unterhaltungen zwischen Kelsen und Freud im Sommer 1921 in ganz anderer Hinsicht von Bedeutung, denn offenbar boten sie den Anlass dafür, dass Freud nun Kelsen einlud, selbst einmal in der »Mittwochsgesellschaft« einen Vortrag zu halten. Dies erfolgte ein halbes Jahr später, am 30. November 1921, als Kelsen zum Thema »Der Begriff des Staates und Freuds Massenpsychologie« sprach.797 Eine Schriftfassung dieses Vortrages erschien 1922 in der von Freud herausgegebenen Zeitschrift »Imago«; wie Kelsen selbst schrieb, waren »einzelne Partien« des Aufsatzes seiner Schrift »Der soziologische und der juristische Staatsbegriff« entnommen.798 Die Arbeit fügte sich somit nahtlos in andere Untersuchungen Kelsens aus jener Zeit ein, mit denen er zu beweisen suchte, dass der Staat nicht anders als mit juristischen Methoden erfasst werden könne.799 Im gegebenen Zusammenhang wandte sich Kelsen vor allem gegen Vertreter einer Massenpsychologie, wie etwa Gustave Le Bon oder Scipio Sighele, die erklärten, »daß der Gesamtwille, das Gesamtgefühl oder die Gesamtvorstellung eine durch Summierung der einzelnen Wollungen, Gefühle oder Vorstellungen gewonnene und dementsprechend intensivierte seelische Größe sei.«800 Kelsen ortete hier eine »Hypostasierung« und zollte Freud Lob, dass er nicht dem gleichen Fehler wie Le Bon erlegen 795 Es ist nochmals darauf hinzuweisen, dass Kelsen von diesem Zusammentreffen mit Freud in einem Interview berichtet, das mehr als dreißig Jahre später stattfand (Hans Kelsen, Interview mit Kurt Eissler v. 19. 1 2. 1953), und auch hier nannte er nicht den Namen seines damaligen Freundes. Kelsens Hinweise zu dessen Person (angeblich handelte es sich um einen nicht in Wien beruflich tätigen Nationalökonomen) müssen daher nicht unbedingt zutreffen, sondern können im Gegenteil bewusst in die Irre führen. Es erscheint allerdings weder nötig noch angemessen, darüber zu spekulieren, wer mit diesem »Freund« gemeint gewesen sein könnte. 796 Hans Kelsen, Interview mit Kurt Eissler v. 19. 1 2. 1953. Vgl. R athkolb, Kelsens Perzeptionen Freudscher Psychoanalyse (2000) 89; Avscharova/Huttar, Ohne Seele, ohne Staat (2009) 176. 797 Fallend, Sonderlinge, Träumer, Sensitive (1995) 145. 798 Kelsen, Der Begriff des Staates (1922) 97. 799 R athkolb, Kelsens Perzeptionen Freudscher Psychoanalyse (2000) 91. Vgl. Kelsen, Das Verhältnis von Staat und Recht (1921); Kelsen, Staatsbegriff (1921); Kelsen, Staatsbegriff (1922). Siehe zur Bedeutung Freuds für Kelsens Reine Rechtslehre auch Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt (2010) 30 ff. 800 Kelsen, Der Begriff des Staates (1923) 107. Vgl. dazu Adamovich, Kelsen und die Tiefenpsychologie (1997) 131.
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sei, sondern erklärt habe, dass »[d]er Gegensatz zwischen sozialen und narzißtischen […] seelischen Akten […] durchaus innerhalb des Bereichs der Individualpsychologie« liege und sich nicht dazu eigne, »sie von einer Sozial‑ oder Massenpsychologie abzutrennen.«801 Freud selbst war der Ansicht, dass die Bindung des Individuums an die Masse libidinöser Natur sei; konkret bestehe eine libidinöse Beziehung des Individuums zum Führer dieser Masse, weshalb er den Menschen auch als ein »Hordentier, ein Einzelwesen einer von einem Oberhaupt angeführten Horde« bezeichnete.802 Charles Darwin folgend, erblickte auch Freud in der »Urhorde«, einer »von einem starken Männchen unumschränkt beherrschte[n] Horde«, die »Urform der menschlichen Gesellschaft«, und die Erinnerung an diese Urhorde lebe in der Masse erneut auf. Damit habe jeder Einzelne Anteil an verschiedenen »Massenseelen, an der seiner Rasse, des Standes, der Glaubensgemeinschaft, der Staatlichkeit usw.«803 An dieser Stelle widersprach Kelsen dem Psychoanalytiker: Der Staat könne auf keinen Fall als eine solche »Massenseele« bezeichnet werden.804 Vielmehr hielt ihm Kelsen seinen eigenen, juristischen Staatsbegriff entgegen und erklärte, dass der Staat nichts anderes als die Rechtsordnung selbst, dass ein meta-rechtlicher Staat nichts anderes als eine Hypostasierung sei, »haargenau« wie der transzendente, supranaturale Gott »nichts anderes ist als die grandios-anthropomorphe Personifikation der Einheit [der] Natur«.805 Somit habe sich zwar Freud bei seiner Anschauung vom Wesen des Staates geirrt, jedoch »eine unschätzbare Vorarbeit« geleistet, indem er »aufs wirksamste die mit der ganzen Magie jahrhundertealter Worte ausgerüsteten Hypostasierungen Gottes, der Gesellschaft und des Staates in ihre individual-psychologischen Elemente« aufgelöst habe.806 Eine Bewertung der Auseinandersetzung Kelsens mit Freud fällt schwer. Dass sich überhaupt ein Jurist zu jener Zeit mit Psychoanalyse beschäftigte, muss als revolutionär eingestuft werden.807 Eine wirklich tiefgehende Auseinandersetzung mit der Lehre 801 Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) 74; Kelsen, Der Begriff des Staates (1923) 112. Beachte dazu den Hinweis von Adamovich, Kelsen und die Tiefenpsychologie (1997) 128, wonach unter »Individualpsychologie« nicht die von Alfred Adler begründete tiefenpsychologische Richtung zu verstehen ist. 802 Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) 135; die Bezeichnung »Hordentier« ist eine Anspielung auf den britischen Sozialpsychologen Wilfred Trotter, der den Menschen als »Herdentier« bezeichnet hatte. 803 Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) 136 f., 144. Es ist daher nach Adamovich, Kelsen und die Tiefenpsychologie (1997) 132, zweifelhaft, ob Freud tatsächlich, wie von Kelsen behauptet, eine Massenpsyche verneint hat. 804 Kelsen, Der Begriff des Staates (1923) 119. Vgl. Adamovich, Kelsen und die Tiefenpsychologie (1997) 131 f.; R athkolb, Kelsens Perzeptionen Freudscher Psychoanalyse (2000) 90. 805 Kelsen, Der Begriff des Staates (1923) 140. Vgl. Jabloner, In Defense of Modern Times (2016) 333. 806 Kelsen, Der Begriff des Staates (1923) 141. Vgl. Avscharova/Huttar, Ohne Seele, ohne Staat (2009) 178. 807 R athkolb, Kelsens Perzeptionen Freudscher Psychoanalyse (2000) 90.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Freuds fand aber nicht statt.808 Freud selbst bezeichnete die Kritik Kelsens zwar als »verständnisvoll und scharfsinnig«, konnte sich aber der Meinung seines Kritikers, er hätte eine Hypostasierung vorgenommen, nicht anschließen.809 Zwei Jahre später taucht der Name Kelsen erneut in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung auf, exakter: in den Akten der Leitung des von dieser Vereinigung betriebenen »Psychoanalytischen Ambulatoriums«, an dem auch eine Reihe von Kursen abgehalten wurden, deren Inhalte weit über Psychoanalyse im engeren Sinn hinausgriffen. In diesem Zusammenhang wurde 1923 beschlossen, dass auch der Germanist Hans Sperber, der Schriftsteller Stefan Zweig, der Staatsrechtler Hans Kelsen und einige andere Wissenschaftler und Literaten hier zu Wort kommen sollten.810 Ob eine Einladung Kelsens in weiterer Folge zustande kam, ist ungewiss;811 ein allfälliger Vortrag könnte aber Basis für eine weitere Arbeit Kelsens gewesen sein, in der dieser sich mit Freud auseinandersetzte. Diese erschien 1927 im Almanach des Internationalen Psychoanalytischen Verlages, trug den Titel »Der Staatsbegriff und die Psychoanalyse« und wurde von Kelsen selbst als »Abschluß« seiner Studie aus dem Jahr 1922 bezeichnet.812 In diesem nur sechs Seiten langen Aufsatz ging Kelsen kurz auf Freuds Buch »Totem und Tabu« ein, insbesondere auf die sog. Totemmahlzeit, d. h. das gemeinsame Verzehren eines Tieres als integrierendes Ritual.813 Es erscheine den Teilnehmern notwendig, »an einer gemeinsamen Substanz« Anteil zu haben, gleichsam als sei die Gemeinschaft selbst mit dieser Substanz identisch. Kelsen sah hier erneut eine Parallele zur herrschenden Staatslehre, die eine »Substanz« des Staates zu erkennen glaube und sich nicht mit Kelsens Lehre von der Identität von Staat und Recht zufrieden geben könne.814 Interessant an dieser kleinen Schrift ist, wie intensiv sich Kelsen zu dieser Zeit schon mit antiker Rechts‑ und Staatsphilosophie beschäftigte (worauf an anderer Stelle noch zurückzukommen sein wird): Wenn von der »Gottheit« die Rede ist, so 808 Dies bekennt auch Kelsen, Der Begriff des Staates (1923) 113 f., offen ein, meint aber, dass dies für sein Anliegen »nicht erforderlich« sei. Siehe ausführlich Adamovich, Kelsen und die Tiefenpsychologie (1997) 134 ff. 809 Adamovich, Kelsen und die Tiefenpsychologie (1997) 132. Das Zitat auch bei Avscharova/ Huttar, Ohne Seele, ohne Staat (2009) 186 f. Vgl. ferner Jabloner, Kelsen and his Circle (1998) 383. 810 Fallend, Sonderlinge, Träumer, Sensitive (1995) 125. Dieser Beschluss wurde also erst nach, nicht vor Kelsens Vortrag von 1921 gefasst, insofern unrichtig Avscharova/Huttar, Ohne Seele, ohne Staat (2009) 176. 811 Verneinend R athkolb, Kelsens Perzeptionen Freudscher Psychoanalyse (2000) 89. 812 Kelsen, Staatsbegriff (1927) 135. Dieser einleitende Satz ist beim Wiederabdruck in der »WRS« nicht enthalten. Mehrere Formulierungen Kelsens von 1927, insbesondere auch der Schlusssatz, sind praktisch wortgleich mit Formulierungen seiner 1922 veröffentlichten Studie. 813 Freud, Totem und Tabu (1913) 161 ff. Vgl. zum Folgenden auch Avscharova/Huttar, Ohne Seele, ohne Staat (2009) 184. 814 Kelsen, Staatsbegriff (1927) 139 = WRS 174. Vgl. Adamovich, Kelsen und die Tiefenpsychologie (1997) 133. Hinweise auf Freuds Lehre zur Totemmahlzeit finden sich schon bei Kelsen, Das Verhältnis von Staat und Recht (1921) 506 f. = WRS 116 f., und bei Kelsen, Staatsbegriff (1922) 250 f.
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ist offenbar nicht (vorrangig) der Gott Abrahams, sondern sind damit die antik-heidnischen Götter gemeint; die Hypostasierung und Verdoppelung des Erkenntnisgegenstandes wird mit dem Mond und der Göttin Luna, der Sonne und dem Gott Apollo erläutert. Kelsen bezeichnet die Staatslehre als die vielleicht älteste Wissenschaft überhaupt und stellt nicht nur, wie schon in seinem Habilitationsvortrag 1911, das Rechtsgesetz als Vorbild für das Naturgesetz, sondern nunmehr auch den König, der über die Menschen herrsche, als das Vorbild für die Gottheit, die über die Natur herrsche, dar.815 Für die Tiefenpsychologie vermochten die beiden Schriften Kelsens kaum Bedeutung zu entfalten.816
6. Persönliche Freunde und Privatleben »Wenn Kelsen an einem Vortrag, einer Abhandlung oder einem Buch arbeitet«, so berichtete sein Biograph Métall, »ist er so konzentriert, dass andere Störungen kaum zu ihm dringen können. Nur mit einiger Mühe und großer Selbstdisziplin rafft er sich zur notwendigen geistigen Entspannung auf. Diese besteht nebst einer guten Zigarre vor allem in der Lektüre von Romanen, auch von Kriminalromanen, und war während der Wiener Zeit Besuchen von Theateraufführungen, später auch des Kinos gewidmet, vor allem aber in freundschaftlich-geselliger Unterhaltung, bei der er seinen Witz sprühen lassen konnte. Dem Wiener Brauch gemäß, der im Kaffeehaus den Ersatz für das Klubleben gefunden hatte, war er in den hier berichteten Jahren ein ziemlich regelmäßiger Besucher seines ›Stammcafés‹, das in der Nähe seiner Wohnung und des Parlaments gelegen war.«817 – »Um dies zu verstehen, muß man wissen, daß das Wiener Kaffeehaus eine Institution besonderer Art darstellt, die mit keiner ähnlichen der Welt zu vergleichen ist. Es ist eigentlich eine Art demokratischer, jedem für eine billige Schale Kaffee zugänglicher Klub, wo jeder Gast für diesen kleinen Obolus stundenlang sitzen, diskutieren, schreiben, Karten spielen, seine Post empfangen und vor allem eine unbegrenzte Zahl von Zeitungen und Zeitschriften konsumieren kann. In einem besseren Wiener Kaffeehaus lagen alle Wiener Zeitungen auf und nicht nur die Wiener, sondern die des ganzen Deutschen Reiches und die französischen und englischen und italienischen und amerikanischen, dazu sämtliche wichtigen literarischen und künstlerischen Revuen der Welt«, beschreibt Stefan Zweig diese Wiener Institution.818 Bei Kelsens »Stammcafé« handelte es sich um das schon mehrfach erwähnte »Café Herrenhof«. Es befand sich im namengebenden Herrenhof in der Herrengasse 10,
815 Kelsen,
Staatsbegriff (1927) 137 f. = WRS 172 f. aber, dass Kelsen, Der Begriff des Staates (1923), die erste Schrift Kelsens war, die eine Übersetzung ins Englische erfuhr; vgl. dazu unten 590 f. 817 Métall, Kelsen (1969) 32. 818 Zweig, Die Welt von Gestern (1942) 57. Vgl. auch Johnston, Geistesgeschichte (2006) 130 f. 816 Beachte
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Abb. 28: Familie Kelsen in der Sommerfrische, ca. 1929.
somit im selben Gebäude wie die Schwarzwald-Schule,819 und machte nach dem Ersten Weltkrieg dem nahe gelegenen Café Central seinen Rang als Künstler‑ und Literatencafé mit einigem Erfolg streitig: Die Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal und Robert Musil, aber auch die bildenden Künstler Oskar Kokoschka und Adolf Loos sowie die Philosophen Moritz Schlick und Ludwig Wittgenstein verkehrten gerne hier; Erich Vögelin und Alfred Schütz fochten hier leidenschaftliche soziologische Kontroversen aus.820 Friedrich Torberg hat dem »Herrenhof« in seiner »Tante Jolesch« ein literarisches Denkmal gesetzt.821 Abgesehen von Kelsens Vorliebe für das Kaffeehaus hat Métall nur wenig über das Privatleben des großen Gelehrten berichtet; aufschlussreicher sind hier die Aufzeichnungen von Kelsens älterer Tochter Anna (oder »Annerl«, wie sie damals noch genannt wurde).822 Demnach führte die Familie durchaus ein »standesgemäßes« Leben, was insbesondere bedeutete, dass sie bis zu ihrer Emigration in die Vereinigten Staaten 1940 stets Dienstpersonal hatte; für die beiden Töchter sorgte ein 819 Der Herrenhof verfügte über einen Eingang in der Herrengasse (wo sich auch der Eingang zum Kaffeehaus befand) und einen an der Rückfront in der Wallnerstraße (welcher u. a. zur Schwarzwald-Schule führte), vgl. schon oben 187. 820 Weiss, Political Reality (2001) 125; Corino, Musil (2003) 860. 821 Torberg, Die Tante Jolesch (1975) bes. 189 f. und passim. 822 Es handelt sich um zwei maschingeschriebene Texte, welche niemals veröffentlicht wurden, sondern sich im Familienbesitz befinden: Kelsen Oestreicher, Times to remember (1977); Kelsen Oestreicher, My Parents in the United States (1977). Vgl. auch den Hinweis zu Anna Kelsen in den Erinnerungen ihrer Schulkollegin Ruth Kestranek-Varda in Streibel, Schwarzwald (1996) 99.
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3. Kapitel: Akademisches
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Kindermädchen. Hans Kelsen verbrachte mehr Zeit, als es in seinen gesellschaftlichen Kreisen üblich war, mit der Familie zusammen.823 Anna Kelsen berichtet auch, dass sie im christlichen Glauben aufgezogen wurde und erst verhältnismäßig spät von ihren jüdischen Wurzeln erfuhr: »Als ich ungefähr zehn war, oder möglicherweise früher, erfuhr ich von meiner jüdischen Herkunft, aber ich fühlte mich sicher im Kreise meiner Verwandten und Freunde.« Genau erinnerte sie sich daran, wie ihre Großmutter ihr das erste Mal über die Zerstörung des jüdischen Tempels durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. erzählte. »Es muss auf mich einen großen Eindruck gemacht haben, denn ich erinnere mich daran bis zum heutigen Tage.«824 Dass der christliche Glaube im Hause Kelsen besonders intensiv gepflegt wurde, ist unwahrscheinlich; zwar feierte die Familie Weihnachten mit einem Christbaum,825 doch war dies auch in nicht religiösen Familien durchaus üblich. Im Sommer wurde regelmäßig ein Häuschen am Land gemietet, wo die Familie Kelsen meist gemeinsam mit Großmutter Bondi, in späteren Jahren auch gemeinsam mit Kelsens Schwester Gertrude Weiss und deren Familie den Urlaub verbrachte.826 Vermutlich befand sich dieses Häuschen im Salzkammergut, in der Nähe des Grundlsees, wo Eugenie Schwarzwald 1920 das Anwesen »Seeblick« erworben hatte, und wo sie stets einer großen Zahl von prominenten Gästen Unterkunft gewährte, von Lotte Leonard über Wilhelm Furtwängler bis zu Carl Zuckmayer. Auch Adolf und Karoline Drucker zählten zu den Gästen Schwarzwalds, und was Kelsen betrifft, so ist aus dem Jahr 1925 ein etwas seltsamer Brief Schwarzwalds erhalten, der immerhin belegt, dass auch er ihr Gast war. Sie schrieb darin einer Freundin, dass »Johannes Kelsen […] immer noch anbetend zu meinen Füßen [sitze], was ihn aber nicht daran hindert, außerordentlich viele triviale Dinge zu sprechen, obgleich ich es ihm strengstens untersagt habe. Letzthin hat er mir zum Geburtstag ein grausliches Blumenarrangement geschenkt, so groß wie unser Speisetisch, wofür ich eine Gesamtausgabe von Knut Hamsun hätte haben können, oder ein Kind aufs Land schicken. Aber er ist schon ein bißchen besser geworden, schämt sich seiner Universitätsprofessur und tanzt mit der kleinen Lili von Schneider Schwalm Jazzband zum Grammophon. Das sind seine produktivsten Stunden.«827 Um diesen Brief richtig deuten zu können, ist es wichtig zu wissen, dass Schwarzwald ihre Briefe oft laut, mitten im Kreis ihrer Freunde, ihrer Sekretärin diktierte, sodass es offensichtlich wird, dass Schwarzwald hier offen über Kelsen – der anscheinend noch während des Diktats zu ihren Füßen saß – spottete. Abgesehen von einem etwas seltsamen Humor wird somit durchaus ein sehr enges, freundschaftliches Verhältnis der beiden so unterschiedlichen Persönlichkeiten deutlich. 823 Kelsen
Oestreicher, Times to remember (1977) 2a. Oestreicher, Times to remember (1977) 2a, 3. 825 Anne Feder Lee, Interview v. 15. 10. 2006. 826 Kelsen Oestreicher, Times to remember (1977) 2a. 827 Eugenie Schwarzwald, Schreiben an Karin Michaelis v. 17. 7. 1925, zit. n. Holmes, Die Schwarzwaldschule (2009) 107. 824 Kelsen
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Abb. 29: Eugenie Schwarzwald im Kreise ihrer Freunde am Grundlsee, zwei Plätze rechts von ihr (zeitunglesend) Hemme Schwarzwald.
Unklar ist allerdings, weshalb sich Kelsen seiner Professur schämen sollte; die Schwarzwald-Biographin Holmes vermutet, dass Kelsen als ordentlicher Professor eine Position erreicht hatte, die für die meisten anderen Menschen jüdischer Herkunft unerreichbar blieb.828 Damit aber stellt sich die Frage, wie Schwarzwald – und wie Kelsen – zu ihrer jüdischen Herkunft standen. Ein interessantes Indiz mag hier sein, dass Schwarzwald offenbar Knut Hamsun ebenso sehr schätzte, wie es Kelsen tat. Das ist angesichts der Tatsache, dass Hamsun 1920 den Literaturnobelpreis gewonnen hatte, auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches, sollte aber nachdenklich stimmen angesichts des Umstandes, dass zumindest einige seiner Werke, wie etwa der 1923 erschienene Roman »Siste kapitel«, unverhohlen antisemitische Züge trugen.829 Und tatsächlich findet sich im Nachlass von Eugenie Schwarzwald ein Brief, in dem sie sich selbst als »ehrlich antisemitisch« bezeichnete.830 Angesichts der Tatsache, dass Eugenie Schwarzwald aufgrund ihrer jüdischen Herkunft 1938 zur Emigration gezwungen war und 1940 verbittert im Schweizer Exil verstarb, erscheint es 828 Holmes, Schwarzwald-Schule (2009) 108; vgl. auch Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt (2010) 484, der auf die 1940 verfasste Erzählung »Eine blaßblaue Frauenschrift« von Franz Werfel verweist; diese thematisiert die Ablehnung der Berufung eines (fiktiven) bedeutenden Mediziners jüdischer Herkunft auf einen Lehrstuhl durch die österreichische Unterrichtsverwaltung. 829 Schnurbein, Literarischer Antisemitismus (2014). 830 Dieser Umstand genügte, dass im Jahr 2012 ein Antrag im Wiener Gemeinderat, am ehemaligen Standort der Schwarzwald-Schule in der Wiener Herrengasse eine Gedenktafel anzubringen, wieder zurückgezogen wurde: Streibel, Die zweite Vertreibung der Eugenie Schwarzwald (2012).
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3. Kapitel: Akademisches
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geradezu grotesk, sie selbst als Antisemitin zu bezeichnen. In dem vorhin erwähnten Brief wollte sie sich lediglich von jenen Juden, die sich im Gegensatz zu ihr nicht assimilieren wollten, abgrenzen. Das Fallbeispiel demonstriert insofern anschaulich, wie schwierig es für assimilationswillige Personen jüdischer Abstammung war, sich gegenüber der nichtjüdischen Bevölkerungsmehrheit einerseits, ihren ehemaligen Glaubensgenossen andererseits zu verhalten: Egal was sie taten, sie standen immer zwischen zwei Fronten. Was Hans Kelsen selbst betrifft, so findet sich weder in seinen Schriften noch sonst in den Quellen zu seiner Person auch nur irgendeine antisemitische Bemerkung, und auch zu seiner jüdischen Herkunft äußerte er sich nur sehr selten. Weyr erinnert sich an eine Unterhaltung, in deren Zusammenhang Kelsen scherzhaft hervorhob, dass zurzeit sowohl der amtierende Schachweltmeister als auch der amtierende Boxweltmeister Juden seien831 – womit er wohl die Leistungsfähigkeit des jüdischen Volkes in zwei so unterschiedlichen Bereichen unterstreichen wollte. Und ein andermal, so erinnerte sich Weyr, meinte Kelsen ihm gegenüber: »Du bist ein großer Blonder und Angehöriger der nordischen Abstammung – und ich bin nur ein armer Jud!«832 Dass Weyr in diesem Zusammenhang Kelsen als »Antisemiten« bezeichnet, ist wohl so zu verstehen, dass Kelsen nach den Worten Weyrs seine jüdische Herkunft »als eine drückende Last, von der er loskommen wollte«, empfand833 – die vorhin zitierte Äußerung Kelsens fand in Genf statt, also vermutlich nach Machtergreifung der Nazis und der Zwangspensionierung Kelsens aus rassistischen Gründen. Wie aus Kelsens anthropologischen Studien zu sehen ist, interessierte er sich, wie viele seiner Zeitgenossen, für Rassenkunde.834 1929 trat er sogar in den Vorstand des »Österreichischen Bundes für Volksaufartung und Erbkunde« ein.835 Dieses wissenschaftliche Interesse lässt aber 831 Weyr, Paměti I (1999) 420. Beim Schachweltmeister handelte es sich offenbar um Emanuel Lasker, der diesen Titel 1894–1921 führte; beim Boxweltmeister wahrscheinlich um Benny Leonard (Benjamin Leiner), Weltmeister im Leichtgewicht 1917–1925. Dementsprechend muss die Unterhaltung zwischen 1917 und 1921 stattgefunden haben. 832 Kelsen, zit. n. Weyr, Paměti I (1999) 420. 833 Vgl. die Aussagen des bildenden Künstlers Alfred Roller über seinen Freund Gustav Mahler: »Mahler hat seine jüdische Abstammung nie versteckt. Aber sie hat ihm keine Freude gemacht. Sie war für ihn Sporn und Stachel zu um so höherer, reiner Leistung.« Zit. n. Hamann, Hitlers Wien (1996) 471. 834 Schwarz, Julius Tandler (2017) 183, bezeichnet die Eugenik als »ein Phänomen der Moderne«; sie fügte sich ein in das Fortschrittsdenken der Gesellschaft des Fin de siècle. Eugeniker fanden sich in allen politischen Lagern, wobei sich ihre Anliegen und Vorstellungen beträchtlich voneinander unterschieden. Es ist auch hier wieder zu betonen, dass die vor 1933 lebenden Akteure nicht den Erfahrungshorizont des heutigen Lesers bzw. der heutigen Leserin besaßen. 835 Über diesen Bund ist wenig bekannt; den Vorsitz hatte der Medizin-Nobelpreisträger Julius Wagner-Jauregg inne, dem Vorstand gehörten auch noch u. a. der sozialdemokratische Wiener Gesundheitsstadtrat Julius Tandler an, sowie der Medizinprofessor Heinrich Reichel, der auch an der juristischen Fakultät Hygienekurse hielt. Siehe dazu ausführlich Exner /Kytir /Pinwinkler, Bevölkerungswissenschaft (2004) bes. 226–228. Schwarz, Julius Tandler (2017) 174, reiht den Bund in das Kapitel »Sozialdemokratische Eugenik« ein, bezeichnet ihn aber als »politisch heterogen« zusammengesetzt; seine Tätigkeit war vor allem auf Popularisierung eugenischer Maßnahmen ausgerichtet, Rückschlüsse auf die Position einzelner Mitglieder sind kaum möglich.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
keinen Rückschluss auf rassistische Haltungen zu, und angesichts von Kelsens demokratietheoretischen und philosophischen Schriften erscheint es auch so gut wie ausgeschlossen, dass Kelsen jemals derartige Positionen einnahm. Damit jedoch zurück zu Eugenie Schwarzwald, die zu der Zeit, als sie den oben erwähnten Brief an Kelsen verfasste, schon längst eine ménage à trois mit ihrem Mann und der gemeinsamen Sekretärin Maria Stiasny führte. Letztere, 1888 geboren und somit sechzehn Jahre jünger als »Frau Doktor«, wurde selbst zumeist als »Fräulein Doktor«836 tituliert, zumal auch sie (1917) zum Dr. phil. promoviert worden war. Danach hatte Stiasny offenbar zunächst im Handelsmuseum für Hermann Schwarzwald gearbeitet und war dann nahtlos in die Dienste (auch) von dessen Frau getreten, sodass sie bald zu einer unentbehrlichen Stütze für das Berufs‑ und Privatleben des Ehepaars Schwarzwald wurde.837 Dass, wie behauptet, auch Hans Kelsen bei Maria Stiasny »einmal ernste Absichten gehabt« hätte,838 kann wohl, wenn überhaupt, nur auf die Zeit vor seiner Heirat 1912 zutreffen, komplettiert aber noch die Buntheit des Bildes, das uns die beruflichen, privaten und erotischen Beziehungen des Schwarzwald-Kreises vermitteln. Angesichts der wie auch immer im Detail gearteten, so doch jedenfalls engen Beziehungen Kelsens zu den Schwarzwalds, ist es bemerkenswert, dass Kelsens Töchter, im Gegensatz etwa zu Peter Drucker oder Engelbert Broda,839 zunächst nicht die Volksschule von Eugenie Schwarzwald besuchten, sondern Privatunterricht erhielten. Erst im Herbst 1924 wurden auch Anna und Maria Kelsen in die Schwarzwald-Schule geschickt, wo beide sowohl die restlichen Volksschulklassen absolvierten als auch, bis 1930, die Gymnasialklassen besuchten.840 Anna Kelsen charakterisierte die Schwarzwald-Schule als ein »halb-privates Gymnasium« (tatsächlich handelte es sich um eine Privatschule mit Öffentlichkeitsrecht), »wo ein ›milder Sozialismus‹, Pazifismus und ›Liebe zur Menschheit‹ gelehrt wurden.«841 Parallel dazu erhielten Kelsens Töchter aber Privatunterricht in Französisch; Hans Kelsen wollte offenbar bei ihnen vermeiden, dass sie so wie er ohne die Kenntnis lebender Fremdsprachen aufwuchsen: Tatsächlich war dies seine »Achillesferse«; als Erwachsener holte er den Unterricht in Englisch und Französisch nach, teils in Intensivkursen bei Privatlehrern, vor einer Reise nach London, wie Kelsens Freund Weyr zu berichten weiß.842 Möglicherweise handelte es sich dabei um jene Englandreise, die Kelsen in offiziellem Auftrag gemeinsam mit dem Kunsthistoriker Prof. Josef Strzygowski im August 1920 unternahm, um »mit den dortigen Vertretern der wissenschaftlichen Körperschaften 836 Eine promovierte Frau wurde, auch wenn sie unverheiratet war, mit »Frau Doktor« angesprochen, das »Fräulein« wurde hier normalerweise als Beleidigung aufgefasst: Silving, Memoirs (1988) 101. 837 Holmes, Langeweile ist Gift (2012) 239. 838 Braunwarth, Stiasny (1992) . 839 Broda, Aufzeichnungen (1985) 307. 840 Kelsen Oestreicher, Times to remember (1977) 2b. 841 Kelsen Oestreicher, Times to remember (1977) 2. 842 Weyr, Paměti I (1999) 418.
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3. Kapitel: Akademisches
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Besprechungen behufs Wiederaufnahme der wissenschaftlichen Beziehungen« abzuhalten.843 Der Freundeskreis Kelsens war außergewöhnlich weit gespannt. Métall nennt die Austromarxisten Karl Renner, Otto Bauer und Max Adler sowie den Begründer der schon mehrfach erwähnten »Soziologischen Gesellschaft«, Rudolf Goldscheid, als persönliche Freunde Kelsens, betont jedoch zugleich, dass Kelsen »auch eng mit bürgerlichen, ja ›rechtsbürgerlichen‹ Persönlichkeiten befreundet« war, so etwa mit dem christlichsozialen Bundeskanzler Ignaz Seipel, dem präfaschistischen Soziologen Othmar Spann oder dem Gründer der »Paneuropa-Union«, Richard Coudenhove-Kalergi.844 Gemeinsam mit Seipel, mit dem Dichter Hugo von Hofmannsthal und anderen Prominenten war Kelsen Mitglied im »Wiener Kulturbund«, einem eher konservativen Verband von Intellektuellen, in dem gesellschaftliche Problemstellungen diskutiert wurden.845 Möglicherweise im Zusammenhang damit gehörte Kelsen um 1929 auch einer Jury an, die über Einsendungen zur Frage »Wie könnte Wien ein internationales Kulturzentrum werden?« zu entscheiden hatte; der Preis für den besten Vorschlag war vom Chefredakteur und Mitherausgeber des »Neuen Wiener Journals«, Jakob Lippowitz846 gestiftet worden. Karl Kraus, der Herausgeber der »Fackel«, hatte für derartige Ambitionen nur bösen Spott übrig und überlegte, ob die richtige Antwort nicht darin bestünde, den 1893 »aus Deutschland zugereist[en]« Lippowitz aus Wien zu vertreiben.847 Über den Ausgang des Preisausschreibens ist nichts bekannt. Zu den persönlichen Freunden Kelsens zählte laut Métall auch Rudolf Sieghart (vor seiner 1895 erfolgten Taufe: Rudolf Singer), der sich 1900 an der Universität Wien für Politische Ökonomie habilitiert hatte und 1904 zum Sektionschef im k. k. Ministerratspräsidium ernannt worden war. Von 1910 bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 war Sieghart Gouverneur der Boden-Credit-Anstalt, einer auf Hypothekar-Kredite spezialisierten Bank, und betrieb in dieser Position eine bewusst antimarxistische Politik.848 Kelsen mag er vielleicht 1907, als Sieghart maßgeblich an der damaligen Wahlrechtsreform849 mitwirkte, kennen‑ und schätzen gelernt haben; aber ansonsten ist es geradezu erstaunlich, dass der Bankier und der Rechtswissenschaftler freundschaftlichen Umgang miteinander pflegten. Zuletzt zählt Métall auch den Industriellen Emmanuel Grab (bis 1919: Grab von Hermannswörth) zu den Freunden Kelsens, ohne uns nähere Hinweise über Beginn, Art und Intensität dieser Freundschaft zu geben. Grab war Fabrikant von 843 NFP
Nr. 20108 v. 20. 8. 1920, 8. Kelsen (1969) 32. 845 Bayer, Österreichische Literatur (2013) 53. 846 Geb. Leipzig 9. 10. 1865, gest. Wien 4. 7. 1934; vgl. Elisabeth Lebensaft, Lippowitz Jakob, in: ÖBL, 23. Lfg. (Wien 1971) 239. 847 Kraus, Im dreißigsten Kriegsjahr (1929) 35. 848 Elisabeth Lebensaft/Christoph Mentschl/Josef Mentschl, Sieghart Rudolf, in: ÖBL, 56. Lfg. (Wien 2002) 239. 849 Siehe oben 95. 844 Métall,
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Wachstüchern, wie sie zu jener Zeit vor allem für die Verpackung von Waren für den Schiffstransport verwendet wurden. Seine Tochter Alice heiratete 1924 einen Sohn von Richard Strauss, weshalb Kelsen in Grabs Wohnung (die sich im prächtigen Palais Ephrussi gegenüber der Universität befand) »gelegentlich«, wie Métall schreibt, auch mit dem berühmten Komponisten zusammentraf.850 Es ist auffällig, dass Métall bei der Auflistung von Kelsens Freunden in den 1920er Jahren das Ehepaar Broda nicht nennt; dies muss jedoch nicht bedeuten, dass die beiden Familien getrennte Wege gegangen waren, zumal wir aus anderen, vereinzelten Quellen auch von anderen Freunden Kelsens wissen, die Métall aus welchen Gründen auch immer nicht nannte. So berichtet Bridget Stross-Laky in ihren Memoiren, dass Kelsen der »engste Freund« ihres Vaters Walter Stroß gewesen sei.851 Der Präsident der »Noe Stroß AG der vereinigten Textilfabriken Liebauthal und Weißwasser« hatte in Kelsens Wohnung sogar seine spätere Frau, Lilli Bernfeld, kennengelernt, die er im Oktober 1921 heiratete. Auch hier sind wir über die näheren Umstände ihrer Freundschaft im Unklaren, möglicherweise lernte Kelsen Stroß über Grab oder über seinen Bruder Ernst Kelsen, der ebenfalls in der Textilbranche tätig war, kennen.852 Im Falle von Lilli Bernfeld ist eine Verbindung über ihren Bruder Siegmund Bernfeld, einen Schüler Sigmund Freuds, denkbar. 1939 musste das Ehepaar Stroß mit den gemeinsamen Töchtern nach England emigrieren, wo Walter Stroß 1946 einem Herzanfall erlag.853 Und schließlich ist hier noch der Wiener Architekt Ernst A. Plischke zu nennen, der von einem Zusammentreffen mit Hans Kelsen im Winter 1927/28 berichtet. Plischke hatte damals für den Metallwarenfabrikanten Robert Lang und seine Frau Anna einen Wintergarten an deren Haus in der Cobenzlgasse angebaut.854 Nach Fertigstellung 850 Métall, Kelsen (1969) 32; Sandgruber, Millionäre (2013) 351; Gaugusch, Wer einmal war 2 (2015) 1003 f. Die Adresse Grabs (»Ring des 12. November 14«) nach Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger. 851 Stross Laky, On being Jewish (1998) 4. 852 Im März 1917, noch während des Krieges, in dem Ernst Kelsen, wie erwähnt, im Train als »Referent für Textilien« diente, gründete er mit zwei Kollegen die »Ernst Kelsen & Co. GmbH«, eine Baumwollweberei, die zuletzt, 1925, ihren Firmensitz in Wien VII., Zieglergasse, und ein Fabriksgebäude mit 100 mechanischen Webstühlen in Wien XII., Schwenkgasse, besaß, in jenem Jahr jedoch in Zahlungsschwierigkeiten geriet, weshalb das Konkursverfahren eröffnet wurde; vgl. Wiener Zeitung Nr. 50 v. 3. 3. 1917, 148; Neues 8-Uhr-Blatt Nr. 3238 v. 11. 8. 1925, 5; Amtsblatt zur Wiener Zeitung Nr. 193 v. 28. 8. 1925, 528. Zu den juristischen Komplikationen im Zusammenhang mit diesen Entwicklungen vgl. auch die Entscheidung des OGH v. 10. 11. 1925, Ob II 903/25, SZ 359/7, sowie das Erkenntnis des VwGH v. 22. 9. 1927 Z. 13 (f ), VwSlg 14.224 (F). Das Konkursverfahren wurde 1929 zu Ende gebracht und die Firma aus dem Handelsregister gelöscht; vgl. Amtsblatt zur Wiener Zeitung Nr. 174 v. 30. 7. 1929, 435 u. Nr. 193 v. 22. 8. 1929, 474. Vermutlich unmittelbar darauf ging Ernst Kelsen nach England, wo er am 8. 9. 1937 in London starb: Carole Angier, Interview v. 8. 9. 2010. Hans Kelsen stand offenbar in gutem Verhältnis zu seinem Bruder Ernst; er widmete ihm 1922 seine Schrift »Der soziologische und der juristische Staatsbegriff«. 853 http://liebauthal-textilfabrik.blogspot.de [Zugriff: 26. 0 4. 2019]. Vgl. noch unten 716. 854 Ernst Plischke, geb. Klosterneuburg 26. 6. 1903, gest. Wien 23. 5. 1992. Das Haus Robert Langs befand sich nach Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger in Wien XIX., Cobenzlgasse 54, mithin im Ortszentrum des noblen Stadtteils Grinzing.
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3. Kapitel: Akademisches
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wurde er von Anna Lang »zu einem Faschingsfest in das neu umgebaute Haus eingeladen […] Eine illustre Gesellschaft war da beisammen. Der große, breite Klastersky855, damals Privatsekretär des Bundespräsidenten, imitierte, fast gewagt, einen polnischen Juden und war auffallend gut als solcher verkleidet. Außerdem war da Professor Hans Kelsen, der Baumeister unserer Verfassung, der Anna heftig den Hof machte. Ich selbst war als kleiner Chinese verkleidet.«856 Weshalb sich Plischke an diese Begebenheit noch sechzig Jahre später erinnerte, erklärt sich daraus, dass dies seine erste längere Begegnung mit Anna Lang war, die er selbst, nachdem sie sich von ihrem ersten Mann scheiden hatte lassen, 1932 heiratete.857 Sie wurde später eine berühmte Gartenarchitektin und emigrierte nach dem »Anschluß« gemeinsam mit ihrem zweiten Mann nach Neuseeland. Von dort kehrten Anna und Ernst Plischke erst 1963 nach Wien zurück und verbrachten hier ihren Lebensabend. Insgesamt fällt auf, dass Kelsen nur wenig persönlichen Umgang mit Professoren der rechtshistorischen oder der judiziellen Fächer pflog, mehr dagegen mit Vertretern der Ökonomie und naturgemäß seines eigenen Faches.858 Trotz seines großen Interesses für Belletristik war er kaum mit einem der Schriftsteller, die im »Café Herrenhof« verkehrten, befreundet; dafür zählte er eine Reihe einflussreicher Industrieller ebenso zu seinem Bekanntenkreis wie die Häupter der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Schließlich ist auch auf die hohe Zahl von Konvertiten unter seinen Freunden hinzuweisen. Sie teilten das Schicksal Kelsens, die Religion ihrer Väter aufgegeben und dennoch keine volle Anerkennung in den Reihen der »Arier« gefunden zu haben. Dass diese Nichtanerkennung und Ausgrenzung schon wenige Jahre später in offene Anfeindung, Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung umschlagen würde, glaubten um 1925 wohl nur die Pessimisten unter ihnen.
855 Wilhelm Klastersky (bis 1919: Edler von Festenstamm), geb. Wien 6. 7. 1880, gest. ebd. 24. 1 2. 1961, stellvertretender Vorstand der Präsidentschaftskanzlei, 1934–38 und 1945–53 Kabinettsdirektor des Bundespräsidenten. Vgl. Czeike, Wien III (1994) 523. 856 Plischke, Leben (1989) 89. Für diesen Literaturhinweis bin ich meinem Bruder, Dipl. Ing. Markus Olechowski, zu Dank verpflichtet. 857 Anna Plischke, vormals Lang, geb. Schwitzer, geb. Wien 1895, gest. ebd. 1983. Vgl. zu ihr Krippner, Anna Plischke. 858 Umso auffälliger sind daher die spärlichen Äußerungen Kelsens zu Zivil‑ und Strafrechtlern, so etwa, als er 1923 dem Wiener Zivilrechtsprofessor Josef Schey zu dessen 70. Geburtstag in der Frankfurter Zeitung gratulierte: Kelsen, Schey (1923). Mit ein Grund dafür könnte gewesen sein, dass Schey zur Zeit der Habilitation Kelsens Dekan der Wiener rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät war, Kelsen ihm also viel zu verdanken hatte.
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Viertes Kapitel
Internationaler Ruhm – Anfeindungen in der Heimat 1. Die »Allgemeine Staatslehre« Noch vor dem Weltkrieg hatte der Berliner Verlag Julius Springer vorgehabt, eine dreibändige »Enzyklopädie der Rechts‑ und Staatswissenschaft« herauszugeben, ein Plan, der im Laufe der Zeit mehrfache Abänderung erfuhr, zumal das Zielpublikum vor allem Studenten sein sollten, denen aber der Kauf einer mehrhundertseitigen Enzyklopädie nicht zugemutet werden konnte. So erschienen denn ab 1922 stattdessen einzelne Bände in einer als »Enzyklopädie der Rechts‑ und Staatswissenschaft« bezeichneten Schriftenreihe, herausgegeben von den beiden Berliner Professoren Eduard Kohlrausch (Strafrecht) und Walter Kaskel (Arbeitsrecht) sowie dem Ökonomen Arthur Spiethoff aus Bonn.859 »In knappster Form« sollten die in dieser Reihe erschienenen Bände »der studierenden Jugend« den Stoff vermitteln860 – derartiges war sicherlich der Fall bei dem nur 27 Seiten umfassenden Heftchen »Österreichisches Verfassungsrecht« von Leo Wittmayer, das 1923 in dieser Reihe erschien, während das 549 Seiten umfassende Buch »Verwaltungsrecht« von Walter Jellinek der studierenden Jugend schon einiges mehr abverlangte. Auch Hans Kelsens 433 Seiten starke »Allgemeine Staatslehre«, die im Juli 1925 als Band XXIII der »Enzyklopädie der Rechts‑ und Staatswissenschaft« erschien, war sicherlich mehr als nur ein knapper Überblick über die Materie.861 Kelsen bat in seinem Vorwort für diesen Umstand sogar um Entschuldigung, rechtfertigte das große Volumen aber damit, dass er nicht einfach seine eigene Lehre darstellen könne, ohne auf abweichende Meinungen wenigstens kurz einzugehen, und hielt daran fest, dass das Buch »auch den Zwecken des Hochschulstudiums dienen soll«.862 Immerhin: Das 859 Vgl. zur Entstehungsgeschichte dieser Schriftenreihe Sarkowski, Der Springer-Verlag (1992)
304 f.
860 Aus dem Text auf der Umschlagseite 2 der broschierten Ausgabe von Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925). 861 Die Einladung an Kelsen, ein derartiges Buch abzufassen, war mit einem Brief des Verlages Springer vom 12. 7. 1922 ergangen; vgl. Jestaedt, Wiener Summe (2019) XLIII. 862 Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925) V. Wie bereits oben 314 angeführt, entsprach der Stoff und die Gliederung des Buches auch großteils seiner gleichnamigen Vorlesung. Die Auseinandersetzung mit abweichenden Meinungen erfolgte v. a. in einem Anmerkungsapparat, was die Lesbarkeit des Werkes nicht unerheblich verbesserte und Kelsens eigene Lehrmeinungen schärfer als in allen seinen Arbeiten zuvor herauskommen ließ; vgl. Jestaedt, Wiener Summe (2019) XLVII.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Buch war nur etwa halb so dick wie die »Allgemeine Staatslehre« Georg Jellineks, die es in ihrer dritten Auflage (der letzten, die noch zu Lebzeiten Jellineks erschien) auf stattliche 837 Seiten gebracht hatte. Und fast möchte man sagen, dass dies auch ganz natürlich war, zumal Kelsen doch nur die Hälfte von dem behandelte, was bei Jellinek Thema einer Allgemeinen Staatslehre gewesen war. Gliederte sich doch dessen Buch in eine »Allgemeine Soziallehre des Staates« und eine »Allgemeine Staatsrechtslehre«, während Kelsen, wie bereits ausgeführt, die dahinter steckende »Zweiseiten-Theorie des Staates«, wonach der Staat sowohl mit kausalwissenschaftlichen als auch mit juristischen Methoden erfasst werden könne, ablehnte. Kelsens Staatslehre war ausschließlich Staatsrechtslehre.863 Diesen radikalen Bruch mit der bisherigen Tradition einer Darstellung der Allgemeinen Staatslehre zu erläutern, nahm freilich schon das gesamte erste, »Staat und Gesellschaft – Staatslehre als Soziologie)« betitelte Kapitel von Kelsens »Allgemeiner Staatslehre« in Anspruch.864 Das zweite Kapitel, »Staat und Moral – Staatslehre als Politik« diente ebenfalls vor allem der Abgrenzung der Staats(rechts)lehre von nichtjuristischen Elementen. Politik war für Kelsen im gegebenen Zusammenhang eine besondere Form der Ethik, die nach der besten aller möglichen Staatsformen bzw. ob es überhaupt einen Staat geben soll, frage.865 Kelsen forderte eine strikte Trennung der Allgemeinen Staatslehre von der Politik. Aufgabe der Staatslehre könne es nur sein, zu erklären, was der Staat ist, nicht wie er sein soll.866 Und damit gelangte Kelsen zum dritten Kapitel: »Staat und Recht – Staatslehre als Staatsrechtslehre«. Hier behandelte er großteils Probleme, die er schon 1911 für seine »Hauptprobleme der Staatsrechtslehre« behandelt hatte: Objektives Recht, subjektives Recht, Rechtspflicht, Rechtssubjekt, juristische Person, der Staat als juristische Person, öffentliches und privates Recht. Lediglich das Kapitel über Staat und Gott, in dem er erneut auf die Parallelen zwischen Gott–Natur einerseits, Staat–Recht andererseits hinwies, stammte nicht aus den »Hauptproblemen«, sondern aus dem »soziologischen und juristischen Staatsbegriff« von 1922. Und dies ist z. T. auch wörtlich zu verstehen: Immer wieder übernahm Kelsen nicht nur Gedanken, sondern über weite Strecken auch Formulierungen von sich selbst, ohne dies näher kenntlich zu machen. Eine solche Kennzeichnung wäre allerdings zu seiner Zeit auch völlig unüblich gewesen; das Wort »Selbstplagiat« war noch nicht erfunden worden. Kelsen hatte die ersten drei Kapitel zu einem »Buch« zusammengefügt, welches er als »Das Wesen des Staates« bezeichnete. Die übrigen sechs Kapitel waren zu zwei 863 Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925) 6 f. In seinem Anmerkungsapparat zitierte Kelsen, a. a. O., 382, hiezu Hermann Cohen: »Die Staatslehre ist notwendigerweise Staatsrechtslehre«. Vgl. auch Schulte, Methodenstreit (2005) 253. 864 Kelsen verwendete für jedes Kapitel seines Buches zwei Überschriften, wobei i. d. R. eine die Stellung des Kapitels innerhalb von Kelsens System, die zweite die Stellung innerhalb der traditionellen Staatslehre verdeutlichen sollte. Vgl. dazu Jestaedt, Wiener Summe (2019) XXIV. 865 Daneben konnte Politik auch als besondere Technik zur Erreichung dieser Ziele verstanden werden: Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925) 27. 866 Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925) 44.
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4. Kapitel: Internationaler Ruhm – Anfeindungen in der Heimat
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weiteren »Büchern« zusammengefasst: »Die Geltung der Staatsordnung – Statik« und »Die Erzeugung der Staatsordnung – Dynamik«. Hierin offenbart sich die stärkste Veränderung, der die Reine Rechtslehre seit ihren Anfängen unterworfen war: In seinen »Hauptproblemen« hatte Kelsen das Recht noch durchwegs »statisch« betrachtet, die Beantwortung der Frage nach der Erzeugung von Rechtsnormen hatte er als unjuristisch abgelehnt. Hier waren es vor allem seine Schüler gewesen, wie vor allem Merkl, Verdroß und auch Sander, die eine wesentliche Weiterentwicklung vorgenommen hatten. Während aber Sander nur mehr auf eine dynamische Betrachtungsweise gesetzt hatte, beharrte Kelsen auf der Notwendigkeit, das Recht – auch – statisch zu sehen. Hier, in der »Statik« (Kapitel 4–6), sprach er Themen wie die Souveränität und das Verhältnis von Staat und Völkerrecht an oder auch jene Fragen, die Jellinek als die »Elemente« des Staates angesehen hatte: Staatsgebiet – Staatsvolk – Staatsgewalt. Kelsen, radikal wie stets, brach auch mit der »Elementelehre« Jellineks und erklärte, dass es sich beim »Staatsgebiet« nur um den räumlichen Geltungsbereich einer Rechtsordnung, beim »Staatsvolk« um den personalen Geltungsbereich einer Rechtsordnung handeln könne.867 Was aber Jellinek als »Staatsgewalt« bezeichnet hatte, das war für Kelsen die Geltung der staatlichen Rechtsordnung schlechthin.868 Schließlich subsumierte Kelsen unter dem Buch »Statik« auch die Fragen nach der räumlichen Gliederung des Staates, nach Staatenverbindungen, Bundesstaat und Staatenbund. Die beiden letzteren unterschieden sich nach Kelsen überhaupt nur »durch den Grad der Dezentralisation oder Zentralisation« der staatlichen Ordnung.869 Und schon hier entwickelt Kelsen erste Ideen seiner – zwei Jahre später in der Festschrift für Fritz Fleiner vollständig ausformulierten – Drei-Kreise-Theorie zur Erklärung des Verhältnisses von Bund und Ländern.870 Das dritte Buch, die »Dynamik«, und das dieses Buch einleitende 7. Kapitel über »Die Erzeugungsstufen« sind für die Entwicklung der Reinen Rechtslehre insgesamt wohl am bedeutendsten: Denn hier wurden erstmals sowohl die Lehre vom Stufenbau als auch die Lehre von der Grundnorm von Kelsen breit ausgeführt. Die Stufenbaulehre war für ihn nicht zuletzt ein Mittel zur Überwindung des Dogmas von der Gewaltenteilung aus rechtstheoretischer Sicht.871 Er übernahm hier die Gedanken von Merkl, wobei er allerdings – sowohl in der »Allgemeinen Staatslehre« als auch in späteren Schriften – stets nur den Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit, nicht auch den Stufenbau nach der derogatorischen Kraft nannte.872 Die verschiedenen »Staatsfunktionen« – nach Kelsen »Rechtserzeugungsfunktionen« – würden nicht, wie von 867 Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1913) 394 ff., 406 ff.; Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925) 137 ff., 149 ff. 868 Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925) 97. 869 Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925) 194. 870 Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925) 199; vgl. Wiederin, Bundesstaat (2005) 231. 871 Siehe schon oben 298 die Kritik Kelsens am Dogma der Gewaltenteilung aus demokratietheoretischer Sicht. 872 Zu diesem Mayer, Theorie (1992) 41–44; vgl. Walter, Entwicklung (1992) 12.
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der traditionellen Lehre behauptet, nebeneinander, sondern über‑ und untereinander stehen, woraus sich ein Stufenbau ergebe. »Dieser Stufenbau mündet in der die Einheit der Rechtsordnung in ihrer Selbstbewegung begründenden Grundnorm.« Von ihr herab steigen die Verfassung, die Gesetze, die Verordnungen und die individuellen Rechtsakte, wobei jeweils die höhere Stufe die Regeln zur Erlassung von Recht der nächtsniedrigeren Stufe enthalte. »Was gegenüber der höheren Stufe Tatbestand ist, erscheint gegenüber der niederen als Norm.«873 Lediglich die Grundnorm selbst war nicht mehr Tatbestand einer höherrangigen Norm, sie wurde nicht gesetzt, sondern vorausgesetzt.874 Kelsen bezeichnete sie nunmehr als eine »Hypothese«, eine »hypothetische Norm«, die keinen anderen Inhalt habe, als dass sie der obersten positiven Norm Positivität verleihe und damit die Einheit des jeweiligen Normensystems herstelle.875 Kelsen stellte sich insbesondere mit seiner Lehre von der Grundnorm auf das theoretische Gerüst Immanuel Kants, auf den er sich im Vorwort – nicht jedoch in seinem Anmerkungsapparat – berief: »Dualismus von Sein und Sollen, Ersetzung metaphysischer Postulate und Hypostasen durch transzendentale Kategorien« – all dies und noch einiges mehr, habe er Kants Vernunftkritik entnommen. Daher habe er auch an die Stelle einer »metaphysischen Staatsidee einen transzendentalen Staatsbegriff« gesetzt und den Gegensatz zwischen einem möglichen und dem realen Staat scharf dargestellt.876 Der zuletzt genannte Umstand wurde bei den letzten beiden Kapiteln des Buches (Kapitel 8 und 9) besonders deutlich; sie behandelten »Die Erzeugungsorgane – Die Lehre von den Staatsorganen« sowie »Die Erzeugungsmethoden – Die Lehre von den Staatsformen«. Hier brach Kelsen mit der – letztlich bis auf Aristoteles zurückgehenden – Lehre von den drei Staatsformen Monarchie – Aristokratie – Demokratie, indem er dieser Trias zwei Begriffspaare gegenüberstellte: »Autokratie und Demokratie« einerseits, »Monarchie und Republik« andererseits. Beim ersten Begriffspaar ging es um die Frage, ob der Inhalt einer Rechtsordnung von den Normunterworfenen selbst gestaltet werde oder nicht. Beim zweiten Begriffspaar ging es lediglich darum, wie das oberste Staatsorgan beschaffen sein solle (wobei Kelsen diese Frage letztlich unbeantwortet ließ und stattdessen, angesichts der Vielfalt der in der Realität vorkommenden »Monarchie« sämtliche Versuche, sie von einer Republik abzugrenzen, als wertlos einstufte877). 873 Kelsen,
Allgemeine Staatslehre (1925) 249 f. Allgemeine Staatslehre (1925) 104, 249 schreibt »nicht gesatzt«, was m. E. zwar eine logische Folge dessen ist, dass sie nicht gesetzt sei, jedoch den Unterschied zu »vorausgesetzt« nicht völlig verdeutlicht. 875 Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925) 104. Vgl. Walter, Grundnorm (1992) 54. 876 Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925) VII–VIII. 877 Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925) 334. Das Wort »Autokratie« war zu jener Zeit im deutschsprachigen Diskurs ungewöhnlich, möglicherweise hatte es Kelsen von sozialistischen/ russischen Autoren übernommen, zumal der offizielle Titel des russischen Zaren bis 1917 »Kaiser und Autokrat [Imperator i Samoderschets]« lautete. 874 Kelsen,
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Kelsens Staatslehre war nicht bloß eine Zusammenfassung dessen, was er schon in seinen Monographien über die »Souveränität« und den »Staatsbegriff« gesagt hatte. Dort hatte er lediglich einen »formalen Staatsbegriff« entwickelt, hier jedoch auch einen »materiellen Staatsbegriff«, der freilich den ersten zur Voraussetzung hatte.878 Er versuchte damit, dem vielfach gegen die Reine Rechtslehre erhobenen Vorwurf zu entgehen, sie könne nur Kritik üben, aber nicht »Grundlage für ein positives System« sein. Dieses aber stellte Kelsen hier »das erstemal in geschlossener Form« dar.879 Gegenüber den beiden vorhin genannten Monographien – und auch gegenüber seinen 1911 publizierten »Hauptproblemen« – zeichnete sich die »Allgemeine Staatslehre« aus 1925 aber auch durch eine relativ große Übersichtlichkeit und Prägnanz der eigenen Aussagen Kelsens aus (nur an einigen wenigen Stellen hatte er sich der Polemik nicht enthalten können). Auch insofern diente das Werk nicht zuletzt einer weitgehenden Popularisierung seiner Lehre. Dies wird auch darin sichtbar, dass Kelsen, wohl angeregt durch verschiedene Bitten aus dem Ausland, schon wenig später eine Kurzfassung seines Buches erstellte, die er »Grundriß einer allgemeinen Theorie des Staates« nannte und die als solche niemals erschien, sondern nur als Grundlage für Übersetzungen seines Werkes in andere Sprachen gedacht war.880 Bereits 1926 erschien die von seinem Freund František Weyr erstellte Übersetzung ins Tschechische sowie die von Charles Eisenmann besorgte Übersetzung ins Französische. 1927 folgten die Übersetzungen durch Gyula Móor ins Ungarische881 sowie durch Tomio Nakano ins Japanische, 1928 durch Luis Recaséns Siches und Justino de Azcárate Florez ins Spanische sowie durch Jean H. Vermeulen ins Rumänische. In den folgenden Jahren erschienen auch noch eine griechische, eine italienische, eine chinesische und eine portugiesische Version von Kelsens »Grundriß«. Merkwürdigerweise kam bis zum heutigen Tag niemals eine englische Übersetzung zustande, obwohl Kelsen 1927 erklärte, dass auch dies (ebenso wie eine polnische Version) ursprünglich geplant war.882 Die weltweite Verbreitung der Reinen Rechtslehre, aber auch ihre ungenügende Rezeption in der englischsprachigen Welt begannen sich abzuzeichnen.
878 Kelsen,
Staatsbegriff (1928) V. Allgemeine Staatslehre (1925) IX. 880 Während die »Allgemeine Staatslehre« einen Umfang von 1,7 Millionen Zeichen aufwies, war der »Grundriß« lediglich 197.000 Zeichen stark, vgl. Jestaedt, Wiener Summe (2019) XLVI. Die Übersetzungen sind bei Walter /Jabloner /Zeleny, Hans Kelsens stete Aktualität (2003) 141–142 und Jestaedt, a. a. O., LXIV–LXV, aufgelistet. 881 Moór verfasste zu seiner Übersetzung auch eine Einleitung, für die er Kelsen um »autobiographische Notizen« bat; Kelsen kam dieser Bitte in Form eines achtseitigen Typoskripts nach, es handelt sich um die oben, Seite 2, schon beschriebene »Selbstdarstellung«: Kelsen, Selbstdarstellung (1927) = HKW I, 19–27; vgl. a. a. O. 586–589 die editorischen Bemerkungen von Jestaedt samt Hinweisen auf weitere Veröffentlichungen. 882 Kelsen, Selbstdarstellung (1927) = HKW I, 26. 879 Kelsen,
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2. Die Wiener Rechtstheoretische Schule 1925–1930 a) Internationale Schüler Mit der »Allgemeinen Staatslehre« war die »Formationsphase« der Wiener Rechtstheoretischen Schule zu ihrem Abschluss gekommen; erstmals lag ein vollständig elaboriertes Theorem für die gesamte Staatslehre vor.883 Und es ist wohl kein Zufall, dass etwa zur selben Zeit der »Kreis um Kelsen«, der an den Sonntagnachmittagen in dessen Wohnung zusammenkam, sich zu verändern begann. Jene Personen, die diesen Kreis in seinen Anfangsjahren geprägt hatten – Merkl, Verdroß usw. – hatten sich habilitiert und frequentierten die Diskussionsabende in der Wickenburggase nicht mehr oder nur noch selten. Eine Reihe neuer Schüler kam insbesondere aus dem Ausland zu Kelsen, teils auf ausdrücklichen Wunsch ihrer akademischen Lehrer in den Heimatländern, um Kelsen zu hören und mit ihm zu diskutieren. Abgesehen von Kunz und Vögelin habilitierte sich keiner von Kelsens Schülern mehr an der Universität Wien;884 dafür waren es diese neuen, internationalen Schüler, die wesentlich dazu beitrugen, dass die Reine Rechtslehre weltweit immer bekannter wurde. Dies gilt insbesondere für den 1903 in Dijon geborenen Charles Eisenmann, der, wie vorhin erwähnt, den »Grundriß einer allgemeinen Theorie des Staates« sowie auch einige andere Arbeiten Kelsens ins Französische übersetzte.885 Kelsen, den er über Josef Redlich kennengelernt hatte, betreute Eisenmanns Dissertation über »La justice constitutionelle et la Haute-Cour constitutionelle d’Autriche [Die Verfassungsgerichtsbarkeit und der österreichische Verfassungsgerichtshof ]«, die 1928 in Paris approbiert wurde.886 Die Arbeit kann als typisches Produkt der Wiener Rechtstheoretischen Schule angesehen werden; Eisenmann vertrat in ihr die Ansicht, dass die Verfassung erst dann als Rechtsnorm angesehen werden könne, wenn es Mechanismen gebe, die ihre Einhaltung auch gegenüber dem Gesetzgeber erzwingen, und er bejahte die Ansicht, dass eine derartige Verfassungskontrolle durch ein Gericht erfolgen könne. In Frankreich betrat er damit Neuland und konnte sich mit seinen Ansichten lange nicht durchsetzen; erst 2008 wurde hier eine Verfassungsgerichtsbarkeit nach österreichischem Vorbild eingeführt.887 Auch einer der beiden spanischen Übersetzer des »Grundrisses«, Luis Recaséns Siches, war wenigstens ein Jahr lang auch Teilnehmer von Kelsens Privatseminar. Geboren 1903 in Guatemala, hatte er in Barcelona die Rechtswissenschaften studiert, aber auch Studienaufenthalte in Madrid, Rom, Berlin und Wien absolviert, bevor er 1928 eine Anstellung an der Universität von Santiago de Compostela erhielt.888 Im 883 Jestaedt,
Wiener Summe (2019) XXXI. noch unten 394 zu Vögelin, 400 zu Kunz sowie 656 zum gescheiterten Habilitationsversuch von Ernst Karl Winter. 885 Pfersmann, Eisenmann (2008) 80; Pina, France (2010) 245. 886 Pfersmann, Eisenmann (2008) 77. 887 Pfersmann, Eisenmann (2008) 82 f. 888 Nogueira Dias, Recaséns Siches (2008) 366. 884 Siehe
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Gefolge des spanischen Bürgerkrieges verlor er seine Bürgerrechte und emigrierte 1936 nach Mexiko – wo es erst 1960 zu einem Wiedersehen mit Hans Kelsen kam.889 Alf Ross, geboren 1899 in Kopenhagen,890 hatte bereits 1922 in seiner Geburtsstadt das Studium der Rechtswissenschaften abgeschlossen, bevor er sich dem »Kreis um Kelsen« anschloss. 1929 veröffentlichte er in den von Kelsen mitherausgegebenen »Wiener Staats‑ und Rechtswissenschaftlichen Studien« seine Monographie über »Theorie der Rechtsquellen«. Er bezeichnete sie selbst »als die Frucht einer Studienreise […], die ich in den Jahren 1923–1926 […] durch Frankreich, Österreich und England unternommen habe. Von entscheidender Bedeutung wurde für mich der Eindruck, den ich während meines Aufenthaltes in Wien von Herrn Professor Hans Kelsens fesselnder Forscherpersönlichkeit erhielt.«891 Dies bedeutete nicht, dass Ross Kelsens Lehren vorbehaltlos folgte. Vielmehr enthielt die Monographie eine umfassende Kritik der Grundnorm, namentlich der Aussage, dass sich die Grundnorm nur auf eine im großen und ganzen wirksame Rechtsordnung beziehen dürfe.892 Nach seiner Rückehr nach Kopenhagen reichte er die »Theorie der Rechtsquellen« als Dissertation ein, wurde aber von der juristischen Fakultät zurückgewiesen, weshalb er ins schwedische Uppsala auswich, wo die Arbeit an der philosophischen Fakultät approbiert wurde. Trotz dieses Rückschlages wurde Ross 1938 Professor für Völkerrecht in Kopenhagen und war 1959–1972 auch Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Etwa zur selben Zeit wie Ross, um 1923, kam der 1903 geborene Leo Gross aus Krossen in Galizien [Krosno/PL] nach Wien, um hier die Rechtswissenschaften zu studieren; gleich nach seiner Promotion zum JDr. 1926 verfasste er eine staatswissenschaftliche Dissertation, die von Kelsen und Menzel mit »sehr gut« beurteilt und 1931 im Rahmen der »Wiener Staats‑ und Rechtswissenschaftlichen Studien« veröffentlicht wurde.893 In dieser Arbeit, betitelt »Pazifismus und Imperialismus«, versuchte er insbesondere, den Pazifismus mit Hilfe der Reinen Rechtslehre zu untermauern – womit er allerdings einen Methodensynkretismus beging und sich in Wirklichkeit Verdroß’ Naturrechtslehre anschloss.894 Zu nennen ist an dieser Stelle auch der 1898 in Wunstorf bei Hannover geborene Julius Kraft, der 1922 in Göttingen zum Dr. iur., 1925 auch zum Dr. phil. promoviert worden war und zwischen 1924 und 1926 den Kelsen-Kreis frequentierte, bevor er eine Anstellung an der Universität Frankfurt a. M. erhielt.895 Der Reinen Rechtslehre stand Kraft skeptisch gegenüber, in einer Rezension von Kelsens »Allgemeiner Staatslehre« 889 Unten
873. Kopenhagen [København/DK] 10. 6. 1899, gest. Virum/DK 17. 8. 1979; vgl. Bjarup, Alf Ross (2008) 409–411. 891 Ross, Theorie (1929) VII. 892 Ross, Theorie (1929) 261. 893 Kammerhofer, Gross (2008) 115 f. Vgl. zu dieser Arbeit noch unten 458. Die Verbindung zu Kelsen wurde später noch auf persönlich-familiärer Ebene intensiviert, vgl. dazu unten 557. 894 Kammerhofer, Gross (2008) 119, 124. 895 Donhauser, Kraft (2008) 217; Stolleis, Kraft-Fuchs (2008) 229 f. 890 Geb.
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meinte er sogar, dass es eine »Theorie des positiven Rechtes« ebenso wenig geben könne wie eine »Theorie der positiven Planetenbewegung«. Später sollte sich dies bis zur These steigern, dass die Jurisprudenz aufgrund des in ihr wohnenden »Autoritätsprinzipes«, gleich der Theologie, niemals eine Wissenschaft werden könne.896 Bei den Kelsen’schen Privatseminaren lernte Julius Kraft aber auch seine spätere Frau, Margit Fuchs, kennen. Diese war 1902 in Gyulafehérvar in Ungarn [Alba Julia/RO] geboren und aufgrund des antisemitischen ungarischen Studienrechts 1921 nach Wien gegangen.897 Hier studierte sie Staatswissenschaften und verfasste eine Dissertation über »Anarchismus, Etatismus und Gesellschaft«, die 1925 von Kelsen und Menzel approbiert wurde. Kelsen bezeichnete die vom Marburger Neukantianismus beeinflusste Arbeit in seinem Gutachten als »eine der allerbesten Dissertationen, die mir untergekommen sind.«898 Zur Hochzeit mit Julius Kraft kam es erst 1929.899 Kraft versuchte übrigens auch, den jungen Karl Popper in den Kreis um Kelsen einzuführen, doch konnte sich dieser nicht für die Reine Rechtslehre erwärmen. Umgekehrt dürfte Kelsen Popper für förderungswürdig gehalten haben, denn als dieser erstmals nach England reiste, gab ihm Kelsen ein Empfehlungsschreiben für Friedrich Hayek mit.900 Zu Kelsens Schülern zählte ferner der 1902 in Wien geborene Hans Aufricht, der im Dezember 1926 mit einer staatswissenschaftlichen Dissertation über »Fichtes Wirtschafts‑ und Staatslehre« promoviert hatte, die von Othmar Spann und Hans Kelsen begutachtet worden war. Über seine wissenschaftliche und/oder berufliche Tätigkeit in der Zeit bis 1930 ist allerdings nichts bekannt; erst nach Kelsens Weggang aus Wien begann er ein juristisches Studium (welches er 1937 abschloss), eine Vortragstätigkeit an der Wiener Volkshochschule,901 sowie – last but not least – mit der Veröffentlichung von Beiträgen zur Reinen Rechtslehre. Bemerkenswert ist dabei sicherlich seine – von Kelsens Lehre abweichende – Einschätzung, dass nicht Kant, sondern Fichte »die axiomatische Grundlage der ›reinen dynamischen Rechtslehre‹ ist«.902 Aus Estland kam im September 1925 Artur-Tõeleid Kliimann (1899–1941) nach Wien. Er hatte kurz zuvor sein rechtswissenschaftliches Studium an der Universität Tartu abgeschlossen und gehörte nun für rund zwei Jahre dem Kreis um Kelsen an. 1932 veröffentlichte er, wieder zurück in Estland, eine Monographie über die »Theorie des administrativen Aktes« und bekannte sich in ihr ausdrücklich zu den Lehren Kelsens und Merkls. Kliimann wurde später ein sehr einflussreicher Professor und
896 Donhauser,
Kraft (2008) 219, 222. Kraft-Fuchs (2008) 227. Vielleicht war Margit Fuchs jene ungarische Studentin, von der Silving, Memoirs (1988) 91, mit kaum verhohlener Eifersucht schreibt. 898 Kelsen, Gutachten vom 20. 2 . 1925, zit. n. Stolleis, Kraft-Fuchs (2008) 229. 899 Stolleis, Kraft-Fuchs (2008) 229. 900 Stadler, Der Wiener Kreis (2015) 281 f. 901 Schramm, Aufricht (2008) 25. 902 Zit. n. Schramm, Aufricht (2008) 27. 897 Stolleis,
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Prorektor der Universität Tartu, sodass die Reine Rechtslehre in dem kleinen baltischen Land außerordentlich weite Verbreitung fand.903 Aus Riga in Lettland stammte der 1904 geborene Benjamin Akzin, der 1926 mit einer Dissertation zum »Grundgedanken einer Theorie der Minderheit« zum Dr. rer. pol. promoviert wurde.904 Er setzte seine Studien in Paris und Harvard fort, wanderte 1949 nach Israel aus und wurde dort einer der Gründer der Hebräischen Universität Jerusalem, wo er sich auch darum bemühte, Kelsen als Gastprofessor für die junge Universität zu gewinnen. Auch wenn diese Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt waren, war der Einfluss der Reinen Rechtslehre in Israel beträchtlich, woran auch Itzhak Klinghoffer, ein weiterer, nach Israel ausgewanderter Schüler Kelsen, seinen Anteil hatte.905 Kelsens Ruf reichte mittlerweile aber noch viel weiter nach Osten, bis ins Land der aufgehenden Sonne. Im Sommersemester 1926 besuchte Shiro Kiyoumiya (1898– 1989), ein Jahr später Kisaburo Yokota (1896–1993) und wieder ein Jahr später Saturo Kuroda (1900–1990) Wien, um hier die Reine Rechtslehre und ihren Schöpfer kennenzulernen.906 Ab 1927 zählte Georg Fleischer zu Kelsens Kreis; er selbst bezeichnete sich später sogar als Kelsens »Assistent« von 1927 bis 1929, was jedoch nicht in einem dienstrechtlichen Sinne verstanden werden darf,907 eher ist davon auszugehen, dass er unentgeltlich assistierende Tätigkeiten für Kelsen übernahm. Der 1904 in Wien geborene und 1927 daselbst zum JDr. promovierte Fleischer stammte aus einem wohlhabenden, jüdischen Haus, das es ihm erlaubte, auf eine berufliche Tätigkeit zu verzichten. Sein wissenschaftliches Hauptinteresse galt zunächst dem Wahlrecht. 1923 hatte der Nationalrat eine neue Nationalratswahlordnung beschlossen worden, die das Prinzip der – 1919/20 ohnehin nur unvollkommen verwirklichten – Proporzwahl noch weiter einschränkte, was von Kelsen scharf kritisiert worden war.908 Auch in der Folge hatte Kelsen seine Gedanken, wie man den Verhältnisgrundsatz am besten mit einem Persönlichkeitswahlrecht kombinieren könnte, immer wieder bei Diskussionsreden909 und in Zeitungsartikeln910 dargelegt. Nunmehr erhielt er tatkräftige Unterstützung durch Fleischer. Gemeinsam gründeten sie den Verein »Wahlreform«, in den sie Vortragende einluden und wo sie auch selbst Vorträge hielten. In einem 1928 903
Järvelaid, Estland (2010).
904 https://en.law.huji.ac.il/people/benjamin-akzin
(Zugriff: 1. 9. 2019). Die Dissertation ist im UA Wien erhalten. 905 Klein, Klinghoffer (2008); Englard, Israel (2010); vgl. noch unten 804, 810. 906 Nagao, Japan (2010) 205. 907 Jabloner, Fleischer (2008) 99. 908 Vgl. Kelsen, Proporz (1923) und dazu Strejcek, Wahlrecht (2009) 50. 909 So insbesondere bei einer am 12. 5. 1926 abgehaltenen Sitzng des Wahlreform-Ausschusses des niederösterreichischen Landtags: Kelsen, Diskussionsrede (1926). 910 Kelsen, Die proportionale Einerwahl (1926); Kelsen, Die Unzufriedenheit (1926). Er verbreitete seine Vorstellungen auch in der čs Presse: Kelsen, Das ideale Wahlrecht (1929), vgl. dazu schon Olechowski/Busch, Kelsen als Professor an der Deutschen Universität Prag (2010) 1113. Zu seinem Engagement in reichsdeutschen Zeitungen vgl. noch unten 504.
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gehaltenen Vortrag teilte Fleischer die Standpunkte Kelsens zu einem »idealen Wahlrecht« und äußerte die Notwendigkeit, auch Persönlichkeiten wählen zu können, die nicht in Parteien eingebunden seien.911 Der einzige Kelsen-Schüler, der sich darum bemühte, auch das Zivilrecht der Reinen Rechtslehre zu erschließen, war der 1904 geborene Otto Bondy, der ab 1923 zum Kreis um Kelsen gehörte und noch vor seiner Promotion 1927 einen ersten Aufsatz, betitelt »Der Besitzrechtssatz«, veröffentlichte, in dem er Kelsens Lehre vom Rechtssatz für das Privatrecht nutzbar machen wollte.912 Zuletzt ist hier noch Erich Vögelin zu nennen, der, wie bereits erwähnt,913 1922 eine staatswissenschaftliche Dissertation bei Kelsen verfasst hatte; er ging später – wie viele andere ehemalige Mitglieder des »Kreises um Hans Kelsen« – seine eigenen Wege, blieb aber Kelsen freundschaftlich verbunden und nannte sich selbst ihm gegenüber 1954 – aufgrund ihrer unterschiedlichen wissenschaftlichen Positionen, auf die noch zurückzukommen sein wird – halb im Scherz, halb im Ernst, als einen »missratenen Schüler«.914 1924 war Vögelin einer der allerersten, die ein Stipendium der »Laura Spelman Rockefeller Memorial Foundation« erhielten, und ging für drei Jahre nach New York, Harvard, Wisconsin und Paris. Zurück in Wien, verfasste er 1928 das Buch »Über die Form des Amerikanischen Geistes« und habilitierte sich damit für Staatswissenschaften, wirkte aber zugleich als Assistent Hans Kelsens bis zu dessen Weggang aus Wien 1930, danach als Assistent Merkls.915 Mit Vögelin kommt der Kreis um Kelsen zum ersten Mal mit dem philanthropischen Werk von John D. Rockefeller Jr. in Berührung. Denn dieser hatte maßgeblich dazu beigetragen, dass sein milliardenschwerer Vater, der Gründer von Standard Oil, 1913 die »Rockefeller Foundation«, 1918 die eben erwähnte, nach der Mutter von Rockefeller Jr. benannte »Laura Spelman Rockefeller Memorial Foundation« ins Leben gerufen hatte.916 Angesichts der nach wie vor desaströsen wirtschaftlichen Lage Österreichs waren Stipendien wie das eben genannte der praktisch einzige Weg, längere Auslandsaufenthalte finanzieren zu können, und in den folgenden Jahren gingen noch mehrere Kelsen-Schüler diesen Weg, wie namentlich Leo Gross (USA und England 1929–1931) und Josef L. Kunz (USA 1932–1934) sowie der – weiter unten noch näher zu behandelnde – Erich Hula (USA, England, Frankreich 1927–1930).917 Und nach 911 Jabloner, 912 Zavadil, 913 Oben
Fleischer (2008) 105. Bondy (2008).
315. Voegelin, Brief an Hans Kelsen v. 10. 2 . 1954, HKI Nachlass Kelsen 21ac.70, in Kopie auch in: Stanford University, Hoover Institution Archives, Eric Voegelin Papers, Box 20. Vgl. auch das Antwortschreiben Kelsens v. 27. 2 . 1954, a. a. O., in welchem Kelsen die Selbstbezeichnung Voegelins abstreitet und ihn »ganz im Gegenteil, [als] einen hoechst wohlgeratenen« Schüler bezeichnet, auch wenn sich Voegelin »niemals, auch als [s]ein Assistent nicht, – zu den positivistischen Grundsaetzen der reinen Rechtslehre« bekannt habe. 915 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 601. 916 http://rockefeller100.org/exhibits/show/social_sciences/laura-spelman-rockefeller-memo [Zugriff: 12. 05. 2015]. 917 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 118–120. 914 Eric
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Kelsens Abgang aus Wien sollte die Rockefeller Foundation auch für den Begründer der Reinen Rechtslehre persönlich immer wichtiger, ja eine Zeit lang die einzige Stütze für seine materielle Existenz werden. b) Internationale Zeitschriften In der Zwischenzeit hatten sich in der »Zeitschrift für Öffentliches Recht«, dem wichtigsten Medium der Wiener Schule, bedeutsame Veränderungen ergeben. Nachdem in den akademischen Jahren 1919/20, 1920/21 und 1921/22 jeweils ein Band der ZÖR erschienen war, folgte aufgrund finanzieller Schwierigkeiten infolge der Inflation918 eine mehrjährige Pause, bevor 1925 der IV. Band erscheinen konnte (die Erscheinungsweise nach Kalenderjahren wurde fortan beibehalten). Hauptherausgeber war weiterhin Kelsen, doch wurde nunmehr Alfred Verdroß als »Schriftleiter« genannt, und mit ihm erhielt die Unternehmung wieder frischen Schwung. Mit dem V. Band (1926) erfolgte ein Wechsel vom Verlag Franz Deuticke zum deutschen Springer-Verlag, der erst kurz vorher eine Dependance in Wien eröffnet hatte.919 Zum Kreis der Herausgeber – neben Kelsen waren dies bisher, wie berichtet, Hussarek, Layer und Menzel gewesen – traten nun auch Gerhard Anschütz (Heidelberg), Karl Rothenbücher (München) und Richard Thoma (Heidelberg); 1928 wurden Adolf J. Merkl und Alfred Verdroß in das Herausgebergremium aufgenommen.920 Auch der Kreis der Autoren weitete sich und übertraf nunmehr deutlich den des »Kelsen-Kreises«. Dies wurde – wohl auf Initiative von Verdroß – noch dadurch gefördert, dass sich eine eigene Rubrik »Aus der Staatenpraxis« explizit mit dem Staatsrecht anderer Staaten befasste. Im 1926 erschienenen fünften Band, der diese Rubrik erstmals brachte, findet sich an dieser Stelle u. a. eine kritische Besprechung der chilenischen Verfassung von 1925 durch Hans Kelsen. Er warnte darin vor den großen Vollmachten, die der chilenische Staatspräsident mit dieser Verfassung erhalten hatte, sodass die Präsidentschaftsrepublik schon fast Züge einer Diktatur annehme.921 Weshalb sich Kelsen ausgerechnet mit dieser Verfassung beschäftigte, ist unbekannt; die nachfolgenden Hefte der ZÖR bringen keinen vergleichbaren Aufsatz Kelsens. Redaktionssekretär der ZÖR war ab 1928 Rudolf Aladár Métall. Der 1903 in Wien geborene Sohn eines Arztes verdankte seinen ungarischen Mittelnamen seinem Taufpaten Dr. Aladár Bekes und trug ihn erst, seitdem er 1909 gemeinsam mit seinen Eltern vom Judentum zum Protestantismus konvertiert war. Noch während seines 918 Spörg,
Die Zeitschrift für Öffentliches Recht (2009) 153. Der Springer-Verlag (1992) 249 f. Vgl. Verdross, Selbstdarstellung (1952) 204, der dabei auch erwähnt, dass bei diesem Wechsel »Kelsen seine früheren Eigentumsrechte« an den Springer-Verlag abtrat; offenbar lagen die Werknutzungsrechte an allen ZÖR-Artikeln bis dahin bei Kelsen persönlich! In diese Richtung auch Josef L. Kunz, Brief an Hans Kelsen v. 1. 3. 1948, HKI, Nachlass Kelsen 16b1.59. 920 Spörg, Die Zeitschrift für Öffentliches Recht (2009) 153; Spörg, Autoren und Herausgeber (2014) 577–581. 921 Kelsen, Bemerkungen zur Chilenischen Verfassung (1926). 919 Sarkowski,
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Studiums, 1924, hatte er als Sekretär der Wiener Tagung des Institut de Droit International fungiert; nach seiner Promotion zum JDr. 1925 ging er in die Privatwirtschaft. Wissenschaftlich publizierte er nur wenig, wurde aber zu einem der treuesten persönlichen Freunde Kelsens.922 Hans Kelsen hätte eigentlich zufrieden mit der Entwicklung, die die ZÖR eingeschlagen hatte, sein müssen, und dennoch wirkt es, als hätte er allmählich das Interesse an »seiner« Zeitschrift verloren, die nun nicht mehr in dem Maße wie bisher das Sprachrohr der Reinen Rechtslehre war, sondern sich zu einer zwar international anerkannten, jedoch verwechselbar gewordenen rechtswissenschaftlichen Zeitschrift entwickelt hatte. 1929, nachdem Kelsen jedes Jahr zumindest einen großen Aufsatz für die ZÖR verfasst hatte, erschien mit Band VIII erstmals ein Band ganz ohne Beteiligung Kelsens, und ebenso verhielt es sich mit den Bänden IX (1930) und X (1931). Erst drei Jahre später meldete sich Kelsen wieder (mit einer kurzen Rezension zu einem Buch von Josef Kunz923) in »seiner« Zeitschrift zu Wort. Zu diesem Zeitpunkt war Verdroß auch schon in den Kreis der Mitherausgeber aufgerückt. Kelsen war zwar weiterhin Hauptherausgeber der Zeitschrift, aber Verdroß dürfte ihm intern den Rang abgelaufen haben, wie auch die nachfolgenden Entwicklungen zeigen sollten. Die »Entfremdung« Kelsens von der ZÖR war vielleicht auch dadurch erfolgt, dass er 1926 an der Neugründung einer anderen Zeitschrift, der »Internationale[n] Zeitschrift für Theorie des Rechts/Revue internationale de la théorie du droit« (IZTHR), beteiligt war.924 Mitherausgeber neben Kelsen waren zunächst František Weyr und der Franzose Léon Duguit,925 nach dem Tod Duguits 1928 trat dessen Landsmann Gaston Jéze an seine Stelle.926 Die Redaktion übernahm der Brünner Professor Jaromír Sedláček927, einer der wenigen Zivilrechtler, die der Reinen Rechtslehre nahe standen, 922 Staudacher, Jüdisch-protestantische Konvertiten II (2004) 485; Bersier Ladavac, Métall (2008) 315. 923 Kelsen, Kunz (1931). 924 Dazu und zum Folgenden Ziemann, Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts (2007). 925 Geb. Libourne/F 4. 2 . 1859, gest. ebd. 18. 1 2. 1928; ab 1882 Professor in Caen, ab 1887 in Bordeaux. In seinen 1901/03 verfassten Etudes de droit public entwickelte er eine radikal positivistische, anti-metaphysische Rechtslehre, die damit gewisse Parallelen zur Reinen Rechtslehre aufwies, auch wenn Kelsen Duguits Ansicht, dass das Recht von einer »solidarité sociale« erzeugt werde, kritisch gegenüberstand. Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) 233; Pina, France (2010) 247. 926 Geb. Toulouse/F 2. 3. 1869, gest. Deauville/F 5. 8. 1953; ab 1901 Professor in Lille, ab 1906 in Paris, ab 1927 Präsident des Institut International de Droit Public. Rechtsberater u. a. des äthiopischen Negus Haile Selassie, sprach sich gegen die Verfolgung von Minderheiten durch das sog. Vichy-Regime aus. 927 Geb. Austerlitz [Slavkov u Brna/CZ] 2. 9. 1885, gest. Brünn [Brno/CZ] 12. 4. 1945 bei einem alliierten Luftangriff. Nach Studium der Rechtswissenschaften in Wien, Prag und Berlin wurde er 1909 in Prag promoviert und arbeitete zunächst als Advokat sowie in einer Bank. 1917 erfolgte seine Habilitation für Zivil‑ und Handelsrecht, 1921 wurde er ao. Professor, 1924 o. Professor an der juristischen Fakultät der Universität Brünn, deren Dekan er 1927/28 und 1934/35 war. Gemeinsam mit František Rouček gab Sedláček 1935–1937 einen sechsbändigen Kommentar zum ABGB in tschechischer Sprache heraus und war auch Mitglied einer Kommission für ein neues tschechoslowakisches Zivilgesetzbuch. 1933 war er Gründungsmitglied des Institut International de Philosophie du Droit
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und in Brünn war auch der Verlag Rohrer beheimatet, der die IZTHR herausgab; doch wurde nicht auf tschechisch, sondern ausschließlich auf deutsch und französisch publiziert, wobei sich die Zahl der deutsch‑ und der französischsprachigen Beiträge ungefähr die Waage hielt, Weyr z. B. publizierte abwechselnd in einer der beiden Sprachen. Kelsen verfasste – abgesehen vom Geleitwort und einem längeren Diskussionsbeitrag928 – drei Aufsätze in deutscher und einen in französischer Sprache für die IZTHR, die meisten davon erst nach 1934.929 Welche Motive für Kelsen letztlich entscheidend waren, neben der ZÖR eine zweite Zeitschrift herauszugeben – nach Ansicht Horáks war die Initiative zur Gründung der IZTHR von Sedláček ausgegangen930 –, ist unbekannt. Zwei wesentliche Punkte unterschieden die IZTHR von der ZÖR: die Mehrsprachigkeit, die eine Autorenschaft auch außerhalb des deutschen Sprachgebietes anziehen sollte, und die Konzentration auf Rechtstheorie – Rechtstheorie, nicht Rechtsphilosophie, wie schon im Vorwort zum ersten Band betont wurde, denn es sollte »jenes Problem, dessen spekulative Lösung man für gewöhnlich in erster Linie unter der Bezeichnung der ›Rechtsphilosophie‹ zu verstehen pflegt: das Problem der Gerechtigkeit, des richtigen, gerechten, des natürlichen oder absoluten Rechts, in den Kreis jener Erörterungen nicht einbezogen werden«.931 Somit war klar, dass diese Zeitschrift ganz der Wiener und der Brünner rechtstheoretischen Schule sowie den ihr nahestehenden Wissenschaftlern als Forum dienen sollte. Und tatsächlich finden wir unter den Autoren schon bald eine Reihe von Kelsen-Schülern, wie etwa Pitamic, Sander (!), Kunz, Kraft und andere. Auch Verdroß publizierte in der Folge für die IZTHR. Nichtsdestoweniger musste das Erscheinen der neuen Zeitschrift in Brünn von ihm und von den übrigen Herausgebern der ZÖR als eine gewisse Konkurrenz zu ihrer Zeitschrift angesehen werden.
3. Antisemitische Feinde an der Fakultät a) Das Umfeld Die Jahre zwischen der Überwindung der Hyperinflation 1924 und dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 werden oft die »Goldenen Zwanziger Jahre« genannt. Die durch den Krieg und seine Folgen darniederliegende Wirtschaft begann sich langsam zu erholen, und das Kulturschaffen zeigte erste neue Knospen. Arnold Schönberg entwickelte die Zwölftontechnik, und Max Reinhardt begründete gemeinsam mit Hugo von Hofmannsthal die Salzburger Festspiele. Der Wiener Stadtschulratspräsident et de Sociologie juridique in Paris. – Freundlicher Hinweis von Herrn JUDr. Ondřej Horák, Brno; vgl. auch Horák, Sedláček (2010). 928 Kelsen, Die allgemeinen Rechtsgrundsätze (1936). Vgl. noch unten 523. 929 Kelsen, Naturrecht (1928) = WRS 177–200; Kelsen, Zur Theorie der Interpretation (1934); Kelsen, Contribution (1936); Kelsen, Primat des Völkerrechts (1938). 930 Horák, Sedláček (2010) 417. 931 Duguit/Kelsen/Weyr, Préface – Vorwort (1926/27) 3.
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Otto Glöckel machte die österreichische Bundeshauptstadt zu einem »Mekka der Pädagogik«, zu dem Erziehungswissenschaftler aus aller Welt pilgerten, um seine Schulreformen, die im Geiste modernster pädagogischer Ansätze erfolgt waren, zu bewundern.932 Frauen besaßen nun das Wahlrecht und durften an allen Fakultäten (mit Ausnahme der katholisch-theologischen) studieren; sinnfällig fiel ihr emanzipatorisches Selbstbewusstsein auf durch das Abschneiden der langen Haare und den neuen »Bubikopf« sowie durch die neue Mode, die sich überdeutlich von den Korsetten und Reifröcken der Vorkriegsjahre abhob.933 Auch in der Wissenschaft etablierten sich nun wieder neue Schulen, von denen hier, auch stellvertretend für die übrigen, nur der »Wiener Kreis« genannt werden soll, jener 1924 gegründete philosophische Zirkel um Moritz Schlick und Otto Neurath, der ab 1929 auch immer stärker in der Öffentlichkeit auftrat. Das Anliegen dieser Philosophen hatte in mancher Hinsicht Ähnlichkeiten mit dem der Wiener Rechtstheoretischen Schule: Beide strebten nach rationaler Ergründung ihres Forschungsgegenstandes, frei von jeglicher Metaphysik.934 Dennoch waren die Kontakte zwischen den beiden Wissenschaftszirkeln nicht allzu intensiv, zumal der Wiener Kreis eine eigenständige Sphäre des Sollens ablehnte. Ausgerechnet Kelsen, der ja innerhalb der Rechtswissenschaften stets gegen jegliche Metaphysik aufgetreten war, wurde von Seiten des Wiener Kreises der Vorwurf gemacht, selbst Metaphysik zu betreiben.935 Es war daher nur ein einziger Wissenschaftler, und zwar Felix Kaufmann, in beiden Kreisen aktiv; Kelsen selbst blieb den Treffen des Wiener Kreises, soweit bekannt, fern.936 Erst in den 1930er Jahren kam es zu etwas intensiveren Kontakten im Rahmen der »Unity of Sciences«-Bewegung.937 Der Erste Weltkrieg hatte einen Umbruch in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur bewirkt, der größer nicht hätte sein können. Es ist nur zu verständlich, dass die Avantgarde der österreichischen Kulturschaffenden – worunter hier auch die Rechts-, Sozial‑ und Geisteswissenschaftler verstanden sein sollen – vielfach auf Kritik von jenen stieß, die noch den alten Ordnungssystemen nachhingen. Aber die Anfeindungen, die manchen aus dieser Avantgarde widerfuhr, gingen weit über das normale Maß wissenschaftlicher bzw. künstlerischer Kritik hinaus; sie richtete sich 932 R. Olechowski,
Pädagogik (2015) 388. Vgl. dazu die apologetischen Bemerkungen von Loos, Warum ein Mann gut angezogen sein soll (2007 [postum]) 71 f. (»kurze Haare«), sowie die rückblickenden Betrachtungen von Zweig, Die Welt von Gestern (1942) 92. 934 Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt (2010) 241 f. 935 Goller, Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1997) 346. Dieses Dilemma war Kelsen selbst bewusst, wie aus einem – freilich erst viele Jahre später publizierten – Aufsatz von ihm hervorgeht: Da Normen keine Tatsachen, sondern der Sinn von Tatsachen seien, könne das Postulat des philosophischen Positivismus – der darin bestehe, nur Tatsachen untersuchen zu wollen – auf sie keine Anwendung finden: Kelsen, Was ist juristischer Positivismus? (1965) 465 = WRS 771 f. Vgl. dazu auch Padilla Gálvez, Positivismus (2014) 40 f. 936 Jabloner, Objektive Normativität (2009) 169; Stadler, Der Wiener Kreis (2015) 48, 450. 937 Unten 644. 933
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nicht gegen das Werk, sondern gegen die Person. Die Tatsache, dass Arnold Schönberg, Max Reinhardt, Otto Neurath, Hans Kelsen und so viele andere, über die man in jenen Jahren las und sprach, jüdischer Herkunft waren, schien ihren Feinden kein Zufall zu sein, vielmehr wurde ihr ganzes Tun als »typisch jüdisch« eingestuft und von dieser Seite her bekämpft.938 Wenn da einzelne der umstrittenen Personen, wie etwa Erich Vögelin, sich dann letztlich doch als »Arier« erwiesen, konnte das höchstens kurzzeitig irritieren: Als Vögelin den Rechtshistoriker Ernst Schwind direkt darauf ansprach, warum er behaupte, Vögelin sei Jude, antwortete Schwind, er dachte es eben, weil Vögelin so einen »ruhigen, schleichenden Gang« habe (Vögelin dazu: »Ich trug Gummiabsätze, was damals sehr ungewöhnlich in universitären Kreisen war«), und schlussendlich rückte Schwind mit dem Hauptargument heraus: »Unsere Leute sind nicht so schlau wie Sie.«939 Ernst Schwind hatte ja schon 1918 versucht, die Ernennung Kelsens zum ao. Professor zu verhindern,940 weniger aus fachlichen Gründen (denn von Rechtstheorie verstand er nichts), als vielmehr aus antisemitischen Motiven. Auch danach blieb er einer der schärfsten Gegner Kelsens in der Fakultät und teilte sich diese Rolle mit Alexander Hold-Ferneck. Dessen Gegnerschaft zu Kelsen reichte noch weiter zurück, und zwar bis zu Kelsens Habilitationsschrift von 1911, als Kelsen Holds Rechtslehre – in der für Kelsen typischen spöttischen Art – kritisiert hatte.941 Sie erhielt neue Nahrung, als 1918 Hold, der damals das Departement für Verfassungsrevision im k. k. Ministerratspräsidum leitete, sich dem neuen Staatskanzler anbot, »die Verfassung für das verkleinerte Österreich zu entwerfen«, dieser aber ablehnte und die Aufgabe stattdessen Kelsen übertrug.942 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass 1922 die Ernennung von Leo Strisower zum ordentlichen Professor des Völkerrechts nur möglich gewesen war, indem Alexander Hold-Ferneck in dieselbe Position gehievt wurde.943 Dies entsprach der Taktik der antisemitischen Seilschaften an der Universität, auf jeden »ungeraden« Professor (worunter sowohl Personen jüdischer Abstammung, als auch Sozialdemokraten, Homosexuelle oder sonst nicht in ihr Weltbild passende Personen verstanden wurden), einen »geraden« folgen zu lassen.944 Ein ähnliches Bild ergab sich 1924, als die beiden Lehrkanzeln des Zivilrechts neu zu besetzen waren, und auf die eine Stelle der »ungerade«, weil »nichtarische« Oskar Pisko, auf die andere der »gerade« Gustav Walker ernannt wurde. Übrigens war auch Pisko nur die zweite Wahl gewesen, 938 Jabloner,
Kelsen and his Circle (1998) 369. n. Staudigl-Ciechowicz, Dienst-, Habilitations‑ und Disziplinarrecht (2017) 119. Vgl. auch Busch/Staudigl-Ciechowicz, Kelsen und Hold-Ferneck (2009) 133. 940 Oben 205. 941 »Der Holdsche Rechtssatz hätte etwa die gleiche logische Qualität wie der folgende: Sprich niemals, wenn du schweigst«: Kelsen, Hauptprobleme (1911) 264 = HKW II, 384. 942 Hold, Selbstdarstellung (1952) 98. 943 Oben 310. 944 Busch/Staudigl-Ciechowicz, Kelsen und Hold-Ferneck (2009) 130. 939 Zit.
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ursprünglich wäre Armin Ehrenzweig aus Graz für diesen Lehrstuhl vorgesehen gewesen, was aber Ernst Schwind zu verhindern gewusst hatte.945 Die Feindschaft der beiden Professoren Hold und Schwind zu Kelsen wirkte sich zunächst bei der Habilitation von Freunden und Schülern Kelsens aus: Bereits erwähnt wurde die Habilitation von Max Adler, bei der es zwei Gegenstimmen gab, die höchstwahrscheinlich von Hold und Schwind stammten, was aber nichts am Ergebnis änderte.946 1924 reichte Fritz Schreier eine Habilitationsschrift, »Grundbegriffe und Grundformen des Rechts« ein, in der er eine Brücke zwischen der Reinen Rechtslehre Kelsens und der Phänomenologie Edmund Husserls zu schlagen versuchte; u. a. erklärte er die Reine Rechtslehre zu einem Teil der Logik.947 Hold verfasste ein vernichtendes Gutachten, behauptete, dass Schreier jegliche Originalität vermissen lasse und nur den Gedanken anderer (= Kelsens) folge, dabei aber noch den Formalismus Kelsens übertreffe, indem er das Recht völlig abstrakt betrachte, wo Kelsen noch wenigstens zugebe, dass das Recht ein Teil des Lebens sei. Immerhin konnte er so das Ministerium dazu bewegen, ein weiteres Gutachten anzufordern und damit die Habilitation Schreiers um einige Monate zu verzögern, wenn auch nicht zu verhindern.948 Deutlich schwieriger noch war die Habilitation von Josef L. Kunz, die auf Grundlage seiner Schrift »Die völkerrechtliche Option« erfolgen sollte, welche von ihm bereits im Oktober 1920 zum ersten Mal eingereicht wurde. Eine Verkettung unglücklicher Umstände sowie eine gewisse Unsicherheit von Kunz waren sicherlich auch Faktoren, die dazu führten, dass das Habilitationsverfahren mehrmals unterbrochen wurde und sich letztlich bis 1927 hinzog.949 Aber es ist doch auch zu konstatieren, dass Hold-Ferneck bei dieser Habilitation sich nicht einmal mehr die Mühe gab, angebliche rechtstheoretische Schwächen des Habilitanden aufzuzeigen, sondern sich bei seiner Kritik immer stärker auf die – von ihm selbst seinerzeit approbierte! – staatswissenschaftliche Dissertation von Kunz bezog. Hatte dieser doch die Kühnheit gehabt zu behaupten, dass das Deutsche Reich bei seiner Besetzung des neutralen Belgien im Jahr 1914 rechtswidrig gehandelt hatte. Hold bemerkte dazu, dass »ein Deutscher besser tue, zu schweigen, wenn er sich schon über das Verhalten der deutschen Regierung ein solches Urteil gebildet habe.«950 945 Schon 1907 hatte Schwind die Berufung Ehrenzweigs zu verhindern gewusst – und zwar mit ganz ähnlichen Worten, wie er sie 1918 gegen den methodologisch so ganz anders ausgerichteten Kelsen gebrauchte. Vgl. schon oben 206. 946 Oben 353. 947 Schreier, Grundbegriffe (1924); vgl. Lukas, Schreier (2008) 476. 948 ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 613, Personalakt Schreier Fritz. Vgl. Lukas, Schreier (2008) 472; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 491. 949 Das Folgende nach ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 611, Personalakt Kunz Josef; Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 539–541. 950 Alexander Hold-Ferneck, Gutachten vom 4. 6. 1926, in: ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 611, Personalakt Kunz Josef. Vgl. Busch/Staudigl-Ciechowicz, Kelsen und Hold-Ferneck (2009) 134.
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Letztlich konnte Hold auch die Habilitation von Kunz nicht verhindern; dieser wurde 1927 für Völkerrecht habilitert. 1932 erhielt Kunz, wie berichtet, ein Rockefeller Research Fellowship, worauf er in die USA emigrierte und dort 1934 Professor für Internationales Recht an der University of Toledo in Ohio wurde.951 Dort sollte er für Kelsen nach dessen eigener Emigration 1940 eine der wichtigsten Stützen werden. In Wien aber war Kelsens Elan, Schüler zu habilitieren, gebrochen. Möglicherweise durch die Affäre Kunz verunsichert, zog Julius Kraft 1925 sein eigenes Habilitationsgesuch, trotz Vorliegens zweier positiver Gutachten, zurück und ging nach Frankfurt.952 Kelsen aber sollte nie wieder einen seiner Schüler an der Universität Wien – oder sonst an einer Universität – habilitieren. Der Sprung von wissenschaftlichen zu persönlichen Kontroversen erfolgte über die – überaus zahlreichen – Disziplinarverfahren, die vor der Disziplinarkammer der Universität Wien geführt wurden. Im Frühjahr 1924 beantragte der Professor für Physik Felix Ehrenhaft die Einleitung einer Untersuchung gegen den Assistenten Dr. Karl Horovitz und gegen sich selbst, weil Horovitz behauptet hatte, Ehrenhaft sei der Verfasser eines Zeitungsartikels gewesen, in dem Horovitz als »kommunistischer Jude« bezeichnet und das Professorenkollegium aufgefordert worden war, ihn niemals zu habilitieren. Aus unbekannten Gründen übernahm damals Hans Kelsen die Verteidigung von Horovitz und konnte als solcher erreichen, dass dieser von der Disziplinarkammer im Februar 1925 freigesprochen wurde. Horovitz habilitierte sich allerdings niemals an der Universität Wien, sondern emigrierte in die USA, wo er 1929 Professor an der Purdue University wurde.953 Etwa ein halbes Jahr später, im Herbst 1925, machte der an der Hochschule für Welthandel lehrende Robert Koerber eine Eingabe an den Akademischen Senat der Universität Wien, wonach sich Studierende wiederholt darüber beschwert hätten, dass Stephan Brassloff, ao. Professor für römisches Recht an der Universität Wien, in seinen Vorlesungen sexistische Witze mache. Diese Vorwürfe wurden dazu benutzt, um Brassloff wegen seiner jüdischen Herkunft ausschalten zu können.954 Brassloff erstattete Selbstanzeige bei der Disziplinarkammer; Hold-Ferneck wurde zum Untersuchungsführer bestellt.955 Kelsen hatte im Verfahren keine offizielle Funktion inne, unterstützte jedoch praktisch als einziges Fakultätsmitglied Brassloff, indem er ihm einen Anwalt verschaffte.956 Das Verfahren endete im Jänner 1926 mit einer Rüge für Brassloff, womit dessen akademische Karriere praktisch beendet war; insbesondere wurde 1929 nicht er, sondern der Nationalsozialist Ernst Schönbauer zum ordentlichen Professor des römischen Rechts berufen. (Schönbauer sollte in der NS-Zeit, 951 Kelsen,
Kunz (1959/60) 324. Kraft-Fuchs (2008) 230. 953 Ausführlich Staudigl-Ciechowiz, Dienst-, Habilitations‑ und Disziplinarrecht (2017) 756– 763; vgl. auch Taschwer, Hochburg des Antisemitismus (2015) 106–109. 954 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 87–89. 955 Dokumentation des Disziplinarverfahrens bei Staudigl-Ciechowicz, Dienst-, Habilitations‑ und Disziplinarrecht (2017) 540–546. 956 Friedrich Lothar Brassloff, Interview mit Konstantin Kaiser, 12. 10. 1984. 952 Stolleis,
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1938–1943, die rechts‑ und staatswissenschaftliche Fakultät als Dekan leiten, während Brassloff 1942 im Ghetto Theresienstadt ums Leben kam.)957 Kelsen hatte in der »Affäre Brassloff« nur eine Nebenrolle gespielt; doch wurde sein Eintreten für den Gemaßregelten in antisemitischen Kreisen als sehr bedeutsam eingestuft. Im November 1925, also noch während des Verfahrens gegen Brassloff, verfasste Koerber in der »Deutschen Arbeiter-Presse« einen Artikel, in dem er Brassloff als »Bettaueristen« bezeichnete, was besonders bedrohlich war, als der Journalist und Schriftsteller Hugo Bettauer ein halbes Jahr zuvor, am 26. März 1925, aus antisemitischen Motiven ermordet worden war.958 Weiters aber schrieb Koerber: »Kelsen gehört zu den gefährlichsten Juden der [rechts‑ und staatswissenschaftlichen] Fakultät, der alle deutschen Professoren dadurch betrügt, dass er ihnen seit Jahren ›Deutschtum‹ vorheuchelt! […] Wir können aber schon im vorhinein sagen: Sollte der Asiate Kelsen es durch Schlappheit der Behörden erreichen, daß der Asiate Brassloff an der deutschen Kulturstätte [gemeint: der Universität Wien] vortragen kann, dann wird sich in Wien etwas tun, was Wien noch nicht gesehen hat! Wir warnen die Behörden, die es in der Hand haben, verbrecherische Wüstensöhne zu beseitigen!«959 Also wurde Kelsen gerade sein Eintreten für einen »Anschluß« Österreichs an das Deutsche Reich zum Vorwurf gemacht! Die durchaus schon früher vorhandenen Spannungen an der Fakultät nahmen seit der »Affäre Brassloff« immer mehr zu. Als 1926 zum letzten Mal – bis zum heutigen Tag – ein Professor jüdischer Abstammung, nämlich der Handelsrechtler Josef Hupka, zum Dekan der rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät gewählt wurde, wurde dieser zum Ziel zahlreicher antisemitischer Anfeindungen. So wurden im Herbst 1926 in Anschlagkästen der Universität von unbekannter Hand »anthropologische Bilder« über »Arier und Juden« angebracht, und als diese von der Universität wieder entfernt wurden, beschuldigte die nationalsozialistische »Deutschösterreichische Tageszeitung« die »jüdischen Professoren« Walter Schiff und Hans Kelsen sowie den »jüdischen Dekan« Josef Hupka, die Entfernung veranlasst zu haben.960 Hupka – auch er kam, so wie Brassloff, während der NS-Zeit im Ghetto Theresienstadt ums Leben961 – hätte ja schon 1920 Dekan werden sollen, wurde aber damals, ebenso wie Othmar Spann, übergangen, damit Hans Kelsen gewählt werden konnte. 1927 kam erneut die Reihe an Spann, doch abermals wurde er nicht zum Dekan 957 Siehe
dazu ausführlich Meissel/Wedrac, Strategien der Anpassung (2012) 40–42. Geistesgeschichte (2006) 44. 959 Koerber, zit. n. Taschwer, Hochburg des Antisemitismus (2015) 131. Bereits am 10. 1 2. 1924 hatte Koerber, möglicherweise im Zusammenhang mit dem Disziplinarverfahren Horovitz, eine Eingabe an den Akademischen Senat gemacht, in dem er u. a. eine »Zurechtweisung des Herrn Prof. Kelsen und Entschuldigung in der Vorlesung« forderte: Zoitl, Student kommt von Studieren (1992) 408; freundlicher Hinweis von Herrn Rodrigo Cadore. Wofür konkret sich Kelsen entschuldigen sollte – möglicherweise für Äußerungen in seiner Vorlesung –, bleibt unklar. 960 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 68 f.; vgl. auch Staudigl- Ciechowicz, Dienst-, Habilitations‑ und Disziplinarrecht (2017) 121. 961 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 389. 958 Johnston,
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gewählt, und ebenso wurden die (nach den ungeschriebenen Regeln der Anciennität) nachfolgenden Professoren Kelsen, Strisower und Hold-Ferneck übergangen, weshalb schließlich Hans Mayer zum neuen Dekan gewählt wurde. Als »Kandidat der Juden«,962 der selbst nicht jüdischer Abstammung war, war er der ideale Kompromisskandidat. Zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Studenten kam es immer wieder zu Gewaltexzessen.963 Als Rektor Theodor Innitzer 1929 dagegen einschritt, indem er Disziplinarverfahren gegen die Rädelsführer einleitete und den nationalsozialistischen Studenten verbot, auf der Universität Abzeichen zu tragen, richtete sich der Zorn der »Hakenkreuzler« gegen ihn: Am 20. Juni 1929 stürmten nationalsozialistische Studenten das Rektorat, welches von »demokratischen, sozialistischen und jüdischen Studenten« geschützt wurde, bis die Polizei eintraf – worüber später sogar die New York Times berichtete.964 Die antisemitische »Deutsche Gemeinschaft« (unter ihren Mitgliedern befanden sich Professoren wie Othmar Spann sowie auch die späteren Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und Arthur Seyß-Inquart) erstellte »Gelbe Listen« mit »Professoren jüdischer Volkszugehörigkeit« und rief die Studierenden zum Boykott der Vorlesungen jüdischer Professoren und Dozenten auf. Auf einer im Oktober 1929 in der Zeitung »Deutsches Tagblatt« veröffentlichten Liste befanden sich 29 Professoren und Dozenten der Wiener rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät, wobei Max Adler und Hans Kelsen auch noch die zusätzliche »Auszeichnung« als »Marxist« erhalten hatten. »Ihr wißt, was Ihr anläßlich der Einschreibung zu tun habt!«, wurden die Studierenden aufgerufen.965 b) Die literarischen Kontroversen mit Hold-Ferneck und Schwind Dies alles muss berücksichtigt werden, will man die literarischen Kontroversen zwischen Hans Kelsen und seinen beiden Fakultätskollegen Alexander Hold-Ferneck und Ernst Schwind richtig bewerten. Nur vordergründig handelte es sich dabei um die Auseinandersetzung mit differierenden wissenschaftlichen Standpunkten, wie dies etwa bei Eugen Ehrlich, Fritz Sander oder Erich Kaufmann gewesen war; in Wahrheit handelte es sich um den Versuch zweier antidemokratischer und antisemitischer Professoren, ihrem persönlichen Feind Kelsen auch durch gegen ihn gerichtete Bücher zu schaden.966 962 Schartner,
Staatsrechtler (2011) 205 f. dazu die bei Silving, Memoirs (1988) 85, geschilderte Episode, als Kelsen eine Lehrveranstaltung hielt, während sowohl sozialistische als auch nationalsozialistische Studenten Versammlungen im Universitätsgebäude abhielten und die »Internationale« bzw. das »Horst-Wessel-Lied« sangen, worauf Kelsen seine Vorlesung abbrach und seinen Studierenden, darunter Helen Silving, empfahl, nach Hause zu gehen. Zu den Hintergründen vgl. Ash, Die Universität Wien (2015) 75. 964 Taschwer, Hochburg des Antisemitismus (2015) 133. 965 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 68. 966 Dazu ausführlich Olechowski, Rechtsphilosophie gegen Rechtsgeschichte? (2008); Busch/ 963 Vgl.
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Hold berichtete später, dass »man von verschiedenen Seiten« an ihn herangetreten sei, um literarisch gegen Kelsen aufzutreten, damit es nicht heiße, dass die ganze Fakultät die Lehren Kelsens billige. »So brachte ich denn das Opfer, die Schriften Kelsens, die sich damals auf etwa zweitausend Seiten beliefen, nochmals im Zusammenhang durchzunehmen. Das kostete ein ganzes Jahr!«967 Produkt dieser Arbeit war die 77 Seiten starke Broschüre »Der Staat als Übermensch. Zugleich eine Auseinandersetzung mit der Rechtslehre Kelsens«, die Hold zu Ostern 1926 veröffentlichte. Mit ihr bezweckte er, laut Vorwort, mehreres: erstens eine prinzipielle Auseinandersetzung mit dem »eigenartige[n] Sein des Staates«, zweitens eine »Auseinandersetzung mit der Rechtslehre Kelsens«, und zwar zum Teil in Form einer Antwort auf die Angriffe, die Kelsen 1911 – fünfzehn Jahre zuvor! – in seinen »Hauptproblemen« gegen Hold gestartet hatte, zum Teil als Antwort auf Kelsens Lehrbuch »Allgemeine Staatslehre«. Er hielt es für seine »Aufgabe, gegen den schrankenlosen Formalismus und Empirisimus Kelsens zu Felde zu ziehen, der – ich kann nicht anders sagen – in geradezu furchtbare Lehren ausmündet, Lehren, die geeignet sind, jegliche Achtung vor Recht und Staat zu untergraben. Ich muß annehmen, daß Kelsen das Furchtbare dieser Lehren nicht so sehr zum Bewußtsein gekommen ist. Er hätte sonst gewiß Bedenken gehegt, sie in einem Buch vorzutragen, das auch für die akademische Jugend bestimmt ist.«968 Der eigenartige Buchtitel »Der Staat als Übermensch«, der an Hobbes’ »Leviathan« erinnern mag, erklärt sich aus einer Bemerkung Kelsens aus dem Jahr 1922, wonach vielfach die Tendenz zu beobachten sei, dass man sich den Staat ebenso real denke wie einen Menschen, »als eine Art ›Makroanthropos‹ oder Uebermensch«.969 Zwar lehnte Hold ebenso wie Kelsen eine derartige organische Staatsauffassung, bei der der Staat wie »ein mit biologischen Kategorien erfaßbares Lebewesen« zu begreifen versucht wurde, ab; aber zugleich wehrte er sich gegen Kelsens Gleichsetzung des Staates mit seiner Rechtsordnung. »Alle Kultursprachen unterscheiden zwischen Staat und Recht. Der Richter urteilt nach Recht, nicht nach Staat. […] Staaten führen Kriege, nicht Rechte.«970 Eine zweite Stoßrichtung von Hold ging gegen die Betonung des Zwanges im Recht. Nur »bei rohen und wenig disziplinierten Völkern« oder »in unruhigen Zeiten« müsse die Einhaltung einer Rechtsordnung durch Zwang erzielt werden. Aber der Regelfall sei es doch, dass Normen befolgt werden, auch ohne dass Zwang ausgeübt werden müsse. Hold hielt es für das Wesen des Rechts, dass es mit Ordnung, Frieden und Sicherheit verknüpft sei. Ein Problemfeld sei hier sicherlich das Völkerrecht, also Holds eigenes Fachgebiet; die Versuchung sei groß, »einen Rechtsbegriff zu konstruieren, der so vage ist, daß er auch das Völkerrecht einschließt.« Doch verwarf er diesen Gedanken aus Gründen »wissenschaftlicher Staudigl-Ciechowicz, Kelsen und Hold-Ferneck (2009); Goller, Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1997) 194–211. 967 Hold, Selbstdarstellung (1952) 101. 968 Hold, Übermensch (1926) IV. 969 Kelsen, Staatsbegriff (1922) 3. 970 Hold, Übermensch (1926) III, 2.
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4. Kapitel: Internationaler Ruhm – Anfeindungen in der Heimat
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Ehrlichkeit«; es werde vielleicht noch Tausende, ja Millionen Jahre dauern, bis »ein wahres Völkerrecht entstehen« werde.971 Der dritte Punkt betraf die Trennung von Sein und Sollen, die von Kelsen »aufs äußerste« getrieben werde. Ja, eine Gegenüberstellung von Sein und Sollen, sei oft hilfreich, ja notwendig. Aber ein Sollen kann nie ohne ein Sein bestehen; der Satz »a soll sein« ergebe nur dann einen Sinn, wenn man ihn dem Satz »a ist« gegenüberstellt. Überhaupt erklärte Hold, dass sich »kein Gegenstand einer Wissenschaft denken [lasse], der nicht irgendein Sein hätte.«972 Diese rechtstheoretischen Überlegungen waren aber gespickt mit einer Reihe von Angriffen nichtwissenschaftlicher Art. So stellte Hold provokant »die Frage, ob die blutige Willkürherrschaft von Männern wie Sinowjew, Kun und Eisner eine Rechtsordnung vorstelle«,973 und betonte an anderer Stelle, dass Kelsen Lassalle als einen »genialen Volksführer« bezeichnet hatte, dies, obwohl auch Kelsen das Privatvermögen für schützenswert erachte und somit ein »Verfechter des Kapitalismus« sei.974 Offenbar wollte Hold Kelsen als Sozialisten brandmarken – und zugleich bei seinen sozialdemokratischen Freunden diffamieren. Und seine Beschimpfungen Kelsens erreichten ihren Höhepunkt in seiner – deutlich von antisemitischen Stereotypen geprägten – ironischen Beschreibung des »Jurist[en] in seinen ›lichten Höhen‹ der reinen Rechtslehre«: Der auf dem ersten Blick brave Mann, der die Anwendung des Rechts lehre, wandle sich, wenn er zur »Wesenslehre des Rechtes« gelange in ein »spindeldürres, bis auf den letzten Blutstropfen ausgepreßtes Männchen, das den Doktorhut tief ins pergamentene Antlitz drückt, auf daß die Welt der Tatsachen es nicht störe in der Versunkenheit in ideelle Normen. Man gebe ihm den Laufpass! Wir brauchen keine ›juristische Erkenntnis‹, die sich auf die Frage, was denn das Recht sei, auf ihre ›Reinheit‹ ausredet.«975 Kelsen reagierte auf die Schrift Holds noch im selben Jahr 1926 mit einer eigenen, nur 24 Seiten starken Broschüre, die ebenfalls den Titel »Der Staat als Übermensch« und als Untertitel »Eine Erwiderung« trug. Merkwürdig sind schon die einleitenden Sätze, in denen Kelsen feststellt, dass er eigentlich »keinen Anlaß« habe, sich sachlich mit Hold auseinanderzusetzen, zumal er nur die Ansichten anderer Juristen, wie namentlich Felix Somló, Erich Kaufmann und Fritz Sander, reproduziere. Er wolle nur Holds »Methode wissenschaftlicher Kritik […] in das Licht der wissenschaftlichen Öffentlichkeit […] rücken.«976
971 Hold,
Übermensch (1926) 8 f. Übermensch (1926) 19. 973 Hold, Übermensch (1926) 55. Gemeint sind Grigorij Evseevič Zinovev (1883–1936), Bela Kun (1886–1938) und Kurt Eisner (1867–1919), die alle jüdischer Abstammung waren und bei den blutigen Revolutionen in Russland, Ungarn und Bayern 1917–1919 eine zentrale Rolle gespielt hatten. 974 Hold, Übermensch (1926) 56 f.; das Zitat bezieht sich auf Kelsen, Lassalle (1924). 975 Hold, Übermensch (1926) 12; vgl. Kelsen, Übermensch (1926) 14; Goller, Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1997) 194. 976 Kelsen, Übermensch (1926) 1. 972 Hold,
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Dies tat er, indem er Holds Kampfschrift mit seinen früheren Schriften verglich und feststellte, dass Hold seine methodologischen Grundlagen vollkommen verlassen hatte. So habe etwa Hold in seiner Habilitationsschrift – der Monographie »Die Rechtswidrigkeit« aus dem Jahr 1903 – selbst betont, das der Zwang ein wesentliches Element des Rechts sei.977 In seiner Kampfschrift hatte Hold stattdessen die Rechtsdefinition von Felix Somló, wonach das Recht aus »Normen einer gewöhnlich befolgten, umfassenden und beständigen höchsten Macht« bestehe, übernommen – jedoch nur, um sie schon wenig später völlig über Bord zu werfen, wenn er ein sittliches, inhaltliches Moment für das Recht fordere. Tatsächlich aber werden in der Realität auch die »ungerechtesten, grausamsten Normen […] gewöhnlich befolgt«.978 Kelsen war es ein Leichtes, die vielfachen Widersprüche, in die sich Hold verstrickt hatte, aufzudecken und dessen Fehler aufzuzeigen. Handle es sich nicht gerade bei den Normen Sowjetrusslands um solche, die »gewöhnlich befolgt« werden, also die Kriterien Somlós bzw. Holds erfüllen? Und wenn Hold frage, ob es Recht sein könne, wenn der Staat verordne, »daß jeden Sonntag tausend Bürger geschlachtet werden«, oder wenn er »das Zeugen von Kindern« verbiete, so verwies Kelsen nur auf das Kriegsrecht und auf das kanonische Recht, die tatsächlich derartige Regeln enthielten.979 Interessant ist die Antwort Kelsens auf den Vorwurf Holds, dass Kelsen noch nie einen Versuch unternommen habe, das Recht zu definieren: »Jeder, der meine Schriften kennt, weiß, daß für mich das Recht eine souveräne Zwangsordnung menschlichen Verhaltens ist, wenn dieser Gedanke auch nicht gerade in einer schulmäßigen Definition auftritt.«980 Was aber Holds Forderung nach dem »Laufpaß« betraf, den er dem Lehrer des reinen Rechts geben wollte, so stellte Kelsen abschließend die Frage, »ob ein Professor des Völkerrechts, der die Rechtsnatur seines an der juristischen Fakultät vorgetragenen Gegenstandes leugnet, das Recht [habe], einem Kollegen, dessen ganze Theorie darauf hinausläuft, den Staat als Recht zu begreifen, den Vorwurf der Staatsgefährlichkeit zu machen. Aber ich erachte es mit der Würde freier Wissenschaft nicht vereinbar, mich gegen diesen Ruf nach der Polizei zu verteidigen.«981 Alexander Hold-Ferneck ließ es nicht bei diesem Schlagabtausch bewenden; vielmehr publizierte er im folgenden Jahr, 1927, eine kürzere Schrift, betitelt »Ein Kampf
977 Kelsen, Übermensch (1926) 2 f. Vgl. dazu ausführlich Kriegner, Kelsen versus Hold-Ferneck (1988) 53–64. 978 Kelsen, Übermensch (1926) 5. 979 Hold, Übermensch (1926) 55; Kelsen, Übermensch (1926) 6. 980 Kelsen, Übermensch (1926) 3; vgl. Busch/Staudigl-Ciechowicz, Kelsen und Hold-Ferneck (2009) 127. Tatsächlich hatte sich Kelsen in seinen früheren Schriften sogar geweigert, das Recht zu definieren, weil dies »vom immanenten Standpunkt des Rechtssystems« nicht möglich sei: Kelsen, Souveränität (1920) 14 = HKW IV, 284. Dies ist sicherlich richtig, fraglich bleibt aber, warum eine Definition nur von einem immanenten Standpunkt aus erfolgen dürfe; vgl. dazu Kriegner, Kelsens versus Hold-Ferneck (1988) 55. 981 Kelsen, Übermensch (1926) 24.
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ums Recht«,982 in der er auf die Vorwürfe Kelsens antwortete und meinte, Kelsen versuche vom Thema abzulenken, indem er ihn, Hold, mit älteren Schriften konfrontiere. Kelsen antwortete auf diese Schrift nicht mehr; es hätte wohl wenig Sinn gehabt, auch wartete bereits der nächste Gegner auf ihn: 1928 veröffentlichte Ernst Schwind die Monographie »Grundlagen und Grundfragen des Rechts«, mit 158 Seiten die bislang umfangreichste gegen Kelsen gerichtete Schrift, jedoch bei weitem nicht die gefährlichste. Ja, Kelsen bezeichnete diese Schrift später, in seiner Autobiographie, sogar als »toericht«,983 zumal Schwind sich in seiner Arbeit eine Blöße nach der anderen gab und letztlich nur erkennen ließ, dass er einfach nicht verstanden hatte, worum es bei der Reinen Rechtslehre ging. So etwa, als er verschiedene historische und moderne Gesetze, darunter auch das B-VG 1920, an dem doch Kelsen mitgewirkt hatte, sprachlich untersuchte, um festzustellen, dass das Wort »Sollen« nur sehr selten vorkomme.984 Auch die Grundnorm wurde von ihm kritisiert, und er hob hervor, sogar die Reine Rechtslehre gebe »glatt zu, […] daß sie ganz bestimmt nie und nirgends erlassen worden ist.«985 Schwind forderte: »Wo wir wissen, daß es anders liegt, darf man nicht Hypothesen aufstellen; oder genauer gesagt, man darf nichts als Hypothese in den Denkprozeß einfügen, von dem man weiß, daß es unwahr ist.«986 Schließlich hätten »Pipin der Kurze«987 und sein großer Sohn »eine Welt regiert«, ohne dass irgend jemand die Frage gestellt hätte, »wie man Gesetze macht und wer dazu berufen sei.«988 Am meisten jedoch empörte sich Schwind über Kelsens Gleichsetzung von Recht und Staat. Dann sei ein Verein dasselbe wie sein Statut und zwei Vereine mit demselben Statut derselbe Verein? Für Schwind ließ sich der Staat keineswegs bloß mit juristischen Mitteln erfassen. Denn was alles gehörte zum Staat: »das Land und die Leute, aber das Land mit seiner Bodenbeschaffenheit und seinem Klima, seinen Früchten und Bergsegen und seinen Flüssen, Seen und Meeren und seiner territorialen Umrahmung; und die Leute mit ihrem Charakter und Temperament, mit ihrer künstlerischen und technischen Begabung, mit ihren sozialen Verbindungen und Strömungen […] zum heutigen Italien nicht nur das Land mit seinen Kunstschätzen und dem blauen Meer und der bewegten See, auch der Re bambino und Mussolini 982 Es
ist dies offensichtlich eine Anspielung auf den berühmten Vortrag »Der Kampf ums Recht«, den Rudolf v. Jhering am 11. 3. 1872 in der Wiener Juristischen Gesellschaft gehalten hatte. Inhaltliche Bezüge zu Jhering sind in der kleinen Schrift nicht erkennbar. 983 Kelsen, Autobiographie (1947) 9 = HKW I, 43. 984 Schwind, Grundlagen und Grundfragen des Rechts (1928) 37. 985 Schwind, Grundlagen und Grundfragen des Rechts (1928) 48. Vgl. dazu nur Mommsen, Abriss (1893) VII–VIII: »Vor der Plattheit derjenigen historischen Forschung, welche das, was sich nie und nirgend begeben hat, bei Seite lassen zu dürfen meint, schützt den Juristen seine genetisches Verständniss fordernde Wissenschaft.« 986 Schwind, Grundlagen und Grundfragen des Rechts (1928) 15. Er bezeichnet in diesem Zusammenhang das Aufstellen einer Hypothese als »Hypostasierung«; vgl. dazu Kelsen, Rechtsgeschichte gegen Rechtsphilosophie (1928) 29; Kelsen, Autobiographie (1947) 9 = HKW I, 44. 987 Gemeint ist der fränkische König Pippinus brevis (reg. 751–768), heute eher als »Pippin der Jüngere« bekannt, Vater des fränkischen Königs Karls des Großen (reg. 768–814). 988 Schwind, Grundlagen und Grundfragen des Rechts (1928) 49 f.
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mit der leicht erregbaren Bevökerung, die beiden und dem Fascismus den Widerhall und die Existenzmöglichkeit gewähren, und die Abruzzen mit ihren Briganten und auch die Gäste und Landesfremden, der Papst mit seinen roten Kardinälen und die Forestieri und dazu die Gesetze, […]. Und wer vom italienischen Staate sprechen will, der wird […] von Mussolini und seiner Persönlichkeit und seiner Kraft und seinem Willen und von seiner Umgebung […] und vielleicht noch von viel mehr« sprechen müssen.989 Auch zu Schwind veröffentlichte Kelsen, wie zu Hold, eine kurze Broschüre. Er betitelte sie »Rechtsgeschichte gegen Rechtsphilosophie?« Angesichts der farbenprächtigen Darstellung des blauen Meers und der roten Kardinäle erklärte Kelsen, dass es gewiss kleinlich wäre zu fragen, ob Klima und Bodenbeschaffenheit nicht Gegenstand einer ganz anderen Wissenschaft als der Rechtswissenschaft wären. Dass der Hinweis auf die sprachliche Form von Gesetzen natürlich nichts über ihr Wesen aussage und zwei Vereine auch bei gleichen Statuten nicht identisch seien, erklärte Kelsen mit merkbarem Ärger: Schwind mute ihm offenbar eine »Dummheit« zu.990 Beim Hinweis zu den fränkischen Königen aber kapitulierte Kelsen vor dem sich darbietenden »Übermaß von Verständnislosigkeit«: Kaum falle es ins Gewicht, dass Schwind hier offenbar die »Verfassung im positivrechtlichen Sinne, die natürlich auch für ›Pipin den Kurzen und seinen großen Sohn‹ gegolten hat – mit der Grundnorm, das ist der Verfassung im rechtslogischen Sinne, verwechselt [habe]. Denn gegenüber einer Argumentation, deren Schlagkraft von der Art des bekannten Beispiels ist: die Behauptung, es sei finster, mit der Gegenbehauptung zu widerlegen, es stehe aber ein Turm daneben, gegenüber eine solchen Beweisführung hört jede Diskussionsmöglichkeit auf.«991 Auch wenn man frühere Streitschriften Kelsens liest: Keine von ihnen war so voller bösem Spott wie diese. Und tatsächlich hatte Kelsen gleich zu Beginn erklärt, dass Schwind »nicht auf Schonung rechnen« dürfe, zumal dieser Kelsens »Lehre von Grund aus vernichten« wollte.992 Er erklärte sich für den »Angegriffenen« und wies die Behauptung Schwinds zurück, dass Kelsen die Rechtsgeschichte als unnötigen »Ballast« bezeichnet, ja dass er die Rechtsgeschichte überhaupt nicht als zur Rechtswissenschaft gehörig angesehen habe.993 Angegriffene auf beiden Seiten also! Aber 989 Schwind, Grundlagen und Grundfragen des Rechts (1928) 78 f. Die Abruzzen sind eine Landschaft im Norden des ehemaligen »Königreichs beider Sizilien«, die dort lebenden Rebellen wurden als »briganti« (die Kämpfenden) bezeichnet wurden. Wer mit dem »re bambino« gemeint ist, ist unklar. 990 Kelsen, Rechtsgeschichte gegen Rechtsphilosophie (1928) 7, 12, 17. 991 Kelsen, Rechtsgeschichte gegen Rechtsphilosophie (1928) 26. 992 Kelsen, Rechtsgeschichte gegen Rechtsphilosophie (1928) 1. 993 Er bezieht sich dabei auf Kelsen, Hauptprobleme (1911) VII = HKW II, 55, wo dieser erklärt hatte, dass zwischen Rechtsgeschichte und »dogmatischer Jurisprudenz oder Rechtsphilosophie« in methodischer Hinsicht keine Verbindung bestehe. Vgl. auch Kelsen, Souveränität (1920) 90 = HKW IV, 357, wo dieser erklärt, dass die Rechtsgeschichte »im Grunde gar nicht den Charakter einer spezifischen Rechtswissenschaft« habe, »sondern nur einen Teil der historischen Wissenschaft« bilde.
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erklärt das die ganze Härte der ausgetragenen Kontroverse zwischen zwei Lehrern derselben Fakultät, die dieselben Studenten zu unterrichten hatten und von diesen, wie Schwind hervorhob, regelmäßig über die Lehren des Fakultätskollegen informiert wurden? Warum echauffierte sich Schwind über die »bestrickende Form, in der die neue Lehre vorgetragen wurde«, und die »zündende Wirkung«, die sie auf die Hörer hatte? Und weshalb schrieb es Schwind »der Zusammensetzung der Lehrenden und der Lernenden« der Universität Wien zu, dass die Reine Rechtslehre hier ganz »besondere Verbreitung und Anklang« fand?994 Für Hans Kelsen bestand hier kein Zweifel: »Wer den genius loci kennt, weiß, daß die ›Zusammensetzung‹, die S. ohne nähere Aufklärung in diese Diskussion zu ziehen für nötig befindet, mit irgendeiner wissenschaftlichen Richtung in der Lehrerschaft oder gar in der Hörerschaft nicht das geringste zu tun hat.« Vielmehr bezog sich Schwinds Hinweis ganz offensichtlich auf den angeblich so hohen Anteil von Juden unter Professoren und Studierenden. Kelsen lehnte es ab, sich mit einem solchen »Argument« zu beschäftigen. »Schämt es sich doch seiner selbst, da es sein wahres Gesicht so ängstlich verhüllt.«995 Schwind selbst versuchte, so wie Hold, auf Kelsens Antwort mit einer Gegenschrift zu reagieren, erlitt jedoch im Februar 1929 einen Schlaganfall, an den sich langes Siechtum anschloss, von dem ihn erst im Juli 1932 der Tod erlöste. Es bleibt unklar, ob Kelsens Feinde ihm auch die Schuld an diesem qualvollen Ende Schwinds zuschoben, wenn ja, wird dies die antisemitische Stimmung an der Fakultät nur noch weiter angeheizt haben.
4. Die Vortragstätigkeit Hans Kelsens a) Allgemeines In denkwürdigem Kontrast zu den Anfeindungen, die Kelsen an der Wiener Fakultät erfuhr, steht die Anerkennung, die ihm und seiner Lehre weltweit zuteil wurde und die sich in den vielen Vorträgen im In‑ und Ausland widerspiegelte. Bereits 1969 schrieb Kelsens Biograph Rudolf A. Métall, dass es unmöglich sei, die Vortragstätigkeit Hans Kelsens vollständig zu erfassen, und berichtete nur summarisch, dass ihn die »zahlreichen Vortragsreisen […] in fast alle Städte Europas und nach Lateinamerika geführt haben«.996 In den meisten Fällen kennen wir diese Vorträge nur aus den elaborierten Fassungen, die Kelsen später selbst im Druck veröffentlichte; nur vereinzelt existieren kurze Vortragsberichte, die uns ein authentisches Bild der Vorträge geben. Dies gilt etwa für den schon oben ausführlich behandelten Vortrag Kelsens über »Wesen und Wert der Demokratie«, den er am 5. November 1919 in der Wiener Juristischen Gesellschaft hielt, und von dem nicht nur mehrere Druckfassungen 994 Schwind,
Grundlagen und Grundfragen des Rechts (1928) 6, 156 f. Rechtsgeschichte gegen Rechtsphilosophie (1928) 31. 996 Métall, Kelsen (1969) 46, 114. 995 Kelsen,
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
von Kelsen selbst, sondern auch ein von unbekannter Hand verfasster Vortragsbericht für die »Juristischen Blätter« existieren.997 Ähnliches kann auch zu den beiden Vorträgen gesagt werden, die Kelsen im Herbst 1922 in Prag hielt: Am 22. November trug Kelsen in der Prager »Urania«, einem 1917 nach Vorbild der gleichnamigen Wiener Einrichtung gegründeten Volksbildungsinstitut, über »Die politische Theorie des Sozialismus« vor. Zwei Tage später, am 24. November, folgte ein Vortrag über »Gott und Staat« am Universitäts-Hauptgebäude, dem sog. Karolinum. Über beide Vorträge und deren Inhalt sind wir durch das »Prager Tagblatt« und die »Deutsche Hochschulwarte« informiert,998 doch waren die Vorträge auch Grundlage zweier kurz darauf von Kelsen veröffentlichter Aufsätze.999 In beiden Vorträgen bzw. Aufsätzen ging es im Wesentlichen um Gedanken, die Kelsen bereits in seinen Monographien über »Sozialismus und Staat« bzw. über den »soziologische[n] und de[n] juristische[n] Staatsbegriff« ausgebreitet hatte: In seinem Vortrag über »Die politische Theorie des Sozialismus« prangerte Kelsen erneut die anarchistischen Tendenzen in der marxistischen Staatstheorie an und stellte die Demokratie als Ausdruck eines »politischen Relativismus« in Kontrast zur Diktatur des Proletariats.1000 Und bei »Gott und Staat« zog Kelsen wiederum die Parallelen zwischen Theologie und Rechtswissenschaft, zwischen Recht und Welt, zwischen Gott und Staat und erklärte Gott zur »Personifikation der Weltordnung.«1001 Dabei übernahm er auch – wenigstens in der Schriftfassung – immer wieder wörtlich Formulierungen aus seinen Monographien.1002 (Wie bereits hervorgehoben, war das Problem des »Selbstplagiats« zu seiner Zeit noch unbekannt.) Anzumerken ist, dass Kelsen diese Vorträge nicht nur einmal, sondern mehrmals hielt, so etwa jenen über »Gott und Staat« auch Anfang Februar 1923 in der Soziologischen Gesellschaft zu Wien.1003 Wir dürfen davon ausgehen, dass dieser Vortrag im Wesentlichen den gleichen Inhalt hatte wie der in Prag gehaltene, auch wenn Métall hervorhebt, dass Kelsen, auch wenn er Vorträge zu wohlbekannten Themen hielt, diese immer wieder neu ausarbeitete, um sie dem jeweiligen Publikum anzupassen.1004 997
Oben 296. Tagblatt Nr. 273 v. 22. 11. 1922, 6; Nr. 275 v. 24. 11. 1922. Eine Zusammenfassung des Berichts in der »Deutschen Hochschulwarte« bei Oberkofler, Ludwig Spiegel und Kleo Pleyer (2012) 148 (dort irrtümlich für beide Vorträge die Prager »Urania« als Veranstaltungsort angegeben). 999 Kelsen, Die politische Theorie des Sozialismus (1923); Kelsen, Gott und Staat (1922/23) = WRS 139–157. 1000 Kelsen, Die politische Theorie des Sozialismus (1923) 125, 135. 1001 Kelsen, Gott und Staat (1922/23) 270 = WRS 146. 1002 Ein Beispiel: Der Satz »Durch die – vor allem gegen den Pantheismus – mit Nachdruck betonte Transzendenz Gottes gegenüber der Welt gerät die Theologie in die gleiche Schwierigkeit wie die Staatsrechtslehre angesichts der von ihr behaupteten metarechtlichen Natur des Staates.« findet sich in Kelsen, Das Verhältnis von Staat und Recht (1921) 479 = WRS 96; ferner in Kelsen, Staatsbegriff (1922) 227; und in Kelsen, Gott und Staat (1923) 273 = WRS 149. 1003 Stark, Grundfehler (1923) 19. 1004 Métall, Kelsen (1969) 30, 46, 114. 998 Prager
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Im Sommer 1926 wurde Hans Kelsen eine besondere Auszeichnung zuteil: Die Académie de Droit International, eine postgraduale Ausbildungseinrichtung von Weltruf, die bereits 1914 gegründet worden war, kriegsbedingt aber erst 1923 ihre Tätigkeit hatte aufnehmen können, lud Hans Kelsen ein, im Rahmen ihrer alljährlichen Sommerkurse eine Vorlesung zu halten. Kelsen leistete dieser Einladung Folge und las im Friedenspalast in Den Haag, dem Sitz der Akademie und des Ständigen Internationalen Schiedsgerichtshofes, in französischer Sprache eine Vorlesung über »Les rapports de système entre le droit interne et le droit international public [Berichte über die Theorien zum Verhältnis von staatlichem Recht und Völkerrecht]«.1005 Die Organisatoren hatten wohl mit Absicht den Monisten Kelsen für dieses Thema gewählt, zumal der Streit zwischen Dualisten (Heinrich Triepel, Dionisio Anzilotti) und Monisten (Léon Duguit, Hans Kelsen) gerade in jener Zeit besonders aktuell war. So wie schon in seiner Monographie über das »Problem der Souveränität« – aus der er wesentlich den Inhalt seiner Vorlesung nahm – hielt Kelsen an der Einheit von staatlichem Recht und Völkerrecht fest, bezeichnete den Primat des staatlichen Rechts und den Primat des Völkerrechts als zwei theoretisch gleichwertige Hypothesen und ließ lediglich aus moralischen Erwägungen eine Sympathie für den Primat des Völkerrechts erkennen.1006 Seine Ausführungen gipfelten in dem von ihm seit der »Staatslehre des Dante« behandelten Konzept eines Weltstaates (»super-État«), der den Egoismus und politischen Imperialismus der Staaten bekämpfe.1007 Kurz darauf, vom 26. bis zum 29. September 1926, fand an der Universität Wien der Fünfte Deutsche Soziologentag statt, und Kelsen wurde eingeladen, neben dem renommierten, 71-jährigen Kieler Soziologen Ferdinand Tönnies eines der beiden Referate über »Demokratie« zu halten.1008 Kelsen baute in diesem Vortrag vor allem auf seinen Arbeiten über »Wesen und Wert der Demokratie« und über »Das Problem des Parlamentarismus« auf, die er nun miteinander verwob. Zentralidee der Demokratie blieb für ihn die Freiheit, die aber durch das Majoritätsprinzip und das Repräsentationsprinzip wesentlich eingeschränkt werde.1009 Der Parlamentarismus schien Kelsen die einzig mögliche Form zu sein, in der die Demokratie auch praktisch verwirklicht werden könne; wesentlich schärfer als bisher betonte Kelsen aber nun, dass allein die Gesetzgebung demokratisch organisiert sein dürfe. Eine Demokratisierung der Verwaltung würde geradezu eine »Aufhebung der Demokratie der 1005 Kelsen,
Les rapports (1927). Kelsen in Den Haag (2008) 150, 152 f. 1007 Kelsen, Les rapports (1927) 318; vgl. Hoss, Kelsen in Den Haag (2008) 159. 1008 Der Aufbau der Tagung war ähnlich der der Deutschen Staatsrechtslehrertagung, indem zunächst zwei Professoren zu Vorträgen zum selben Thema gebeten wurden und sich hieran eine lebhafte Diskussion anschloss. Auch die vorherige Ausgabe eines »Thesenpapiers« (heute würde man sagen: Handout) war bei beiden Versammlungen üblich. Der Ablauf des 5. Soziologentages ist in Verhandlungen (1927) dokumentiert, dort auch 37–68 die Schriftfassung des Vortrages von Kelsen (Kelsen, Demokratie [1927]). Bereits am 19. 11. 1926 erschien im »Deutschen Volkswirt« ein wesentlich kürzerer, jedoch partiell wortidenter Aufsatz: Kelsen, Demokratie (1926). Es ist gut möglich, dass es sich hierbei um den tatsächlichen Redetext von Kelsens Vortrag handelt. 1009 Kelsen, Demokratie (1927) 43 f. = VdD 121 = WRS 1434. 1006 Hoss,
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Gesetzgebung« bedeuten.1010 Kaum noch nahm Kelsen in seinem Vortrag auf die marxistische Staatslehre Bezug,1011 dafür widmete er sich eingehend dem Problem der »Führerauslese«, wobei er die Vorstellung, dass ein Einzelner ein ganzes Volk repräsentieren könne, erneut als eine »Fiktion« bezeichnete.1012 Freiheit, so schloss Kelsen seinen Vortrag, sei in der Realität niemals zu erreichen; der wahre Wert der Demokratie enthülle sich darin, dass keine Partei zu dauernder Ohnmacht verurteilt sei, dass das politische Pendel bald nach links, bald nach rechts ausschlage und dennoch immer wieder seinen Ruhepunkt in der Demokratie finde, womit der (innere) Friede garantiert sei.1013 An den Vortrag schloss sich eine lebhafte Diskussion an, an der sich neben Karl Renner und Max Adler auch der deutsche Philosoph und Antidemokrat Leonard Nelson beteiligte. Dieser hatte schon 1924 versucht, der Demokratie ein an Platon angelehntes Konzept gegenüberzustellen, welches das Schwergewicht auf eine »Erziehung zum Führertum« lege – was für Kelsen aber nur eine Verlagerung, keine Lösung des Problems der Führerauslese darstelle.1014 Auch Oskar Siebeck, der Leiter des Verlages Mohr Siebeck, kam zum Soziologentag nach Wien. Im Vorfeld hatte er mit Kelsen über das Problem diskutiert, dass sowohl Kelsens Monographie zur »Souveränität« als auch dessen »Soziologischer und juristischer Staatsbegriff« demnächst vergriffen und eine Neuauflage nötig sein würden. Siebeck schlug vor, eine Reihe »Gesammelte Schriften zum allgemeinen Staatsrecht« herauszugeben, in deren Rahmen die »Hauptprobleme« den ersten Band, die beiden anderen Arbeiten gemeinsam einen etwa gleich dicken zweiten Band darstellen könnten.1015 Kelsen plante eine Zeit lang, sowohl die »Souveränität« als auch den »Staatsbegriff« vollständig zu überarbeiten und an ihrer Stelle ein »beide Bücher umfassendes und beide neu bearbeitendes Werk« herauszubringen.1016 Doch daraus wurde nichts; es wurden letztlich im Jahre 1928 beide Monographien im photomechanischen Verfahren nachgedruckt, und Kelsen verfasste lediglich je ein neues Vorwort. Zwar sei in letzter Zeit eine Menge an Literatur zum Verhältnis von Staat und Recht erschienen, so Kelsen, doch habe ihn diese »nicht veranlassen können, meine Anschauungen in irgendeinem Punkte zu revidieren.«1017 Am 8. Februar 1929 hielt Kelsen vor der Berliner Juristischen Gesellschaft einen Vortrag über »Justiz und Verwaltung«. Die klassische Gewaltenteilungslehre wurde von Kelsen scharf kritisiert und die Identität von Recht und Staat hervorgehoben, woraus folge, dass zwischen Justiz und Verwaltung »ein Wesensunterschied […] im Verhältnis zur Gesetzgebung nicht zugegeben werden kann.« Hingegen plädierte er 1010 Kelsen,
Demokratie (1927) 50 = VdD 127 = WRS 1439. aber z. B. Kelsen, Demokratie (1927) 65 = VdD 139 = WRS 1449. 1012 Kelsen, Demokratie (1927) 58 = VdD 133 = WRS 1444. 1013 Kelsen, Demokratie (1927) 67 f. = VdD 142 = WRS 1456. 1014 Ausführlich Dahms, Philosophen (2001) bes. 220; vgl. auch Métall, Kelsen (1969) 47; Mozetič, Stellenwert (2005) 304. 1015 Jestaedt in HKW IV, 785. 1016 Hans Kelsen, Schreiben an J. C. B. Mohr (Siebeck) vom 5. 5. 1926, zit. n. HKW IV, 785. 1017 Kelsen, Staatsbegriff (1928) V. 1011 Siehe
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dafür, von einem Bereich »mittelbarer« und »unmittelbarer Verwaltung« zu sprechen, dann nämlich, wenn sich der Staat nicht darauf beschränke, bestimmte Handlungen zu gebieten oder verbieten, sondern »selbst, also unmittelbar durch seine Organe, die den Kultur‑ oder Machtzweck fördernden Tatbestände setzt.«1018 Der Vortrag stieß auf positives Echo in der Gesellschaft; einer der Zuhörer, der Rechtsanwalt Ernst Schaefer, schrieb, dass sich der Vortrag »aus der Reihe der Veranstaltungen ganz besonders« herausgehoben habe. »Der Wunsch, häufiger Vortragende zu gewinnen, deren Darlegungen grundsätzliche Fragen in so tiefschürfender Weise behandeln, dürfte unter den Mitgliedern allgemein sein.«1019 Nur mehr selten hielt Kelsen nach 1918 noch Vorträge im Rahmen der Volksbildung, um die er sich doch vor dem Krieg so sehr bemüht hatte. Der in der Literatur geäußerten Vermutung, dass die starke Hinwendung des Volksheimes zur Arbeiterbewegung in den 1920er Jahren mit ein Grund dafür gewesen sein könnte, dass sich der stets um parteipolitische Neutralität bemühte Kelsen etwas distanzieren wollte,1020 kann nicht beigepflichtet werden, zumal Kelsen auch sonst kaum Berührungsängste kannte. So sprach er etwa am 19. November 1925 vor der Fachgruppe der Juristen des Verbandes der sozialistischen Studenten an der Universität Wien über »Recht und Rechtswissenschaft«.1021 Es wird wohl vor allem Zeitmangel gewesen sein, dass Kelsen – abgesehen von seinem 1918 gehaltenen Vortrag über »Das Proportionalwahlrecht« in der Wiener Urania1022 – erst im Sommersemester 1922 wieder ins Volksheim zurückkehrte. Er hielt hier vor 95 Hörerinnen und Hörern einen Kurs über »Bürgerkunde«. Für das Sommersemester 1923 kündigte Kelsen zwei Vorträge, einen über »Gott und Staat«, den anderen über »Weltanschauung der Demokratie« an.1023 Und im Studienjahr 1923/24 hielt Kelsen am Pädagogischen Institut der Stadt Wien, einer Lehrerfortbildungsanstalt, eine Vorlesung aus österreichischem Verfassungsrecht.1024 Dann folgte eine Pause von vier Jahren. Im Herbst 1928 aber kehrte Kelsen noch einmal in das Volksheim zurück und hielt am 11. November eine »Festrede aus Anlass der 10. Wiederkehr des Republiktages« sowie am folgenden Tage einen Vortrag zur Republikfeier der staatswissenschaftlichen Fachgruppe.1025 b) »Die erkenntnistheoretische Bedeutung der Naturrechtslehre« Zwei Vorträge Kelsens aus dem Jahr 1928, deren Schriftfassungen zu den bekanntesten und bedeutendsten Arbeiten Kelsens überhaupt zählen, seien an dieser Stelle besonders hervorgehoben. 1018 Kelsen,
Justiz und Verwaltung (1929) 5; 7 = WRS 1465. Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin (2009) 119. 1020 Ehs, Kelsen und politische Bildung (2007) 67. 1021 AZ Nr. 318 v. 19. 11. 1925, 5. 1022 Vgl. dazu schon oben 236. 1023 Ehs, Kelsen und politische Bildung (2007) 62. 1024 Schnell, 100 Jahre Pädagogisches Institut der Stadt Wien (1968) 83. 1025 Ehs, Kelsen und politische Bildung (2007) 62. 1019 Zit. n. Fijal,
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Der chronologisch erste ist der Vortrag über »Die erkenntnistheoretische Bedeutung der Naturrechtslehre«, den Hans Kelsen am 1. Februar 1928 in der Berliner Ortsgruppe der Kantgesellschaft hielt. Er wurde noch im selben Jahr unter verändertem Titel – »Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus« – in wesentlich erweiterter Form als 78 Seiten starkes Heft in der von der Kantgesellschaft herausgegebenen Reihe »Philosophische Vorträge« veröffentlicht. Kelsen betonte allerdings, dass der »Hauptteil der mündlichen Ausführungen« in der Schriftfassung »keine Veränderungen erfahren« habe, nur einige Teile seien »breiter dargestellt worden«.1026 Kelsen hatte sich schon seit längerem mit dem Wesen der beiden Rechtssysteme und ihrem Verhältnis zueinander befasst; fast zur selben Zeit, zu der er seinen Berliner Vortrag hielt, erschien sowohl in der ZÖR als auch in der IZTHR je ein Aufsatz Kelsens zu diesem Thema;1027 der Vortrag zog gewissermaßen die Quintessenz aus beiden Aufsätzen. Sowohl das Wesen des positiven Rechts als auch des Naturrechts wurden von Kelsen zunächst ausführlich beschrieben. Hierbei ortete er im Naturrecht ein »statisches Prinzip«, wonach alle aus dem Naturrecht gewonnenen Normen bereits in einer obersten Norm enthalten seien, so z. B. aus der obersten Norm der Wahrhaftigkeit die konkrete Norm, dass ein Kaufmann die ihm bekannten Mängel der Ware anzuzeigen habe. Dem positiven Recht sei dagegen ein »dynamisches Prinzip« zu eigen, wonach die Grundnorm nur bestimmte Menschen ermächtige, weitere Normen zu setzen, diese wieder die Grundlage für andere Normen geben, und so fort.1028 Kelsen wies nach, dass das Naturrecht zu seiner Verwirklichung auf das positive Recht angewiesen sei, weil zumindest dort, wo der Richter das Recht individualisiere, der Richter ermächtigt werden müsse, selbst eine Norm – das Urteil – auszusprechen. Aber er wies – in bewusstem Widerspruch zu obigem – auch nach, dass positives Recht und Naturrecht nicht nebeneinander gelten könnten, dass auch ein Delegationsverhältnis zwischen Naturrecht und positivem Recht, wie eben beschrieben, logisch unmöglich sei.1029 Einige von Kelsens Anschauungen über das Naturrecht und das positive Recht sind geradezu erstaunlich. So postulierte er eine »absolute Geltung« des Naturrechtes, das – »seiner reinen Idee entsprechend – als eine ewige, unveränderliche Norm auftritt.«1030 Dass die österreichische Naturrechtslehre des 18. und 19. Jahrhunderts 1026 Kelsen,
Naturrechtslehre (1928) 3 = WRS 231. Idee des Naturrechts (1928) = WRS 201–229; Kelsen, Naturrecht (1928) = WRS 177–200. Auch hier werden immer wieder einzelne Formulierungen und ganze Absätze wörtlich von der einen Publikation in die andere übernommen. 1028 Kelsen, Naturrechtslehre (1928) 18 f. = WRS 240 f.; ebenso Kelsen, Naturrecht (1928) 72 f. = WRS 178. – Kelsen verwendet für die oberste Norm des Naturrechts die Bezeichnung »Grundnorm«, was – offenbar gewollte – Assoziationen mit der von ihm selbst entwickelten Idee einer Grundnorm des positiven Rechts hervorruft; in der Sache geht es hier aber eher um die Idee eines »kategorischen Imperatives«, wie er von Kant entwickelt worden war. 1029 Kelsen, Naturrechtslehre (1928) 32 = WRS 250; Kelsen, Naturrecht (1928) 77 = WRS 183; Kelsen, Idee des Naturrechts (1928) 232 = WRS 212. 1030 Kelsen, Naturrechtslehre (1928) 14 = WRS 237. 1027 Kelsen,
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Derartiges niemals behauptet hatte, war ihm durchaus bewusst; ja er warf ihr sogar vor, dass sie das Naturrecht »denaturiert«, zu einer Ideologie des positiven Rechtes gemacht habe.1031 Aber noch bemerkenswerter sind Kelsens Ausführungen zum positiven Recht und insbesondere zu der an seiner Spitze stehenden Grundnorm, die weit über das hinausgingen, was er in früheren Schriften dazu festgehalten hatte: Die »Hypotesis« der Grundnorm habe nämlich eine ganz spezifische Aufgabe: »zwar nicht: eine gerechte Ordnung, aber: eine sinnvolle Ordnung zu begründen.« Dass zwei Normen innerhalb desselben Normensystems bestünden, die einander widersprechen (»a soll« – »non a soll«), war für Kelsen undenkbar; er nahm einen »Satz vom Widerspruch« an, der nach bestimmten Regeln, wie etwa der »lex posterior«-Regel zu lösen sei. Dies sei im positiven Recht nicht explizit ausgesprochen, sondern werde »als selbstverständlich angenommen.«1032 Damit begann Kelsen erstmals, der Grundnorm einen bestimmten Inhalt zu geben, was später von so manchem Kritiker – durchaus mit einiger Berechtigung – als ein Abdriften in Metaphysik kritisiert wurde, wo Kelsen doch sonst, und auch im Berliner Vortrag, selbst so sehr gegen alle metaphysischen Tendenzen auftrat. Der eigentliche Bezug zum Rahmen, in dem Kelsen seinen Vortrag hielt, die Bedeutung Kants für die Rechtswissenschaft, wurde von Kelsen erst ganz am Ende seiner Rede (bzw. von deren publizierter Fassung, aus der allein uns dieser Vortrag bekannt ist) hergestellt. Und sein Urteil war durchaus zwiespältig: Als Rechtsphilosoph sei Kant »in den ausgetretenen Gleisen der Naturrechtslehre geblieben«; seine »Metaphysik der Sitten« sei ein typisches Produkt der Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts. Ganz anders verhalte es sich mit Kants Transzendentalphilosophie: Diese sei »ganz besonders« dazu berufen, »einer positivistischen Rechts‑ und Staatslehre die Grundlage zu bieten«.1033 Damit bekannte sich Kelsen in nicht zu überbietender Eindeutigkeit zum Neukantianismus als der philosophischen Grundlage der Reinen Rechtslehre.1034 Gänzlich neuartig waren die Überlegungen Kelsens zur Wandlung des Weltbildes im Laufe der Menschheitsgeschichte: Der »primitive Mensch« – dieser Begriff wird später von Kelsen noch ausführlich erläutert werden1035 – besaß eine »mythologische Naturanschauung«, indem er überall in der Natur das Wirken einer Gottheit vermutete.1036 Erst allmählich entstand ein Bewusstsein für die Zusammenhänge in der Natur, für die Naturgesetze. Doch die metaphyisch-religiöse Deutung der Welt hörte 1031 Kelsen,
Naturrechtslehre (1928) 34 = WRS 253; Kelsen, Naturrecht (1928) 81 = WRS 187. Naturrechtslehre (1928) 21, 22 = WRS 243. 1033 Kelsen, Naturrechtslehre (1928) 76 = WRS 286. – Schon 1924 hatte Kelsen, in einer Festschrift, die zum 200. Geburtstag Kants (22. 4. 1924) erschien, dessen Staatslehre und insbesondere dessen Lehre von der Gewaltenteilung scharf kritisiert und ihr sein eigenes rechtstheoretisches Modell entgegengehalten: Kelsen, Die Lehre von den drei Gewalten (1924) = WRS 1331–1359. 1034 Dazu Paulson, Toward a Periodization (1990) 36 f. 1035 Unten 647. 1036 Kelsen, Naturrechtslehre (1928) 45 = WRS 262. 1032 Kelsen,
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damit nicht auf, vielmehr entstand ein »metaphysisch-religiöser Dualismus«,1037 der schließlich von einer rein »wissenschaftlichen Weltanschauung« verdrängt werde. Unklar blieb, ob Kelsen hier Entwicklungen der jüngsten Zeit referierte, in eine mögliche Zukunft blickte oder persönliche Wünsche offenbarte. Jedenfalls trete in dieser »wissenschaftlichen Weltanschauung […] an die Stelle der Metaphysik […] die Erkenntniskritik, an Stelle des Transzendenten das Transzendentale.«1038 Diese Ausführungen stehen am Beginn einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung Kelsens mit der Geschichte der Naturrechtslehre. In seinem Nachlass am Hans Kelsen-Institut befinden sich Druckfahnen zu einem Buch über das »Naturrecht der Griechen«, das mit Oktober/November 1928 datiert ist und einen Umfang von 234 Seiten aufweist.1039 Es war für den Berliner Verlag Julius Springer gedacht, erschien dort jedoch niemals. Denn Métall berichtet, dass sich Kelsen »[b]ei der Korrektur der Bürstenabzüge« davon überzeugte, »daß die Naturrechtslehre der alten Griechen nicht ohne den Einfluß dargestellt werden könne, den die griechische Religion auf die Sozialphilosophie ausgeübt hatte.«1040 Also verfasste er ein neues Manuskript über »Die Idee der Gerechtigkeit in Religion und Dichtung der Griechen«, das etwa ein knappes Jahr später, im September/Oktober 1929, gesetzt wurde, das jedoch ebenfalls niemals als solches erschien.1041 Auf die weitere Entwicklung von Kelsens diesbezüglicher Forschungstätigkeit wird weiter unten zurückzukommen sein.1042 c) »Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit« Der zweite besonders bedeutende Vortrag, den Kelsen 1928 hielt, war der über »Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit« auf der 5. Staatsrechtslehrertagung. Diese Tagung fand in Wien statt; Kelsen hatte somit eine Doppelrolle als Referent einerseits, als Gastgeber andererseits. Letztere Funktion wurde auch noch durch den Umstand gestärkt, dass der zweite Wiener Ordinarius für Staatsrecht, Adolf Menzel, kurz vor seiner Emeritierung stand und sich an der Tagung nicht aktiv beteiligte. |b Zu seinem Nachfolger wurde im Juli 1928, drei Monate nach der Tagung, Max Layer aus Graz ernannt. Dass Layer auf der Wiener Tagung, so wie Kelsen, einen Vortrag halten durfte, war für seine Berufung nach Wien sicherlich von Bedeutung.1043 Aus der Korrespondenz zwischen Kelsen und den Vorstandsmitgliedern ist zu erkennen, dass Kelsen um einen besonders prächtigen Rahmen bemüht war, während insbesondere der Vorsitzende, Richard Thoma, die Veranstaltung schlicht halten 1037 Kelsen,
Naturrechtslehre (1928) 48 = WRS 263. Naturrechtslehre (1928) 62 = WRS 275. 1039 Jabloner /Zeleny, Kelsen und die griechischen Philosophen (2006) 3. 1040 Métall, Kelsen (1969) 66. 1041 Jabloner /Zeleny, Kelsen und die griechischen Philosophen (2006) 4. 1042 Unten 647, 693. 1043 Z. 4787, mitgeteilt durch BMf U 21. 7. 1928 Entschließung des Bundespräsidenten vom 10. 7. 1928 Z. 22069, ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 611, Personalakt Layer Max. Aus den Akten ist leider nicht erkennbar, ob der Berufungsvorschlag der Fakultät vor oder nach der Tagung zustande kam. 1038 Kelsen,
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wollte, damit nicht der wissenschaftliche Teil zu kurz komme. So stießen etwa die Vorschläge Kelsens, die Tagung von Bundeskanzler und Unterrichtsminister gemeinsam eröffnen zu lassen, am ersten Tag einen Nachmittagsempfang beim Bundespräsidenten und am zweiten Tag einen Abendempfang beim Bürgermeister zu organisieren, auf wenig Gegenliebe: Kostbare Verhandlungszeit gehe so verloren.1044 Der Auftakt der Tagung sollte nach Wunsch von Thoma, wie üblich, ein zwangloses Abendessen am Sonntagabend in einem Gasthaus sein; Kelsen schlug hier den Gasthof »Deutsches Haus« am Stephansplatz vor, was auch angenommen wurde. Doch ließ es sich Kelsen nicht nehmen, den Wiener Dekan, seinen Schul‑ und Studienkollegen Hans Mayer, zu bitten, bei diesem Treffen zumindest einige Worte zu sprechen. Auch lud Kelsen noch vorher einige Teilnehmer der Tagung in das wesentlich elegantere »Hotel Imperial« zu einem Lunch.1045 Am Montag, dem 23. April 1928, wurde dann die Tagung offiziell eröffnet, zwar ganz ohne Politiker, aber dafür in dem wohl prächtigsten Vortragsraum Wiens: im Festsaal der Akademie der Wissenschaften zu Wien. Auch diese Idee stammte von Kelsen, der gemeint hatte, dass der Festsaal »für diese Zwecke besonders geeignet« sei.1046 Die Tatsache allein, dass der zweite Verhandlungstag im wesentlich kleineren, sog. Kleinen Festsaal der Universität Wien stattfand, zeigt jedoch, dass Kelsen sich für jenen Tag, an dem er selbst sprechen sollte, einen viel zu großen Saal ausgesucht hatte. b| Das Thema des ersten Tages lautete »Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit«; Kelsen hatte hier das zweite Referat zu erstatten, während die Ehre des ersten Referates Heinrich Triepel zukam. Schon diese Konfrontationsstellung |b ließ einiges erwarten, war doch der mittlerweile 60 Jahre alte Berliner Professor, wie bereits erwähnt, der eigentliche Begründer der Deutschen Staatsrechtslehrervereinigung, besaß also schon aus diesem Grund in diesem Gremium besonderes Gewicht.1047 Triepel war aber auch sonst für dieses Thema geeignet wie nur wenig andere, zumal er sich schon seit vielen Jahren für ein richterliches Prüfungsrecht, also für eine Verfassungsgerichtsbarkeit nach amerikanischem Vorbild, stark gemacht hatte und insbesondere auf dem 32. und 33. Deutschen Juristentag (Bamberg 1922, Heidelberg 1924) damit hervorgetreten war.1048 Die Schriftfassung von Kelsens Vortrag, abgedruckt zunächst in Heft 5 der »Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVdStRL)«, 1044 Hans Kelsen, Schreiben an Richard Thoma vom 27. 2 . 1928 und Antwortschreiben vom 29. 2 . 1928, beide in Abschrift in UB Göttingen, Nachlass Smend, Cod. Ms. R. Smend C 2, Pag. 71 f. 1045 Tagungsprogramm in UB Göttingen, Nachlass Smend, Cod. Ms. R. Smend C2, Pag. 75. Die persönliche Einladung zum Lunch (in Form einer handschriftlichen Notiz auf einer Visitenkarte Kelsens) in UB Göttingen, Nachlass Smend, Cod. Ms. R. Smend A 432. 1046 Hans Kelsen, Schreiben an Richard Thoma v. 27. 2 . 1928, Abschrift in UB Göttingen, Nachlass Smend, Cod. Ms. R. Smend C 2, Pag. 71. Es sei an dieser Stelle betont, dass Kelsen zu diesem Zeitpunkt noch nicht Akademiemitglied war; seine Wahl erfolgte erst 1947, dazu unten 769. 1047 Siehe oben 349. 1048 Gassner, Triepel (1999) 128 f., 377; Scheuner, Vereinigung (1972) 365.
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vielfach nachgedruckt und in das Französische, Spanische und Portugiesische übersetzt,1049 gehört zu den bedeutendsten verfassungsrechtlichen Arbeiten Kelsens überhaupt; es lohnt, sie im Kontext mit dem Referat Triepels und der nachfolgenden Diskussion zu lesen, auch wenn es zuweilen den Anschein hat, Triepel und Kelsen referierten zu zwei völlig verschiedenen Themen. Dies wurde von Thoma in der nachfolgenden Diskussion mit dem Bild von zwei »Schneisen« versinnbildlicht, die Triepel und Kelsen in einen Wald geschnitten hätten, um sich in der Mitte zu treffen. Triepel widersprach: »Ich glaube, wir sind uns nicht begegnet« – das Protokoll vermerkt an dieser Stelle: »lebhafte Heiterkeit« – »und ich fürchte, wir werden uns auch niemals begegnen.«1050 Die völlig verschiedenartigen Herangehensweisen der beiden Juristen an ihr Thema waren zu einem guten Teil in ihren unterschiedlichen methodologischen Standpunkten begründet, aber auch darin, dass beide von der Verfassungsrechtslage ihres jeweiligen Heimatlandes ausgegangen waren. Auch wenn sich beide bemühten, zu generellen Formulierungen zu kommen – Triepel im Wege eines historischen und internationalen Rechtsvergleiches, Kelsen im Wege der Abstraktion –, so wurde doch deutlich, dass der Deutsche Triepel bei der Themenstellung stets an den Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich dachte, während der Österreicher Kelsen gleich in seinen Anfangsworten den Begriff »Staatsgerichtsbarkeit« durch »Verfassungsgerichtsbarkeit« ersetzte und in seinen weiteren Ausführungen unzweifelhaft vom österreichischen Verfassungsgerichtshof und dessen wichtigster Kompetenz, der Normprüfungskompetenz, ausging.1051 Auch Triepel hielt den Ausdruck »Verfassungsgerichtsbarkeit« für einen sehr treffenden, aber er fügte doch gleich hinzu, dass es ihm nicht um die Verfassung im formellen, sondern um die Verfassung im materiellen Sinne gehe.1052 Für Triepel war Staatsgerichtsbarkeit notwendigerweise eine politische Gerichtsbarkeit, und er zeigte sich sehr skeptisch, ob eine solche überhaupt möglich war: »Politische Gegensätze werden, auch wenn sie auf einen rechtlichen Nenner gebracht werden können, lieber unüberbrückt gelassen, als der Entscheidung eines Dritten unterworfen«, und er zitierte Bismarck, der sich 1863 einmal dahin geäußert hatte, dass man die politische Zukunft eines Landes nicht vom »Urteilsspruche eines Gerichts« abhängig machen könne.1053 Dennoch verteidigte Triepel die Idee einer Verfassungsgerichtsbarkeit, sah »die richterliche Gewalt als solche schon von Haus aus dazu bestimmt […], ein Gegengewicht sowohl gegen Legislative wie gegen Exekutive 1049 Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit (1929) = HdV 1–57 = WRS 1485–1531. Weitere Nachdrucke und Übersetzungen sind bei Walter /Jabloner /Zeleny, Hans Kelsens stete Aktualität (2003) 156, aufgelistet. 1050 Richard Thoma, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 5 (Berlin–Leipzig 1929) 104; Heinrich Triepel, Diskussionsbeitrag, a. a. O. 116. Vgl. auch Scheuner, Vereinigung (1972) 350. 1051 Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit (1929) 30 = HdV 1 = WRS 1485. 1052 Triepel, Staatsgerichtsbarkeit (1929) 4, 6. 1053 Triepel, Staatsgerichtsbarkeit (1929) 9. Vgl. dazu auch Scheuner, Vereinigung (1972) 360; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III (1999) 194; Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer (2010) 561.
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zu bilden.« Er bewies das mit der langen Tradition der Staatsgerichtsbarkeit, d. h. der Verfahren wegen Ministeranklagen, die allerdings von ihrer Wurzel her mehr straf‑ als verfassungsrechtlichter Natur waren und erst allmählich ihren kriminellen Charakter abgestreift hatten. Nichtsdestoweniger hielt Triepel auch die gerichtliche Kontrolle der Legislative für durchaus sinnvoll, doch sollte ein derartiges Verfahren möglichst objektiv und einem gewöhnlichen Gerichtsprozess möglichst unähnlich sein, wofür er das amerikanische Modell als vorbildlich anpries.1054 Der nun folgende »Mitbericht« Hans Kelsens ging das Thema von einer völlig anderen Seite an: In aller gebotenen Kürze skizzierte er seinen Kollegen das Modell des rechtlichen Stufenbaus, das er gemeinsam mit Adolf J. Merkl entwickelt hatte, und sah in der Verfassungsgerichtsbarkeit eine Garantie dafür, dass die »unmittelbar unter der Verfassung stehenden Rechtsstufen«, also die Gesetze, rechtmäßig seien.1055 Anders als Triepel, der den Begriff »Verfassung« nur in einem materiellen Sinne verstanden wissen wollte, ging Kelsen dabei von einem Verfassungsrecht im formellen Sinne aus1056 – wobei freilich hinzugefügt werden muss, dass Kelsens Vorstellungen von einem materiellen Verfassungsbegriff wesentlich von dem Triepels divergierten, dass also z. B. Triepel die Grundrechte zur Verfassung im materiellen Sinne, Kelsen dagegen zur Verfassung im formellen Sinne zählte; ihre Absicherung durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit wurde von beiden bejaht. Nach Erörterung der allgemeinen Grundlagen ging Kelsen daran, die verschiedenen Möglichkeiten einer Verfassungsgerichtsbarkeit auszuloten, wobei er überall seine Präferenz für das österreichische System erkennen ließ: So sah er es als selbstverständlich an, dass die Befugnis, Gesetze nicht nur für einen Einzelfall, sondern allgemein aufzuheben, »nur einer höchsten Zentralinstanz« zukommen könne.1057 Das Dogma der Gewaltenteilung, das Triepel als förderlich für die Entstehung einer Verfassungsgerichtsbarkeit dargestellt hatte, wurde von Kelsen als ein großes Hindernis gesehen: Denn die traditionelle Lehre sehe in der Rechtsprechnung eine Funktion, die individuelle Normen erzeuge; die Aufhebung von Gesetzen würde jedoch der Setzung genereller Normen gleichkommen. Er selbst sah die Frage, »ob das zur Aufhebung verfassungswidriger Gesetze berufene Organ ein ›Gericht‹ sein kann«, als »ganz belanglos« an; wesentlich sei nur die Unabhängigkeit dieses Organs sowohl gegenüber dem Parlament als auch gegenüber der Regierung und die Zusammensetzung des Organs aus »juristischen Fachmännern«.1058 Und nach eingehender Be1054 Triepel,
Staatsgerichtsbarkeit (1929) 14, 26. Staatsgerichtsbarkeit (1929) 32 f. = HdV 3 = WRS 1487. 1056 Dazu van Ooyen, Funktion (2008) X; Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer (2010) 489. 1057 Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit (1929) 48 = HdV 19 = WRS 1500. Vgl. dazu auch Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer (2010) 538; ihre Aussage, Kelsen habe das richterliche Prüfungsrecht bereits »de lege lata« gesehen, ist allerdings missverständlich, weil Kelsen von der Existenz des Art. 89 Abs. 1 B-VG (und damit von der Unzulässigkeit eines richterlichen Prüfungsrechts in Österreich) ausging. Vgl. dazu auch Neumann, Schmitt (2015) 222. 1058 Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit (1929) 55 f. = HdV 26 = WRS 1506. Nach van Ooyen, Funktion (2008) XIV, kam Kelsen auf diese Weise zu einem neuen, »richtigen« Verständnis von 1055 Kelsen,
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schäftigung mit Prüfungsgegenstand und Prüfungsmaßstab des Verfassungsgerichts hob Kelsen zum grandiosen Finale an: »Die größte Bedeutung aber erlangt die Verfassungsgerichtsbarkeit im Bundesstaat«. Es sei daran erinnert, dass der Übergang zum bundesstaatlichen Prinzip in Österreich überhaupt erst den Anstoß zur Schaffung der Verfassungsgerichtsbarkeit gegeben hatte. Kelsen sah im Bundesstaat »kein staatsmetaphysisches, sondern ganz realistisch ein organisationstechnisches Problem«,1059 in dem eine Verfassungsgerichtsbarkeit nicht nur zweckmäßig, sondern geradezu notwendig sei. Und dieselben »Aufgaben, die sich einem Verfassungsgerichte im Rahmen eines Bundesstaates bieten, lassen besonders deutlich die Verwandtschaft hervortreten, die zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und einer zwischenstaatlichen, der Wahrung des Völkerrechts dienenden Gerichtsbarkeit […] besteht, um deren Garantien es sich handelt. Und so, wie die eine den Krieg zwischen den Völkern überflüssig machen will, bewährt sich die andere – in ihrem letzten Sinne – innerhalb des Einzelstaates als eine Garantie des politischen Friedens.«1060 Den beiden Referaten folgte eine rege Diskussion, an der sich Rudolf Laun (Hamburg), Edgar Tatarin-Tarnheyden (Rostock), Walter Jellinek (Kiel), Adolf J. Merkl (Wien), Richard Thoma (Heidelberg), Heinrich Herrfahrdt (Greifswald), Hermann Heller (Berlin) und Walter Schoenborn (Kiel) beteiligten. Dabei wurden die Begriffe des »Politischen« und der »Verfassung« erörtert, aber auch vor einer »grenzenlosen Ausdehnung der Verfassungsgerichtsbarkeit« gewarnt.1061 So nahm etwa W. Jellinek auf Kelsens Behauptung Bezug, wie »man denn überhaupt von der Verfassung als der obersten Norm sprechen« könne, »wenn nicht das ganze Verfassungswerk gekrönt« werde durch ein Verfassungsgericht, wenn also ein oberstes Staatsorgan verfassungswidrig handeln könne, ohne dass dies Konsequenzen habe: dies müsse aber doch auch für das Verfassungsgericht gelten, welches sich ja ebenfalls verfassungswidrig verhalten könne. »Wer wird die Wächter bewachen?«1062 Vielfach wurde auch Skepsis an Kelsens Rechtsbegriff und seiner Gleichstellung von Recht und Staat laut; Tatarin warf Kelsen vor, von der »Illusion« auszugehen, »daß wir den Rechtsstaat haben und daß dieser Rechtsstaat restlos verwirklicht werden kann, das heißt mit andern Worten, daß der Staat sich völlig deckt mit der Rechtsordnung.«1063 Gewaltenteilung, die durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit sogar noch »vertieft« werde. Vgl. auch Ehs, Verfassungsgerichtsbarkeit (2017) 137. 1059 Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit (1929) 81 = HdV 51 = WRS 1526 f. 1060 Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit (1929) 84 = HdV 54 = WRS 1529. 1061 Hermann Heller, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 5 (Wien–Leipzig 1929) 112; vgl. dazu auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III (1999) 194. 1062 Walter Jellinek, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 5 (Wien–Leipzig 1929) 96. 1063 Edgar Tatarin-Tarnheyden, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 5 (Wien–Leipzig 1929) 91. – Siehe zu dieser Problematik auch Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925) 91, wo er einen »formalen Rechtsstaat« (ein Staat, dessen Akte auf Grund einer Rechtsordnung gesetzt werden – was nach Kelsen auf jeden Staat zutreffe) von einem »materiellen Rechtsstaat« (ein Staat mit Freiheitsrechten, unabhängigen Gerichten, Ministerverantwortlichkeit etc.) unterscheidet, und dazu Dreier, Idee und Gestalt (2014) 26.
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4. Kapitel: Internationaler Ruhm – Anfeindungen in der Heimat
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Am Abend fand ein Empfang im Bundeskanzleramt statt, bei dem zwar nicht Bundeskanzler Seipel, wohl aber der – damals noch im selben Gebäude amtierende – Bundespräsident, Michael Hainisch, ferner die Präsidenten des Verfassungs‑ und des Verwaltungsgerichtshofes, Paul Vittorelli und Maximilian Schuster, zahlreiche weitere staatliche Funktionäre sowie Universitätsprofessoren anwesend waren.1064 Der Gastgeber wurde vom Bundesminister für Justiz, Franz Dinghofer von der Großdeutschen Volkspartei, vertreten, der die Teilnehmer begrüßte und seiner »Genugtuung« darüber Ausdruck verlieh, dass die Deutsche Staatsrechtslehrervereinigung mit ihrer Entscheidung, in Wien eine Tagung abzuhalten, gezeigt habe, »daß Oesterreich und Deutschland in kultureller Beziehung eine untrennbare Einheit bilden, […] deren wir uns ganz besonders auf dem Gebiete der Rechtswissenschaft bewusst sein sollen und bewusst sind.« Er mutmaßte, dass der Tagungsort Wien auch bei der Wahl des Verhandlungsgegenstandes »Verfassungsgerichtsbarkeit« ausschlaggebend gewesen war.1065 Aber genauso hätte sich Dinghofer mit seiner Äußerung auf den zweiten Verhandlungsgegenstand beziehen können, der am Folgetag (Dienstag, 24. April) im Kleinen Festsaal der Universität Wien erörtert wurde, betraf dieser doch die »Überprüfung von Verwaltungsakten durch die ordentlichen Gerichte«, ein Thema, das zu jener Zeit in Österreich nicht nur Gegenstand heftiger wissenschaftlicher Kontroversen war, sondern auch die Tageszeitungen füllte. b| Darüber und auch zur sehr ausführlichen Wortmeldung Kelsens in der Diskussion am zweiten Verhandlungstag wird an anderer Stelle mehr zu berichten sein.1066 Hier sei nur die Vermutung angebracht, |b dass Kelsens Auftreten auf der Wiener Tagung 1928 bei seinen Fachkollegen großen Eindruck hinterließ. Denn als am Schluss der Tagung satzungsgemäß die Mitglieder des Vorstandes neu gewählt wurden, fiel die Wahl auch auf Kelsen, und er behielt diese Funktion bis zur NS-Machtergreifung in Deutschland 1933 bei. In der Fachwelt stand Kelsen nunmehr somit auf dem Zenit seines Ruhmes. Er wird den Abschluss der Tagung – die Staatsrechtslehrer gingen am Dienstagabend noch ins Deutsche Volkstheater, wo man Nestroys »Talisman« gab, und anschließend ins Rathaus zu einem Empfang des Bürgermeisters – sicherlich genossen haben. b|
1064 NFP
Nr. 22847 v. 24. 4. 1928, 6; Reichspost Nr. 114 v. 24. 4. 1928, 4. sich darauf die Charakterisierung Wiens als »Höhle des Löwen« durch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III (1999) 193 bezieht, bleibt unklar. 1066 Unten 450. 1065 Ob
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
5. Kelsen als Gutachter a) Der Abrechnungsgerichtshof und die Frage der Gewaltenteilung Wie berichtet,1067 war Kelsen bis Dezember 1921 beratend für das österreichische Bundeskanzleramt tätig, doch hat diese Tätigkeit – zumindest im Archiv der Republik – keinerlei Spuren hinterlassen. Métall erwähnt diese Tätigkeit in seiner Kelsen-Biographie überhaupt nicht, sondern nennt nur ein Gutachten, das Kelsen im Auftrag der Vorarlberger Landesregierung über die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern erstattet hatte, das jedoch »unauffindbar« sei. Das Ausscheiden aus dem Bundeskanzleramt erfolgte unter ausdrücklicher Berufung auf Kelsens Tätigkeit im VfGH, und dies dürfte, wie auch Métall vermutet, der Hauptgrund dafür gewesen sein, dass Kelsen in den folgenden Jahren auffallend selten als Gutachter tätig war.1068 Einer dieser wenigen Fälle war das Gutachten, das Kelsen 1922 zu verfassungsrechtlichen Fragen rund um den Abrechnungsgerichtshof erstellte. Dieses Gericht war für die Letztentscheidung über sog. Vorkriegsschulden zuständig. Während des Weltkrieges war es zu einem völligen Zahlungsstopp zwischen den Staatsangehörigen der miteinander verfeindeten Mächte gekommen, was besondere Regelungen im Vertrag von St. Germain erforderlich gemacht hatte.1069 Die direkte Bezahlung von vor dem Krieg entstandenen Schulden z. B. von einem Österreicher an einen Briten wurde in diesem Vertrag ausdrücklich untersagt, vielmehr waren alle Schulden vom jeweiligen Staat einzufordern und wurden dann bilateral miteinander verrechnet – mit dem durchaus erwünschten Effekt, dass die Republik Österreich auf diese Weise für die vielen ansonsten uneinbringlichen Forderungen gegen österreichische Staatsbürger haftete.1070 Zur Entscheidung über die im Grunde privatrechtlichen Ansprüche war nach dem österreichischen Vorkriegsschuldengesetz das Abrechnungsamt, eine aus Verwaltungsbehörden und Richtern gemischt zusammengesetzte Behörde zuständig.1071 Gegen deren Entscheidungen war unter gewissen Voraussetzungen eine Beschwerde beim Abrechnungsgerichtshof möglich, der in § 56 Vorkriegsschuldengesetz als »ordentliches Gericht« bezeichnet wurde. Seine Mitglieder sollten vom Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesregierung ernannt werden und »in Ausübung ihres richterlichen Amtes unabhängig« sein. Doch war die Tätigkeit als Richter im Abrechnungsgerichtsamt kein Vollzeitberuf; jedem Fünfersenat sollten zwei Laienrichter und ein Richter aus der ordentlichen Justiz angehören, das vierte Mitglied sowie der Vorsitzende sollten – so wollte es jedenfalls die Regierung – aus dem 1067 Oben
308 f. Kelsen (1969) 119 f. 1069 Art. 248 Vertrag von Saint Germain. Siehe künftig die Kommentierung dieses Artikels durch Pils in: Kalb/Olechowski/Ziegerhofer, St. Germain (in Vorbereitung). 1070 Ausführlich dazu Pils, Artikel 94 B-VG (2014) 162–164. 1071 Kelsen/Froehlich/Merkl, Verfassungsgesetze V (1922) 240. 1068 Métall,
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4. Kapitel: Internationaler Ruhm – Anfeindungen in der Heimat
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Finanzministerium kommen. Damit waren grundlegende Fragen der Gewaltenteilung (Art. 94 B-VG) angesprochen, und wohl über Aufforderung des Finanzministeriums verfasste Kelsen ein mit 27. Februar 1922 datiertes Gutachten. Dieses enthielt einige prinzipielle Feststellungen zum Problem der Gewaltenteilung wie insbesondere die – in der Sache wohl nicht rechtsdogmatische, sondern rechtssoziologische – Überlegung, dass Verwaltungsbeamte viel mehr als Richter dazu neigen, Zweckmäßigkeitsüberlegungen in ihre Entscheidungen einfließen zu lassen. Die Ernennung von Verwaltungsbeamten zu Richtern sei daher problematisch – erfolge allerdings auch z. B. im Falle des VfGH. Dennoch verneinte Kelsen letztlich eine Zulässigkeit der Ernennung von Verwaltungsbeamten zu Richtern des Abrechnungsgerichtshofes.1072 Seine Rechtsansicht konnte sich durchsetzen; zu Richtern wurden keine Finanzbeamte, sondern Richter u. a. des OGH und des VwGH ernannt. Der Vorsitzende des Abrechnungsgerichtshofes, der Ministerialrat im Justizministerium Gustav Walker,1073 trat als Verwaltungsbeamter in den Ruhestand, um sein neues Amt als Gerichtspräsident antreten zu können.1074 b) Die Befugnisse des Generalkommissärs nach den Genfer Protokollen Ebenfalls für die österreichische Regierung wurde Kelsen 1925 im Zusammenhang mit den Genfer Protokollen tätig: Diese Verträge hatten, wie an anderer Stelle schon berichtet,1075 Österreich in die Lage versetzt, die Inflation zu beenden und die Währung zu reformieren, doch hatte im Gegenzug Österreich weitreichende Zusagen für ein Reform‑ und Sanierungsprogramm abgeben müssen. Ein von den Garantiemächten (Großbritannien, Frankreich, Italien, ČSR) beschicktes Kontrollkomitee sowie ein vom Völkerbundrat ernannter Generalkommissär überwachten die Einhaltung dieser Zusagen. Im Dezember 1924 äußerte der Generalkommissär (der Holländer Alfred Zimmermann) gegenüber Bundeskanzler Rudolf Ramek den Wunsch, dass er sich bei seiner Kontrolltätigkeit auch des österreichischen Rechnungshofes bedienen könne. Der Rechnungshof war das Kontrollorgan zur Finanzgebarung der Bundesverwaltung sowie auch von gewissen Unternehmungen, an denen der Bund beteiligt war, unterstand allerdings nicht der Bundesregierung, sondern dem Nationalrat (Art. 121, 122 B-VG 1920). Ob die Bundesregierung dem Rechnungshofpräsidenten eine Weisung erteilen könne, für den Generalkommissär tätig zu werden, war unklar, weshalb Ramek »eine Reihe von Verfassungs‑ und Verwaltungsjuristen« dazu befragte, welche mehrheitlich, »wenn auch nicht einhellig« zum Schluss gekommen waren, dass ein solches Recht unmittelbar aus dem III. Genfer Protokoll abgeleitet werden könne, 1072 Ausführlich
Pils, Artikel 94 B-VG (2014) 166 f. Wien 21. 4. 1868, gest. ebd. 1. 1. 1944, vgl. Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 406–411. 1074 Pils, Artikel 94 B-VG (2014) 168. 1075 Oben 360. 1073 Geb.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
jedoch nur, was die allgemeine Verwaltung betreffe; eine Kontrolle der – in Staatsbesitz befindlichen – Österreichischen Bundesbahnen sei nicht möglich.1076 Zu den befragten Verfassungsjuristen gehörten jedenfalls Kelsen, Merkl und Verdroß, wobei sich Kelsen gegen die genannte Rechtsansicht aussprach, was für Bundeskanzler Ramek besonders bedeutsam schien, nicht wegen Kelsens fachlicher Qualifikation, sondern wegen dessen »Beziehungen zu den Sozialdemokraten« (!). Als schließlich Merkl und Verdroß von ihrer ursprünglichen Ansicht abrückten und sich Kelsen anschlossen, berief Ramek alle Gutachter erneut ein und lies sie »zwei Tage lang nochmals beraten«, worauf sie ein einhelliges Gutachten erstatteten, das dem ersten direkt widersprach: Weder die Bundesregierung noch der Generalkommissär selbst könnten dem Rechnungshofpräsidenten eine Weisung erteilen; weder die Gebarung der allgemeinen Verwaltung noch die der Österreichischen Bundesbahnen könnten auf diese Weise vom Generalkommissär kontrolliert werden.1077 c) Die Wirtschaftskommission 1922 wurde Hans Kelsen vom Hauptverband der Industrie (einer Interessensvertretung der Industriellen auf Vereinsbasis, Vorgänger der heutigen Industriellenvereinigung) gebeten, ein »Bundesgesetz über die Einberufung einer Wirtschaftskommission« auszuarbeiten. Diese Wirtschaftskommission sollte paritätisch aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusammengesetzt sein und vor allem eine beratende Tätigkeit bei der Gesetzgebung in wirtschaftlichen Angelegenheiten vornehmen.1078 In bestimmten Fällen sollte die Bundesregierung sogar verpflichtet sein, Gesetzesvorschläge dieser Kommission an den Nationalrat weiterzuleiten. Kelsen schlug dabei auch vor, dass der Nationalrat mit Zweidrittelbeschluss der Bundesregierung außerordentliche Vollmachten auf wirtschaftspolitischem Gebiete geben könne, und dass dann diese Wirtschaftskommission diesen außerordentlichen Verordnungen ihre Zustimmung geben müsste. Der Entwurf wurde jedoch vom Hauptverband der Industrie selbst abgelehnt.1079 d) Das Gutachten für den Fürsten von Thurn und Taxis Wiederholt erstellte Kelsen Gutachten zu Problemen, die der Zerfall des Habsburgerreiches nach sich gezogen hatte. So erstattete Hans Kelsen im Mai 1924 ein Gutachten zur Frage, ob Fürst Albert I. von Thurn und Taxis, einer der reichsten Adeligen 1076 Ministerratssitzung vom 9. 1. 1925, in: MRP IV/1 (1991) Nr. 361/14. Vgl. zu den Hintergründen Widder, Verfassungsrechtliche Kontrollen (1995) 118 f. 1077 Vgl. die Ausführungen von Rudolf R amek in der Ministerratssitzung vom 16. 1. 1925, in: MRP IV/1 (1991) Nr. 362/6. 1078 Auch in seiner Schrift »Das Problem des Parlamentarismus« hielt es Kelsen für sinnvoll, Berufsorganisationen, wie z. B. die Handels-, Gewerbe‑ oder Arbeiterkammern, zu begutachtenden Tätigkeiten in den Gesetzgebungsprozess einzubinden: Kelsen, Parlamentarismus (1925) 25 = WRS 1372. 1079 Ausführlich Talos, Interessenvermittlung (1995) 383.
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4. Kapitel: Internationaler Ruhm – Anfeindungen in der Heimat
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Europas, die österreichische Staatsbürgerschaft besitze. Der SHS-Staat (Jugoslawien) hatte die auf seinem Territorium befindlichen Güter des Fürsten in Beschlag genommen;1080 es ist anzunehmen, dass der Fürst selbst das Gutachten in Auftrag gegeben hatte, um sich auf Art. 267 des Vertrages von St. Germain, der das Eigentum österreichischer Staatsbürger vor derartigen Sequestrationen schützte, berufen zu können.1081 Kelsen bejahte die österreichische Staatsbürgerschaft und begründete dies damit, dass die Familie Thurn und Taxis 1823 die böhmische Landmannschaft und 1862 die erbliche Reichsratswürde erhalten hatte, was für Kelsen zwingend die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft nach sich gezogen hatte.1082 Als Folge hob der jugoslawische Justizminister die Sequestration der umstrittenen Güter wieder auf – was schwere innenpolitische Folgen hatte.1083 e) Das Gutachten zum liechtensteinischen Landtag Ein anderer ehemaliger Inhaber der erblichen Reichsratswürde war Fürst Johann II. von und zu Liechtenstein, der aber im Unterschied zum Fürsten von Thurn und Taxis auch Staatsoberhaupt eines zwar kleinen, aber souveränen Staates war und es geschafft hatte, diese Position auch nach 1918 zu behaupten. 1921 erhielt das Fürstentum Liechtenstein eine neue Verfassung, blieb aber eine konstitutionelle Monarchie. Der aus 15 Mitgliedern bestehende Landtag wurde von zwei Parteien, der »Christlich-Sozialen Volkspartei« und der »Fortschrittlichen Bürgerpartei« beherrscht. Die Landtagswahlen von 1926 brachten eine Mehrheit für die Volkspartei, weshalb sie allein die Mitglieder der Landesregierung stellte. Ein Finanzskandal wurde dieser Regierung 1928 zum Verhängnis, weshalb der Landesfürst gemäß Art. 48 Landesverfassung den Landtag vorzeitig auflöste und gemäß Art. 50 Neuwahlen ausschrieb, die nun erwartungsgemäß einen Sieg der Bürgerpartei brachten.1084 Die Bürgerpartei stellte sich nun auf den Rechtsstandpunkt, dass 1928 eine völlig neue Legislaturperiode begonnen habe, die vier Jahre, also bis 1932, dauere, während die Volkspartei aus begreiflichen Gründen der Ansicht war, dass der neu gewählte Landtag lediglich den Rest der 1926 angefangenen Legislaturperiode zu vollenden habe, also bereits 1930 wieder Neuwahlen auszuschreiben seien. Dies war 1080 Diese Hintergründe gehen aus einer anonym verfassten Broschüre hervor, in der Kelsens Gutachten scharf kritisiert wurde: Beiträge zur Kritik des Rechtsgutachtens (1925) 7. Vgl. zu Fürst Albert von Thurn und Taxis (geb. Regensburg 8. 5. 1867, gest. ebenda 22. 1. 1952) auch Dallmeier / Schad, Thurn und Taxis (1996) 133–154, bes. 139 zu den Enteignungen in vielen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie. In der vorliegenden Darstellung wird er auch nach 1919 als »Fürst« tituliert, da er außer der österreichischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft besaß und das deutsche Recht – im Unterschied zum österreichischen Recht – die Beibehaltung der Adelsprädikate (nunmehr als Namensbestandteile) weiter gestattete. 1081 Vgl. dazu Bruckner, Stellungsnahme (2014) 63. 1082 Kelsen, Thurn und Taxis-Gutachten 1924. Métall, Kelsen (1969) 120, weist darauf hin, dass die Veröffentlichung des Gutachtens »anonym, ohne Jahres‑ und Ortsangabe« erfolgte. 1083 Lamp, Rezension (1929) 525. 1084 Bussjäger, Liechtenstein (2016) 44. Vgl. zur Rechtslage auch Batliner, Die liechtensteinische Verfassung (1994) 46.
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auch insofern von Bedeutung, als die Verfassung vorsah, dass die Mitglieder der sog. Verwaltungsbeschwerde-Instanz (der Vorläuferin des erst 2003 geschaffenen liechtensteinischen VwGH) für die Dauer einer Legislaturperiode zu bestellen seien und die Bürgerpartei die Verwaltungsbeschwerde-Instanz gleich nach der politischen Wende mit Vertrauenspersonen ihrer Partei besetzt hatte. Ein Rechtsgutachten des Innsbrucker Professors Max Kulisch stützte diesen Standpunkt.1085 Die Gegenseite, also die Volkspartei, holte ein Gutachten Hans Kelsens ein. Dieser erstattete sein Gutachten am 10. September 19291086 und kam zur gegenteiligen Ansicht wie Kulisch, indem er nämlich zwischen einer Legislaturperiode des Landtages und einer Amtsdauer der einzelnen Abgeordneten unterschied. Der Fall, dass der Landtag vorzeitig aufgelöst und neu gewählt werde, sei dem Fall gleichzustellen, dass ein einzelner Abgeordneter vorzeitig ausscheide und eine Ersatzwahl für dieses eine Mandat für den Rest der Legislaturperiode stattfinde. Dementsprechend sei auch die Bestellung der Mitglieder der Verwaltungsbeschwerde-Instanz für vier Jahre verfassungswidrig gewesen. Kelsens Gutachten wurde von der liechtensteinischen Regierung nicht anerkannt, wohl aber von der Volkspartei, deren Abgeordnete am 30. Dezember 1929 erklärten, dass die Legislaturperiode des Landtages 1930 ende und sie daher nicht mehr an an den Sitzungen teilnehmen könnten – woraufhin Neuwahlen für diese Mandate ausgeschrieben wurden, bei denen die Bürgerpartei sämtliche Mandate erlangte und der somit aus einer einzigen Partei bestehende Landtag seine Legislaturperiode bis 1932 fortführte.1087 f ) Das Gutachten zur Entstehung der Tschechoslowakei 1927 erstellte Kelsen im Auftrag der tschechoslowakischen Regierung ein »Gutachten über die Frage der Entstehung des cechoslovakischen [sic] Staates und der cechoslovakischen [sic] Staatsbürgerschaft«.1088 Das Rechtsproblem war ähnlich wie im Falle Thurn und Taxis gelagert: Die ČSR hatte das Vermögen mehrerer Personen beschlagnahmt, bei denen strittig war, ob sie zum Zeitpunkt der Sequestration die ungarische oder die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft besessen hatten.1089 Der Vertrag von Trianon, den die Alliierten und Assoziierten Mächte (darunter auch die ČSR) 1920 mit Ungarn abgeschlossen hatten, sah, so wie der Vertrag von St. Germain mit Österreich, vor, dass die Staatsbürger des ehemaligen Königreiches Ungarns »ipso facto« die Staatsbürgerschaft jenes Landes erwarben, das auf dem Gebiet der jeweiligen 1085 Bussjäger,
Liechtenstein (2016) 45.
1086 Kelsen, Liechtenstein-Gutachten 1929; siehe dazu die Analyse des Gutachtens durch Buss-
jäger, Liechtenstein (2016) 46 f. 1087 Bussjäger, Liechtenstein (1932) 48. 1088 Kelsen, Tschechoslowakei-Gutachten 1927. Vgl. dazu schon Olechowski, Tschechoslowakei (2018). 1089 Siehe die Darstellung des Sachverhaltes in PCIJ, Series C, No. 68 (1933) 32, http://www.icjcij.org/pcij [Zugriff: 02. 05. 2019].
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Heimatgemeinde seine Souveränität ausübe (Artikel 61). Doch konnte man gemäß Art. 63 dieses Vertrages für eine andere Staatsbürgerschaft optieren, wenn man früher in einer entsprechenden Gemeinde das Heimatrecht besessen hatte. Fraglich war nur, ob diese Option eine Wirkung ex tunc oder ex nunc hatte, ob sie also rückwirkend galt oder nicht. Im ersten Fall hätten die Personen, um die es beim Rechtsstreit ging, durchgehend die ungarische Staatsbürgerschaft besessen und daher Beschwerde gegen die Beschlagnahmungen bei einem ungarisch-tschechoslowakischen Schiedsgericht erheben können. Im zweiten Fall wären sie zum Zeitpunkt der Sequestration tschechoslowakische Staatsbürger gewesen, womit es sich um eine innerstaatliche Angelegenheit handelte und das Gericht unzuständig war. In seinem Gutachten stellte Kelsen fest, dass nach Völkergewohnheitsrecht ein Staat entstanden sei, wenn seine drei Elemente: das Staatsgebiet, das Saatsvolk und die Staatsgewalt, gegeben seien, bzw., der Terminologie der Reinen Rechtslehre besser entsprechend, »wenn sich eine relativ souveräne, das heißt nur der Völkerrechtsordnung unterstellte Zwangsordnung bildet, die für einen bestimmten territorialen und personalen Geltungsbereich wirksam wird.«1090 Einer Anerkennung des neuen Staates durch die Völkergemeinschaft könne demgegenüber keine konstitutive Wirkung zukommen; insbesondere sei es unmöglich, dass die ČSR mit dem Vertrag von Trianon rechtlich ins Leben getreten sei: Denn mit wem hätte Ungarn den Vertrag abschließen können, wenn nicht mit einem bereits existierenden Staat? Was aber die Wirksamkeit dieser Ordnung betreffe, so fasste Kelsen kurz die Ereignisse rund um die Entstehung der ČSR und die Arrondierung ihres Territoriums 1918/19 zusammen, und kam zum Schluss, dass die ČSR am 28. Oktober 1918 gegründet worden sei und bereits damals auch das slowakische Siedlungsgebiet beansprucht hätte. Ab Februar 1919 stand die gesamte Slowakei auch unter faktischer Kontrolle der tschechoslowakischen Regierung.1091 Die ČSR war demgemäß berechtigt, die Staatsbürgerschaft der prozessierenden Personen zu bestimmen, und regelte sie in dem Sinne, dass diese die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erwarben. Erst mit ihrer Option gemäß Art. 63 des Vertrages von Trianon wurden sie neuerlich ungarische Staatsbürger. Kelsen verfocht in seinem Gutachten von 1927 eine ganz ähnliche Argumentation wie bei seinem Gutachten zur völkerrechtlichen Stellung Deutschösterreichs 1918. Und wieder konnte er sich mit seinem Standpunkt nicht durchsetzen: Am 21. Dezember 1931 entschied das ungarisch-tschechoslowakische Schiedsgericht, dass die Optanten ihre ungarische Staatsbürgerschaft »bewahrt« hatten, weshalb sie befugt gewesen waren, das Schiedsgericht anzurufen.1092 Gegen dieses (prozessleitende) Zwischenurteil erhob die tschechoslowakische Regierung Berufung beim Ständigen 1090 Kelsen,
Tschechoslowakei-Gutachten 1927, 72. Tschechoslowakei-Gutachten 1927, 89. Bei dieser Darstellung teilte Kelsen eine die ČSR sehr begünstigende Sichtweise der militärischen Auseinandersetzungen mit Ungarn 1918–1920; vgl. dazu Olechowski, Tschechoslowakei (2018) 151. 1092 PCIJ, Series C, No. 68 (1933) 29–32. 1091 Kelsen,
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Internationalen Schiedsgerichtshof in Den Haag, zog ihre Berufung jedoch ohne Angabe von Gründen wieder zurück.1093 Es bleibt unklar, ob sie in der Zwischenzeit eine außergerichtliche Einigung mit den Optanten erzielt hatte oder was sonst die Gründe für diesen Rückzug waren.
6. Im Verfassungsgerichtshof In der Zeit unmittelbar nach Inkrafttreten des B-VG 1920 hatte der VfGH weiterhin in seiner alten personellen Zusammensetzung gearbeitet; erst nach Erlassung eines neuen Verfassungsgerichtshofgesetzes erfolgte im Juli 1921 die Neuwahl seiner Mitglieder. Dabei sah Art. 147 B-VG vor, dass der Präsident, der Vizepräsident sowie die Hälfte der Mitglieder und der Ersatzmitglieder des VfGH vom Nationalrat, die andere Hälfte der Mitglieder und Ersatzmitglieder vom Bundesrat gewählt werden sollten.1094 So wie schon 1919, hatten sich die drei großen Parteien auf ein Proporzsystem geeinigt.1095 Mit Rücksicht auf die neuen Kräfteverhältnisse im Parlament konnten die Christlichsozialen nunmehr vier, die Sozialdemokraten drei, die Großdeutschen lediglich ein Mitglied in den VfGH entsenden; abgeschwächt wurde dies aber damit, dass die beiden Verfassungsrichter Friedrich Engel und Julius Ofner, die 1919 von den Sozialdemokraten bzw. von den Wiener Freiheitlichen nominiert worden waren, diesmal von allen Parteien einvernehmlich nominiert wurden – so wie auch Robert Neumann-Ettenreich und Hans Kelsen, die stets parteipolitisch neutral gewesen waren und auch nun wieder in den VfGH gewählt wurden. Von den neu hinzugetretenen Verfassungsrichtern ist besonders auf die beiden Christlichsozialen Michael Mayr und Rudolf Ramek hinzuweisen – ersterer war bis zum Juni 1921 Bundeskanzler gewesen, letzterer bekleidete dieses Amt erst im Anschluss an seine verfassungsgerichtliche Tätigkeit, 1924–1926 – und kehrte danach wieder in den VfGH zurück. Im übrigen wurden die meisten Verfassungsrichter in ihren Ämtern belassen; Präsident war weiterhin Vittorelli, Vizepräsident weiterhin Menzel.1096 1093 PCIJ,
Series C, No. 68 (1933) 9–29, 278. Wie bisher, sollte der VfGH aus Präsidenten, Vizepräsidenten, zwölf Mitgliedern und sechs Ersatzmitgliedern bestehen: Bundesgesetz v. 13. 7. 1921 BGBl 364 über die Organisation und das Verfahren des Verfassungsgerichtshofes (VfGG 1921) § 1. Die Übergangsregelung war in § 39 des Verfassungsgesetzes v. 1. 10. 1920 BGBl 2 betreffend den Übergang zur bundesstaatlichen Verfassung enthalten. 1095 Vgl. dazu Zeleny, Hans Kelsen als politischer Mensch (2018) 23–25, demzufolge der Einfluss der Parteien auf den VfGH in der Ersten Republik weit größer als in der Zweiten Republik war, weshalb der VfGH in soziologischer Hinsicht »als weniger gerichtsähnlich als im Vergleich zu heute« zu qualifizieren sei. Ehs, Verfassungsgerichtsbarkeit (2017) 136 bezeichnet den VfGH aufgrund seiner Zusammensetzung, in der sich alle Parlamentsparteien wiederfanden, als »honest broker im Institutionengefüge des sich erst stabilisierenden politischen Systems der jungen Republik«. 1096 StPNR 1. GP 1961; StPBR 230; vgl. Walter, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 23; Neschwara, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 358; Neschwara, Verfassungsgerichtshof (2013) 449– 452. 1094
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Abb. 30: Sitzung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, um 1925. In der Mitte Paul Vittorelli; 2. von rechts: Hans Kelsen.
Paul (von) Vittorelli war 1851 in Triest [Trieste/IT] geboren, somit im Jahre 1921 schon 70 Jahre alt. Bis 1918 war er Präsident des Oberlandesgerichtes Wien und dann für zwei Wochen letzter k. k. Justizminister unter Heinrich Lammasch gewesen. Nach eigener Einschätzung weder antisemitisch noch semitophil, wurde der aus altem italienischen Adel stammende Jurist während der Zeit seiner Amtsführung als Präsident des VfGH immer wieder verdächtigt, mit den Sozialdemokraten zu sympathisieren,1097 was eher ein Indiz dafür sein dürfte, dass er ehrlich um parteipolitische Neutralität bemüht war. Vittorelli führte am VfGH den usus ein, dass sich Präsident, Vizepräsident und ständige Referenten auch außerhalb der ordentlichen Sessionen zu wöchentlichen »Haussitzungen« trafen, »zwecks Besprechung zweifelhafterer Fälle«, Maßnahmen »für die einheitliche Behandlung bestimmter Fälle« und anderer Angelegenheiten.1098 Zu diesen ständigen Referenten zählte auch Hans Kelsen. Als solcher hatte er jene Rechtssachen, die ihm der Präsident zuwies, für die nächste Sitzung des VfGH vorzubereiten – wobei der Präsident an keine Regeln gebunden war, welchen Referenten er mit welchem Fall betraute. Üblicherweise erstattete der Referent in der Session den versammelten Mitgliedern nicht nur Bericht, sondern erstellte auch gleich einen Vorschlag für das zu fällende Erkenntnis, über das dann abgestimmt wurde. Mit der Bestellung zum ständigen Referenten – eine Position, die Kelsen bis zu seinem erzwungenen Ausscheiden aus dem VfGH 1930 behielt1099 – war also ein erheblicher 1097 Ladenbauer,
Vittorelli (1997) 186, 209. Vittorelli, Autobiographie, zit. n. Ladenbauer, Vittorelli (1997) 200. 1099 Kelsen, Autobiographie (1947) 28 = HKW I, 67. Er nennt dort das Jahr 1929, das sich aber wohl nicht auf sein Ausscheiden aus dem VfGH, sondern auf die Verfassungsreform, die dazu die juristische Grundlage gab, bezieht. 1098 Paul
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Mehraufwand, aber auch ein verstärkter Einfluss auf die Judikatur des VfGH verbunden. Auch gebührte den ständigen Referenten für ihre Tätigkeit eine »Geldentschädigung« im Ausmaß derjenigen eines Abgeordneten zum Nationalrat, d. h. in Höhe von 20.232 Kronen pro Jahr.1100 Kelsen war eines der aktivsten Mitglieder des VfGH, und es ist erstaunlich, wie sehr sich seine richterliche von seiner wissenschaftlichen Tätigkeit unterschied.1101 »Er setzt das ganze Instrumentarium traditioneller Jurisprudenz ein, das er als Rechtswissenschafter als unwissenschaftlich vor die Türe weist, und er zeigt dabei, dass er auch diese Instrumente besser beherrscht als die anderen. […] Er klebt nicht am Wortlaut, er argumentiert primär systematisch und teleologisch, ganz selten historisch, er nimmt für den Gerichtshof rechtsschöpferische Kompetenzen in Anspruch und verteidigt dies gegenüber seinen Richterkollegen.«1102 Der Einfluss der Reinen Rechtslehre zeigt sich allenfalls dann, wenn er Subsumtionen für beliebig hält, möglicherweise auch in seiner »Ergebnisblindheit«, was die Lösung von Kompetenzkonflikten betrifft1103 – letzteres sollte dann in seinem folgenschwersten Erkenntnis Nr. 878, dem »Dispensehenerkenntnis«, verhängnisvolle Auswirkungen haben, worauf noch ausführlich einzugehen ist. Soweit es die Quellenlage erkennen lässt, hatte Hans Kelsen zu den meisten übrigen Richtern im VfGH ein gutes kollegiales, teilweise auch freundschaftliches Verhältnis, und zwar – auch dies wieder typisch für Kelsen – über fachliche und Parteigrenzen hinweg. Dies gilt insbesondere für den 1919 von deutschnationaler Seite, 1921 aber von allen Parteien einvernehmlich nominierten Richter Julius Ofner. Dieser, 1845 in Horschenz in Böhmen [Hořenec/CZ] geboren und somit bei Konstituierung des deutschösterreichischen VfGH 1919 bereits 73 Jahre alt, ist bis heute jedem österreichischen Juristen bekannt durch seine Edition der Beratungsprotokolle des ABGB. Weniger bekannt ist, dass der bis zu seinem Tod am mosaischen Glauben festhaltende Rechtsanwalt auch im niederösterreichischen Landtag, im Reichsrat und in der ProvNV aktiv war und dort segensreich wirkte.1104 U.a. tragen sowohl das Zensurverbot 1918 als auch das Verbot der Kinderarbeit 1918 die inoffizielle Bezeichnung »lex Ofner«.1105 Von den rechtsphilosophischen Ansichten Kelsens trennten Ofner Welten, war Ofner doch der Überzeugung, dass es »soziale Naturgesetze gibt, und daß man mit ihrer Erlaubnis sich auch des richtigen Rechtes bemächtigt, die Entscheidung dessen findet, 1100 VfGG 1921 § 4; Bezügegesetz v. 7. 1 2. 1920 BGBl 32 § 1; Besoldungsgesetz v. 13. 7. 1921 BGBl 376, Anhang. Eine seriöse Angabe, was dies nach heutiger Kaufkraft bedeuten würde, ist angesichts der damaligen Inflation unmöglich. 1101 Dies übersieht Öhlinger, Kelsen (2008) 417. 1102 So die – zutreffende – Beurteilung durch Wiederin, Verfassungsgerichtshof (2014) 304, der sich dabei auf die bei Walter, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) dargestellten Fälle stützt, während Walter selbst wesentlich zurückhaltender bei der Beurteilung von Kelsens Tätigkeit war. Vgl. auch Ehs, Verfassungsgerichtsbarkeit (2017) 139, die im Wesentlichen Wiederin zustimmt. 1103 Wiederin, Verfassungsgerichtshof (2014) 305. 1104 Andreas Thier, Ofner Julius, in: NDB XIX (Berlin 1999) 485. 1105 Beschluss der ProvNV v. 30. 10. 1918 StGBl 3; Gesetz v. 19. 1 2. 1918 StGBl 141 über die Kinderarbeit; vgl. Olechowski, Preßrecht (2004) 667.
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was gebührt.«1106 Das hinderte Kelsen jedoch nicht, Ofners 1923 erschienene Monographie »Das soziale Rechtsdenken« äußerst wohlwollend in der »Neuen Freien Presse« anzuzeigen und ihn als den »Altmeister österreichischer Jurisprudenz« zu bezeichnen. Ohne irgendeinen Spott erklärte Kelsen, dass Ofners Ansichten über das Recht von einem »radikalen Optimismus, […] einem unerschütterlichen Glauben an die Güte des Menschen – diesem Reflex der eigenen Güte des Gläubigen« – geprägt seien. Er stimmte mit Ofners rechtspolitischen Forderungen nach einem menschenwürdigen Leben für so viele Menschen wie möglich, nach Freiheit und Gleichheit überein. Lediglich, wie diese Ziele erreicht werden können und ob sie überhaupt erreicht werden können, darüber könne Uneinigkeit bestehen – das war aber schon alles, was Kelsen an Kritik gegen Ofner vorbringen wollte.1107 Als Ofner 1924 starb, wurde an seiner Stelle Max Layer zum Mitglied des VfGH gewählt; auch zu ihm hatte Kelsen ein sehr gutes Verhältnis. Als schwierig muss demgegenüber das Verhältnis Kelsens zu seinem Kollegen im VfGH Friedrich Austerlitz bezeichnet werden. Dieser, 1862 in Hochlieben in Böhmen [Libeň Vysoká/CZ] geboren und somit ebenfalls schon in fortgeschrittenem Alter, war von 1895 bis zu seinem Tod 1931 Chefredakteur der »Arbeiter-Zeitung«, des offiziellen Organs der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei.1108 Er hatte niemals maturiert, geschweige denn studiert, sich aber im autodidaktischen Weg ein beachtliches juristisches Wissen angeeignet. Zu einem Konflikt mit Kelsen kam es insbesondere bei der Debatte über die Wiener Hausbesorgerordnung, die vom VfGH 1922 aufgehoben wurde, weil die dort geregelte Materie großteils nicht in die Kompetenz des Landes-, sondern des Bundesgesetzgebers fiel. Austerlitz versuchte, die Hausbesorgerordnung, die diesem Beruf einen großen sozialen Fortschritt gebracht hatte, zu retten, während Kelsen streng juristisch argumentierte, sodass ihm bis auf Austerlitz alle sozialdemokratischen Richter folgten.1109 Viele Erkenntnisse des VfGH hatten weitreichende politische Folgen, und es ist bemerkenswert, dass Kelsen hier – im Gegensatz zu einigen anderen Kollegen – keine Scheu hatte, in die politischen Kämpfe der Ersten Republik einzugreifen.1110 Hervorzuheben sind an dieser Stelle zunächst die beiden staatsgerichtlichen Verfahren gegen den Bürgermeister und Landeshauptmann von Wien, Jakob Reumann. Als einziger Sozialdemokrat unter den neun österreichischen Landeshauptleuten hatte er gegenüber seinen bürgerlichen Amtskollegen, vor allem aber gegenüber der bürgerlichen Bundesregierung immer einen schwierigen Stand; viele sozialdemokratische Reformen, die auf Bundesebene seit dem Ausscheiden der Sozialdemokraten aus der 1106 Julius Ofner, zit. n. Kelsen, Ofner (1923) 17. Vgl. zur »sozialen Jurisprudenz« Ofners auch Goller, Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1997) 125–131. 1107 Kelsen, Ofner (1923) 17. 1108 ÖBL, 1. Lfg. (Wien 1954) 38. 1109 Walter, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 27; VfGH 14. 3. 1922 G 1/22, VfSlg 90. 1110 Demgegenüber meint Ehs, Verfassungsgerichtsbarkeit (2017) 135, dass es »Kelsens Auffassung von Verfassungsgerichtsbarkeit« widersprach, »den VfGH als Spielball zwischen Bund und Ländern – und damit zwischen den Großparteien – zu sehen.«
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Bundesregierung 1920 nicht möglich waren, wurden nun eben in Wien allein durchgeführt, was allerdings oft auf rechtliche Grenzen stieß. Dies beweist etwa das eben erwähnte Beispiel der Hausbesorgerordnung. Am 12. Jänner 1921 erteilte Reumann die Bewilligung, dass das Bühnenwerk »Reigen« von Arthur Schnitzler am Deutschen Volkstheater (bzw. an dessen damaliger Nebenbühne, den »Kammerspielen«) erstmals aufgeführt werde. Das schon 1903 verfasste Drama, das insbesondere die Doppelmoral der gehobenen Gesellschaft anprangerte, hatte wegen seines angeblich anstößigen Inhaltes bis 1918 nicht aufgeführt werden dürfen; seine Uraufführung in Berlin 1920 hatte zu einem Skandal geführt, und dieser blieb auch nach der Wiener Erstaufführung am 1. Februar 1921 nicht aus.1111 Der Bundesminister für Inneres und Unterricht, Egon Glanz, bat den Wiener Landeshauptmann am 7. Februar, »die Angelegenheit […] überprüfen« zu wollen, es folgten am 10. Februar ein an den »Magistrat in Wien als politische Landesbehörde, Abt. 55« gerichtetes Schreiben, sowie am 12. Februar ein direktes Schreiben des Bundesministers an den Landeshauptmann, in denen die weitere Aufführung des »Reigen« ausdrücklich untersagt wurde (wobei jedoch das zuletzt genannte Schreiben, offenbar durch ein Versehen des Bundesministers, keine Unterschrift trug).1112 Reumann leistete keiner dieser Aufforderungen Folge, vielmehr erklärte er im Gemeinderat, dass »[k]ein Skandal der Welt« ihn »dazu bringen« werde, »dass ich die Aufführungen des ›Reigen‹ verbiete.«1113 Hierauf erhob die Bundesregierung Anklage gegen Reumann nach Art. 142 B-VG vor dem VfGH.1114 Dieser Artikel regelte die sog. Ministeranklage, wonach – wie in konstitutionellen Staaten typisch – ein Minister vom Parlament wegen Rechtsverletzungen angeklagt werden konnte, seit 1920 aber auch Landeshauptleute von der Bundesregierung, wenn sie deren »Anordnungen […] in Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung« nicht befolgt hatten. Zu diesen Angelegenheiten zählte auch die Theaterzensur. Indem der VfGH im Falle einer Verurteilung den Minister bzw. den Landeshauptmann auch seines Amtes entheben konnte, stellte dieses Instrument, wie Kelsen bei anderer Gelegenheit betonte, eine »starke Einschränkung des bundesstaatlichen Prinzips« dar; in der Weimarer Republik z. B. existierte kein Pendant.1115 Mit ihrer Anklageschrift mutete die Bundesregierung dem VfGH eine Entscheidung mit weitreichenden politischen Folgen zu, doch Kelsen gelang es in der entscheidenden Sitzung des VfGH vom 26. April 1921, 1111 Die seriösen Wiener Zeitungen hielten sich in der Berichterstattung in dieser Angelegenheit auffallend zurück, vgl. aber das Feuilleton in der NFP Nr. 20270 v. 2. 2 . 1921, 1–3; vgl. auch Maderthaner, Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945 (2006) 263. 1112 Die Originalschreiben befinden sich im Gerichtsakt: ÖStA, AdR, Höchstgerichte 1. Rep., VfGH, Karton 71, E 1/21, pag 10–15. 1113 Jakob Reumann in der Wiener Gemeinderatssitzung v. 11. 2 . 1921, zit. n. Wiener Zeitung Nr. 34 v. 12. 2 . 1921, 6. 1114 Anklageschrift der Bundesregierung v. 18. 2 . 1921, in ÖStA, AdR, Höchstgerichte 1. Rep., VfGH, Karton 71, E 1/21, pag 19 u 26–30. 1115 Protokoll über die nichtöffentliche Sitzung des VfGH v. 27. 3. 1923, in ÖStA, AdR, Höchstgerichte 1. Rep., VfGH, Karton 71, E 1/23, pag 36–39, hier pag 37r.
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4. Kapitel: Internationaler Ruhm – Anfeindungen in der Heimat
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einen Ausweg zu finden: Denn das genannte Schreiben des Ministers vom 7. Februar enthielt nach Ansicht Kelsens keine verbindliche Weisung, sondern bloß eine rechtlich unverbindliche »Bitte«; das Schreiben vom 10. Februar war verfassungswidrig, weil nicht an den Landeshauptmann, sondern an die ihm untergeordnete Behörde, den Magistrat der Stadt Wien gerichtet, und daher gleichfalls nicht zu beachten. Lediglich das Schreiben vom 12. Februar hätte theoretisch eine »korrekte Verfügung« sein können, an die der Landeshauptmann gebunden gewesen wäre. »Aber leider sei dieser Befehl kein Befehl, sondern durch eine unerhörte Schlamperei jeder Rechtsverbindlichkeit beraubt, weil er keine Unterschrift trage«, erklärte Kelsen, weshalb er »für die Freisprechung des Angeklagten« stimmte.1116 Dem schlossen sich die übrigen Mitglieder an; Reumann wurde freigesprochen.1117 Aber schon knapp zwei Jahre später erfolgte wieder eine Anklage gegen Reumann, und abermals wegen angeblicher Nichtbefolgung einer Weisung, wobei die Bundesregierung diesmal penibel darauf geachtet hatte, dass die Weisung formell korrekt erlassen worden war. Diesmal stammte sie von Sozialminister Richard Schmitz und hatte zum Inhalt, der Landeshauptmann solle die Inbetriebnahme des neu errichteten Krematoriums in Wien-Simmering verbieten, da die Verbrennung von Leichen in Österreich gesetzwidrig sei.1118 Juristisches Kernproblem, mit dem sich der VfGH zu befassen hatte, war weniger die Frage, ob dieses Feuerbestattungsverbot tatsächlich in Österreich gelte (Kelsen und die Mehrzahl der Verfassungsrichter verneinten es), sondern vielmehr, ob das Bestattungswesen in den Bereich der Landesverwaltung oder der mittelbaren Bundesverwaltung gehöre, denn nur im zweiten Fall waren Weisungen von Bundesministern an Landeshauptleute überhaupt zulässig. Da im Jahr 1923 noch eine Reihe von Übergangsbestimmungen zum B-VG galten, die auf das Recht der Monarchie (im konkreten Fall auf das Reichssanitätsgesetz 18701119) verwiesen, war die Rechtslage außerordentlich verwickelt. Und so erklärte Kelsen in der beratenden Sitzung, dass er zwar persönlich der Ansicht sei, dass es sich beim Begräbniswesen nicht (wie von Reumann behauptet) um eine autonome Landessache, sondern tatsächlich (wie von der Bundesregierung behauptet) um eine Sache der mittelbaren Bundesverwaltung handle, mithin die Weisung zulässig gewesen war. »Aber der Wortlaut des Reichssanitätsgesetzes ist sehr zweifelhaft. […] Ich glaube, dass der Landeshauptmann in gutem Glauben gehandelt hat; er konnte glauben, dass
1116 Protokoll der nichtöffentlichen Sitzung des VfGH v. 26. 4. 1921, in ÖStA, AdR, Höchstgerichte 1. Rep., VfGH, Karton 71, E 1/21, pag 131v. 1117 VfGH 26. 4. 1921 E 1/21 VfSlg 8. Das Protokoll enthält keinen Vermerk, welche Richter für und welche gegen den Freispruch waren, er erfolgte offenbar einstimmig. 1118 Anklageschrift der Bundesregierung 14. 2 . 1923, in ÖStA, AdR, Höchstgerichte 1. Rep., VfGH, Karton 71, E 1/23, pag 4–13 u 21. Die Weisung vom 16. 1 2. 1922 ist im vollen Wortlaut abgedruckt in der AZ Nr. 339 v. 17. 1 2. 1922, 2; vgl. ferner die Berichterstattung über die Eröffnung des Krematoriums in der AZ Nr. 340 v. 18. 1 2. 1922. Zu den Hintergründen vgl. auch Maderthaner, Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945 (2006) 377 (dort irrtümlich »Oberster Gerichtshof« statt VfGH). 1119 Gesetz v. 30. 4. 1870 RGBl 68 betreffend die Organisation des öffentlichen Sanitätsdienstes.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
es sich um den eigenen Wirkungsbereich handelt.«1120 Kelsens Amtskollege Julius Sylvester brachte dann die Formulierung, dass der Landeshauptmann einem »entschuldbaren Rechtsirrtum« erlegen sei, wofür bei der Abstimmung exakt die Hälfte der Mitglieder votierte, weshalb Präsident Vittorelli mit seinem Dirimierungsrecht den Ausschlag für »nicht schuldig« gab.1121 Erneut wurde der Landeshauptmann von der Anklage freigesprochen.1122 Wie bereits erwähnt,1123 konnten mit 1. Oktober 1925 die Bestimmungen des B-VG über die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern (Art. 10–15 B-VG) endlich in Kraft treten; und zugleich erhielt der VfGH das Recht, auf Antrag der Bundes‑ oder einer Landesregierung auch abstrakt, ohne dass es eines realen Kompetenzkonfliktes bedurfte, festzustellen, ob ein Akt der Gesetzgebung oder Vollziehung in die Zuständigkeit des Bundes oder der Länder falle (abstrakte Kompetenzfeststellung).1124 Da nach den neuen Kompetenzbestimmungen u. a. das Kinowesen sowohl in Gesetzgebung als auch Vollziehung Landessache war, beschloss der Wiener Landtag 1926 ein neues Kinogesetz, das eine Reihe von Befugnissen, die bis dahin der Bundespolizei zugestanden waren, insbesondere die Konzessionserteilung für neue Kinos, dem Wiener Magistrat übertrug.1125 Da jedoch der im Verfassungsrang stehende § 10 Verfassungs-Übergangsgesetz 1920 bestimmte, dass die Polizeibehörden ihre bisherigen Geschäfte als Bundesgeschäfte fortführen sollten, behauptete die Bundesregierung eine Verfassungswidrigkeit von großen Teilen des Kinogesetzes und stellte einen Prüfungsantrag beim VfGH. Referent in dieser Sache war Kelsen, der die behauptete Verfassungswidrigkeit nicht bestätigte: Bei § 10 Verfassungs-Übergangsgesetz handelte es sich seines Erachtens nur um eine Übergangsbestimmung für die Zeit, bis die Aufteilung der Kompetenzen nach Art. 10–15 B-VG in volle Wirksamkeit treten konnten; folgte man jedoch der Rechtsauffassung der Bundesregierung, so würde § 10 eine dauerhafte, fünfte Form der Kompetenzaufteilung bedeuten, wonach in gewissen Angelegenheiten die Gesetzgebung Landessache, die Vollziehung Bundessache sei, und sogar so stark wirken, dass sie die Landesgesetzgebung auch inhaltlich zwinge, die Vollzugskompetenz der Bundespolizei nicht einzuschränken. Kelsen argumentierte hier stark von der Gesetzessystematik her und verwarf den Antrag der Bundesregierung, zwecks Ermittlung des wahren Willens des historischen Gesetzgebers ehemalige Abgeordnete zu befragen.1126 Gegen die Stimmen der christ1120 Protokoll über die nichtöffentliche Sitzung des VfGH 27. 3. 1923, in ÖStA, AdR, Höchstgerichte 1. Rep., VfGH, Karton 71, E 1/23, pag 36–39, hier pag 37r. 1121 Protokoll über die nichtöffentliche Sitzung des VfGH 27. 3. 1923, in ÖStA, AdR, Höchstgerichte 1. Rep., VfGH, Karton 71, E 1/23, pag 39r. 1122 VfGH 27. 3. 1923 E 1/23 VfSlg 206. 1123 Oben 361. 1124 Bundes-Verfassungsgesetz 1920 idF BGBl 1925/268, Art. 138 Abs. 2. 1125 Wiener Kinogesetz v. 11. 6. 1926 Wr LGBl 35. 1126 In der nichtöffentlichen Sitzung vom 17. 1 2. 1926, in der über das Erkenntnis beraten wurde, erklärte Kelsen, dass der Antrag »von einer gewissen Relevanz sei, doch könne er sich an den vom Regierungsvertreter gezeichneten Werdegang des § 10 nicht erinnern.« Diese Erklärung steht in
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lichsozialen Verfassungsrichter erkannte der VfGH daher, dass § 10 Verfassungs-Übergangsgesetz durch Landesgesetz abänderbar, das Wiener Kinogesetz somit nicht bundesverfassungswidrig sei.1127 Auch dieses Erkenntnis hatte weitreichende politische Folgen, zumal es den Ländern die Macht zuerkannt hatte, den Wirkungskreis der Bundespolizei einzuschränken, woraus sich die Frage ergab, ob die Länder eigene Polizeiwachkörper einrichten dürften. Vor allem nach den Ereignissen rund um den Justizpalastbrand 1927 – auf die an anderer Stelle noch ausführlich einzugehen ist1128 – wollte die bürgerliche Bundesregierung unter Ignaz Seipel die Errichtung einer (bewaffneten!) Wiener Landespolizei duch die sozialdemokratische Wiener Landesregierung um jeden Preis verhindern. Gerade in jene Zeit fiel aber auch der Ablauf einer bundesverfassungsrechtlich geregelten Frist, wonach Bundesgesetze über gewisse Angelegenheiten, insbesondere auch solche über die Straßenpolizei, in Grundsatzgesetze (Art. 12 B-VG) umzuwandeln seien, die den Ländern die Möglichkeit geben sollten, Ausführungsgesetze zu erlassen. Die Bundesregierung brachte daraufhin eine Regierungsvorlage für ein derartiges Grundsatzgesetz ein, das aber festschrieb, dass zur unmittelbaren Überwachung der straßenpolizeilichen Vorschriften (nur) die Bundespolizei zuständig sein sollte.1129 Die Wiener Landesregierung machte daraufhin von ihrem seit 1925 bestehenden Recht, beim VfGH eine abstrakte Kompetenzfeststellung zu erwirken (Art. 138 Abs. 2 B-VG), Gebrauch. Sie richtete an den VfGH die Anfrage, ob es zulässig sei, dass ein Bundesgrundsatzgesetz eine Bestimmung enthalte, welche Behörden zur Vollziehung zuständig seien. Der VfGH nahm dies zum Anlass zu einigen grundsätzlichen Feststellungen zur bundesstaatlichen Struktur Österreichs und erkannte, dass es dem »Sinne und dem Geiste der Bundes-Verfassung« widerspreche, wenn der Bund im Bereich der Bundesgrundsatzgesetzgebung nach Art. 12 B-VG Bundesorgane mit der Vollziehung betrauen könne.1130 Abermals hatte das »Rote Wien« einen Sieg über die »schwarze« Bundesregierung errungen; Kelsen selbst vermerkt zu diesem Erkenntnis in seiner Autobiographie, dass der VfGH dadurch »mit der Regierung in Konflikt geraten« war und dass dies – neben der Judikatur zu den Dispensehen, auf die noch ausführlich einzugehen ist – mit ein Grund für dessen spätere »Beseitigung« war (womit er auf die personelle Neuzusammensetzung des VfGH im Jahr 1930 anspielte).1131 einem gewissen Spannungsverhältnis zum gleich darauf folgenden Antrag Kelsens, dem Antrag nicht stattzugeben: ÖStA, AdR, Höchstgerichte 1. Rep., VfGH, Karton 72, G 1/26, 49. 1127 VfGH 17. 1 2. 1926 G 1/26 VfSlg 720; vgl. Walter, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 30 f.; zu den Hintergründen Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 479 f. 1128 Unten 458. 1129 Entwurf eines Bundesgesetzes über Grundsätze der Straßenpolizei, soweit sie sich nicht auf Bundesstraßen bezieht: 139 BlgNR 3. GP; vgl. bes. § 52. 1130 VfGH 19. 6. 1928 K I 1/28 VfSlg 1030, BGBl 1928/171; vgl. Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 481. Auf die weiteren Folgen dieses Erkenntnisses, auch auf das Folgeerkenntnis VfSlg 1114, braucht hier nicht eingegangen zu werden. 1131 Kelsen, Autobiographie (1947) 28 = HKW I, 68 f.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Schon jetzt kann aber erkannt werden, dass der VfGH eine zentrale Rolle in den parteipolitischen Streitigkeiten der Ersten Republik einnahm, und das Abstimmungsverhalten der Richter zeigt immer wieder, dass die von den Parteien nominierten Richter einer Art »Klubzwang« folgten. Gerade dadurch aber wurden die parteifreien Richter, wie insbesondere Kelsen, zum Zünglein an der Waage und mussten eben deshalb früher oder später in den Brennpunkt der Politik geraten. Bemerkenswerterweise war es aber kaum die (aus rechtstheoretischer Sicht bahnbrechende) Einführung der Normenkontrolle, die für politischen Zündstoff sorgte, sondern waren es eher die Funktionen des VfGH als Staatsgerichtshof und als Kompetenzgerichtshof, die den VfGH immer wieder dazu brachten, direkt in parteipolitische Konflikte einzugreifen. Dies unterschied den österreichischen VfGH ganz wesentlich vom tschechoslowakischen Verfassungsgericht, das über eine einzige Kompetenz, die Normenkontrolle, verfügte und auch hier nur auf Antrag einiger weniger Organe tätig werden konnte. Bis 1938 wurde es lediglich einmal (am 7. November 1922) tätig, danach unterließen es die Antragsberechtigten, weitere Normprüfungsverfahren zu initiieren.1132 Gerade dieser Vergleich zeigt, wie bedeutsam die – von Kelsen in das B-VG monierte – Kompetenz des VfGH zur inzidenten Normenkontrolle in Kombination mit den übrigen Kompetenzen des VwGH, insbesondere zur Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit in Grundrechtssachen, war! Mit Rücksicht darauf, dass die Verfassungsurkunde der ČSR vom 29. 2. 1920, das österreichische B-VG vom 1. 10. 1920 datiert, kann füglich darüber gestritten werden, welches der beiden Gerichte das ältere ist (hinzuweisen ist immerhin auf die Normenkontrollkompetenz des österreichischen VfGH nach dem Gesetz vom 14. 3. 1919). Mit Rücksicht auf die äußerst geringe praktische Bedeutung des tschechoslowakischen Verfassungsgerichts jedoch ist es gerechtfertigt, den österreichischen VfGH als eine in der Zwischenkriegszeit praktisch einzigartige Einrichtung zu bezeichnen. Sie wurde weltweit bewundert und erfuhr, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, vielfache Nachahmung.
1132 Erst 1939, also bereits zur Zeit der deutschen Besatzung, erfolgte eine weitere Entscheidung, vgl. Osterkamp, Verfassungshüter (2011) 287. Das Urteil vom 7. 11. 1922 wurde in der Literatur vielfach besprochen, vgl. insbesondere Kelsen, Das Verhältnis von Gesetz und Verordnung (1923) und dazu Olechowski/Busch, Kelsen als Professor an der Deutschen Universität Prag (2010) 1111 f.
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Fünftes Kapitel
Der Sturz Kelsens 1. Der Streit um das Eherecht Wenn Hans Kelsen im Jahr 1927 auf seine erste Lebenshälfte zurückblickte (er selbst konnte freilich nicht wissen, dass er sich nunmehr exakt in der Mitte seiner 92 Erdenjahre befand), so hatte er allen Anlass, zufrieden zu sein: Er war jetzt 46 Jahre alt und damit – nach Verdroß – der zweitjüngste unter den ordentlichen Professoren der Wiener rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät, zugleich aber der mit Abstand berühmteste. Er war ein Wissenschaftler von internationalem Ruf, Mitbegründer und ‑herausgeber zweier Zeitschriften sowie Verfasser einer Reihe von Büchern, die in zahlreiche Sprachen übersetzt worden waren. Sein Privatseminar wurde von Schülern aus aller Herren Länder besucht, und viele von ihnen lehrten mittlerweile selbst wieder an Universitäten. Auch außerhalb der Juristenkreise wurde Kelsen überall als »Vater der Bundesverfassung« angesehen und wirkte im VfGH an der juristischen Durchdringung derselben mit. Er hatte eine Frau und zwei Töchter im »Backfischalter« (heute würde es heißen: Teenageralter), mit denen er einen gutbürgerlichen Haushalt mit Dienstpersonal führte, und genoss auch alle anderen gesellschaftlichen Annehmlichkeiten, die Personen seines Standes zu jener Zeit zukamen. Er hatte Anspruch auf einen stattlichen Ruhegenuss, wenn er in 25 Jahren emeritieren, das heißt unter Wahrung aller Rechte bis ans Lebensende von seinen Dienstpflichten entbunden werden würde. Vielleicht plante er, dann einen Alterssitz am Grundlsee oder an einem anderen schönen Platz in Österreich zu erwerben und dort in aller Ruhe ein Buch zu schreiben, das alle bisherigen übertreffen und auch noch die letzten offenen Fragen der Normentheorie abschließend beantworten würde? Aber es kam anders, und zwar nicht erst, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen und Kelsen 1933–1942 zu einer zehnjährigen Odyssee quer durch Europa und vom Atlantik bis zum Pazifik zwangen. Kelsens tiefer Sturz erfolgte schon früher, und es muss einbekannt werden, dass er selbst dazu beigetragen hatte, sich mächtige Feinde zu schaffen, als er, vielleicht in Überschätzung seiner Kräfte oder in Täuschung über die Personen, die ihn dazu verleitet hatten, begann, seine Stellung als Verfassungsrichter dazu zu benützen, in das wohl heikelste politische Thema der Ersten Republik einzugreifen: in die Problematik der Dispensehen. Dieser Schritt war hauptursächlich dafür, dass er seine Mitgliedschaft im VfGH verlor, in weiterer Folge auch seine Professur an der Universität Wien und sein berühmtes Privatseminar aufgeben musste und Österreich (von kürzeren Gastaufenthalten abgesehen) für immer verließ.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Kein anderes Thema wird in Kelsens Autobiographie so ausführlich behandelt,1133 sodass es gerechtfertigt erscheint, auch hier etwas weiter auszuholen. Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, war nach österreichischem ABGB |c die Ehe, auch wenn nur einer der beiden Ehepartner katholisch war, nur durch den Tod auflösbar (§ 111). In bestimmten Fällen konnte zwar die Lebensgemeinschaft aufgehoben werden (sog. Trennung1134 von Tisch und Bett), einer Wiederverheiratung eines der beiden Ehepartner mit einer dritten Person stand jedoch – solange der andere, vormalige Ehegatte noch lebte – das sog. Ehehindernis des bestehenden Ehebandes entgegen.1135 Diese Rechtslage blieb in der Republik Österreich bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten 1938 unverändert, wohingegen das Deutsche Reich und die Schweiz schon 1875, Ungarn 1895, die ČSR 1919 die konfessionsunabhängige Ehescheidung eingeführt hatten. In einer sich wandelnden Zivilgesellschaft, in der die Morallehren der katholischen Kirche immer weniger Beachtung fanden, stellte die Unscheidbarkeit der Katholikenehe ein immer größeres Problem dar. So fehlte es nicht an Versuchen, einerseits auf eine Reform des Eherechts hinzuwirken (wogegen sich bis 1918 v. a. der Kaiser, danach v. a. die christlichsoziale Partei verbissen sträubten), andererseits für Einzelfälle Rechtskonstruktionen zu finden, mit denen eine zweite Eheschließung zu Lebzeiten des ersten Gatten doch noch möglich sein sollte. Wer genug Geld und Zeit hatte und auch die Mühen nicht scheute, der konnte versuchen, die Staatsbürgerschaft eines Staates, in dem eine Ehescheidung möglich war, zu erwerben, dort seinen Wohnsitz aufzuschlagen und eine Scheidung zu erwirken. Für die breite Masse der Bevölkerung war dies natürlich kein taugliches Mittel.1136 Es gab allerdings noch eine andere Möglichkeit. § 83 ABGB lautete: »Aus wichtigen Gründen kann die Nachsicht von Ehehindernissen bei der Landesstelle angesuchet werden, welche nach Beschaffenheit der Umstände sich in das weitere Vernehmen zu setzen hat.«
Was derartige »wichtige Gründe« waren, dass die »Landesstelle« (worunter bis 1918 der k. k. Statthalter, danach der Landeshauptmann zu verstehen war) eine »Nachsicht«, also eine Dispens, eine ausnahmsweise Bewilligung zur Eheschließung erteilen konnte, ließ das Gesetz offen; auch fand sich kein Hinweis darauf, dass nur an konkrete Ehehindernisse gedacht war. Und so kam es auch eines Tages, noch zu Zeiten der Monarchie, dazu, dass eine Landesstelle, gestützt auf § 83 ABGB, vom
1133 Kelsen,
Autobiographie (1947) 28–35 = HKW I, 69–77. dass sich 1938 eine terminologische Veränderung ergeben hat, als der Begriff der »Scheidung« im ABGB in der modernen Rechtssprache als »Trennung«, der der »Trennung« als »Scheidung« bezeichnet wird. Die vorliegende Darstellung folgt der modernen Terminologie. 1135 Kelsen, Autobiographie (1947) 28 f. = HKW I, 69. 1136 Vgl. die Äußerung von Julius Ofner in der Sitzung der ProvNV v. 23. 1. 1919, StPProvNV 511: »Der Reiche geht nach Ungarn und heiratet, der Arme muß in Österreich bleiben und kann im Konkubinat leben.« 1134 Beachte,
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5. Kapitel: Der Sturz Kelsens
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»Ehehindernis des bestehenden Ehebandes« dispensierte, d. h. einer bereits verheirateten Person gestattete, nochmals zu heiraten. Wann und wo dies zum ersten Mal geschah, ist unbekannt; Berichte aus späterer Zeit erwähnen insgesamt 14 »Dispensehen«, die bis 1918 auf diese Weise ermöglicht wurden. Offenbar handelte es sich dabei immer um Fälle, wo der bereits verheiratete Ehewerber oder die verheiratete Ehewerberin vom ehemaligen Partner bzw. von der ehemaligen Partnerin zumindest schon von Tisch und Bett getrennt war und weitere berücksichtigungswürdige Umstände dafür bestanden, dass ihm bzw. ihr nun eine zweite Eheschließung ermöglicht wurde. Nur ein einziger Fall (nämlich jener des Chefs des k. u. k. Generalstabes, Franz Conrad von Hötzendorf, aus dem Jahr 1915) betraf eine »Prominentenehe«; doch gerade diese trug dazu bei, dass die Praxis der Dispensehen gegen Ende der Monarchie größere Bekanntheit erlangte, zugleich jedoch der Eindruck entstand, dass auch hier wieder nur besonders privilegierte Personen in den Genuss einer solchen Dispens kamen.1137 Als drei Jahre später die Republik gegründet wurde, bemühten sich insbesondere das sozialdemokratische Mitglied der ProvNV Albert Sever und das deutschnationale Mitglied Julius Ofner um eine Reform des Eherechtes; es wurde auch eine entsprechende Gesetzesvorlage eingebracht, die jedoch am 24. Jänner 1919 am Widerstand v. a. der Christlichsozialen scheiterte.1138 Als nun aber im Februar 1919 die KNV gewählt wurde und die Sozialdemokraten eine Koalition mit den Christlichsozialen eingingen, erlahmte plötzlich der sozialdemokratische Elan für eine Eherechtsreform. Staatskanzler Renner erklärte, er werde bis auf weiteres kein Gesetz einbringen, ein neuerlicher Vorstoß Severs scheiterte schon im sozialdemokratischen Klub. Dieser merkwürdige Befund passt zu den Aufzeichnungen Kelsens: Es »kam ein Kompromiss zustande, demzufolge die sozialdemokratische und deutschnationale Partei auf die Durchfuehrung der von ihnen geplanten Ehereform verzichteten, dafuer aber die Verwaltungsbehoerde von ihrer Befugnis, Dispense von dem Ehehindernis des bestehenden katholischen Ehebandes zu erteilen, reichlicheren Gebrauch machen sollte als dies in der Zeit der Monarchie geschehen war.«1139 Aktenmäßige Belege für diese Äußerung Kelsens existieren nicht, aber tatsächlich nahm die veränderte Praxis fast unmittelbar nach Bildung der sozialdemokratisch-christlichsozialen Regierungskoalition ihren Ausgang, konkret am 3. April 1919, mithin demselben Tag, an dem das Habsburgergesetz und das Adelsaufhebungsgesetz erlassen wurden, was wohl kein Zufall ist. Das Staatsamt für Inneres, das in oberster Instanz für die Erteilung von Dispensen zuständig war, wurde damals von 1137 Dies
behauptete etwa auch Kelsen, Autobiographie (1947) 29 = HKW I, 70; vgl. auch die Ausführungen von Ofner, Dispensehe (1920) 209. Zur tatsächlichen Praxis Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 153. 1138 Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 87. 1139 Kelsen, Autobiographie (1947) 30 = HKW I, 71. Diese Passage wurde von Métall, Kelsen (1969) nicht übernommen und war daher auch Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) unbekannt, stellt aber geradezu das »missing link« zum nun Folgenden dar.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Renner persönlich geleitet. Am 3. April erteilte er erstmals eine derartige Dispens, wobei er keine spezielle juristische Begründung abgab, sondern lediglich feststellte, dass man sich »dem Geiste der modernen Rechtsentwicklung« nicht entziehen könne.1140 Von den anderen Ämtern wurde das als Signal aufgefasst, ihre Dispensehenpraxis auszuweiten, und ein halbes Jahr später hatten bereits rund 5.000 Personen eine Dispens vom bestehenden Eheband erhalten.1141 Albert Sever war in der Zwischenzeit Landeshauptmann von Niederösterreich geworden (das damals auch Wien und damit mehr als die Hälfte der österreichischen Bevölkerung umfasste). Zuweilen erteilte er mehr als hundert Dispense an einem einzigen Tag, sodass die Dispensehen im Volksmund als »Sever-Ehen« bezeichnet wurden, auch wenn er das Phänomen nicht erfunden hatte und seine Amtszeit nur kurz war (1919–1921). Unter dem sozialdemokratischen Landeshauptmann von Wien Karl Seitz (1923–1934) wurden weit mehr »Sever-Ehen« geschlossen als unter Sever selbst. In Niederösterreich dagegen wurden, nachdem das Land 1922 von Wien getrennt worden war und sich seitdem fest in christlichsozialer Hand befand, keine Dispense mehr gewährt, und ebensowenig in Oberösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg. Nur Kärnten sowie für eine kurze Zeit auch die Steiermark waren dem Beispiel Wiens gefolgt, solange dort sozialdemokratische, großdeutsche oder sonst nicht der christlichsozialen Partei zugehörige Personen das Amt des Landeshauptmannes ausübten, sodass zurecht kritisiert wurde, dass nunmehr der »Genuß der bürgerlichen Rechte […] vom Religionsbekenntnis eines Landeshauptmannes bzw. eines Ministers abhängig sei.«1142 Jenen Dispenswerbern, deren Gesuch vom Landeshauptmann abgewiesen wurde, blieb der Rekurs an das Staatsamt des Inneren bzw. ab 1920 an das Innenministerium offen. Dieses befand sich zwar ab 1920 nicht mehr in sozialdemokratischer Hand, doch mussten sich die Bundesminister aus dem bürgerlichen Lager dem öffentlichen Druck beugen und bewilligten zumeist den Rekurs. Besonders heikel wurde dies, als Prälat Ignaz Seipel 1923–24 und 1926–29 zusätzlich zum Amt des Bundeskanzlers auch das des Innenministers übernahm, zählte er als katholischer Priester doch zu den erbittertsten Gegnern der Dispenspraxis.1143 Aber schließlich, so berichtet Kelsen, wurde das Problem so gelöst, dass »der christlich-soziale Bundeskanzler auf kurzen Urlaub [ging], um seinem deutschnationalen Stellvertreter die Moeglichkeit zu geben, die aufgelaufenen Dispensrekurse aufrecht zu erledigen. […] Dass diese Praxis dem Bundeskanzler Seipel auf das tiefste verhasst war, ist begreiflich.«1144 1140 Harmat,
Ehe auf Widerruf ? (1999) 159–161. Ehe auf Widerruf ? (1999) 175. 1142 So der Präsident des »Eherechtsreformvereines« Karl Frantzl in einer Stellungnahme vom 25. 1. 1921, zit. n. Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 190. Ungenau Neschwara, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 362. Auf die besondere Rechtslage im Burgenland, wo das ungarische Ehegesetz 1895 fortgalt, kann hier nicht eingegangen werden. 1143 Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 251, 253. 1144 Kelsen, Autobiographie (1947) 30 = HKW I, 71. Diese Praxis Seipels ist auch durch eine Presseaussendung der Großdeutschen Volkspartei vom 28. 1. 1929 belegt, vgl. Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 329 Anm. 541; Neschwara, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 363. Die 1141 Harmat,
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5. Kapitel: Der Sturz Kelsens
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Auf diese Weise wurden bis 1938 österreichweit ca. 50.000 Dispensehen geschlossen.1145 Sie führten zu einer Fülle von umstrittenen Rechtsfragen, von denen hier nur die wichtigsten genannt werden können.1146 Hauptproblem war natürlich, dass mit einer Dispensehe – zumindest nach Ansicht vieler – der nach § 206 StG 1852 strafbare Tatbestand der Bigamie verwirklicht war, auch wenn dies in der Praxis nicht geahndet wurde (zumal dann der betreffende Landeshauptmann als Mittäter hätte angeklagt werden müssen). Aber auch die zivil‑ und sozialrechtlichen Folgen, wenn z. B. ein Mann zwei Witwen hinterließ, seien erwähnt. Und was sollte mit dem zweiten Ehegatten geschehen, wenn sich die Gatten der ersten Ehe wieder versöhnten (was ihnen in § 110 ABGB ausdrücklich zugebilligt wurde)? Vor allem die Tiroler Landesregierung erhob schwere Bedenken gegen die Rechtsfolgen, die eine Dispenserteilung nach sich ziehen konnte.1147 Sie stützte sich dabei auf ein Gutachten der Innsbrucker Juristenfakultät, das der Zivilrechtler Friedrich Woeß1148 verfasst hatte. Auch viele andere Juristen, wie etwa Julius Ofner, äußerten sich literarisch zur Problematik der Dispensehen.1149 Und auch wenn sich die meisten Autoren zumindest bemühten, auf dem Boden der sachlichen Argumentation zu bleiben, so gelang es doch fast niemals, einen völlig wertfreien Standpunkt einzunehmen, da hier grundlegende, weltanschauliche Meinungen über das Wesen der Ehe aufeinander prallten.1150 Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich auch die Höchstgerichte mit der Materie beschäftigen mussten: Das erste war der VwGH, der am 19. März 1921 in einem Erkenntnis erklärte, dass eine Dispens vom bestehenden Eheband unzulässig sei, zumal dies den Strafrechtstatbestand der Bigamie und unauflösbare zivilrechtliche Probleme nach sich ziehen würde.1151 Gelöst wurde das Problem damit nicht, zumal die Erkenntnisse des VwGH – so wie die des VfGH und die Urteile des OGH – stets nur für den Einzelfall galten.1152 Nichtsdestoweniger bat das Bundesministerium für Justiz nun auch noch den OGH um ein Gutachten zu den Dispensehen, und dieser befand am 11. Mai 1921, ebenso wie der VwGH, dass die Dispens vom bestehenden Ehebande unzulässig sei. Die aufgrund einer solchen Dispens geschlossenen »Dispensehen« seien zwar formell aufrecht, könnten aber von den Gerichten für nichtig erklärt werden. Im Gegensatz zum VwGH sprach aber der OGH in seinem – offenbar von SenatsBehauptung Kelsens ebd., dass sich die christlichsozialen Bundeskanzler ab 1920 »stets« vom großdeutschen Vizekanzler vertreten ließen, kann nicht richtig sein, schon deshalb, als der Bundeskanzler ja nur dann oberste Instanz war, wenn er zugleich Innenminister war. 1145 Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 534. 1146 Neschwara, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 363 spricht von einem »Kaleidoskop von rechtlichen Argumenten«, das in diesem Zusammenhang aufgebracht wurde. 1147 Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 177. 1148 Geb. Wien 2. 10. 1880, gest. ebd. 26. 3. 1933; vgl. Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 270–274. 1149 Ofner, Dispens (1920) 211. 1150 Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 194. 1151 VwGH 19. 3. 1921, Z. 1265/1921, VwSlg 12.783 A; vgl. Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 212–216. 1152 Neschwara, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 364.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
präsident Hermann Prey konzipierten1153 – Gutachten auch das rechtspolitische Problem an, dass bereits eine große Zahl an Dispensehen bestünden und dass Kinder aus diesen hervorgegangen seien. Es sei Sache des Gesetzgebers, für diese zu sorgen.1154 Da dieser aber weiterhin nicht reagierte, die Zivilgerichte hingegen, gestützt auf das OGH-Gutachten, nunmehr in großer Zahl1155 Dispensehen für ungültig erklärten, war das Chaos perfekt: Die Dispensehen waren »Ehen auf Widerruf«, sie waren nicht generell nichtig, sondern nur vernichtbar, dies aber nur dann, wenn das Zivilgericht auf irgendeine Weise Kenntnis von der Dispensehe erlangte, weil es sonst kein Verfahren einleiten konnte. Auf diese Weise hatte es der ehemalige Ehegatte in der Hand, durch einfaches Schreiben ans Gericht die neue Eheschließung des Expartners für ungültig erklären zu lassen, und »[d]ieser Umstand«, so Kelsen, »wurde zu schamlosen Erpressungen benuetzt.«1156 »[…] Und nicht nur das, der Ehegatte selbst, der mit Hilfe eines von der Verwaltungsbehoerde erteilten Ehedispenses eine zweite Ehe eingegangen war, konnte sich, wenn immer es ihm beliebte, dieser Ehe entledigen, indem er einfach das zustaendige Gericht im Wege einer Postkarte von der Tatsache informierte, dass er in einer Dispensehe lebte. Ich selbst hatte im Verfassungsgerichtshof einen Fall zu bearbeiten, in dem ein Architekt, der von seiner ersten Frau von Tisch und Bett geschieden war, bei der Verwaltungsbehoerde um einen Dispens eingekommen war, um ein sehr wohlhabendes junges Mädchen, eine Hollaenderin, zu ehelichen. Nachdem er auf Grund des erhaltenen Dispenses das Maedchen geheiratet und ihr Vermoegen im Verlauf etwa eines Jahres durchgebracht hatte, schrieb er tatsaechlich eine Postkarte an das zustaendige Gericht mit der Mitteilung, dass er in einer Dispensehe lebe. Das Gericht schritt von amtswegen ein und erklaerte die Ehe fuer ungueltig. Dem Akt lag eine Eingabe der zweiten Ehefrau bei, in der sie auf die unerhoerte und ihr voellig unbegreifliche Tatsache hinwies, dass ein oesterreichisches Gericht eine Ehe mit der Begruendung fuer ungueltig erklaeren koenne, dass der von der oesterreichischen Verwaltungsbehoerde erteilte Ehedispens rechtswidrig sei; im Vertrauen auf den oesterreichischen Staat und seine Behoerden sei sie diese Ehe eingegangen, und eben dieser oesterreichische Staat erklaere ihr nun, dass er sie irregefuehrt habe und erlaube ihrem Gatten, sich nach Aufbrauch ihres Vermoegens ihrer zu entledigen.«1157 1153 So
409.
nach Aussagen von Karl Gottfried Hugelmann, vgl. Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999)
1154 Gutachten des OGH v. 11. 5. 1921, SZ 4 (1923) Nr. 55 (das genaue Datum geht aus SZ 70 [1928] Nr. 51 hervor); vgl. Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 222–227. 1155 Bis 1926 waren bereits 1.000 Ehen für ungültig erklärt: Neschwara, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 365. 1156 Kelsen, Autobiographie (1947) 31 = HKW I, 72. Vgl. den in der NFP Nr. 21669 v. 10. 1. 1925, Morgenblatt 5, erwähnten Fall, wo ein Mann von seiner ehemaligen Frau 30 Millionen Kronen (= 3.000 Schillinge, bzw. nach heutiger Kaufkraft € 12.000 (https://www.eurologisch.at/docroot/ waehrungsrechner/#/ [Abfrage vom 27. 11. 2019]) für seine Zustimmung zu deren zweiter Ehe verlangte, diese aber das Geld nicht aufbringen konnte und sich aus Verzweiflung das Leben nahm. 1157 Kelsen, Autobiographie (1947) 31 f. = HKW I, 72 f. – Es handelt sich hier offenbar um das Erkenntnis des VfGH v. 21. 1. 1930 K 66/29 VfSlg 1303: Der Wiener Architekt Robert Oerley (geb. Wien
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2. Die Dispensehen vor dem Verfassungsgerichtshof Kelsens menschliche Erschütterung über diesen und ähnlich gelagerte Fälle ist aus der oben zitierten Äußerung deutlich zu spüren. Sie dürfte allerdings nicht der Hauptgrund gewesen sein, dass er beschloss, sich in der Sache zu engagieren. Dieser ist eher darin zu suchen, dass der Umgang der Zivilgerichte mit den Entscheidungen der Verwaltungsbehörden Kelsens rechtstheoretischen Einsichten über die juristische Gleichrangigkeit von Gerichtsurteilen und verwaltungsbehördlichen Bescheiden zuwider lief.1158 »Derselbe Staat, der durch seine Verwaltungsbehoerde die Schliessung einer Ehe ausdruecklich erlaubte, erklaerte durch seine Gerichte eben diese Ehe fuer ungueltig. Die Autoritaet des Staates konnte kaum in aergerer Weise erschuettert werden.«1159 Der VfGH hatte sich erstmals 1926 mit der Problematik der Dispensehen zu befassen. Der Wiener Alois Slapak hatte eine Dispensehe geschlossen, die aufgrund eines Antrages seiner ersten Gattin vom Wiener Landesgericht für Zivilrechtssachen für ungültig erklärt worden war. Wie in solchen Fällen gesetzlich vorgesehen, bestellte das Gericht aber zugleich einen Rechtsanwalt, Josef Turezky, zum »Ehebandverteidiger«, der als solcher alle Gründe, die für die Aufrechterhaltung der Ehe sprachen, sammeln
24. 8. 1876, gest. ebenda 15. 11. 1945; Präsident der Wiener Secession 1912/13) hatte 1902 eine Ehe mit Gabriele Mayer »nach evang. Brauche« geschlossen, diese Ehe wurde 1917 von Tisch und Bett getrennt. Nachdem Oerley beim Wiener Magistrat eine entsprechende Dispens erhalten hatte, schloss er am 24. 8. 1922 eine Zivilehe mit der niederländischen Staatsbürgerin Virginia Veltmann, geb. Vermin; erst danach, am 26. 1. 1923, wurde die erste Ehe von Robert Oerley gem. § 115 ABGB auch dem Bande nach geschieden. 1927 erhielt Oerley eine Berufung in die Türkei, wo er als einer von mehreren österreichischen Architekten am Aufbau der neuen Hauptstadt Ankara mitwirkte. Von dort aus reichte er Klage »auf Scheidung seiner Ehe« (womit eine Trennung nach § 107 ABGB gemeint sein dürfte) ein, aus welchem Anlass das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien die Gültigkeit seiner Dispensehe prüfte und diese nunmehr für ungültig erklärte, was vom Oberlandesgericht bestätigt wurde. Hierauf stellte Virginia Oerley im Juni 1929 einen Antrag auf Entscheidung eines positiven Kompetenzkonflikts beim VfGH; zum Referenten in der Sache wurde Kelsen bestellt: ÖStA, AdR, Höchstgerichte 1. Rep., VfGH, Karton 81, K 66/29. Der VfGH bejahte in seinem Erkenntnis das Vorliegen eines positiven Kompetenzkonfliktes, weshalb die beiden zivilgerichtlichen Urteile aufgehoben wurden. 1938, unmittelbar nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich und Erlass eines neuen Ehegesetzes (dazu noch unten 476), wurde die Ehe von Robert und Virginia Oerley dem Bande nach geschieden. Vgl. dazu auch Roland Schachel, Oerley Robert, in: ÖBL, 33. Lfg. (Wien 1977) 211 f.; Brandstetter, Oerley (2008). – Die obige Darstellung des Falles durch Kelsen ist in zwei Punkten fehlerhaft: Virginia Oerley war kein »junges Mädchen«, sondern vor ihrer Ehe mit Robert Oerley schon zweimal verheiratet gewesen. Auch findet sich im Gerichtsakt kein Hinweis darauf, dass Robert Oerley das Vermögen seiner zweiten Frau »im Verlauf etwa eines Jahres durchgebracht hatte«, möglicherweise wurde dies von ihr bei der mündlichen Verhandlung erwähnt (ein Protokoll dieser Verhandlung ist im Akt nicht vorhanden). Abgesehen davon kann gesagt werden, dass sich Kelsen auch noch nach fast zwanzig Jahren recht gut an diesen Fall erinnern konnte, was auch damit zusammenhängen könnte, dass es sich um einen seiner letzten Fälle, in denen er als Verfassungsrichter tätig war, handelte, vgl. noch unten bei Anm. 1330. 1158 So zutreffend Walter, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 67 f. 1159 Kelsen, Autobiographie (1947) 31 = HKW I, 72.
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und Berufung beim Oberlandesgericht Wien erheben sollte, was auch erfolgte.1160 Zusätzlich aber brachte Turezky am 5. August 1926 beim VfGH einen Antrag auf Entscheidung eines bejahenden Kompetenzkonflikts gem. Art. 138 B-VG ein. Zum Referenten in der Sache wurde Friedrich Engel bestellt, der sich in der Sitzung des VfGH vom 13. Oktober dafür aussprach, die Klage »wegen offenbarer Nichtzuständigkeit« zurückzuweisen. Wie aus der nachfolgenden Wortmeldung Kelsens deutlich wird, ging Engel offenbar davon aus, dass überhaupt kein Kompetenzkonflikt vorliege, weil Gericht und Verwaltungsbehörde nicht über dieselbe Sache entschieden hätten. Kelsen widersprach: Beide Behörden hätten über die Gültigkeit der Dispens entschieden, damit aber hatte das Gericht seine Kompetenz überschritten. Bei der Abstimmung unterlag Kelsen, dessen Meinung sich nur der Verfassungsrichter Sylvester anschloss, während die Mehrheit der Mitglieder der Ansicht des Referenten Engel folgte.1161 Der Antrag wurde zurückgewiesen.1162 Es ist möglich, sogar wahrscheinlich, dass Kelsen in weiterer Folge dieses Erkenntnis mit seinen Schülern, darunter auch Fritz Schreier, in seinem Privatseminar in der Wickenburggasse besprach und von diesen Bestätigung für die Richtigkeit seiner Rechtsansicht erhielt. Jedenfalls veröffentlichte Schreier am 16. Mai 1927 einen Artikel in der »Arbeiter-Zeitung«, in dem er die Entscheidung des VfGH als unrichtig kritisierte. »Der Verfassungsgerichtshof setzt als bewiesen voraus, was er doch erst zu beweisen hätte, nämlich, daß die Gerichte allein über die Gültigkeit der Ehe zu urteilen hätten. […] Es würde sich gewiß empfehlen, den Versuch nochmals zu wagen und dem Verfassungsgerichtshof neuerlich Gelegenheit zu geben, zu dieser Frage Stellung zu nehmen und vielleicht seine Ansicht zu ändern.«1163 Das klang ja schon fast wie ein versteckter Hilferuf an die Öffentlichkeit, man solle Kelsen Gelegenheit geben, seine Ansichten erneut unter seinen Richterkollegen vorzutragen! Und tatsächlich bot sich schon bald die Gelegenheit, als eine andere Dispensehe, jene des Wieners Eduard Nawrat, von einem Zivilgericht annulliert wurde und der zum Ehebandverteidiger bestellte Anwalt Moritz Ludwig Weiß ebenfalls den Weg zum VfGH beschritt. Denn diesmal wurde Kelsen – Zufall oder nicht? – von Präsident Vittorelli zum Referenten im Fall Nawrat bestellt.1164 1160 Der Ehebandverteidiger (defensor vinculi) stammt aus dem kanonischen Recht (Apostolische Konstitution Dei miseratione v. 3. 11. 1741; Codex Iuris Canonici 1917 can. 1586) und hat u. a. die Aufgabe, unabhängig von den Wünschen der Ehegatten das Sakrament der Ehe zu schützen. Nach diesem Vorbild wurde eine ähnliche Einrichtung auch für das weltliche Recht geschaffen; vgl. ABGB § 97 sowie das Hofdekret v. 23. 8. 1819 JGS 1595. 1161 ÖStA, AdR, Höchstgerichte 1. Rep., VfGH, Karton 74, K 4/26, pag 10. 1162 VfGH 13. 10. 1926 K 4/26 VfSlg 426; vgl. Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 294; Neschwara, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 366; Zellenberg, Hans Kelsen und die Deutung des Bindungskonflikts (2014) 692. 1163 Schreier, Dispensehen (1927) 2. 1164 Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 297; Walter, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 63. Es ist daran zu erinnern, dass es beim VfGH nicht das Prinzip der festen Geschäftsverteilung gab, es vielmehr im freien Ermessen des Gerichtspräsidenten lag, welchen Referenten er mit der Sache betraute.
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Am 5. November 1927 gelangte der Fall im VfGH zur Verhandlung. Kelsen erstattete Bericht und erinnerte an zwei Judikate des Gerichtshofes aus der jüngeren Vergangenheit, die damals sicherlich als unspektakulär eingestuft worden waren.1165 In beiden Fällen war es um Wege gegangen, die über Privatgrundstücke liefen, aber seit Jahrzehnten von der Öffentlichkeit benutzt wurden. Die jeweilige Gemeinde (im ersten Fall die Stadt Enns, im zweiten Fall die Gemeinde Steinerkirchen, beide in Oberösterreich gelegen) hatte den Weg zu einem öffentlichen Weg erklärt und alle Hinweistafeln mit der Aufschrift »Privatweg« sowie auch Drahtzäune, Schranken und Gräben beseitigen bzw. zuschütten lassen. Die jeweiligen Grundstückseigentümer hatten nicht die entsprechenden Gemeinderatsbeschlüsse im verwaltungsbehördlichen Verfahren bekämpft, sondern Besitzstörungsklage vor dem Zivilgericht erhoben. Der VfGH hatte in beiden Fällen das Vorliegen eines Kompetenzkonfliktes bejaht, dies, obwohl schon beim ersten Erkenntnis eingewendet worden war, dass das Gericht und die Gemeinde über zwei juristisch völlig verschiedene Angelegenheiten – hier die Öffentlichkeitserklärung eines Weges, dort die Besitzstörung – entschieden hatten.1166 Im zweiten damaligen Erkenntnis hatte übrigens Kelsen selbst das Referat geführt und einfach auf das vorhergehende Erkenntnis des VfGH verwiesen, ohne dass es damals zu einer längeren Diskussion gekommen war.1167 Nunmehr, in der Sitzung vom 5. November, beantragte Kelsen, dass der VfGH auch im Fall Nawrat das Vorliegen eines Kompetenzkonfliktes bejahe, und erklärte, dass sein Vorschlag »der Praxis des Verfassungsgerichtshofes« entspreche, die dieser sich in den beiden zuvor genannten Erkenntnissen »zu Recht gelegt« habe.1168 Der christlichsoziale Verfassungsrichter Ramek widersprach dieser Ansicht: Die Verwaltungsbehörde habe eine Dispens erteilt, das Gericht über die Gültigkeit einer Ehe entschieden und die Frage der Dispens nur als Vorfrage behandelt. Ein Kompetenzkonflikt nach Art. 138 B-VG könne aber nur dann vorliegen, wenn zwei Behörden über dieselbe Hauptsache entscheiden. Auch wies er darauf hin, dass § 190 ZPO den Gerichten bloß die Möglichkeit gebe, ein Verfahren zu unterbrechen bis die Verwaltungsbehörde über eine Vorfrage entschieden habe, sie aber nicht dazu verpflichte. Schon deshalb könne hier von einem Kompetenzkonflikt nicht gesprochen werden. Kelsen konterte: Dem § 190 ZPO sei nunmehr durch § 68 AVG derogiert worden, wonach ein verwaltungsbehördlicher Bescheid nur in ganz bestimmten, taxativ aufgezählten Fällen von Amts wegen aufgehoben oder abgeändert werden könne. Engel, der ja im Erkenntnis vom 13. Oktober 1926 das Referat geführt hatte, assistierte 1165 VfGH 11. 10. 1926 K 3/26 VfSlg 647; VfGH 6. 7. 1927 K 4/27 VfSlg 836. Die Fälle wurden offenbar als so unbedeutend eingestuft, dass in der offiziellen Erkenntnissammlung nur die Rechtssätze, nicht aber die Sachverhalte und die Begründungen abgedruckt wurden. 1166 Dieser Einwand war von Kienböck erhoben worden: Protokoll über die Beratung und Abstimmung vom 11. 10. 1926, ÖStA, AdR, Höchstgerichte 1. Rep., VfGH, Karton 74, K 3/26, pag 21. 1167 Protokoll über die Beratung und Abstimmung vom 6. 7. 1927, ÖStA, AdR, Höchstgerichte 1. Rep., VfGH, Karton 74, K 4/27, pag 8. 1168 Protokoll über die Beratung und Abstimmung vom 5. 11. 1927, ÖStA, AdR, Höchstgerichte 1. Rep., VfGH, Karton 74, K 6/27, pag 23r.
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nunmehr seltsamerweise Kelsen und wies darauf hin, dass ein Gericht, wenn es das Verfahren nach § 190 ZPO unterbreche, dann an die Entscheidung der Verwaltungsbehörde gebunden sei.1169 c| Kelsen berichtete später in seiner Autobiographie, dass der VfGH »auf meinen Antrag mit grosser Mehrheit den Fall in gleicher Weise [entschied] wie er den Wegerechtsfall entschieden hatte; und konnte wohl auch nicht anders, wenn er seiner bisherigen Praxis nicht untreu werden wollte.«1170 Dass der VfGH ein Jahr zuvor in einem noch viel ähnlicheren Fall – der Dispensehe des Alois Slapak – ganz anders entschieden hatte, mithin sehr wohl seiner bisherigen Praxis untreu wurde, erwähnte Kelsen dabei nicht, ebensowenig wie er in der Sitzung vom 5. November selbst auf den Fall Slapak hingewiesen hatte.1171 Auch war das Abstimmungsergebnis am 5. November 1927 nicht ganz so eindeutig, wie dies Kelsen später darstellte: Jene fünf Verfassungsrichter, die der christlichsozialen Partei zuzuzählen waren – Falser, Klee, Pawelka, Ramek und Wanschura –, stimmten gegen ihn, für ihn die Sozialdemokraten Eisler, Austerlitz und Hartl, der Großdeutsche Sylvester sowie die parteipolitisch neutralen Stimmführer Engel, Layer und Menzel.1172 Das Urteil des Zivilgerichts wurde also mit 8:5 Stimmen aufgehoben.1173 Zeugt zwar die Abstimmung davon, dass der Fall Nawrat im Gerichtshof sehr ernst genommen wurde, so ist doch zu bezweifeln, dass sich die Richter im Klaren darüber waren, »welche Lawine von Fällen und welches Ausmaß an juristischer und schärfster politischer Diskussion« dieses Erkenntnis auslösen würde.1174 Es sei vermerkt, dass der Antrag zur Ungültigerklärung der Ehe von Herrn und Frau Nawrat von der Dispensehegattin gestellt und sie dabei sowohl von ihrem Gatten, als auch von dessen Frau aus erster Ehe unterstützt worden war.1175 Der Ehebandverteidiger, der vorhin erwähnte Moritz Ludwig Weiß, hatte also gegen den ausdrücklichen Willen aller drei Parteien gehandelt! Einen Grund für dieses bemerkenswerte Verhalten liefert Kelsen in seiner Autobiographie: Demnach sei nämlich der Ehebandverteidiger ein »ehemaliger Schüler« von Kelsen gewesen und habe ihn um Rat gefragt, noch bevor er sich an den VfGH gewendet hätte. Das würde bedeuten, dass 1169 Protokoll
über die Beratung und Abstimmung vom 5. 11. 1927, ÖStA, AdR, Höchstgerichte 1. Rep., VfGH, Karton 74, K 6/27, pag 23v–24r. 1170 Kelsen, Autobiographie (1947) 33 = HKW I, 74. 1171 Dies wird von Walter, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 60, 66 zu Recht kritisiert. 1172 Protokoll über die Beratung und Abstimmung vom 5. 11. 1927, ÖStA, AdR, Höchstgerichte 1. Rep., VfGH, Karton 74, K 6/27, pag 24r. Beachte, dass nach dem Tod des parteipolitisch neutralen Richters Robert Neumann-Ettenreich (26. 3. 1936) der der christlichsozialen Partei zuzurechnende Adolf Wanschura zum neuen Mitglied des VfGH gewählt worden war, womit die Zahl der christlichsozialen Verfassungsrichter auf fünf gestiegen war: Neschwara, Verfassungsgerichtshof (2013) 450 f. 1173 VfGH 5. 11. 1927 K 6/27 VfSlg 878. Vgl. Neschwara, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 367. 1174 Walter, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 60. Vgl. auch die Darstellung bei Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 299 f. 1175 Siehe die ausführliche Schilderung des Sachverhaltes bei Kelsen, Zum Begriff des Kompetenzkonflikts (1928) 590.
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5. Kapitel: Der Sturz Kelsens
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die ganze Sache von vornherein einem Plan Kelsens entsprungen war! Doch auch hier können die Angaben der Autobiographie nur schwer mit den übrigen Fakten in Einklang gebracht werden: Weiß war nämlich 1867 geboren,1176 hatte das juristische Studium daher viel früher als Kelsen abgeschlossen und kann wohl kaum als sein »ehemaliger Schüler« bezeichnet werden.1177 Denkbar wäre es immerhin, dass Weiß dennoch auf irgendeine Weise mit Kelsen in Kontakt gekommen war und auch sein Privatseminar besuchte; wahrscheinlicher aber ist es, dass es sich auch hier wieder um einen Fall handelt, bei dem Kelsens Erinnerung lückenhaft war. Möglicherweise war Weiß ein Freund seines Anwaltskollegen Schreier, und dieser hatte Kelsen befragt. Doch dies ist – wieder einmal – Spekulation. Belegt ist lediglich, dass sich sowohl Schreier als auch Weiß in juristischen Fachzeitschriften zustimmend zum genannten Erkenntnis des VfGH äußerten.1178 Schneller als die Fachzeitschriften waren natürlich die Tageszeitungen, |c und hier wurde das Erkenntnis des VfGH, wie nicht anders zu erwarten, von der sozialdemokratischen »Arbeiter-Zeitung« bejubelt,1179 während die christlichsoziale »Reichspost« von einer »unhaltbaren Fehlentscheidung« des VfGH sprach.1180 c| Am interessantesten ist aber der Artikel, der in der »Neuen Freien Presse« am 25. November unter dem Titel »Soll der Dispensehewirrwarr noch weiter gesteigert werden?« erschien, zumal der anonyme Autor von der Redaktion als ein »hervorragender Jurist« bezeichnet wurde – wir dürfen annehmen, dass es sich um keinen anderen als um Kelsen selbst handelte.1181 Der Titel des Beitrages erklärte sich aus dem Umstand, |c dass trotz des zuvor ergangenen VfGH-Erkenntnisses kurz darauf ein Zivilgericht erneut eine Dispensehe für ungültig erklärt und dabei festgestellt hatte, dass es sich nur an das Gutachten des OGH gebunden erachte.1182 Der anonyme Verfasser (Kelsen) hielt diese Auffassung für unrichtig: Das erstinstanzliche Gericht sei an Erkenntnisse des VfGH ebensowenig »gebunden« als an Urteile des OGH und schon gar nicht an Gutachten desselben. Sodann aber prognostizierte er, dass der VfGH auch künftig alle gleich gelagerten Fälle in gleicher Weise entscheiden werde, und rechtfertigte die Haltung des VfGH damit, dass dieser »der beispiellosen Schande ein Ende gemacht hat, daß der Staat mit der einen Hand einen Ehedispens erteilt, den derselbe Staat mit der anderen Hand wieder wegnimmt«. Der Autor wies aber auch darauf hin, dass 1176 Moritz Ludwig Weiß, geb. Wien 11. 7. 1867, gest. 13. 6. 1938 (Suizid); vgl. Sauer /Reiter-Zatloukal, Advokaten 1938 (2010) 360. 1177 Der Hinweis kann sich auch nicht auf Josef Turezky, den oben genannten Ehebandverteidiger im Fall K 4/26, beziehen: Dieser war laut Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger 1902 bereits zu einem Zeitpunkt als in der Rechtspraxis tätiger Jurist aktiv, als Kelsen selbst noch Student der Rechte war. 1178 Schreier, Verwaltungsakt und Urteil (1927); Weiẞ, Bindung der Gerichte (1928). 1179 AZ Nr. 310 v. 12. 11. 1927, 4. 1180 Reichspost Nr. 19 v. 19. 1. 1928, 1–3. 1181 So schon Petschek, Indirekter Kompetenzkonflikt (1929) 349. 1182 Es ist aus dem Kontext leider nicht erkennbar, auf welches Urteil sich der Zeitungsartikel konkret bezieht.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
der VfGH nur die Frage des Kompetenzkonflikts entschieden habe, nicht aber, ob die Dispenserteilung selbst rechtmäßig sei.1183 Die Zivilgerichte zeigten sich vom Erkenntnis des VfGH wenig beeindruckt. Am 18. Dezember erklärte das Oberlandesgericht Wien in zweiter Instanz erneut eine Dispensehe für ungültig. Dabei konzedierte es dem VfGH durchaus, dass die Frage der Gültigkeit der Dispense nicht von den Gerichten überprüft werden könne. Aber auch bei aufrechtem Dispens müsse die Dispensehe nicht unbedingt gültig sein, so etwa, wenn sie gegen zwingendes Recht, wie etwa das Verbot der Polygamie, verstoße.1184 Wenig später, am 27. Februar 1928, hatte der VfGH erneut über die Gültigkeit eines Zivilurteiles, mit dem eine Dispensehe für ungültig erklärt worden war, zu beraten, und wieder folgte er – mit demselben Abstimmungsergebnis wie im Präzedenzfall1185 – dem Referenten Kelsen. Er erklärte die Rechtsanschauung des Oberlandesgerichtes als »unhaltbar«, da die Gültigkeit des Dispenses ja gerade bedeute, dass die auf seiner Grundlage geschlossene Ehe gültig sei, und hob das Zivilurteil auf. Bemerkenswert war der – von Kelsen verfasste – Entscheidungstext vor allem aufgrund mancher Formulierungen, die bei jenen, die Kelsen nur von seinen wissenschaftlichen Arbeiten her kennen, für Erstaunen sorgen müssen. Insbesondere stand im Erkenntis, dass es »für jede nicht rein formalistische Betrachtung« klar sei, dass es sich um einen Kompetenzkonflikt handle und dies »ernstlich nicht bestritten« werden könne.1186 Anscheinend hielt es Kelsen für nötig, auch außerhalb des VfGH den Vertretern der gegenteiligen Auffassung argumentativ entgegenzutreten: Am 24. März 1928 veröffentlichte er unter seinem eigenen Namen einen Aufsatz in den »Juristischen Blättern«, in dem er seine Sicht der Dinge erläuterte – im wesentlichen mit denselben Argumenten wie zuvor im VfGH. c| Dieser hatte nämlich in seinem Erkenntnis vom 27. Februar 1928 ein wesentliches neues Argument für seine Rechtsansicht vorgebracht: Im Jahr 1925 war ein neues Gesetz über den VfGH erlassen worden,1187 welches in § 42 bestimmte, dass der VfGH nicht nur, wie bisher, dann einen Kompetenzkonflikt in Anspruch nehmen könne, wenn die Sache bei zwei Behörden anhängig war, sondern auch dann, wenn diese bereits in der Sache entschieden hatten. »Dadurch«, so der VfGH in seinem Erkenntnis vom 27. Februar 1928, »ist die Möglichkeit gegeben, daß ein Kompetenzkonflikt nicht nur dadurch entsteht, daß ein Gericht in einer Sache entscheidet, sondern auch dadurch: wie ein Gericht in einer Sache entscheidet, über die die Verwaltungsbehörde bereits entschieden hat.«1188 In seinem Aufsatz erläuterte Kelsen diese Ansicht noch näher: Demnach sei ein Kompetenzkonflikt nicht schon 1183 [Kelsen],
Dispensehewirrwarr (1928). Nr. 18 v. 18. 1. 1928, 4. Das Gerichtsurteil wurde am 12. 5. 1928 vom VfGH aufgehoben; der äußerst verwickelte Fall beschäftigte Verwaltungsbehörden und Gerichte noch bis 1938; vgl. dazu Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 515–528. 1185 ÖStA, AdR, Höchstgerichte 1. Rep., VfGH, Karton 74, K 14/27, pag 26v. 1186 VfGH 27. 2 . 1928 K 14/27 VfSlg 951. Vgl. dazu Walter, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 67. 1187 Verfassungsgerichtshofgesetz v. 18. 1 2. 1925 BGBl 454. 1188 VfSlg 951; vgl. Zellenberg, Kelsen und die Deutung des Bindungskonflikts (2014) 694. 1184 AZ
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5. Kapitel: Der Sturz Kelsens
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dann gegeben, wenn der Tatbestand identisch ist, weil dieser ja auf verschiedenen Ebenen geprüft werden könne – man denke an die Prüfung eines Bescheides auf seine Gesetzmäßigkeit durch den VwGH und auf seine Verfassungsmäßigkeit durch den VfGH. Es sei vielmehr notwendig, dass auch dieselben Rechtsnormen angewendet wurden. Dies sei aber nur aus der Begründung des Urteils erkennbar, und insoweit sei es dem VfGH gestattet, auch die Begründungen der konkurrierenden Behörden zu überprüfen.1189 Aber der Dispensehenstreit hatte seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. |c Am 3. April 1928 erstellte die Plenarversammlung des OGH ein Ergänzungsgutachten zu ihrem Gutachten aus dem Jahr 1921, in dem sie die Richtigkeit des ersten Gutachtens bestätigte und dem VfGH vorwarf, dass er mit seinem 1927 geschöpften Erkenntnis seiner eigenen Vorjudikatur widerspreche. Damit stellte sich ein Höchstgericht offen gegen das andere. Das Ziel, das Kelsen eigentlich erreichen hatte wollen – das Ansehen der staatlichen Autoritäten wieder zu stärken –, war nun in weiterer Ferne als je zuvor. Aber mehr noch: Der OGH wandte sich in seinem Gutachten auch direkt gegen Kelsen, dessen Aufsatz in den »Juristischen Blättern« er kritisierte: Ein Kompetenzstreit könne nur vorliegen, wenn zwei Behörden über dieselbe Sache streiten. Dies sei aber nicht der Fall, wenn diese Sache für eine der beiden Behörden nur eine Vorfrage sei. Darüber hinaus erklärte er nunmehr die Dispense vom bestehenden Eheband für absolut nichtige Akte, zumal sie mit dem Strafgesetz im Widerspruch stünden. Absolut nichtige Akte aber müssten nicht nach § 68 AVG aufgehoben werden, denn sie seien niemals existent – wobei der OGH ausgerechnet Kelsens Aufsatz über Staatsunrecht aus dem Jahr 1914 zitierte.1190 Just in diese Zeit fiel die Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Wien, über die an anderer Stelle schon ausführlich berichtet wurde.1191 Am zweiten Verhandlungstag, dem 24. April 1928, stand das Thema »Überprüfung von Verwaltungsakten durch die ordentlichen Gerichte« zur Diskussion. c| Es ist durchaus möglich, dass die aktuelle Entwicklung in Österreich den Anstoß zur Wahl dieses Diskussionsthemas gegeben hatte – wie berichtet, waren die Themen um die Jahreswende 1927/28 vereinbart worden, also zum selben Zeitpunkt, zu dem der VfGH mit seiner Judikatur, dass die Gerichte (in der Frage der Dispensehen) die Entscheidungen der Verwaltungsbehörden nicht überprüfen könnten, begonnen hatte. Der erste Referent zu diesem Thema war Max Layer, welcher |b alle nur denkbaren Fallkonstellationen, in denen Verwaltungsbehörden und Gerichte über dieselbe Sache zu entscheiden hätten, konstruierte, wobei er zu immer schwierigeren und stärker verwickelten Fällen kam, bis er schließlich bei der Problematik anlangte, »ob und welche Abhilfe möglich ist, wenn das Gericht entgegen den hier entwickelten Grundsätzen die Verbindlichkeit eines 1189 Kelsen,
Der Begriff des Kompetenzkonfliktes (1928) 107. des OGH vom 3. 4. 1928 Praes 1044/27, SZ 70 (1928) Nr. 51, bes. 122 (mit Bezugnahme auf Kelsen, Der Begriff des Kompetenzkonflikts [1928]) und 126 f. (mit Bezugnahme auf Kelsen, Über Staatsunrecht [1914] 54 f. = HKW III, 483). 1191 Oben 416. 1190 Plenarbeschluss
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
präjudiziellen Verwaltungsaktes nicht anerkennt und demgemäß eine Entscheidung fällt, die in ihren Konsequenzen mit den Wirkungen des Verwaltungsaktes in Widerstreit kommen muß.«1192 Und er gab dem VfGH Recht, dass es sich hier um einen positiven Kompetenzkonflikt handle und dass die Gerichte nicht befugt seien, über die Gültigkeit der Dispenserteilungen zu entscheiden b| – freilich nicht ohne gewisse Untertöne: Der VfGH sei »in großzügiger Auffassung über die formalen Bedenken hinweggeschritten, um einem großen Prinzip […] zum Durchbruch zu verhelfen.«1193 Der zweite Referent, Ernst von Hippel, nahm in seinem Referat zu den Dispensehen (die ihn als Deutschen kaum betrafen) nicht Stellung; wohl aber wurde in der nachfolgenden Diskussion die aktuelle Entwicklung in Österreich intensiv diskutiert. Und bemerkenswerter Weise zeigte der Großteil der Diskutanten, sogar Kelsens Widersacher Laun, Verständnis für die Linie des VfGH und bezeichnete den »Zustand der völligen Rechtsunsicherheit«, wie er vor 1927 bestanden hatte, als »unerträglich«.1194 Rückendeckung bekam Kelsen auf der Tagung natürlich auch von Merkl, der die Bedeutung des – auch von Layer zitierten – § 68 AVG noch einmal hervorhob und daraus die Unzulässigkeit der Nichtbeachtung eines Verwaltungsaktes durch die Gerichte ableitete.1195 Die bedeutendste Wortmeldung aber spendete Kelsen selbst. Ausführlich erläuterte er seinen deutschen Fachkollegen nicht nur die juristische Seite der Dispensehenproblematik, sondern auch ihre praktische Bedeutung – so etwa, wenn er auf pensionsrechtliche Folgen einer Wiederverheiratung einging, oder wenn er von den (tatsächlich vorgekommenen) Fällen regelrechter Erpressung berichtete, die ein Ehegatte gegen den anderen unternehmen konnte, indem er die reichlich unklare Rechtslage ausnützte.1196 Aber auch hier ging es ihm gar nicht so sehr um die persönlichen Tragödien, die hinter der Dispensehenproblematik steckten, als vielmehr um die prinzipielle Problematik, dass ein staatliches Organ die Entscheidungen eines anderen staatlichen Organs nicht anerkenne, womit die staatliche Autorität kompromittiert werde. Als »Wurzel des Übels« sah er »die Vorstellung von der Höherwertigkeit von Zivilrecht und Zivilprozeßrecht gegenüber Verwaltungsrecht«, die Vorstellung, dass die Verwaltungstätigkeit keine rechtsprechende Tätigkeit, »sondern eigentlich etwas vom Recht Verschiedenes sei […] Letzten Endes geht diese Auffassung auf die Lehre vom Verhältnis zwischen Staat und Recht zurück: auf diesen unglückseligen Dualismus, den ich seit jeher bekämpfe.«1197 Daher bekannte er sich ausdrücklich zur Judikatur des VfGH und übernahm »persönlich für sie gerne die Verantwortung.«1198 1192 Layer,
Überprüfung von Verwaltungsakten (1929) 168. Überprüfung von Verwaltungsakten (1929) 172. 1194 Rudolf Laun, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 5 (Wien–Leipzig 1929) 218. 1195 Adolf Merkl, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 5 (Wien–Leipzig 1929) 221. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass Merkl in seinem Lehrbuch »Allgemeines Verwaltungsrecht« den § 83 ABGB für ein Musterbeispiel von »freiem Ermessen« ansah: Merkl, Verwaltungsrecht (1927) 140. 1196 Hans Kelsen, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 5 (Wien–Leipzig 1929) 224. Vgl. dazu schon das oben 443 zum Fall Oerley Gesagte! 1197 Hans Kelsen, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 5 (Wien–Leipzig 1929) 225. 1198 Hans Kelsen, Diskussionsbeitrag, in: VVdStRL 5 (Wien–Leipzig 1929) 222. 1193 Layer,
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5. Kapitel: Der Sturz Kelsens
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Vielleicht war Kelsen aufgrund seines wissenschaftlichen Erfolges bei der Staatsrechtslehrertagung wieder besonders siegessicher. |c Als ihn wenige Tage später die »Neue Freie Presse« um ein Interview zum Ergänzungsgutachten des OGH bat, verwies er darauf, dass bei der kürzlich in Wien stattgefundenen Tagung auch einer der Referenten (womit er wohl Layer meinte) sich für die Bindung der Gerichte an die Verwaltungsakte ausgesprochen habe. Dagegen könne man »wohl ernstlich von der absoluten Nichtigkeit der Dispensationsakte nicht sprechen« – es war dies schon fast eine Verhöhnung des OGH!1199 Kelsen ging aber noch weiter und brach zum ersten – und einzigen – Mal seine selbst auferlegte Beschränkung, nur zur Frage des Kompetenzkonflikts, nicht zur Dispensehenproblematik selbst sprechen zu wollen. Kelsen erklärte nunmehr, dass die bestehende Dispenspraxis sehr wohl mit dem »Geist und Sinn« des ABGB vereinbar sei. Und sozusagen als Krönung seines Interviews wies er darauf hin, dass es keine Anzeichen gebe, dass der VfGH seine Judikatur ändern werde, er werde alle zu ihm gebrachten Zivilurteile, mit denen Dispensationen für nichtig erklärt worden waren, aufheben, bis die Gerichte diese Praxis einstellten, oder bis eine gesetzliche Ehereform komme. Tatsächlich verharrte der VfGH in der nun kommenden großen Zahl an Eherechtsfällen bei seiner Vorjudikatur, auf die er bei den nun ergehenden Erkenntnissen nur mehr pauschal hinwies. Im Mai 1928 wurden neun Urteile, im Juni 15 Urteile, im Oktober 32 Urteile, mit denen Dispensehen für ungültig erklärt worden waren, gemäß Art. 138 B-VG aufgehoben. Im Jahr 1929 waren dies im Februar 34 Urteile, im Mai 43 Urteile, im Juni 6 Urteile und im Dezember 29 Urteile, insgesamt also 170 Urteile.1200 c| Die kritischen Stimmen aus den Reihen vor allem der Zivil‑ und Zivilprozessrechtslehrer wurden aber immer lauter,1201 und es ist typisch für den Umgang Kelsens mit wissenschaftlichen Gegnern, dass er ihnen auch im Fall des Dispensehenstreites seine eigene Zeitschrift, die ZÖR, als Forum zur Verfügung stellte. Interessanterweise war es aber »nur« der weitgehend unbekannte Privatdozent für Zivilprozessrecht Karl Satter, im Brotberuf Bibliothekar an der Universität Wien, der diese Möglichkeit nutzte und Anfang 1928 einen Beitrag über »Grenzen der Kompetenzgerichtsbarkeit« in der ZÖR veröffentlichte. Satter erklärte, dass der VfGH »von einem unrichtigen, weil 1199 NFP Nr. 22860 v. 27. 4. 1928, 4. Bereits in seinem Aufsaztz in den JBl (Kelsen, Der Begriff des Kompetenzkonflikts [1928] 109) hatte er gemeint, dass es »zu absurd« wäre, die vielen tausenden Dispenserklärungen für absolut nichtig zu bezeichnen, als dass man sich ernstlich damit auseinandersetzen müsse – was aber der OGH offenbar doch tat! 1200 Vgl. die unter VfSlg 1001, VfSlg 1032, VfSlg 1059, VfSlg 1135, VfSlg 1201, VfSlg 1236, VfSlg 1272a jeweils summarisch veröffentlichten – in der Hauptfrage gleich gelagerten – Erkenntnisse des VfGH v. 12. 5. 1928, v. 20. 6. 1928, v. 11. 10. 1928, v. 18. u. 19. 2 . 1929, v. 10.–15. 5. 1929, v. 27. 6. 1929 sowie 9.–14. 1 2. 1929. In einigen Fällen, so etwa bei VfSlg 1023, VfSlg 1033, VfSlg 1060 oder VfSlg 1272b, erfolgte aus prozessrechtlichen oder sonstigen Gründen eine Zurück‑ oder Abweisung (insbesondere bei Rechtskraft des Zivilrechtsurteils); VfSlg 1033 ist auch deshalb interessant, als es die prozessrechtlichen Komplikationen dokumentiert, die aus der Vernichtung tausender Gerichtsakten beim Justizpalastbrand 1927 (zu diesem noch unten 458) resultierten. 1201 So gut wie jede juristische Fachzeitschrift widmete sich mit einem oder mehreren Beiträgen dem Thema; anzuführen ist an dieser Stelle jedenfalls noch Wahle, Bindung der Gerichte (1928).
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
unzulässig erweiterten Begriff der Unzuständigkeit ausgehe.«1202 Ein solcher könne nur dann bestehen, wenn zwei Behörden tatsächlich über die gleiche Sache, im Sinne von Hauptsache, entscheiden, nicht wenn die Hauptsache der einen eine Vorfrage für die andere bilde. Kelsen ließ es sich nicht nehmen, noch im selben Heft der ZÖR einen eigenen, wesentlich kürzeren Beitrag zu veröffentlichen, in dem er sich darauf beschränken wollte, »einige richtigstellende Bemerkungen [zu] machen.«1203 Wesentlich neue Argumente brachte er nicht hervor, vielmehr druckte er längere Passagen aus seinem Aufsatz in den »Juristischen Blättern« erneut ab1204 und gab seiner Verwunderung darüber Ausdruck, weshalb Satter ebendiesen Aufstz im wesentlichen nur polemisch zitiert habe. Auch wies er die Behauptung Satters zurück, Kelsen selbst habe in seinem Aufsatz »Über Staatsunrecht« eine andere Ansicht vertreten als nunmehr der VfGH.1205 Der gefährlichste Gegner Kelsens auf wissenschaftlichem Gebiet aber war der sonst so unscheinbare Zivilprozessualist Georg Petschek, vormals Professor an der Universität Czernowitz, der seit der Rumänisierung der ehemaligen Franz-JosephsUniversität 1919 sein Dasein als Privatdozent an der Universität Wien (wenn auch unter Beibehaltung des Professorentitels) fristete.1206 Anfang 1929 veröffentlichte er in dem von ihm selbst mitherausgegebenen »Zentralblatt für die juristische Praxis« einen Aufsatz, in dem er, wie er es selbst ausdrückte, aus Kelsens ganzer Lehre vom indirekten Kompetenzkonflikt eine »Trümmerstätte« machte. Scharfsinnig wies er nach, dass ein (positiver) Kompetenzkonflikt nur dann bestehen könne, wenn zumindest eine der beiden Behörden zu Unrecht ihre Kompetenz in Anspruch genommen habe. Anders beim »indirekten Kompetenzkonflikt«: »Der VerfGH verneint […] nicht die Pflicht des Gerichtes, in der Sache zu entscheiden, er denkt selbst nicht daran, mit seinem Ausspruch dem gerichtlichen Verfahren ein Ende zu setzen, sondern seine Intention geht auf freie Bahn für ein nochmaliges Sachurteil des Gerichtes bestimmten, vom VerfGH gebilligten Inhaltes, der VerfGH […] spielt demnach Rechtsmittelinstanz.«1207 Petschek wies darauf hin, dass das Zivilgericht zwar das Erkenntnis des VfGH, nicht jedoch dessen Entscheidungsgründe akzeptieren müsse; es könne, ein zweites Mal mit derselben Angelegenheit befasst, erneut so urteilen wie 1202 Satter,
Kompetenzgerichtsbarkeit (1928) 568. Kelsen, Zum Begriff des Kompetenzkonfliktes (1928) 583. 1204 Zellenberg, Kelsen und die Deutung des Bindungskonfliks (2014) 689, erwähnt dabei auch, dass sich Kelsen bei mehreren Passagen selbst zitierte, ohne dies anzugeben. Dies entsprach, wie schon mehrfach gezeigt, der üblichen Arbeitsweise Kelsens und wurde zu seiner Zeit auch in keiner Weise als anstößig empfunden, der von Zellenberg a. a. O. verwendete Begriff »Selbstplagiat« existierte 1928 noch nicht. 1205 Kelsen, Zum Begriff des Kompetenzkonfliktes (1928) 586, 599. 1206 Geb. Köln an der Elbe [Kolín/CZ] 20. 7. 1872, gest. Cambridge/MA 5. 9. 1947; vgl. zu ihm Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 414 f. Walter, Verfassungsrichter (2005) 68, mutmaßt, dass auch Petschek in einer Dispensehe lebte, was hier weder bewiesen noch widerlegt werden kann; seine Vermutung stützt sich auf eine Bemerkung von Métall, Kelsen (1969) 54. Kelsen selbst machte keine derartige persönliche Bemerkung, insofern unrichtig Walter a. a. O. 1207 Petschek, Indirekter Kompetenzkonflikt und Bindungskonflikt (1929) 351. 1203
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5. Kapitel: Der Sturz Kelsens
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beim ersten Mal! Kelsen, der sich laut Petschek nicht (ausreichend) mit den Prozeßgesetzen auseinandergesetzt habe, überschätze »die Tragweite des [§] 68 AVG«, als ob dadurch ein rechtskräftiger Verwaltungsakt »über jeden Zweifel erhaben wäre.« Vielmehr sei es eine Folge eines solchen – rechtskräftigen, aber nichtsdestoweniger rechtswidrigen – Aktes, dass er wirkungslos bleibe, weil andere Organe befugt, ja verpflichtet seien, von sich aus die Rechtmäßigkeit dieses Aktes »incidenter zu berücksichtigen«.1208 Insgesamt ergab sich für Petschek, »daß der indirekte Kompetenzkonflikt bloße Frucht untechnischer Terminologie ist, daß er die einfache Beantwortung einer Prämisse auf das Niveau einer Entscheidung hinaufschraubt und so aus dem Gebiet der rechtlichen Sachbeurteilung, wo allein die Frage, ob das Gericht an den betreffenden Verwaltungsakt gebunden sei, auszutragen ist, in einen Zweifel über den Kompetenzbereich übersetzt.« |c Petschek schlug vor, anstelle eines »indirekten Kompetenzkonfliktes« besser von »Bindungskonflikt« zu sprechen, erkannte auch an, dass dieses Problem einer gesetzlichen Lösung harre, und formulierte sogar eine Verfassungsnovelle, die dem VfGH das Recht gebe, auch über Bindungskonflikte zu erkennen. Kelsens Verdienst sei es, das Problem aufgezeigt zu haben, sodass man darangehen könne, das Problem im gesetzgebungstechnischen Wege zu lösen, »und in Frieden mit ihm dürfen nach heißem Kampfe diese Zeilen ausklingen.«1209 c| Es waren dies bemerkenswert versöhnliche Töne, die Petschek hier anschlug, und sie sind wohl Indiz dafür, dass es Petschek hier wirklich nur um einen juristischen Disput ging und er nichts Persönliches gegen Kelsen hatte – es sind uns sonst keinerlei persönliche oder wissenschaftliche Kontakte zwischen den beiden Juristen bekannt. Aber für Kelsen war der Dispensehenstreit schon längst mehr als ein Thema wissenschaftlicher Diskussion; der politische Streit, in den er bewusst eingetreten war, kreiste immer stärker um ihn persönlich und bestimmte sein eigenes Schicksal. Schon mit seinem Aufsatz in den »Juristischen Blättern« hatte sich Kelsen als der eigentliche »Kopf« hinter der Dispensehenjudikatur »geoutet«, und auf der Staatsrechtslehrertagung hatte er noch einmal in aller Öffentlichkeit die Verantwortung für die Judikaturlinie des VfGH auf sich genommen. Vielleicht wollte Kelsen damit den bereits vorhandenen Spekulationen1210 ein Ende bereiten, vielleicht wollte er auch einfach das Gewicht seines Namens in die Waagschale werfen. Effekt war jedenfalls, dass nicht nur der VfGH, sondern auch Kelsen persönlich zum Gegenstand heftigster Angriffe wurde, wobei diese Angriffe beileibe nicht auf akademisches Terrain beschränkt blieben. »Ich wurde beschuldigt, der Bigamie Vorschub zu leisten und dergleichen. Unter anderem erinnere ich mich, dass meine beiden kleinen Toechter, als sie von der Schule nachhause kamen, mir mit grosser Bestuerzung sagten, an der Eingangstuer zu unserer Wohnung sei eine Art Plakat angebracht, in dem schreckliche 1208 Petschek,
Indirekter Kompetenzkonflikt und Bindungskonflikt (1929) 362 f. Indirekter Kompetenzkonflikt und Bindungskonflikt (1929) 371–375.. 1210 Vgl. etwa Karl Wahle, Schreiben an Ignaz Seipel vom 22. 11. 1927, zit. n. Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 306 f. 1209 Petschek,
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Dinge ueber mich stuenden. Da ich selbst die Wohnung an diesem Tage noch nicht verlassen hatte, hatte ich das Plakat noch nicht gesehen. Nun entfernte ich es. Es enthielt die unflaetigsten Beschimpfungen sexueller Art; Haremshaelter war noch eine der mildesten.«1211 Im Oktober 1928 nahm Kelsen an einer Sitzung des Institut International de Droit Public in Paris teil und hielt dort einen Vortrag über die gerichtlichen Garantien der Verfassung.1212 Die »Reichspost« berichtete kurz darüber und nahm dies zum Anlass, um – diesmal völlig losgelöst von der Dispensehenproblematik – direkt gegen Kelsen und den VfGH zu schreiben. Namentlich wurde Kelsen vorgeworfen, dass er 1920 entscheidend daran mitgewirkt hatte, dass mit dem VfGH ein »Kontrollrecht in einem Ausmaße geschaffen [worden war], wie es, soweit uns bekannt ist, bisher kein Rechtsstaat der Welt getan hat.«1213 |c Eine Aussage, die, wohlgemerkt, als Kritik zu verstehen war! Sodann übte die »Reichspost« scharfe Kritik an zwei Erkenntnissen des VfGH der vergangenen Oktobersession,1214 was besonders schwer wog, als am selben Tag, an dem der kritische Artikel erschien, der VfGH über eine besonders heikle politische Angelegenheit zu erkennen hatte: c| Die Bundesregierung hatte den Antrag gestellt, das Wiener Straßenpolizeigesetz als verfassungswidrig aufzuheben, weil der Wiener Landtag die Kompetenz des Landesgesetzgebers überschritten hatte. Der VfGH hob das gesamte Gesetz als verfassungswidrig auf,1215 kam also hier den Interessen des Bundes entgegen, nachdem er doch – wie an anderer Stelle gezeigt – wenige Monate zuvor in der gleichen Materie ein für das Land Wien sehr günstiges Erkenntnis geschöpft hatte, was Kelsen in der »Neuen Freien Presse« damit rechtfertigte, dass es sich um zwei »gänzlich verschiedene« Fragen gehandelt habe.1216 |c Noch am selben Tag schrieb VfGH-Präsident Vittorelli an Bundeskanzler Seipel, dass die politisch der Bundesregierung nahestehende Zeitung eine »planmäßige Kampagne« gegen das Höchstgericht führte, die »das Ansehen des Verfassungsgerichtshofes in der Öffentlichkeit« herabzusetzen beabsichtige. Seipel zeigte sich abweisend, verwies nur auf die Pressefreiheit und dass der »Reichspost« nicht verwehrt werden dürfe, was anderen Zeitungen erlaubt sei.1217 1211 Kelsen,
Autobiographie (1947) 34 = HKW I, 75. La garantie juridictionelle (1929); Kelsen, Discussion (1929). 1213 Reichspost Nr. 319 v. 16. 11. 1928, 1 f. 1214 Bei dem einen dieser Erkenntnisse handelte es sich um die Prüfung eines oberösterreichischen Landesgesetzes; laut »Reichspost« hatte sich die Landesregierung überhaupt geweigert, einen Vertreter zur mündlichen Verhandlung zu senden, weil sie die Beschwerdelegitimation des Beschwerdeführers nicht anerkannte, zumal keine Verletzung eines verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechts, sondern nur allgemein eine Verfassungswidrigkeit behauptet worden war; mit Erkenntnis vom 13. 10. 1928 G 1/28 VfSlg 1064 erkannte der VfGH, dass eine Verfassungswidrigkeit nicht vorlag. Das zweite Erkenntnis betraf eine Beschwerde gegen die Satzungen der Interessensvertretungen der deutschösterreichischen Gendarmerie von 1919, die als gesetzwidrig aufgehoben wurden: Erkenntnis vom 9. 10. 1928 V 4/28 VfSlg 1053. 1215 VfGH 16. 11. 1928 G 3/28 VfSlg 1114. Der Referent in dieser Sache war Friedrich Engel. 1216 Kelsen, Straßenpolizei (1928). 1217 Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 404–406. 1212 Kelsen,
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5. Kapitel: Der Sturz Kelsens
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Und unter dem Schutz des Bundeskanzlers wurde der Ton der »Reichspost« gegen Kelsen und den VfGH immer aggressiver. Am 9. November titelte sie: »Der Verfassungsgerichtshof gegen den Rechtsstaat. Eine bisher unübertroffene Groteske. – Die Türken haben die Vielweiberei abgeschafft. – Der österreichische Verfassungsgerichtshof führt sie ein«, und vergaß nicht zu erwähnen, dass der Referent Professor Dr. Kelsen die 39 (richtig: 32) Dispensehenfälle, über die der VfGH in der Oktobersession entschieden habe, auf »nicht einmal neun Schreibmaschinseiten«, also wie eine Bagatellsache abgehandelt habe. Auch »eine Frage« stellte die »Reichspost« »an den hohen Verfassungsgerichtshof, vor allem aber an seinen Referenten Professor Doktor Kelsen: Besteht § 62 ABGB, der besagt: ›Ein Mann darf nur mit einem Weib und ein Weib nur mit einem Manne zu gleicher Zeit vermählt sein‹ noch zu Recht oder nicht? Wir fordern die Beantwortung dieser Frage mit einem klaren Ja oder Nein ohne weitschweifige juristisch spitzfindige Ausführungen.«1218 c|
3. Der Brand des Justizpalastes Die Auseinandersetzungen rund um die Dispensehen fielen in eine Zeit, als das politische Klima in Österreich spürbar rauer wurde. Die Sozialdemokraten, die sich seit 1920 in Opposition befanden, waren mit einem besonderen Optimismus in den Nationalratswahlkampf 1927 gegangen, nun endlich die Wende herbeiführen zu können. Bundeskanzler Seipel versuchte demgegenüber, alle antimarxistischen Kräfte zu mobilisieren und eine Einheitsliste zu bilden, die die Christlichsozialen, die Großdeutschen und auch eine Fraktion der österreichischen Nationalsozialisten (die sog. Schulz-Gruppe) umfassen sollte, während die andere Fraktion (die sog. Hitlerbewegung) erstmals als eigene Partei in Österreich kandidierte.1219 Letztlich kam auch die Allianz mit der Schulz-Gruppe nicht zustande; vor allem aber war es Seipel nicht gelungen, den konservativen Landbund in seine Einheitsliste zu integrieren. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums boten die Kommunisten den Sozialdemokraten ein Wahlbündnis an, das von diesen aber abgelehnt wurde. »Der Wahlkampf war heftig. Es ging um jede Stimme.«1220 Außer dem Nationalrat wurden auch die Landtage von Wien, Niederösterreich, Steiermark, Kärnten und dem Burgenland sowie mehrere
1218 Reichspost
Nr. 313 v. 9. 11. 1928, 1. Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei, von der Hitler später den Namen (in veränderter Wortfolge) für seine eigene Partei übernahm, war in den letzten Tagen der Doppelmonarchie gegründet worden und bestand sowohl in der ČSR als auch in der Republik (Deutsch‑) Österreich fort. 1926 fiel ein Flügel der damals von Karl Schulz geleiteten Partei ab und unterstellte sich ganz der reichsdeutschen NSDAP unter Hitler, während die Schulz-Gruppe schon rasch zur Bedeutungslosigkeit versank. Vgl. Rosenkranz, Die »Schulz-Gruppe« (2004) bes. 227 ff. sowie künftig Kleinszig, Vom Deutschen Gehilfenverein zur DNSAP (im Druck). 1220 Berchtold, Verfassungsgeschichte (1999) 450. Die ebendort aufgestellte Behauptung, die Schulz-Gruppe wäre in der Einheitsliste vertreten gewesen, ist unrichtig. 1219 Die
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Gemeinderäte gewählt; der 24. April 1927 war somit das, was man heute als einen »Super-Wahlsonntag« bezeichnen würde.1221 Vier Tage zuvor, am 20. April, brachte die »Arbeiter-Zeitung« einen Artikel, betitelt »Eine Kundgebung des geistigen Wien«. Neununddreißig Wissenschaftler und Künstler fanden sich da zusammen, von den Schriftstellern Robert Musil und Franz Werfel sowie dessen nachmaliger Ehefrau Alma Mahler(‑Werfel) über die Komponisten Egon Wellesz und Anton Webern, die beiden Psychotherapeuten Alfred Adler und Sigmund Freud, den Psychologen Karl Bühler und die Frauenrechtlerin Margarete Minor bis hin zu Hans Kelsen. Sie alle beteuerten zwar, dass der »geistig wirkende Mensch […] zwischen und über den Klassen« stehe und die Unterzeichnenden sich prinzipiell nicht in politische Kämpfe einmengen wollten. »Es wäre aber ein wahres Versäumnis, wenn man im Abwehrkampf gegen Steuerlasten die große soziale und kulturelle Leistung der Wiener Stadtverwaltung übersähe. Diese große und fruchtbare Leistung, welche die Bedürftigen leiblich betreut, die Jugend nach den besten Prinzipien erzieht und entwickelt, den Strom der Kultur in die Tiefe leitet, diese Taten wollen gerade wir anerkennen, dieses überpolitische Werk möchten gerade wir erhalten und gefördert wissen.«1222 Es war dies also primär eine Unterstützungserklärung für die sozialdemokratische Wiener Landespartei, deren absolute Mehrheit im Wiener Landtag aber nicht ernstlich in Gefahr stand; schwerer wog wohl, dass mit dieser Erklärung die Sozialdemokraten insgesamt, gerade auch bei der Nationalratswahl unterstützt wurden. In der Literatur sollte der Aufruf später als »Grünbaum-Aufruf« bezeichnet werden, nach dem Kabarettisten Fritz Grünbaum1223, der mit unterschrieben hatte und von dem offenbar die Initiative ausgegangen war.1224 Es ist unbekannt, aus welchen Gründen Kelsen den Aufruf mit unterzeichnet hatte. Er hatte sich mit ihm zwar nicht, wie zum Teil behauptet, als Sozialdemokrat, wohl aber als ein den Sozialdemokraten nahestehender Intellektueller »geoutet« und sich jedenfalls bei den Bürgerlichen keine Freunde gemacht. Der Superwahlsonntag endete mit herben Stimmverlusten für Seipel; die Sozialdemokraten konnten ihren Wähleranteil in Wien um 21 %, in den übrigen Bundesländern um durchschnittlich 11 % steigern und hielten nun bei mehr als 1,5 Millionen Wählerinnen und Wähler, während die bürgerliche Einheitsliste bei 1,7 Millionen (und die Hitlerbewegung bei gerade einmal 778) Wählerinnen und Wählern stand.1225 1221 Vgl. dazu Fritz Kaufmann, Sozialdemokratie (1978) 201; Staudinger /Müller /Steininger, Die Christlichsoziale Partei (1995) 162. 1222 AZ Nr. 108 v. 20. 4. 1927, 1. Vgl. auch die Berichterstattung in der NFP Nr. 22484 v. 20. 4. 1927, 5; Corino, Musil (2003) 784. 1223 Geb. Brünn [Brno/CZ] 7. 4. 1880, gest. KZ Dachau 14. 1. 1941; vgl. St. Frey, Grünbaum Fritz, in: ÖBL-online http://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_G/Gruenbaum_Fritz_1880_1940. xml?frames=yes [Erstellt: 27. 11. 2017/Zugriff: 02. 05. 2019] Grünbaum trat u. a. gemeinsam mit Karl Farkas im Cabaret »Simpl« auf; vgl. auch seine Erwähung bei Torberg, Die Erben der Tante Jolesch (1978) 188. 1224 Zeleny, Kelsen als politischer Mensch (2018) 19. 1225 Das amtliche statistische Endergebnis unter https://www.bmi.gv.at/412/Nationalratswahlen/ files/NRW_1927.pdf [Zugriff: 02. 05. 2019]; vgl. auch AZ Nr. 114 v. 26. 4. 1927, 1.
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5. Kapitel: Der Sturz Kelsens
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Für die Christlichsozialen wogen die Verluste besonders schwer, weil sie den Großdeutschen aufgrund des Wahlbündnisses 12 Nationalratsmandate zuerkennen mussten, womit für sie selbst nur mehr 73 Mandate blieben, während die Sozialdemokraten auf 71 Mandate kamen. Allerdings vermochte es die SdAP nicht, einen Vorteil aus der Wahl zu schlagen, weil das Hauptziel – die Veränderung der Mehrheitsverhältnisse im Nationalrat – verfehlt worden war und sie in der Opposition verharrte; Seipel blieb weiterhin Obmann einer Koalitionsregierung, wobei zu den Christlichsozialen und Großdeutschen nun auch der Landbund (er hatte 280.000 Wählerinnen und Wähler bzw. 9 Mandate errungen) hinzutrat.1226 Übrigens hatte die Wahl noch ein juristisches Nachspiel: Im XVIII. Wiener Gemeindebezirk Währing, wo der Stimmenabstand zwischen Sozialdemokraten und Einheitsliste nur 26 Stimmen betrug, wurde die Wahl von der Einheitsliste beim VfGH angefochten und es wurden dabei mehrere Unregelmäßigkeiten (Teilnahme von nicht Wahlberechtigten an der Wahl, Stimmauszählung durch »Hilfskräfte« statt durch die Wahlbehörde selbst) festgestellt. Obwohl eine Manipulation der Stimmen selbst nicht festgestellt werden konnte, beschloss der VfGH auf Antrag seines Referenten Kelsen, die Wahl in Währing, soweit es die Bezirksvertretung betraf, aufzuheben: »Um eine angefochtene Wahl aufzuheben, muß nicht der Nachweis erbracht werden, daß die vom Verfassungsgerichtshof als erwiesen angenommenen Rechtswidrigkeiten tatsächlich auf das Wahlergebnis von Einfluß waren, sondern es genügt, daß die erwiesene Rechtswidrigkeit auf das Wahlergebnis von Einfluß sein konnte«.1227 Es gehörte zu den Charakteristika der sog. Ersten Republik (1918–1933), dass ihre Politik nicht nur im Parlament und im VfGH, sondern auch auf der Straße gemacht wurde.1228 In den Tagen des Zusammenbruchs der Monarchie, als die Grenzen zu den übrigen Nachfolgestaaten vielfach strittig waren, hatten sich spontan Frontkämpfervereinigungen und Heimwehren gebildet, die auch nach 1919 bestehen und unter Waffen blieben und mit ihren ständigen Aufmärschen ein sichtbares Zeichen ihrer Stärke setzten.1229 Politisch standen sie den bürgerlichen Parteien, insbesondere den Christlichsozialen nahe, sympathisierten aber immer stärker und auch offen mit dem italienischen Faschismus. Um ein Gegengewicht zu schaffen, hatte sich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei 1923 dazu entschlossen, auf Vereinsbasis den »Republikanischen Schutzbund« zu gründen, dessen Mitglieder ebenso wie die 1226 Hasiba, Die Zweite Bundes-Verfassungsnovelle (1976) 37; Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 451. 1227 VfGH 9. 11. 1927 VfSlg 888; vgl. Walter, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 87. Kelsen begründete damit eine sehr strenge Judikaturlinie des VfGH, die bis zum heutigen Tag anhält; u. a. berief sich der VfGH, als er die Bundespräsidentenstichwahl 2016 annullierte (VfGH 1. 7. 2016 W I 6/2016 VfSlg 20.071), ausdrücklich auf Kelsens Entscheidung aus dem Jahr 1927. Unmittelbare Folge des Erkenntnisses von 1927 war, dass die Wahl in Währing wiederholt werden musste, sie führte nunmehr zu einem deutlichen Sieg der Sozialdemokraten: AZ Nr. 86 v. 26. 3. 1928. 1228 Dazu und zum Folgenden R athkolb, Erste Republik (2015) 491. 1229 Vgl. die 1932 getätigte Äußerung Renners, wonach es nach Abschluss des »Friedensvertrages« (sic) von St. Germain »politisch und praktisch untunlich« gewesen war, diese Verbände wieder zu entwaffnen: Nasko, Renner in Dokumenten und Erinnerungen (1982) 114.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Heimwehren mit Waffen ausgerüstet wurden und gleichfalls die Stärke ihrer Bewegung zeigen sollten.1230 Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen den paramilitärischen Gruppierungen häuften sich; der folgenschwerste Zusammenstoß erfolgte am 30. Jänner 1927 im kleinen burgenländischen Ort Schattendorf. Ein Kriegsinvalide und ein achtjähriges Kind starben durch Gewehrkugeln, zahlreiche andere Personen wurden verletzt. Drei Frontkämpfer wurden des Mordes angeklagt und vor ein Geschworenengericht in Wien gestellt, doch erfolgte am 14. Juli in allen drei Fällen ein Freispruch.1231 Am 15. Juli 1927 brachte die »Arbeiter-Zeitung« einen Leitartikel von Austerlitz, in dem er die Freisprüche im Schattendorf-Prozess vom Vortag scharf brandmarkte und die Bourgeoisie warnte, das Vertrauen der Arbeiterschaft in die Justiz zu untergraben.1232 Noch am selben Morgen kam es überall in der Stadt zu spontanen Streiks, und es bildeten sich Menschenansammlungen. Eine Demonstration von über tausend Männern und Frauen führte vom Straflandesgericht, wo der Freispruch erfolgt war, zum Justizpalast, Sitz des OGH und des Justizministers. Die aufgebrachte Menge stürmte den Justizpalast, Akten und Möbel wurden aus den Fenstern geworfen, Feuer wurde gelegt. Vergeblich bemühten sich der Obmann des Republikanischen Schutzbundes Julius Deutsch, der Wiener Bürgermeister Karl Seitz sowie andere sozialdemokratische Politiker, die Menge wenigstens soweit zu beruhigen, dass die Feuerwehr zum brennenden Justizpalast gelangen konnte. Schließlich erteilte Polizeipräsident Johannes Schober der Polizei den Befehl, mit Gewehren in die Menge zu schießen, worauf Panik ausbrach. 89 Demonstrantinnen und Demonstranten sowie fünf Polizisten kamen ums Leben; mehr als tausend Menschen wurden verletzt.1233 Hans Kelsen traf an diesem Tag seinen Schüler Leo Gross, um über dessen staatswissenschaftliche Dissertation »Pazifismus und Imperialismus« zu sprechen, die Kelsen publiziert haben wollte.1234 Gross erinnert sich an diesen Tag wie folgt: »An 1230 Der Republikanische Schutzbund konnte seinerseits zum Teil auf schon 1918 gegründete »Arbeiter‑ und Ordnerwehren zum Schutz von Fabriken« aufbauen; vgl. Hasiba, Die Zweite Bundes-Verfassungsnovelle (1976) 35. 1231 Auf die Einzelheiten des Falles und die Gründe, die zu dem Urteil geführt hatten, kann hier nicht eingegangen werden; die Literatur hierzu ist abundant, jedoch nur selten parteipolitisch neutral. Vgl. statt vieler Schröder, Bestandsaufnahme (2008); zusammenfassend Botz, »Schattendorf« und Justizpalastbrand (2018) 58–60. 1232 AZ Nr. 193 v. 15. 7. 1927, 1–2. Vgl. Hanisch, Illusionist (2011) 241. 1233 Siehe die Berichterstattung im »Mitteilungsblatt der Sozialdemokratie Deutsch-Österreichs« (= Sondernummer der AZ) Nr. 1 v. 16. 7. 1927, 2; NFP Nr. 22570 v. 18. 7. 1927, 1–2; Wiener Zeitung Nr. 162 v. 19. 7. 1927, 2–3. In der Literatur sind die Ereignisse vom 15. Juli vielfach beschrieben worden, vgl. etwa Hasiba, Die Zweite Bundes-Verfassungsnovelle (1976) 39; Hanisch, Illusionist (2011) 242; Botz, »Schattendorf« und Justizpalastbrand (2018) 62–70; R athkolb, Erste Republik (2015) 492. 1234 Gross hatte seine Dissertation am 9. 10. 1926 eingereicht und war am 3. 6. 1927 zum Dr.rer.pol. promoviert worden; die Drucklegung erfolgte (erst) 1931 in den »Wiener Staats‑ und Rechtswissenschaftlichen Studien« als Band 17; vgl. Kammerhofer, Gross (2008) 116.
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5. Kapitel: Der Sturz Kelsens
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diesem schicksalhaften Tag wurde der Justizpalast in Brand gesteckt, Polizisten und Arbeiter prallten aufeinander. Kelsen und ich gingen die Hauptstraße hinunter und sahen Laster, die die Verwundeten von den äußeren Bezirken in das Allgemeine Krankenhaus brachten. Kelsen war sichtlich erschüttert.«1235 Währenddessen hatten Karl Seitz und Otto Bauer ein Gespräch mit Bundeskanzler Seipel geführt und ihn zum Rücktritt aufgefordert, was dieser jedoch ablehnte. Der sozialdemokratische Parteivorstand erwog hierauf, die Arbeiterschaft zu bewaffnen, was er jedoch aus Angst vor den Folgen eines Bürgerkrieges, in den auch das Ausland eingreifen könnte, verwarf; stattdessen sprachen Seitz und Bauer nochmals bei Seipel vor und kündigten einen Generalstreik an, wirkten jedoch bereits – so jedenfalls der Eindruck Seipels – unsicher und verlegen.1236 Der Generalstreik am 16. Juli blieb ohne Wirkung; in den folgenden Tagen beruhigte sich die Lage in ganz Österreich wieder; Seipel hatte im Machtkampf mit den Sozialdemokraten die Oberhand behalten. Am 26. Juli hielt er im Nationalrat eine Rede, in der er forderte, gegen die Schuldigen des Justizpalastbrandes mit aller Härte vorzugehen und keine Milde obwalten zu lassen, was ihm später den Beinamen »Prälat ohne Milde« einbrachte.1237 Die schwankende, unsichere Haltung der SdAP »waehrend und nach dem Brand des Justizpalastes« aber hatte, so Kelsen, »gezeigt, dass sie nicht so stark war als man buergerlicherseits vermutet hatte und dass insbesondere keine ernstliche Gefahr einer revolutionaeren Machtergreifung von ihrer Seite zu befuerchten war. Die Zurueckdraengung ihres politischen Einflusses lag auch in der Linie der Aussenpolitik, die die christlich-soziale Partei immer deutlicher verfolgte: Anlehnung an das faschistische Italien.«1238 Und tatsächlich eröffnete Seipel einige Monate später, aus Anlass der 10-Jahres-Feier der Republik im November 1928, seinen Plan, die Verfassung grundlegend zu reformieren und insbesondere den Bundespräsidenten – der bis dahin fast nur repräsentative Funktionen hatte – bedeutend aufzuwerten.1239 Ein »starker Mann«, wie er in Italien schon seit 1922 Realität war, sollte auch in Österreich kommen.
1235 »On that fateful day the Palace of Justice was burned down and clashes took place between the police and workers. Kelsen and I went down into the main street and watched trucks bringing wounded from the outlying districts to the General Clinic. Kelsen was visibly shaken.« Zit. n. Vagts, In Memoriam Leo Gross (1991) 150. Mit »main street« wird vermutlich die breite Alserstraße, die nahe von Kelsens Wohnung zum Allgemeinen Krankenhaus führte, gemeint sein. 1236 Ignaz Seipel in der Ministerratssitzung vom 16. 7. 1927, in: MRP V/1 (1983) Nr. 503; Leser, Reformismus und Bolschewismus (1985) 252; Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 457; Hanisch, Illusionist (2011) 245. 1237 StPNR 3. GP 133; vgl. Hasiba, Die Zweite Bundes-Verfassungsnovelle (1976) 35; Hanisch, Illusionist (2011) 246. 1238 Kelsen, Autobiographie (1947) 28 = HKW I, 68. Vgl. auch Leser, Reformismus und Bolschewismus (1985) 259. 1239 Hasiba, Die Zweite Bundes-Verfassungsnovelle (1976) 43.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
4. Noch einmal: Vom Wesen und Wert der Demokratie Für wie bedeutsam Kelsen die bevorstehende Verfassungsreform hielt, zeigt die große Zahl an Zeitungs‑ und Zeitschriftenartikeln, die er zu diesem Thema schrieb: Mehrfach publizierte er dazu in der »Neuen Freien Presse«,1240 sowie auch in Zeitungen wie der »Stunde«,1241 dem »Morgen«1242 und der »Wiener Sonn‑ und Montagszeitung«,1243 bemerkenswerterweise nicht in der »Arbeiter-Zeitung«, dafür aber auch in ausländischen Zeitungen, namentlich der »Frankfurter Zeitung«1244 und dem »St. Galler Tagblatt«.1245 Dazu kamen längere Artikel in den »Juristischen Blättern«,1246 in der Monatsschrift »Die Justiz«1247 sowie im »Österreichischen Volkswirt«.1248 Vor allem aber entschloss sich Hans Kelsen, eine zweite Auflage seiner bedeutendsten demokratietheoretischen und auch für ihn persönlich besonders wichtigen,1249 Schrift »Vom Wesen und Wert der Demokratie« herauszubringen. Diese neue Auflage übernahm große Teile wörtlich aus der Vorauflage und ergänzte sie mit einigen Abschnitten aus dem »Problem des Parlamentarismus« von 1925, brachte aber auch einige neue Überlegungen, wobei Kelsen teilweise von älteren Ansichten wieder abrückte.1250 Wohl setzte sich auch die 2. Auflage »Vom Wesen und Wert der Demokratie« mit dem Sozialismus auseinander, aber hier wurde doch im Wesentlichen nur das wiederholt, was Kelsen schon in der 1. Auflage gesagt hatte.1251 Was wirklich neu war, das war vor allem die Beschäftigung mit dem Faschismus, der, in Italien entwickelt, auch in Österreich immer mehr Anhänger gefunden hatte.1252 Dies wird bereits in den »Vorbemerkungen« deutlich, in denen Kelsen 1920 nur auf den Gegensatz zur »Diktatur des Proletariats« hingewiesen hatte, und wo er nun, 1929 auch auf den »Gegendruck« hinweist, den diese Bedrohung der Demokratie auf
1240 Kelsen, Drang zur Verfassungsreform (1929); Kelsen, Die Grundzüge der Verfassungsreform (1929). 1241 Kelsen, Wiener Verfassung (1929). 1242 Kelsen, Wien und die Länder (1929). 1243 Kelsen, Der Bundespräsident hat genug Rechte! (1928). 1244 Kelsen, Verfassungskrisis (1929). 1245 Kelsen, Betrachtungen (1929). 1246 Kelsen, Verfassungsreform (1929). 1247 Kelsen, Verfassungsreform in Oesterreich (1929). 1248 Kelsen, Die österreichische Verfassungsreform (1929). 1249 So die Einschätzung seiner Tochter: Kelsen Oestreicher, My Parents in the United States (1977) 6. 1250 Auf zahlreiche andere Schriften Kelsens wurde verwiesen, so insbesondere wiederholt auf die »Allgemeine Staatslehre« aus 1925. Es ist hier besonders deutlich zu erkennen, wie Rechts‑ und Demokratielehre Kelsens – bei aller Methodenreinheit – ineinander verwoben waren. 1251 Neu war allerdings der kurze Abschnitt über »formale und soziale Demokratie«, in dem Kelsen die Vorstellung, es sei Aufgabe der Demokratie, allen ein »gleiches Maß an Gütern« zuzuweisen, ablehnte: Kelsen, Demokratie (1929) 93–97 = VdD 220–223. 1252 Wie Herrera, Kelsen als Demokrat (2014) 101 f., bemerkt, ist die 2. Auflage von Kelsens Schrift von deutlich weniger Optimismus geprägt, was die Zukunft der Demokratie anbelangt.
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5. Kapitel: Der Sturz Kelsens
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Seiten der »Bourgeoisie« in der Form des »italienischen Faszismus« erzeugt hat.1253 Vor allem aber zeigt es sich bei einem gänzlich neu verfassten Abschnitt über »Das Volk«, dessen »objektive Einheit« ja gerade von faschistischen und faschistoiden Denkern immer wieder betont wurde. Kelsen hielt dem entgegen, dass von einer Einheit »[n]ur in einem normativen Sinne […] die Rede sein« könne: Es sei die staatliche Rechtsordnung, die diese Einheit herstelle. Eine Einheit im Denken, Fühlen, Wollen könne demgegenüber höchstens ein »ethisch-politisches Postulat« sein. Es sei einfach eine »Tatsache«, dass die Menschen in der Realität durchaus verschiedene Wünsche haben, und ebenso, dass sie sich zur Durchsetzung dieser Wünsche in politischen Parteien »integrieren«, weil »das isolierte Individuum politisch überhaupt keine reale Existenz hat […]. Die Demokratie ist notwendig und unvermeidlich ein Parteienstaat«, und die vielfach geäußerte Parteienfeindlichkeit sei in Wirklichkeit eine »Feindschaft gegen die Demokratie« schlechthin.1254 Wie schon in seiner Schrift zum »Problem des Parlamentarismus«, so betonte Kelsen auch in der 2. Auflage zum »Wesen und Wert der Demokratie«, »daß der Parlamentarismus die einzige reale Form [sei], in der die Idee der Demokratie innerhalb der sozialen Wirklichkeit von heute erfüllt werden« könne.1255 Für den Faschismus sei demgegenüber der Antiparlamentarismus typisch, er setze stattdessen auf plebiszitäre Elemente sowie auf die Macht der Presse, was aber im Grunde genommen typisch demokratische Elemente seien – und damit ende diese »sich aristokratisch gebärdende, antidemokratische und antiparlamentarische Theorie […] haargenau an demselben Punkte, wie jene Theorie, die sie bekämpft.«1256 Was aber das Parlament betreffe, so gab Kelsen, so wie schon in allen früheren Schriften, so auch in der 2. Auflage »Vom Wesen und Wert der Demokratie«, dem Proportionalwahlrecht den Vorzug gegenüber dem Mehrheitswahlsystem (wie es u. a. im faschistischen Italien eingeführt worden war) und verteidigte das Proportionalwahlsystem gegen den Vorwurf, dass es zu einer Parteienzersplitterung führe. Es sei dann eben notwendig, dass diese Parteien Koalitionen eingehen, sich politisch integrieren. »Daß diese Integration aber besser im Parlament selbst als in der breiten Masse der Wähler vor sich geht, kann wohl ernstlich nicht geleugnet werden.«1257 Bemerkenswert ist der Rundumschlag Kelsens gegen links und rechts, als er auf das Verhältnis zwischen Minorität und Majorität im Parlament zu sprechen kommt: Dieses könne reibungslos nur innerhalb einer halbwegs homogenen Gruppe, ins1253 Kelsen,
Demokratie (1920) 4 = VdD 2; Kelsen, Demokratie (1929) 2 = VdD 154. Demokratie (1929) 15, 20 = VdD 163, 166 f. Er polemisiert hier insbesondere gegen Heinrich Triepel, der 1927 in einem Buch über »Die Staatsverfassung und die politischen Parteien« die »atomistisch-individualistische Staatsauffassung« der Parteiendemokratie beklagt hatte. 1255 Kelsen, Demokratie (1929) 27 = VdD 175, vgl. schon Kelsen, Parlamentarismus (1925) 5 = WRS 1362 und dazu oben 358. 1256 Kelsen, Demokratie (1929) 115 Anm. 26 = VdD 183 f.; vgl. schon Kelsen, Parlamentarismus (1925) 44 = WRS 1382. 1257 Kelsen, Demokratie (1929) 62 = VdD 200. 1254 Kelsen,
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besondere einer Nation im Sinne einer »Kultur‑ und Sprachgemeinschaft« funktionieren; bei einem Nationalitätenstaat müssen bestimmte Entscheidungen nationalen Vertretungskörpern überlassen werden. Es handle sich hier lediglich um ein Problem von »zu weitgehender Zentralisation«. Wenn aber die Marxisten behaupten, dass das Majoritätsprinzip nicht funktionieren könne, wenn die Gesellschaft in Klassen gespalten sei, so lehnen sie im Grunde die Idee des Kompromisses zwischen Majorität und Minorität als solche ab und befürworten die Durchsetzung ihres politischen Willens durch rohe Gewalt.1258 Eine Ablehnung erteilte Kelsen nun auch mit aller Deutlichkeit der – 1920 von ihm noch befürworteten – »Demokratisierung der Verwaltung«: Er hielt das Legalitätsprinzip nunmehr für geradezu »unvereinbar« mit der Demokratie und befürchtete bei einer Demokratisierung der Mittel‑ und Unterinstanzen in der Verwaltung eine »Aufhebung der Demokratie der Gesetzgebung«.1259 Diese Erkenntnis hatte übrigens erstaunliche Konsequenzen für ein ganz anderes Rechtsgebiet, welches Kelsen etwa in derselben Zeit, in der er an der 2. Auflage seiner Monographie »Vom Wesen und Wert der Demokratie« schrieb, leider nur in Artikeln für Tageszeitungen thematisierte: der Geschworenengerichtsbarkeit. Das »Schattendorf-Urteil« war ja von einem Geschworenengericht gefällt worden, worauf die Diskussion rund um die Sinnhaftigkeit dieser Institution entbrannt war, wobei kurioserweise ausgerechnet die Sozialdemokraten, die ja vom »Schattendorf-Urteil« besonders betroffen waren, traditionsgemäß für eine Beibehaltung der Geschworenengerichtsbarkeit plädierten, während die bürgerliche Bundesregierung eine Umwandlung der Geschworenengerichte in Schöffengerichte beschloss und (erst) im Februar 1929 eine entsprechende Regierungsvorlage im Nationalrat einbrachte.1260 Die »Neue Freie Presse« nahm dies zum Anlass, drei »hervorragende Juristen« zur Sinnhaftigkeit der Geschworenengerichte zu befragen, und zwar den Vizepräsidenten des Wiener Straflandesgerichtes Dr. Rudolf Schneeweiß, den »Staranwalt« Dr. Richard Preßburger sowie Hans Kelsen. Während aber Preßburger einen leidenschaftlichen Appell für die Beibehaltung der Geschworenengerichtsbarkeit verfasste und Schneeweiß lediglich eine Reform der Bildung der Geschworenenlisten anmahnte, sprach sich Kelsen ganz unumwunden für die Abschaffung der Geschworenengerichtsbarkeit aus.1261 Kelsen erkannte in der Geschworenengerichtsbarkeit die »radikalste Form einer Demokratisierung der Gerichtsbarkeit«; der Wahrspruch der Geschworenen biete keine Garantie dafür, dass das Strafgesetz auch korrekt angewendet werde. »Soll aber die Demokratie aufrechterhalten werden, dann müssen Sicherungen dafür gegeben 1258 Kelsen,
Demokratie (1929) 66 f. = VdD 203. Demokratie (1929) 71 f. = VdD 206. 1260 Hasiba, Die Zweite Bundes-Verfassungsnovelle (1976) 40 f. 1261 NFP Nr. 23128 v. 3. 2 . 1929, 1 f. Der Beitrag Kelsens [Kelsen, Geschworenengericht und Demokratie (1929)] auch in WRS 1457 f. Vgl. dazu schon Olechowski, Geschworenengerichte (2010) bes. 354 ff. 1259 Kelsen,
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5. Kapitel: Der Sturz Kelsens
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sein, daß das demokratisch erzeugte Gesetz auf das genaueste vollzogen wird.« Die Geschworenengerichtsbarkeit hatte zur Zeit der Monarchie durchaus ihren Sinn. »Diesen Sinn hat sie in der demokratischen Republik verloren.« Daher unterstützte Kelsen die Initiative der Bundesregierung.1262 In seiner Schrift »Vom Wesen und Wert der Demokratie« ging Kelsen, wie gesagt, nicht auf diese Problematik ein, sondern erhob nur ganz allgemein die Forderung, dass man »jeden parteipolitischen Einfluß auf die Gesetzesvollziehung der Gerichte wie der Verwaltungsbehörden« ausschließen müsse.1263 Die Gewaltenteilung, die Kelsen in seiner 1. Auflage »Vom Wesen und Wert der Demokratie« als undemokratisch rundum abgelehnt hatte, erfuhr nun, in der 2. Auflage eine differenziertere Betrachtung: Mit der Theorie der Demokratie, so hielt Kelsen fest, sei die Gewaltenteilungslehre tatsächlich nicht in Einklang zu bringen. In der Realität existiere sie jedoch und begrenze die Gewalt einzelner Machthaber; in Summe lasse sich »[d]ie Frage, ob die Gewaltentrennung ein demokratisches Prinzip sei oder nicht, […] mit Rücksicht auf den Gegensatz von Ideologie und Wirklichkeit nicht eindeutig beantworten.«1264 Direkt auf das faschistische Führerprinzip gemünzt waren Kelsens Überlegungen zur »Führerauslese« – wobei betont werden muss, dass das Wort »Führer« zu jener Zeit noch nicht nur im Sinne faschistischer Ideologie verstanden worden, sondern z. B. auch von Max Weber durchaus im Sinne eines demokratisch gewählten Führers verwendet worden war.1265 Immerhin: Kelsen hielt fest, dass der »Idee der Demokratie« die »Führerlosigkeit« entspreche. Aber die »soziale Realität ist Herrschaft und Führerschaft.« Was die Demokratie hier von der Autokratie unterscheide, sei »eine besondere Methode der Auslese der Führer aus der Gemeinschaft der Geführten. Diese Methode ist die Wahl.«1266 Deutlich von Sigmund Freud beeinflusst zeigt sich Kelsen, wenn er es für problematisch hält, dass die Geführten den Führer wählen sollen. »Denn die soziale Autorität wird – das lehrt psychologische, bzw. psychoanalytische Erfahrung – als väterliche Autorität imaginiert.« Und ebensowenig wie die Kinder ihren Vater zeugen können, so können die Autoritätsunterworfenen ihre Autorität kreieren. Kelsen vergleicht die demokratische Gesellschaft mit dem »Totemismus« in primitiven Kulturen, wo sich einzelne Clangenossen bei bestimmten Festen »die Maske des heiligen Totemtieres« aufsetzen und so für eine gewisse Zeit in die Position des Urvaters des Clans eintreten. 1262 Kelsen, Geschworenengericht und Demokratie (1929) = WRS 1458. Vgl. auch Kelsen, Fort mit den Schwurgerichten (1929). Auch in diesem Fall hatte die Zeitung – hier das »Neue Wiener Journal« – eine Reihe von prominenten Politikern und Juristen zu ihrer Meinung befragt. 1263 Kelsen, Demokratie (1929) 76 = VdD 209. 1264 Kelsen, Demokratie (1929) 82 = VdD 212. 1265 Vgl. etwa Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922) 763 sowie auch Marianne Weber, Max Weber (1926) 597. Kelsen, Demokratie (1929) 86 = VdD 216, nahm auf die Ausführungen Webers Bezug, allerdings ohne eine konkrete Stelle zu zitieren. 1266 Kelsen, Demokratie (1929) 79, 84 = VdD 211, 214.
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Ähnlich haben auch die Führer der demokratischen Gesellschaft für kurze Zeit die Staatsgewalt inne.1267 Dem demokratischen Führer steht der autokratische Führer (der Diktator) gegenüber. Seine Herkunft, seine Kreation darf mit rationalen Mitteln nicht erkannt werden; nicht selten wird er zum Gott erhoben. »Die Wirklichkeit: der Tod des Führers stellt diese Ideologie vor ein äußerst peinliches Problem«, meint Kelsen.1268 Die zentrale Frage aber, die sich autokratische wie demokratische Systeme stellen müssen, ist, wie der Beste zur Herrschaft gelangen könne. Und gerade, da autokratische Systeme die Frage der Führerkreation im Grunde ausblenden, können sie hier gegen die demokratische Methode, die Wahl, nichts einwenden. Die Demokratie schafft hier einen Wettbewerb, in dem der bestmögliche Führer ausgewählt wird; und sollte er sich nicht bewähren, wird er abgewählt. In der Autokratie kann es zwar durchaus vorkommen, dass »eine geniale und sittliche Persönlichkeit sich als unbeschränkter Monarch entwickeln kann.« Doch zeigt die Geschichte nur zu oft »die Schreckbilder verkommener Cäsaren, die ihre Staaten vernichtet und ihre Völker in namenloses Unglück gestürzt haben.«1269
5. Frankfurt In Anbetracht der Anfeindungen, denen sich Kelsen auf politischer wie auf universitärer Ebene ausgesetzt sah, verwundert es nicht, dass er allmählich, jedoch immer stärker auch mit dem Gedanken spielte, Wien und Österreich überhaupt zu verlassen und eine Berufung an eine ausländische Universität anzunehmen. Allerdings war dies ein schwieriges Unterfangen, zumal sein Hauptfach ja das österreichische Staatsrecht war, das ihm außerhalb der Grenzen der Republik kaum etwas nutzen konnte. Eine ernstzunehmende Option ergab sich im Sommer 1929, als Kelsen auf eine Berufungsliste der wirtschafts‑ und sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt gesetzt wurde. Diese Liste war für die Nachfolge des Soziologen und Volkswirts Franz Oppenheimer erstellt worden.1270 Neben Kelsen waren pari passu Carl Schmitt sowie der Kölner Ordinarius Leopold v. Wiese genannt worden, somit zwei Juristen und ein Nationalökonom. Die unter Dekan Paul Arndt tagende Kommission hatte diesen bemerkenswerten Schritt damit begründet, dass die an ihrer eigenen 1267 Kelsen, Demokratie (1929) 85 = VdD 215, vgl. dazu Avscharova/Huttar, Ohne Seele, ohne Staat (2009) 182. 1268 Kelsen, Demokratie (1929) 11, 87 = VdD 160, 216. 1269 Kelsen, Demokratie (1929) 90 f. = VdD 219. 1270 Kelsen hatte Oppenheimer 1924 zu seinem sechzigsten Geburtstag in der Zeitung gratuliert und ihn als einen der »führenden Soziologen Deutschlands« bezeichnet: Kelsen, Franz Oppenheimer (1924). Vgl. zu Oppenheimer auch Dirk Kaesler, Oppenheimer Franz, in: NDB XIX (Berlin 1999) 372 f.; zum Nachfolgenden auch Hammerstein, Johann Wolfgang Goethe-Universität I (1989) 128 f.
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Fakultät »und an der philosophischen Fakultät errichteten Lehrstühle der Soziologie sich tunlichst gegenseitig ergänzen sollten, dass also bei der Neubesetzung des Lehrstuhls eine Verbindung der Soziologie mit der Philosophie […] nicht erwünscht, vielmehr eine andere Orientierung anzustreben sei.«1271 Es ist möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass Kelsen, als er im April 1929 an der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Frankfurt teilnahm,1272 vom vakanten Lehrstuhl erfahren und sich selbst »ins Spiel« gebracht hatte. Jedenfalls verfasste er an seinen Freund Karl Přibram,1273 ehemals Dozent in Wien, nunmehr Ordinarius für Wirtschaftliche Staatswissenschaften in Frankfurt, einen Brief, in dem er – wohl schon in Hinblick auf eine mögliche Berufung – ausführlich über seine soziologischen Arbeiten berichtete. Dieser Brief Kelsens an Přibram, der uns nur in Abschrift erhalten ist,1274 ist für uns auch deshalb von besonderem Interesse, als Kelsen hierin u. a. über den Stand seiner Arbeiten zu »Gerechtigkeit und Recht im Geiste der Antike« berichtet: Demnach sei das Manuskript bereits »zur Gänze ausgesetzt«, und er sendete Přibram die ersten beiden Kapitel als Druckfahnen (188 Seiten). »Es ist eine ausgesprochen soziologische, und zwar kultursoziologische Untersuchung, soweit ich sehe, der erste groß angelegte Versuch, die Bedeutung der Religion, Dichtung, Philosophie und Jurisprudenz für die soziale Machtgestaltung im Einzelnen nachzuweisen. Sie hat mit Rechtswissenschaft überhaupt nichts zu tun. Wenn es überhaupt den entscheidenden Kulturobjektivationen gegenüber eine soziologische Problemstellung gibt, so ist es die meines Buches. Es ist übrigens nur der erste Band eines gross angelegten Werkes, dessen zweiter die soziologische Funktion des Christentums behandeln wird und im Manuskript zum Teil schon fertig ist.« Der am 10. Juni 1929 erstellte Besetzungsvorschlag der Frankfurter Fakultät übernahm große Teile aus diesem Brief, um die Bedeutung Kelsens als Soziologe hervorzuheben. Seine Schriften, von der 1911 veröffentlichten Arbeit »Grenzen zwischen soziologischer und juristischer Methode« bis hin zu dem als »Hauptschrift« bezeichneten Monographie »Der soziologische und juristische Staatsbegriff«, wurden einzeln angeführt und betont, dass Kelsen »sich mit diesen Veröffentlichungen als ein Gelehrter ersten Ranges erwiesen und internationale Anerkennung gefunden« habe.1275 Der Vorschlag war in der Fakultätssitzung vom 6. Juni mit acht von elf Stimmen angenommen worden;1276 mehrere Dozenten hatten eigene Vorschläge abgegeben, darunter auch Kelsens ehemaliger Schüler Julius Kraft, der betonte: »Mit 1271 Besetzungsvorschlag der Fakultät 10. 6. 1929, in: UA Frankfurt, Akten der WiSoFak, Zug 4/1987, Sign Neu Abt 150 Nr. 231/237, 97. 1272 Siehe oben 369. 1273 Vgl. zu ihm Johnston, Geistesgeschichte (2006) 91. 1274 Und zwar in einem Schreiben des Dekans Josef Hellauer an den Kurator der Universität vom 12. 11. 1929, UA Frankfurt, Akten der WiSoFak, Zug 4/1987, Sign Neu Abt 150 Nr. 231/237, 74. 1275 Besetzungsvorschlag der Fakultät 10. 6. 1929, in: UA Frankfurt, Akten der WiSoFak, Zug 4/1987, Sign Neu Abt 150 Nr. 231/237, 98. 1276 Fakultätssitzung vom 6. 6. 1929, in: UA Frankfurt, Akten der WiSoFak, Zug 4/1987, Sign Neu Abt 150 Nr. 388, 112 f.
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Rücksicht darauf, dass in der soziologischen Forschung der Gegenwart die Methodik eines unsoliden Journalismus sich so erschreckend in den Vordergrund drängt, halte ich es für unerlässlich, dass der frei gewordene Lehrstuhl für Soziologie mit einem Forscher besetzt wird, der eine spezialwissenschaftliche Grundlage für seine soziologischen Arbeiten besitzt« und Kelsen vorschlug.1277 In Berlin war man anderer Meinung. Das preußische Wissenschaftsministerium lehnte die Liste ab und versuchte in den folgenden Monaten, einen Heidelberger Soziologen nach Frankfurt zu berufen, zunächst Emil Lederer, und nachdem dieser im September 1929 abgelehnt hatte, Karl Mannheim.1278 Die Fakultät versuchte noch länger, Widerstand zu leisten und Kelsen in Berlin durchzusetzen; der Ökonom Josef Hellauer, der für das Jahr 1929/30 zum Dekan der WiSo-Fakultät gewählt worden war, intervenierte im November 1929 sogar beim Frankfurter Oberbürgermeister Ludwig Landmann: »Wenn Professor Kelsen nach Frankfurt käme, [würde] das nicht nur einen grossen Gewinn für die Fakultät, sondern für die ganze Universität und darüber hinaus für die Stadt Frankfurt bedeuten […] Nun lehnte das Ministerium die Berufung Kelsens bisher mit der Erklärung ab, daß er kein Soziologe, sondern ein Rechtswissenschaftler sei. Unserer Meinung nach befindet sich das Ministerium in einem Irrtum. […] Unsere Studierenden können nur von einem soziologischen Lehrer, der nationalökonomisch oder juristisch orientiert ist, viel profitieren. Ein philosophisch orientierter Soziologe hat für sie wenig Wert, abgesehen davon, dass die Universität in Herrn Tillich von der philosophischen Fakultät einen solchen Soziologen schon besitzt.«1279 Doch trotz dieses Versuches, und obwohl von Wien aus auch Otto Bauer und Karl Seitz für Kelsen intervenierten,1280 blieb das Ministerium bei seiner Entscheidung, Mannheim nach Frankfurt zu berufen. Ob dafür tatsächlich wissenschaftstheoretische oder nicht vielleicht handfeste politische Gründe ausschlaggebend waren, geht aus den Akten nicht hervor. Mannheim jedenfalls nahm den Ruf an und übernahm mit Sommersemester 1930 den Lehrstuhl für Soziologie an der wirtschafts‑ und sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt.1281
1277 Julius Kraft, Schreiben an Dekan Arndt v. 12. 6. 1929, in: UA Frankfurt, Akten der WiSoFak, Zug 4/1987, Sign Neu Abt 150 Nr. 231/237, 98. 1278 UA Frankfurt, Akten der WiSoFak, Zug 4/1987, Sign Neu Abt 150 Nr. 231/237, 71–89. Zu Emil Lederer vgl. Dirk Käsler, Lederer Emil, in: NDB XIV (Berlin 1985) 40 f.; zu Karl Mannheim vgl. Dirk Käsler, Mannheim Karl, in: NDB XVI (Berlin 1990) 67–69. 1279 Dekan Josef Hellauer, Schreiben an den Frankfurter Oberbürgermeister Ludwig Landmann v. 7. 11. 1929, in: UA Frankfurt, Akten der WiSoFak, Zug 4/1987, Sign Neu Abt 150 Nr. 231/237, 77 f. 1280 Dies geht aus einem Brief Kelsens an Karl Renner v. 17. 4. 1930, abgedruckt bei Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 144, hervor; vgl. dazu noch unten 485. 1281 UA Frankfurt, Akten des Kurators (Personalhauptakten), Personalakt Mannheim Karl; vgl. Hammerstein, Johann Wolfgang Goethe-Universität I (1989) 129.
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6. Die Verfassungsreform 1929 In Österreich nahm die bevorstehende Verfassungsreform konkrete Gestalt an, als am 26. September 1929 der bisherige Wiener Polizeipräsident Schober, der trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Rolle am 15. Juli 1927 über eine beachtliche Popularität verfügte, zum neuen Bundeskanzler einer Koalitionsregierung aus Christlichsozialen, Großdeutschen und Landbund gewählt wurde. Schober berichtete in der ersten von ihm geleiteten Ministerratssitzung, dass in der Zwischenzeit die Heimwehren unter maßgeblicher Mitwirkung von Othmar Spann einen Verfassungsentwurf erstellt hätten, vor allem aber, dass konkrete Pläne bestünden, diese neue Verfassung notfalls auch unter Bruch des im B-VG vorgezeichneten Wegs der Verfassungsreform – also mit einem Putsch – zu implementieren.1282 Und auch im Parlament wurde darüber diskutiert, dass man die Reform, sollten die Sozialdemokraten nicht zustimmen, mit einfacher Parlamentsmehrheit und einer Volksabstimmung in Kraft setzten könne.1283 Dies wäre zwar ein klarer Verfassungsbruch gewesen,1284 doch offenbar waren zumindest weite Kreise des bürgerlichen Lagers im Jahre 1929 bereits zu diesem Schritt bereit. Schober aber nahm den verfassungsmäßig vorgesehenen Weg zur Verfassungsreform in Angriff: Gemeinsam mit dem Vizekanzler und dem Justizminister sowie mit Ludwig Adamovich,1285 seit 1928 Professor des Staatsrechtes an der Universität Graz, erarbeitete er den Text einer Regierungsvorlage, die er am 18. Oktober 1929 im Nationalrat präsentierte.1286 Drei Wochen später, am 6. November, hielt die Wiener Juristische Gesellschaft im Großen Saal der Handelskammer am Stubenring ihre Vollversammlung ab und widmete sie dem aktuellen Thema der Verfassungsreform.1287 In einer »Wechselrede« zwischen dem an der Verfassungsreform beteiligten Ludwig Adamovich und dem Architekten der 1920er-Verfassung Hans Kelsen sollten die Für und Wider der Novelle ausgelotet werden.1288 Adamovich, der als erster das Wort hatte, erklärte sogleich, in 1282 Der Spann-Entwurf, der auch in einigen anderen Quellen Erwähnung findet, ist heute verschollen; vgl. Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 530 f. 1283 Kelsen, Verfassungsreform (1929) 448. 1284 Ein derartiges, halbplebiszitäres Verfassungsgesetzgebungsverfahren war auch in der Regierungsvorlage vorgesehen: 382 BlgNR 3. GP § 25. Aber natürlich konnte man nicht die Verfassungsnovelle in einem Verfahren beschließen, das selbst erst Gegenstand des Beschlusses war. 1285 Geb. Essegg [Osijek/HR] 30. 4. 1890, gest. Wien 23. 9. 1955; vgl. Adamovich (sen.), Selbstdarstellung (1952); Adamovich (jun.), Adamovich (2018). 1286 Hasiba, Die Zweite-Bundesverfassungsnovelle (1976) 66, 71; Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 534. 1287 NFP Nr. 23401 v. 6. 11. 1929, 6. 1288 Vgl. dazu die Berichterstattung in den »Juristischen Blättern«: Die Rede von Adamovich erschien in der Ausgabe vom 23. 11. 1929 (JBl 58 [1929] 479–480), jene von Kelsen sowie die Wortmeldung des ersten Diskussionsredners, des Präsidenten der Wiener Rechtsanwaltskammer Hermann Eckel in der Ausgabe vom 7. 1 2. (JBl 58 [1929] 503–505), die weiteren Diskussionsbeiträge (von Herrnritt, Merkl, Klang und Hugelmann) in der Ausgabe vom 21. 12. (JBl 58 [1929] 522– 524). Doch hatte Kelsen schon in der Ausgabe der JBl vom 9. 11., also nur drei Tage nach der
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seinen Ausführungen alle »politischen Auseinandersetzungen« vermeiden und lediglich von einem »rein sachlichen Standpunkte aus« argumentieren zu wollen. Merkl kritisierte dies in der nachfolgenden Diskussion als Ding der Unmöglichkeit, zumal man über eine Verfassungsreform nicht anders als politisch diskutieren könne.1289 Und tatsächlich ließ Adamovich – wie nicht anders zu erwarten – in seinem Vortrag deutlich seine Zustimmung zu den geplanten Maßnahmen erkennen.1290 Frontal entgegengesetzt war der Beitrag Kelsens: Sollte die Verfassungsnovelle Wirklichkeit werden, wäre Österreich kein Bundesstaat mehr und auch keine parlamentarisch-demokratische Republik. Vor allem aber erschwere die Novelle einen künftigen Anschluss an Deutschland, weil die politischen Strukturen der beiden Staaten sich nun so stark unterscheiden würden. Dabei sei doch »die einzig wirksame Verfassungsreform eine Reform [sic! gemeint wohl: Revision] des Staatsvertrages von St. Germain und die Eingliederung Oesterreichs in das Deutsche Reich«1291 – eine für die moderne Leserin bzw. den modernen Leser erstaunliche Bemerkung, die nur im Kontext mit Kelsens erst zwei Jahre zuvor entwickelten Überlegungen1292 verstanden werden kann, vielleicht aber auch damals besonders geeignet war, bei den zahlreichen Unterstützern des »Anschlusses« unter seinen Zuhörern Widerstand gegen die Verfassungsnovelle zu mobilisieren. Was aber waren die Kernpunkte der Reform? Zum einen war es ein Kernanliegen der Verfassungsnovelle, die Macht des Bundespräsidenten (der bis dahin hauptsächlich repräsentative Funktionen gehabt hatte) zu steigern und dabei, so Kelsen, »das von der geltenden Verfassung statuierte parlamentarische System abzubauen«.1293 Die praktisch bedeutendste Kompetenz, die dem Bundespräsidenten zukommen sollte, war die Ernennung und Entlassung der – bisher vom Nationalrat gewählten – Bundesregierung.1294 Bemerkenswerterweise hielt Kelsen gerade diese Reform für nicht allzu problematisch, da die Bundesregierung weiterhin auch des politischen Vertrauens des Nationalrates bedurfte, womit sie sich nunmehr in einer doppelten Abhängigkeit befand.1295 Scharf kritisierte Kelsen dagegen das neue Recht das Bundespräsidenten, gesetzesvertretende Verordnungen zu erlassen, wenn eine Beschlussfassung des Nationalrates »nicht abgewartet werden« konnte, ohne dass »offenkundig ein unwiederbringlicher Schaden für die Allgemeinheit eintreten würde.«1296 Kelsen Veranstaltung, eine eingehende Kommentierung der Regierungsvorlage veröffentlicht (wird zitiert: Kelsen, Verfassungsreform [1929]), von der die Redaktion der JBl vermerkt, dass sie über weite Strecken ident mit der Rede Kelsens vom 6. 11. ist, weshalb diese in JBl 58 (1929) 503–504 nur extrem verkürzt wiedergegeben wird. 1289 Merkl, Wechselrede (1929) = MGS II/ 1, 747–751. 1290 Adamovich, Wechselrede (1929). 1291 Kelsen, Wechselrede (1929) 503. 1292 Zu diesen oben 364. 1293 Kelsen, Verfassungsreform (1929) 445 f. 1294 382 BlgNR 3. GP § 41. 1295 Kelsen, Verfassungsreform (1929) 451. 1296 382 BlgNR 3. GP § 9.
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sah hierin ein mit dem Parlament »konkurrierendes Gesetzgebungsrecht des Staatsoberhauptes«.1297 Höchst problematisch war für ihn auch die Bestimmung, wonach der Nationalrat mit einfacher Mehrheit beschließen könne, dass ein von ihm beschlossenes Gesetz auch noch einer Volksabstimmung zu unterziehen sei und im Falle eines positiven Referendums als Bundesverfassungsgesetz zu gelten habe.1298 Kelsen entwarf – wohl mit Absicht – das unrealistische Szenario, dass eines Tages die Sozialdemokraten die Mehrheit im Parlament haben könnten und die verfassungsrechtliche Garantie des Privateigentums abschaffen wollten, um die Tragweite dieser Bestimmung aufzuzeigen. Auch auf Landesebene sollte Druck auf die Oppositionsparteien gemacht werden, indem der Landesregierung nicht mehr proportionell alle im Landtag vertretenen Parteien angehören sollten, sondern die Landesregierung »nach dem Grundsatz der Mehrheitswahl« gewählt werden sollte. Kelsen hob hervor, dass auf diese Weise die Sozialdemokraten in acht von neun Ländern aus der Landesregierung gedrängt werden würden.1299 Was aber das neunte Bundesland, das »rote Wien« betraf, so sah die Verfassungsnovelle vor, dass es seinen Status als Bundesland verlieren und zu einer »bundesunmittelbaren Stadt« werden sollte – womit weitgehende Einschränkungen der bisherigen Autonomie des bis dahin einzigen sozialdemokratisch geführten Landes verbunden sein sollten. Der Bürgermeister sollte auf den Status eines Bezirkshauptmannes zurückgestuft und der Bundesregierung unterstellt werden; falls der Bürgermeister einer Weisung keine Folge leistete – man erinnere sich an Schnitzlers »Reigen« und den Streit um das Krematorium1300 –, konnte die Bundesregierung einen Kommissär einsetzen.1301 Kelsen kritisierte auf das Schärfste die Ungleichbehandlung, die Wien gegenüber den anderen Bundesländern erfuhr, indem hier das bundesstaatliche Prinzip praktisch abgeschafft werde, und dies in einem Land, in dem »beinahe ein Drittel aller Einwohner Österreichs leben« (was die Situation wesentlich von Washington D. C. unterscheide). »Mit der Degradierung Wiens […] würde ganz Oesterreich sein rechtliches Antlitz verändern.«1302 Das gemeinsame Vertretungsorgan der Länder, der Bundesrat, sollte abgeschafft und an seine Stelle ein »Länder‑ und Ständerat« treten; da der Länderrat und der Ständerat jeweils ganz eigenständige Organe waren, konstatierte Kelsen, dass sich das parlamentarische System damit zu einem »Dreikammersystem« entwickle.1303 Im Länderrat sollte jedes Land nur mehr durch den Landeshauptmann und den Finanz1297 Kelsen, Verfassungsreform (1929) 449; Hasiba, Die Zweite-Bundesverfassungsnovelle (1976) 81. 1298 382 BlgNR 3. GP § 25. Siehe dazu schon oben bei Anm. 1284. 1299 Kelsen, Verfassungsreform (1929) 447. 1300 Siehe oben 432. 1301 382 BlgNR 3. GP § 59. 1302 Kelsen, Verfassungsreform (1929) 454. 1303 Kelsen, Verfassungsreform (1929) 447. Vgl. dazu auch Hasiba, Die Zweite-Bundesverfassungsnovelle (1976) 80 f.
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referenten der Landesregierung vertreten sein, womit sowohl erreicht wurde, dass die Oppositionsparteien der Länder keine Vertreter mehr entsenden konnten, als auch, dass jedes Land gleich stark vertreten war. Bezüglich des Ständerates aber enthielt die Verfassungsnovelle gar keine Regelungen, sondern verwies auf ein noch zu erlassendes Bundesverfassungsgesetz. Kelsen äußerte die Vermutung, »daß die Reform nach einer ganz anderen Richtung geht als den Anschauungen jener entspricht, die die Aktion der Regierung in der Verfassungsfrage erzwungen haben.«1304 Weitgehende, und auch Kelsen persönlich betreffende Reformen betrafen die beiden Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts. Dabei fanden die Reformvorschläge in Bezug auf den VwGH großteils die Zustimmung Kelsens, auch insofern als einige, von ihrem Wesen her mehr verwaltungsgerichtliche Kompetenzen, vom VfGH auf den VwGH übertragen werden sollten. »Auch für diese Reform habe ich mich seit jeher eingesetzt.« Nur gegen die Forderung, dem VfGH auch die Kompetenz zur Entscheidung über Beschwerden gegen verfassungsrechtlich gewährleistete Rechte durch eine Verwaltungsbehörde (Art. 144 B-VG) zu nehmen, erhob er »schwerste Bedenken«.1305 Gelobt wurde von ihm der Plan, künftig dem VwGH und dem OGH die Kompetenz zu geben, Gesetzesprüfungsanträge beim VfGH zu stellen; man hätte sie ruhig gleich allen Gerichten geben können.1306 Scharfe Kritik erfuhren dagegen die Bestimmungen zur Organisation des VfGH: Die parlamentarische Wahl sollte beseitigt werden; an ihrer Stelle sollten OGH und VwGH das Recht erhalten, je zwei Mitglieder und ein Ersatzmitglied aus ihrer Mitte in den VfGH zu wählen. Die übrigen Mitglieder und Ersatzmitglieder sollten aufgrund von Dreiervorschlägen des VfGH selbst vom Bundespräsidenten ernannt werden; Präsident und Vizepräsident vom Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesregierung.1307 Kelsen leugnete nicht die Berechtigung des Rufes nach »Entpolitisierung« des VfGH, meinte aber, dass diese bei einem derart politischen Organ nur sehr eingeschränkt möglich sei. Das bundesstaatliche Prinzip verlange nach einer Einbindung des Bundesrates, das demokratische Prinzip nach einer Einbindung des Nationalrates. Nur so unterliege »der Kreationsakt zumindest […] der Kontrolle der parlamentarischen Minorität […]. In dem Schutz der Minoritätsrechte aber erfüllt gerade ein Verfassungsgericht eine seiner wichtigsten Aufgaben.«1308 Die völlige Reorganisation des VfGH machte eine Neukonstituierung erforderlich, was auch Kelsen zugeben musste. Die Regierungsvorlage zum Übergangsgesetz sah daher vor, dass alle bisherigen – auf Lebenszeit gewählten – Verfassungsrichter mit 31. Jänner 1930 in den Ruhestand treten sollten, damit sich der VfGH am 1. Februar 1304 Kelsen,
Verfassungsreform (1929) 447. Verfassungsreform (1929)454 f. 1306 Kelsen hatte ja schon 1920 vorgeschlagen, dass jedes Gericht das Recht zur Antragstellung auf Gesetzesprüfung beim VfGH haben sollte; verwirklicht wurde dies fast hundert Jahre später mit der Verfassungsnovelle BGBl I 2013/114. 1307 382 BlgNR 3. GP § 76. 1308 Kelsen, Verfassungsreform (1929) 457; Hasiba, Die Zweite-Bundesverfassungsnovelle (1976) 84. 1305 Kelsen,
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in neuer Zusammensetzung neu konstituieren könne.1309 Sah Kelsen voraus, dass er dem neuen VfGH nicht mehr angehören würde, als er einen »Bruch in der Judikatur« des VfGH prophezeite?1310 Manche Reformen wurden von Kelsen auch gelobt, wie etwa jene in Bezug auf die Immunität der Abgeordneten oder auf den Rechnungshof.1311 Doch in Summe war sein Urteil über die Verfassungsreform vernichtend: Mit ihr werde ein »Scheinparlamentarismus, wie er etwa in Ungarn besteht«, errichtet, hinter dem sich »die Diktatur der Majorität« verberge. »Und wenn es eines Beweises für meine These bedurft hätte, daß das Wesen der Demokratie im Kompromiß besteht, dieser Verfassungsentwurf hätte den Beweis erbracht. Denn durch die Beseitigung der Minoritätsrechte hebt er die wichtigsten Garanten der Freiheit auf: An die Stelle des Gesetzes tritt die Verordnung des Staatsoberhauptes, Polizei und Militarismus erheben ihr Haupt, Merkmale, die wir bisher mit der Vorstellung von der absoluten Monarchie zu verbinden gewohnt waren.«1312 Zur selben Zeit, als Kelsen in der Wiener Juristischen Gesellschaft seine Wechselrede mit Adamovich hielt, am Nachmittag des 6. November, tagte im Parlament ein Unterausschuss, in dem die Regierungsvorlage besprochen wurde, und der Berichterstatter, Kurt Schuschnigg, präsentierte im Namen der Regierungsparteien einen neuen Vorschlag zur »Entpolitisierung« des VfGH, wonach die drei Juristenfakultäten in Wien, Graz und Innsbruck je einen Dreiervorschlag erstatten könnten. Otto Bauer wies diesen Vorschlag energisch zurück. Die Fakultäten seien politisch »noch rechts von den Deutschnationalen« zu verorten; die Regierungsparteien verfolgten nach wie vor das Ziel einer »Umpolitisierung« statt einer »Entpolitisierung«, und Bauer wetterte gegen »die moralisch unerhörte Behandlung, die sichtlich ganz bestimmte Mitglieder des heutigen Verfassungsgerichtshofes« erfahren sollten.1313 War es also tatsächlich so weit gekommen, dass Kelsen fürchten musste, von seiner eigenen Fakultät nicht mehr in den VfGH gewählt zu werden? Für die Sozialdemokraten stand indessen viel auf dem Spiel: Wenn sie nicht Flexibilität zeigten, war die Gefahr groß, dass die Verfassungsreform durch einen Staatsstreich oder einen Putsch (der besonders Mitte November unmittelbar drohte1314) in Kraft gesetzt werden würde und sie dann alles verlören. Besonders der drohende Verlust der Autonomie Wiens war nach Ansicht Kelsens eine wesentliche Motivation für die SdAP, in vielen anderen Punkten nachzugeben.1315 Wohl auch unter dem Druck von Seiten der Heimwehren wurde daher die Verfassungsnovelle in erstaunlich 1309 383
BlgNR 3. GP § 22. Verfassungsreform (1929) 457. 1311 Kelsen, Verfassungsreform (1929) 446, 452. 1312 Kelsen, Wechselrede (1929) 504. 1313 Otto Bauer in der Sitzung des Verfassungsunterausschusses vom 6. 11. 1929, in: Berchtold, Verfassungreform II, 183; vgl. auch Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 557; Zavadil, Parteienvereinbarungen (1999) 341. 1314 Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 560. 1315 Kelsen, Autobiographie (1947) 35 = HKW I, 76; Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 408. 1310 Kelsen,
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
kurzer Zeit durchberaten und Einigung über alle Fragen erzielt: Wien behielt seinen Status als Bundesland; der Bundespräsident sollte künftig vom Volk gewählt werden (tatsächlich blieb der bisherige Amtsinhaber, Wilhelm Miklas, noch bis 1938 im Amt) und mehr Kompetenzen wie etwa die Ernennung der Bundesregierung und den Oberbefehl über das Bundesheer erhalten, das Notverordnungsrecht wurde aber so kompliziert gestaltet, dass es bis zum heutigen Tag nicht zur Anwendung kam; die Umwandlung des Bundesrates in einen Länder‑ und Ständerat wurde nur projektiert und bis 1934 nicht verwirklicht; die Verhängung des Ausnahmezustandes und die Suspension von Grundrechten sollte auch weiterhin nicht zulässig sein; die Geschworenengerichte sollten zu Schöffengerichten umgewandelt, VwGH und VfGH entpolitisiert werden. In dieser Form wurde die Verfassungsreform am 7. Dezember 1929 von allen im Nationalrat vertretenen Parteien angenommen.1316 Sowohl die Regierung wie auch die Opposition hatten in für sie entscheidenden Punkten nachgeben müssen. »Die schwere Verfassungskrise ist durch einen Kompromiß gelöst, der Friede in Oesterreich sichergestellt«, erklärte Kelsen gegenüber der »Frankfurter Zeitung« und erklärte es – ganz nach seinen allgemeinen politologischen Thesen – als den »wahre[n] Weg der Demokratie«, dass keine Partei vollständig gesiegt hatte.1317
7. Die Umpolitisierung des Verfassungsgerichtshofes Die positiven Worte, die Hans Kelsen letztlich doch noch zur Verfassungsreform 1929 hatte finden können, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Reform für ihn – wie auch für fast alle anderen Richter des VfGH – einschneidende persönliche Folgen hatte, die auch schon bald zum Tragen kamen, weil das – parallel zur eigentlichen Novelle beschlossene – Verfassungs-Übergangsgesetz bestimmte, dass die Funktion sämtlicher bisheriger (ursprünglich auf Lebenszeit gewählter) Mitglieder und Ersatzmitglieder des VfGH mit dem 15. Februar 1930 ende.1318 Die Verfassungsnovelle 1929 selbst brachte einen völlig neuen Bestellmodus für die Richter: Diese sollten nicht mehr von Nationalrat und Bundesrat gewählt, sondern vom Bundespräsidenten ernannt werden. Dabei hatte die Bundesregierung das Recht, den Präsidenten, Vizepräsidenten, sechs Mitglieder und drei Ersatzmitglieder vorzuschlagen; der Nationalrat hatte nur mehr das Recht, Dreiervorschläge für die Posten von drei
1316 Bundesverfassungsgesetz
v. 7. 1 2. 1929 BGBl 392 betreffend einige Abänderungen des Bundes-Verfassungsgesetzes v. 1. 10. 1920 (Zweite Bundes-Verfassungsnovelle); vgl. ausführlich Hasiba, Die Zweite-Bundesverfassungsnovelle (1976) 91–134; Berchtold, Verfassungsgeschichte (1998) 568 f. 1317 Kelsen, Der Verfassungsfriede in Oesterreich (1929). Vgl. auch Leser, Reformismus und Bolschewismus (1985) 291. 1318 Verfassungs-Übergangsgesetz v. 7. 1 2. 1929 BGBl 393.
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5. Kapitel: Der Sturz Kelsens
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weiteren Mitgliedern und zwei Ersatzmitgliedern, der Bundesrat Dreiervorschläge für die Posten von drei Mitgliedern und einem Ersatzmitglied zu erstatten.1319 Der verfassungsrechtlichen Änderung folgte am 29./30. Jänner 1930 eine neue informelle Parteienvereinbarung, die in Anbetracht der neuen Verfassungslage dazu führte, dass die Sozialdemokraten nur mehr die Möglichkeit hatten, über den Nationalrat ein Mitglied und ein Ersatzmitglied sowie über den Bundesrat ein weiteres Mitglied für den VfGH zu nominieren, während Präsident, Vizepräsident und die übrigen Mitglieder und Ersatzmitglieder teils von der bürgerlichen Bundesregierung, teils von den bürgerlichen Abgeordneten im Nationalrat und den bürgerlichen Mitgliedern des Bundesrates nominiert wurden.1320 Hans Kelsen berichtet in seiner Autobiographie, dass der Parteiobmann der Sozialdemokraten, der Wiener Bürgermeister Karl Seitz, Kelsen darum bat, »als Vertrauensmann der Partei in den neuen Verfassungsgerichtshof einzutreten. Das lehnte ich ganz entschieden ab. Erstens weil ich nicht als Vertrauensmann irgendeiner Partei ein richterliches Amt ausüben wollte; solches hielt ich mit der richterlichen Unabhaengigkeit gaenzlich unvereinbar [sic]. Selbst unter der Voraussetzung dass ich, wie mir Seitz nachdruecklichst zusicherte, keinerlei Bindung der Partei gegenueber zu uebernehmen brauchte. Dann aber auch weil ich es fuer einen schweren Fehler der sozialdemokratischen Partei hielt, auf den Vorschlag der Regierung einzugehen. Die zwei sozialdemokratischen Vertrauensleute waren gegenueber den zwoelf Vertrauensleuten der Regierung vollkomen machtlos. Ihre Anwesenheit im Gerichtshof konnte nur die Wirkung haben seinen Entscheidungen den Schein der Objektivitaet zu geben. Ich erklaerte Buergermeister Seitz, dass ich die Beseitigung eines von der Regierung unabhaengigen Verfassungsgerichtshofs fuer einen verhaengnisvollen Schritt halte als die faschistischen Tendenzen der christlich-sozialen Partei zu dieser Zeit schon ziemlich deutlich waren. Die folgende Entwicklung hat mir recht gegeben.«1321 Da Kelsen ablehnte, nominierten die Sozialdemokraten den Rechtsanwalt Jakob Freundlich und den Wiener Zivilrechtsprofessor Arthur Lenhoff als Mitglieder sowie den Wiener Kammersekretär Edmund Palla als Ersatzmitglied des VfGH, während die bisher von den Sozialdemokraten nominierten Richter ihr Amt verloren.1322 Es schieden aber, u. a. aufgrund der neuen Alters‑ und Unvereinbarkeitsbestimmungen, auch fast alle christlichsozialen und großdeutschen Mitglieder aus dem Amt, ferner die neutralen Mitglieder Kelsen und Neumann-Ettenreich sowie vor allem Präsident Vittorelli und Vizepräsident Menzel. Im Amt verblieben lediglich die Richter Engel 1319 Art. 147 B-VG idFdN BGBl 1929/392. Anstelle von »Bundesrat« wird in der genannten Bestimmung der – an Stelle des Bundesrates noch zu schaffende – »Länder‑ und Ständerat« genannt; da diese Reform letztlich niemals erfolgte, kamen (und kommen in veränderter Form noch heute) die genannten Nominationsrechte dem Bundesrat zu. 1320 Zavadil, Parteienvereinbarung (1999) 360; Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 410. 1321 Kelsen, Autobiographie (1947) 34 f. = HKW I, 76. Vgl. dazu auch Kelsen, Verfassung (1930) 158; R athkolb, Demokratiegeschichte (2017) 79; Zeleny, Hans Kelsen als politischer Mensch (2018) 17 f. 1322 Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 409 f.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
und Wanschura.1323 Zum neuen Präsidenten wurde der bisherige Präsident des Oberlandesgerichtes Innsbruck, Ernst Durig, ernannt, zum Vizepräsidenten Georg Froehlich. Von den sonstigen neu ernannten Mitgliedern ist vor allem auf Ludwig Adamovich sowie auf den Senatspräsidenten Hermann Prey (der 1921 das OGH-Gutachten gegen die Dispensehen verfasst hatte) hinzuweisen. Sektionschef Robert Hecht wurde zum Ersatzmitglied ernannt; er war später, 1933, maßgeblich an der faktischen Beseitigung der Verfassungsgerichtsbarkeit beteiligt.1324 In den Verfassungsarbeiten war immer von einer »Entpolitisierung« des VfGH die Rede gewesen, die mit der Reform erreicht werden sollte – von einer solchen konnte angesichts der nunmehrigen Situation nicht mehr gesprochen werden. Vielmehr prägte Adolf Merkl das Wort von der »Umpolitisierung« des VfGH, die er auch scharf kritisierte. Ganz besonders »der Ausschluß Kelsens enthüllt dem Eingeweihten die letzten Wurzeln dieser unter dem Prätext der Entpolitisierung unternommenen Neuordnung des Verfassungsgerichtshofes.«1325 Noch einmal tauchte der Name Kelsen im Wiener Parlament auf, als der Nationalrat am 12. März 1930 über eine – durch die Verfassungsreform notwendig gwordene – Novelle zum Verfassungsgerichtshofgesetz debattierte1326 und Renner die Gelegenheit ergriff, daran zu erinnern, dass Kelsen nicht mehr in den neuen VfGH ernannt worden war. »Wenn die Rechte vielleicht meint, daß Kelsen ein Marxist ist, dann bemerke ich, daß sie falsch berichtet ist, denn einige von seinen jüngsten Schriften setzen sich auf die ernsteste und polemischeste Weise mit der Staatsauffassung von Marx auseinander; und in seiner Praxis hat er in vielen Dingen ganz anders entschieden, als es das Interesse unserer Partei war. Es ist also keine Ausrede, daß hier ein Marxist gestanden hat.«1327 Auch die »Arbeiter-Zeitung« hielt fest, dass Kelsen »kein Sozialdemokrat, kein Marxist, […] nie ein Mitglied unserer Partei«, sondern vielmehr ein »bürgerlicher Demokrat« sei, der antimarxistische Schriften verfasst hatte. Sie betonte diesen Umstand, weil es »um etwas Größeres als um eine Parteifrage« gehe, wenn sie so wie Renner kritisiere, dass ein »Gelehrte[r] von Weltruf und Weltbedeutung« von der Regierung »gemaßregelt« werde.1328 Übrigens hielt der VfGH auch in der Zeit zwischen Beschlussfassung der Verfassungsnovelle im Dezember 1929 und Inkrafttreten der ihn betreffenden Bestimmungen im Februar 1930 noch eine Session in der alten Zusammensetzung ab, und zwar am 21. und 22. Jänner 1930. Wanschura, eines der wenigen Mitglieder, die auch dem »neuen« VfGH angehören sollten, stellte in der Sitzung vom 21. Jänner den 1323 Ladenbauer,
Vittorelli (1997) 209. Ehe auf Widerruf ? (1999) 409; vgl. noch unten 551. 1325 Merkl, Der ›entpolitisierte‹ Verfassungsgerichtshof (1930) 511 = MGS II/2, 26; vgl. Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 410; Ehs, Verfassungsgerichtsbarkeit (2017) 138. Vgl. auch die der Merklschen Kritik ähnliche Kritik von Brockhausen, Verfassungsgerichtshof (1930). 1326 Bundesgesetz v. 4. 4. 1930 BGBl 112. 1327 StPNR 3. GP 3496; Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 414. 1328 AZ Nr. 36 v. 6. 2 . 1930, 1 f. 1324 Harmat,
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5. Kapitel: Der Sturz Kelsens
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Antrag, diese wieder abzusagen und bis zur Neubesetzung keine neuen Sessionen mehr anzuberaumen, da der »alte« VfGH nicht mehr genügend Autorität besitze. Kelsen pflichtete dem bei und erklärte, dass es »Missdeutungen« in der Öffentlichkeit geben könne, wenn die derzeitigen Verfassungsrichter noch Erkenntnisse schöpften. Menzel, der die Sitzung leitete, ließ aber keine Abstimmung über diesen Punkt zu, weil weder Wanschura noch Kelsen ein rechtliches Argument hatten bringen können, weshalb der VfGH keine Session abhalten könne.1329 Der VfGH verhandelte an diesem und dem nachfolgenden Tag noch zwölf Fälle, hob dabei u. a. eine Bestimmung in einem Wiener Landesgesetz auf und bestätigte den Mandatsverlust eines burgenländischen Gemeinderates. Auch drei zivilgerichtliche Urteile, mit denen Dispense vom bestehenden Eheband für ungültig erklärt worden waren, wurden aufgehoben, wobei der VfGH nur auf seine ständige Judikatur verwies.1330 Im Anschluss an die öffentliche Sitzung versammelten sich die Mitglieder des VfGH noch ein letztes Mal, und der scheidende Präsident Vittorelli richtete einige Worte des Abschieds an die übrigen, großteils ebenfalls ausscheidenden Richter, für die sich Sylvester als das dienstälteste Mitglied im Namen seiner Kollegen bedankte.1331 Damit endete Kelsens Tätigkeit als Richter am VfGH. Die erste Sitzung des neu zusammengesetzten VfGH fand im April statt; |c (erst) am 7. Juli 1930 kam es wieder zu einer Beratung über zwei Dispensehenfälle. Das Referat führte Engel, der das Vorliegen eines Kompetenzkonflikts annahm. Doch erhob der neue Verfassungsrichter Ludwig Adamovich Widerspruch c| und verneinte eine Zuständigkeit des VfGH nach Art. 138 B-VG, wobei er (unausgesprochen) der Argumentation Petscheks folgte, der sich auch die Mehrheit der anderen Mitglieder anschloss.1332 »Damit war die Erteilung von Ehedispensen zwar nicht unmoeglich, aber die Eingehung einer Dispensehe hinreichend riskant gemacht« worden, resümierte Kelsen später. »Und das war alles was die christlich-soziale Partei unter den gegebenen Umstaenden erzielen konnte.«1333 Angemerkt sei an dieser Stelle, dass der VfGH bis zum heutigen Tag an der Judikaturlinie festhält, die er bis 1926 und wieder ab 1930 zur Frage des (wie es Petschek formuliert hatte:) »Bindungskonfliktes« verfolgte, und dass auch die moderne 1329 Walter,
Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 40 f. 1301–1308 (die Dispenssachen summarisch in VfSlg 1303, darunter auch der oben, Anm. 1157 angeführte Fall Oerley). 1331 Reichspost Nr. 23 v. 24. 1. 1930, 2. 1332 VfGH 7. 7. 1930 K 1/30 und K 102/29, VfSlg 1341 und 1342; vgl. ausführlich Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 420–428. Etwas ungenau daher Kelsen, Autobiographie (1947) 35 = HKW I, 77, wonach der VfGH meritorisch entschieden hätte, dass die Zivilgerichte ihre Kompetenz nicht überschritten hatten. 1333 Kelsen, Autobiographie (1947) 35 = HKW I, 77. Der Dispensehenstreit zog sich noch bis 1938 hin, worauf hier nicht eingegangen zu werden braucht. Erst am 6. 7. 1938 erließ der neue nationalsozialistische Gesetzgeber ein neues – bis zum heutigen Tag in Österreich geltendes! – Ehegesetz (dRGBl I S. 807), das die obligatorische Zivilehe sowie die konfessionsunabhängige Scheidung brachte und überdies in § 121 bestimmte, dass die sog. Dispensehen als von Anfang an gültig geschlossene Ehen zu betrachten seien. Vgl. ausführlich Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 431 ff. 1330 VfSlg
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
rechtsdogmatische Lehre die von Kelsen vorgebrachte Konstruktion des »indirekten Kompetenzkonfliktes« für unrichtig hält.1334 Sachlich konnte Kelsens Haltung also durchaus kritisiert werden. Dass diese Kritik aber dazu geführt hatte, dass der bedeutendste Verfassungsrechtler Österreichs und geistige Vater des VfGH diesem nun nicht mehr angehörte, wurde bereits von vielen Zeitgenossen als geradezu absurd angesehen. Am 10. Februar 1930 erschien in der Wiener Wochenzeitung »Der Morgen« ein Artikel mit dem Titel »Eine österreichische Blamage«, in der Hans Kelsen in eine Linie mit dem Erfinder der Schiffsschraube Josef Ressel, mit dem Flugzeugkonstrukteur Wilhelm Kreß und mit anderen großen Österreichern gestellt wurde, die ebenfalls in ihrer Heimat nie jene Anerkennung gefunden hatten, die ihnen gebührt hätte. Der Artikel wurde ergänzt durch eine Karikatur von Kelsen, in der dieser vom Portier des VfGH am Betreten des Gerichts mit den Worten gehindert wurde: »Ja, aber Herr Professor, was wollen Sie denn in dem entpolitisierten Verfassungsgerichtshof ? Sie sind doch nur eine Autorität, aber kein Parteimann.«1335 Es ist gut möglich, dass zu den Lesern dieser Zeitung auch Dr. Alexander Muralt zählte, ein Schweizer Arzt und Physiologe, der erst kürzlich von einem längeren Amerikaaufenthalt nach Europa zurückgekommen war und eben zu jener Zeit in Wien weilte.1336 Wann und auf welche Weise er Kelsen kennengelernt hatte, ist unbekannt. Doch am selben Tag, an dem die Karikatur des Juristen in der Zeitung erschien, schrieb Muralt einen Brief nach Genf, in dem er erklärte, dass er Hans Kelsen viel verdanke, dass dieser nunmehr seine Stelle am VfGH verloren habe und mit ihm über eine Professur in der Schweiz, womöglich in Zürich oder – wegen der Nähe zum Völkerbund – in Genf, gesprochen habe.1337 Empfänger des Briefes war William Rappard, Gründer und Direktor des Institut universitaire de hautes études internationales (IUHEI) in Genf. Er dankte Muralt und entgegnete ihm, dass er Kelsen, wenn dieser demnächst an das Institut komme, auf diese Sache ansprechen werde: Denn Kelsen war schon im Oktober des Vorjahres von Rappard eingeladen worden, in der dritten Märzwoche 1930 Gastvorlesungen zu den Themen »Grundzüge einer Allgemeinen Staatslehre« und »Die Verfassung der Republik Deutsch-Österreich« (sic) zu halten.1338 Eine Berufung Kelsens an das IUHEI schien allerdings schwer möglich, da an dem kleinen Institut bereits zwei Juristen, Georges Scelle und Hans Wehberg, tätig waren, somit zumindest im Moment kein Platz für Kelsen frei war. In jedem Fall wurde aus der Sache – noch – nichts; 1334 Walter, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 65; Zellenberg, Kelsen und die Deutung des Bindungskonflikts (2014) 697. 1335 Der Morgen Nr. 6 v. 10. 2 . 1930, 7; vgl. in diesem Buch Abb. 31. Die Karikatur ist kommentiert abgedruckt auch bei Neschwara, Kelsen als Verfassungsrichter (2005) 354; vgl. auch Métall, Kelsen (1969) 56. 1336 Michael Engel, Muralt Alexander, in: NDB XVIII (Berlin 1997) 606 f. 1337 Alexander Muralt, Brief an William Rappard v. 10. 2 . 1930, AHEI Ordner Correspondance W. E. Rappard avec G. Ferrero, F. A. von Hayek, H. Kelsen; vgl. Busch/Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2015) 10. 1338 Busch/Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2015) 11.
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5. Kapitel: Der Sturz Kelsens
Abb. 31: Aus »Der Morgen« vom 10. Februar 1930.
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2. Teil: Als Professor an der Universität Wien
Kelsen nahm stattdessen im Sommer 1930 einen Ruf der Universität Köln an. Doch sollten sich die Kontakte nach Genf schon wenige Jahre später als äußerst nützlich erweisen …
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Dritter Teil
Köln – Genf – Prag
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Erstes Kapitel
Als Professor an der Universität zu Köln 1. Die Berufung nach Köln a) Preußische Wissenschaftspolitik am Rhein Die Universität zu Köln war eine Neugründung des 20. Jahrhunderts. 1798 hatten die Franzosen die 1388 gegründete Alte Universität nach 410 Jahren ihres Bestehens geschlossen, und nachdem das Rheinland 1814/15 preußisch geworden war, hatte König Friedrich Wilhelm III. Bonn den Vorzug vor Köln gegeben und dort 1818 die vorerst einzige preußische Universität links des Rheins (wieder‑) errichtet. Erst 1901 wurde in Köln eine Handelshochschule, 1904 eine Akademie für praktische Medizin gegründet.1 Die verschiedenen Bestrebungen, diese Einrichtungen zur Ausgangsbasis für eine neue Universität zu machen, fanden ab 1917 im neuen Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer eine wirkmächtige Stütze. Aber erst der Ausgang des Ersten Weltkrieges, die Abtretung Elsaß-Lothringens mitsamt der Universität Straßburg an Frankreich sowie die Besetzung des übrigen linksrheinischen Deutschlands, auch Kölns, durch Entente-Truppen, führten dazu, dass die preußische Regierung die Wiedererrichtung einer Universität zu Köln für notwendig erachtete. Dies war, so Adenauer, nunmehr eine »Pflicht gegen das Deutschtum.«2 Am 4. Jänner 1919 erlaubte das preußische Staatsministerium der Stadt Köln, »ihre wissenschaftlichen Anstalten zu einer neuartigen Universität auszubauen«,3 und am 27./29. Mai 1919 wurde ein Staatsvertrag zwischen dem Freistaat Preußen und der Stadt Köln abgeschlossen, mit dem ersterer Stifter, letztere hingegen Trägerin der Universität wurde. Die Vermögens‑ und Personalverwaltung wurde einem kollegial organisierten Kuratorium übertragen, dessen nominellen Vorsitz der Kölner Oberbürgermeister übernahm; staatlicher Vertreter war ein Kommissar des Ministers.4 Zum ersten Rektor wurde der bisherige Leiter der Handelshochschule, der Wirtschaftswissenschaftler Christian Eckert gewählt; 1 Ausführlich
Heimbüchel, Die Neue Universität (1988).
2 Konrad Adenauer, Schreiben an Oberregierungsrat Philipp Brugger v. 14. 1. 1919, zit. n. Heim-
büchel, Die Neue Universität (1988) 307. 3 Zit. n. Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 318. 4 Freitäger, »K. und K. op kölsch« (2007) 84. Wie die Berufung Carl Schmitts 1932 (unten 530) zeigt, war Adenauer als nomineller Kuratoriumsvorsitzender immer wieder an Entscheidungen des Kuratoriums beteiligt. Friedrich (nachmals Frederick) Mayer, der in Köln ein Hörer Kelsens und später, nach beider Emigration in die USA, mit ihm befreundet war, bestätigte uns im Interview den starken persönlichen Einfluss Adenauers auf die Berufung Kelsens: Frederick Mayer, Interview v. 1. 7. 2007.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Abb. 32: Handelshochschule (ab 1919: Universität) zu Köln. Foto vor 1919.
im Anschluss an seine Rektoratszeit (1919/20) übernahm er die Funktion eines Geschäftsführenden Vorsitzenden des Universitätskuratoriums, welche Position Eckert bis zu seiner Absetzung durch die Nationalsozialisten 1933 behielt.5 Die neue Universität bestand vorerst nur aus zwei Fakultäten, eine für Wirtschafts‑ und Sozialwissenschaften, die andere für Medizin. 1920 kamen eine philosophische und eine rechtswissenschaftliche Fakultät hinzu. Letztere wurde mit sechs Lehrstühlen ausgestattet, von denen die beiden öffentlich-rechtlichen mit Professoren der vormaligen Handelshochschule, Fritz Stier-Somlo und Godehard Ebers, besetzt wurden, während für die übrigen vier Lehrstühle Professoren aus Frankfurt a. M., Halle, Straßburg und Genf gewonnen werden konnten.6 Die Fakultät war stark wirtschaftsrechtlich ausgerichtet, was sich positiv auf die Studierendenzahlen auswirkte; im Wintersemester 1930/31 hörten bereits 1.267 Studenten und 60 Studentinnen die Rechte in Köln.7 Dies wiederum machte es nötig, den Personalstand der Fakultät zu vergrößern. Doch während sich die Errichtung eines weiteren zivilrechtlichen und eines weiteren strafrechtlichen Lehrstuhls relativ problemlos gestaltete, dauerten die Bemühungen um ein drittes Ordinariat für öffentliches Recht nicht weniger als fünf Jahre, von 1925 bis 1930.8 Dies hatte nicht nur finanzielle Gründe, auch wenn die »Finanznot des Staates« natürlich vom preußischen Wissenschaftsministerium gerne 5 Freitäger,
»K. und K. op kölsch« (2007) 87. Selbstdarstellung (1952) 86; Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 447 f. 7 Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 326, 445, 462; Henning/Lauf/Ludwig, Statistik (1988) 293. 8 Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 454 f. 6 Ebers,
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als Argument gegen ein weiteres Ordinariat gebraucht wurde.9 Vielmehr hielten die beiden Ordinarien für öffentliches Recht, Ebers und Stier-Somlo, selbst ein drittes Ordinariat für überflüssig und propagierten stattdessen die Schaffung eines »Instituts für Völkerrecht und internationales öffentliches Recht«.10 Von Anfang an dachten Ebers und Stier-Somlo dabei daran, auf diesen völkerrechtlichen Lehrstuhl Hans Kelsen zu berufen. Schon am 1. Dezember 1925 beschloss die Fakultät die Berufung Kelsens unico loco für einen »neuzuschaffenden Lehrstuhl für Internationales Recht«.11 Der Berufungsvorschlag würdigte ausführlich die wissenschaftlichen Leistungen Kelsens, hob hervor, dass er den Entwurf zur österreichischen Bundesverfassung »selbst verfaßt hat« und vergaß auch nicht zu erwähnen, dass er »ein vorzüglicher Dozent von lebhafter und eindringlicher Diktion« sei, »der es auch ausgezeichnet versteht, die Studierenden durch seine eigenartige Persönlichkeit an sich zu fesseln.«12 Kelsens Lehrauftrag sollte »auf Allgemeine Staatslehre, Völkerrecht und sonstiges Internationales Recht« begrenzt werden; er würde damit nicht nur die bereits in Köln lehrenden »Fachvertreter des öffentlichen Rechts […] aufs beste ergänzen«, die Fakultät gab sich auch davon überzeugt, dass sie »keinen Gelehrten des Internationalen Rechts finden« könne, »den nicht Kelsen als Gesamtpersönlichkeit überragte.«13 Der Berufungsvorschlag wurde jedoch am 1. April 1926 vom preußischen Wissenschaftsminister Carl Heinrich Becker aufgrund der »Finanznot des Staates« abgelehnt.14 Stier-Somlo,15 dessen Forschungsgebiete ähnlich wie jene Kelsens waren und der auch ähnliche politische Ansichten hatte,16 gab nicht auf. Wahrscheinlich war er der »sehr weit links stehende[..] Ordinarius einer großen deutschen Universität«, über den der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Adolf Braun im August 1926 an Karl Renner schrieb.17 Ein solcher hätte ihn nämlich unlängst in Genf angesprochen 9 So der preußische Wissenschaftsminister Carl Heinrich Becker an das Universitätskuratorium, 1. 4. 1926, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 20. 10 Godehard Ebers und Fritz Stier-Somlo, Schreiben an die Fakultät v. 15. 1 2. 1927, UA Köln, Zug 9/235, 5; Fritz Stier-Somlo, Denkschrift v. 15. 1 2. 1927, UA Köln, Zug 9/235, 2–4, hier 3. Bereits im Juli 1925 verhinderten Ebers und Stier-Somlo einen entsprechenden Beschluss des Kuratoriums: UA Köln, Zug 17/III, 1869, 1–3. 11 Berufungsvorschlag v. 1. 1 2. 1925, UA Köln, Zug 17/III 1869a, 14–17, hier 14. Vgl. dazu und zum Folgenden auch Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 453. 12 UA Köln, Zug 17/III 1869a, 14–17, hier 16. Vgl. dazu auch Lepsius, Kelsen und der Nationalsozialismus (2009) 275. 13 UA Köln, Zug 17/III 1869a, 14–17, hier 16 f. 14 Zit. n. Lepsius, Kelsen und der Nationalsozialismus (2009) 275. 15 Geb. Steinamanger in Ungarn [Szombathely/H] 21. 05. 1873, gest. Köln 10. 3. 1932. Sohn eines Rabbiners, Studium der Rechte in Berlin, Habilitation in Bonn 1901, Berufung nach Köln 1912, 1925/26 Rektor daselbst. Vgl. Ursula Krohn, Fritz Stier-Somlo http://rektorenportraits.uni-koeln. de/rektoren/fritz_stier_somlo [Zugriff: 02. 05. 2019]. 16 So stufte er etwa in einem Artikel, der in der ZÖR erschien, die These Schmitts, der Reichspräsident sei »Hüter der Verfassung«, als »bedenklich« ein: Stier-Somlo, Ausnahmeverordnung und Notverordnung (1931) 67. 17 Adolf Braun, Brief an Karl Renner v. 31. 8. 1926, abgedruckt in Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 143.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
und über Kelsen ausgefragt, da er ihn »für einen freiwerdenden Staats‑ und Völkerrechtslehrstuhl vorschlagen möchte. Ich war sehr zurückhaltend, meinte nur, daß meine Leute nicht gut auf ihn zu sprechen seien, worauf mein Gegenüber von häufigen Anschauungswechseln K’s sprach.« Die Antwort Renners war ambivalent: »Die Persönlichkeit des K. ist allerdings nicht sehr einfach und unkompliziert. Man muß auch verstehen, daß er bei seiner Ambition als Führer einer großen staatsrechtlichen Schule in dem Augenblicke, wo die Christlichsozialen zur Herrschaft kamen, sich nicht gerade beeilt hat, ein politisches Bekenntnis abzulegen. Sicher ist er Republikaner, Demokrat und Sozialist, wenn auch ein Gegner der Marx’schen Auffassung über den Staat. […] Ungern […] würde ich ihn von Wien scheiden sehen, weil er hier einer der wenigen Nichthakenkreuzler auf dem Katheder ist.«18 Das Objekt der Gespräche, Kelsen selbst, wusste über die Vorgänge in Deutschland im Prinzip Bescheid, auch wenn nicht ganz klar ist, wie viel ihm bekannt war. Aber als er im Oktober 1926 einen Ruf an die Handelshochschule Berlin als Nachfolger von Walther Schücking erhielt,19 benachrichtigte er Stier-Somlo und erklärte ihm gegenüber, dass er »lieber nach Köln« als nach Berlin möchte, jedoch eine »umgehende Aeusserung« wünsche.20 Tatsächlich schickte die Fakultät umgehend ein Schreiben an das Ministerium, in dem sie darauf hinwies, dass die neue Professur aus Eigenmitteln der Universität finanziert werden würde, dem Ministerium daher keine Kosten erwachsen würden.21 Der geschäftsführende Vorsitzende des Kuratoriums, Eckert, fügte dem noch ein separates Schreiben hinzu, in dem er ebenfalls die Besetzung Kelsens empfahl. Er habe Kelsen auf dem Fünften Deutschen Soziologentag gehört, wo dieser »wirklich ein ausgezeichnetes, geistvolles nach vielen Seiten anregendes Referat gehalten« habe. Und sogar Adenauer persönlich wandte sich am 7. März 1927 an das Wissenschaftsministerium, ob man denn bald mit einer »Erfüllung der diesseitigen Wünsche« rechnen könne. Die Antwort aus Berlin war jedoch abschlägig: Andere Professuren, wie z. B. für technische Physik, seien derzeit für Köln wichtiger.22 1928 unternahm die Fakultät einen neuen Anlauf. Ohne den Antrag auf Berufung Kelsens zurückzuziehen, unterbreitete sie am 18. Juni dem Ministerium eine Berufungsliste, an deren erster Stelle zwar der bereits 54-jährige Hamburger Völkerrechtler Albrecht Mendelssohn-Bartholdy stand, mit dessen Kommen aber offenbar nicht gerechnet wurde: »In zweiter Linie, aber mit besonderem Nachdruck benennt 18 Karl Renner, Brief an Adolf Braun v. 4. 9. 1925, abgedruckt in Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 143. 19 Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 455. 20 Fritz Stier-Somlo, Brief an Christian Eckert v. 29. 10. 1926, UA Köln, Zug 17/III 1869a, 24. 21 Schreiben der Fakultät an das Ministerium v. 9. 11. 1926, zit. n. Lepsius, Kelsen und der Nationalsozialismus (2009) 276. 22 Christian Eckert, Brief an Ministerialrat Wolfgang Windelband v. 16. 11. 1926, UA Köln, Zug 17/III 1869a, 28; Konrad Adenauer, Brief v. 7. 3. 1927, zit. n. Lepsius, Kelsen und der Nationalsozialismus (2009) 276; Unterrichtsminister Carl Heinrich Becker, Schreiben an Oberbürgermeister Konrad Adenauer v. 19. 3. 1927, UA Köln, Zug 17/III 1869a, 33. Lepsius, a. a. O., meint, dass prinzipielle wissenschaftspolitische Überlegungen, wonach die Universität Köln nicht größer als jene von Berlin werden sollte, ausschlaggebend für die Haltung des Ministeriums waren.
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1. Kapitel: Als Professor an der Universität zu Köln
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die Fakultät Alfred Verdross‑ (früher Freiherr Dr. von Verdross) Wien. […] Keineswegs in dem Banne der wissenschaftlichen Lehren von Professor Kelsen hat er in selbständiger Weise ›Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung‹ im Sinne einer monistischen Methode der Konstruktion des Völkerrechts zu erfassen und durchzufechten versucht.« An dritter Stelle wurde der Göttinger Professor Herbert Kraus genannt.23 Tatsächlich erging in weiterer Folge ein Ruf an Verdroß, der diesem jedoch nicht Folge leistete, sondern in Wien blieb.24 Die Kölner Fakultät musste vorerst weiter ohne einen Vertreter des Völkerrechts auskommen. b) Die Berufungsverhandlungen Am 11. Mai 1930 brachte das »Neue Wiener Journal« eine kleine Sensation: Professor Kelsen sei nach Köln berufen worden und bestätige dies in einem Exklusiv-Interview. »Es besteht jedenfalls eine große Wahrscheinlichkeit, daß ich die Berufung nach Köln annehme, um so mehr, als durch eine Reihe von Gründen, über die ich mich im gegenwärtigen Zeitpunkt weder äußern will noch kann, ein Scheiden von Wien immerhin möglich erscheint.«25 Die Initiative dazu, dass die Berufung Kelsens nach fünf Jahren nun doch gelungen war, war offenbar von Kelsen selbst ausgegangen: Denn am 17. April 1930 hatte er von Locarno aus, wo er während der Osterferien weilte, einen Brief an Karl Renner geschrieben und ihn gebeten, beim Vorsitzenden der SPD-Fraktion im preußischen Landtag Ernst Heilmann für ihn zu intervenieren, da ihn »die Verhältnisse in Österreich dazu […] drängen«, nach Köln zu gehen (und die SPD zu jener Zeit mit Otto Braun den preußischen Ministerpräsidenten sowie mit Adolf Grimme den preußischen Wissenschaftsminister stellte). »Mir liegt an der Sache umso mehr, als meine Berufung nach Frankfurt trotz Vorschlag der dort[igen] Universität und Intervention durch Abg. Bauer u[nd] Bürgerm[eister] Seitz nicht gelungen ist; Köln aber bis auf weiteres die letzte Chance ist, die ich habe. Meinen Wunsch, von hier wegzukommen, werden Sie, hochgeehrter Herr Kanzler, gewiß begreifen.«26 Renner antwortete Kelsen, dass dieser von ihm einen Akt der »Selbstverstümmelung« verlange,27 doch verfasste er zugleich das gewünschte Schreiben an Heilmann, in dem er sich für Kelsens 23 Besetzungsvorschlag 18. 6. 1928, UA Köln, Zug 17/III 1869a, 42–46. Vgl. auch GStA PK, I. HA Rep 76, Va Sekt. 10, Tit. IV, Nr. 3 Bd. I (Anstellung und Besoldung der ao. und o. Prof. der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln 1919–1938), Bl. 317 ff., sowie Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 455. 24 Busch, Verdross (2012) 150. 25 Neues Wiener Journal Nr. 13.100 v. 11. 5. 1930, 4. Dass Kelsen in diesem Artikel – wohl in bester Absicht – nicht nur als »Demokrat aus der Schule Dr. Julius Ofners«, sondern auch als »der Metaphysiker unter den Rechtsphilosophen« bezeichnet wurde, wird der so Titulierte hoffentlich mit Humor genommen haben. Das Neue Wiener Journal hatte seine Informationen vermutlich von der Kölnischen Zeitung bekommen, die bereits zwei Tage zuvor von der Berufung Kelsens berichtet hatte: Kölnische Zeitung Nr. 253 v. 9. 5. 1930, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 62. 26 Hans Kelsen, Brief an Karl Renner v. 17. 4. 1930, in: Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 144. 27 Karl Renner, Brief an Hans Kelsen v. 24. 4. 1930, in: Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 144 f.
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Berufung einsetzte: Diese würde nicht nur zur Ehre Kölns und Preußens gereichen, sondern auch einen »Gewinn für die Republik, für die Demokratie und den Sozialismus« darstellen, letzteres, auch wenn Kelsen »nur halb und halb Marxist« sei, sondern sich »mehr Lassalle« nähere.28 Offenbar war die Intervention erfolgreich, denn am 10. Mai schrieb Kelsen an Renner, dass er »die Berufung nach Köln erhalten« habe. Ministerialrat Wolfgang Windelband hatte ihn für den 2. Juni zu Berufungsverhandlungen nach Berlin sowie einer Reise nach Köln eingeladen.29 Diese nahmen einen für Kelsen ausgesprochen günstigen Verlauf. Kelsen hatte in Wien zuletzt (inclusive aller Zulagen) ein Gehalt von öS 23.698,68 sowie Kollegiengelder in Höhe von maximal öS 1.900 und Rigorosentaxen bezogen.30 Nunmehr sollte sein Gehalt (inclusive aller Zulagen) RM 18.000 betragen, zuzüglich einer Kolleggeldgarantie von RM 12.000. Zusammen machte das RM 30.000, was öS 50.535 entsprach.31 Kelsens Einkünfte wurden damit nahezu verdoppelt. Dies war auch für Kölner Verhältnisse außergewöhnlich: Wie der geschäftsführende Vorsitzende des Universitätskuratoriums, Christian Eckert, erklärte, waren dies die höchsten überhaupt möglichen Beträge; außer Kelsen erhielt nur ein einziger Professor der Universität Köln ein derart hohes Gehalt.32 Namentlich die Kolleggeldgarantie war eine bedeutende Belastung für die Universität, da Kelsen von vorne herein erklärte, nur »etwa 7 Semesterstunden« pro Jahr lesen zu wollen, und darauf bestand, dass er das Kolleggeld auch erhalte, wenn er ein Semester Urlaub nehme. Ferner sollte das schon 1927 von Stier-Somlo propagierte Seminar für Völkerrecht errichtet und mit einer Assistentenstelle ausgestattet werden.33 Nichtsdestoweniger stimmte Eckert allen vom Ministerium ausverhandelten Punkten zu. Als sich jedoch Kelsen mit dem Erreichten noch nicht zufrieden gab und auch noch um eine Personalzulage für die Leitung des Seminars (welches er in ein Institut umbenannt haben wollte) ansuchte, erteilte ihm Eckert eine klare Absage: »Dass Sie mit dem Höchstgehalt […] Ihren Lebensstandard nicht aufrecht erhalten können« – wie Kelsen behauptet hatte –, »halte ich für ausgeschlossen. Wie sollten denn all die übrigen Ordinarien, die weniger Gehalt und viel 28 Karl
145.
29
Renner, Brief an Ernst Heilmann v. 24. 4. 1930, in: Schmitz, Karl Renners Briefe (1991)
Hans Kelsen, Brief an Karl Renner v. 10. 5. 1930, in: Schmitz, Karl Renners Briefe (1991) 146; Reisekostenanweisung für Prof. Kelsen in Wien für eine Reise v. 1. 6.–6. 6. 1930 von Wien nach Berlin–Köln–Wien (Veranlassung Berufung), GStA PK, I. HA Rep 76, Va Sekt. 10, Tit. IV, Nr. 3 Bd. I, Bl. 333. 30 Staudigl-Ciechowicz, Dienst-, Habilitations‑ und Disziplinarrecht (2017) 183. Nicht einberechnet sind hier freilich seine Einkünfte, die er bis 1930 als Mitglied und ständiger Referent des VfGH bezogen hatte. 31 Die Umrechnung von RM in öS erfolgte nach den Werten v. 30. 7. 1930, vgl. Wiener Zeitung Nr. 175 v. 31. 7. 1930, 7. Laut https://www.eurologisch.at/docroot/waehrungsrechner/#/ [Abfrage vom 27. 11. 2019] entspricht Kelsens Jahresgehalt einer Kaufkraft von heute (2019) ca. € 172.989,90. 32 Möglicherweise handelte es sich dabei um den Professor für romanische Philologie Leo Spitzer (1887–1960), der ebenfalls 1930 nach Köln berufen wurde und so wie Kelsen eine hohe Kolleggeldgarantie erhielt, vgl. UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 129. 33 Vgl. die im Juni 1930 geführte Korrespondenz zwischen Kelsen, Eckert und Windelband, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 69–86.
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1. Kapitel: Als Professor an der Universität zu Köln
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geringere oder gar keine Kolleggeldgarantie beziehen, sonst hier leben können? Sie brauchen nach dieser Richtung hin wirklich nichts zu befürchten.«34 Es war (und ist) akademische Sitte, dass ein Professor, der an eine andere Universität berufen wurde, seine Heimatuniversität noch vor formeller Annahme des Rufes darüber informierte und ihr Gelegenheit gab, »Abwehrverhandlungen« mit dem Berufenen zu beginnen, also ein Gegenangebot zu erstatten, um diesen zum Bleiben zu bewegen. Und manchmal war das Gegenangebot so attraktiv, dass der Berufene den Ruf ablehnte (wie dies anscheinend bei der Berufung von Verdroß nach Köln der Fall gewesen war).35 Auch Kelsen berichtete, am 7. Juni 1930, dem Dekan der Wiener rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät – als welcher damals ausgerechnet sein Widersacher Alexander Hold-Ferneck amtierte – von seiner Berufung nach Köln.36 Offenbar erfuhren erst dadurch auch die übrigen Wiener Fakultätskollegen von der Angelegenheit, denn (erst) am 12. Juni beantragte Kelsens Fachkollege Max Layer gemeinsam mit den beiden Romanisten Friedrich Woeß und Ernst Schönbauer die Einberufung einer Fakultätssitzung, um über die Berufung Kelsens diskutieren zu können. Hold hingegen initiierte, angeblich, weil die Sache so dringlich war, einen Umlaufbeschluss, mit dem er ermächtigt werden sollte, dem österreichischen Unterrichtsministerium zu berichten, dass das Professorenkollegium »Wert darauf legt, daß Herr Prof. Kelsen der Wr. Univ. erhalten bleibe.« Von den 24 stimmberechtigten Mitgliedern des Kollegiums (nicht eingerechnet Kelsen selbst) sprach sich nur eine hauchdünne Mehrheit von 13 Personen für diesen Beschluss aus.37 So manche fehlende Unterschrift, wie insbesondere jene von Adolf Merkl,38 ist nur durch die große Eile, mit der dieser Umlaufbeschluss zustande kam, zu erklären; gerade dies aber lag vielleicht auch in der Absicht des Dekans, der den Beschluss zwar am 18. Juni an das Ministerium weiterleitete, ihn in seiner Funktion als stimmberechtigtes Mitglied des Kollegiums aber nicht mit unterzeichnet hatte. Das Schreiben der Fakultät zeigte deutlich, wie stark Kelsens Feinde an der Fakultät schon waren, was schlimmer wog, 34 Hans Kelsen, Schreiben an Christian Eckert, 11. 6. 1930 und Antwortschreiben v. 13. 6. 1930, beide in UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 71 f. 35 Siehe oben 485. 36 Dies geht aus einem Brief von Hold-Ferneck an das Unterrichtsministerium vom selben Tag hervor: ÖStA AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 796. 37 Der Antrag wurde von den ordentlichen Professoren Hans Sperl, Hans Voltelini, Josef Hupka, Othmar Spann, Rudolf Köstler, Gustav Walker, Oskar Pisko, Alfred Verdroß, Friedrich Woeß und Max Layer, den außerordentlichen Professoren Emil Goldmann und Stephan Brassloff sowie Privatdozent Richard Strigl befürwortet. Somit fehlten die Unterschriften von Ernst Schwind (der allerdings aufgrund seines gesundheitlichen Zustandes, auch wenn er gewollt hätte, wohl nicht mehr unterschreiben hätte können), Wenzel Gleispach, Alexander Hold-Ferneck, Hans Mayer, Ferdinand Degenfeld-Schönburg, Ernst Schönbauer, Adolf Merkl, Karl Hugelmann, Hubert Streicher, Wilhelm Winkler und Heinrich Klang: ÖStA AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 796. 38 Dass Merkl bestürzt über den Fortgang Kelsens war, braucht nicht extra hervorgehoben werden; vgl. seinen am 26. 10. 1930 in der NFP veröffentlichten »Nachruf«: Merkl, Professor Hans Kelsen (1930) = MGS III/2, 363–365. Auch Verdroß zeigte sich, am 25. 10. 1930 in den »Juristischen Blättern«, betrübt über den Weggang Kelsens: Verdross, Die Rechtstheorie Hans Kelsen’s (1930) = VGS 93-100 = WRS 1063–1069.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
als wenn das Schreiben niemals zustande gekommen wäre. Im Grunde war es eine schallende Ohrfeige für Kelsen. Im Gegensatz dazu unternahm die Wiener Juristische Gesellschaft einen aufrichtigen Versuch, ihr Vorstandsmitglied Kelsen zum Bleiben zu bewegen: Ihr Obmann Friedrich Engel (der gemeinsam mit Kelsen Richter am VfGH gewesen war), richtete am 25. Juni ein Schreiben an Hans Kelsen, in dem er ihn namens der Gesellschaft dringend bat, nicht nach Köln zu gehen. Am Folgetag schrieb er auch noch dem Unterrichtsministerium, mit der Bitte, Kelsen »für das Vaterland« zu erhalten.39 Am selben Tag, dem 26. Juni 1930, sprach auch Kelsen persönlich beim zuständigen Referenten im österreichischen Unterrichtsministerium, Ministerialrat Dr. Alfred Majer, vor, um ihn direkt von den Berufungsverhandlungen mit dem preußischen Ministerium zu informieren. Ob ihm der Umlaufbeschluss der Fakultät zu diesem Zeitpunkt schon bekannt war, ist fraglich; er erklärte gegenüber Majer, »noch nicht entgiltig entschlossen zu sein«, nach Köln zu gehen. Er erwartete also die üblichen Abwehrverhandlungen mit dem österreichischen Ministerium. Dabei erklärte Kelsen auch, »keine finanziellen Bedingungen« zu stellen; er wollte »lediglich eine moralische Genugtuung gegenüber der Demütigung erlangen, welche er durch die Nichtberufung in den Verfassungsgerichtshof erlitten hat.« Diese Genugtuung sollte aus einem bezahlten Urlaub im Ausmaß von drei bis vier (nicht aufeinanderfolgenden) Sommersemestern bestehen, um in dieser Zeit am Genfer Institut universitaire de hautes études internationales (IUHEI) lehren zu können.40 Unterrichtsminister war damals (1929–1930) Heinrich Srbik, Professor für Neuere Geschichte und Mitglied eines Geheimbundes antisemitischer Professoren an der Universität Wien, der (nach ihrem Versammlungsort, dem Seminarraum für Paläontologie so bezeichneten) »Bärenhöhle«.41 Auf Empfehlung von Ministerialrat Majer schrieb er Kelsen am 1. Juli 1930 zurück, dass der gewünschte Urlaub möglich sei, jedoch nur, wenn die Fakultät einen entsprechenden Antrag stelle. Zugleich übermittelte er ihm aber auch in Kopie ein Schreiben, das er an das preußische Unterrichtsministerium gerichtet hatte, wonach gegen die Berufung Kelsens »keine Bedenken erhoben werden«, dass sich aber die Fakultät »mit Stimmenmehrheit« für ein Verbleiben Kelsens ausgesprochen habe.42 Möglicherweise erfuhr Kelsen erst über diesen Umweg, wie gering die Zahl jener Professoren war, die für seinen Verbleib in Wien votiert hatten. Am 3. Juli 1930 nahm 39 Friedrich Engel, Brief an das Bundesministerium für Unterricht v. 26. 6. 1930 (mit Abschrift eines am Vortag an Kelsen ergangenen Schreibens), ÖStA AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 796. 40 Amtsvermerk vom 26. 6. 1930, ÖStA AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 796. 41 Geb. Wien 10. 11. 1878, gest. Ehrwald (Tirol) 16. 2 . 1951; 1922–1945 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Wien; Verfasser u. a. eines Standardwerkes zu Metternich; 1938–1945 Präsident der Wiener Akademie der Wissenschaften. Vgl. Fritz Fellner, Srbik, Heinrich Ritter von, in: NDB XXIV (2010) 773–775; Taschwer, Hochburg des Antisemitismus (2015) 14 und passim. 42 Der Referentenentwurf zu diesem Schreiben ist in ÖStA AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 796, erhalten.
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1. Kapitel: Als Professor an der Universität zu Köln
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er jedenfalls die Berufung nach Köln an und verständigte hiervon sowohl das Ministerium in Berlin als auch das Kuratorium in Köln. Am folgenden Tag, dem 4. Juli, hielt er in Wien seine letzte Vorlesung und verkündete seinen Studentinnen und Studenten seinen Weggang aus Österreich.43 Nun freilich bemühten sich zahlreiche Österreicherinnen und Österreicher, Kelsen zum Bleiben zu überreden. Renner verfasste am 8. Juli in der »Wiener Allgemeinen Zeitung« einen Artikel, in dem er ihn als den »originellste[n] Rechtslehrer unserer Zeit« rühmte und von einem »unersetzlichen Verlust« sprach, den die Universität Wien durch den Weggang Kelsens erleiden würde.44 Und am 10. Juli erschien in der »Neuen Freien Presse« »Eine Adresse an Professor Doktor Hans Kelsen«, in der die Unterzeichnenden dessen allfälligen Weggang aus Wien als »einen tief beklagenswerten, schweren Verlust« bezeichneten. Es waren dies vier seiner ehemaligen Kollegen aus dem VfGH, nämlich Vittorelli, Menzel, Engel und Layer, ferner einige Fakultätskollegen und Schüler Kelsens, neben Merkl und Verdroß auch Robert Bartsch, Karl Brockhausen, Rudolf Herrnritt und Ernst Seidler (wobei bei letzterem unklar ist, ob der Vater oder der Sohn signiert hatte). Mitunterschrieben hatten aber auch weitere, erstrangige Wissenschaftler aus den unterschiedlichsten Fachbereichen, so die Mitglieder des Wiener Kreises Karl Bühler und Moritz Schlick, weiters der Technologe Wilhelm Franz Exner, der Kunsthistoriker Eduard Leisching, der Pharmakologe Hans Horst Meyer, der klassische Philologe Ludwig Radermacher, der Botaniker Richard Wettstein sowie der Arzt Arthur Reininger. Der Großindustrielle Julius Meinl II. gehörte zu den Unterzeichnern – und auch Hermann Neubacher, der sich als Generaldirektor der Gemeinnützigen Siedlungs‑ und Bauaktiengesellschaft um den sozialen Wohnbau in Wien verdient gemacht hatte, sich dann aber für die NSDAP engagierte und 1938–1940 Bürgermeister von Wien war. Drei, bedeutende Frauen fanden sich auf der Liste: die erste Doktorin und erste Dozentin an der Universität Wien, Elise Richter, die Schriftstellerin Margarete Jodl, Witwe des Philosophieprofessors Friedrich Jodl, sowie die 91-jährige Marianne Hainisch, eine Pionierin der österreichischen Frauenbewegung und Mutter des vormaligen Bundespräsidenten Michael Hainisch. Die vielleicht bemerkenswerteste Unterschrift aber hatte der Professor des Römischen Rechts Friedrich Woeß gegeben, denn er hatte seinerzeit das Innsbrucker Fakultätsgutachten gegen die Dispensehen verfasst. »Wir hoffen mit Bestimmtheit«, so die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner, »daß dem Wunsche dieser hervorragenden Männer [worunter offenbar auch die drei Frauen Hainisch, Jodl und Richter gezählt wurden] Rechnung getragen werde.«45 43 B. Z. [Berliner Zeitung] am Mittag, 5. 7. 1930, Zeitungsausschnitt in UA Köln, Zug 17/III, 1869a,
90.
44 Zit. n. Métall, Kelsen (1969) 57; Harmat, Ehe auf Widerruf ? (1999) 435. Manche traten zwar nicht an die Öffentlichkeit, dachten sich aber ihren Teil: Robert Musil notierte am 6. 2 . 1930 angesichts des bevorstehenden Weggangs Kelsens in sein Tagebuch, »man müßte einen Verein gegen die Ausbreitung der Dummheit gründen.« Corino, Musil (2003) 1228. 45 NFP Nr. 23643 v. 10. 7. 1930, 7. Vgl. auch die Berichterstattung im »Kölner Stadtanzeiger« Nr. 344 v. 11. 7. 1930, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 76.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Abb. 33: Aus »Der Morgen« vom 14. Juli 1930. Über der Universität Wien erstrahlt wie eine aufgehende Sonne eine Feldmütze mit »Hahnenschwanz«, dem Symbol der Heimwehren. Die Verse unter der Karikatur sind eine Abwandlung eines Grillparzer-Zitats aus dem Jahr 1839. Die Ähnlichkeit der Darstellung K elsens mit Charlie Chaplin in dessen Rolle als »Tramp« ist wohl kein Zufall.
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Am selben Tag, dem 10. Juli, suchte Kelsen Unterrichtsminister Srbik persönlich auf, um sich von ihm zu verabschieden. Srbik hielt in einem Aktenvermerk fest, dass Kelsen bei diesem Gespräch anerkannt habe, dass das Ministerium seinen Wünschen »nach Möglichkeit entgegengekommen« sei und keine Schuld an seinem Weggang trage.46 Métall dagegen berichtet, dass Srbik sich nicht einmal bemühte, Kelsen doch noch einmal zum Bleiben zu bewegen, sondern nur den Wunsch aussprach, »dass es ihm ›in Köln gut gefallen‹ möge …«47 Nicht alle österreichischen Zeitungen bedauerten den Weggang Kelsens. Die antisemitische, sich selbst als »humoristisch« bezeichnende Wochenschrift »Kikeriki« bemerkte, es sei »jammerschade […], daß nicht alle jüdischen Professoren unserer Universität nach Köln kommen.«48 Und umgekehrt wurde Kelsen auch nicht von allen preußischen Zeitungen willkommen geheißen. Die »Kölnische Volkszeitung« stellte die provokante Frage: »Ist dem Oberbürgermeister nicht bekannt, daß die Universität Köln bereits mit Dozenten jüdischen Bekenntnisses überbesetzt ist; eine Tatsache, die auch in Professorenkreisen aus sachlichen Gründen starken Widerspruch findet?«49 Tatsächlich hatte die Universität Köln im Vergleich zu anderen reichsdeutschen Universitäten bislang eine eher liberale Haltung bei der Berufung von Juden zu Professoren gezeigt; und von den vier Fakultäten hatte die juristische den höchsten jüdischen Anteil: 1930 waren mit Fritz Stier-Somlo und Franz Haymann zwei der acht Ordinarien jüdischer Abstammung. Antisemitische Anfeindungen hatte es freilich stets gegeben, aber gerade in jener Zeit begannen sie sich zu häufen. Die Wahl Stier-Somlos zum Dekan der juristischen Fakultät 1929, die Berufung des Romanisten Leo Spitzer an die philosophische Fakultät 1930, die Verleihung der Ehrendoktorwürde an Alfred Tietz 1930 – und nun die Berufung Kelsens – sie alle hatten in konservativen und rechtsgerichteten Zeitungen für erhebliches Aufsehen gesorgt. Rektor und Senat verwahrten sich in einer öffentlichen Erklärung gegen Einflussnahmen auf die Personalpolitik der Universität, von welcher Seite sie auch kämen.50 Die sozialdemokratische »Rheinische Zeitung« begrüßte demgegenüber die Berufung einer »wissenschaftliche[n] Kapazität« wie Kelsen und stellte sich demonstrativ hinter Adenauer und gegen die »Radaubrüder um Hitler und andre politische Strolche«.51 Aber nicht nur von antisemitisch-rechtsradikaler, sondern auch von jüdischer Seite kam Kritik an Kelsen: Das »Kölner jüdische Wochenblatt« und die Berliner »Jüdische Rundschau« brachten Berichte, wonach Kelsen nicht nur zur protestantischen 46 Heinrich
796.
Srbik, Aktenvermerk v. 17. 7. 1930, ÖStA AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton
47 Métall, Kelsen (1969) 57. Kelsen erzählte viele Jahre später Christian Broda, dass er fix damit gerechnet hatte, dass der Minister wenigstens einen Versuch machen würde, ihn zum Bleiben zu bewegen: Broda, Radiointerview (1974) 71. 48 Kikeriki, Folge 30 v. 27. 7. 1930, 3. 49 Kölnische Volkszeitung Nr. 354 v. 14. 7. 1930, UA Köln, Zug 571/105. – Diese Zeitung war der katholischen Zentrumspartei, der auch Oberbürgermeister Adenauer angehörte, zuzurechnen. 50 Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 395 ff. 51 Rheinische Zeitung v. 15. 7. 1930, zit. n. Pracht-Jörns, Jüdische Lebenswelten (2011) 231.
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Kirche übergetreten sei, sondern auch seinen Namen geändert und zu guter Letzt auch »seine polnische Nationalität gegen die deutsche eingetauscht hat.«52 Auf eine entsprechende Anfrage um Bestätigung dieser Behauptungen beim Kölner Rektor Hans Planitz konnte oder wollte dieser keine Auskunft geben, sondern bat, sich an Kelsen selbst zu wenden.53 Der, den es anging, Kelsen, schrieb am 11. Juli an Stier-Somlo, dass er noch keine Nachricht aus Berlin erhalten und daher noch nicht seine Enthebung vom Amt in Wien beantragt habe. Dabei erwähnte er auch, dass er mit dem Ministerium eine venia für das Gesamtgebiet des öffentlichen Rechts, insbesondere Staatslehre und Rechtsphilosophie, vereinbart habe. Stier-Somlo schrieb umgehend an Windelband, allerdings durchaus auch im eigenen Interesse: Die Fakultät habe doch lediglich eine Professur für Völkerrecht und internationales Recht erbeten!54 Dennoch erfolgte am 11. August 1930 die offizielle Ernennung Kelsens zum ordentlichen Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Staatslehre und Rechtsphilosophie sowie zum (Co‑)Direktor des Rechtswissenschaftlichen Seminars55 und des neu zu errichtenden Völkerrechtlichen Seminars. Kelsen wurde aufgefordert, sein Amt mit Beginn des Wintersemesters 1930/31 anzutreten.56 Das Dienstalter Kelsens wurde auf elf Jahre und 23 Tage festgesetzt, mithin Kelsens Tätigkeit als Ordinarius an der Universität Wien zu jener als Ordinarius an der Universität Köln addiert.57 Dies hatte nicht nur zere52 Vgl. »Jüdische Rundschau« Nr. 59 v. 29. 7. 1930, 2, wo es u. a. heißt, dass Kelsen »ein Gelehrter von hohen Graden […], Schöpfer der österreichischen Verfassung und […] auch nach Griechenland berufen« worden sei, »um bei der Schaffung der dortigen Konstitution beratend mitzuwirken. […] Nur für eine Sache hat er niemals Interesse empfunden, nämlich für sein Judentum. […] In Galizien als Nachkomme einer Familie Kohn geboren, war er zunächst polnischer Assimilant. Nach Wien gekommen, änderte er nicht nur seinen Glauben und seinen Namen, sondern vertauschte seine polnische Nationalität gegen die deutsche. Aber all diese Metamorphosen haben Herrn Kelsen nichts genützt. In Wien wurde er als Jude hinausgeeckelt, in Köln als Jude mit Hepp-Hepp-Rufen begrüßt. Für uns Juden sind Persönlichkeiten wie Hans Kelsen […] nur eine Belastung […] Der Haß gegen den Galizier Kohn-Kelsen wirkt sich dann letzten Endes gegen arme galizische Juden aus, die einen ehrsamen kleinen Handel treiben und keine Staatsverfassungen konzipiert haben.« – Es ist dies, soweit ersichtlich, das erste Mal, dass Kelsen ein (niemals stattgefundener) Namenswechsel unterstellt wurde; die Wurzel hierfür ist unbekannt. Das Gerücht, er habe seine Nationalität gewechselt, könnte vielleicht in seinem 1900 erfolgten Wechsel des Heimatrechtes seine Ursache haben, war aber gleichfalls haltlos. Die antisemitischen »Hepp-Hepp-Rufe« gehen auf die Pogrome von 1819 zurück; die Bedeutung von »Hep(p)« ist umstritten, möglicherweise handelt es sich um eine Abkürzung von »Hierosolyma est perdita«, vgl. dazu auch Mayer, Erinnerungen I (1982) 53. 53 UA Köln, Zug 571/105. 54 Dekan Fritz Stier-Somlo, Schreiben an Ministerialrat Windelband v. 14. 7. 1930, GStA PK, I. HA Rep 76, Va Sekt. 10, Tit. IV, Nr. 3 Bd. I, Bl. 335 f. 55 Sämtliche Professoren der Fakultät waren Co-Direktoren dieses Seminars und teilten sich die dort systematisierten Assistenten, insbesondere zum Zweck der Klausurenkorrekturen, vgl. noch unten 497. 56 Bescheid des preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 11. 8. 1930, UI Nr. 20178,1, UA Köln, Zug 598/143. 57 Ministerialerlass 22. 1 2. 1930, UI Nr. 23227, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 109; vgl. auch UA Köln, Zug 598/143.
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monielle Bedeutung,58 sondern bedeutete auch und vor allem, dass Kelsens gesamte Dienstzeit in Österreich für seine Gehalts‑ und Pensionsberechnung angerechnet wurde. Denn der Freistaat Preußen übernahm auch alle Pensionsverpflichtungen der Republik Österreich gegenüber Kelsen.59 Nun konnte Kelsen sein bisheriges Dienstverhältnis mit der Republik Österreich lösen. Bevor er aber nach Köln übersiedeln konnte, gab es noch viel in Wien zu erledigen. Manuskripte mussten abgeschlossen, Materialien geordnet, Bücher verpackt werden. Dabei war ihm insbesondere Rudolf A. Métall eine große Hilfe, den er auch der Universität Köln für den versprochenen Posten eines Assistenten am völkerrechtlichen Seminar vorschlug.60 Die Umzugskosten trug der Freistaat Preußen zur Gänze.61 Am 15. Oktober erwarb Kelsen, obwohl dies nicht unbedingt notwendig gewesen wäre,62 die preußische Staats‑ und deutsche Reichsangehörigkeit,63 behielt aber daneben seine österreichische Staatsangehörigkeit bei. c) Die Kölner Antrittsvorlesung Am Sonntag, dem 2. November 1930, kam Hans Kelsen alleine in Köln an und nahm zunächst, da seine Familie erst später nachkommen wollte, im Dom-Hotel, gleich neben dem monumentalen Kölner Wahrzeichen, Quartier.64 Gleich am nächsten Morgen um 11 Uhr begann er mit einer dreistündigen Vorlesung aus »Allgemeiner Staatslehre«, an die sich ein einstündiges Konversatorium anschloss; für das Wintersemester hatte er ferner noch eine zweistündige Vorlesung »Zur Soziologie der antiken Kultur« für Hörerinnen und Hörer aller Fakultäten angekündigt.65 Der spätere Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der damals in Köln die Rechte studierte (und nicht mit Hans Kelsens gleichnamigem Taufpaten zu verwechseln ist!), erinnerte sich daran wie folgt: »Bei seiner ersten Vorlesung sahen wir einen eher kleinen, zierlichen und gut gebauten Mann, ungewöhnlich elegant wirkend im dunkelblauen 58 Da sich die »Folgeordnung« der Professoren (und damit insbesondere die Reihenfolge, in der sie das Amt des Dekans übernahmen) nach dem Datum ihrer Ersternennung richtete, stand Kelsen noch vor den Professoren Haymann und Coenders, die am 15. 8. 1919 bzw. 11. 11. 1919 zu Professoren in Köln ernannt worden waren. Kelsen hatte sich einverstanden erklärt, dass er erst nach diesen beiden gereiht werde (UA Köln, Zug 598/143), was aber nicht erfolgte: Personal‑ und Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1930/31 (Köln 1930) 13. 59 Golczewski, Kölner Universitätslehrer (1988) 116. 60 Hans Kelsen, Brief an Christian Eckert v. 3. 7. 1930, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 88. 61 GStA PK, I. HA Rep 76, Va Sekt. 10, Tit. IV, Nr. 3 Bd. I, Bl. 346 (Vereinbarung zw. Min.-Rat Windelband und Kelsen v. 19. 6. 1930). 62 Hans Kelsen, Brief an das Kuratorium der Universität Köln v. Juni 1936, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 215; vgl. auch HKW I, 98. 63 Nach § 1 Reichs‑ und Staatsangehörigkeitsgesetz v. 22. 7. 1913 dRGBl S. 583 wurde die deutsche Reichsangehörigkeit eo ipso mit dem Erwerb der Staatsangehörigkeit eines deutschen Bundesstaates erworben. 64 UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 109; Métall, Kelsen (1969) 57. 65 Personal‑ und Vorlesungsverzeichnis [der Universität Köln] für das Wintersemester 1930/31 (Köln 1930).
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Anzug, auf dem Katheder, der keinen Versuch unternahm, anders als durch die Mittel klaren Denkens auf sein Auditorium einzuwirken. Er las ab, erlaubte sich keine Improvisation, skandierte und akzentuierte den Kollegtext ganz nach der reinen Sinnbedeutung, schien fremd unter uns, kaum ansprechbar. Das änderte sich unmittelbar, wenn man mit ihm zusammentraf. Da war er herzlich, offen, teilnehmend, neugierig auf Menschen, stets auf der Suche nach neuen Anhängern und künftigen Aposteln für sein Denksystem der Reinen Rechtslehre.«66 Die offizielle, öffentliche »Einführungsvorlesung« hielt Kelsen »im Frack und Talar«67 am 20. November in der Aula der Universität zum Thema »Die platonische Gerechtigkeit.«68 Obwohl Kelsen an »einer starken fiebrigen Erkältung« litt, hatte er mit seinem Vortrag – jedenfalls nach Einschätzung Métalls – einen »glänzenden Erfolg«.69 Zwei Tage später, am 22. November, erfolgte die Vereidigung Kelsens nach Art. 176 WRV durch Rektor Josef Kroll.70 Der erst drei Jahre später, 1933 in den »Kant-Studien«, erschienene gleichnamige Aufsatz ist die erweiterte Schriftfassung von Kelsens Antrittsvorlesung.71 Er ist von großer Tiefe und baut auf einer gründlichen Kenntnis der antiken Philosophie sowie des sie umgebenden historischen Umfelds auf. Ausführlich setzte sich Kelsen darin mit dem Leben Platons auseinander und betonte, dass dieser kein weltfremder Wissenschaftler gewesen war, sondern konkrete politische Ziele verfolgt hatte: Platon versuchte, Einfluss auf das Reich des Tyrannen Dionysios II. von Syrakus72 zu erlangen. Sein Ziel war eine Herrschaft der Philosophen. In das kühne Unternehmen war die Platonische Akademie verwickelt, doch bedeckte sie sich dabei »nicht gerade mit Ehre«,73 zumal das Reich Dionysios’ in die Brüche ging. Auch mit dem Sexualleben Platons befasste sich Kelsen, und zwar sehr ausführlich.74 Was die Philosophie Platons 66 Mayer,
Erinnerungen I (1982) 148. Erinnerungen I (1982) 148. Zwar erinnert er sich an Kelsens Kleidung, jedoch nicht an das Vortragsthema, das er mit »Vom Wesen und Wert der Demokratie« angibt. 68 Einladungskärtchen in UA Köln, Zug 571/105; auch angekündigt in Kölnische Zeitung Nr. 630 v. 18. 11. 1930, UA Köln, Zug 17/III 1869a, 103. Unrichtig daher Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 456 (der seine Angaben von Mayer bezieht). 69 Métall, Kelsen (1969) 59. 70 UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 104 f. 71 Kelsen, Die platonische Gerechtigkeit (1933) = WRS 289–312. – Ein Jahr nach seiner Kölner Antrittsvorlesung, am 23. 11. 1931, hielt Kelsen in Utrecht ebenfalls einen Vortrag über »Die Gerechtigkeit bei Plato«, über den im »Utrechtsch Dagblad« Nr. 166 v. 24. 11. 1931 berichtet wurde. Demnach thematisierte Kelsen schon in seinem Vortrag von 1931 – und vermutlich auch in seinem Vortrag von 1930 – alle wesentlichen Punkte seines 1933 erschienenen Aufsatzes, der sich von der mündlichen Fassung also fast nur durch die Ausführlichkeit der Gedanken unterscheidet. 72 367–357 v. Chr., bekannt aus Schillers »Bürgschaft«, worauf Kelsen aber nicht einging. 73 Kelsen, Die platonische Gerechtigkeit (1933) 100 = WRS 297. 74 Die schon hier bemerkenswert offenen Aussagen Kelsens zur Homosexualität waren dann zentrales Thema eines weiteren Aufsatzes, den er 1933 in der von Sigmund Freud herausgegebenen Zeitschrift »Imago« veröffentlichte. Kern dieses – stärker in das Gebiet der Psychologie als der Rechtsphilosophie reichenden – Aufsatzes ist die These, dass »Eros« und »Kratos« bei Platon in einem innigen Zusammenhang stehen, dass der Drang zu Macht über Menschen im Grunde 67 Mayer,
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selbst betraf, so strich Kelsen heraus, dass Platon zwar viel über Gerechtigkeit schreibe, dass er aber die Frage, was Gerechtigkeit sei, letztlich offen ließ. Er übernahm die pythagoräische Lehre von der Wiedergeburt und kam so zu einer Vergeltung der guten und bösen Taten im Jenseits. Dies musste »zwangsweise zum Glauben an die Seele führen.« Gerechtigkeit wurde hier mit Vergeltung gleichgesetzt; Kelsen bezeichnete sie als eine »Technik zur Realisierung des Guten«, das Gute aber sei »der eigentliche Kern der Gerechtigkeit«.75 Aber auch die Frage, was das Gute sei, blieb bei Platon – so Kelsen – unbeantwortet. »Daß der Philosoph sein Wissen um das absolut Gute als unaussprechbar verheimlicht, mag im Rahmen einer esoterischen Philosophie nichts Besonderes auf sich haben. Wie aber, wenn der Philosoph zur Staatsregierung berufen wird, wenn er Gesetzgeber werden soll.« Hier verknüpfte Kelsen die politischen Ambitionen Platons mit dessen Philosophie: Der Philosoph sei nach Ansicht Platons derjenige, der das Gute erkennen könne; zugleich aber derjenige, der zur Herrschaft berufen sei. Das Volk könne sein »Heil nur in der vollkommenen Unterwerfung unter die Autorität des Führers finden […] Die Mystik Platons, dieser vollkommenste Ausdruck des Irrationalismus, ist eine Rechtfertigung seiner antidemokratischen Politik, ist die Ideologie jeder Autokratie.«76 Die Art und Weise, wie Kelsen das scheinbar zeitlose Denken eines der ganz Großen der Philosophie in einen zeitgenössischen Kontext einbettete und damit die wahren Intentionen Platons aufdeckte, war – nicht viel anders als das gegenständliche Buch, welches im Grunde dasselbe in Bezug auf Kelsen selbst beabsichtigt – schönste Rechtsgeschichte. Kelsen, der 1911 noch den inneren Zusammenhang zwischen Rechtsgeschichte und Rechtstheorie vermisst hatte, griff nun tief in die Rechtsgeschichte zurück, um seine durchaus gegenwartsbezogenen Thesen zu untermauern.77 Dabei war seine Untersuchung zur »platonischen Gerechtigkeit« nicht die einzige derartige Arbeit Kelsens: Bereits kurz nach ihrer Druckfassung, im Herbst 1933, erschien in der ZÖR ein Aufsatz Kelsens über »Die hellenisch-makedonische Politik und die ›Politik‹ des Aristoteles.« Und auch hier ging es ihm darum, einen großen Philosophen – in diesem Fall »den« Philosophen schlechthin – und dessen »beinahe göttliche Autorität« zu unterminieren, indem er auch hier die Zeitbezogenheit von dessen Thesen darlegte.78 Im Falle von Aristoteles ging es Kelsen darum, zu begründen, weshalb dieser – im Gegensatz zur Mehrzahl seiner griechischen Zeitgenossen – (Kelsen vermeidet den hier doch so naheliegenden Freud’schen Schlüsselbegriff:) libidinöser Natur sei. Vgl. Kelsen, Die platonische Liebe (1933) 225 f. und dazu Pechriggl, Kelsens Platon (2006) 37–43. 75 Kelsen, Die platonische Gerechtigkeit (1933) 108 f. = WRS 304 f. Ebenso Kelsen, Die Illusion der Gerechtigkeit (1985) 336. 76 Kelsen, Die platonische Gerechtigkeit (1933) 114, 116 = WRS 310 f. 77 Vgl. dazu eingehend Pechriggl, Kelsens Platon (2006) 34 f. 78 Kelsen, Die hellenisch-makedonische Politik (1933) 625. Dieser zweite Aufsatz ist bereits mit »Hans Kelsen, Genf« gezeichnet, auch wenn im Impressum des Heftes noch die Kölner Adresse Kelsens genannt wird. Vgl. auch ebenda 664, Anm. 7, wo Kelsen auf seine bereits erschienene Abhandlung zur platonischen Gerechtigkeit verweist.
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nicht die Politie, sondern die Monarchie für die beste aller Staatsformen hielt und wie der Widerspruch zu erklären sei, dass die Philosophie des Aristoteles von monotheistischen Überzeugungen geprägt war, obwohl er am traditionellen Polytheismus der alten Griechen festhielt.79 Und Kelsen erklärte dies mit dem Umstand, dass Aristoteles selbst nicht das Bürgerrecht in einer griechischen Polis besaß, sondern hier als »Metöke«, als Fremder galt, während er »in den besten Beziehungen zu Regierung und Gesellschaft der makedonischen Monarchie« stand, ja der Lehrmeister Alexanders des Großen war. Und sogar das Nebeneinander von Polytheismus und Monotheismus erklärte Kelsen aus dem ebenso eigenartigen Nebeneinander des autokratisch regierten makedonischen Königtums mit dem Korinthischen Bund, in dem der König von Makedonien bloßer »Hegemon« über einen Bund nominell selbständiger Poleis war.80 Kelsen war weder Rechtshistoriker noch Althistoriker. Ob seine (rechts‑) historischen Schlüsse in allen Details zutreffend waren oder nicht, war aber auch nicht von zentraler Bedeutung. Wesentlich war, dass Kelsen es – insbesondere bei seiner Arbeit über Platon – vermochte, dem antiken Stoff eine brandaktuelle Bedeutung zu geben. Demokratie oder Tyrannei, Herrschaft der Bürger oder Herrschaft eines Führers – das war die entscheidende Frage, vor die Deutschland 1930, in den Tagen von Kelsens Antrittsvorlesung, gestellt, und die 1933, als Kelsens Aufsatz erschien, bereits zugunsten der Tyrannei entschieden worden war.
2. Eine neue Stadt – ein neues Fach Köln am Rhein, von den alten Römern Colonia Agrippina genannt, war mit ca. 700.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Preußens nach Berlin (3,9 Mio.) und knapp halb so groß wie Wien (1,8 Mio.), allerdings nicht einmal Provinzhauptstadt, sondern lediglich Hauptstadt eines Regierungsbezirkes, sodass die Zahl der überregionalen Behörden, die in Köln ihren Sitz hatten, enden wollend war. Immerhin befand sich hier das Oberlandesgericht für den südlichen Teil der Rheinprovinz, und was das kulturelle Leben betrifft, so konnte Köln zwar auch hier nicht mit Wien oder Berlin mithalten, besaß aber doch immerhin ein Opernhaus und mehrere Theater. Die 18-mal im Jahr stattfindenden sog. Gürzenich-Konzerte besaßen internationalen Ruf. Und dann war da natürlich der Dom, im 13. Jahrhundert begonnen und nach jahrhundertelanger Bautätigkeit (sowie einer dreihundertjährigen Baupause) 1880 vollendet, bei Fertigstellung das höchste Bauwerk der Erde, zumal die beiden Westtürme mehr als 157 Meter in die Höhe ragten, jedem Besucher Kölns schon von weitem sichtbar, wenn er über die Hohenzollernbrücke den über 350 Meter breiten Rhein querte. Köln war Sitz des ältesten noch bestehenden katholischen Erzbistums 79 Kelsen,
Die hellenisch-makedonische Politik (1933) 627, 635. Die hellenisch-makedonische Politik (1933) 657 f. Der Korinthische Bund war ein 337 v. Chr. geschlossenes Bündnis fast aller griechischer Poleis unter der Hegemonie Makedoniens. 80 Kelsen,
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in Deutschland und eine zu 80 % katholische Stadt, während der Anteil jüdischer Einwohner nur etwa bei 2 % lag.81 Drei Monate lang wohnte Hans Kelsen alleine im Dom-Hotel in Köln; erst im Februar 1931 kamen seine Frau und seine beiden Töchter nach, worauf die Familie ein schönes, gemietetes Einfamilienhaus mit einem großen Garten in der Mehlemerstraße 26 bezog.82 Es lag in Marienburg, dem wohl vornehmsten und teuersten Stadtteil von Köln, und doch nur etwa zwanzig Minuten zu Fuß von der Universität (die sich damals noch im Gebäude der vormaligen Handelshochschule in der Claudiusstraße, am Römerpark, befand) entfernt. Die Fakultät war bei der Suche nach einer geeigneten Wohnung behilflich gewesen und hatte auch die Übersiedlungs‑ und Adaptierungskosten getragen.83 Für die beiden, fünfzehn und sechzehn Jahre alten Mädchen,84 die aus der Schwarzwald-Schule, aus ihrer Heimatstadt und aus ihren Freundeskreisen gerissen worden waren, war die Übersiedlung kein Grund zur Freude. Anna Kelsen berichtet, dass sie große Schwierigkeiten hatte, sich an das öffentliche Gymnasium, in das sie nun ging, zu gewöhnen, und dass sie auch das Gefühl hatte, dass ihr Vater nicht allzu glücklich in Köln gewesen sei.85 Dieser jedoch erklärte später, dass er die drei Jahre in Köln »in sehr angenehmer Erinnerung« hatte, zum einen, da die »materiellen Bedingungen […] ueberaus guenstig« waren, zum anderen, als er hier sein »eigenes Institut und Assistenten und reichliche Mittel zur Beschaffung einer voelkerrechtlichen Bibliothek« besaß.86 Es sei an dieser Stelle ein kurzer Exkurs zum Begriff des »Assistenten« angebracht, der in der Literatur immer wieder verwendet, aber kaum jemals erläutert wird. Im Gegensatz zu heute, wo ein Professor an einer deutschsprachigen Universität zumeist mit einem ganzen Team von – zu diesem Zweck an der Universität angestellten – Akademikerinnen und Akademikern zusammenarbeitet, die ihn bei seinen Arbeiten unterstützen und die er im Idealfall bis zu deren eigener Habilitation begleiten sollte, waren derartige »Assistenten« in den 1930er Jahren eine absolute Seltenheit.87 Die gesamte rechts‑ und staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien verfügte noch bis 1926 über lediglich ein bis zwei »ordentliche Assistenten« oder »wissenschaftliche Hilfskräfte«, erst danach wurde ihre Zahl zaghaft erhöht, sodass Kelsen (erst) ab 1927 auf einen eigenen Assistenten »zugreifen« konnte. Es war dies zunächst,
81 Die Angaben zur Stadt Köln folgen Meyers Lexikon (Leipzig 71924–1933) sowie Karl Baedeker, Die Rheinlande. Handbuch für Reisende (Leipzig 331925). 82 Métall, Kelsen (1969) 58. Die polizeiliche Abmeldung der gesamten Familie aus Wien erfolgte (erst) mit 18. 2 . 1931; schriftliche Auskunft des Wiener Stadt‑ und Landesarchives (MA 8) vom 11. 4. 2007. 83 Vgl. die Bitte Kelsens um Refundierung der Übersiedlungskosten in UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 109. 84 Herz, Vom Überleben (1984) 99, bezeichnete die beiden als »zwei Töchter zum Verlieben«. 85 Kelsen Oestreicher, Times to remember (1977) 3. 86 Kelsen, Autobiographie (1947) 36 = HKW I, 78. 87 Vgl. allgemein Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 62–66.
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1927–1928, Josef Dobretsberger, 1928–1930 Erich Vögelin.88 Andere Personen, die sich als Assistenten Kelsens bezeichneten, wie etwa der oben genannte Emanuel Winternitz, oder, aus späterer Zeit, Helen Silving,89 waren nicht an der Universität angestellt, sondern arbeiteten zumeist allein um der Ehre willen, Kelsen assistieren zu dürfen – vielleicht wurden sie auch aus Kelsens eigener Tasche zumindest geringfügig entschädigt, doch gibt es dafür keine Belege. In diesem Sinne standen der Kölner juristischen Fakultät vor Kelsens Berufung insgesamt drei »echte« Assistenten zur Verfügung, welche »mit Vorkorrekturen der schriftlichen Arbeiten völlig überlastet« waren.90 Die Ausstattung des neuen Instituts für Völkerrecht mit einem eigenen Assistenten war also ein ausgesprochener Luxus, erst im November 1931 wurden der gesamten Fakultät drei weitere Assistenten bewilligt.91 Für seine Assistentenstelle hatte Kelsen ursprünglich Rudolf A. Métall vorgesehen, der, wie erwähnt, in Wien für die ZÖR gearbeitet und Kelsen bei der Übersiedlung nach Köln geholfen hatte. Gemeinsam mit Kelsen ging auch Métall nach Köln, trat aber schon im Februar 1931 eine Stelle bei der ILO in Genf an.92 Sein Nachfolger in Köln wurde Erich Hula, ein gebürtiger Wiener, der, wie ebenfalls bereits erwähnt,93 nach seiner Promotion 1924 mit Hilfe eines Rockefeller-Stipendiums mehrere Jahre in England, Frankreich und den USA studiert hatte.94 1931 kam er ans Kölner Institut für Völkerrecht und blieb dort bis 1933 für Kelsen tätig, lediglich im Herbst 1932 erkrankte er für längere Zeit, weshalb er von einem Dr. Amos vertreten wurde.95 Daneben arbeitete auch der bereits oben96 genannte Leo Gross 1931–1933 für Hans Kelsen in Köln, nachdem er 1929–1931 als Fellow der Rockefeller Foundation an der London School of Economics, an der Columbia University in New York sowie in Harvard geforscht hatte. Auch er wird in der Literatur als »Assistent« Kelsens bezeichnet,97 doch handelte es sich in seinem Fall um keine bezahlte Assistentenstelle an der Universität
88 Die akademischen Behörden im Jahr 1927/28 (Wien 1927) 66; Die akademischen Behörden im Jahr 1928/29 (Wien 1928) 69; Die akademischen Behörden im Jahr 1929/30 (Wien 1930) 73. 89 Vgl. ihre Auseinandersetzung mit Métall um den Begriff des Assistenten: Silving, Memoirs (1988) 264; Yael Paz, A Forgotten Kelsenian? (2014) 1143. 90 Dekan Hans Planitz, Schreiben an das Wissenschaftsministerium v. 17. 11. 1931, UA Köln, Zug 42/3973 I. 91 Dekan Hans Planitz, Schreiben an den geschäftsführenden Kuratoriumsvorsitzenden Christian Eckert v. 26. 11. 1931, UA Köln, Zug 42/3973 I. 92 Bersier Ladavac, Métall (2008) 315. 93 Oben 394. 94 Geb. Wien 27. 5. 1900, gest. New York 18. 5. 1987; vgl. http://library.albany.edu/speccoll/ findaids/eresources/static/pdf/ger044.pdf [02. 05. 2019]. Hula war also weder ein Studienkollege noch ein (gleichberechtigter) Arbeitskollege Kelsens in Köln, wie dies bei Rutkoff/Scott, New School (1986) 142 dargestellt wird. 95 UA Köln, Zug 42/3973 I. Es dürfte sich um Dr. Hans Egon Amos gehandelt haben, der nach 1945 zum (wieder) »verfügbaren und tragbaren Lehrpersonal« gerechnet wurde: Vgl. Hollstein, Verfassung (2007) 79. 96 Vgl. oben 391. 97 Kammerhofer, Gross (2008) 116.
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Köln, sondern vermutlich um eine ehrenamtliche, vielleicht durch Stipendien, etwa der Rockefeller Foundation, finanzierte Tätigkeit. Zusammen mit Métall, Hula und Gross baute Kelsen das neue »Institut für Völkerrecht und Internationales Recht« auf. Dieses hatte – gemeinsam mit dem ebenfalls 1930 gegründeten »Institut für Kirchenrecht und rheinische Kirchenrechtsgeschichte« – seine Räumlichkeiten in der Trajanstraße 27/III. Hier besaß Kelsen ein großes Zimmer mit Blick auf den Römerpark, der das Institut vom Universitäts-Hauptgebäude trennte98 – an der Universität Wien hatte Kelsen niemals ein eigenes Zimmer gehabt. Direktoren des Kölner völkerrechtlichen Instituts waren formal die drei Professoren des öffentlichen Rechts, Kelsen, Stier-Somlo und Ebers, gemeinsam, doch fungierte Kelsen als »geschäftsführender Direktor«, während Ebers alleiniger Direktor des Instituts für Kirchenrecht, Stier-Somlo alleiniger Direktor des schon 1920 gegründeten (am Ubierring gelegenen) Seminars für Politik war. Diese diplomatische Regelung war noch vor Kelsens Ankunft in Köln vereinbart worden.99 Faktisch hatte Kelsen damit bei der Leitung des Völkerrechtsinstituts freie Hand. Bereits im Jänner 1931 erstellte er eine umfangreiche Liste von Büchern, die für das Institut angeschafft werden sollten oder als Leihgabe von der Universitätsbibliothek erbeten wurden.100 Da starb, am 6. Jänner, auf seinem Landsitz »Friedenswinkel« in Klamm am Semmering (Niederösterreich), Kelsens alter Lehrer Leo Strisower101 und hinterließ eine Privatbibliothek mit rund 2.500 Werken vorwiegend völkerrechtlicher Natur. Kelsen bemühte sich sofort darum, diese Bibliothek für die Universität Köln zu erwerben, wobei er von Ebers, der damals als Dekan amtierte, unterstützt wurde.102 Doch scheiterte der Ankauf an dem von den Erben geforderten Preis von 10.000 RM, der relativ zum Wert der Bibliothek mehr als angemessen, aber in Summe doch für die Universität offenbar unerschwinglich war.103 In der Folgezeit aber gelang es Kelsen immer wieder, finanzielle Mittel einzuwerben und damit das Institut auszustatten; einmal, im September 1932, erhielt er von der Rockefeller Foundation eine einmalige Unterstützung von US-$ 800,– (ca. RM 3.300,–), über die er frei verfügen konnte.104 Es ist wahrscheinlich, dass die Idee, die Rockefeller Foundation um eine Unterstützung zu bitten, von Hula oder Gross stammte, zumal beide ja mithilfe dieser Stiftung ihre Auslandsreisen finanziert hatten. Jedenfalls handelt es sich um das erste Mal, dass Kelsen selbst die Hilfe der Rockefeller Foundation in Anspruch nahm. Die völkerrechtlichen Kenntnisse, die Kelsen vor seiner Berufung nach Köln besaß, schätzte er selbst eher gering ein. Wohl hatte er seine Monographie über »Das 98 Vgl.
die Planskizze in UA Köln, Zug 9/235, 37. Köln, Zug 9/235, 24 f. 100 UA Köln, Zug 9/235, 29. 101 Métall, Strisower (1931); Thomas Olechowski, Strisower Leo, in: ÖBL 62. Lfg. (Wien 2010) 405–406. 102 Josef G. Ebers, Scheiben an das Kuratorium v. 10. 2 . 1931, UA Köln, Zug 9/235, 33. 103 Métall, Kelsen (1969) 58. 104 UA Köln, Zug 9/235, 51; ebenda auch mehrere Anträge von Kelsen auf Finanzierung seiner Ankaufswünsche, die zumeist erfüllt werden. 99 UA
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Problem der Souveränität« sowie einige Aufsätze zur selben Thematik105 verfasst und auch mehrere völkerrechtliche Vorlesungen106 gehalten, »aber mein Buch sowohl als die Vorlesungen bezogen sich der Hauptsache nach nur auf das Verhaeltnis zwischen staatlichem und Voelkerrecht. Um Vorlesungen ueber positives Voelkerrecht zu halten, musste ich mich erst gruendlich vorbereiten. In der Tat hat das Studium des positiven Voelkerrechts den weitaus groessten Teil der Zeit in Anspruch genommen, die ich in Koeln verbracht habe.«107 Das Wintersemester 1930/31, in dem Kelsen noch keine völkerrechtliche Vorlesung gehalten hatte (diese hatte Prof. Ebers übernommen), war aus dieser Sicht noch eine »Schonfrist« für Kelsen gewesen. Im Sommersemester 1931 hielt Kelsen zum ersten Mal eine Vorlesung aus »Völkerrecht«, und zwar vierstündig (einschließlich einer »Besprechungsstunde«); ferner auch eine einstündige »Einführung in die Rechtsphilosophie«.108 Für das Wintersemester 1931/32 kündigte Kelsen erneut eine Völkerrechtsvorlesung (diesmal als drei Stunden Vorlesung und eine zusätzliche Besprechungsstunde) sowie ein einstündiges Repetitorium aus Völkerrecht, außerdem eine öffentliche Vorlesung über »Die Sozialphilosophie Platons«.109 Im Sommersemester 1932 war Kelsen – worauf weiter unten noch näher einzugehen ist – beurlaubt.110 Im Wintersemester 1932/33 schließlich trug Kelsen abermals eine dreistündige Vorlesung aus Völkerrecht vor, an die sich eine Besprechungsstunde anschloss; das zugehörige Repetitorium wurde von seinem Assistenten Erich Hula gehalten.111 Auch in Köln galt Kelsen, wie schon in Wien, als milder Prüfer. Métall berichtet in einer Anekdote von Kelsens erster mündlicher Prüfung, die dieser in Köln abnahm, und bei der er den offenbar schlecht vorbereiteten Studenten durchkommen ließ. Auf Nachfrage Métalls, der offenbar bei der Prüfung zugehört hatte, erklärte Kelsen: »Ich möchte nicht mit meinem ersten Kölner Examen in den Verdacht der Strenge kommen!«112 Nichtsdestoweniger wurde Kelsen, wie das bei Kölner Professoren üblich war, 1931 auch zum Mitglied der Prüfungskommissionen bei den Staatsprüfungen an den Oberlandesgerichten Köln und Düsseldorf ernannt.113
105 Kelsen, Souveränität (1925); Kelsen, Staat und Völkerrecht (1925); Kelsen, Les rapports (1927); Kelsen, Souveränität (1929). 106 So insbesondere 1926 in Den Haag (oben 411) und 1930 in Genf (unten 526). 107 Kelsen, Autobiographie (1947) 35 f. = HKW I, 77. 108 Personal‑ und Vorlesungsverzeichnis [der Universität Köln] für das Sommersemester 1931 (Köln 1931), 64, 66. 109 Verzeichnis der Vorlesungen der Universität Köln im Winter-Semester 1931/32 (Köln 1931) 78, 80. 110 Verzeichnis der Vorlesungen der Universität Köln im Sommer-Semester 1932 (Köln 1932) 19. 111 Verzeichnis der Vorlesungen der Universität Köln im Winter-Semester 1932/33 (Köln 1932) 83. 112 Métall, Kelsen (1969) 31. 113 Schreiben des Dekans an das Wissenschaftsministerium v. 17. 11. 1931 und Ministerialerlass v. 1. 1 2. 1931, UI Nr. 2065, beide in UA Köln, Zug 598/143.
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1. Kapitel: Als Professor an der Universität zu Köln
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3. Die Weimarer Staatsrechtslehre und Hans Kelsen a) »Der Staat als Integration« – Kelsen versus Smend Mit seiner Antrittsvorlesung an der Universität Köln war Kelsen nun auch tatsächlich in den Kreis der Weimarer Staatsrechtslehrer getreten, zu deren »scientific community«, wie man heute sagen würde, er schon längst gezählt worden war.114 Und wie um diese engere Verbindung noch besonders zu betonen, veröffentlichte Kelsen im Frühjahr 1930, also just während seiner Berufungsverhandlungen, im Springer-Verlag eine Monographie, in der er sich kritisch mit einer der wichtigsten Strömungen in der Weimarer Staatsrechtslehre, der sog. geisteswissenschaftlichen Richtung, auseinandersetzte. Schon seine Monographie »Der soziologische und juristische Staatsbegriff« von 1922 hatte ja eine eingehende Kritik an einem Vertreter dieser Schule, Erich Kaufmann, enthalten.115 Nachdem jedoch der Berliner Professor Rudolf Smend 1928 seine Monographie »Verfassung und Verfassungsrecht« veröffentlicht hatte, entschloss sich Kelsen zu einer »prinzipielle[n] Auseinandersetzung«, wie es im Untertitel dieses neuen Buches hieß. Er begründete dies nicht zuletzt mit dem Umstand, dass es sich bei Smend um einen »Gelehrte[n] von Namen«, ja geradezu um den »Fahnenträger der neuen Schule« handelte. Dieser hohe Respekt, den Kelsen Smend damit zollte, ist angesichts des großen Einflusses, den Smend auf die deutsche Staatsrechtslehre über viele Jahrzehnte hatte, auch gerechtfertigt. Dies hinderte Kelsen freilich nicht, Smend nicht nur für seine Thesen auf das schärfste zu kritisieren, sondern auch zu schreiben, dass dessen Schrift von einem »völlige[n] Mangel systematischer Geschlossenheit, eine[r] gewisse[n] Unsicherheit der Auffassung, die klaren, eindeutigen Entscheidungen ausweicht« gekennzeichnet und daher in einem »dunkle[n], von allzu vielen sich selbst nur halb erklärenden Fremdwörtern erfüllte[n], überaus schwerfällige[n] Sprachstil« geschrieben sei.116 Der Haupttitel von Kelsens Buch lautete: »Der Staat als Integration« und nahm damit auf eine der Hauptthesen Smends Bezug, wonach »Integration« ein »grundlegender Lebensvorgang des Staates sei«. Es handle sich um einen Prozess, dessen Sinn »die immer neue Herstellung der Lebenstotalität des Staates« sei.117 Integrative Kraft könne eine Person, etwa ein Führer haben, aber auch »Wahlen, parlamentarische Verhandlungen, Kabinettsbildung, Volksabstimmungen«, ja auch Wappen und Fahnen eines Staates können eine integrative Funktion erfüllen.118 Kelsen hielt diese Aussagen, die ja bislang von niemandem bezweifelt wurden, für kaum des Aufwandes, den Smend getrieben hatte, wert.119 Warum dann also die große Mühe, die sich Kelsen selbst bei Abfassung seines eigenen Buches machte? 114 Groh,
Demokratische Staatsrechtslehrer (2010) 106 ff. oben 346. 116 Kelsen, Integration (1930) 1 f.; vgl. Korioth, Kelsen im Diskurs (2013) 39. 117 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928) 18, 78. 118 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928) 25, 38, 48. 119 Kelsen, Integration (1930) 56. 115 Vgl.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Dies lag erstens daran, dass Smend selbst sein Buch mit einem Frontalangriff auf die Reine Rechtslehre begonnen hatte. Die »Staatstheorie und Staatsrechtslehre in Deutschland« stünden schon seit längerer Zeit »im Zeichen der Krise«, und dies sei nicht zuletzt die Schuld der »größten und erfolgreichsten staatstheoretischen und staatsrechtlichen Schule des deutschen Sprachgebiets«, welche schon in ihrem ersten Lehrsatz behaupte, dass »der Staat nicht als ein Stück der Wirklichkeit betrachtet werden darf.«120 Kelsen wies energisch zurück, derartiges jemals behauptet zu haben; er habe lediglich festgestellt, »daß der Staat kein Gebilde der Natur, sondern des Geistes« sei – eine Auffassung, die übrigens auch von Smend geteilt werde!121 Das Problem, das Smend ganz offensichtlich mit Kelsens Lehren hatte, war dessen Vorstellung von »Wirklichkeit«, wonach es auch eine geistige, ideelle Wirklichkeit neben der Wirklichkeit der »realen Welt« geben könne.122 Smend konnte mit Kelsens Trennung von Sein und Sollen nur wenig anfangen; sein Zugang zur Rechtswissenschaft war ein stärker kulturphilosophischer,123 was sich wenigstens zum Teil daraus erklärt, dass er ursprünglich aus der Rechtsgeschichte kam und sich erst später der Rechtstheorie zugewandt hatte – wenn auch mit wesentlich mehr Geschick als Ernst Schwind. Der zweite Grund, weshalb Kelsen sich so ausführlich der Smendschen Schrift widmete, war ein weltanschaulich-politischer: Die Bedeutung dieses Buches liege nicht in seinen »teils trivialen, teils unverständlichen Redensarten, sondern in einem politischen Bekenntnis«, und dieses gelte dem Faschismus, dessen einschlägige Literatur Smend als eine »große Fundgrube bezeichnet hatte.«124 Und so war auch das ganze Gerede Smends über eine »integrative Funktion« des Staates nichts als bloßes Wunschdenken, fügte sich ein in das faschistische Streben nach einem möglichst homogenen Staatsvolk, was Kelsens demokratisch-pluralistischem Volksbegriff 125 zutiefst widersprach. »Es ist der Kampf gegen die Verfassung der deutschen Republik«, so Kelsen, »dem diese Lehre von der ›Wirklichkeit‹ des Staates – ob sie es nun beabsichtigt oder nicht – schließlich dient.«126 Drittens aber |b zählte Smends Arbeit auch zu jenen Schriften, die recht eindeutig die antisemitische Karte ausspielten und daher Kelsen tief und persönlich verletzten: So behauptete Smend, Max Weber hätte »Ostjuden als unmögliche Führer deutschen Staatslebens« empfunden, und dies, kurz nachdem Smend die Theorien Kelsens über den Führerwechsel als »liberal-individualistisch« und »schief« kritisiert hatte.127 Auch 120 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928) 1 f. Vgl. dazu Korioth, Die Smend/Kelsen-Kontroverse (2005) 322 f.; Korioth, Kelsen im Diskurs (2013) 35. 121 Kelsen, Integration (1930) 11 ff., unter Bezugnahme auf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928) 45 (»So ist auch der Staat nicht ein reales Wesen an sich«). 122 Korioth, Die Smend/Kelsen-Kontroverse (2005) 326. 123 Korb, Kelsens Kritiker (2010) 47. 124 Kelsen, Integration (1930) 58; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928) 23. 125 Vgl. dazu Ehs, Kelsens normativer Volksbegriff (2009). 126 Kelsen, Integration (1930) 91; vgl. Korioth, Die Smend/Kelsen-Kontroverse (2005) 328. 127 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928) 27, 29. Er bezieht sich dabei auf Marianne Weber, Max Weber (1926) 672, die im Zusammenhang mit Kurt Eisner über eine angebliche »Erbitterung der Bevölkerung über die Revolutionäre und ihre fremdländischen jüdischen Anführer«
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1. Kapitel: Als Professor an der Universität zu Köln
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wenn Kelsen schwerlich als »Ostjude« bezeichnet werden kann, so ist es doch nicht verwunderlich, dass er in seiner Gegenschrift teilweise recht scharf reagierte, zwar auf die antisemitischen Behauptungen nicht einging, wohl aber konstatierte, dass es offenbar zur Mode geworden sei, »die Reine Rechtslehre der Wiener Schule weidlich auszuschroten, ihrer aber nur dann Erwähnung zu tun, wenn man glaubt gegen sie polemisieren zu können […] Wenn das jüngere, karrierebeflissene Autoren tun, so kann man darüber mit einem Lächeln […] hinweggehen […] Bei einem Gelehrten von der Bedeutung Smends aber muß man seiner Verwunderung darüber Ausdruck geben, daß er eine theoretische Arbeit, der er sein ganzes kritisches Rüstzeug entnimmt, als eine ›Sackgasse ohne Zweck und Ziel‹ […] bezeichnet […].«128 Sofort nach Erscheinen von Kelsens Buch beschloss Smend, im »Archiv des öffentlichen Rechts« eine »Antikritik« zu schreiben, jedoch gerade »Nicht in eigener Sache«, wie er den Text betitelte, den er bei der Redaktion einreichte, sondern um die akademische Welt im Gesamten in Schutz vor Kelsen zu nehmen. »Wer aus ›Karrierebeflissenheit‹ die wissenschaftliche Wahrheit, die er zu suchen vorgibt, verdreht und verfälscht, ist ein Lump, dessen sich deutsche Wissenschaft aus einfachsten Gründen der Reinlichkeit mit den dafür glücklicherweise noch vorhandenen Mitteln zu erwehren hat. Hat Herr Kelsen den Mut, Namen zu nennen? Dann möge er es tun und sich mit den Beschuldigten vor der Oeffentlichkeit der Fachgenossen im In‑ und Auslande auseinandersetzen, vor der er die Ehre der deutschen Universitäten und der deutschen Staatsrechtslehrer (die er als Mitvorsitzender der deutschen Staatsrechtslehrervereinigung pflichtmässig wahren und rein erhalten sollte) so schwer angegriffen hat.«129 Damit war die Staatsrechtslehrervereinigung – zu dessen Vorstand Smend bis 1928 gezählt hatte und Kelsen seit 1928 zählte – direkt angesprochen. Triepel, der als Mitherausgeber des »Archivs« von der drohenden Eskalation der Kontroverse erfahren hatte, befürchtete, dass dies dem Ruf der von ihm mit geschaffenen Vereinigung schweren Schaden zufügen könnte, und bemühte sich gemeinsam mit dem amtierenden Vorsitzenden, Carl Friedrich Sartorius, um Vermittlung zwischen den Kontrahenten. Sartorius schrieb an Kelsen und bat ihn, eine Erklärung gegenüber Smend abzugeben, die durchaus nicht in der Öffentlichkeit erfolgen müsse, aber die doch geeignet sei, die »Angelegenheit« zu bereinigen.130
schreibt. Der antisemitische Schluss, den Smend hieraus für Max Webers Ansichten zieht, ist m. E. nicht nachvollziehbar. Der zweite Hinweis von Smend – er bezieht sich auf »feine Bemerkungen«, die Thomas Mann in seinem Roman »Königliche Hoheit« gemacht haben soll – bleibt völlig nebulos. 128 Kelsen, Integration (1930) 3. 129 Rudolf Smend, Nicht in eigener Sache, Typoskript und Satz in UB Göttingen, Nachlass Smend, Cod. Ms. R. Smend C 10. 130 Eine maschinschriftliche Abschrift des Briefes von Sartorius an Kelsen wurde vom Verfasser an Smend weitergegeben und befindet sich in UB Göttingen, Nachlass Smend, Cod. Ms. R. Smend C 10.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Es war dies ein Vorschlag, den Kelsen gerne aufgriff, zumal er Smend, wie er nun erklärte, »sowohl als Gelehrten, wie als Mensch und Charakter besonders hoch schätze« und dessen wissenschaftliche Ehrlichkeit für Kelsen »über alle Zweifel erhaben« war. Er konnte freilich nicht umhin, weiterhin festzustellen, dass Smends Integrationslehre geradezu notwendigerweise »politische Konsequenzen« habe, gehöre doch Smend jenen Staatsrechtslehrern an, die meinen, dass sich auf dem Gebiet der Staatsrechtslehre »das politische von dem wissenschaftlichen gar nicht trennen lasse«, und dass ja auch Smend ihm vorgeworfen habe, dass seine Rechtstheorie »wesentlich demokratischer Liberalismus« sei. Er selbst fühle sich durch solche Äußerungen nicht gekränkt und hatte auch nicht vor, andere Personen zu kränken. »Aber ich muss heute zugeben, dass die von mir gewählte Formulierung vielleicht zu Missverständnissen Anlass geben konnte, was ich aufrichtig bedauere!« Kelsen richtete diese Worte nicht direkt an Smend, sondern an Sartorius, ermächtigte ihn aber, »dieses Schreiben Herrn Smend sowohl als auch anderen Mitgliedern der Vereinigung zur Kenntnis zu bringen.«131 Damit war die Angelegenheit allem Anschein nach bereinigt; Smend zog seine bereits im Satz befindliche »Antikritik« für das AöR zurück.132 b| Dafür ließ es sich Triepel nicht nehmen, in einer Rezension für die »Deutsche Juristenzeitung« Kelsen hart zu kritisieren: »Besonders schlimm ist, daß K. seinem Gegner dauernd und namentlich am Schluß ohne stichhaltige Gründe politische Absichten unterschiebt, ja, die Smendsche Schrift geradezu als Mittel eines Kampfes gegen die Demokratie und die Weimarer Verf. verdächtigt. Das ist unentschuldbar.«133 b) Eine »Existenzfrage der parlamentarischen Demokratie« Es mag auf den ersten Blick überraschen, dass Kelsen in seiner Kölner Zeit kaum Beiträge zum positiven Verfassungsrecht der Weimarer Republik schrieb.134 Immerhin veröffentlichte er bereits 1930, noch vor seinem offiziellen Dienstantritt, drei kurze Texte zur Reform des deutschen Wahlrechtes, also zu jenem verfassungsrechtlichen Thema, das ihm am meisten am Herzen lag.135 So wie Österreich, so hatte auch Deutschland 1918 die Wende vom Mehrheitswahlrecht zum Verhältniswahlrecht vollzogen,136 was – stärker noch als in Österreich – zu einer ganz außerordentlichen Parteienvielfalt geführt hatte. Seit der Reichstagswahl 1928 saßen nicht weniger als 13 verschiedene Parteien im 491 Sitze zählenden 131 Hans Kelsen, Brief an Carl Sartorius v. 3. 8. 1930, UB Göttingen, Nachlass Smend, Cod. Ms. R. Smend C 10. 132 Paul Siebeck, Brief an Rudolf Smend v. 18. 6. 1930, UB Göttingen, Nachlass Smend, Cod. Ms. R. Smend C 10. 133 Triepel, Kelsen (1930) 1041. Vgl. demgegenüber van Ooyen, »Integration« (2019) 5, wonach die Integrationslehre Smends klar antidemokratische Züge hatte. 134 Métall, Kelsen (1969) 59 f., verweist auf Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein? (1931) = WRS 1533–1573 und Kelsen, Das Urteil des Staatsgerichtshofes (1932); vgl. zu diesen noch unten 510 und 534. 135 Vgl. zum Folgenden auch Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer (2010) 280 ff. 136 Dazu näher Gusy, Reichsverfassung (2018) 146 ff.
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1. Kapitel: Als Professor an der Universität zu Köln
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Reichstag, wobei allerdings vier von ihnen (wie insbesondere die über lediglich 12 Abgeordnete verfügende NSDAP) so klein waren, dass sie keinen Fraktionsstatus und die damit verbundenen Rechte genossen. Die Bildung von Koalitionen war unter diesen Umständen außerordentlich schwierig, schon dreimal war eine Reichsregierung durch ein Misstrauensvotum gem. Art. 54 WRV gestürzt worden.137 Die Politik praktisch aller Reichsregierungen musste daher auf eine Wahlrechtsreform gerichtet sein, die die Zahl der im Parlament vertretenen Parteien reduzierte – was aber am Widerstand eben dieser Parteien regelmäßig scheiterte. Dennoch setzte auch Reichskanzler Hermann Müller (SPD) nach seinem Amtsantritt im Juli 1928 eine Wahlrechtsreform auf seine Agenda, wobei er neben der »Zersplitterung des Parteiwesens« auch die »Entfremdung des Gewählten von den Wählern« als Hauptübel des derzeitigen Wahlrechtes nannte, zumal das Verhältniswahlrecht nicht die Möglichkeit bot, einzelne Personen, sondern immer nur ganze Parteien zu wählen.138 Im Jänner 1930, also noch vor Kelsens Berufung nach Köln, bat die »Neue Leipziger Zeitung« den Wiener Professor, sich zur aktuellen Wahlrechtsdiskussion zu äußern. Kelsen benützte diese Gelegenheit allerdings nur dazu, um ohne Rücksicht auf die deutschen Verhältnisse jenes Wahlmodell zu propagieren, für das er schon seit über zehn Jahren in Österreich warb: Beseitigung der Wahlkreiseinteilung, die dem Proporzsystem widerspreche und »Befreiung« vom System der gebundenen Liste, indem es möglich sein sollte, einzelnen Personen die Stimme zu geben.139 Damit hatte er zwar eine Lösung für das Problem der »Entfremdung der Gewählten von den Wählern« parat, nicht jedoch ein Mittel gegen die Zersplitterung des Parlaments, ja im Gegenteil – lief sein Vorschlag doch auf eine vollständige Aufgabe der Wahlkreise hinaus. Ein halbes Jahr später, im Juli 1930, wiederholte Kelsen in der »Frankfurter Zeitung« seine Gedanken, ging aber diesmal wenigstens etwas auf die aktuelle politische Situation in Deutschland ein, indem er erklärte, dass sowohl der »fascistische Nationalismus« als auch »der bolschewistische Sozialismus« ihren Kampf gegen den Parlamentarismus führen, um die Demokratie selbst zu zerstören. Diese müsse daher, um sich selbst zu retten, den Parlamentarismus reformieren.140 Da Kelsens Vorschläge nicht geeignet waren, das Hauptproblem des Wahlrechtes zu lösen, vor dem die Reichsregierung stand, wundert es auch nicht, dass er – im Gegensatz etwa zu Carl Schmitt, Walter Jellinek oder Richard Thoma – nicht zu jenen Staatsrechtlern zählte, deren Wahlrechtsentwürfe im August 1930 der deutschen 137 Huber,
Verfassungsgeschichte VI (1981) 333 f.
138 Müller in der Sitzung des Reichstages v. 3. 7. 1928, Verhandlungen des Deutschen Reichstages,
Bd. 423 (1929) 44; vgl. Schanbacher, Parlamentarische Wahlen (1982) 143. 139 Kelsen, Die proportionale Einerwahl (1930). 140 Kelsen, Ein freiheitliches Wahlverfahren (1930). Im übrigen wiederholte er nur seine schon mehrfach geäußerten Gedanken, erklärte, dass Wilhelm Pappenheim (vgl. oben 237) und er diese Ideen unabhängig voneinander entwickelt hätten, und verwies zuletzt auf die Schrift seines Schülers: Fleischer, Wahlreform (1929), wo dieses Modell als »Pappenheim-Kelsensches Wahlsystem« ausführlich dargestellt wurde.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Länderkammer, dem Reichsrat, vorgelegt wurden.141 Der von Reichsinnenminister Joseph Wirth gemeinsam mit diesen Papieren vorgelegte Entwurf sah insbesondere eine Vermehrung der Zahl der Wahlkreise vor, womit eine teilweise Rückkehr zur Mehrheitswahl – »mit späterer Proportionalisierung auf höherer Ebene« – erreicht werden sollte.142 Der Entwurf wurde u. a. in der Zeitschrift »Das Tagebuch«, einer der führenden, linksliberal eingestellten, jedoch parteiunabhängigen, kulturpolitischen Wochenschriften,143 als ungenügend kritisiert. Die Redaktion des »Tagebuch« erklärte, schon seit langem das Wahlmodell Kelsens zu favorisieren und bat ihn, dieses für ihre Zeitschrift nochmals zu erläutern, eine Einladung, der Kelsen in der Ausgabe vom 6. September 1930 nachkam. Auf die Arbeiten im Reichsinnenministerium ging Kelsen dabei nur im Einleitungssatz ein, ohne sie inhaltlich zu kommentieren; vielmehr wiederholte er erneut seine eigenen Ideen, erstmals stellte er allerdings auch die Möglichkeit zur Disposition, an – sehr groß gestalteten – Wahlkreisen festzuhalten, auch wenn er diese Variante als nachteilig bezeichnete. Die Reform an sich erklärte er zu einer »Existenzfrage der parlamentarischen Demokratie, deren Lebensnerv die Parlamentswahl ist.«144 Eine Woche später, am 14. September, fanden Reichstagswahlen – nach dem unverändert beibehaltenen Verhältniswahlrecht – statt. Sie brachten einen völligen Umsturz der bisherigen parlamentarischen Verhältnisse. Die NSDAP hielt nun bei 107 (statt wie bisher bei 12) Mandaten und war damit, nach den Sozialdemokraten mit 143 Sitzen, die zweitstärkste Kraft in der Volksvertretung des Deutschen Reiches. Auch die Kommunisten hatten – von 54 auf 77 Mandate – zugelegt, was aber nichts am deutlichen Rechtsruck änderte, den der Deutsche Reichstag an jenem Tag erfuhr. Im Gegenteil zeigte dieser Umstand nur, dass auf linker wie auf rechter Seite die antidemokratischen Kräfte starken Zulauf erhalten hatten, während die demokratischen Parteien doppelt geschwächt aus dem Wahlgang hervorgingen.145 »Man konnte nicht mehr so tun, als habe am 14. September 1930 bloß eine Reichstagswahl mit überraschendem Ausgang stattgefunden, die möglichst bald durch neue Wahlen mit einem besseren Ergebnis revidiert werden müsse«, resümierte Hans Mayer. »Es häuften sich die Anzeichen dafür, auch in der Bürgerwelt, daß die Brücken zur Vergangenheit gesprengt waren, vielleicht eingestürzt. Die relative Stabilisierung des Kapitalismus, wie man zu Lenins Zeiten in Moskau formuliert hatte, ging zu Ende. Auch das Staatssystem von Weimar konnte nicht mehr bleiben, was es zwischen 1924 und 1930 gewesen war.«146 Die Große Koalition zwischen Sozialdemokraten und bürgerlichen Parteien war schon im März 1930 zerbrochen; Heinrich Brüning von der Zentrumspartei hatte eine rein bürgerliche Regierung gebildet (eine anfängliche Beteiligung der rechtsextremen 141 Seiberth,
Anwalt des Reiches (2001) 83. Parlamentarische Wahlen (1982) 144; vgl. auch Jacobi, Reform (1933) 38. 143 R addatz, Das Tage-Buch (1981) 5, 7. 144 Kelsen, Wahlreform (1930) 1429. 145 Huber, Verfassungsgeschichte VII (1984) 778; Evans, Das Dritte Reich I (2003) 357. 146 Mayer, Erinnerungen I (1982) 128. 142 Schanbacher,
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1. Kapitel: Als Professor an der Universität zu Köln
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DNVP endete im Juli, also noch vor der Wahl).147 Und angesichts der immer komplizierteren Verhältnisse im Reichstag beschloss die Regierung Brüning immer öfter, nicht Gesetzesvorlagen im Reichstag einzubringen, sondern sich des Notverordnungsrechtes des Reichspräsidenten nach Art. 48 WRV zu bedienen. Die Zeit der »Präsidialkabinette« hatte begonnen. c) »Der Hüter der Verfassung« – Kelsen versus Schmitt Vor diesem gewandelten politischen Hintergrund entspann sich nun die Diskussion zwischen Hans Kelsen und Carl Schmitt über den »Hüter der Verfassung«. Sie ist weit bekannter als jene zwischen Kelsen und Smend, ja, es kann sogar gesagt werden, dass die literarische Kontroverse zwischen Kelsen und Schmitt die wohl berühmteste juristische Debatte der Weimarer Zeit überhaupt war, was teils mit dem Bekanntheitsgrad der beiden Kontrahenten, teils mit der Wirkmächtigkeit der von ihnen entwickelten Hypothesen zusammenhängt.148 Auf das Paradoxon, dass die heutige deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit weitgehend auf den Überlegungen Kelsens beruht, dass aber nach wie vor Schmitt in Deutschland mehr gelesen wird als Kelsen, soll hier nur kurz hingewiesen werden. Carl Schmitt, 1888 in Plettenberg im preußischen Westfalen geboren, hatte sich 1916 in Straßburg habilitiert und danach Lehrstühle in München, Greifswald und Bonn innegehabt. 1928 wurde er an die Handelshochschule Berlin berufen, wo er bis 1933 blieb.149 Es handelte sich dabei wohl um jene Professur, die schon 1926 zunächst Kelsen angeboten worden war,150 und auch über die Frankfurter Berufungsliste von 1929, auf der sowohl Kelsen als auch Schmitt gestanden waren, wurde bereits berichtet.151 Es wurde in der Literatur schon hervorgehoben, dass sich Schmitt und Kelsen immer wieder fast zur gleichen Zeit mit ähnlichen Problemkreisen beschäftigten. Schrieb dieser 1922 über die Parallele von »Gott und Staat«, erklärte jener im selben Jahr in seiner Monographie »Politische Theologie«, dass sich die Jurisprudenz zu einem guten Teil des Instrumentariums bediene, das die Theologie in jahrhundertelanger Arbeit entwickelt habe.152 Und während Schmitt 1923 »Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus« in einem sehr antiparlamentarischen Sinne analysierte, erklärte Kelsen 1925 in seinem »Problem des Parlamentarismus«, dass dieser die einzige Form sei, in der Demokratie verwirklicht werden könne. 147 Evans,
Das Dritte Reich I (2003) 343 f. der abundanten Literatur seien beispielhaft hervorgehoben: Diner /Stolleis, Hans Kelsen and Carl Schmitt (1999); Neumann, Antipoden (2011); Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer (2010) 547 ff.; Paulson, Hans Kelsen and Carl Schmitt (2016). 149 Geb. Plettenberg 11. 7. 1888, gest. ebenda 7. 4. 1985; vgl. die umfassende Biographie von Mehring, Schmitt (2009) sowie zusammenfassend Jestaedt, Schmitt (2018). 150 Siehe oben 484. 151 Siehe oben 464. 152 Vgl. zu dieser Parallelität das differenzierte Bild von Neumann, Schmitt (2015) bes. 47; ferner zur Kritik von Voegelin an Kelsen und Schmitt wegen deren politischen Theologie: van Ooyen, Totalitarismustheorie (2002) 68 f. 148 Aus
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Man zitierte den anderen und übte punktuelle Kritik153 – aber zu einer großen, direkten Konfrontation war es bislang noch nie gekommen. Eine umfassende, vorurteilsfreie Auseinandersetzung zwischen den beiden hätte vielleicht zu überraschenden Ergebnissen geführt: dass nämlich die Ansichten von Kelsen und Schmitt in manchen Bereichen gar nicht so verschieden waren. Beide waren sich der Ergänzungsbedürftigkeit der Rechtswissenschaft durch die Soziologie bewusst – nur dass Schmitt den Weg der Inklusion, Kelsen den Weg der Separation ging.154 Und wo Kelsen mit Merkl die stufenweise Konkretisierung des Rechtes thematisierte, dort lag die »politische Entscheidung«, die Schmitts Schriften durchzog.155 Beide waren sich der Grenzen der Möglichkeiten eines Rechtsstaates voll bewusst – nur dass Schmitt von ihm mit kaum verhohlener Verachtung als einem Relikt des Liberalismus sprach, Kelsen ihn aber aus tiefster, innerer Überzeugung verteidigte. Es scheint, dass die großen politischen Gegensätze zwischen Kelsen und Schmitt eine sachliche Diskussion unmöglich machten und sich die beiden Staatsrechtler mit Absicht aus dem Wege gingen. Als Kelsen, wie oben berichtet,156 im Oktober 1928 in Paris auf einer Tagung des Institut International de Droit über Verfassungsgerichtsbarkeit sprach, scheint dies der Grund dafür gewesen zu sein, dass Schmitt nicht nach Paris fuhr.157 Als ihn Leopold v. Wiese fragte, ob er Kelsens gegen Smend gerichtetes Buch »Der Staat als Integration« rezensieren wolle, lehnte Schmitt ab.158 Bei der Staatsrechtslehrertagung in Wien im April 1928, als Kelsen die von ihm mitbegründete österreichische Verfassungsgerichtsbarkeit rechtstheoretisch untermauerte, fehlte Schmitt.159 Nichtsdestoweniger verfasste dieser bereits im August desselben Jahres, noch in Unkenntnis der Schriftfassungen der Wiener Vorträge, einen Aufsatz, in dem auch er sich mit der Frage auseinandersetzte, ob das deutsche Reichsgericht als »Hüter der (Reichs‑)Verfassung« angesehen werden könne.160 Das in Leipzig residierende Reichsgericht war ja (anders als sein österreichischer 153 So etwa, wenn Schmitt Kelsen vorwarf, das Problem der Souveränität zu lösen, indem er die Souveränität negiere: Schmitt, Politische Theologie (1922) 22; vgl. Mehring, Staatsrechtslehre (1994) 195; Paulson, Hans Kelsen and Carl Schmitt (2016) 519. 154 Treffend Kondylis, Jurisprudenz (1995) 341. Vgl. auch die Rezension von Schmitts Buch »Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen« durch Weyr, in der dieser geradezu ein »Abhängigkeitsverhältnis des Verfassers [Schmitt] von Kelsen« konstatiert: Weyr, Rezension Schmitt (1914) 579, und dazu Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III (1999) 178. Dies bezieht sich freilich nur auf das Frühwerk Schmitts. 155 Neumann, Schmitt (2015) 19. 156 Oben 454. 157 Vgl. das Schreiben von Carl Schmitt an Rudolf Smend v. 1. 8. 1928, in: Mehring, Briefwechsel (2010) 73. 158 Mehring, Schmitt (2009) 222, 636. 159 Mehring, Schmitt (2009) 223. 160 Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929), vgl. bes. S. 73 zum Kenntnisstand Schmitts über die Wiener Tagung sowie S. 100 zur Datierung des Aufsatzes. Nach Neumann, Schmitt (2015) 229 verfügte Schmitt über einen Tagungsbericht sowie eine Zusammenfassung durch Kelsen (Die sog. Leitsätze; abgedruckt bei Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit [1929] 85–88 = HdV 54–57 = WRS 1529–1531).
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1. Kapitel: Als Professor an der Universität zu Köln
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Namensvetter) primär das oberste Zivil‑ und Strafgericht des Reiches, besaß aber, als »Staatsgerichtshof« auch einige verfassungsgerichtliche Kompetenzen und hatte sich in einem seiner staatsgerichtlichen Erkenntnisse aus dem Jahr 1927 auch selbst als »Hüter der Verfassung« bezeichnet.161 Schmitt erklärte, dass »Verfassungsgerichtsbarkeit« etwas völlig anderes bedeute als Zivil‑ oder Strafgerichtsbarkeit. Ein Zivilrichter, ein Strafrichter, subsumiere einen Sachverhalt unter eine gesetzliche Regelung; der Gesetzgeber subsumiere jedoch nicht unter die Reichsverfassung, wenn er ein Gesetz beschließe. Und ebenso wenig könne die Tätigkeit eines Verfassungsgerichtes als Justiz angesehen werden.162 Das »dezisionistische Element«, das jeder gerichtlichen Entscheidung anhafte, würde im Falle einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung überborden. Einem Gericht die Befugnis zu verleihen, über politische Fragen zu entscheiden, würde einen »Mißbrauch der Justizförmigkeit« bedeuten.163 Der kleine Aufsatz, der ausgerechnet in einer Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts erschien, wurde von Schmitt in weiterer Folge ausgebaut, eine erweiterte Fassung erschien zunächst im »Archiv des öffentlichen Rechts«; im Frühjahr 1931 publizierte er die Monographie »Der Hüter der Verfassung«. In diesen beiden Veröffentlichungen ergänzte er seine negative Kritik an der Vorstellung, dass ein Gericht Verfassungshüter sein könne,164 um ein positives Bekenntnis dazu, dass dies die Aufgabe des Staatsoberhauptes, im Falle der Weimarer Republik also des Reichspräsidenten sei. Diesen bezeichnete er, im Anschluss an Benjamin Constant (1767–1830), als eine »pouvoir neutre«, die über den Parteienkonflikten stehe. Durch seine »Kontinuität und Permanenz« wahre er die staatliche Einheit und stelle jenen »ruhenden Pol in der Verfassung« dar, den schon der Vater der WRV, Hugo Preuß, für notwendig erachtet hatte.165 Die Argumentation Schmitts wurde sicherlich auch durch die Person des damaligen Amtsinhabers, Paul von Hindenburg, begünstigt, der zwar deutlich konservativ und antimarxistisch eingestellt, aber auch keiner anderen politischen Partei eindeutig zuordenbar, ja geradezu »peinlichst auf seinen Mythos als überparteilicher Wahrer des Staatswohls«166 bedacht war. Ihre besondere Brisanz bezogen Schmitts Thesen aber aus der politischen Situation jener Tage, in denen der Parlamentarismus ganz offensichtlich versagt und sich die gesamte Weimarer Reichsverfassung (nach den Worten Kelsens) in einen einzigen
161 Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929) 70. – Die Debatte ist wesentlich älter, worauf hier nicht im Detail eingegangen werden kann; hingewiesen sei aber auf Laband, Staatsrecht II (1878) 46: »Nicht jeder einzelne Richter oder Verwaltungsbeamte, sondern der Kaiser ist zum Wächter und Hüter der Reichsverfassung gesetzt.« 162 Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929) 79; vgl. zu diesem Argument Neumann, Schmitt (2015) 230 f. 163 Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929) 100. 164 Schmitt, Der Hüter der Verfassung (1931) 153. 165 Schmitt, Der Hüter der Verfassung (1931) 132, 136, 138. Vgl. dazu auch Ondřejek, Hüter (2018) 103. 166 So Pyta/Seibert, Staatsnotstand (1999) 595.
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Artikel, den Art. 48, »zurückgezogen« hatte.167 Dabei hatte Schmitt früher noch zu jenen Staatsrechtlern gezählt, die erklärt hatten, dass man aus dem (sehr unklar formulierten und überdies auf ein niemals erlassenes Ausführungsgesetz verweisenden) Art. 48 überhaupt kein Notverordnungsrecht ableiten könne. Erst 1930 war er, zunächst in einem Gutachten für die Reichsregierung Brüning, auf die andere Seite geschwenkt, wobei die Begründung für seinen Sinneswandel im Wesentlichen die war, dass sich die Notverordnungspraxis etabliert habe und von der Lehre anerkannt worden sei.168 Auch in »Der Hüter der Verfassung« bejahte Schmitt nunmehr, dass Art. 48 WRV dem Reichspräsidenten ein Notverordnungsrecht gebe, welches das Gesetzgebungsrecht des Reichstages vollständig (auch z. B. hinsichtlich der Budgetgesetzgebung) ersetze und zugleich jenes Mittel sei, mit dem der verfassungsmäßige Gesetzgebungsstaat »gegenüber einem verfassungswidrigen Pluralismus« gerettet werden könne.169 Dem »zum Schauplatz des pluralistischen Systems« gewordenen Reichstag stellte Schmitt also den Reichspräsidenten gegenüber, der nach Art. 41 WRV »vom ganzen deutschen Volk gewählt« werde und es daher repräsentiere. Die Verfassung setze »das deutsche Volk als eine Einheit voraus, die unmittelbar, nicht erst durch soziale Gruppenorganisationen vermittelt, handlungsfähig ist, die ihren Willen zum Ausdruck bringen kann und sich im entscheidenden Augenblick auch über die pluralistischen Zerteilungen hinweg zusammenfinden und Geltung verschaffen soll.«170 Hans Kelsen wurde in Carl Schmitts Buch lediglich in ein paar Fußnoten namentlich genannt, und wenn dies auch nicht unbedingt schmeichelhafte Passagen waren,171 so kann »Der Hüter der Verfassung« doch nicht in die lange Reihe der gegen Kelsen gerichteten Kampfschriften eingefügt werden. Trotzdem rief Schmitts Buch bei Kelsen eine überaus heftige Reaktion hervor, griff der Preuße doch mit seinem Werk jene Staatsfunktion an, an deren Entwicklung der Österreicher so entscheidenden Anteil hatte: die Verfassungsgerichtsbarkeit. Hans Kelsen entschloss sich daher zu einem längeren Aufsatz in der SPD-nahen172 Zeitschrift »Die Justiz«, den er mit dem herausfordernden Titel »Wer soll der Hüter der Verfassung sein?« versah. In diesem räumte 167 Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein? (1930/31) 579 = HdV 60 f. = WRS 1536. Schon 1929 hatte sich Kelsen, von Österreich aus, kritisch zu Art. 48 WRV geäußert und ihn als »Diktaturparagraphen« bezeichnet: Kelsen, Notverordnungsrecht (1929). Für eine aktualisierte Debatte vgl. Lemke, Demokratie im Ausnahmezustand (2017). 168 Seiberth, Anwalt des Reiches (2001) 79. 169 Schmitt, Der Hüter der Verfassung (1931) 131. 170 Schmitt, Der Hüter der Verfassung (1931) 158 f. Vgl. dazu Neumann, Schmitt (2015) 232–235. 171 Bei Schmitt, Der Hüter der Verfassung (1931) 25 Anm. 1 und 63 Anm. 1, wird die Behauptung von Kelsen, dass das Wesen der Demokratie im Kompromiss liege – Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925) 324; Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit (1929) 81 = HdV 51 = WRS 1526 – kritisiert. Ergänzend zitiert Schmitt einen »Witz« von Hensel, wonach jeder, der anderer Meinung als die Wiener Schule sei, Monarchist sei. Ob dieser Witz lustig ist, mag dahingestellt bleiben, der Zusammenhang mit dem Thema lässt allemal zu wünschen übrig. – Bei Schmitt, Der Hüter der Verfassung (1931) 154 Anm. 2 wird Kelsens Vorschlag, Verfassungsrichter durch Kooptierung zu kreieren, erwähnt, vgl. Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit (1929) 56 = HdV 27 = WRS 1506, ohne dass dies direkt kritisiert wird. 172 Vgl. zur Zeitschrift noch unten 535.
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er zunächst ein, dass man über die »Zweckmäßigkeit« von »Verfassungsgarantien« sicherlich diskutieren könne, ebenso über die Art und Weise wie diese ausgestaltet sein können. »Nur eines schien bisher außer Streit zu stehen, schien eine Einsicht von so primitiver Selbstverständlichkeit, daß man es kaum noch für nötig fand, sie […] besonders hervorzuheben […]: daß, wenn überhaupt eine Einrichtung geschaffen werden soll, durch die die Verfassungsmäßigkeit gewisser verfassungsunmittelbarer Staatsakte, insbesondere des Parlaments und der Regierung, kontrolliert werden [sic], diese Kontrolle nicht einem derjenigen Organe übertragen werden darf, dessen Akte zu kontrollieren sind.«173 Die »bekannte Lehre«, dass das Staatsoberhaupt eine »objektive dritte Instanz« sei, entlarvte Kelsen als typisches Element der konstitutionellen Doktrin, die den realen Machtverlust, die der Monarch bei Einführung des konstitutionellen Systems erlitten hatte, ausgleichen sollte. Und es war durchaus eine gegen Schmitt und dessen »politische Theologie« gerichtete Spitze, wenn Kelsen auf die Parallelen zwischen dieser Doktrin und der Theologie, die beide keinen Widerspruch dulden, verwies.174 Das Hauptargument, das Schmitt gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit vorbringe, so Kelsen, sei seine Behauptung, dass dieses Organ kein echtes Gericht, seine Funktion keine echte Justiz sei. Und Kelsen gab zu, dass man darüber von rechtstheoretischer Seite durchaus diskutieren könne. Aber was sei damit für die Frage, ob es tunlich sei, den Schutz der Verfassung einem solchen Organ anzuvertrauen gewonnen?175 Doch ließ es sich Kelsen nicht nehmen, auch den rechtstheoretischen Einwänden Schmitts zu begegnen, und erklärte, dass Schmitt das Wesen der Justiz völlig verkannt hatte, wenn er behauptete: »Alle Justiz ist an Normen gebunden und hört auf, wenn die Normen selbst in ihrem Inhalt zweifelhaft und umstritten werden.« Kelsen entgegnete, »daß die Justiz zumeist überhaupt erst anfängt, wenn die Normen in ihrem Inhalt zweifelhaft und umstritten werden«.176 Geschickt wusste Kelsen den für Schmitt so zentralen Begriff der »Dezision« mit seiner eigenen Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung zu verbinden: ein dezisionistisches Element stecke nämlich in jeder Stufe der Rechtserzeugung, und »[z]wischem dem politischen Charakter der Gesetzgebung und dem der Justiz besteht nur eine quantitative, keine qualitative Differenz.«177 Ja, die Entscheidung eines Verfassungsgerichtes sei ein Akt der Rechtserzeugung – aber sie höre damit nicht auf, zugleich ein Akt der Justiz zu sein.
173 Kelsen,
Wer soll der Hüter der Verfassung sein? (1930/31) 577 = HdV 58 = WRS 1534. Wer soll der Hüter der Verfassung sein? (1930/31) 579 = HdV 60 = WRS 1536. Vgl. dazu auch Ehs/Neisser, Staat und Recht ohne Aura (2017). 175 Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein? (1930/31) 583 = HdV 65 = WRS 1539. 176 Schmitt, Der Hüter der Verfassung (1931) 19; Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein? (1930/31) 589 = HdV 69 f. 177 Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein? (1930/31) 586 = HdV 67 = WRS 1541. Interessant sind hier seine – über die Kontroverse mit Schmitt hinausschießenden – Überlegungen zur Möglichkeit einer Gerichtsbarkeit im Völkerrecht, die dann später auch in verschiedenen anderen Arbeiten weiter ausformuliert werden. 174 Kelsen,
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
»Bleibt nur die Frage, warum ein Autor von so außerordentlichem Geist wie C. S. sich in so handgreifliche Widersprüche verwickelt, nur um die These halten zu können: Verfassungsgerichtsbarkeit sei keine Justiz, sondern Gesetzgebung, wo doch aus seiner eigenen Einsicht hervorgeht, daß sie beides zugleich sein kann und sein muß.«178 Ganz einfach deshalb, weil Schmitt diese Einsicht für notwendig hielt, damit er eine Forderung aufstellen konnte, die im Grunde nicht rechtstheoretischer, sondern rechtspolitischer Natur war:179 dass nicht ein Gericht, sondern der Reichspräsident das letzte Wort in Verfassungsstreitigkeiten haben solle. »Das ist das uralte, platonische Dilemma: Politeia oder Nomoi, Richterkönig oder königlicher Gesetzgeber« – ganz klar schimmert auch hier die intensive Beschäftigung Kelsens mit Platon wieder hervor.180 Und Kelsen sah den Hauptunterschied zwischen den beiden Alternativen darin, dass das Verfassungsgericht in einem justizförmigen, kontradiktorischen Verfahren die verschiedenen Interessen der Parteien einander gegenüberstelle, bevor es eine Entscheidung treffe, während bei der Entscheidung durch den Reichspräsidenten die »Fiktion eines Gesamtinteresses oder einer Interesseneinheit« suggeriert werde. Somit war der ganze Streit um den »Hüter der Verfassung« nur die Spitze eines Eisberges: Es kulminierte in diesem Punkt der gesamte Gegensatz zwischen Schmitts Vorstellung von einem »totalen Staat« als einem einheitlichen Kollektiv und Kelsens pluralistischem Staatsbegriff, wonach der Staatswille nur die Resultante der verschiedenen Partikularinteressen sei. Gerade was das Staatsoberhaupt betreffe, so werde dieses laut Kelsen – trotz des Wortlautes des Art. 41 WRV – nicht »vom ganzen Volke«, sondern nur von einer Mehrheit gewählt. Und, offenbar mit Blick auf den scheinbar so parteipolitisch neutralen Reichspräsidenten Hindenburg, stellte Kelsen die Frage, worin »die Gewähr« dafür bestehe, »daß nicht ein ›Parteigenosse‹ zum Staatsoberhaupt gewählt« werde.181 Es war eine rhetorische Frage und er beantwortete sie auch nicht. Erst jetzt aber ging Kelsen zum Angriff über, indem er die eigentlichen Intentionen von Schmitts Schrift enthüllte. Dass dem Reichspräsidenten gewisse Funktionen zukommen, mit denen die Einhaltung der Verfassung garantiert werden solle, »wird niemand leugnen.«182 Nur, dass er nicht das einzige Organ sei, das derartige Aufgaben besitze, sondern insbesondere der Staatsgerichtshof daneben noch existiere. Schmitts Schrift dagegen wolle darlegen, dass der Reichspräsident das einzige zum Schutz der 178 Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein? (1930/31) 592 f. = HdV 73 = WRS 1546. Vgl. dazu Neumann, Schmitt (2015) 231. 179 Vgl. dazu auch die Schlussworte von Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein? (1930/31) 627 = HdV 105 = WRS 1573, in denen er die »Forderung nach strengster Trennung wissenschaftlicher Erkenntnis von politischem Werturteil« erhebt. 180 Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein? (1930/31) 597 f. = HdV 78 = WRS 1550. Vgl. auch a. a. O. 627 = HdV 104 = WRS 1572, wo er das Schmitt’sche »Freund/Feind«-Diktum mit den beiden zoroastrischen Göttern »Ahriman« (= Angra Mainyu) und »Ormuzd« (= Ahura Mazda) vergleicht. 181 Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein? (1930/31) 601, 615 f. = HdV 81, 94 f. = WRS 1552, 1564. 182 Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein? (1930/31) 618 = HdV 96 f. = WRS 1566.
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Verfassung berufene Organ sei, was aber »den klarsten Bestimmungen der Reichsverfassung« widerspreche. Schmitts Schrift sei »von der Tendenz erfüllt, die Möglichkeit einer Verletzung der Verfassung durch das Staatsoberhaupt bzw. die Regierung zu ignorieren, eine Möglichkeit, die gerade gegenüber einer Verfassung besteht, zu deren wichtigsten Bestimmungen ein Art. 48 gehört.«183
4. Der Völkerrechtsexperte a) Der Zollunionsplan Schon bald nach Kelsens Berufung nach Köln wurde er mit einem völkerrechtlichen Problem konfrontiert, das sowohl seine alte wie auch seine neue Heimat betraf: dem österreichisch-deutschen Zollunionsplan. Die Idee, die Binnenzölle zwischen Deutschland und Österreich vollständig zu beseitigen und eine gemeinsame Zollaußengrenze festzulegen, um so beide Volkswirtschaften zu beleben, war schon seit Jahren immer wieder diskutiert worden,184 hatte aber infolge der Weltwirtschaftskrise neue Aktualität gewonnen. Im Februar 1930 reiste der österreichische Bundeskanzler und Außenminister Johannes Schober nach Berlin, wo er mit Reichsaußenminister Julius Curtius die Möglichkeiten eines wirtschaftlichen Zusammenschlusses beider Staaten beriet.185 Nach einigen Verhandlungen kam es am 19. März 1931 in Wien zu einer informellen Vereinbarung, in der die gemeinsamen »Richtlinien für eine österreichisch-deutsche Zollunion« festgelegt wurden.186 Diese Zollunion sollte durch paktierte Gesetze, also durch ein deutsches Reichsgesetz und ein gleichlautendes österreichisches Bundesgesetz, zustande kommen, beide Staaten wollten sich auf diese Weise größtmögliche Souveränität bewahren. Am bemerkenswertesten im Plan war die Bestimmung, dass sich Deutschland und Österreich bereit erklärten, die Zollunion auch auf weitere Staaten auszudehnen, sofern diese dies wünschten – der Anfang für eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft schien gemacht worden zu sein! Obwohl geheim gehalten, sickerten doch Informationen über die Vereinbarung vom 19. März in die Zeitungen, die sofort den französischen und den tschechoslowakischen Gesandten in Wien veranlassten, bei der österreichischen Bundesregierung scharfen 183 Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein? (1930/31) 618 f. = HdV 97 = WRS 1566. Vgl. dazu auch Ehs, Horizontgericht (2016). 184 So hatte etwa Lamp, Zollordnung (1921) 537, schon bald nach Ende des Ersten Weltkrieges die Notwendigkeit einer gemeinsamen Zollordnung für das Deutsche Reich und Österreich hervorgehoben, um die »Einheit der nationalen Wirtschaft unseres ganzen Volkes« zu wahren, und einen eigenen Entwurf präsentiert. Im November 1927 wurden erste Gespräche zwischen deutschen und österreichischen Regierungsvertretern geführt, wobei man jedoch zum Schluss kam, dass eine Zollunion nicht durchführbar sei: ADÖ 6/886 und 6/887. 185 ADÖ 7/1007; vgl. R auscher, Briandplan und Zollunionsprojekt (2006) 15. 186 Abgedruckt in ADÖ 7/1077 sowie auch J. O. 1931, 1160–1163. Vgl. Olechowski, Das »Anschlußverbot« (2019) 382.
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Protest zu erheben, zumal sie behaupteten, dass eine derartige Union sowohl gegen das »Anschlußverbot« (wie es in Art. 88 des Vertrages von Saint Germain und Art. 80 des Versailler Vertrages festgelegt war), als auch gegen die Verpflichtung zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit (zu der sich Österreich in den Genfer Protokollen 1922 bekannt hatte) verstoßen würde.187 Am 22. März 1931 sah sich die österreichische Bundesregierung veranlasst, ein Communiqué zu veröffentlichen. Sie bekannte sich dazu, mit Deutschland in Verhandlungen zu stehen, betonte aber zugleich, dass die Union auch dritten Staaten offen stehe, und erklärte zuletzt, von dem Wunsche »durchdrungen« zu sein, »dass die Angleichung der europäischen Wirtschaft den Frieden und das wirtschaftliche Gedeihen der europäischen Staaten sichern würde.«188 An den Verhandlungen mit Deutschland war der Sektionschef im Außenministerium Dr. Richard Schüller,189 ein Freund Kelsens, maßgeblich beteiligt gewesen. Vielleicht veranlasste er den nunmehr in Köln lehrenden Professor, publizistisch für die österreichisch-deutsche Sache tätig zu werden. Bereits am 25. März äußerte sich Hans Kelsen – bejahend – zur Frage, ob eine »Zollunion zwischen Deutschland und Österreich völkerrechtlich zulässig« sei, in der »Kölnischen Zeitung«.190 Knapp einen Monat später, am 24. April, führte er seine Gedanken dazu im »Deutschen Volkswirt« in einem längeren Artikel näher aus.191 Dabei hob er zunächst hervor, dass keineswegs beabsichtigt sei, eine Staatengemeinschaft mit einem einheitlichen Gesetzgebungsorgan zu schaffen, sondern dass die Gesetzgebung nur durch paktierte Gesetze des deutschen und des österreichischen Gesetzgebers zustande kommen solle. Es würde daher kein bundesstaatsähnliches Gebilde geschaffen, sondern bloß eine Staatengemeinschaft völkerrechtlichen Charakters, der selbst keine Völkerrechtssubjektivität zukomme.192 Eine derart lockere Zollunion könne die in Art. 88 des Staatsvertrages von St. Germain geforderte Unabhängigkeit nicht berühren – Kelsen führte zum Beweis u. a. die Zollunion zwischen der Schweiz und Liechtenstein an, die ja auch mit der Schweizer Neutralität offensichtlich vereinbar sei. Was aber die Genfer Protokolle betreffe, so heiße es dort ausdrücklich, dass Österreich »seine Freiheit in bezug auf Zolltarife […] und seine Handelsbeziehungen betreffenden Angelegenheiten« belassen werde. Zwar habe sich Österreich auch dazu verpflichtet, keinem Staat »ein Sondersystem oder ausschließliche Vorteile« zuzugestehen. Aber auch dies sei im gegenständlichen Fall nicht gegeben, weil die Zollunion ja auch jedem dritten Staate offen stehe. »Die 187 ADÖ
7/1078 und 7/1079. 7/1083. 189 Geb. Brünn [Brno/CZ] 28. 5. 1870, gest. Washington D. C. 14. 5. 1972; vgl. Olechowski/Ehs/ Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 556–558. 190 Kelsen, Zollunion zwischen Deutschland und Österreich (1931). 191 Kelsen, Zollunion und Völkerrecht (1931). Bereits zuvor waren in vier Aufsätzen derselben Zeitschrift die wirtschaftlichen Voraussetzungen und Wirkungen einer solchen Zollunion dargestellt worden. 192 Kelsen, Zollunion und Völkerrecht (1931) 995 f. 188 ADÖ
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juristisch glückliche Formulierung der Beitrittsklausel kann das Schicksal des großen Planes entscheiden, wenn diese Entscheidung nur nach dem Recht und nicht nach der Macht geht.«193 Es waren dies prophetische Worte; denn die Gegner des Zollunionsprojekts bekämpften dieses nicht nur mit rechtlichen, sondern auch mit politischen Mitteln. Am 19. Mai beauftragte der Völkerbundrat den Ständigen Internationalen Gerichtshof (StIGH) mit der Erstellung eines Gutachtens, ob der Zollunionsplan sowohl mit dem Vertrag von St. Germain als auch mit dem Genfer Protokoll No. I vereinbar sei.194 Fast zum selben Zeitpunkt jedoch musste Österreichs mit Abstand größte Bank, die Credit-Anstalt – als eine Folge der Weltwirtschaftskrise –, zunächst Verluste in gigantischer Höhe und am 11. Mai ihre eigene Zahlungsunfähigkeit bekanntgeben.195 Österreich, das erst sechs Jahre zuvor nur dank der Hilfe des Völkerbundes seinen Staatshaushalt sanieren hatte können, stand neuerlich als Bittsteller vor den internationalen Finanzmärkten und musste dem immer stärker werdenden Druck Frankreichs nachgeben. Am 5. September entschied der Ständige Internationale Gerichtshof, dass der Zollunionsplan zwar mit Art. 88 des Vertrages von Saint Germain, nicht aber mit den Genfer Protokollen vereinbar sei.196 Schon zwei Tage zuvor jedoch hatte Schober das gesamte Projekt, egal wie der Gerichtshof entscheiden würde, für beendet erklärt.197 b) Die Entwicklung einer eigenen Völkerrechtstheorie Mit etwas Verzögerung folgten auf Kelsens kurze Aufsätze zu tagespolitischen Fragen auch längere Abhandlungen zu allgemeinen Problemen des Völkerrechts. Abgesehen von einem Beitrag über den »Wandel des Souveränitätsbegriffes«, der schon 1931 in einem italienischen Sammelband erschien,198 ist hier insbesondere der mehr als hundertseitige Aufsatz »Unrecht und Unrechtsfolge im Völkerrecht« hervorzuheben, der 1932 in der ZÖR publiziert wurde. Anhand dieses Aufsatzes kann gut beobachtet werden, wie der im Völkerrecht noch »frische« Kelsen sich vorsichtig an sein neues Fachgebiet herantastete. Die ersten Seiten bestehen hauptsächlich in einer Zusammenfassung seiner bisherigen Lehren zu Unrecht und Unrechtsfolge (Unrecht nicht als Negation des Rechts, sondern als Bedingung des Rechtssatzes), die er dann auf das Völkerrecht überträgt. Von zentraler Bedeutung ist hier Kelsens schon früher dargelegte These, dass das Recht immer nur das Verhalten von Menschen – nicht von Personen – regelt. Die »Person« ist für Kelsen nur das »Produkt jener Denkoperation, die hier als – zentrale – Zurechnung« bezeichnet wird.199 Dies gelte für das staatliche Recht ebenso wie für das Völkerrecht: 193 Kelsen,
Zollunion und Völkerrecht (1931) 998. 1931, 1075–1081, PCIJ, Series A/B No. 41 (1931) 38 f. 195 NFP Nr. 23944 v. 12. 5. 1931, 1. 196 PCIJ, Series A/B No. 41 (1931) 52 f. 197 J. O. 1931, 2185 f.; vgl. R auscher, Briandplan und Zollunionsprojekt (2006) 35. 198 Kelsen, Wandel des Souveränitätsbegriffes (1931). 199 Kelsen, Unrecht und Unrechtsfolge (1932) 488, 497. 194 J. O.
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ein Staat begeht ein Unrecht, indem bestimmte Menschen dieses Unrecht begehen, deren Handeln dem Staat zugerechnet wird, weil sie dessen Organe sind, wobei es völkerrechtlich keine Rolle spielt, ob dieses Handeln nach staatlichem Recht rechtens war oder nicht. Und ebenso richtet sich eine Sanktion gegen einen Staat, wenn sie sich gegen Menschen richtet, die diesem Staat angehören, also ihm zugerechnet werden können. »Die traditionelle Anschauung, daß nur Staaten Subjekte völkerrechtlicher Unrechtstatbestände sein können und daß das Völkerrecht Unrechtsfolgen nur gegen Staaten richte, trifft nicht zu.« Der Begriff »zentrale Zurechnung« war neu; Kelsen gebrauchte ihn, um davon die »periphere Zurechnung«, die Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolge, unterscheiden zu können.200 Völkerrechtswidrige Akte können durch das Staatsoberhaupt oder durch die Regierung, aber auch durch das Parlament, ein Gericht oder ein untergeordnetes Verwaltungsorgan geschehen und damit völkerrechtliche Folgen auslösen. »Der Gesandte muß nicht erst den Instanzenzug durchlaufen.«201 Selbst das völkerrechtswidrige Handeln von Privatpersonen wird dem Staat zugerechnet, wenn er es unterlässt, diese Personen von ihrem Handeln abzuhalten oder sie zu bestrafen. Nur vereinzelt gibt es völkerrechtswidrige Handlungen von Privatpersonen, die dem Staat nicht zugerechnet werden können (z. B. Piraterie), und wo sich die Unrechtsfolge daher gegen denselben Menschen richten muss, der das Unrecht begangen hat: in diesem Fall haftet der Staat nicht.202 Während das staatliche Recht die Strafe und die Exekution als Zwangsakte kennt, sind es im Völkerrecht Repressalie und Krieg. Diese beiden Sanktionen sind dem schädigenden Staat zuzurechnen, andere Sanktionen – z. B. die Bestrafung jener einzelnen Menschen, die das Unrecht begangen haben, unmittelbar durch den geschädigten Staat – hingegen nicht.203 Ein besonderes Problem ist die Frage nach der »Schuld« im Recht, und ganz besonders im Völkerrecht. Kelsen bezeichnet sie als »seelische Beziehung zwischen demjenigen, der den Unrechtstatbestand setzt […] und diesem Tatbestand«. Schon im Bereich des staatlichen Rechts ist darauf zu achten, dass das, was als »gewollt« einer Person zugerechnet wird, nicht unbedingt »gewollt« im psychologischen Sinn sein muss. Im Völkerrecht wird regelmäßig auf solche Rückgriffe auf die Psychologie verzichtet, zumal es ja auch im Völkerrecht kaum ein objektives Verfahren gibt, in dem diese »Schuld« festgestellt werden könnte. Es reicht, dass der Unrechtstatbestand gesetzt wurde, mithin gilt im Völkerrecht das Prinzip der Erfolgshaftung.204 200 Kelsen, Unrecht und Unrechtsfolge (1932) 496 f., 505; vgl. dazu Heidemann, Zurechnung (2005) 18–24. Erst bei Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) 154, wird diese Terminologie wieder aufgegeben, vgl. noch unten 877 201 Kelsen, Unrecht und Unrechtsfolge (1932) 513. 202 Kelsen, Unrecht und Unrechtsfolge (1932) 520, 534. 203 Kelsen, Unrecht und Unrechtsfolge (1932) 483, 527; vgl. Rub, Kelsens Völkerrechtslehre (1995) 228; Neumann, Schmitt (2015) 424.. 204 Kelsen, Unrecht und Unrechtsfolge (1932) 538; 542.
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1. Kapitel: Als Professor an der Universität zu Köln
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Als Unrechtsfolgen des Völkerrechts nannte Kelsen Repressalie und Krieg. Sie dürfen nicht als »Strafen« bezeichnet werden, denn es fehlt das »diffamierende Moment« – welches seinerseits ideologisch zwar bedeutsam, rechtstheoretisch aber belanglos sei. Als Repressalie definiert Kelsen die »Setzung eines Tatbestandes, der sich als Verletzung einer Völkerrechtsnorm darstellt.«205 Es könne dies z. B. ein Embargo sein. Repressalien können sogar im Krieg selbst, als Reaktion auf Verletzungen des Kriegsrechtes, gesetzt werden. »Als eine solche Repressalie ist z. B. nach der amtlichen deutschen Erklärung der verschärfte U-Bootkrieg im Verhältnis zu den mit Deutschland im Krieg gestandenen Staaten anzusehen.«206 Ob ein Staat zur Repressalie oder zum Krieg schreitet, ist ganz unabhängig von der Schwere des vorgefallenen Unrechtes, sondern liegt ganz im Ermessen des Staates. »Darin – nicht zuletzt auch darin – zeigt sich die Primitivität des Völkerrechts.« Schon die ältesten Völkerrechtstheorien haben erklärt, dass ein Krieg nur dann ein bellum iustum (und daher gerecht) sei, wenn er in Reaktion auf begangenes Unrecht erfolgt. Es handle sich keineswegs um eine bloße Forderung der Moral, sondern »um einen positiven Rechtssatz«.207 Und damit kommt Kelsen gegen Ende seines Aufsatzes, der reichlich unspektakulär begann, zu überraschenden, bedeutsamen Schlussfolgerungen: Ein Krieg, ja sogar ein Angriffskrieg, könne unter gewissen Umständen gerechtfertigt sein. Kelsen verteidigt damit eine, wie er selbst zugibt, uralte Rechtsansicht,208 die spätestens mit dem Briand-Kellogg-Pakt, in dem die unterzeichnenden Staaten erklärt hatten, auf den Krieg als Mittel »zur Lösung internationaler Streitigkeiten« zu verzichten,209 obsolet zu sein schien. Weiters folgerte Kelsen, dass der Krieg, juristisch gesehen, ein einseitiger Akt sei; dass sich der andere Staat in aller Regel gegen den militärischen Angriff verteidige, sei nicht wesensnotwendig für den Kriegszustand.210 Von der Repressalie unterscheide sich der Krieg nur nach »Umfang und […] Intensität der militärischen Gewaltanwen205 Kelsen, Unrecht und Unrechtsfolge (1932). 570 f. Er folgert daraus, dass auch der Unrechtstatbestand nicht als »Delikt« bezeichnet werden dürfe, da ein Delikt nur vorliegen könne, wenn die Bedingung eine Strafe sei: a. a. O. 504. 206 Kelsen, Unrecht und Unrechtsfolge (1932) 575. Vgl. die Ankündigung des verschärften U-Boot-Krieges vom 1. 2 . 1917, in der es heißt, dass »Oesterreich-Ungarn und seine Verbündeten […] die gleiche Methode wie ihre Feinde anwenden [werden], indem sie Großbritannien, Frankreich und Italien von jedem Seeverkehre abschneiden« werden: NFP Nr. 18838 v. 1. 2 . 1917, 1. 207 Kelsen, Unrecht und Unrechtsfolge (1932) 579 f. Er verweist hier insbesondere auf Strisower; vgl. dazu näher Zeman, Strisower (2018) 387. 208 Kelsen, Unrecht und Unrechtsfolge (1932) 580, 593. Er zitiert hier u. a. den spanischen Spätscholastiker Alonso Fernández de Madrigal (»El Tostado«, 1400–1455): vgl. Rub, Kelsens Völkerrechtslehre (1995) 233; Neumann, Schmitt (2015) 425. 209 Antikriegspakt v. 27. 8. 1928 BGBl 1929/268. Er wurde zunächst von elf Staaten, darunter den USA und dem Deutschen Reich, unterzeichnet. Frankreich, Österreich und rund fünfzig weitere Staaten traten diesem Abkommen bei. 210 Kelsen, Unrecht und Unrechtsfolge (1932) 588, bringt ein Beispiel aus dem Zweiten Balkankrieg 1913, als sich Bulgarien gegen den Einmarsch rumänischer Truppen auf seinem Territorium nicht zur Wehr setzte.
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dung«, sodass die Abgrenzung zuweilen strittig sein kann.211 Vor allem aber: der Krieg bringe keine »Entscheidung« in dem Sinne, dass der Ausgang des Krieges darüber entscheide, wer von den beiden Staaten im Rechte gewesen sei. »Darin liegt ja einer der ärgsten technischen Mängel des Völkerrechts, daß es keine Entscheidung trifft, um unter allen Umständen eine eindeutige, unwidersprechbare, d. h. unanfechtbare Entscheidung der Unrechtsfrage herbeizuführen.«212 Und ebenso sind Reparationszahlungen, zu denen ein Staat in einem Friedensvertrag verpflichtet wird, nicht die Folgen des Unrechtes, das Anlass für den Krieg gab, sondern einzig und allein Folgen des Friedensvertrages selbst; und namentlich bezeichnete Kelsen die »Kriegsschuldbestimmung« des Artikels 231 des Vertrags von Versailles213 als bloße »ideologische Rechtfertigung, die positivrechtlich gänzlich irrelevant ist.«214 Kelsen vermied es in seinem, sehr theoretisch gehaltenen Beitrag, konkret zur Kriegsschuldfrage Deutschlands (oder Österreich-Ungarns) Stellung zu nehmen. Aber seine Aussagen, dass ein Krieg auch zuungunsten dessen ausgehen könne, der sich im Recht befunden habe, oder dass die Kriegsschuld nicht durch einen Friedensvertrag festgelegt werden könne, konnten der deutschen Reichsregierung nach dem Ersten Weltkrieg nur willkommen sein. Seine Überlegungen zur Rechtmäßigkeit des Angriffskriegs und zur Verantwortlichkeit von einzelnen Menschen für völkerrechtliches Unrecht schließlich waren von größter Bedeutung für die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg. Insofern war Kelsens Beitrag über »Unrecht und Unrechtsfolge im Völkerrecht« ein wahrhaft grundlegender Aufsatz. Der bereits 51-jährige Staatsrechtler Hans Kelsen hatte sich mit großem Erfolg in ein neues Rechtsgebiet eingearbeitet. Wie eminent praktisch seine Theorien sein konnten, das zeigte Kelsen bereits in dem kurzen, am 1. April 1932 im »Deutschen Volkswirt« erschienenen Aufsatz »Rechtstechnik und Abrüstung«. Die Völkerbundsatzung hatte in Art. 8 die Herabsetzung der nationalen Rüstungen als eines ihrer Ziele festgelegt, zu welchem Zweck auch vom 2. Februar 1932 bis zum 11. Juni 1934 – mit Unterbrechungen und letztlich ohne Erfolg – in Genf eine Abrüstungskonferenz tagte.215 Kelsen stellte die Sinnhaftigkeit einer Rüstungsbeschränkung offen in Frage. Auch mit wenigen Waffen können Kriege geführt werden; nur eine totale Abrüstung, d. h. Vernichtung sämtlicher Waffen, mache einen Krieg theoretisch unmöglich, woran aber wohl kaum ernstlich 211 Kelsen, Unrecht und Unrechtsfolge (1932) 590 f., führt hier mehrere Beispiele, u. a. 1884 von Frankreich gegen China geführte Feindseligkeiten an, die Frankreich nur als Repressalien, China und England dagegen als Krieg verstanden wissen wollten. 212 Kelsen, Unrecht und Unrechtsfolge (1932) 597. 213 Vgl. dazu Evans, Das Dritte Reich I (2003) 127. 214 Kelsen, Unrecht und Unrechtsfolge (1932) 599. Kelsen führt diesen Gedanken später in einem eigenen Aufsatz näher aus. Er erklärt bei dieser Gelegenheit auch, dass man im Völkerrecht kaum von »Schuld« sprechen könne; relevant sei lediglich die Frage, ob der Schaden rechtswidrig zugefügt wurde, was aber nur dann der Fall sei, wenn der Krieg kein »legitimer« war: Kelsen, Kriegsschuldfrage (1933) 8. Vgl. dazu Rub, Kelsens Völkerrechtslehre (1995) 67. 215 Guggenheim, Völkerbund (1932) 196 ff.; Ziegerhofer, Völkerbund und ILO (2019) 298.
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1. Kapitel: Als Professor an der Universität zu Köln
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gedacht werden könne.216 Kelsen forderte stattdessen die »Schaffung eines Weltgerichtes«, das nicht nur über alles Völkerunrecht entscheiden dürfe, sondern auch die »Unrechtsfolge« zu verhängen habe, also »jenen Staat, dessen Recht im Prozeß als von dem anderen Staate verletzt erkannt wurde, zu solchen Akten der Selbsthilfe, insbesondere aber zum Krieg gegen den Rechtsverletzer zu ermächtigen.«217 Kelsens Forderung klang utopisch, fand aber weite Beachtung218 und sollte von ihm selbst noch vielfach, in verschiedener Form, erhoben werden.
5. Vermischtes a) An der Kölner Fakultät: Kollegen und Schüler Kelsen berichtet, dass er an der Kölner Fakultät besonders zu Fritz Stier-Somlo, der ja seine Berufung am stärksten betrieben hatte, ein sehr gutes Verhältnis pflegte. Aber auch sonst stand Kelsen laut Autobiographie mit »[s]einen Kollegen an der Fakultaet […] in den besten Beziehungen.«219 Ob Kelsen hier einer Selbsttäuschung unterlag oder dies schrieb, um den Unterschied zu den Wiener Zuständen besonders hervorzuheben, ist ungewiss. Kelsens Seminarist Hans Mayer jedenfalls erinnerte sich, dass die meisten Professorenkollegen, abgesehen von Stier-Somlo, einer ernsthaften Beschäftigung mit Kelsen und seinen Lehren aus dem Weg gingen. »Statt aller Auseinandersetzung hielt man sich an Floskeln der höflichen Ablehnung, die weitergereicht wurden an die Studenten, denen man alle Beschäftigung mit dem Denken des schrulligen, zwar scharfsinnigen, doch offenbar weltfremden Österreichers widerriet.«220 Diese Ratschläge wurden von den Studierenden aber nicht allzu ernst genommen. Denn schon bald gelang es Kelsen, auch in Köln einen Schülerkreis zu bilden. Der Erste war der 1908 in Düsseldorf geborene Hans Herz, der in Freiburg i. Br., Heidelberg, Berlin und Köln Rechts‑ und Literaturwissenschaften sowie Philosophie studiert hatte.221 Er selbst berichtet, dass er in seiner Berliner Zeit Kelsen zunächst nur durch dessen Schriften kennen gelernt »und in Kürze so ziemlich alles verschlungen 216 Kelsen,
Rechtstechnik und Abrüstung (1932) 877. Kelsen, Rechtstechnik und Abrüstung (1932) 879. 218 Siehe unten 714 219 Kelsen, Autobiographie (1947) 36 = HKW I, 79. 220 Mayer, Erinnerungen I (1982) 148. Ob aber Kelsen tatsächlich, wie dies Heimbüchel, Die neue Universität (1988) 457, schreibt, ein »Außenseiter« in der Fakultät war, ist zweifelhaft. Diese Bezeichnung trifft wohl eher auf Carl Schmitt zu, der nur für ein, wenn auch entscheidendes Semester in Köln weilte, und von dem Hildegard Nipperdey, die Witwe von Hans Carl Nipperdey (siehe zu diesem noch unten 531), später erzählte, »daß man ihn zwar zu gesellschaftlichen Anlässen einlud, jedoch nicht übermäßig traurig gewesen wäre, wenn er abgesagt hätte, und sich dann, wenn er kam, nicht traute, sich wie üblich frei zu unterhalten, so daß Runden unter seiner Beteiligung ›schweigsam‹ verliefen.«: Zit. n. Golczewski, Kölner Universitätslehrer (1988) 118. 221 Donhauser, Herz (2008) 145; Ehs, Vertreibung in drei Schritten (2010) 160 f. 217
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hatte, was er bis dato veröffentlicht hatte.« Sobald er erfahren hatte, dass Kelsen in Köln war, suchte er ihn auf (Herz gibt an, dass Kelsen damals noch im Dom-Hotel wohnte, es muss dies also noch vor Februar 1931 gewesen sein).222 Unter der Betreuung Kelsens verfasste Herz eine Dissertation über »Die Identität des Staates«, in der er Kelsens Identitätslehre ablehnte, und die noch 1931 approbiert wurde. Es ist bezeichnend, dass Kelsen diese Arbeit trotz der Kritik an ihm förderte und eine wohlwollende Besprechung durch Métall in der ZÖR veranlasste.223 Übrigens erschienen ab 1931 regelmäßig Beiträge von Kelsens Kölner Schülern in der ZÖR (Hans Herz selbst wurde diese Ehre 1935 zuteil), was umso auffälliger ist, als vor 1930 kein einziger Kölner Autor dort publiziert hatte.224 Etwas ausführlicher ist hier auf den bereits vorhin erwähnten Studenten Hans Mayer einzugehen, welcher später zwar ein bedeutender Literaturwissenschaftler und Weggefährte Bert Brechts wurde, seine Karriere allerdings als Jurist begonnen und 1929/30 unter der Betreuung von Stier-Somlo eine Dissertation zur Integrationslehre Rudolf Smends verfasst hatte, die ein Jahr später, 1931, im Druck erschien.225 So war Mayer schon Doktor der Rechte, als er zu dem Privatseminar stieß, welches Kelsen auch in Köln abhielt: »Wöchentlich einmal lud er uns in sein Arbeitszimmer, wo wir referierten oder vom Meister mit seinen neuen Arbeiten vertraut gemacht wurden. Es gab Tee und viele, gut belegte Brote. Kelsen freute sich, wenn die oft hungrigen Arbeiterstudenten nach der Schüssel griffen. Ich habe kaum jemals eine so reine, uneitle, scharfsinnige Denkarbeit zwischen einem großen Gelehrten und seinen Schülern erlebt. Dieser Professor kannte seinen Rang: er brauchte nicht aufzutrumpfen.« Für Mayer war Kelsen der »erste bedeutende Mensch, mit dem ich Umgang haben durfte, und der mich annahm.«226 Einmal, so berichtet Mayer, habe Kelsen lachend gemeint, »er möchte so gern, unter Pseudonym, eine Schrift publizieren gegen die eigene Reine Rechtslehre: ›Denn ich alleine kenne doch ihre schwachen Stellen …‹«.227 Ihm, Mayer, habe Kelsen vorgeschlagen, eine Habilitationsschrift in Angriff zu nehmen, die sich gegen »den neuen und modisch gewordenen Irrationalismus in der deutschen Staatsrechtslehre« richten sollte. »Dazu ist es nicht mehr gekommen.«228 Über Mayer kam Kelsen in Kontakt mit sozialistischen und kommunistischen Studenten, denn Mayer gehörte in jener Zeit der KPO (Kommunistische Partei- Opposition), einer Abspaltung der KPD, an und war auch Mitglied einer sozialistischen Studentengruppe, die immer wieder Professoren zu Vorträgen einlud, so etwa 222 Herz, Vom Überleben (1984) 88, 97. Das a. a. O. angegebene Datum »Frühjahr 1929« ist unrichtig. 223 Métall, Die Identität des Staates (1932) 328; vgl. Herz, Vom Überleben (1984) 98. 224 Spörg, Die Zeitschrift für Öffentliches Recht (2009) 154. 225 Mayer, Krisis der deutschen Staatslehre (1931). Vgl. dazu und zum Folgenden Mayer, Erinnerungen I (1982) 65 ff. 226 Mayer, Erinnerungen I (1982) 150. 227 Mayer, Erinnerungen II (1988) 6. 228 Mayer, Erinnerungen I (1982) 150.
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Abb. 34: Fritz Stier-Somlo, um 1925. Fotografin: Gisela Geng.
Karl Mannheim aus Frankfurt, Eduard Heimann aus Hamburg, Theodor Lessing aus Hannover oder den 1926 nach Köln berufenen Helmuth Plessner.229 1932 wurde auch Hans Kelsen zu einem solchen Abend eingeladen. »Der Neukantianer Kelsen und Plessner als Schüler der Phänomenologen fanden sich im Widerwillen gegen ideologisches Denken mit Heilscharakter«, notierte Mayer.230 Für ihn war Kelsen einwandfrei ein Kantianer; wenn Studenten auf Hegel und dessen Dialektik zu sprechen kamen, hörte Kelsen – so Mayer – zwar aufmerksam zu, sah aber doch insgeheim die Hegelianer als »Schwindler« an. Die auch von Kelsen, der sich nach Angaben Mayers zum Sozialismus bekannte, bewunderte Größe eines Karl Marx wurde als politisches Phänomen integriert; der »windige Hegelianismus störte dabei nur.«231 Kelsen hatte offenbar keinerlei Berührungsängste mit weit links stehenden Studentenorganisationen. Dies korrespondiert mit dem deutlichen Linksruck, der in seinen Schriften aus jener Zeit zu konstatieren ist, wie insbesondere in seinem 1931 erschienenen Aufsatz über »Allgemeine Rechtslehre im Lichte materialistischer Geschichtsauffassung«. Er hob sich deutlich von früheren Arbeiten, wie etwa 229 Mayer,
Erinnerungen I (1982) 119. zit. n. Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 373. Beachte, dass Verdross, Die Rechtstheorie Hans Kelsen’s (1930) 423 = VGS 100 = WRS 1069, anlässlich des Fortganges Kelsens in die »Stadt des Albertus Magnus« 1930 die Hoffnung ausgesprochen hatte, »sein großes, tief durchdachtes System [der Reinen Rechtslehre] aus der Hülle des Neukantianismus zu befreien«; vgl. Fillafer /Feichtinger, Natural Law (2019) 432. 231 Mayer, Einige meiner Lehrer (1977). 230 Mayer,
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»Sozialismus und Staat« ab, zumal Kelsen in diesem Aufsatz ganz bewusst den Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung, also einen marxistischen Standpunkt, einnahm, um von hier aus die Allgemeine Rechtslehre als eine Ideologie nachzuweisen.232 Dem bekannten marxistischen Dualismus von »Basis« und »Überbau« hielt Kelsen allerdings eine Trias entgegen: Auf dem »Unterbau sozialer Realität« erhebe sich die »Rechtsordnung«, welche aber ihrerseits von einer »Theorie des Rechts« überragt werde, die das Recht nicht nur zu einer Systemeinheit bringe, sondern es auch legitimieren wolle. »Die Verwischung des Unterschiedes zwischen Recht und Rechtstheorie ist eine schon für bürgerliche Rechtswissenschaft sehr charakteristische Tendenz«, aber »[a]uch die Vertreter der materialistischen Geschichtsauffassung« verwischen diese Grenze.233 – Ausführlich setzte sich Kelsen in diesem Aufsatz mit sowjetischen Rechtstheoretikern wie v. a. Evgeni Pašukanis und Pëtr Stučka (soweit ihm deren Werke in deutscher Sprache zugänglich waren) auseinander, um am Schluss zu einer seiner Kernthesen zurückzukehren: der Identität von Staat und Recht. Gerade die materialistische Geschichtsauffassung dürfe kein Interesse daran haben, am Dualismus von Staat und Recht festzuhalten, denn beide werde das gleiche Schicksal ereilen: »in der klassenlosen Gesellschaft des vollendeten Kommunismus abzusterben.«234 b) Die Wiener Schüler – Kelsens 50. Geburtstag Während sich Kelsen bemühte, in Köln einen neuen Schülerkreis aufzubauen, fand sich in Wien niemand, der die einstigen Treffen in der Wickenburggasse fortsetzen wollte oder konnte. Als ein Versuch in diese Richtung mag es gedeutet werden, dass Fritz Schreier im Wintersemester 1930/31, also just im ersten Semester nach dem Weggang Kelsens, eine Vorlesung über »Probleme der reinen Rechtslehre« an der Universität Wien hielt,235 doch blieb es bei dieser einmaligen Aktion. Mangels regelmäßiger Treffen und mangels eines neuen Hauptes der Wiener rechtstheoretischen Schule war es nur eine Frage der Zeit, bis diese Schule ver‑ und zerfallen würde.236 Doch noch gaben Kelsens ehemalige Wiener Schüler ein kräftiges Lebenszeichen der Reinen Rechtslehre, als ihr »Meister« im Oktober 1931 sein fünfzigstes Lebensjahr vollendete und im Springer-Verlag eine 441 Seiten starke Festschrift, herausgegeben von Alfred Verdroß, erschien. Verlag, Herausgeberschaft, ja sogar das Schriftbild ließen diese Festschrift wie einen Sonderband der ZÖR erscheinen. Der Titel der Festschrift lautete »Gesellschaft, Staat und Recht. Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre«; erst auf der folgenden Seite fand sich der kurze Hinweis: »Festschrift Hans Kelsen zum 50. Geburtstage gewidmet«, aber keinerlei Vorwort oder sonst ein 232 Kelsen, Allgemeine Rechtslehre (1931) 449. Vgl. auch die Klassifikation der Rechtswissenschaft als Ideologie in Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941) 281 (dazu noch unten 651 f.). 233 Kelsen, Allgemeine Rechtslehre (1931) 458 f. 234 Kelsen, Allgemeine Rechtslehre (1931) 521. 235 Öffentliche Vorlesungen an der Universität zu Wien. Wintersemester 1930/31 (Wien 1930) 14. 236 Walter, Entwicklung (1992) 11; Jestaedt, Nicht-Remigration (2017) 245.
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freundliches Wort, das an den in Köln lebenden Begründer der Reinen Rechtslehre gerichtet war. Der Beitrag von Verdroß befasste sich mit den »allgemeinen Rechtsgrundsätze[n] als Völkerrechtsquelle«. Es handelte sich um eine sehr bedeutende Arbeit, in der er erklärte, dass die in Art. 38 Z 3 des Statuts des StIGH angesprochenen »allgemeinen Rechtsgrundsätze«237 älter als das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht seien und ihre Geltung unmittelbar aus der Grundnorm ableiten würden. Damit blähte er allerdings den Inhalt der Grundnorm ganz außerordentlich auf. Wie weit sich Verdroß bereits von Kelsens Reiner Rechtslehre entfernt hatte, wurde daran deutlich, dass seiner Ansicht nach die Geltung des positiven Völkerrechts »auf der in Gott gegründeten sittlichen Idee der sich in eine Vielheit von Staaten zergliederten einheitlichen Menschheit« beruhe.238 Strikt in den Bahnen Kelsens blieb demgegenüber Adolf Merkl, der in der Kelsen-Festschrift »Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaus« skizzierte und anmerkte, dass eine Monographie zu diesem Thema »in Vorbereitung«239 sei (doch wurde diese niemals veröffentlicht). Wie berichtet, stammte die Stufenbaulehre ja ursprünglich von Merkl und war erst nachträglich in Kelsens Lehrgebäude eingeflochten worden. Der Merkl’sche Stufenbau war jedoch wesentlich komplexer als jener Kelsens. Erklärte Merkl doch, »daß eine bestimmte Rechtssatzform der rechtlichen Kraft nach auf einer anderen Stufe stehen kann als nach dem Rangordnungsprinzip des Grades rechtlicher Bedingtheit.«240 Dementsprechend seien zwei verschiedene Stufenfolgen – nach der rechtlichen Bedingtheit und nach der derogatorischen Kraft – voneinander zu unterscheiden, während Kelsen in seinen Darstellungen immer nur vom Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit sprach.241 Weitere Beiträge zur Festschrift stammten von Kelsens Schülern Josef Dobretsberger (seit 1930 Professor für Nationalökonomie an der Universität Graz, 1935/36 237 Köck/Fischer,
Internationale Organisationen (1997) 162. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze (1931) 358 = VGS 1635 = WRS 1749. – Es ist aufs Neue bemerkenswert, wie Kelsen mit dieser Abkehr eines seiner wichtigsten Schüler von den Prinzipien der Reinen Rechtslehre umging: 1935 behauptete Verdroß nämlich unter Berufung auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts, dass der Vertrag von Versailles nichtig, weil »nur durch die Androhung militärischen Zwanges« zustande gekommen sei: Verdross, Anfechtbare und nichtige Staatsverträge (1935) 291 = VGS 1338. Als daraufhin der Schweizer Jurist Wiegand behauptete, dass einer »der eifrigsten Verteidiger der ›allgemeinen Rechtsgrundsätze‹ […] erst kürzlich« – und offenbar unter Eindruck der NS-Machtergreifung – den Wandel vom Rechtspositivisten zum Naturrechtler vollzogen habe, nahm Kelsen den so angegriffenen Verdroß in Schutz, indem er erklärte, dass dieser seine völkerrechtliche Quellenlehre schon vor vielen Jahren entwickelt habe, und die Behauptung, er habe seine Theorie aus politischen Gründen missbraucht, auf das Schärfste zurückwies: Wiegand, Ungeschriebenes Völkerrecht (1935); Kelsen, Die allgemeinen Rechtsgrundsätze (1936). Vgl. dazu auch Walter, Kelsen und Verdroß (2004) 45 f. 239 Merkl, Prolegomena (1931) 294 = WRS 1111 = MGS I/1 492. 240 Merkl, Prolegomena (1931) 284 = WRS 1102 = MGS I/1 480. – Beachte auch den zu Kelsens 50. Geburtstag geschriebenen Beitrag für die JBl von Merkl, Kelsen als Verfassungspolitiker (1931) = MGS III/2, 367–378. 241 Vgl. etwa Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925) 233; Kelsen, Reine Rechtslehre (1934) 74 ff. 238 Verdross,
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Sozialminister), Felix Kaufmann, Julius Kraft, Erich Vögelin, Walter Henrich (Professor an der Deutschen Technischen Hochschule Brünn), Josef Kunz, Leonidas Pitamic (Gesandter des Königreichs Jugoslawien in Washington D. C.) und Fritz Schreier. Aus Brünn hatte Franz (František) Weyr, aus Budapest Julius (Gyula) Moór einen Beitrag gesandt. Und aus dem Fernen Osten hatten Tomoo Otaka aus (dem damals von Japan annektierten und daher als Keijo bezeichneten) Seoul sowie Kissaburo Yokota aus Tokio je einen Aufsatz verfasst. Rudolf A. Métall schließlich hatte es unternommen, ein chronologisches Verzeichnis der Schriften Kelsens zusammenzustellen, welches schon damals 25 Seiten umfasste. Ob und wenn ja, in welchem Rahmen Kelsen die Festschrift überreicht erhielt, ist unbekannt. Er weilte an seinem 50. Geburtstag, dem 11. Oktober 1931, weder in Österreich noch in Deutschland, sondern genoss mit seiner Familie einen Urlaub im schweizerischen Ascona am Lago Maggiore.242 c) Die Nationalsozialisten auf dem Vormarsch Am selben Tag, dem 11. Oktober 1931, kamen in Bad Harzburg der Führer der NSDAP, Adolf Hitler, der DNVP-Vorsitzende Alfred Hugenberg und der Bundesführer des Soldatenbundes »Stahlhelm«, Franz Seldte, mit mehreren anderen Politikern und auch Regierungsvertretern, darunter den Ministerpräsidenten zweier deutscher Kleinstaaten (Braunschweig und Mecklenburg-Schwerin) zusammen. Gemeinsam forderten sie Neuwahlen sowie den Rücktritt sowohl des Reichskanzlers Heinrich Brüning als auch des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun. Mochte auch diese »Harzburger Front« ein recht loses Bündnis der ansonsten weiter auf ihre Eigenständigkeit bedachten rechtsgerichteten Kräfte in Deutschland sein, so hatten sie doch eindrucksvoll ihre Stärke und ihren gemeinsamen Willen, die Weimarer Demokratie zu zerstören, gezeigt.243 Als Kelsen aus seinem Urlaub zurück nach Köln kehrte, musste er erkennen, dass die veränderten politischen Verhältnisse im Reich auch unmittelbare Auswirkungen auf die Universitäten hatten. Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund (NSDStB) war an der Universität Köln verboten gewesen, seitdem es, bei einer Veranstaltung am 7. Februar 1930, zu Ausschreitungen gegen »Juden und Marxisten« gekommen war.244 Am 26. November hatte der Senat dem Beschluss der Rektorenkonferenz zugestimmt, politischen Studentengruppen die Universitätsräume generell nicht mehr zur Verfügung zu stellen. Hierauf veranstalteten die nationalsozialistischen Studenten am 25. Februar 1931 eine Großkundgebung vor der Universität mit etwa 242 Vgl.
das Schreiben des Dekans der juristischen Fakultät Köln an Hans Kelsen v. 9. 10. 1931, in dem er ihm im Namen der Fakultät zum 50. Geburtstag gratuliert, sowie das Antwortschreiben Kelsens v. 24. 10. 1931, UA Köln, Zug 598/143. 243 Vgl. die Berichterstattung in der NFP Nr. 24094 v. 12. 10. 1931, Abendblatt 1 f.; Evans, Das Dritte Reich I (2003) 341. 244 Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 377; Meuthen, Chronik (1988) 33. Die Kölner Vorgänge waren keine Einzelfälle, vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III (1999) 250.
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600 Teilnehmern; erstmals kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Am 2. Juli veranstaltete die nationalsozialistische Studentengruppe eine Anti-Versailles-Kundgebung, zu der der Führer des NSDStB, Baldur von Schirach, geladen wurde. Neuerlich kam es zu Ausschreitungen und zu Tätlichkeiten, auch gegen Rektor Josef Kroll, der als »Liebling der Roten« beschimpft wurde. Zahlreiche Verhaftungen wurden vorgenommen, auch Baldur von Schirach wurde festgenommen und zu drei Monaten Gefängnis verurteilt (die er allerdings niemals abbüßte).245 Trotz dieser Aktionen wurde der NSDStB im Dezember 1931 wieder zugelassen und erhielt bei den Wahlen zur Studentenvertretung am 3./4. Februar 1932 acht von 16 Sitzen.246 Hatte man noch ein Jahr zuvor davon ausgehen können, dass es sich beim NSDStB um die Vertretung einer radikalen Minderheit handle, so stellte er nunmehr die zahlenmäßig stärkste Studentenvereinigung in Köln dar; ein Jahr später sympathisierten, so wird geschätzt, etwa zwei Drittel der Studierenden mit den Nationalsozialisten.247 d) »Gegen die Todesstrafe!« In diese Zeit fällt auch ein kurzer Artikel Kelsens, der am 21. Februar 1932 in der »Wiener Allgemeinen Zeitung« veröffentlicht wurde und mit dem sich Kelsen noch einmal in den innerösterreichischen politischen Diskurs einschaltete. Wegen der Wichtigkeit des Themas, mit dem sich Kelsen nur dieses eine Mal auseinandersetzte, verdient er hier besondere Erwähnung. Ausgehend von einigen spektakulären Kriminalfällen248 wurde in Österreich über die Wiedereinführung der – 1919 im ordentlichen Verfahren abgeschafften – Todesstrafe diskutiert, und tatsächlich bereitete die Bundesregierung eine entsprechende Novelle des Strafgesetzes vor.249 Aus diesem Anlass befragte die »Wiener Allgemeine Zeitung« Hans Kelsen sowie auch den Dichter Franz Werfel um ihre Meinung zur Todesstrafe. Werfel bezeichnete sich als »absolute[n] Feind der Todesstrafe« und meinte, dass die »Abschreckungstheorie«, mit der sie so lange gerechtfertigt worden war, »hinfällig« sei. Kelsen überraschte mit der Antwort, dass die Strafe bei der Todesstrafe nicht eigentlich im Tod liege – denn sobald das Subjekt ende, hebe sich diese 245 Heimbüchel,
Die Neue Universität (1988) 377; Meuthen, Chronik (1988) 34. Die Neue Universität (1988) 382. 247 Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 384; Golczewski, Kölner Universitätslehrer (1988) 44. 248 Konkret genannt wurden der Raubmörder Siegfried Kleiber, der am 30. 3. 1932 zu zwanzigjährigem Kerker, und der Frauenmörder Franz Laudenbach, der am 25. 6. 1932 zu lebenslangem Kerker verurteilt wurde, vgl. Das Kleine Blatt Nr. 90 v. 31. 3. 1932, 1; Nr. 176 v. 26. 6. 1932, 2. Beide Strafverfahren waren also zur Zeit, als Kelsens Stellungnahme erschien, noch gerichtsanhängig. 249 Wiener Allgemeine Zeitung Nr. 16116 v. 20. 2 . 1932, 1. Eine entsprechende Umsetzung unterblieb vorerst. Nach Niederschlagung des sozialdemokratischen Februaraufstandes 1934 (siehe unten 580) wurden zunächst mehrere Todesurteile im standrechtlichen Verfahren gefällt und vollstreckt; mit dem Bundesgesetz v. 19. 6. 1934 BGBl II/77 wurde die Todesstrafe auch im ordentlichen Verfahren wiedereingeführt und erst mit dem Bundesgesetz v. 21. 6. 1960 BGBl 130 (ordentliches Verfahren) sowie dem Bundesverfassungsgesetz v. 28. 2 . 1968 BGBl 73 (Standrecht) endgültig abgeschafft. 246 Heimbüchel,
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Strafe auf –, sondern in der »Angst vor dem Tode«. Diese aber erklärte Kelsen zur »größte[n] und grausamste[n] Qual der sterbenden Kreatur.« Aber auch der jederzeit mögliche Justizirrtum spreche gegen die Todesstrafe, da sie, einmal vollstreckt, nicht rückgängig gemacht werden könne. Zuletzt ließ Kelsen in seinem kurzen Text Gerechtigkeitsideen anklingen, wie er sie später auch in einigen seiner bedeutendsten Werke breit ausformulierte: Um der Gerechtigkeit willen, die im Diesseits nicht erreicht werden könne, habe der Mensch den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele entwickelt. »Wenn um der Gerechtigkeit willen das irdische Leben um das Ueber irdische verlängert werden muß, wie darf man es von rechtswegen gewaltsam verkürzen?«250
6. In Genf und Den Haag Wie berichtet, hatte Kelsen bereits im März 1930 Gastvorträge am Institut universitaire de hautes études internationales (UIHEI) in Genf gehalten. Es handelte sich bei diesem Institut, trotz seines Namens, nicht um eine Einrichtung der Universität Genf, sondern um eine private Stiftung, die 1927 von William Rappard und Paul Mantoux mit großzügiger finanzieller Unterstützung der Rockefeller Foundation geschaffen worden war und mit der Genfer Universität vor allem in einigen studienrechtlichen Belangen kooperierte.251 William Rappard war 1883 in New York geboren worden, wohin sein aus der Schweiz stammender Vater aus geschäftlichen Gründen gezogen war. Fünfzehn Jahre später kehrte er nach Europa zurück und studierte u. a. in Wien und Berlin, bevor er 1908 in Genf promoviert wurde. »Er beherrschte vier Sprachen fließend, ohne auch nur den geringsten Anflug eines Akzentes. […] Alles an ihm war elegant: seine Bewegungen, sein Aussehen, sein Gang, seine Sprache, kurz seine ganze Erscheinung«, erinnerte sich Margit v. Mises später.252 1909/10 war Rappard bei der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz in Basel, einer Vorgängerinstitution der ILO,253 tätig. 1911/12 lehrte er als Assistenzprofessor Ökonomie an der Harvard University, wo er Freundschaft mit dem damals ebenfalls dort unterrichtenden Woodrow Wilson schloss. Ab 1913 hatte Rappard den Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Genf inne. In offiziellem Auftrag der Schweizerischen Eidgenossenschaft weilte Rappard 1919 bei den Pariser Friedenskonferenzen, wo er daran Anteil hatte, dass der Völkerbund seinen Sitz in der Schweiz aufschlug, und wo er auch den Historiker Paul Mantoux kennenlernte, der damals als Dolmetscher für Georges Clemenceau tätig war. Gemeinsam fassten sie den Entschluss, am 250 Kelsen,
Gegen die Todesstrafe! (1932).
251 Im Jahre 1934 betrug das Budget des IUHEI rund 395.000 CHF, wovon 350.000 CHF von der
Rockefeller Foundation stammten, der Rest hauptsächlich vom Kanton und der Stadt Genf: Busch/ Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2015) 12. 252 M. Mises, Ludwig von Mises (1981) 57. 253 Vgl. zu diesem Köck/Fischer, Internationale Organisationen (1997) 141.
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1. Kapitel: Als Professor an der Universität zu Köln
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Sitz von Völkerbund und ILO ein Institut zu gründen, das auf die Ressourcen der beiden Organisationen zurückgreifen konnte und insbesondere der Ausbildung von Diplomaten dienen sollte. Nach langen Verhandlungen mit der Rockefeller Foundation nahm das IUHEI im Herbst 1927 seine Tätigkeit auf, mit Rappard und Mantoux als zwei gleichberechtigten Direktoren.254 Die Stiftung selbst, auf der das Institut beruhte, wurde von einem Exekutivkomitee verwaltet, dem der Leiter des Erziehungsdepartements im Conseil d’Etat des Kantons Genf, Paul Lachenal, präsidierte. Seinen Sitz hatte das IUHEI ursprünglich im Stadtzentrum in einem Gebäude an der Promenade du Pin No. 5 (heute Sitz einer Kunsthochschule); 1937 erfolgte der Umzug des IUHEI in die Villa Barton im gleichnamigen Park am Genfer See, wo sich noch heute das Rektorat der 2008 gegründeten, deutlich größeren Nachfolgeorganisation »Institut de hautes études internationales et du développement« befindet.255 Der Kontakt zwischen Rappard und Kelsen, der sich später zu einer engen persönlichen Freundschaft ausweitete,256 war wahrscheinlich über Alfred Verdroß zustande gekommen, der bereits im November 1929 am IUHEI vorgetragen hatte. Kelsen selbst hielt zwischen dem 17. und 22. März 1930 eine sechsteilige Vortragsreihe (in deutscher Sprache). Die ersten vier Einheiten widmete er den Grundzügen einer allgemeinen Staatslehre, in den letzten beiden sprach Kelsen über die österreichische Verfassung.257 Nach seinem Besuch in Genf zeigte sich Kelsen vom IUHEI tief beeindruckt, aber auch Rappard dürfte von seinem Wiener Gast sehr angetan gewesen sein, schlug er ihm doch schon damals vor, eine ständige Lehrtätigkeit im Umfang von etwa drei Monaten pro Jahr am IUHEI aufzunehmen.258 Es war dieses verlockende Angebot aus Genf wohl der Hauptgrund dafür, dass Kelsen bei seinen Berufungsverhandlungen mit dem preußischen Wissenschaftsministerium darauf bestand, immer wieder Freisemester in Köln zu erhalten und auch in diesen Semestern das ihm garantierte Kollegiengeld ausbezahlt zu bekommen. Schon unmittelbar nach Annahme seiner Berufung nach Köln schrieb Kelsen an Rappard, dass er im Sommersemester 1932 erneut, und diesmal für drei Monate, nach Genf kommen könne, worin Rappard freudig einwilligte.259 Parallel dazu bemühte sich Kelsen auch, seinem Schüler Erich Vögelin einen Lehrstuhl für Soziologie am IUHEI zu verschaffen; dieser wurde im Dezember 1930 nach Genf eingeladen und 254 Hülsmann,
Mises (2007) 685 f.; https://fr.wikipedia.org/wiki/Paul_Mantoux [02. 05. 2019]. Busch/Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2015) 9. 256 Vgl. dazu William R appard, Brief an Hans Kelsen v. 18. 7. 1955, HKI, Nachlass Kelsen 16c10.61: »Mein lieber Freund, Hoffentlich nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich Sie als solchen anspreche. […] Nicht dass ich den Wahn hätte, mich Ihnen geistig gleichzustellen, aber die Ideale, die wir zusammen anstreben sind gewiss dieselben.« 257 Hans Kelsen, Brief an William Rappard v. 7. 1. 1930, in: AHEI, Ordner Hans Kelsen correspondance en désordre. 258 Hans Kelsen, Brief an William Rappard v. 10. 5. 1930; William R appard, Brief an Hans Kelsen v. 16. 5. 1930, beide in: AHEI, Ordner Hans Kelsen correspondance en désordre. 259 Hans Kelsen, Brief an William Rappard v. 3. 7. 1930; William R appard, Brief an Hans Kelsen v. 7. 7. 1930, beide in: AHEI, Ordner Hans Kelsen correspondance en désordre. 255
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
hielt dort eine Vortragserie über »National types of mind and the limits to interstate relations«, die allerdings bei der Institutsleitung schlecht ankam, weshalb die Idee einer Berufung nicht weiter verfolgt wurde. Kelsen zeigte sich enttäuscht, aber nicht überrascht: Vögelin habe sich wissenschaftlich in einer Weise entwickelt, für die er, Kelsen, kein Verständnis mehr aufbringen könne: weg von exakter Begriffsbestimmung, hin zu gefühlsorientierten, romantischen Konstruktionen.260 Der Beziehung zwischen Rappard und Kelsen tat dieser Misserfolg Vögelins keinen Abbruch, vielmehr bemühte sich Kelsen nunmehr, andere Schüler wie Josef Kunz und Rudolf Métall in Kontakt zum IUHEI zu bringen.261 Im Oktober 1931 erhielt Kelsen dann die offizielle Einladung des IUHEI, im Sommersemester 1932 erneut in Genf zu lehren, wofür ihm ein Gehalt von 15.000 CHF (ca. 12.000 RM), somit fast die Hälfte seines Kölner Jahresgehaltes, angeboten wurde. In der Sache einigten sich Kelsen und Rappard auf eine zweistündige Vorlesung über »Théorie générale du droit international (Problèmes choisis)« sowie ein einstündiges Seminar »Discussions relatives à l’objet du cours« – diesmal musste Kelsen, im Gegensatz zu seinen Vorträgen von 1930, auf Französisch vortragen (was Rappard einige Überredungsarbeit gekostet hatte).262 Kelsen ließ sich für das Sommersemester 1932 an der Universität Köln beurlauben263 und fuhr Anfang April nach Genf, wo er am 13. April mit seiner Vorlesungstägigkeit begann, die sich über knapp zehn Wochen hinzog. Über Details derselben ist nichts bekannt. Doch ist anzunehmen, dass Kelsen in Genf ähnliche Inhalte vortrug wie wenige Wochen später im Friedenspalast in Den Haag. Denn die Académie de Droit International hatte Kelsen eingeladen, so wie schon 1926264 auch im Sommer 1932 einen Kurs abzuhalten, und zwar diesmal den »Cours général«, also eine allgemeine Einführung in das Völkerrecht, wie sie erstmals 1929 von Verdroß im Haag vorgetragen worden war.265 Bemerkenswert an dieser Vortragsreihe ist dabei vor allem, dass Kelsen von seiner – noch 1926 im Friedenspalast vorgetragenen – Behauptung, die Hypothese vom Primat des staatlichen Rechts sei aus rechtstheoretischen Gesichtspunkten ebenso zulässig
260 Hans Kelsen, Briefe an William Rappard v. 10. 5. 1930 und v. 8. 1 2. 1930; William R appard, Briefe an Hans Kelsen v. 16. 5. 1930 und v. 16. 1 2. 1930, alle in: AHEI, Ordner Hans Kelsen correspondance en désordre. Tatsächlich wurde Voegelin, der niemals expliziter Vertreter der Reinen Rechtslehre gewesen war, in jener Zeit immer stärker zu einem vehementen Kritiker derselben, vgl. dazu Arnold, Voegelin (2008) 522 f. 261 Hans Kelsen, Brief an William Rappard v. 11. 2 . 1931 und v. 13. 7. 1931, beide in AHEI, Ordner Hans Kelsen correspondance en désordre. 262 Hans Kelsen, Brief an William Rappard v. 16. 1 2. 1930 und v. 19. 7. 1931 und v. 24. 10. 1931 und v. 17. 1 2. 1931; William R appard, Brief an Hans Kelsen v. 18. 1 2. 1930 und v. 20. 7. 1931 und v. 9. 1 2. 1931 und v. 22. 1 2. 1931, alle in AHEI, Ordner Hans Kelsen correspondance en désordre. 263 Hans Kelsen, Brief an das preußische Wissenschaftsministerium v. 25. 10. 1931, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 114; Ministerialerlass v. 28. 11. 1931, UI Nr. 23050, UA Köln, Zug 598/143. 264 Siehe oben 411. 265 Hoss, Kelsen in Den Haag (2008) 151.
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1. Kapitel: Als Professor an der Universität zu Köln
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wie die Hypothese vom Primat des Völkerrechts – etwas abrückte. Vielleicht hatte sich Kelsen von Verdroß beeinflussen lassen, vielleicht waren es auch aktuelle Entwicklungen im Völkerrecht, die Kelsen nun zu der Einsicht führten, dass es eine der Hauptfunktionen des Völkerrechts sei, die staatliche Souveränität einzuschränken.266 So wie in seinem Aufsatz »Unrecht und Unrechtsfolge« betonte Kelsen auch in seinen Haager Vorlesungen, dass einzelne Menschen sowohl im aktiven als auch im passiven Sinne Völkerrechtssubjekte sein können, sofern das positive Völkerrecht dies vorsehe. Die Rolle des Staates im Völkerrecht sei ähnlich der eines Vereins im staatlichen Recht: Er sei zwar selbst Rechtssubjekt, Träger von völkerrechtlichen Pflichten und Berechtigungen, und normiere die Rechtsstellung der ihm unterworfenen Menschen. Dies hindere das Völkerrecht aber nicht, auch für einzelne Personen Rechte und Pflichten festzusetzen, ebenso wenig, wie es dem staatlichen Recht verwehrt sei, die Rechte und Pflichten von Vereinsmitgliedern zu regeln. Als Beispiel zog er u. a. Art. 227 des Versailler Vertrages über die völkerrechtliche Verantwortlichkeit des deutschen Ex-Kaisers Wilhelm II. heran.267 Ausführlich befasste sich Kelsen mit dem Problem der Staatennachfolge, dem er das abschließende Kapitel widmete; bemerkenswerterweise blieb er hier auf einer theoretischen Ebene und brachte kaum konkrete Beispiele, insbesondere nicht aus der Zeit nach 1918.268 So wie schon 1926 plädierte Kelsen auch in seinem Kurs von 1932 für eine Stärkung des Völkerrechts und für eine Zurückdrängung der Macht der einzelnen Staaten, auch wenn er den 1926 noch verwendeten Begriff der »civitas maxima« für den (noch aufzurichtenden) Welt-Staat vermied. Insbesondere solle der Haager Gerichtshof gestärkt werden; dies sei noch wichtiger als eine internationale Armee oder ein internationaler Gesetzgeber269 – eine nicht ungeschickte Forderung angesichts der Tatsache, dass Kelsen seine Vorlesung im selben Gebäude hielt, in dem der Gerichtshof judizierte. Von Den Haag fuhr Kelsen zunächst nach Köln zurück, wo er rechtzeitig zu den Rektors‑ und Dekanswahlen wieder an der Universität war. Für das akademische Jahr 1932/33 war eigentlich der Psychiatrieprofessor Gustav Aschaffenburg als neuer Rektor vorgesehen. Aufgrund einer gegen ihn geführten antisemitischen Kampagne zog er jedoch seine Kandidatur zurück.270 Neuer Rektor wurde Kelsens Fachkollege Godehard Ebers. Kelsen selbst wurde am 6. Juli 1932 zum Dekan der juristischen Fakultät gewählt.271 Er fürchtete offenbar keine antisemitischen Anfeindungen, wie sie Aschaffenburg erlebt hatte. 266 Kelsen,
Théorie générale (1933) 22–24; vgl. Hoss, Kelsen in Den Haag (2008) 153.
267 Kelsen, Théorie générale (1933) 38 f. Diese Bestimung kann rückblickend als Initialzündung
der individuellen Verantwortlichkeit im Völkerrecht angesehen werden; sie wurde breit in der Völkerrechtsliteratur diskutiert und auch immer wieder von Kelsen selbst aufgegriffen. Vgl. Sellars, Crimes against Peace (2013) 1 ff. 268 Kelsen, Théorie générale (1933) 196–233; vgl. Hoss, Kelsen in Den Haag (2008) 158. 269 Hoss, Kelsen in Den Haag (2008) 160. 270 Meuthen, Chronik (1988) 37; Golczewski, Kölner Universitätslehrer (1988) 45. 271 Kelsen, Autobiographie (1947) 79 = HKW I, 79; Ebers, Selbstdarstellung (1952) 88.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Am 10. September reiste Kelsen – wohl in Begleitung seiner Familie – nach Ascona an den Lago Maggiore, wo die Kelsens ja schon im Vorjahr ihren Urlaub verbracht hatten. Nunmehr blieb er gleich vier Wochen im Hotel »Monte Verità« und genoss die Schweizer Berge.272 An Rappard schrieb er von Ascona aus einen Brief, in dem er ihm nochmals für das Semester in Genf dankte und ihn bat, sich für eine definitive Anstellung Métalls bei der ILO einzusetzen. Aufgrund seiner Wahl zum Dekan werde es im kommenden Jahr nicht möglich sein, erneut das Sommersemester in Genf zu verbringen.273 Am 8. Oktober fuhr Kelsen von Ascona zunächst nach Wien und eine Woche später nach Berlin. Erst von dort kehrte er nach Köln zurück, um sein Amt als Dekan anzutreten.274
7. Die Berufung von Carl Schmitt und der »Preußenschlag« An der Universität zu Köln hatten sich in der Zwischenzeit bedeutsame Veränderungen ergeben, denn am 10. März 1932 war Fritz Stier-Somlo an den Folgen eines Verkehrsunfalles gestorben.275 Da Kelsen im Sommersemester 1932 beurlaubt war, war Ebers der einzige Professor des öffentlichen Rechts an der Universität Köln. Auf Vermittlung Kelsens konnte Hans Peters aus Berlin zur Vertretung des Lehrstuhls von Stier-Somlo für das Sommersemester gewonnen werden; auf den Berufungsvorschlag zur Nachbesetzung gelangte Peters jedoch nicht. Dieser enthielt vielmehr die folgenden Personen: Walter Jellinek (Heidelberg), Karl Rothenbücher (München) und Carl Schmitt (Berlin). Die Namen waren alphabetisch gereiht, doch wurde zugleich betont, dass man primär mit Schmitt verhandeln solle. Die Berufungsliste war einstimmig beschlossen worden; auch Kelsen hatte mitgestimmt.276 272 Hans Kelsen, Brief an Carl Schmitt v. 7. 9. 1932, Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, RW 265–7336. 273 Hans Kelsen, Brief an William Rappard v. 22. 9. 1932, AHEI, Ordner Hans Kelsen correspondance en désordre. 274 Hans Kelsen, Schreiben an Carl Schmitt v. 7. 10. 1932, Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, RW 265–7339. 275 Ursula Krohn, Fritz Stier-Somlo [http://rektorenportraits.uni-koeln.de/rektoren/fritz_stier_ somlo] [Zugriff: 02. 05. 2019]. Unrichtig daher Kelsen, Autobiographie (1947) 36 = HKW I 79, wonach Stier-Somlo an einem Herzleiden gestorben sei. Vgl. auch den von Kelsen verfassten Nachruf, wonach es scheint, dass zwischen Unfall und Tod ein längerer Zeitraum qualvollen Leidens bestanden hatte: Kelsen, Fritz Stier-Somlo † (1932) 3 f.; auch der Nachruf in der Wiener Zeitung Nr. 60 v. 12. 3. 1932, 4, spricht von einem »längeren Leiden«. Hinzuweisen ist an dieser Stelle darauf, dass Kelsen, wohl als Nachfolger Stier-Somlos, 1932 Mitglied im Arbeitsausschuss des 1929 gegründeten Instituts für Zeitungswissenschaft an der Universität Köln wurde: Peil, Die akademischen Einrichtungen (1988) 257. Über seine Tätigkeit dort ist nichts bekannt. 276 GStA PK, I. HA Rep 76, Va Sekt. 10, Tit. IV, Nr. 3 Bd. I, Bl. 378 ff. Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 458, 460; Mehring, Schmitt (2009) 267. – Nach dem Krieg, 1949, sollte Hans Peters (1896–1966) dann einen Ruf an die Universität Köln erhalten und war 1964/65 deren Rektor: Vgl. Ursula Krohn, Hans Peters, in: http://rektorenportraits.uni-koeln.de/rektoren/hans_peters [Zugriff: 02. 05. 2019].
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1. Kapitel: Als Professor an der Universität zu Köln
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Die Brisanz einer allfälligen Berufung Schmitts wurde im Universitätskuratorium klar erkannt. Aufgrund des Fakultätsbeschlusses hatte sich auch Adenauer für Schmitt ausgesprochen, doch war er skeptisch, konstatierte bei Schmitt einen »schwierige[n] Charakter«, mit dem er das harmonische Verhältnis zwischen den Kölner Fakultätskollegen zerstören könne, und betonte, dass auch »das Verhältnis zu Kelsen beachtet werden« müsse. Zuvor hatte auch Ebers an Eckert geschrieben, dass Schmitt »in schärfster sachlicher und persönlicher Gegnerschaft zu Kelsen« stehe. Befürwortet wurde die Berufung Schmitts dagegen vom Zivilrechtler Hans Carl Nipperdey,277 der Schmitt als den »bedeutendsten Staatsrechtslehrer Deutschlands« bezeichnete und gegenüber Eckert betonte, dass Schmitt und Kelsen gemeinsam (!) »Köln auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts zur ersten Universität Deutschlands« machen würden.278 Von Kelsen selbst sind keine Stellungnahmen im Wortlaut bekannt. Aber angesichts von Kelsens bisherigem Umgang mit akademischen Kontrahenten erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass er ähnlich wie Nipperdey dachte und die Berufung eines Fachkollegen, der mit seinen Thesen geradezu als Antipode Kelsens gelten konnte, aber auch zu den bedeutendsten Staatsrechtlern Deutschlands zählte, innerlich befürwortete. Im August 1932 erging der Ruf an Carl Schmitt. Dieser, ein eifriger Tagebuchschreiber, notierte in sein Diarium, dass ihm das gleiche Gehalt wie zwei Jahre zuvor Kelsen angeboten worden war (tatsächlich war es mit 15.000 RM plus 12.000 RM Kolleggeldgarantie deutlich geringer), und kommentierte dies, vielleicht nicht ganz zu Unrecht: »man will mich offenbar von Berlin weghaben«.279 Sicherlich war Schmitt die Parität mit Kelsen wichtig, und auch sonst reizte ihn das finanziell verlockende Angebot; vielleicht war es auch die Aussicht auf »akademische Muße, neue pädagogische Wirkung, der Abstand von den chaotischen Jahren im ›Malstrom‹ [= Berlin]«, die Schmitt lockten – wohl kaum aber die Aussicht, nunmehr in ständigem und persönlichem Kontakt mit seinem Erzfeind Kelsen zu stehen.280 Immerhin: Dieser bemühte sich sichtlich, von vornherein ein gutes persönliches Einvernehmen mit seinem präsumtiven Fakultätskollegen herzustellen, und lud ihn, als er hörte, dass Schmitt demnächst zu Berufungsverhandlungen nach Köln kommen werde, zu sich nach Hause zum Mittagessen ein, möglichst noch bevor er seinen Schweiz-Urlaub antreten werde.281 Das Antwortschreiben Schmitts ist nicht erhalten, offenbar enthielt es eine Absage und anscheinend auch einen Hinweis, dass er selbst, so wie Kelsen, demnächst in die Schweiz fahren werde. Denn im nächsten Brief, den Kelsen an Schmitt 277 Geb.
Bad Berka 21. 1. 1895, gest. Köln 21. 11. 1968, vgl. Rückert, Nipperdey (2016). Zitate nach Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 458. Vgl. auch Golczewski, Kölner Universitätslehrer (1988) 299. 279 Zit. n. Mehring, Schmitt (2009) 295. 280 Gegenteiliger Auffassung Mehring, Schmitt (2009) 296, von dem auch das wörtliche Zitat stammt. 281 Hans Kelsen, Schreiben an Carl Schmitt v. 3. 9. 1932, Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, RW 265–7336. 278 Alle
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
richtete, nannte er ihm seine Adresse in Ascona und drückte die »Hoffnung« aus, »Sie an einem noch schöneren Ort zu sehen und mich mit Ihnen auszutauschen. Ich habe das Gefühl, daß dies allzulange verzögert wurde.«282 Aber aus der Reise Schmitts in die Schweiz, sollte er sie jemals wirklich vorgehabt haben, wurde nichts. Nachdem er in Köln mit Adenauer über seine Berufung verhandelt und eine informelle Zusage gegeben hatte, kehrte Schmitt nach Berlin zurück, wo ihn der dritte Brief Kelsens erreichte: »Ich hoffe zuversichtlich, dass unsere Besprechung dazu führen wird, dass Sie den Ruf nach Köln annehmen. Ich bin überzeugt, dass wir uns trotz aller wissenschaftlichen Gegensätze menschlich trefflich verstehen können.«283 Schmitt antwortete höflich, jedoch nicht im gleichen verbindlichen Tonfall wie Kelsen: Er hoffe, der Fakultät »Ehre zu machen«.284 Erst am 23. Oktober kam es zu einem persönlichen Treffen in Köln, und Schmitt notierte in sein Tagebuch: »um ½ 2 zu Kelsen, nett und freundlich unterhalten, […] er ist anscheinend nicht gefährlich, verlangte den Staatsstreich usw. Er schimpfte über Smend, Heller und dessen Gebrüll.«285 Diese plötzliche gegenseitige Sympathie ist ebenso erstaunlich wie Kelsens angebliches Verlangen nach einem »Staatsstreich«. Was war geschehen? Schmitts Berufungsverhandlungen mit der Universität Köln fanden zeitgleich mit Ereignissen statt, die quasi als juristisches Vorspiel zur Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 angesehen werden können, und bei denen Schmitt geradezu eine Schlüsselrolle einnahm. Die preußischen Landtagswahlen vom 24. April 1932 hatten der NSDAP 162 Mandate (und damit die relative Mehrheit), der KPD 57 Mandate, allen übrigen Parteien insgesamt 204 Mandaten beschert, sodass schon rein rechnerisch keine parlamentarische Mehrheit ohne Miteinbeziehung entweder der Nationalsozialisten oder der Kommunisten möglich und faktisch die Bildung einer neuen Regierung so gut wie unmöglich war.286 Die von Otto Braun geleitete Koalitionsregierung aus SPD, Zentrum und Deutscher Staatspartei führte daher die Geschäfte ohne parlamentarische Mehrheit weiter, ein Zustand, den der neue, rechtsgerichtete Reichskanzler Franz von Papen nach seinem Amtsantritt (1. Juni) so rasch wie möglich beenden wollte.287 Als es am 17. Juli im damals preußischen Altona zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten
282 Hans Kelsen, Brief an Carl Schmitt v. 7. 9. 1932, Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, RW 265–7337. 283 Hans Kelsen, Brief an Carl Schmitt v. 7. 10. 1932, Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, RW 265–7339, vgl. auch Mehring, Schmitt (2009) 295. 284 Zit. n. Mehring, Schmitt (2009) 295. 285 Carl Schmitt, Tagebucheintrag vom 23. 10. 1932, zit. n. Pyta/Seiberth, Staatskrise (1999) 446. 286 Evans, Das Dritte Reich I (2003) 390; zu den verfassungshistorischen Hintergründen vgl. auch Neumann, Schmitt (2015) 265. 287 Zu den Hintergründen ausführlich Seiberth, Anwalt des Reiches (2001) 37 ff.; vgl. auch Hoffmann, Die Rolle des Staatsgerichtshofs (2012) 97.
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mit mehreren Toten kam,288 nahm dies der Reichskanzler zum Anlass für den »Preußenschlag«. Mit einer auf Art. 48 Abs. 1 und Abs. 2 WRV gestützten Verordnung des Reichspräsidenten vom 20. Juli »zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung« wurde von Papen zum Reichskommissar für das Land Preußen bestellt und ermächtigt, die preußische Landesregierung abzusetzen und Kommissare zu ernennen, die die einzelnen Ministerien leiten sollten – was noch am selben Tag erfolgte.289 Begründet wurde dies mit den »von kommunistischer Seite hervorgerufenen Unruhen« und dem »begründete[n] Verdacht, daß hohe preußische Dienststellen […] nicht mehr die innere Unabhängigkeit besitzen, die zur Erfüllung ihrer Aufgabe notwendig« sei.290 Wie von Papen am 19. August erklärte, waren er selbst sowie die von ihm für die einzelnen Ressorts eingesetzten Kommissare nicht dem preußischen Landtag verantwortlich. – Hans Kelsen, der diese Vorgänge in einem Aufsatz für die Zeitschrift »Die Justiz« eingehend kommentierte, erklärte, dass damit sowohl das bundesstaatliche als auch das demokratische Prinzip »für das größte deutsche Land auf dem Gebiete der Vollziehung, das erstgenannte Prinzip auch auf dem Gebiete der Gesetzgebung aufgehoben wurden. […] Preußen [ist] kein ›Land‹ mehr im Sinne der Reichsverfassung, sondern eine Reichsprovinz.«291 Dass nicht nur das bundesstaatliche, sondern – im Bereich der Vollziehung – auch das demokratische Prinzip ausgeschaltet worden war, begründete Kelsen damit, dass der Reichskanzler zwar vom deutschen, nicht aber vom preußischen Volk legitimiert worden war. »Innerhalb einer Teilgemeinschaft bedeutet Demokratie ganz wesentlich Autokephalie.«292 Carl Schmitt gab den Vorgängen – in einem Aufsatz für die »Deutsche Juristen-Zeitung« – eine andere Deutung und zeigte auch hier wieder sein Kelsen entgegengesetztes Staatsverständnis: Die Maßnahmen des Reichspräsidenten seien notwendig geworden aufgrund der Agitationen der Nationalsozialisten und der Kommunisten. Es sei »unmöglich, staatsfeindlichen Parteien die gleiche Chance zu geben und ihnen die legalen Möglichkeiten staatlicher Willensbildung als Waffen in die Hand zu liefern. Reich und Land wären verloren, wenn es in dieser Lage keine überparteiliche Instanz gäbe. […] Der Streit betrifft also nicht den Kampf des Reiches gegen ein Land […], sondern Reich und Staat gegen Partei und Fraktion.«293 288 Dazu
Evans, Das Dritte Reich I (2003) 387 f. Verordnung des Reichspräsidenten v. 20. 7. 1932 dRGBl I, S. 377, betreffend die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Gebiet des Landes Preußen, auch abgedruckt in: Preußen contra Reich vor dem Staatsgerichtshof (1933) 481, die Amtsenthebungsschreiben a. a. O. 485. Mit einer zweiten Verordnung vom selben Tag (ebenfalls dRGBl I, S. 377) wurde der Ausnahmezustand über Groß-Berlin und Brandenburg verhängt. Vgl. Evans, Das Dritte Reich I (2003) 388; Hoffmann, Die Rolle des Staatsgerichtshofs (2012) 98; Neumann, Schmitt (2015) 271. 290 Begründung der Maßnahmen vom 20. 7. 1932 in der amtlichen Verlautbarung durch die Presse, abgedruckt in: Preußen contra Reich vor dem Staatsgerichtshof (1933) 482. 291 Kelsen, Das Urteil des Staatsgerichtshofs (1932) 67. 292 Kelsen, Das Urteil des Staatsgerichtshofs (1932) 68. Zum Begriff der Autokephalie vgl. schon Kelsen, Demokratie (1929) 86 = VdD 216. 293 Schmitt, Verfassungsmäßigkeit (1932) 958; vgl. Neumann, Schmitt (2015) 274. 289
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Die Regierung Braun setzte sich gegen den Preußenschlag zur Wehr, indem sie beim Staatsgerichtshof einen Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Verordnung stellte. In dem nun folgenden Prozess »Preußen contra Reich«, der vom 10.–17. Oktober 1932 in Leipzig stattfand, wurde die Preußische Landesregierung u. a. von Gerhard Anschütz, die Reichsregierung aber u. a. von Carl Schmitt vertreten.294 In seinem Urteil vom 25. Oktober295 erklärte der Staatsgerichtshof, dass die Verordnung des Reichspräsidenten teils verfassungswidrig, teils verfassungsmäßig war. Es war zwar zulässig, »preußischen Ministern vorübergehend Amtsbefugnisse zu entziehen«, nicht jedoch, sie gänzlich ihrer Ämter zu entheben.296 Das bedeutete, dass die Regierung Braun weiter im Amt befindlich, jedoch völlig machtlos war. Ihr verblieb noch u. a. die Vertretung Preußens im Reichsrat, während die eigentliche Verwaltung des Landes durch Reichskommissare erfolgte, die sich dabei auch auf den gesamten preußischen Beamtenapparat (in dem in der Zwischenzeit schon eine Reihe von Beamtenentlassungen und ‑ernennungen stattgefunden hatte297) stützen konnten. Kelsen kritisierte – in seinem bereits erwähnten Aufsatz für »Die Justiz« – das Urteil scharf, zumal es zu einer »rechtlich wie politisch vollkommen unmögliche[n] Situation« geführt hatte.298 Eine Verordnung zum Teil als verfassungswidrig, zum Teil als verfassungsmäßig zu beurteilen, sei nur dann möglich, wenn der verfassungsmäßige Teil auch bei Weglassung des verfassungswidrigen Teils seinen ursprünglichen Sinn beibehalte. Das Urteil des Staatsgerichtshofs führe aber dazu, dass der ursprüngliche Sinn der Verordnung verloren gehe; das Urteil habe somit gewissermaßen reformatorische Wirkung, was auf ein »Verordnungsrecht des Staatsgerichtshofs« hinauslaufe, das mit dem des Reichspräsidenten nach Art. 48 Abs. 2 WRV konkurriere. »Das Ergebnis, zu dem eine juristische Kritik des Staatsgerichtshofurteils führt, ist somit wenig befriedigend. Aber es wäre ungerecht, dafür nur oder auch nur in erster Linie den Staatsgerichtshof verantwortlich zu machen. Die Wurzel des Übels liegt in der technischen Unzulänglichkeit der Weimarer Verfassung selbst.«299 294 Noch zuvor hatte Preußen eine einstweilige Verfügung beantragt, was aber abgelehnt worden war. Beim Prozess in der Hauptsache handelte es sich um mehrere miteinander verbundene Streitsachen mit mehreren Antragsstellern, deren Legitimation aber z. T. nicht anerkannt wurde. Vgl. näher Stern, Staatsrecht V (2000) 706 f.; Seiberth, Anwalt des Reiches (2001) 111 ff.; Mehring, Schmitt (2009) 293; Hoffmann, Die Rolle des Staatsgerichtshofs (2012) 98–102. Das Protokoll der Verhandlungen wurde noch um die Jahreswende 1932/33 im Druck veröffentlicht: Preußen contra Reich vor dem Staatsgerichtshof (1933) 3–477. 295 Abgedruckt in: Preußen contra Reich vor dem Staatsgerichtshof (1933) 492–527. 296 Kelsen, Das Urteil des Staatsgerichtshofs (1932) 78. Vgl. dazu auch Ondřejek, Hüter (2018) 101. 297 Civis, Nachwort (1932) 105. 298 Kelsen, Das Urteil des Staatsgerichtshofs (1932) 81. Der Aufsatz erschien im November/ Dezember-Heft der Zeitschrift, aus Civis, Nachwort (1932) 91 wird deutlich, dass die schriftliche Urteilsbegründung des Staatsgerichtshofs zur Zeit der Abfassung von Kelsens Manuskript noch nicht vorlag. Vgl. zur Kritik Kelsens auch Neumann, Schmitt (2015) 279–281. 299 Kelsen, Das Urteil des Staatsgerichtshofs (1932) 89. Vgl. Seiberth, Anwalt des Reiches (2001) 198.
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»Geht so Kelsen mit scharf geschliffenem juristischen Florett dem Urteil zu Leibe, so richtet er am Schlusse einen Angriff mit schwerem Säbel gegen die Weimarer Verfassung,« hieß es in einem Kommentar zu Kelsens Aufsatz.300 Denn Kelsen erklärte, dass man es der WRV förmlich ansehe, welchen Widerwillen die deutsche Jurisprudenz gegen jede Art rechtlicher Kontrolle der politischen Sphäre hege. Zentrale Fragen blieben ungelöst, das in Art. 48 WRV angekündigte Ausführungsgesetz war niemals beschlossen worden, weswegen Art. 48 WRV dem Reichspräsidenten ein »schrankenloses Ermessen« einräume.301 Im Wege bloßer Interpretation lasse sich eine derartige Schranke nicht ziehen, sie könne nur »im Wege der Verfassungsgesetzgebung« geschaffen werden. Es sei »menschlich gewiß begreiflich«, dass der Staatsgerichtshof einen »goldenen Mittelweg« gesucht habe, allein damit sei »die Verfassung von Weimar nicht gerettet worden.«302 Die Kommentierung des Urteils durch Kelsen ist bemerkenswert, weil er es vollständig vermied, für die eine oder andere Partei Stellung zu beziehen; mit keiner Silbe wurde deutlich, ob er selbst die Verordnung für verfassungswidrig oder verfassungsmäßig hielt, lediglich die vom Staatsgerichtshof getroffene Lösung wurde von ihm kritisiert.303 Nun war es ganz im Sinne der Interpretationstheorie der Reinen Rechtslehre, wenn Kelsen behauptete, dass die Interpretation des Art. 48 Abs. 2 WRV durch den Reichspräsidenten »nicht weniger plausibel« sei als jene durch den Staatsgerichtshof.304 Aber zugleich spielte Kelsen, der sich der zerstörerischen Wirkung der Verordnung vom 20. Juli auf die Weimarer Demokratie vollauf bewusst war, der Regierung von Papen direkt in die Hände! Gerade in der juristischen Analyse des staatsgerichtlichen Urteils durch Kelsen wird die ganze Problematik der Reinen Rechtslehre deutlich: Dass ihre Aussagen, auch wenn sie zutreffend sein mögen, verheerende Folgen haben können. Dass ein Wissenschaftler auch Verantwortung trägt für die Produkte seines wissenschaftlichen Schaffens, dass er im äußersten Notfall auch die Ergebnisse seiner Forschungen, so wie Professor Möbius in Dürrenmatts »Physikern«, geheim halten muss, damit sie nicht in falsche Hände geraten können, dies sind Lehren, die aus dem Fall »Preußen contra Reich« gezogen werden müssen. Es ist zu vermuten, dass die SPD-nahe Redaktion der Zeitschrift »Die Justiz«305 Kelsen um eine Stellungnahme zum Urteil des Staatsgerichtshofes ersucht hatte – und nun von Kelsens Äußerungen entsetzt war. Denn unmittelbar an Kelsens Aufsatz schloss sich ein von anonymer Hand geschriebenes »Nachwort« an, in dem Kelsens 300 Civis,
Nachwort (1932) 96. Das Urteil des Staatsgerichtshofs (1932) 90. 302 Kelsen, Das Urteil des Staatsgerichtshofs (1932) 91. 303 Im Gegensatz dazu reiht Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III (1999) 122, Kelsen in die Reihe jener, die Preußen zu verteidigen suchten. Dem kann nicht gefolgt werden. 304 Kelsen, Das Urteil des Staatsgerichtshofs (1932) 91. 305 Der Hauptherausgeber, Wilhelm Kroner, Richter am preußischen Oberverwaltungsgericht, kandidierte mehrmals – an aussichtsloser Stelle – für die SPD, vgl. R asehorn, Kroner (1988) 220. Mitherausgeber waren Wolfgang Mittermaier, Gustav Radbruch und – Karl Renner. 301 Kelsen,
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Meinung harsch kritisiert wurde. Der Autor bezeichnete sich selbst als »civis« (Bürger), möglicherweise handelte es sich um Carl Falck, bis zum »Preußenschlag« Oberpräsident der preußischen Provinz Sachsen.306 Im Gegensatz zu Kelsen ging er von einer absoluten Nichtigkeit von verfassungswidrigen Akten aus – was wäre denn, wenn z. B. verordnet werde, dass der Staatsgerichtshof nicht zusammentreten dürfe?307 Und, unter Bezugnahme auf die Kompetenzen, die der preußischen Landesregierung nach dem Urteil des Staatsgerichtshofes geblieben waren: »Man wird sich nicht wundern dürfen, wenn als Kronzeuge für die nächste Verordnung des Reichs, die der Preußischen Landesregierung auch noch diese Befugnisse nimmt, von der Reichsregierung Professor Kelsen angeführt wird.«308 Es bleibt anzumerken, dass es zu dieser nächsten Verordnung, die alle der Landesregierung verbliebenen Befugnisse an den Reichskommissar übertrug, schon drei Monate später, im Februar 1933, auch tatsächlich kam.309 Was aber Carl Schmitt betraf, so befand er sich nach dem Leipziger Urteil auf dem Gipfel seines Ruhmes. Am 1. November 1932 schrieb er Ministerialrat Windelband, dass er den Ruf nach Köln annehme, wozu ihm Kelsen als Dekan ein offizielles Gratulationsschreiben übermittelte.310 Am 6. Dezember erfolgte die formelle Ernennung von Carl Schmitt als Nachfolger Stier-Somlos zum Professor an der Universität Köln mit Beginn des Sommersemesters 1933.311
8. »Verteidigung der Demokratie« Mit dem »Preußenschlag« hatte das Präsidialkabinett von Papens nicht nur Preußen, sondern der gesamten Weimarer Republik einen furchtbaren Schlag versetzt und die spätere Machtergreifung der Nationalsozialisten in Preußen und im Reich wesentlich vereinfacht.312 Dabei war der Wahlerfolg, den die NSDAP am 24. April 1932 in Preußen gefeiert hatte, nur ein Vorgeschmack auf die Reichstagswahl vom 31. Juli 1932, die ebenfalls eine relative Mehrheit für die Nationalsozialisten brachte. Und auch hier besaßen nunmehr Nazis und Kommunisten gemeinsam mehr als die Hälfte aller Mandate, sodass es den sonstigen Parteien nicht möglich war, ohne NSDAP 306 So die Vermutung von Korb, Kelsens Kritiker (2010) 234, wobei unklar bleibt, worauf der Autor seine Vermutung stützt. 307 Civis, Nachwort (1932) 94. Die Äußerung war angesichts der Lahmlegung des österreichischen VfGH im Juni 1933 – zu dieser noch unten 551 – geradezu prophetischer Natur. 308 Civis, Nachwort (1932) 96; vgl. Seiberth, Anwalt des Reiches (2001) 200; Korb, Kelsens Kritiker (2010) 235. 309 Verordnung v. 6. 2 . 1933 RGBl I S. 43; vgl. Hoffmann, Die Rolle des Staatsgerichtshofs (2012) 103. 310 Hans Kelsen, Brief an Carl Schmitt v. 15. 11. 1932, Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, RW 265–7340. 311 UA Köln, Zug 42/3946, Winter-Semester 1932/33. 312 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III (1999) 121. Evans, Das Dritte Reich I (2003) 389, spricht von einem »Todesstoß«.
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und ohne KPD auf parlamentarischer Grundlage zu regieren.313 Aber das taten die Reichsregierungen ja schon seit 1930 nicht mehr, sondern stützten sich fast nur noch auf das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten. Immerhin ist es geradezu erstaunlich, dass es nach der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 noch sechs Monate dauerte, bis Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde. Mit aller Kraft wehrten sich die Staatsspitzen der Weimarer Demokratie, das Ergebnis einer demokratischen Wahl anzuerkennen: dass nämlich die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler die Demokratie nicht mehr wollte.314 Von den drei Parteien, die am meisten mit dem Weimarer System identifiziert und wegen ihrer diversen Regierungsbeteiligungen als »Weimarer Koalition« bezeichnet wurden, der Sozialdemokratischen Partei, der katholisch-konservativen Zentrumspartei und der liberalen Deutschen Demokratischen Partei, hatte die zuletzt genannte am meisten unter massivem Wählerschwund zu leiden. Eine Fusion mit einer anderen Partei und Umbenennung in »Deutsche Staatspartei« 1930 vermochte nichts am Bedeutungsverlust der Liberalen zu ändern, die Wahlen von 1932 marginalisierten sie geradezu; bei der preußischen Landtagswahl im April erhielt sie gerade noch zwei von 423, bei der deutschen Reichstagswahl im Juli vier von 602 Sitzen. Im April 1932, wohl noch kurz vor den verhängnisvollen preußischen Landtagswahlen, erschien in den »Blättern der Staatspartei«, dem offiziellen Parteiorgan, ein kurzer Aufsatz von Hans Kelsen: »Verteidigung der Demokratie«. Brachte er auch inhaltlich wenig Neues gegenüber seinen älteren demokratietheoretischen Schriften, so handelt es sich gleichwohl um einen der bemerkenswertesten und bewunderungswürdigsten Aufsätze aus seiner Feder überhaupt. Sieht er doch mit unüberbietbarem Pessimismus den Untergang der Weimarer Republik und die Errichtung einer Diktatur entweder durch die Kommunisten oder durch die Nationalsozialisten, die ihre »Fahne […] auf dem Grabe der Demokratie« errichten werden,315 voraus – und plädiert er dennoch, umso mehr, mit Leidenschaft für die Bewahrung der Demokratie. Dass sein Versuch, die Demokratie zu retten, höchstwahrscheinlich scheitern wird, sieht Kelsen selbst in aller Klarheit: Das Volk hat sich abgewandt von der Demokratie, der es die Schuld an seiner Not zuschiebt. Die Intellektuellen rufen, an ihrem eigenen Ast sägend, nach der Diktatur. Die Staatsrechtslehrer und Soziologen sprechen nur mehr verächtlich von der Demokratie und suchen ihr Heil in »der für Tiefe gehaltenen Dunkelheit der Metaphysik, [dem] Kultus eines nebulosen Irrationalen, dieser spezifischen Atmosphäre, in der seit je die verschiedenen Formen der Autokratie am besten gediehen sind.«316 Und dennoch richtet Kelsen sein 313 Stern,
Staatsrecht V (2000) 732 f.; Evans, Das Dritte Reich I (2003) 395. konnten auch die Stimmenverluste, die die NSDAP bei der Reichstagswahl vom 6. 11. 1932 erfuhr, nichts ändern, blieb sie doch noch immer stimmenstärkste Partei. 315 Kelsen, Verteidigung der Demokratie (1932) 91 = VdD 230. Vgl. auch Lepsius, Kelsen und der Nationalsozialismus (2009) 281. 316 Kelsen, Verteidigung der Demokratie (1932) 91, 97, 92 = VdD 229, 236, 230 f. Zu Recht meint Korioth, Kelsen im Diskurs (2013) 43, dass sich dieser Vorwurf insbesondere gegen die sog. geisteswissenschaftliche Schule (Smend u. a.) richtet; vgl. auch Dreier, Staatsrechtslehre (2001) 10. 314 Daran
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Wort an »die wenigen, die ihre Köpfe freigehalten haben von der Vernebelung der politischen Ideologien«.317 Die »sozialistische Seite« – Kelsen zielt hier weniger auf die SPD, sondern vor allem auf weiter linksstehende Strömungen – werfe der Demokratie vor, dass sie nur eine formal-politische, nicht eine material-soziale Gleichheit gebracht habe. Kelsen hält dem entgegen, dass seit Einführung der Demokratie schon viele sozialpolitische Maßnahmen ergriffen worden seien. Dass der Staat dennoch ein bürgerlich-kapitalistischer geblieben sei, lag einfach daran, dass es den Marxisten bislang nicht gelang, die Mehrheit bei Wahlen zu erringen. Das durch Krieg und Wirtschaftskrise »proletarisierte oder halbproletarisierte« Bürgertum habe sich wider Erwarten nicht den Marxisten, sondern gerade umgekehrt den Nationalsozialisten angeschlossen. »Es versucht die ökonomisch unausweichliche Proletarisierung seelisch durch eine heroisch-romantische Geisteshaltung zu kompensieren.«318 Und gerade weil das Parlament die Arena der Linken sei, werde es von rechter Seite abgelehnt. Was aber wollen die Nationalsozialisten? Dies sei viel weniger klar als bei den Sozialisten. Höchst widersprüchlich sei ihre Forderung nach Nationalismus einerseits, nach Sozialismus andererseits. »Die reale Diktatur«, die in ihrem Namen errichtet werden soll, »ist einstweilen nur als Form zu sehen, von deren Inhalt nicht einmal ihre Führer« – Kelsen verwendet hier die Mehrzahl – »eine feste Vorstellung zu haben scheinen. Je grausamer die Formen dieser Diktatur zu werden versprechen, desto unklarer bleibt, im Dienste welcher Interessen sie schließlich ausgeübt wird.«319 Deutlich wird von nationalsozialistischer Seite die Forderung erhoben, dass der »Beste« herrschen soll: Aber wollen das nicht alle? Zuletzt gedenkt Kelsen jenes Einwandes, den die Demokraten selbst gegen die Demokratie machen können: dass sie »auch ihren ärgsten Feind an ihrer eigenen Brust nähren muß.«320 Es scheint, dass Kelsen hier Maßnahmen nach Art und Weise des »Preußenschlages«, Maßnahmen zur Rettung des Staates, die die ausdrückliche Zustimmung eines Carl Schmitt bekommen würden, schon vorausgeahnt hat. Und von hier aus ist auch die oben zitierte Äußerung Kelsens vom 23. Oktober gegenüber Schmitt verständlich: Nur ein »Staatsstreich« könne noch helfen, da die Demokratie nicht mehr im Stande sei, sich selbst zu retten.321 Allein, dies ist keine echte Option für Kelsen: »Eine Demokratie, die sich gegen den Willen der Mehrheit zu behaupten, gar mit Gewalt sich zu behaupten versucht, hat 317
Kelsen, Verteidigung der Demokratie (1932) 92 = VdD 231. Verteidigung der Demokratie (1932) 93 f. = VdD 232 f.. 319 Kelsen, Verteidigung der Demokratie (1932) 91 = VdD 230. 320 Kelsen, Verteidigung der Demokratie (1932) 98 = VdD 237. – Vgl. dazu die rückblickenden Bemerkungen von Joseph Goebbels aus dem Jahr 1935: »Das wird immer einer der besten Witze der Demokratie bleiben, daß sie ihren Todfeinden die Mittel selber stellte, durch die sie vernichtet wurde.« Zit. n. Evans, Das Dritte Reich I (2003) 579. 321 So auch die Einschätzung durch Seiberth, Anwalt des Reiches (2001) 197. Man beachte, dass das Gespräch zwischen Kelsen und Schmitt just zwischen Prozessende und Urteilsverkündung im staatsgerichtlichen Verfahren »Preußen contra Reich« stattfand. 318 Kelsen,
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aufgehört, Demokratie zu sein.« Was also tun? »Man muß seiner Fahne treu bleiben, auch wenn das Schiff sinkt; und kann in die Tiefe nur die Hoffnung mitnehmen, daß das Ideal der Freiheit unzerstörbar ist und daß es, je tiefer es gesunken, um so leidenschaftlicher wieder aufleben wird.«322 Es war dies nicht das letzte Mal, dass Kelsen in Deutschland zum Thema Demokratie publizierte. Noch 1933323 erschien bei Mohr Siebeck in Tübingen eine 30-seitige Broschüre, betitelt »Staatsform und Weltanschauung«. Aber dieses Heft war, wie Kelsen selbst betonte, keine leidenschaftliche Verteidigungsschrift der Demokratie; ihm ging es nur mehr darum, in der »kühle[n] Sprache der Wissenschaft« das Wesen der Demokratie und jenes der Diktatur zu erfassen. Seine Sprache war kraftloser als im vorangegangenen Aufsatz, und er ging kaum über jene Einsichten hinaus, zu denen er schon 1929 in seiner Schrift »Vom Wesen und Wert der Demokratie« gekommen war, aus der er mehrere Passagen, wie vor allem die Pilatus-Szene als Schluss, wörtlich übernahm.324 Ein näherer Blick zeigt freilich auch in dieser Schrift Bemerkenswertes: So wie schon in seiner Monographie zur »Souveränität« unterschied Kelsen auch in seiner Arbeit zu »Staatsform und Weltanschauung« zwei Menschentypen, einen pazifistischen und einen imperialistischen.325 Dieser außenpolitischen Haltung entspreche aber auch ein »innerpolitische[r] Habitus«: Dem Imperialisten gehe die eigene Freiheit und das »Erlebnis des eigenen Ich« über alles, weshalb er zu Herrschaft und Autorität neige. Der Pazifist wolle die Freiheit nicht nur für sich, sondern auch für die anderen, weil er im Anderen sich selbst wiedererkenne – ein inneres Erlebnis, das im Sanskrit als »Tat Tvam Asi« bezeichnet werde.326 So geselle sich zur Freiheit die Gleichheit als eine zweite, gleich wichtige Grundlage der Demokratie. Diese Demokratie aber ist »ein dem Führerideal, weil dem Autoritätsprinzip überhaupt nicht günstiger Boden.« Sie ist durch einen »mehr oder weniger raschen 322 Kelsen, Verteidigung der Demokratie (1932) 98 = VdD 237. Diese dezidierte Ablehnung dessen, was nach 1945 als »wehrhafte Demokratie« bezeichnet werden sollte, findet heute – aus guten Gründen – auch bei Kelsen-Anhängern kaum noch Zustimmung, vgl. Dreier, Idee und Gestalt (2014) 281. Siehe auch die weiterführenden Überlegungen von Vašek, Relativität und Revisibilität (2010) und Hidalgo, Kelsen (2017). 323 Das genaue Publikationsdatum ist unbekannt. Kelsen hielt am 31. 3. 1933 einen gleich betitelten Vortrag an der Universität Uppsala, doch ist es unwahrscheinlich, dass er danach noch einen derartigen Text in einem deutschen Verlag publizieren konnte. Zu vermuten ist eher, dass er den Vortrag schon 1932 an einem anderen Ort hielt und die Drucklegung um die Jahreswende erfolgte. Im April 1933 überreichte er ein gedrucktes Exemplar bereits an einen Studentenvertreter, der sich für ihn eingesetzt hatte: Jasper Gottschalk, Brief an Hans Kelsen v. 7. 7. 1946, HKI, Nachlass Kelsen 16c4.60. 324 Kelsen, Staatsform und Weltanschauung (1933) 29 f. = WRS 1590. 325 Kelsen, Souveränität (1920) 318 = HKW IV, 570 f.; Kelsen, Staatsform und Weltanschauung (1933) 21 = WRS 1585. 326 Kelsen, Staatsform und Weltanschauung (1933) 12 = WRS 1579. Die überraschende Bezugnahme auf die indische Philosophie ist höchstwahrscheinlich eine Übernahme von Gedanken Arthur Schopenhauers, sie kommt schon in früheren Schriften Kelsens vor, vgl. Jabloner, Menschenbild und Friedenssicherung (1997) 64; Avscharova/Huttar, Ohne Seele, ohne Staat (2009) 180.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Führerwechsel« gekennzeichnet und damit letztlich eine führerlose, eine »vaterlose Gesellschaft«, eine Gesellschaft von einander gleich gestellten Brüdern.327 »Und so steht in einem tieferen Sinne als es je gemeint war über der Demokratie das Dreigestirn der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.«328
327 Kelsen,
Staatsform und Weltanschauung (1933) 20 = WRS 1584. Er übernimmt hier im Wesentlichen Überlegungen aus Kelsen, Demokratie (1929) 88 = VdD 217. Wie Avscharova/ Huttar, Ohne Seele, ohne Staat (2009) 181 bemerken, hat Kelsen den Begriff der »vaterlosen Gesellschaft« von Freud, Totem und Tabu (1913) 180, entlehnt. Allerdings wird Freud ebensowenig wie Schopenhauer zitiert. Vgl. auch Jabloner, In Defense of Modern Times (2016) 334. 328 Kelsen, Staatsform und Weltanschauung (1933) 20 = WRS 1584. Vgl. Jabloner, Menschenbild und Friedenssicherung (1997) 64.
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Zweites Kapitel
Die Flucht 1. Von der »Machtergreifung« zum »Judentag« Am 15. Jänner 1933 erhielt Kelsen einen neuen Mitarbeiter: Friedrich August Freiherr von der Heydte. Der 1907 in München geborene Heydte hatte in Wien die Konsularakademie329 absolviert und war 1932 in Graz zum JDr. sowie in Innsbruck zum Dr.rer. pol. promoviert worden. Auf Empfehlung von Alfred Verdroß holte ihn Kelsen als »Privatassistent« zu sich nach Köln, und zwar, wie Heydte später in seiner Autobiographie schrieb, damit er Kelsen bei der Abfassung eines Lehrbuchs des Völkerrechts unterstütze.330 In Köln erlebte Heydte, wie er später berichtete, »die letzten Tage der Weimarer Republik. Es war, zumindest im Nordwesten Deutschlands, eine Zeit des offenen Kampfes zwischen Nationalisten und Kommunisten, der – wie es schien – auf Kosten der bürgerlichen Parteien und der gemäßigten Sozialdemokraten stattfand. Die Innenstadt von Köln war im Dezember 1932 und im Januar 1933 vielfach rot beflaggt. Kommunistische Aufzüge waren an der Tagesordnung. Die Polizei schien diesem Treiben gegenüber machtlos zu sein. Den einzig wirklichen Widerstand gegen die immer stärker werdende kommunistische Propaganda schien – so sah es wenigstens der außenstehende Beobachter – Hitlers NSDAP zu leisten.«331 Was Heydte zwar hier nicht schrieb, aber im April 1933 in einem Brief an das juristische Dekanat Köln festhielt: Er selbst war keineswegs ein »außenstehender Beobachter«, sondern schon als »Primaner Anhänger der nationalsozialistischen Bewegung und damals Mitglied der Mitteldeutschen Arbeiterpartei [gewesen], da die NSDAP in Preussen verboten war;332 getrennt habe ich mich, auch den Anschauungen nach, von der Partei im 329 Vgl. zur Konsularakademie, aus der 1964 die heutige Diplomatische Akademie hervorging, Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 673–677. 330 Siehe die Autobiographie: Heydte, Ein Zeitzeuge erinnert sich (1987), bes. 39 (er selbst gibt dort unrichtigerweise den 1. 1. als Dienstbeginn an); das richtige Datum ergibt sich aus einem Schreiben des Dekans Kelsen an die Universitätskasse v. 16. 1. 1933, UA Köln, Zug 42/3973 I, vgl. auch das Schreiben v. d. Heydtes an das Dekanat v. 24. 4. 1933, a. a. O. Siehe ferner http://www.lexikonder-wehrmacht.de/Personenregister/H/HeydteFA-R.htm [Zugriff: 02. 05. 2019]; Conze, Das Europa der Deutschen (2005) 64. 331 Heydte, Ein Zeitzeuge erinnert sich (1987) 39. 332 Die NSDAP war am 11. 11. 1922 in Preußen verboten worden, worauf von vormaligen Parteimitgliedern die Mitteldeutsche Arbeiterpartei als Auffangorganisation gegründet worden war; sie ging nach Neugründung der NSDAP 1925 in dieser auf.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Winterwahlkampf 1931/32,333 da ich damals den mit allen Mitteln geführten Kampf gegen die Person des Reichspräsidenten nicht mitmachen wollte und konnte.« Im März 1933 trat von der Heydte der NSDAP und der SA bei.334 Ob Kelsen etwas von diesen politischen Aktivitäten seines Assistenten wusste, ist unbekannt. Am 30. Jänner 1933 ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg den Führer der NSDAP, Adolf Hitler, zum neuen Reichskanzler und das von ihm präsentierte Kabinett – eine Koalition der Nationalsozialisten mit der DNVP und dem »Stahlhelm«, der auch mehrere parteilose Minister angehörten – zur neuen Reichsregierung.335 Der von den Nationalsozialisten später so benannte »Tag der Machtergreifung« war juristisch gesehen noch ganz in den Bahnen der Weimarer Reichsverfassung abgelaufen, und während der NS-Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels bemüht war, die historische Bedeutung des Machtwechsels zu betonen, sorgte doch andererseits der neue Reichsinnenminister Wilhelm Frick für »Beruhigung« in der Bevölkerung: An der Verfassung werde, so erklärte Frick gegenüber der Presse noch am selben Tag, ohne Proklamierung eines Staatsnotstandes festgehalten; die Regierung lege den größten Wert auf unbeschränkte Meinungsäußerung; die kommunistische Partei werde nicht verboten.336 Bereits vier Wochen später waren alle drei Versprechen gebrochen: Der Brand des Reichstagsgebäudes in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 wurde zum Vorwand dafür genommen, dass Hindenburg auf Vorschlag Hitlers »zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte« eine Notverordnung »zum Schutz von Volk und Staat« erließ.337 Mit ihr wurde das Recht der freien Meinungsäußerung eingeschränkt und die Regierung zwar nicht in die Lage versetzt, die KPD formell zu verbieten, doch immerhin so gut wie jede öffentliche Betätigung von ihr zu unterbinden und fast alle ihre Funktionäre zu verhaften. Trotz dieser Beschränkungen kandidierte 333 Gemeint: die Reichspräsidentenwahl vom 13. 3./10. 4. 1932, bei der Hitler erfolglos gegen den amtierenden Präsidenten Paul v. Hindenburg angetreten war; vgl. zu dieser Wahl Evans, Das Dritte Reich I (2003) 378 ff. 334 Friedrich August von der Heydte, Schreiben an das Dekanat der juristischen Fakultät zu Köln v. 24. 4. 1933, UA Köln, Zug 42/3973 I. – Métall, Kelsen (1969) 60, bezieht sich wohl auf Heydte, wenn er von einem »wissenschaftlichen Hilfsarbeiter« Kelsens schreibt, der sich bis dahin »in Hinblick auf eine erstrebte Habilitierung sehr unterwürfig erwiesen hatte«, jedoch »am Tag nach der ›Machtergreifung‹ […] im nationalsozialistischen Braunhemd bei [Kelsen] erschien«. Viele Jahre später, als sich Heydte (erfolglos) um eine Völkerrechtsprofessur an der Universität Wien bewarb, schrieb er an Kelsen, dass Gerüchte kursieren, wonach er ihn 1933 »persönlich in SA-Uniform aus dem Hörsaal der Universität gewiesen und verjagt« habe. Auf Heydtes Bitten schrieb Kelsen zurück, dass dies nicht wahr sei, und dass sich Heydte ihm gegenüber seinerzeit »durchaus korrekt« verhalten habe, was er auch, sollte er danach gefragt werden, Dritten erzählen würde: Friedrich August von der Heydte, Schreiben an Hans Kelsen v. 24. 4. 1961 und Antwortschreiben v. 28. 4. 1961, beide in: HKI, Nachlass Kelsen 16c4.60. 335 Die folgenden, hier nur skizzenhaft wiedergegebenen Ereignisse folgen der Darstellung von Weissmann, Der Weg in den Abgrund (1995); vgl. auch Stern, Staatsrecht V (2000) 764; Evans, Das Dritte Reich I (2003) 417. 336 NFP Nr. 24564 v. 31. 1. 1933, 2. 337 Verordnung des Reichspräsidenten v. 28. 2 . 1933 dRGBl I S 83 zum Schutz von Volk und Staat (»Reichstagsbrandverordnung«). Zu den Hintergründen Evans, Das Dritte Reich I (2003) 438 ff.
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2. Kapitel: Die Flucht
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die KPD noch bei den Reichstagswahlen vom 5. März und erreichte auch 12,3 % der Stimmen; die ihr zustehenden Mandate wurden jedoch unmittelbar nach der Wahl kassiert.338 Die NSDAP selbst konnte bei dieser – bereits nicht mehr als demokratisch zu bezeichnenden – Wahl zwar mehr als zehn Prozentpunkte zulegen. Dennoch verfehlte sie die absolute Mehrheit und kam auf »lediglich« 43,9 % der Stimmen. In den Wahlkreisen Köln-Aachen und Koblenz-Trier war sie nicht einmal stärkste Partei (dies war vielmehr das Zentrum); die zugleich stattfindenden preußischen Landtagswahlen brachten ein ähnliches Ergebnis.339 An der Entwicklung der folgenden Jahre konnte dieses erstaunlich schwache Ergebnis der Nationalsozialisten freilich nichts mehr ändern. Größere praktische Bedeutung hatten da schon die Siege der NSDAP bei den Kommunal‑ und Provinzialwahlen, die eine Woche später, am 12. März 1933, in Preußen stattfanden, da sie der NSDAP/DNVP-Koalition nun auch eine Mehrheit im preußischen Staatsrat sowie im deutschen Reichsrat brachten. Zudem führten die Wahlsiege in allen großen Städten dazu, dass zahlreiche demokratische Bürgermeister, wie etwa der Frankfurter Oberbürgermeister Ludwig Landmann oder auch der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer zurücktreten mussten und durch Nationalsozialisten ersetzt wurden.340 Die Eröffnung des neugewählten Reichstages am 21. März in Potsdam gab Hitler die willkommene Gelegenheit zur medienwirksamen »Versöhnung des alten und des neuen Deutschlands«: In Cut und Zylinder gekleidet, verneigte er sich vor dem greisen Reichspräsidenten in Marschallsuniform, der ihm demonstrativ die Hand schüttelte (»Tag von Potsdam«).341 Der Reichstag kam, da sein Gebäude durch den Brand völlig zerstört war, zwei Tage später in der Kroll-Oper zu seiner nächsten Sitzung zusammen. Um das Gebäude und sogar in ihm waren SA-Männer postiert; dennoch wagte es die SPD, als einzige Partei gegen den von der Reichsregierung vorgelegten Gesetzesentwurf zu stimmen – vergebens: Der Reichstag beschloss das »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich« mit dem die Reichsregierung ermächtigt wurde, selbst, an Stelle des Reichstages, Gesetze zu erlassen, die sogar von der Reichsverfassung abweichen konnten, soweit sie nicht die Einrichtung des Reichstags und des Reichsrats als solche zum Gegenstand hatten.342 Der Reichstag hatte politischen Selbstmord begangen; die Weimarer Republik war zu Ende. »Es ist schwierig zu beschreiben, wie ich mich fühlte«, erinnerte sich Anna Kelsen später an jene Tage. »Wie konnte dies möglich sein, wo doch Deutschland ein ›Kulturstaat‹ war. Es schien, als hätte sich das Land in wenigen Wochen komplett gewandelt. Die großen Zeitungen, das Radio, die vielen Zentren von Kultur und Wissenschaft, 338 Weissmann,
Der Weg in den Abgrund (1995) 71. Nr. 24598 v. 6. 3. 1911, 1–3; NFP Nr. 24599 v. 7. 3. 1933, 2. Vgl. Evans, Das Dritte Reich I (2003) 451; Hoffmann, Die Rolle des Staatsgerichtshofs (2012) 105. 340 Weissmann, Der Weg in den Abgrund (1995) 73. 341 Weissmann, Der Weg in den Abgrund (1995) 74; Evans, Das Dritte Reich I (2003) 463. 342 Gesetz v. 24. 3. 1933 dRGBl I S 141 zur Behebung der Not von Volk und Reich. Vgl. Stern, Staatsrecht V (2000) 776; Evans, Das Dritte Reich I (2003) 464 ff. 339 NFP
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
sie alle verwandelten sich, wurden nationalistisch, nazistisch, und verbreiteten die Propaganda des Hasses. Die Aufmärsche der Nazis nahmen kein Ende, überall waren Hakenkreuz-Fahnen, Denunziationen von Juden und Liberalen, Verhaftungen. Wir konnten nicht mehr zur Schule gehen.«343 Es ist geradezu erstaunlich, dass Hans Kelsen trotz dieser Umstände an einer bereits 1932 gegebenen Zusage festhielt, in den Semesterferien 1933 nach Schweden zu reisen, um dort Vorträge zu halten. Diese Einladung war von Einar Tegen, Professor für praktische Philosophie an der Universität Lund und Vorsitzendem des dortigen Vereins für Philosophie, ausgegangen, der Kelsen schon seit langem bewunderte und im Sommersemester 1932 nach Genf gereist war, um ihn dort auch persönlich kennenzulernen.344 Kelsens (in deutscher Sprache gehaltene) Vorlesungen an der Universität Lund fanden vermutlich zwischen dem 27. und dem 30. März 1933 statt und hatten eine Zusammenfassung der Reinen Rechtslehre zum Gegenstand; die Vorlesungen wurden unmittelbar danach auf Schwedisch übersetzt und in einer schwedischen Zeitschrift publiziert.345 Von Lund reiste Kelsen weiter nach Uppsala, wo er an Schwedens ältester Universität am 31. März über »Staatsform und Weltanschauung« sprach. Hier kam es auch zu einer (aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse auf beiden Seiten offenbar äußerst kurios wirkenden) fachlichen Auseinandersetzung mit Axel Häger ström, dem Begründer des »skandinavischen Rechtsrealismus«.346 Auch lernte Kelsen bei dieser Gelegenheit den jungen Philosophiestudenten Anders Wedberg kennen, der ihn damals zwar »mit jugendlicher Aggressivität« angriff, mit dem er aber später, 1940/41 in Harvard, eng zusammenarbeiten sollte.347 Geplant war, dass Kelsen von Uppsala weiter nach Kopenhagen reisen sollte, um dort den Rechtsphilosophen Alf Ross, der 1924–1926 das Seminar Kelsens in Wien besucht hatte,348 wieder zu treffen. Doch musste Kelsen seine Pläne kurzfristig ändern: Denn am 1. April 1933 kam es überall in Deutschland zum Boykott jüdischer Geschäfte, Arztpraxen und Anwaltskanzleien (»Judentag«). Die Aktion war penibel von der NS-Führung geplant und auch zuvor angekündigt worden, sodass viele jüdische Kaufleute ihre Läden an jenem Samstag gar nicht öffneten. Wo es dennoch geschah, achteten SA-Männer darauf, dass kein einziger Kunde die Schwelle überschritt. Die Schaufenster wurden mit Judensternen und antisemitischen Parolen beschmiert, überall kam es zu Gewalttätigkeiten.349 In Köln stürmten schon am Vortag, dem 31. März, SA‑ und SS-Männer das Justizgebäude am Reichenspergerplatz, den Sitz des Amts-, Landes‑ und Oberlandesgerichtes, und zwangen alle jüdischen 343 Kelsen
Oestreicher, Times to remember (1977) 4. Schweden und Finnland (2016) 91. 345 Kelsen, Den rena rättsläran (1933); vgl. dazu noch unten 590. Bindreiter, Schweden und Finnland (2016) 92 nimmt an, dass Kelsen schon ab dem 25. März in Schweden war. Dies war allerdings ein Samstag; Kelsen wird kaum am Wochenende Vorträge gehalten haben. 346 Bindreiter, Schweden und Finnland (2016) 95–97. 347 Bindreiter, Schweden und Finnland (2016) 97 f. 348 Oben 391. 349 Evans, Das Dritte Reich I (2003) 559; Pracht-Jörns, Jüdische Lebenswelten (2011) 253. 344 Bindreiter,
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2. Kapitel: Die Flucht
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Juristen, in offene Wagen zu steigen, die vor dem Gebäude warteten, und auf ihnen durch die Stadt zu fahren. Die bekanntesten von ihnen, wie etwa der Oberlandesgerichtsrat Prof. Dr. Hans Walter Goldschmidt, der an der Universität preußische Rechtsgeschichte, Wirtschaftsrecht und englisches Recht lehrte, standen auf einem Müllwagen, um sie besonders zu demütigen. Der Konvoi ging quer durch die Stadt über den Domplatz zum Polizeipräsidium, Ecke Schildergasse/Krebsgasse, wo die Juristen wieder freigelassen wurden; die Polizei hatte Weisung erhalten, nicht einzuschreiten.350 Ein »holländischer Schüler« Kelsens (vermutlich Marinus Maurits van Praag351) warnte, wohl per Telegramm, seinen einstigen Lehrer, nach Deutschland zurückzukehren. Doch musste Kelsen diese Warnung missachten, zumal sich seine Frau und seine beiden Töchter noch immer in Köln befanden. Im Gegenteil, er brach seine Skandinavien-Reise ab und reiste unverzüglich nach Hause zurück.352
2. Die »Gleichschaltung« der Universität Köln Dort, an der Universität Köln, herrschte zu diesem Zeitpunkt scheinbare Ruhe, da die Semesterferien andauerten. Noch im Februar hatten sich Rektor Ebers und der Senat geweigert, an einer Kundgebung nationaler Studierender zu Ehren Hitlers teilzunehmen und das Gebäude geschlossen. Als am 8. März auf der Universität die Hakenkreuzfahne gehisst wurde, legte Ebers scharfen Protest ein.353 Hinter den Kulissen aber gärte es. Seit dem 12. März hatte die Universität mit dem neuen Oberbürgermeister Günter Riesen einen nationalsozialistischen Kuratoriumsvorsitzenden; am 25. März wurde auch der bisherige Vertreter des Staates Preußen im Kuratorium, Staatskommissar Hans Fuchs, durch den Nationalsozialisten Peter Winkelnkemper ersetzt.354 Der Geschäftsführende Vorsitzende des Kuratoriums, Christian Eckert, beeilte sich, den neuen Machthabern »zur Verfügung zu stehen« und verfasste sogar ein »Schriftstück betreffend Judenfrage«, doch konnte ihn dies nicht davor bewahren, dass auch er ein halbes Jahr später, am 25. September, wegen »politischer Unzuverlässigkeit« entlassen wurde.355 350 Vgl. Pracht-Jörns, Jüdische Lebenswelten (2011) 240–245. Goldschmidt, der gleichen Alters wie Kelsen war, versuchte 1940, so wie dieser zu fliehen, und wie bei Kelsen, so wurde auch das Schiff, das Goldschmidt nach Amerika bringen sollte, von einem deutschen Kriegsschiff aufgebracht und – im Unterschied zum Schiff Kelsens – von einem Torpedo versenkt, sodass Hans Walter Goldschmidt am 2. 7. 1940 im Nordatlantik den Tod fand, vgl. Pracht-Jörns, a. a. O. 244 f. 351 Geb. Amsterdam [NL] 1896, gest. Rotterdam [NL] 19. 6. 1965, vgl. Klandermann, Marinus Maurits van Praag (2008). Siehe zu ihm noch unten 603. 352 Métall, Kelsen (1969) 61; Bindreiter, Schweden und Finnland (2016) 98. 353 Meuthen, Chronik (1988) 37. Noch nach der »Machtübernahme« weigerte sich Ebers, die Hakenkreuzfahne zu grüßen: Ebers, Selbstdarstellung (1952) 88. 354 Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 590. – 1940–1944 war Winkelnkemper Oberbürgermeister von Köln. 355 Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 595.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Als die Universität Jena kurz vor der Reichstagswahl im März 1933 alle deutschen Universitäten dazu aufgerufen hatte, sich zu Hindenburg und Hitler zu bekennen, hatte Rektor Ebers nach Ansicht der Nationalsozialisten »kostbare Zeit« verstreichen lassen. Von den vier Kölner Fakultäten war es allein die medizinische gewesen, die diesem Ansuchen nachgekommen war und deren Mitglieder fast vollständig die Unterstützungserklärung unterschrieben hatten. »An den anderen Fakultäten«, so erinnerte sich der Dekan der medizinischen Fakultät Ernst Leupold,356 »haben zum Teil die demokratischen Dekane diesen Aufruf ihren Fakultäten überhaupt vorenthalten oder er wurde, soweit er zirkulierte, nicht unterschrieben.« Zu welcher dieser beiden Gruppen die juridische Fakultät unter ihrem Dekan Kelsen zählte, wissen wir nicht. Leupold aber hatte sich wohl gerade durch diese Aktion als der geeignete Ansprechpartner für Winkelnkemper erwiesen; und am 5. April kam es zu einer ersten Besprechung zwischen den beiden. Am nächsten Tag wurde den Beratungen auch je ein »Vertrauensmann« der übrigen Fakultäten hinzugezogen; die juristische war durch Nipperdey vertreten. Man einigte sich vor allem darauf, »welche von den Professoren abzubauen seien. Wir bemühten uns, einige verdiente jüdische Kollegen davor zu schützen. Es stellte sich später heraus, daß diese Unterredung ziemlich umsonst gewesen ist, weil der Abbau nach dem Beamtengesetz von der Regierung geregelt wurde.«357 Auf Vorschlag Nipperdeys wurde auch beschlossen, dass Rektor Ebers zurücktreten solle, am nächsten Tag wurde er von Lehmann darauf angesprochen, gab aber dem Drängen erst nach, als beschlossen wurde, dass auch alle Dekane und Senatsmitglieder zurücktreten sollten.358 Am Samstag, dem 8. April, erging dementsprechend ein Rundschreiben an die Mitglieder des sog. Weiteren Senats, mit dem diese für den Dienstag, 11. April, 17 Uhr, zu einer streng vertraulichen Sitzung in den Senatssaal der Universität geladen wurden. Auch der Grund für dieses Treffen – Rücktritt sowie Neuwahl von Rektor, Senat und Dekanen – wurde in diesem Rundschreiben bereits bekannt gegeben.359 Kelsen war zu jener Zeit wieder in Köln,360 wusste also spätestens am Samstag von seinem bevorstehenden Sturz. Er selbst hat sich niemals, insbesondere nicht in seiner Autobiographie, öffentlich zu den Vorgängen des 11. April geäußert; im Gegenteil: Seine Schilderung der Aprilgeschehnisse vermittelt den Eindruck, als sei er von ihnen völlig überrascht worden.361 Dies war definitiv nicht der Fall. Vielmehr ist 356 Ernst Leupold in einem Diktat vom 16./18. 4. 1933, zit. n. Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 589. 357 Ernst Leupold, zit. n. Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 590. – Mit der Regelung »durch die Regierung selbst« ist das bereits am folgenden Tag, dem 7. 4., erlassene BBG gemeint, vgl. zu diesem noch unten 549. 358 Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 590. 359 Rundschreiben des Rektors v. 8. 4. 1933, UA Köln, Zug 28/9, 309. 360 Missverständlich daher Golczewski, Kölner Universitätslehrer (1988) 116, wonach Kelsen von einer »Vortragsreihe in Schweden« zurückkehrte, nur »um von seiner Absetzung als Dekan zu erfahren«; er verkürzt damit die – korrekte, jedoch ebenfalls zu Missverständnissen Anlass gebende – Darstellung bei Métall, Kelsen (1969) 61. 361 Kelsen, Autobiographie (1947) 36 = HKW I, 79 f.; vgl. dazu noch unten 549.
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2. Kapitel: Die Flucht
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davon auszugehen, dass er sich über den Ernst der Lage von Anfang an völlig im Klaren war und dass auch auf ihn persönlich Druck ausgeübt wurde, dass er sich aber später nicht, oder wenigstens nicht im Detail dazu äußern wollte, da er damals nach seinen eigenen Worten »nicht gerade ein Held«362 gewesen sei. Aufschlussreich dazu ist jene nur mündlich tradierte Begebenheit, wonach 1933 eines Tages der Befehl ergangen war, dass an jedem Haus eine Hakenkreuzflagge gehisst werden solle, und auch Hans Kelsen dafür war, die Flagge herauszuhängen, da es schließlich jedermann mache und er nicht wolle, dass seine Familie auffalle. Anna Kelsen war sehr wütend darüber; von ihr selbst wird erzählt, dass sie einmal einem jungen Deutschen in Nazijugend-Uniform (einem Hitlerjungen?) ins Gesicht gespuckt habe.363 Aber kann man wirklich ihr Verhalten als »mutig«, das ihres Vaters als »feige« bezeichnen? Eindringlich berichtet uns Métall von der Angst, die Kelsen in jenen Tagen durchlebte: »In seinem Heim in Marienburg, einer damals verhältnismäßig noch einsamen Gegend, hatte Kelsen seinen alten österreichischen Dienstrevolver [aus seiner Zeit als k. u. k. Offizier] aufbewahrt. Hätte man diesen bei einer der drohenden, überraschenden Hausdurchsuchungen gefunden, so hätte dies für Kelsen sehr schlimm ausgehen können. Nach längeren verzweifelten Versuchen, sich seiner zu entledigen, warf Kelsen ihn in eine Bananenschale eingewickelt in den Rhein, wo er jetzt mit dem Nibelungenring die Götterdämmerung des Nationalsozialismus überlebt hat.«364 Hans Kelsens Angst vor den Nationalsozialisten hatte ganz konkrete Gründe, denn offenbar wurde schon zu diesem Zeitpunkt persönlich Druck auf ihn ausgeübt. Darüber gibt eine auf den 10. April datierte und am 11. April bereits an den neuen Dekan adressierte Denkschrift Kelsens mit dem Titel »Meine Haltung in der Frage der sogenannten Dispensehe« Auskunft. In einem Begleitschreiben erklärte Kelsen, dass er mit diesem Memorandum »verschiedenen Missverständnissen entgegen« treten wolle, und bat, »es zu meinen Personalakten zu legen und davon wenn nötig Gebrauch zu machen.«365 Also verfolgte Kelsen die seinerzeit in Österreich geführte Debatte, die ja hauptursächlich für sein Weggehen aus Wien gewesen war, bis hierher! In der Denkschrift erläuterte Kelsen das Problem des § 83 ABGB und dass »die insbesondere von der Deutschnationalen Partei geforderte Angleichung des österreichischen Eherechtes an die Bestimmungen des deutschen Bürgerlichen Rechts an dem Widerstande der Christlichsozialen Partei scheiterte. Demgemäss erteilten Landeshauptleute, die den nationalen Parteien oder der in diesem Punkte mit den nationalen Parteien übereinstimmenden Sozialdemokratischen Partei nahe standen, 362 Hans Kelsen, Brief an Alfred Verdroß v. 10. 3. 1948, HKI, Nachlass Kelsen 16b12.59. (dort allerdings nicht konkret auf die Ereignisse des 11. 4. 1933, sondern allgemein auf sein Verhalten in der Zeit des Nationalsozialismus bezogen). 363 Anne Feder Lee, Interview v. 15. 10. 2006. – Bemerkenswerterweise erwähnen weder Hans Kelsen noch Hannah Oestreicher Kelsen diese Begebenheit in ihren Autobiographien. Beachte, dass in späterer Zeit Juden das Hissen der Hakenkreuzfahne ausdrücklich verboten war: § 4 Gesetz v. 15. 9. 1935 dRGBl I S. 1146. 364 Métall, Kelsen (1969) 62 f. 365 Hans Kelsen, Schreiben an Dekan Nipperdey v. 11. 4. 1933, UA Köln, Zug 598/143.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
derartige Ehedispense.« Es ist nicht zu übersehen, wie sehr Kelsen bemüht war, seinen Standpunkt als mit deutschnationalen Forderungen übereinstimmend darzustellen! Was seine eigene Position betraf, so legte Kelsen besonderen »Wert auf die Feststellung, daß [er] niemals gegen das Prinzip der christlichen Ehe in irgend einer Weise Stellung genommen habe.«366 Genau das aber dürfte der Kern der Anschuldigungen gegen Kelsen gewesen sein: Dass er damals gegen die christliche Ehe aufgetreten sei, und wohl auch, dass er sich auch sonst für die Sozialdemokratische Partei engagiert habe! Und noch von einer zweiten, zu anderen Zeiten vielleicht minder bedeutenden, Seite wurde Druck auf Kelsen ausgeübt: Die außerplanmässigen Assistenten der Universität (die in den vergangenen Jahren unter einem Personalabbau zu leiden gehabt hatten) richteten am 7. April einen gemeinschaftlichen Brief an den noch amtierenden Rektor Ebers, in dem sie sich über einige als besonders »ungerecht« empfundene Punkte beschwerten: Zuallererst wurde dabei die Tatsache genannt, dass »Herr Professor Dr. Kelsen in Herrn Kollegen Dr. Hula einen besonderen Assistenten hat, der nicht unter dem Abbau zu leiden hatte und dessen Tätigkeit nunmehr für die Universität sozusagen in nichts besteht. Dabei spielt die Tatsache auch eine Rolle, dass Herr Dr. Hula aus dem Ausland nach Deutschland geholt worden ist.«367 Auch andere Ungleichbehandlungen, auch aus anderen Fakultäten, wurden genannt, aber der Stachel gegen Hula – und damit auch gegen Kelsen – saß. »Am Dienstag Nachmittag verlief alles programmäßig«, berichtete Ernst Leupold später von der entscheidenden Senatssitzung.368 Fast alle Mitglieder des Weiteren Senats, darunter Rektor Ebers sowie zwei der vier Dekane – Kelsen und Leupold –, waren in der Sitzung vom 11. April anwesend (die zwei verreisten Dekane der wirtschafts‑ und sozialwissenschaftlichen und der philosophischen Fakultät, Leopold von Wiese sowie Herbert Schöffler, waren schon am Wochenende telegraphisch zum Rücktritt aufgefordert worden369). Leupold wurde mit 75 von 79 Stimmen zum neuen Rektor gewählt;370 im Anschluss wählten die Fakultäten die neuen Dekane, darunter Hans Carl Nipperdey zum Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät.371 Auch neue Senatoren wurden gewählt. »Die Wahl ist so ausgefallen, daß eine Gewähr dafür gegeben werden kann, daß in Zukunft alle akademischen Körperschaften in ausgesprochen nationalem Sinne arbeiten werden«, konnte Leupold an den seit Februar 366 Hans Kelsen, Brief an Dekan Nipperdey v. 11. 4. 1933, UA Köln, Zug 598/143. Vgl. auch Lepsius, Kelsen und der Nationalsozialismus (2009) 277. 367 Nicht unterschriebener Brief an den Rektor, datiert 7. 4. 1933, UA Köln, Zug 42/3973 I. 368 Leupold, zit. n. Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 591. 369 Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 590. 370 Vgl. die Anwesenheitsliste der Sitzung vom 11. 4. 1933, UA Köln, Zug 28/9, 312 mit der eigenhändigen Unterschrift Kelsens sowie das Wahlprotokoll, UA Köln, Zug 28/9, 320 (maschinschriftliche Abschrift ebd. 324). Das eigentliche Sitzungsprotokoll fehlt, vgl. dazu Golczewski, Kölner Universitätslehrer (1988) 70. 371 Aktennotiz 11. 4. 1933, UA Köln, Zug 571/105; vgl. Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 591. Es kann also keine Rede davon sein, dass Kelsen »in weiser Voraussicht« das Dekansamt niedergelegt hätte, wie dies Lepsius, Kelsen und der Nationalsozialismus (2009) 277, behauptet.
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2. Kapitel: Die Flucht
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amtierenden kommissarischen Leiter des preußischen Wissenschaftsministeriums, Bernhard Rust, berichten.372 Währenddessen, am 7. April 1933, hatte die Reichsregierung das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« (BBG) beschlossen.373 Sein § 3 bestimmte, dass alle »Beamte, die nicht arischer Abstammung sind« mit wenigen Ausnahmen in den Ruhestand zu versetzen seien; nach § 4 konnten überdies Beamte, »die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, […] aus dem Dienst entlassen werden.« Ein Ruhegeld wurde diesen Personen nur dann gewährt, »wenn sie […] mindestens eine zehnjährige Dienstzeit vollendet haben« (§ 8), in Härtefällen konnten individuelle Sonderregelungen getroffen werden (§ 9 Abs 4, § 16). Obwohl nicht ausdrücklich im BBG normiert, so wurde doch beschlossen, dass sechzehn Professoren, die voraussichtlich nach § 3 oder § 4 zu behandeln wären, sofort zu beurlauben seien, bis eine endgültige Entscheidung getroffen werden könne. Diese von Reichskommissar Rust unterzeichneten Beurlaubungsschreiben ergingen am Gründonnerstag, dem 13. April,374 am folgenden Tag wurden ihre Namen in den Zeitungen veröffentlicht. Als einziger Professor in Köln wurde Kelsen zwangsbeurlaubt.375 Er selbst berichtet über jenen Freitagmorgen: »Ich saß beim Fruehstueck und las den Koelner Stadtanzeiger; da sagte meine Frau, die mir gegenueber sass: Da steht dein Name auf der Rueckseite des Blattes! Es war die Nachricht von meiner Absetzung, die ich auf diesem Wege erfuhr«.376 Wie bereits betont, hatte Kelsen eine derartige Maßnahme zumindest bereits für möglich gehalten: Denn schon zwei Tage zuvor, am 12. April, hatte er dem Kuratorium geschrieben, dass er in Österreich eine Dienstzeit von 29 Jahren, 3 Monaten und 2 Tagen abgeleistet hatte, und dass bei den 1930 geführten Verhandlungen mit Ministerialrat Wolfgang Windelband ausdrücklich zugesichert worden war, dass diese angerechnet werden würden, auch was den Ruhegenuss betreffe.377 Dieses Schreiben kann nicht anders gedeutet werden, als dass er sich bereits zu diesem Zeitpunkt im 372 Ernst Leupold, Brief an Reichskommissar Bernhard Rust v. 13. 4. 1933, UA Köln, Zug 28/9, 322. Vgl. Golczewski, Kölner Universitätslehrer (1988) 71 f. 373 Gesetz v. 7. 4. 1933 dRGBl I S 175 zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Vgl. Stern, Staatsrecht V (2000) 833; Herlemann, Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (2009). 374 GStA PK, I. HA Rep 76, Va Sekt. 10, Tit. IV, Nr. 3 Bd. I, Bl. 393. Eine Kopie des Beurlaubungsbescheids für Kelsen auch in UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 122. 375 Kölner Stadtanzeiger Nr. 191 v. 14. 4. 1933; Kölnische Zeitung Nr. 206 v. 14. 4. 1933, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 117. Vgl. auch NFP Nr. 24637 v. 14. 3. 1933, 1. Von den sonstigen, zugleich mit Kelsen beurlaubten Professoren ist hier besonders Hermann Heller hervorzuheben, der bis dahin in Frankfurt a. M. gelehrt hatte. Er emigrierte über Großbritannien nach Spanien, wo er am 5. 11. 1933 in Madrid verstarb; vgl. Volkmann, Heller (2018) 471. 376 Kelsen, Autobiographie (1947) 36 = HKW I, 79 f. Vgl. dazu auch Métall, Kelsen (1969) 60; Lepsius, Kelsen und der Nationalsozialismus (2009) 271 f. Auch die »New York Times« berichtete schon am 14. 3. 1933 – auf ihrer Titelseite! – über die entlassenen »Jewish Educators«: Fleck, Etablierung (2015) 9. 377 Hans Kelsen, Schreiben an das Kuratorium der Universität Köln v. 12. 4. 1933, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 118.
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Klaren darüber war, dass er demnächst nach § 3 BBG in den Ruhestand versetzt werden würde, und dass die Frage, ob er Ruhegeld erhalten würde, wesentlich davon abhing, ob seine Dienstzeit in Österreich angerechnet werde oder nicht; denn in Preußen selbst hatte er nicht einmal drei Jahre gearbeitet! Auch stellte der neue Dekan, Nipperdey, offenbar auf Wunsch Kelsens, bereits am 12. April ein Schreiben an die Passstelle des Polizeipräsidiums Köln aus, in dem er angab, dass das »Mitglied der juristischen Fakultät Professor Dr. jur. Hans Kelsen beabsichtig[e], zu beruflichen, insbesondere wissenschaftlichen Zwecken auf kurze Zeit nach Wien zu reisen. Ich bitte, den Sichtvermerk auf dem beiliegenden Paß zu erteilen.«378 Der Vermerk wurde offenbar auch erteilt, denn Kelsen fuhr wenig später nach Wien, vermutlich am Ostersonntag, 16. April oder Ostermontag, 17. April.379 Sein Wienaufenthalt hatte freilich vor allem den Zweck, »von Wien aus mit ausländischen Universitäten und mit dem Genfer Institut Universitaire de Hautes Etudes Internationales Verhandlungen über seine künftige Tätigkeit ein[zu]leiten«.380 Darüber wird weiter unten mehr zu berichten sein.381 Aber auch der Direktor der London School of Economics, William Beveridge, der sich zufällig gerade in Wien aufhielt und von Mises über Kelsens Lage und dessen gleichzeitige Anwesenheit in Wien informiert worden war, suchte diesen auf und bot ihm von sich aus seine Hilfe an.382 Eine Rückkehr an die Universität Wien war »ungeachtet der dankenswerten Bemühungen, die sein Schüler und Freund Adolf Merkl […] zu unternehmen bereit war, aussichtslos und lag auch nicht in Kelsens Absichten«, schreibt Métall;383 und Kelsen vermerkt mit Bitterkeit: »Dass die Wiener Universitaet nicht das geringste tat um mir in irgendeiner Form die Fortsetzung meiner akademischen Taetigkeit zu ermoeglichen, versteht sich von selbst.«384 Die Situation in Österreich war zu dem Zeitpunkt für eine Rückkehr Kelsens freilich alles andere als günstig:385 Am 4. März war es im Nationalrat zu tumultartigen Szenen gekommen, in deren Verlauf alle drei Nationalratspräsidenten zurückgetreten waren, worauf die Bundesregierung unter ihrem Kanzler Engelbert Dollfuß die Behauptung aufstellte, das Parlament hätte sich »selbst ausgeschaltet« und – auch unter Hinweis auf den Ausgang der deutschen Reichstagswahlen vom 5. März – eine Reihe 378 Dekan Hans Nipperdey, Schreiben an die Passstelle des Polizeipräsidiums v. 12. 4. 1933, UA Köln, Zug 598/143. 379 Denn am Karfreitag befand er sich, wie erwähnt, ja noch in Köln; er hätte zu den Feiertagen wohl auch seine Vorhaben in Wien nicht ausführen können. Am 18. April ist er in der Wohnung seiner Mutter (Wien III., Marokkanergasse 20) polizeilich gemeldet, vgl. HKW I, 80 Anm. 243. 380 Métall, Kelsen (1969) 62. 381 Unten 564. 382 Feichtinger, Transatlantische Vernetzungen (2009) 321. Vgl. zum Treffen zwischen Beveridge und Mises, bei dem allgemein Überlegungen angestellt wurden, wie man jüdischen Wissenschaftlern helfen könne, auch Fleck, Etablierung (2015) 26–31. 383 Métall, Kelsen (1969) 62. 384 Kelsen, Autobiographie (1947) 37 = HKW I, 80. 385 Vgl. zu den hier nur kurz skizzierten Ereignissen zusammenfassend Berchtold, Verfassungsgeschichte I (1998) 697 ff.; R athkolb, Erste Republik (2015) 497 ff.
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2. Kapitel: Die Flucht
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von Notverordnungen erließ. So wurden unter anderem die Zensur teilweise wiedereingeführt und die Vereins‑ und Versammlungsfreiheit beschränkt; der Republikanische Schutzbund wurde aufgelöst; sowohl die Kommunistische Partei als auch die NSDAP erhielten ein Betätigungsverbot.386 Merkl schrieb am 9. März, nach Erlass der ersten Notverordnung, in der »Neuen Freien Presse«, dass diese nur der »Auftakt für viel radikalere Maßnahmen« sei, »die letzten Endes selbst vor dem Bestand des Verfassungsgerichtshofes nicht haltmachen« werden.387 Tatsächlich begann die sozialdemokratisch geführte Wiener Landesregierung am 14. März damit, mehrere von der Bundesregierung erlassene Notverordnungen – gestützt auf ihr Recht zur abstrakten Normenkontrolle nach Art. 139 B-VG – beim VfGH anzufechten. Diese Prüfungsanträge sollten in der für den 22. Juni anberaumten Sitzung beraten werden. Doch war die Bundesregierung schneller, indem es ihr gelang, mehrere Verfassungsrichter zum Rücktritt zu bewegen, und sie erließ auch eine Notverordnung, die die Beschlussfähigkeit des VfGH neu regelte, womit sie ihn komplett lahmlegte, bevor dieser über die Frage der Rechtmäßigkeit der Notverordnungen entscheiden konnte. Ein Appell der im Amt verbliebenen Verfassungsrichter an den Bundespräsidenten, den VfGH wieder beschlussfähig zu machen, blieb wirkungslos.388 Die wichtigsten Säulen des demokratischen und des rechtsstaatlichen Prinzips, auf denen ja auch die »Kelsen-Verfassung« beruhte, waren damit zusammengebrochen, und der Tag, an dem das B-VG selbst formell aufgehoben werden sollte, nicht mehr fern. Kelsen bekam diese Ereignisse wohl nur am Rande mit, viel wichtiger für ihn persönlich war, dass er, kaum in Wien angekommen, erneut seinen eigenen Namen in der Zeitung lesen musste. Denn am 18. April brachte die »Neue Freie Presse« folgenden Beitrag: »Die rechtsstehende ›Tägliche Rundschau‹ stellt angesichts der Berufung Einsteins an das Institut de France an die Reichsregierung die Forderung, sie möge den sechzehn beurlaubten deutschen Hochschulprofessoren sofort die Auslandspässe entziehen, denn niemand könne sonst dafür garantieren, daß nicht der eine oder andere von ihnen in kurzer Zeit in Paris, in Oxford oder in London sitze und dort von einer Lehrkanzel aus antideutsche Politik betreiben werde. Es sei dabei zu bedenken,
386 Ministerratssitzung vom 7. 3. 1933, in: MRP VIII/2 (1982) Nr. 851; Verordnung v. 7. 3. 1933 BGBl 41; Verordnung v. 13. 3. 1933 BGBl 55; Verordnung v. 26. 5. 1933 BGBl 200; Verordnung v. 19. 6. 1933 BGBl 240. Die Rechtsgrundlage für diese – und zahlreiche andere Verordnungen – war das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz v. 24. 7. 1917 RGBl 307. Das Verbot des Republikanischen Schutzbundes am 30. 3. erfolgte nicht aufgrund dieses Gesetzes, sondern auf vereinsrechtlicher Grundlage (freundlicher Hinweis von Prof. Ilse Reiter-Zatloukal). Vgl. zu den Ereignissen allgemein: Parlamentsdirektion (Hg.), Staats‑ und Verfassungskrise 1933 (2014). 387 Merkl, Die Suspension der Pressefreiheit (1933) = MGS II/2, 211–213; vgl. dazu auch Zavadil, Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofs (1997) 30. 388 Verordnung v. 23. 5. 1933 BGBl 191. Ausführlich dazu Zavadil, Ausschaltung des Verfassungsgerichthofs (1997) bes. 58 ff.; Walter, Ausschaltung (1998). Siehe auch Hinghofer-Szalkay, Rechtsnormvernichtung (2018) 365, zur Frage, inwieweit der Reinen Rechtslehre eine »Mitschuld« an diesen Vorgängen gegeben werden könne – eine Frage, die er letztlich mit guten Gründen verneint.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
daß einige der beurlaubten Professoren, wie Kelsen, Lederer und Bonn, über ganz ausgezeichnete Auslandsverbindungen verfügen.«389 Kelsen beschloss hierauf, sofort wieder nach Köln zurück zu fahren, was zunächst geradezu paradox erscheint, aber offensichtlich wollte er seine Frau und seine Kinder nicht im Stich lassen; auch hoffte er wohl, wenigstens Teile seines Vermögens ins Ausland schaffen zu können. Er telegraphierte seiner Frau, um sie von seiner bevorstehenden Rückreise zu informieren. Grete Kelsen bat hierauf Kelsens Assistenten Erich Hula, ihrem Gatten »nach Frankfurt oder Bonn entgegenzureisen und ihn dazu zu bringen, die Reise nach Holland fortzusetzen, um nicht in Deutschland in die Falle zu gehen.«390 Denn in Hans Kelsens Abwesenheit hatte bereits die Gestapo sein Haus in Marienburg aufgesucht391 – glücklicherweise hatte Kelsen den Revolver bereits entsorgen können! Ungeachtet der Warnungen seiner Frau kehrte Kelsen – offenbar schon am Mittwoch, dem 19. April – zurück, um seine Sachen zu ordnen und seine Familie mit nach Wien zu nehmen. Natürlich musste er nunmehr ein neues Gesuch um Ausreisebewilligung einreichen; und Dekan Nipperdey gab am 20. April gegenüber der Passstelle an, dass Kelsen »nochmals zu beruflichen Zwecken und zum Besuch seiner sehr erkrankten Mutter nach Wien« reisen wolle; gegen seine Ausreise bestünden keine dienstrechtlichen Bedenken (noch dauerten die Semesterferien an).392 Es war die Begründung mit der kranken Mutter natürlich eine sehr durchsichtige Ausrede, die wohl gewählt wurde, um zu erklären, weshalb nicht nur er, sondern auch seine Frau und seine beiden Töchter mitkommen sollten. Kelsen selbst gab seiner Ausreisebewilligung wenig Chancen; vielmehr hielt er es für »sicher«, dass er »als Pazifist, Verfasser der oesterreichischen demokratischen Verfassung, in ein Konzentrationslager gebracht werden wuerde.«393 Schließlich bekam Kelsen Hilfe von gänzlich unerwarteter Seite: Er erhielt »den Besuch eines mir bis dahin unbekannten Subalternbeamten der Universitaetsverwaltung, der mir sagte, er sei ein altes Mitglied der nationalsozialistischen Partei und habe daher Freunde im Polizeipraesidium; er sei bereit mir bei der Schaffung [sic] der 389 NFP Nr. 24540 v. 18. 4. 1933 (Abendblatt) 4; fast wörtlich auch bei Métall, Kelsen (1969) 62. – Albert Einstein (1879–1955), seit 1913 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik, stand nicht auf der Liste vom 13. 4.; er befand sich allerdings schon seit 1932 aus beruflichen Gründen im Ausland, vgl. Max v. Laue, Einstein, Albert, in: NDB IV (1959) 404–408. Zu Lederer vgl. schon oben 466; bei der zuletzt genannten Person handelte es sich um Moritz Julius Bonn (1873–1965) von der Handelshochschule Berlin; vgl. zu ihm http://www.wiwiss.fu-berlin.de/fachbereich/ ehrenpromotionen/bonn.html [Zugriff: 02. 05. 2019]. 390 Métall, Kelsen (1969) 62. 391 Anne Feder Lee, Interview v. 15. 10. 2006. – Tatsächlich legte die Gestapo einen Akt zu Hans Kelsen an, der diesem nach dem Krieg durch einen Mitarbeiter des US Chief of Counsel des Nürnberger Tribunals zur Kenntnis gebracht wurde. Der Akt enthält jedoch nur ein dürres Datengerüst von Kelsens Lebenslauf; er wird dort als »führender Völkerrechtler«, aber auch als »Emigrant, Jude« bezeichnet, der »sich heute in Amerika auf[halte]«: Max Mandellaub, Brief an Hans Kelsen v. 25. 7. 1946, in: HKI, Nachlass Kelsen 16c8.60. 392 Dekan Nipperdey, Schreiben an die Passstelle des Polizeipräsidiums v. 20. 4. 1933, UA Köln, Zug 598/143. 393 Kelsen, Autobiographie (1947) 36 = HKW I, 80.
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2. Kapitel: Die Flucht
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Ausreisebewilligung behilflich zu sein. Dieses Angebot nahm ich natuerlich dankbarst an und in der Tat erhielt ich die Bewilligung. Ich war der Meinung, dass mein Goenner eine groessere Geldsumme erwartete. Doch dies war durchaus nicht der Fall. Er lehnte jede Bezahlung entschieden ab. So hat mir dieser Nazi in hoechst uneigennuetzigerweise das Leben gerettet. Ich habe mir nicht einmal seinen Namen gemerkt.«394
3. Das Fakultätsschreiben Die Gleichschaltung der Universität Köln war ein beispielloser Vorgang gewesen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Ohne dass eine andere Universität ein Beispiel gegeben hätte, ohne dass eine direkte Weisung aus Berlin gekommen wäre, hatte Köln als erste Universität des Deutschen Reiches von sich aus die Universitätsleitung Personen anvertraut, die Gewähr dafür boten, »daß Rektor und Senat die Politik der Regierung der nationalen Erneuerung voll unterstützen«, wie Leupold auf der Rektorenkonferenz in Wiesbaden am 12. April 1933 nicht ohne Stolz verkündete. Und er setzte fort: »Der Herr Reichskommissar begrüßt dieses Vorgehen und empfiehlt den übrigen Universitäten und Hochschulen, ebenfalls eine entsprechende Gleichschaltung vorzunehmen.«395 Neun Tage später erging dann auch ein Ministerialerlass an die übrigen deutschen Universitäten und Hochschulen, welcher ihnen auftrug, überall dort, wo seit 1. Februar keine Rektorenwahlen stattgefunden hatten, »Rektor und Dekan und Senat spätestens sofort nach Semesterbeginn neu zu wählen«.396 An der Universität Köln bestand kein Handlungsbedarf: Sie war den deutschen Universitäten vorangegangen,397 hatte ihnen ein Beispiel gegeben und damit der gesamten scientific community Deutschlands einen Schaden zugefügt, der nie wieder gutgemacht werden konnte. Aber noch ein anderes beispielloses Zeichen setzte die Universität Köln in jenen Tagen: Am 18. April, demselben Tag, in dem Kelsen in der Zeitung lesen musste, man solle ihm seinen Reisepass abnehmen, und wohl auch die Gestapo sein Haus durchsuchte, verfasste die juridische Fakultät der Universität Köln ein Schreiben an Reichskommissar Rust, in dem sie darum bat, »die vorläufig verfügte Beurlaubung von Professor K[elsen] nicht in eine endgültige Maßnahme übergehen zu lassen, ihn vielmehr in seinem Lehramt zu belassen.«398 Das Schreiben hob zunächst hervor, dass 394 Kelsen, Autobiographie (1947) 36 = HKW I, 80. – Es wäre müßig, darüber zu spekulieren, um welche Person es sich damals gehandelt haben könnte, und ob sich Kelsen ihren Namen tatsächlich nicht merkte oder ihn aus welchen Gründen immer nicht nennen wollte. 395 Leupold in der Rektorenkonferenz 12. 4. 1933, zit. n. Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 592. 396 Ministerialerlass 21. 4. 1933, UI Nr. 800.1, UA Köln, Zug 28/9, 349. 397 Die Wahl Leupolds zum Rektor der Universität Köln erfolgte zehn Tage vor der Wahl von Martin Heidegger zum Rektor der Universität Freiburg i. Br., vgl. zu dieser Evans, Das Dritte Reich I (2003) 542. 398 Schreiben der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln an Reichskommissar Rust, 18. 4. 1933, UA Köln, Zug 598/143.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
»die Universität Köln als erste durch Neubesetzung ihrer Ämter die Gleichschaltung mit der nationalen Erhebung vorgenommen« habe, betonte also ihre Regimetreue, und befürwortete es auch, die Ernennung von »jüdische[n] Gelehrte[n], die zugleich marxistische Tendenzen verfolgten« und ihre Professur »z. T. auf Druck der sozialdemokratischen Partei […] erhalten haben«, zu überprüfen. »Aber gerade weil wir uns diesen Standpunkt zu eigen machen, halten wir uns verpflichtet darauf hinzuweisen, daß der Fall Kelsen anders liegt.« Sein Lebenslauf wurde skizziert und die Berufungsverhandlungen seit 1925 geschildert. Kelsen sei »niemals parteipolitisch hervorgetreten und insbesondere nicht Mitglied der sozialdemokratischen Partei« gewesen; vielmehr habe er »mehrere Schriften gegen den Marxismus publiziert. […] Die nationale Gesinnung Professor K.’s steht ausser Zweifel. Unermüdlich ist er in Wort und Schrift für den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich eingetreten« und habe sich auch schriftstellerisch »gegen den Vertrag von Versailles und die Kriegsschuldlüge« gewendet.399 »Fällt Professor K. somit nach unserer Auffassung nicht unter die Beamten, gegen die nach dem Gesetz vorzugehen ist oder vorgegangen werden kann, so muß zum Schluss betont werden, daß alle Mitglieder der Fakultät von der menschlich wertvollen Persönlichkeit K.’s stark erfüllt sind. Wissenschaftlich ist K. zweifellos einer der bedeutendsten Rechtstheoretiker der Gegenwart. Er ist Begründer einer unter seinem Namen international bekannten rechtswissenschaftlichen Schule, die zwar wie jede neue Richtung lebhaft bekämpft wird, aber allenthalben auch überzeugte Anhänger hat. […] eine Verabschiedung Professor K.’s wäre nicht nur ein empfindlicher Verlust für die Universität Köln, sondern auch eine Schädigung des Ansehens der deutschen Wissenschaft.« Im Archiv der Universität Köln befindet sich zu diesem Schreiben ein Konzept mit handschriftlichen Ausbesserungen, welches ein wenig Licht in die ansonsten dunkle Entstehungsgeschichte dieses bemerkenswerten Versuches der Fakultät, eines ihrer Mitglieder zu retten, bringt: Demnach wurde der Text nicht in einem Guss erstellt, sondern aus zumindest zwei verschiedenen Manuskripten zusammengefügt; offenbar wurde ein älterer Lebenslauf zerschnitten und die entsprechenden Passagen in den anderen Text eingeschoben, woraus sich manche Redundanzen erklären. Unklar bleibt allerdings, wer diese Arbeit vollführt hat: Naheliegend wäre Dekan Nipperdey, doch spricht das Konzeptschreiben gegen diese These: Denn in ihm wurde noch besonders betont, dass der »unterzeichnende Dekan […] zugleich Mitglied des Vertrauensausschusses der NSDAP der Universität« sei, was in der Reinschrift, wohl auf Nipperdeys Veranlassung, beseitigt wurde. Von den sonstigen Fakultätsmitgliedern ist ferner noch als Urheber auszuschließen der Strafrechtler Gotthold Bohne, von dem ein Schreiben überliefert ist, in dem er sein Einverständnis zum Fakultätsbrief 399 Explizit genannt wurden hiebei: Kelsen, Sozialismus und Staat (1923); Kelsen, Allgemeine Rechtslehre (1931); Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) »insbesondere S. 238« [gemeint ist das oben 365 erwähnte Zitat Conrad Ferdinand Meyers]; Kelsen, Durchführung des Anschlusses (1927); Kelsen, Zollunion und Völkerrecht (1931) 995–998; Kelsen, Zollunion zwischen Deutschland und Österreich (1931); Kelsen, Kriegsschuldfrage (1933).
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2. Kapitel: Die Flucht
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ausdrückte400 – und Carl Schmitt, der als einziger seine Unterschrift unter dem Dokument verweigerte! Unwahrscheinlich ist es ferner, dass der eben abgesetzte Rektor Ebers sich für Kelsen eingesetzt hätte, womit nur mehr drei Professoren – der Strafrechtler Albert Coenders, der Zivilrechtler Heinrich Lehmann und der Rechtshistoriker Hans Planitz – als mögliche Urheber in Betracht kommen. Der zuletzt Genannte erscheint am wahrscheinlichsten.401 Die fehlende Unterschrift Schmitts ist in der Literatur mehrfach hervorgehoben worden.402 Bemerkenswert ist darüberhinaus, dass das Konzept auch noch einen Schlussabsatz enthielt: »Die vorstehende Eingabe der Rechtsw. Fakultät befürworte ich hierdurch im Namen der Universität auf das wärmste […] d. Z. Rektor der Universität«, der jedoch durchgestrichen wurde und in der Reinschrift nicht mehr erschien. Also weigerte sich auch Leupold, Kelsen zu helfen.403 Kelsen hat von der Eingabe der Fakultät Kenntnis erlangt, und zwar durch Übersendung einer Kopie durch Dekan Nipperdey, begleitet mit den Worten: »Mögen Sie daraus die Überzeugung gewinnen, dass Sie nach wie vor das volle Vertrauen der Fakultät genissen [sic].«404 Kelsen hat sich zu dem Schreiben nie geäußert, es auch in seiner Autobiographie nicht erwähnt. Die menschliche Enttäuschung, die er von seinen Fakultätskollegen erfahren hatte, ist nur zu gut verständlich. Und wenn er sich ab 1933 fast ausschließlich an Nipperdey wandte, um ihn um Hilfe bei seinem – noch darzustellenden – Rechtsstreit um Auszahlung seiner Gehalts‑ bzw. Pensionsansprüche zu bitten, so muss dies nicht unbedingt ein Zeichen von besonderer freundschaftlicher Verbundenheit gewesen sein: Genauso gut kann es als Indiz dafür gelten, dass Nipperdey eine tiefe moralische Schuld gegenüber Kelsen abzutragen hatte.405 400 Gotthold
Bohne, Brief an Hans Carl Nipperdey, 17. 4. 1933, UA Köln, Zug 598/143. Die Familie Kelsen war mit der Familie Planitz, insbesondere mit Hans Planitz’ Ehegattin Eva Planitz, geb. Kohl, aber auch mit der Tochter Hedda, verehelichte Pletsch, eng befreundet: HKI, Nachlass Kelsen 16c9.61. Vgl. auch die Hervorhebung von Hans Planitz bei Métall, Kelsen (1969) 63, und den von ihm mitunterzeichneten Antrag, Kelsen 1947 in die ÖAW aufzunehmen, unten 770. 402 In der Reinschrift sind die Namen der Professoren mit Maschine geschrieben, lediglich Nipperdey hatte seine eigenhändige Unterschrift dazu gesetzt und damit beglaubigt, »daß die vorstehenden Namen handschriftlich vollzogen sind«. Der Name »Carl Schmitt« ist an der dafür vorgesehenen Stelle getippt, wurde jedoch durchgestrichen. Schmitt selbst notierte in seinem Tagebuch, dass Nipperdey bei ihm gewesen sei, er jedoch die »lächerliche Eingabe« nicht unterschrieben habe: Neumann, Schmitt (2015) 305. Vgl. ferner Métall, Kelsen (1969) 61; Golczewski, Kölner Universitätslehrer (1988) 117; Lepsius, Kelsen und der Nationalsozialismus (2009) 278. 403 Der damalige Studentenvertreter Jasper Gottschalk berichtete später, dass er am 18. 4. bei Kelsen war und sich danach beim Rektorat für ihn eingesetzt habe, worauf er zunächst ermahnt und später von seiner Funktion als Vorsitzender der juristischen Fachgemeinschaft enthoben wurde: Jasper Gottschalk, Brief an Hans Kelsen v. 7. 7. 1946, HKI, Nachlass Kelsen 16c4.60. 404 UA Köln, Zug 598/143. 405 Golczewski, Kölner Universitätslehrer (1988) 116, ist demgegenüber der Ansicht, dass Nipperdey »mit seiner jüdischen Urgroßmutter selbst nur knapp den Auswirkungen des Judenhasses entging.« Er belegt diese Behauptung allerdings nicht, möglicherweise stammt sie aus einem Interview, das er 1984 mit Nipperdeys Witwe führte. Angesichts der tragenden Rolle, die Nipperdey bei der »Gleichschaltung« der Universität Köln spielte, kann hier der Ansicht Golczewskis nicht gefolgt werden. 401
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Auch wenn man Nipperdeys Hilfe für Kelsen während und nach der NS-Herrschaft sicherlich positiv würdigen muss, so ist doch andererseits zu berücksichtigen, dass es ausgerechnet er als »Mitglied des Vertrauensausschusses der NSDAP der Universität« war, der schon ab dem 6. April 1933 maßgeblich zum Sturz Kelsens beigetragen hatte, ihm als Dekan nachgefolgt war und sich während des Sommersemesters 1933 mehrfach darum bemühte, nicht nur Kelsen, sondern auch Carl Schmitt, und damit einen »Vertreter der völkisch-nationalen Staatsrechtswissenschaft« für die Universität Köln zu erhalten.406 Doch das Wirken von Schmitt in Köln war nur kurz: Er erhielt noch während des Sommersemesters 1933 zunächst einen Ruf an die Universität München und dann an die Universität Berlin, welchen er schließlich mit Beginn des Wintersemesters 1933/34 annahm. Seine Kölner Antrittsvorlesung vom 16. Juni, in der er mit Kelsen abrechnete,407 war somit zugleich seine Abschiedsvorlesung. Das Jahr 1933 war tatsächlich, aber in anderer Weise als erhofft, der Höhepunkt für die Kölner Staatsrechtslehre. Es war ein Höhepunkt nur insoweit, als mit dem erzwungenen Weggang Kelsens und dem freiwilligen Abgang Schmitts der Niedergang einsetzte. Ebers wurde 1935 aus politischen Gründen vorzeitig emeritiert;408 die »Kölner Rechtswissenschaft sollte […] zwei Jahrzehnte benötigen, bis etwa der Stand von 1929 wieder erreicht wurde und man an die Weiterentwicklung gehen konnte.«409 Abschließend sei auch auf das weitere Schicksal der Assistenten Kelsens in Köln eingegangen. Was Friedrich August von der Heydte betraf, so richtete dieser am 24. April ein Gesuch an Winkelnkemper und an das Dekanat, ihn als Universitätsassistenten zu übernehmen. Dabei versuchte er auch, die Tatsache, dass er Parteigenosse und zugleich Mitarbeiter Kelsens war, zu rechtfertigen, und bezeichnete sogar einzelne Elemente der Reinen Rechtslehre, wie etwa die Betonung der Rechtspflicht gegenüber dem subjektiven Recht, als »ungeheuer wertvoll gerade für den Aufbau eines neuen deutschen Rechts in einem neuen deutschen Reich.«410 Doch erklärte Carl Schmitt, dass ein ehemaliger Mitarbeiter von Kelsen und Verdroß »für ihn keine geeignete Hilfskraft« sei.411 Von der Heydte zog hierauf seinen Antrag zu406 Dekan
Nipperdey, Schreiben an Rektor Leupold, 27. 7. 1933, zit. n. Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 461. 407 Meuthen, Chronik (1988) 40; vgl. auch Mehring, Schmitt (2009) 320 f. 408 Ebers folgte 1936 einem Ruf nach Innsbruck, wurde aber 1938, nach der NS-Machtübernahme in Österreich, erneut in den Ruhestand versetzt. Von 1945 bis zu seiner altersbedingten Emeritierung 1951 lehrte er erneut in Innsbruck, 1945–1950 war er auch Mitglied des österreichischen VfGH; vgl. Ebers, Selbstdarstellung (1952) 88–92. Er starb am 18. 5. 1958 in Innsbruck. 409 Heimbüchel, Die Neue Universität (1988) 468 (mit Insert einer Äußerung von Hermann Jahrreiß aus 1937). 410 Heydte, Schreiben an das Dekanat, 24. 4. 1933, UA Köln, Zug 42/3973 I. 411 So nach einem Bericht Winkelnkempers an Gauführer Krämer, 1. 1 2. 1933, UA Köln, Zug 9/235, 69 f. Dieser hatte Erkundigungen angestellt, ob Heydte, der auch Mitglied des NS-Juristenbundes war, politisch zuverlässig sei: UA Köln, Zug 9/235, 68. Winkelnkemper gab an, Heydte nicht persönlich zu kennen, übermittelte aber die Meinung Schmitts. Vgl. auch Golczewski, Kölner Universitätslehrer (1988) 303.
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2. Kapitel: Die Flucht
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rück.412 Es gelang ihm in der Folge, zurück an die Konsularakademie in Wien zu kehren, diesmal als Assistent von Alfred Verdroß.413 1935 erlangte er eine Assistentenstelle in Münster. Nach dem Krieg, in dem er u. a. als Fallschirmjäger eingesetzt und hoch dekoriert wurde, habilitierte er sich ausgerechnet bei Kelsens altem Gegner Erich Kaufmann in München und wurde später Professor des Völkerrechts in Mainz und Würzburg. Nichtsdestoweniger hielt er den Kontakt zu Kelsen aufrecht.414 Anders verlief der weitere Lebensweg von Erich Hula und Leo Gross, die aufgrund ihrer jüdischen Abstammung auch persönlich um ihr Leben fürchten mussten. Hula kehrte nach Österreich zurück, wo er in der Grazer und der Wiener Arbeiterkammer tätig war, aber auch beschloss, für britische Zeitungen zu schreiben, in der Hoffnung, dass die Briten, sobald sie umfassend informiert seien, ihre pro-deutsche Politik aufgeben würden.415 1938 musste er erneut emigrieren.416 Was aber Leo Gross betraf, so ging dieser zunächst nach London, 1935 nach Paris, wo er für das Institut international de coopération intellectuelle (die Vorgängerinstitution der UNESCO) arbeitete. Dort lernte er auch Gerda Fried, eine Tochter von Anna Fried und somit Nichte Grete Kelsens, kennen, zumal die 28-Jährige in Paris als Fotografin arbeitete; am 18. August 1938 heirateten die beiden. 1940 gelang ihnen die Flucht in die USA, wo Leo Gross ab 1941 an der Fletcher School of Law and Diplomacy lehrte.417 Dort, in den USA, lebte auch der Kontakt mit Hans und Grete Kelsen, die etwa zur selben Zeit nach Übersee geflohen waren, wieder auf. In seinen Briefen an Hans Kelsen nannte Gross seinen ehemaligen Lehrer fortan – wohl nicht ohne Koketterie – »Onkel Hans«.418
4. Die deutsche Staatsrechtslehre im Sog des Nationalsozialismus In Anbetracht der Sorgen um seine persönliche Existenz nahm Kelsen einen weiteren beruflichen Rückschlag, das erzwungene Ausscheiden aus dem Vorstand der Deutschen Staatsrechtslehrervereinigung, wohl eher gleichmütig hin – zumindest äußerte er sich später zu diesem Punkt kein einziges Mal. Immerhin verdeutlichte dieses Detail nur noch, wie radikal die Wandlung war, die sich 1933 in der deutschen 412 UA
Köln, Zug 42/3973 I.
413 Heydte, Ein Zeitzeuge erinnert sich (1987) 48. Vgl. auch Conze, Das Europa der Deutschen
(2005) 65. 414 Siehe noch unten 866. 415 Rutkoff/Scott, New School (1986) 103, 142; http://library.albany.edu/speccoll/findaids/ eresources/static/pdf/ger044.pdf [Zugriff: 02. 05. 2019]. Der genaue Zeitpunkt seiner Rückkehr nach Österreich ist ungewiss; noch am 22. 5. 1933 erklärt die Fakultät gegenüber dem Kuratorium, dass Hula »zu den allgemeinen Assistentengeschäften nicht herangezogen werden« könne, da er »vertragsmäßig zur ausschließlichen Verfügung des Herrn Kollegen Kelsen« stand: UA Köln, Zug 42/3973 I. 416 Unten 656. 417 Feichtinger, Transatlantische Vernetzungen (2009) 332; Ehs, Vertreibung in drei Schritten (2010) 164. 418 Kammerhofer, Gross (2008) 117; Marilyn Rinzler (geb. Gross), Interview v. 15. 9. 2013.
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Staatsrechtslehre vollzog.419 Denn schon wenige Wochen nach Hitlers Machtergreifung erklärten gleich fünf Staatsrechtslehrer, darunter das Vorstandsmitglied Otto Koellreutter, sowie auch Gerhard Anschütz und Carl Schmitt, ihren Austritt aus der Vereinigung.420 |b Mit Ausnahme von Anschütz handelte es sich um rechtsgerichtete bzw. nationalsozialistische Professoren, doch offenbar glaubte auch der Demokrat Anschütz nicht mehr an eine Zukunft dieser Vereinigung.421 Für 1933 war ein Treffen der Vereinigung in Marburg an der Lahn geplant, doch erklärte Erich Kaufmann, der damals für das Auswärtige Amt in Berlin arbeitete, die »hohe Bürokratie« befürchte, es werde bei der nächsten Tagung zu unabsehbaren Folgen – Loyalitätserklärungen zum neuen Regime einerseits, Bekenntnissen zum Rechtsstaat andererseits – kommen; man wünsche die »Vertagung auf unbestimmte Zeit«. Diesem Wunsch wurde entsprochen, was das faktische Ende der Vereinigung bedeutete.422 Nach Ansicht Smends und auch Koellreutters war diese Vorgehensweise auch gewählt worden, um Kelsen einen ehrenvollen Abgang zu ermöglichen, bzw. hatten sie Skrupel, ihn direkt abzusetzen.423 b| 1938 wurde die Vereinigung auch juristisch aufgelöst und erst nach dem Krieg wieder neu gegründet;424 Kelsen trat ihr nicht mehr bei.425 Wesentlich härter traf Kelsen eine andere Folgewirkung der NS-Machtergreifung in Deutschland. Auf die deutschen Verlagshäuser wurde massiver Druck ausgeübt, keine Werke von jüdischen oder politisch nonkonformen Autoren oder Herausgebern mehr zu verlegen. Daher musste u. a. der Berliner Verlag Julius Springer die Zusammenarbeit mit mehr als fünfzig Zeitschriftenherausgebern und ‑redakteuren einstellen.426 Der Wiener Ableger des Springer-Verlages lag, als formell eigenständiges Unternehmen, theoretisch nicht im Machtbereich des NS-Regimes; daher war es z. B. noch 1934 möglich, dass Gustav Radbruch (1933 in Deutschland nach § 4 BBG in den Ruhestand versetzt) in Wien bei Springer eine Biographie über Anselm von Feuerbach veröffentlichen konnte.427 Aber die Eigentümer des Verlages saßen in Deutsch419 Vgl.
dazu ausführlich Dreier, Staatsrechtslehre (2001).
420 So nach einer anonymen und undatierten Aufzeichnung »Die Stillegung der Vereinigung der
Deutschen Staatsrechtslehrer im April 1933 (nach einzelnen Notizen im Besitz von R. Smend)«, in: UB Göttingen, Nachlass Smend, Cod. Ms. R. Smend C 2, 119 f. Demnach behielt sich Koellreuter noch die Geschäftsführung des Vorstandes vor, »wohl in Erwartung baldiger Liquidation«. 421 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III (1999) 311. Vgl. zu Anschütz auch Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer (2010) 42 ff. 422 Manuskript »Stillegung« (wie Anm. 420). 423 Manuskript »Stillegung« (wie Anm. 420); Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III (1999) 311 f.; vgl. auch den bei Stolleis, a. a. O., zitierten Brief Koellreuters an Arnold Köttgen v. 21. 4. 1933, wonach Koellreutter Kelsen »nur« (!) »als Staatsrechtler kaltgestellt« (!) haben wollte. 424 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III (1999) 313. 425 1961 gratulierte der damalige Präsident der Vereinigung, Ulrich Scheuner, Kelsen zu dessen 80. Geburtstag und übermittelte ihm ein Einladungsschreiben für die Tagung, die im Oktober 1961 in Freiburg i. Br. stattfand: Ulrich Scheuner, Schreiben an Hans Kelsen v. 16. 9. 1961, in: HKI, Nachlass Kelsen 15c31.57. 426 Sarkowski, Der Springer-Verlag (1992) 332. Vgl. zur Situation der juristischen Zeitschriften nach der NS-Machtübernahme auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III (1999) 299. 427 Sarkowski, Der Springer-Verlag (1992) 366.
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2. Kapitel: Die Flucht
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land und waren aufgrund ihrer jüdischen Herkunft selber in einer besonders heiklen Position, weshalb sie den immer weiter gehenden Forderungen des Regimes nachgeben mussten. Dennoch wurden 1935 Julius Springer jun. (der nach NS-Gesetzen als »Jude« galt), 1942 auch sein Vetter Ferdinand Springer (nach NS-Gesetzen ein »Mischling ersten Grades«) gezwungen, aus dem Verlag auszuscheiden.428 Der Jahrgang 1933 der »Zeitschrift für Öffentliches Recht« erschien nur noch bei Springer Wien, nicht auch, wie bisher, bei Springer Berlin. 1934 jedoch wurde Kelsen »von der Redaktion und dem Verlag gezwungen, die Herausgeberschaft niederzulegen, mit der Begruendung, dass ein Jude als Herausgeber – einer in Oesterreich vor dem Anschluss erscheinenden wissenschaftlichen Zeitschrift! – nicht mehr tragbar sei.«429 Zu diesem Vorgang existieren keine Dokumente mehr.430 Im Kontext der gesamten Verlagsgeschichte erscheint die genannte Maßnahme als durchaus nachvollziehbarer Versuch, das Überleben der Zeitschrift zu retten. Immerhin verschwand Kelsen noch nicht vollständig aus der Titelei, sondern wurde alphabetisch unter die mittlerweile 15 Herausgeber gereiht, die nun also gleichberechtigt waren, während Kelsen bis dahin als Hauptherausgeber aufgetreten war. Dass die Nennung von Alfred Verdroß als Schriftleiter unverändert blieb und nunmehr sein Name in größeren Lettern als die aller anderen Herausgeber erschien, zeigt aber, dass er nun endgültig an die Spitze der Zeitschrift aufgestiegen war. Im Übrigen bezieht sich Kelsens allgemeiner Hinweis auf die »Redaktion« sicherlich auf Verdroß persönlich, und tatsächlich war das Verhältnis zwischen Kelsen und Verdroß für viele Jahre schwer beeinträchtigt. Dies hielt Kelsen aber nicht davon ab, auch nach 1933 noch Manuskripte bei der ZÖR einzureichen, die auch tatsächlich publiziert wurden.431 Erst ein von ihm wohl Ende 1937 eingereichter und Anfang 1938 auch schon gesetzter Aufsatz, in dem er sich mit der Völkerrechtslehre des Münsteraner Professors Heinrich Drost auseinandersetzte, konnte infolge des »Anschlusses« Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 nicht mehr gedruckt werden.432 Auch verschwand Kelsens Name nun vollständig 428 Sarkowski,
Der Springer-Verlag (1992) 341 f., 344, 372. Autobiographie (1947) 10 = HKW I, 45. Diese Passage wird bei Métall, Kelsen (1969) 17, wörtlich zitiert, jedoch – offenbar absichtlich – verfälscht wiedergegeben; es lautet dort: »Im Jahre 1934 mußte ich wegen der damaligen innerpolitischen [sic] Entwicklung in Österreich die Herausgeberschaft niederlegen.« Nach Walter, Kelsen und Verdroß (2004) 47, hatte Métall das Zitat »wegen erhobener Einwände« abgeändert. Von wem diese Einwände stammten, wird nicht gesagt, und ebensowenig, woher Walter sein Wissen bezog. 430 Jestaedt in HKW I, 45 Anm. 92; Puff, 100 Jahre ZÖR (2014) 613. – Es existieren keine belastbaren Quellen zur Frage, ob bei den Bücherverbrennungen, die im Mai 1933 in mehreren deutschen Städten stattfanden, auch Werke von Kelsen in die Flammen geworfen wurden. Vgl. aber Jestaedt, Wiener Summe (2019) LVII, wonach 1941 noch 636 Restexemplare von Kelsens »Allgemeiner Staatslehre«, die sich beim Buchbinder in Leipzig befanden, makuliert wurden, was »einer kalten Bücherverbrennung« gleichkam. 431 Kelsen, Die hellenisch-makedonische Politik (1933); Kelsen, Die Technik des Völkerrechts (1934); Kelsen, Revision des Völkerbundstatutes (1937). 432 Kelsen, Grundlegung der Völkerrechtslehre (1946/47) 20 Anm. 1 (Anmerkung der Redaktion). 429 Kelsen,
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
aus der Titelei. Die ZÖR wurde noch bis Ende 1944/Anfang 1945 fortgeführt, musste dann ihr Erscheinen einstellen und wurde 1946 unter ihrem alten Namen »Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht« neu begründet.433 Gleich als erster Aufsatz in Band 1 der »Neuen Folge« erschien Kelsens Aufsatz von 1938, gleichsam als später Versuch einer Versöhnung von Verdroß gegenüber seinem alten Lehrer.434
5. Ungewisse Zukunft »Im Spätfrühjahr 1933 verließ Kelsen zusammen mit Frau und Töchtern sein Haus in Köln […] Die meisten von Kelsens Kollegen in Köln, besonders Professor Planitz, wahrten ihm, trotz der damit für sie verbundenen Gefahr, ihre Freundschaft und begleiteten ihn zum Zug, mit dem er das ihm lieb gewordene Köln für eine ungewisse Zukunft verließ.«435 Die Reise ging zunächst nach Wien, wo Hans und Grete Kelsen in der Wohnung seiner Mutter, die beiden Töchter bei anderen Verwandten unterkamen.436 Maria Kelsen, die jüngere Tochter, wurde wieder in der Schwarzwald-Schule angemeldet, wo sie die restlichen eineinhalb Schuljahre verbrachte. Anna, die ältere, die in Köln kurz vor ihrem Abitur gestanden war, bereitete sich in Wien selbständig auf die österreichische Matura vor, die sie im Herbst 1933 erfolgreich absolvierte.437 Anfang Juli gönnte sich die Familie sogar einen Urlaub in Strobl am Wolfgangsee, was Kelsen auch gewissenhaft seinem Dienstgeber, der Universität Köln, meldete.438 Wie aber sollte es beruflich mit Hans Kelsen weitergehen? In Wien war der Kreis seiner Freunde dahingeschmolzen, was besonders deutlich wurde, als Max Layer im Sommer 1933 den autoritären Regierungsstil der österreichischen Bundesregierung in einer reichsdeutschen Zeitschrift scharf kritisierte und daraufhin vom Ministerium in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde.439 Merkl schlug sofort vor, Kelsen auf das 433 Puff,
100 Jahre ZÖR (2014) 609. Verdross, Schreiben an Hans Kelsen v. 10. 10. 1945, HKI, Nachlass Kelsen 16b12.59. 435 Métall, Kelsen (1969) 63. Er schreibt, dass die Fahrt direkt nach Strobl am Wolfgangsee ging, wohin die Familie allerdings erst im Juli auf Urlaub fuhr; schon im Mai erhielt Kelsen aber Post in Wien. Wahrscheinlicher ist daher die Darstellung von Kelsen Oestreicher, Times to remember (1977) 4, wonach die Familie bereits im April nach Wien fuhr. 436 Kelsen versah seine Schreiben aus Wien mit der Adresse seiner Mutter »Wien III., Marokkanergasse 20«, was zufolge eines Schreibens der Fakultät an das Kuratorium vom 5. 9. 1933, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 134, auch »bis auf weiteres« als seine Postanschrift galt. Vgl. auch Kelsen Oestreicher, Times to remember (1977) 4a, 5. 437 Kelsen Oestreicher, Times to remember (1977) 5. 438 Hans Kelsen, Schreiben an Dekan Nipperdey, 5. 7. 1933, UA Köln, Zug 598/143. 439 Auf Einladung des Nationalsozialisten Norbert Gürke hatten neun Mitglieder der Wiener Fakultät in der Zeitschrift »Verwaltungsarchiv« die aktuellen Entwicklungen in Österreich, namentlich die missbräuchliche Anwendung des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes und das Verbot der NSDAP in Österreich untersucht und teils scharf kritisiert; für drei von ihnen (Max Layer, Wenzel Gleispach, Hans Frisch) hatte dies die Versetzung in den Ruhestand zur Folge, während die anderen, darunter auch Merkl, ungeschoren davonkamen; vgl. dazu ausführlich 434 Alfred
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2. Kapitel: Die Flucht
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freigewordene Ordinariat zurückzuberufen,440 doch wurde seine Initiative lediglich von Verdroß unterstützt, während die übrigen Professoren eine Berufung von Ludwig Adamovich favorisierten, der sein Amt im Herbst 1934 antrat. Es kam lediglich 1935 – auf Initiative von Merkl, Verdroß und Adamovich – eine Einladung an Kelsen zustande, Gastvorträge zu halten, die dieser aber nicht annahm.441 Kelsen hatte sich offenbar ohnehin nur wenig Hoffnung auf einen österreichischen Lehrstuhl gemacht. Métall schreibt, dass Kelsen zunächst daran dachte, »sich in Zürich als Privatdozent zu habilitieren. […] Aber der Ordinarius an der Zürcher Universität Professor Dr. Fritz Fleiner und andere bedeuteten Kelsen, daß er in Zürich wenig zu erhoffen hätte.«442 Dies galt wohl auch für die anderen deutschsprachigen Universitäten in der Schweiz. So blieben nur die deutschsprachigen Hochschulen in der Tschechoslowakei – oder im fremdsprachigen Ausland, letzteres eine Alternative, die Kelsen zunächst vermeiden wollte, auch wenn es hier einige durchaus ernst zu nehmende Optionen gab.443 Nun wollte es der Zufall, dass schon seit 1930 der Lehrstuhl für Völkerrecht an der Deutschen Universität Prag unbesetzt war, zumal der letzte Professor, der völkerrechtliche Vorlesungen gehalten hatte, Heinrich Rauchberg,444 emeritiert worden war und bislang keiner der von der Fakultät vorgeschlagenen Völkerrechtler einen Ruf erhalten hatte.445 Bereits am 24. April 1933, also nur elf Tage nach Kelsens Zwangsbeurlaubung in Köln, richtete der tschechoslowakische Schulminister Dr. Ivan Dérer ein Schreiben an die juristische Fakultät der Deutschen Universität Prag, in der er von sich aus anregte, die Fakultät solle Kelsen als »Professor des Völkerrechts« vorschlagen. Aufgrund der »wissenschaftliche[n] Bedeutung Professor Kelsens« könne sogar auf eine »Begründung des Antrages durch ein Gutachten« verzichtet werden, ja noch mehr: Sollte Kelsen berufen werden, so sei die von der Fakultät 1931 erstellte Berufungsliste
Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 505–509 und passim. Es bleibt anzumerken, dass hierauf die Universität Köln (!) einen Ruf an Layer erteilte, den der mittlerweile 70jährige jedoch ablehnte: Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 508. 440 Adolf J. Merkl, Brief an Hans Kelsen v. 25. 5. 1947, HKI, Nachlass Kelsen 16b7.59. 441 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 513. 442 Métall, Kelsen (1969) 63. – Fritz Fleiner war kein Sympathisant des NS-Regimes, sondern rief auch in der NS-Zeit seine Landsleute zur Wahrung der demokratischen Ideale auf: Aubert, La science juridique suisse (2001) 26–28. 443 Kelsen, Autobiographie (1947) 37 = HKW I, 80, erwähnt – außer dem IUHEI – die London School of Economics sowie die New School of Social Research in New York. In der Vossischen Zeitung Nr. 287 v. 17. 6. 1933 (als Zeitungsausschnitt in UA Köln, Zug 571/105) wurde von einer Berufung Kelsens an die juristische Fakultät Belgrad berichtet. Und auch an der Jagiellonenuniversität Krakau wurde 1933 eine Berufung Kelsens beraten, vgl. Opałek, Reine Rechtslehre in Polen (1983) 51. 444 Geb. Wien 12. 4. 1860, gest. Prag 26. 9. 1938. Nach seiner Habilitation in Wien 1891 wurde Rauchberg 1896 Professor in Prag, 1911/12 Rektor. Der Statistiker und Verwaltungsrechtler wurde zwar mit völkerrechtlichen Vorlesungen betraut, trat aber nicht mit völkerrechtlichen Publikationen hervor. Vgl. Helmut Slapnicka, Rauchberg Heinrich, in: ÖBL 40. Lfg. (Wien 1983) 437 f. 445 Dazu näher Klabouch, Z pražskýh kelsenovskýh materiálú (1993) 1017.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
keineswegs hinfällig, vielmehr wurde der Fakultät geradezu ein zweites Ordinariat für Völkerrecht vorgeschlagen!446 Diese massive Intervention zugunsten Kelsens ging auf František Weyr zurück, der seinen ganzen, offenbar nicht unbeträchtlichen Einfluss beim tschechoslowakischen Staatspräsidenten Tomáš G. Masaryk geltend gemacht hatte, damit dieser den Namen Kelsens auf eine damals erstellte Liste »hervorragender Leute« setzte, deren Berufung in die Tschechoslowakei erleichtert werden sollte.447 Reichsdeutsche Zeitungen behaupteten später, dass Weyrs Vorstoß ursprünglich noch viel weiter gegangen wäre und dass dieser sogar angeregt hätte, »wegen des Falles Kelsen eine Gesetzesvorlage im Parlamente einzubringen, kraft welcher die Autonomie aller Hochschulen in der Tschechoslowakei in bezug auf die Professorenbestellung suspendiert würde!«448 Schulminister Dérer hätte dies abgelehnt und stattdessen zunächst bei der Deutschen Technischen Hochschule in Prag, und als dies erfolglos war, bei der Deutschen Universität Prag zugunsten Kelsens interveniert. Zuverlässige(re) Quellen als diese Zeitungsmeldungen existieren hierfür jedoch keine, und dass dies alles innerhalb von elf Tagen passiert sein soll, erscheint doch ein wenig unglaubwürdig. Es ist bezeichnend für die – weiter unten noch ausführlicher darzustellenden – Zustände an der Deutschen Universität Prag, dass das verlockende Angebot des Ministers, den weltberühmten Professor Kelsen zu holen und zusätzlich noch ein weiteres Ordinariat für Völkerrecht zu bekommen, dort nicht auf ungeteilte Zustimmung stieß. Der Rektor der Universität, Mariano San Nicolò (Professsor des Römischen Rechts und somit auch Mitglied der betroffenen Fakultät), protestierte heftig gegen die Intervention des Ministers, worauf dieser versicherte, keinen Druck ausüben zu wollen, was San Nicolò dazu veranlasste, dem Dekan der juristischen Fakultät, dem Rechtshistoriker Wilhelm Weizsäcker, zu bedeuten, dass die Sache keine Eile habe.449 Zugleich informierte der Rektor den Führer der sudetendeutschen 446 Schulminister Ivan Dérer, Schreiben an das Dekanat der juristischen Fakultät der Deutschen Universität Prag v. 24. 4. 1933, tschechisches Original und deutsche Übersetzung in: UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Hans Kelsen, F 59. Abgedruckt in deutscher Sprache auch bei Malý, Kelsen in Archivdokumenten (2018) 38 Anm. 3 (mit unrichtiger Datumsangabe). 447 So schon Métall, Kelsen (1969) 69; Weyr, Paměti 1 (1999) 418. Vgl. auch den von Jana Osterkamp gefundenen Aktenvermerk aus der Präsidentschaftskanzlei vom 19. 4. 1933 in: Archiv Pražského hradu, fond Kancelář prezidenta republiky, T 689/33, sowie Osterkamp, Kelsen in der Tschechoslowakei (2009) 306. Demgegenüber schreiben Kelsen, Autobiographie (1947) 39 = HKW I, 84, und, ihm folgend, Malý, Kelsen in Archivdokumenten (2018) 38, dass es der Prager Professor Franz Xaver Weiß war, der Kelsen eine Professur in Prag angeboten habe. Es ist schwer vorstellbar, dass Kelsen über die wahren Hintergründe im Unklaren blieb; wahrscheinlicher ist es, dass er die Tatsache, dass die Initiative nicht von der Fakultät gekommen war, verschweigen wollte. Zu Franz X. Weiß, der sich tatsächlich energisch für Kelsen einsetzte, vgl. noch unten 620. 448 So nach einem – undatierten, wohl vom 14. 5. 1930 stammenden – Zeitungsausschnitt des »Berliner Börsen-Couriers«, in: UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 125. Diese Behauptung findet sich später auch in anderen Blättern, so etwa in der Zeitung »Die Bewegung«, Zeitungsausschnitt in UA Köln, Zug 571/105. 449 Rektor Mariano San Nicolò, Schreiben an Dekan Wilhelm Weizsäcker v. 15. 5. 1933, in: UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Hans Kelsen, F 59.
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2. Kapitel: Die Flucht
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Studentenschaft über die Angelegenheit, worauf dieser die Studenten gegen Kelsen mobilisierte.450 Am 30. Mai boykottierten nationalistische Studenten die Vorlesung des mit Kelsen befreundeten Volkswirts Franz Xaver Weiß mit einem »Pfeifkonzert« und den Rufen: »Fort nach Moskau! Niemals Kelsen! Fort mit den jüdischen Universitätsprofessoren!«451 Nichtsdestoweniger wurde noch im Mai eine Berufungskommission eingesetzt, die über eine »allfällige Ergänzung des völkerrechtlichen Besetzungsvorschlages« beraten sollte. Der Vorsitzende dieser Kommission war der Verwaltungsrechtler Rudolf Schranil. Er gehörte zu den »Aktivisten«, also zu jenen Personen, die sich aktiv um ein friedliches Zusammenleben von Tschechen und Deutschen in der ČSR bemühten.452 Am 8. Juni erstattete er dem Fakultätskollegium namens der Kommission Bericht,453 sprach ausführlich über Kelsen und hob dessen internationale Tätigkeit hervor, sowie auch die Tatsache, dass Kelsen (seit dem 5. Juli 1921) Mitglied der angesehenen »Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen« war.454 Die Kommission schlug vor, Kelsen ex aequo mit den beiden bereits 1931 nominierten Professoren, Walter Schätzel (Kiel) und Gustav Walz (Marburg) auf eine List zu setzen. Gegen diesen Vorschlag sprach sich jedoch ausgerechnet Fritz Sander, seit 1930 Professor für Verfassungsrecht an der Deutschen Universität Prag, aus. Er forderte, die Abstimmung auf das kommende Wintersemester (in welchem er das Amt des Dekans innehaben würde) zu verschieben.455 Ganz offensichtlich war die Aussöhnung zwischen Kelsen und Sander im Jahr 1925 nur eine oberflächliche gewesen, die die tiefen Wunden, die der Konflikt hinterlassen hatte, nicht zu heilen vermocht hatte. Dass Kelsen und Sander nun gleichberechtigte Professoren an derselben Fakultät werden, einander womöglich jeden Tag auf den Gängen und im Professorenzimmer begegnen sollten, musste unbedingt verhindert werden. Der Nationalökonom Oskar Engländer brachte den vermittelnden Vorschlag ein, dass der Kommissionsantrag sofort angenommen, aber im Herbst nochmals über die Sache verhandelt werden solle,
450 Wolfram
v. Wolmar, Prag und das Reich (1943) 631. Kölner Stadtanzeiger Nr. 272 v. 31. 5. 1933, als Zeitungausschnitt in UA Köln, Zug 17/IIII, 1869a, 127; vgl. auch NFP Nr. 24682 v. 31. 5. 1933, 3. Im »Prager Tagblatt« findet diese Begebenheit keine Erwähnung. 452 1925 hatte er in den von Kelsen mitherausgegebenen »Wiener staatswissenschaftlichen Studien« eine Monographie veröffentlicht: Schranil, Besteuerungsrecht (1925). 453 Kommissionsbericht, betreffend die Erweiterung des Vorschlages wegen Wiederbesetzung der völkerrechtlichen Lehrkanzel v. 8. 6. 1933, in: UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Hans Kelsen, F 59. 454 AAV ČR, Fond Německá akademie, Karton 22, Kelsen Hans. Das mit 5. 7. 1921 datierte Ernennungsschreiben für Hans Kelsen in HKI, Nachlass Kelsen 15a47.57. Die 1890 gegründete Gelehrtengesellschaft wurde 1941, in der NS-Zeit, zur »Deutschen Akademie der Wissenschaften in Prag« umgewandelt, jüdische Mitglieder wurden ab 1939 aus der Gesellschaft ausgeschlossen; vgl. Míšková, Die Deutsche (Karls‑)Universität (2007) 141. 455 Kopie des Protokolls über die außerordentliche Sitzung des Professorenkollegiums vom 8. 6. 1933, in: UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Hans Kelsen, F 59. 451
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
was mit 9:3 Stimmen auch angenommen wurde. Die drei Gegenstimmen waren von Rektor San Nicolò, Dekan Weizsäcker und Professor Sander gekommen.456 Damit war Prag eine mehr als unsichere Option geworden. Aber Hans Kelsen hatte nicht nur auf diese Karte gesetzt: Wie bereits berichtet, hatte er das Osterwochenende in Wien (16. April) auch dazu benutzt, seinem Freund William Rappard zu schreiben, und schon am 21. April kam die Antwort aus Genf, Kelsen könne jederzeit ans IUHEI kommen.457 Auch hier war das Glück Kelsen hold, denn einer der beiden Rechtsprofessoren des IUHEI, Georges Scelle458, war erst vor kurzem an die Sorbonne wegberufen worden, sodass eine planmäßige Stelle für Kelsen frei geworden war. Rappard setzte sich in weiterer Folge mit dem Vorsitzenden des Exekutivkomitees des IUHEI, Paul Lachenal, in Verbindung und schlug ihm vor, Kelsen auf drei Jahre mit einem jährlichen Gehalt von 25.000 CHF (ca. 20.600 RM459) anzustellen; er solle zumindest eine einstündige Vorlesung über Völkerrecht, sowie zwei Stunden öffentliche Vorträge pro Woche halten. Tatsächlich genehmigte das Exekutivkomitee diesen Plan und berief Kelsen zu den genannten Bedingungen nach Genf: Er solle seinen Dienst am 15. Oktober 1933 antreten.460 Kelsen erhielt das Berufungsschreiben aus Genf just, als das Berufungsverfahren in Prag in seine »heiße Phase« geriet, nur so ist es erklärlich, dass er auf das Schreiben Rappards zwar positiv, aber nicht geradezu enthusiastisch reagierte: Vielmehr lavierte er noch, erklärte, dass er noch immer formell im Dienststand der Universität Köln sei und großes Interesse habe, seine dortigen Angelegenheiten so reibungslos wie möglich mit dem zuständigen Berliner Ministerium zu regeln; frei könne er sich erst entscheiden, wenn er offiziell pensioniert oder entlassen werde.461 Was er nicht schrieb, war, dass das Angebot aus Genf zwar sehr großzügig war, aber doch eine empfindliche Gehaltseinbuße für Kelsen gegenüber dem fürstlichen Gehalt, das er 456 Osterkamp, Kelsen in der Tschechoslowakei (2009) 307; Olechowski/Busch, Kelsen als Professor an der Deutschen Universität Prag (2010) 1114; Malý, Kelsen in Archivdokumenten (2018) 40. Unrichtig daher Wolfgang Wolfram v. Wolmar, Prag und das Reich (1943) 631, wonach die Abstimmung zuungunsten Kelsens ausgegangen sei. 457 William R appard, Schreiben an Hans Kelsen v. 21. 4. 1933, in: AHEI, Ordner Hans Kelsen correspondance en désordre. 458 Geb. Avranches/F 19. 3. 1878, gest. Paris 8. 1. 1961. Scelle war 1929–1932 am IUHEI, 1932–1948 an der Sorbonne, 1948–1960 für die ILC tätig. Seine Völkerrechtslehre weist einige Parallelen zu jener Kelsens auf, vgl. Schwaighofer, Kelsens Kritik (1988); Tanka, Scelle (1990). 1938 schickte Kelsen an Scelle ein umfangreiches Manuskript, in dem er sich mit dessen Lehre auseinandersetzte und erbat sich eine Rückmeldung vor Veröffentlichung, die jedoch unterblieb, weshalb das Manuskript erst nach dem Tod Kelsens aus dessen Nachlass herausgegeben wurde: Kelsen, Recht und Kompetenz (1987). 459 Die Umrechnung von CHF in RM erfolgte nach den Werten v. 4. 5. 1933, vgl. Wiener Zeitung Nr. 104 v. 5. 5. 1933, 11. Laut https://www.eurologisch.at/docroot/waehrungsrechner/#/ [Abfrage vom 27. 11. 2019] entspricht dies einer Kaufkraft von heute (2019) ca. € 123.324,97. 460 William R appard, Schreiben an Paul Lachenal v. 5. 5. 1933; William R appard, Schreiben an Hans Kelsen v. 24. 5. 1933, beide in: AHEI, Ordner Hans Kelsen correspondance en désordre. Vgl. dazu auch Feichtinger, Wissenschaft zwischen den Kulturen (2001) 69. 461 Hans Kelsen, Brief an William Rappard v. 31. 5. 1933, in: AHEI, Ordner Hans Kelsen correspondance en désordre.
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2. Kapitel: Die Flucht
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in Köln bezogen hatte, bedeutete. Zwar war es ihm gelungen, ca. 60.000 CHF aus Deutschland zu schaffen, die ihm jährliche Zinsen von ca. 1.500 CHF einbrachten; an Gutachten, Honoraren und ähnlichem bezog er weitere 5.000 CHF pro Jahr. Zusammen mit dem angebotenen Gehalt machte dies ca. 31.500 CHF oder umgerechnet 25.500 RM aus, was aber noch immer wesentlich weniger war als die 30.000 RM, die er in Köln verdient hatte.462 Vor allem aber konnte Rappard Kelsen nur eine befristete Stelle anbieten, die 1936 – wenn Kelsen 55 Jahre alt war – auslief und die mit keinerlei Ruhegenüssen verbunden war! Am 10. Juni 1933, zwei Tage, nachdem das Prager Fakultätskollegium beschlossen hatte, mit einer definitiven Beschlussfassung noch zuzuwarten, schrieb Kelsen erneut an Rappard und erklärte, das Genfer Angebot annehmen zu wollen.463 Wir dürfen annehmen, dass er per Telegramm oder Telefon vom Ergebnis der Prager Beratungen informiert worden war. Am 20. Juni richtete Kelsen ein Schreiben an das preußische Wissenschaftsministerium, in dem er von der Einladung des IUHEI berichtete und um das Einverständnis des Ministeriums bat, die Einladung annehmen zu dürfen, zugleich bat er um Pensionierung in Köln mit 1. Oktober 1933. Mit Erlass vom 7. Juli erklärte das Ministerium »dass gegen die Annahme der Einladung […] Einwendungen nicht zu erheben« waren, und kündigte an, dass auch dem Pensionierungswunsch Kelsens demnächst entsprochen werden würde.464 Am 11. September 1933 wurde Kelsen vom preußischen Wissenschaftsministerium in den Ruhestand versetzt, und zwar gem. § 3 BBG.465 Damit war nun auch amtlich, dass es nicht Kelsens politische Haltung, sondern seine jüdische Abstammung gewesen war, die ihn das Lehramt gekostet hatte. 462 So nach Kelsens – übereinstimmenden – Angaben gegenüber dem Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars, NY Public Library http://legacy.www.nypl.org/research/chss/ spe/rbk/docs/mssfile2665.pdf [Zugriff: 02. 05. 2019], und gegenüber dem Londoner Academic Assistance Council, Bodleian Library, MS. SPSL 267/9 fol. 234. Vgl. auch Hans Kelsen, Schreiben an die Kölner Fakultät v. 29. 3. 1934, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 155; UA Köln, Zug 598/143. Die Umrechnung von CHF in RM erfolgte nach den Werten v. 31. 7. 1933, vgl. Wiener Zeitung Nr. 181 v. 1. 8. 1933, 8. 463 Hans Kelsen, Schreiben an William Rappard v. 10. 6. 1933, in: AHEI, Ordner Hans Kelsen correspondance en désordre. 464 Hans Kelsen, Schreiben an das preußische Wissenschaftsministerium v. 20. 6. 1933, GStA PK, I. HA Rep 76, Va Sekt. 10, Tit. IV, Nr. 3 Bd. I, Bl. 413; Ministerialerlass v. 5. 7. 1933, UI Nr. 21921, UA Köln, Zug 598/143; vgl. auch Lepsius, Kelsen und der Nationalsozialismus (2009) 279. Wie aus einem Schreiben von Nipperdey an Kelsen v. 26. 6. 1933, UA Köln, Zug 598/143, hervorgeht, hatte Kelsen offenbar parallel dazu einen »Privatbrief« an Ministerialrat Achelis verfasst, der Inhalt desselben ist unbekannt. 465 Ministerialerlass v. 11. 9. 1933, UI Nr. 23058, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 141. Dies wird auch von Lepsius, Kelsen und der Nationalsozialismus (2009) 272, korrekt dargestellt dennoch aus unerfindlichen Gründen behauptet, dass Kelsen »der Sache nach aus politischen Gründen entlassen worden« sei. Damit ist die durchaus bedeutsame Unterscheidung zwischen Pensionierungen (nicht Entlassungen!) nach § 3 und § 4 erst wieder verwischt: für die Diskussion in Prag z. B. war es wesentlich, dass nicht etwa Kelsens Affinität zur Sozialdemokratie den Ausschlag für seine Pensionierung gegeben hatte.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Nun stand Kelsens Dienstantritt in Genf nichts mehr im Wege – da erreichte ihn aus Leiden in den Niederlanden eine Einladung, im kommenden Wintersemester an der dortigen juristischen Fakultät eine Vorlesung über Rechtsphilosophie zu halten. Kelsen schrieb an Rappard, ob dieser damit einverstanden sei, wenn er zuerst nach Holland fahren und erst danach, etwa im November, in die Schweiz kommen würde, worauf Rappard, dessen Gutmütigkeit auch ihre Grenzen hatte, ihm entgegnete, dass es schade wäre, wenn Kelsen gleich in seinem ersten Semester am IUHEI nicht pünktlich zu Semesterbeginn anwesend sei. Kelsen begriff sofort und versprach, rechtzeitig in Genf zu sein.466 Tatsächlich übersiedelte Kelsen Mitte September 1933 mit seiner Frau und der älteren Tochter Anna von Wien nach Genf, wo er zunächst eine Wohnung in der Rue de Lausanne 123 bezog,467 vom Genfer See nur durch einen Park getrennt. Im Dezember wechselte die Familie in eine Wohnung in einem erst kurz zuvor errichteten Haus in der Avenue Gaspard Vallette 7,468 die vor allem den Vorteil einer größeren Nähe zum damaligen Sitz des IUHEI in der Promenade du Pin bot. Im Sommer 1934 folgte Maria Kelsen, nachdem sie in Wien die Matura erfolgreich abgelegt hatte, ihren Eltern nach Genf; sie erlernte den Beruf einer Bibliothekarin und bekam eine Anstellung in der Bibliothek des Völkerbundes, während Anna im Herbst 1933 ein Studium der Politikwissenschaften an der Universität Genf begann.469 Das IUHEI hatte die Übersiedlung mit 2.000 CHF großzügig unterstützt;470 Kelsens ehemalige Schülerin Margit Kraft-Fuchs organisierte das Verpacken und den Abtransport von Kelsens Büchern und Manuskripten von seiner Kölner Wohnung nach Genf.471 Der Kölner Fakultät gegenüber erklärte er, nach Räumung seiner Wohnung in der Mehlemerstraße eine neue, kleinere Wohnung in Köln mieten und auch dort wohnen zu wollen, »wenn ich in Genf nicht beschäftigt bin.« (In einem späteren Brief wurde auch eine Wohnung in Offenbach am Main genannt.472) Diese Erklärungen hatten ausschließlich rechtliche Gründe, zumal die Dresdner Bank, bei der Kelsen sein Gehaltskonto führte, dieses zu einem »Auslandskonto« gemacht hatte, was zur Folge hatte, dass Verfügungen über dasselbe nur mit Genehmigung der Devisenbewirtschaftungsstelle durchgeführt werden konnten, solange Kelsen nicht nachweisen
466 Hans Kelsen, Briefe an William Rappard v. 23. 6. und v. 28. 6. 1933; William R appard, Brief an Hans Kelsen v. 26. 6. 1933, alle in: AHEI, Ordner Hans Kelsen correspondance en désordre. 467 Hans Kelsen, Schreiben an das Dekanat der juristischen Fakultät Köln v. 16. 9. 1933, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 135. 468 Schreiben der Kölner juristischen Fakultät an das Kuratorium der Universität Köln v. 29. 1 2. 1933, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 148. 469 Kelsen Oestreicher, Times to remember (1977) 6. 470 William R appard, Schreiben an Hans Kelsen v. 13. 6. 1933, in: AHEI, Ordner Hans Kelsen correspondance en désordre. 471 Stolleis, Kraft-Fuchs (2008) 231. Vgl. die Erwähnung einer »befreundeten Dame aus Frankfurt« im Schreiben Kelsens v. 17. 9. 1933, UA Köln, Zug 598/143. 472 UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 138.
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2. Kapitel: Die Flucht
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konnte, dass er weiterhin in Deutschland steuerpflichtig war.473 Ob es diese neue Wohnung jemals gab, ist unbekannt, sicherlich wurde sie von ihm niemals benutzt. Hans Kelsen betrat bis 1945 nie wieder deutschen Boden, zumal ihn dies in Lebensgefahr gebracht hätte. Aber auch die Entscheidung für die Schweiz war in den Augen Kelsens noch keine endgültige: Am 17. September 1933 richtete er, bereits von Genf aus, ein Schreiben an Nipperdey, in dem er ihm davon berichtete, dass die »Prager Angelegenheit derzeit für mich sehr günstig« stehe. Er bat Nipperdey, beim preußischen Ministerium eine Bescheinigung zu bewirken, dass gegen die Annahme der Berufung an die Deutsche Universität Prag keine Bedenken bestünden, ähnlich, wie dies im Juli ja schon in Bezug auf Genf erfolgt war. Nochmals betonte Kelsen, dass es sein »innigster Wunsch« sei, »an einer deutschen Hochschule weiter wirken zu können.« Es bestünden jedoch bei einigen Kollegen in Prag »Bedenken«, dass sich ihre eigenen »Chancen einer Berufung nach Deutschland« verschlechtern würden, wenn sie nun Kelsen zu Hilfe kommen würden; ein entsprechendes Schreiben des Ministeriums würde diese Bedenken sicherlich zerstreuen.474 Tatsächlich leitete die Kölner Fakultät den Wunsch Kelsens an Berlin weiter, stieß dort aber nunmehr auf vehementen Widerstand: Ministerialrat Johann Daniel Achelis beschied dem Kuratorium, »daß gegen die Annahme einer Professur an der Deutschen Universität in Prag durch Professor Kelsen grundsätzliche Bedenken bestehen«, ohne dass diese Bedenken näher erläutert wurden. Nipperdey riet Kelsen, die »Prager Angelegenheit nicht weiter zu verfolgen.«475 Dort, in Prag, wurde erst am 24. Oktober erneut über Hans Kelsens Berufung debattiert und der Besetzungsvorschlag vom Juni erneut vom Fakultätskollegium angenommen, diesmal jedoch nur mehr mit 7:5 Stimmen (statt wie zuvor mit 9:3). Die Zahl der Gegner Kelsens an der Fakultät war größer geworden, namentlich um Otto Peterka (der so wie Weizsäcker die Deutsche Rechtsgeschichte lehrte) und Egon Weiß (der so wie San Nicolò ein Vertreter des Römischen Rechts war).476 Offenbar war auch der aus München stammende Zivilprozessualist Robert Neuner bedrängt worden, gegen Kelsen zu stimmen, hatte es sich aber dann doch anders überlegt. Jedenfalls berichtete die Deutsche Gesandtschaft in Prag, die offenbar genau über 473 Hans Kelsen, Brief an Hans Carl Nipperdey v. 29. 7. 1933, UA Köln, Zug 598/143; UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 138. 474 Hans Kelsen, Schreiben an Hans Carl Nipperdey v. 17. 9. 1933, UA Köln, Zug 598/143. 475 Hans Carl Nipperdey, Schreiben an das Wissenschaftsministerium v. 21. 9. 1933, GStA PK, I. HA Rep 76, Va Sekt. 10, Tit. IV, Nr. 3 Bd. I, Bl. 444; Bl. 445; Johann Daniel Achelis, Schreiben an das Kölner Kuratorium v. 30. 10. 1933, UA Köln, Zug 598/146; Hans Nipperdey, Schreiben an Hans Kelsen v. 4. 11. 1933, UA Köln, Zug 598/143. Vgl. Golczewski, Kölner Universitätslehrer (1988) 122. 476 Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Professorenkollegiums vom 24. 10. 1933 in UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Hans Kelsen, F 59; vgl. auch Kelsen, Autobiographie (1947) 40 = HKW I, 84; Schenk, Hans Kelsen in Prague (1971) 615; Osterkamp, Kelsen in der Tschechoslowakei (2009) 307; Olechowski/Busch, Kelsen als Professor an der Deutschen Universität Prag (2010) 1120.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Abb. 35: Hans Kelsen als »Kopf des Tages« im Zeitungskopf des »Prager Tagblattes« vom 3. November 1933.
die Vorgänge an der Fakultät Bescheid wusste, nach Berlin: »Dem Dolchstoß des Reichsdeutschen Neuner ist dieses Ergebnis zu verdanken. Hätte Neuner anders gestimmt, so hätte bei gleicher Stimmenzahl (6:6) der Dekan Sander den Ausschlag gegen Kelsen gegeben.«477 Nach Machtübernahme der Nationalsozialisten 1939 wurde Neuner zur Auswanderung in die USA gezwungen, allerdings nicht wegen seines Abstimmungsverhaltens zugunsten Kelsens, sondern aufgrund seiner eigenen jüdischen Abstammung. Die bei der Abstimmung unterlegenen Professoren – San Nicolò, Egon Weiß, Peterka, Weizsäcker und Sander – sowie auch, als einziger der Kelsen-Befürworter, Franz Xaver Weiß, legten dem Fakultätsprotokoll vom 24. Oktober 1933 »Erklärungen« bei, in denen sie ihr Abstimmungsverhalten gesondert begründeten. Sander wies in seiner Erklärung zunächst auf die Berufung Kelsens nach Genf hin, und dass dieser sich nicht mehr in einer Notlage befinde. Ganz offen sprach er über seinen alten Konflikt mit seinem ehemaligen Lehrer: Zwar hege er »gegenwärtig gegen Kelsen keinerlei Feindschaft«, hatte aber auch nicht damit gerechnet, dass »sich mit Kelsen noch jemals nähere Berührungspunkte ergeben würden,« geschweige denn, dass beide an derselben Fakultät lehren würden. Eine Berufung gegen Sanders Willen sei geradezu »eine Vergewaltigung [s]einer Person«! Auch wies Sander auf die »Streitigkeiten« hin, die Kelsen mit Ehrlich, Hold-Ferneck, Schwind, Smend und Schmitt gehabt hatte, und äußerte die Befürchtung, dass Kelsen »für die Fakultät eine Quelle steter Unruhe werden würde«.478 F. X. Weiß betonte in seiner Erklärung, dass er keineswegs einen unfreundlichen Akt gegen Sander hatte setzen wollen, sondern davon ausgegangen war, dass der Streit mit Kelsen beigelegt sei. In Anspielung auf die Studentenproteste in seiner eigenen Vorlesung betonte F. X. Weiß aber auch, dass Kelsen kein Marxist sei, 477 Bericht von Dr. Koch (Deutsche Gesandtschaft in Prag) an das Auswärtige Amt vom 11. 11. 1933, GStA PK, I. HA Rep 76, Va Sekt. 10, Tit. IV, Nr. 3 Bd. I, Bl. 464; vgl. Lepsius, Kelsen und der Nationalsozialismus (2009) 274 Anm. 17. Vgl. dazu auch Wolfram v. Wolmar, Prag und das Reich (1943) 634, der Schranil (der ebenfalls für Kelsen votierte) die »Schuld« am Abstimmungsergebnis gab. 478 Fritz Sander, Erklärung v. 26. 10. 1933, in: UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Hans Kelsen, F 59. Vgl. Osterkamp, Kelsen in der Tschechoslowakei (2009) 307 f.; Olechowski/ Busch, Kelsen als Professor an der Deutschen Universität Prag (2010) 1120; Malý, Hans Kelsen in Archivdokuemten (2018) 41 f.
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2. Kapitel: Die Flucht
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und dass ihn das preußische Ministerium nicht aus politischen Gründen (§ 4 BBG), sondern aus rassischen Gründen (§ 3 BBG) in den Ruhestand versetzt habe.479 »Nach diesem für die älteste deutsche Universität so überaus beschämenden Abstimmungsergebnis«, schrieb der Nationalsozialist Wolfgang Wolfram v. Wolmar 1943, »hatte Prorektor Prof. Dr. San Nicolò eine Aussprache mit dem Unterrichtsminister«, in der er ihm nochmals mit Studentenrevolten drohte, sollte Kelsen berufen werden, und tatsächlich versprach Minister Dérer, die Sache nicht weiter verfolgen zu wollen. Als der Zivilrechtsprofessor (und ehemalige Justizminister) Robert Mayr-Harting davon erfuhr, informierte er Außenminister Beneš, der sich nunmehr ebenfalls der Sache annahm.480 Am 14. Dezember 1933 erhielt Kelsen den förmlichen Ruf an die Deutsche Universität zu Prag, und tatsächlich nahm dieser am 4. Jänner 1934 diesen Ruf an.481 Bis zu seinem tatsächlichen Amtsantritt sollte es jedoch noch mehr als zwei Jahre dauern.
479 Franz X. Weiss, Erklärung v. 25. 10. 1933, in: UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Hans Kelsen, F 59. Vgl. Osterkamp, Kelsen in der Tschechoslowakei (2009) 308; Olechowski/ Busch, Kelsen als Professor an der Deutschen Universität Prag (2010) 1120 f.; Malý, Hans Kelsen in Archivdokuemten (2018) 41. 480 Wolfram v. Wolmar, Prag und das Reich (1943) 634; Olechowski/Busch, Kelsen als Professor an der Deutschen Universität Prag (2010) 1121. Das Engagement Mayr-Hartings für Kelsen – er hatte auch bei der Abstimmung für ihn votiert – ist insofern bemerkenswert, als er 1921 eine Eingabe an das Ministerium gemacht hatte, die darauf abzielte, den Anteil jüdischer Professoren an der Universität zu beschränken: Míšková, Juden an der Prager Deutschen Universität (1999) 120. 481 Klabouch, Z pražskýh kelsenovskýh materiálú (1993) 1018; Olechowski/Busch, Kelsen als Professor an der Deutschen Universität Prag (2010) 1121.
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Drittes Kapitel
Am Sitz des Völkerbundes 1. Die Genfer Antrittsvorlesung So wurde Genf zur dritten akademischen Wirkungsstätte Hans Kelsens, und im Gegensatz zu Wien und Köln blieb er dieser Stadt und ihren Bewohnern, besonders aber dem IUHEI und William Rappard, sein restliches Leben lang eng verbunden. Er forschte und lehrte hier, von kürzeren Aufenthalten abgesehen, zunächst sechs Semester (Wintersemester 1933/34 – Sommersemester 1936), dann, nach seinem, von ihm selbst so bezeichneten, »Prager Gastspiel«, nochmals fünf Semester (Sommersemester 1938 – Sommersemester 1940) und schließlich, nach seiner Emeritierung in Berkeley, wieder zwei Semester (Wintersemester 1952/53 – Sommersemester 1953). Seine Antrittsvorlesung hielt Kelsen am 25. Oktober 1933 zum Thema »La technique du droit international et l’organisation de la paix [Die Technik des Völkerrechts und die Organisation des Friedens]«.482 Das Thema hätte aktueller nicht sein können, hatte doch NS-Deutschland elf Tage zuvor, am 14. Oktober, seine Teilnahme an der noch immer andauernden Genfer Abrüstungskonferenz für beendet erklärt und darüber hinaus seinen Austritt aus dem Völkerbund bekannt gegeben.483 Kelsen gedachte dieser Entwicklung in seinen Einleitungsworten, wenn er von »der sehr bedauerlichen Tatsache« sprach, dass die derzeitigen Friedensbestrebungen zwar noch nicht »gescheitert« seien, aber »doch nur wenig Aussicht haben, zu einem auch nur einigermaßen befriedigenden Ergebnis zu führen.«484 Tatsächlich ging die Konferenz im Juni des folgenden Jahres zu
482 Kelsen hielt seine Antrittsvorlesung auf Französisch, die Schriftfassung wurde 1934 sowohl auf Deutsch als auch Französisch publiziert und erhielt 1935 auch je eine Übersetzung ins Polnische und Spanische, hier zit. n. der deutschen Fassung: Kelsen, Die Technik des Völkerrechts (1934). Bereits am 3. 2 . 1932 hatte Kelsen in der in Genf erscheinenden Zeitung »Journal des Nations« einen Aufsatz veröffentlicht, in dem einige Gedanken seiner späteren Genfer Antrittsvorlesung anklingen: Kelsen, La technique du droit (1932). 483 NFP Nr. 24818 v. 15. 10. 1933, 1; Ziegerhofer, Völkerbund und ILO (2019) 298. Am 12. 11. 1933 fand in Deutschland – gemeinsam mit einer Reichstagswahl, zu der nur mehr die NSDAP als Einheitsliste kandidierte – eine Volksabstimmung über den Austritt aus dem Völkerbund statt. Diese brachte eine Zustimmung von 95,1 % zum Austritt, der gem. Art. 1 Abs. 3 der Völkerbundsatzung zwei Jahre später, am 19. 10. 1935, wirksam wurde, vgl. https://treaties.un.org/Pages/Content. aspx?path=DB/LoNOnline/pageIntro_en.xml [Zugrif: 16. 11. 2019]. Vgl. zu den Hintergründen Evans, Das Dritte Reich II (2006) 748–750. 484 Kelsen, Die Technik des Völkerrechts (1934) 240.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Abb. 36: Genf, Palais des Nations (damals noch im Palais Wilson) und Quais Wilson. Foto um 1926.
Ende, ohne dass ein konkretes Ergebnis zustande gekommen war.485 Kelsen erklärte, dass dieses Scheitern »weniger an dem guten Willen der Beteiligten als vielmehr [am Fehlen] einer klaren Einsicht in das Problem« liege.486 Diese Bemerkung ist sicherlich nicht so zu verstehen, dass Kelsen so naiv war, an den »guten Willen« Hitlers, den Weltfrieden herbeizuführen, glaubte.487 Vielmehr wollte er mit diesem überraschenden Statement die Aufmerksamkeit seiner Hörerinnen und Hörer steigern und zu jenen originellen Vorschlägen zur Sicherung des Weltfriedens überleiten, die er schon 1932 in seiner Schrift »Rechtstechnik und Abrüstung« vorgebracht hatte: die Unterwerfung der Völkergemeinschaft unter die obligatorische Gerichtsbarkeit eines internationalen Gerichtshofes, der nicht nur die Macht haben solle, über Verletzungen des Völkerrechts zu entscheiden, sondern auch, völkerrechtliche Zwangsmaßnahmen (Krieg, Repressalien) zu legitimieren, die ein Staat gegen den anderen setze, wenn dies der Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustandes diene.488 Um sein Auditorium zu diesem Ziel zu führen, nahm sich Kelsen vor, das Wesen des derzeitigen Völkerrechts und des Krieges genau zu analysieren, »so wie ein Chirurg die Funktion des Organs genau kennen muß, das er aus dem menschlichen Körper, 485 NFP Nr. 25052 v. 12. 6. 1934, 2. Nicht nur Italien und Ungarn, sondern auch das British Empire
hatten Vorbehalte gegenüber den Beschlüssen der Konferenz geäußert. 486 Kelsen, Die Technik des Völkerrechts (1934) 240. 487 Beachte aber, dass Verdroß noch 1937 erklärte, dass der Nationalsozialismus »mit allen Völkern in Frieden und Freundschaft zusammenarbeiten« wolle: Verdross, Völkerrrecht (1937) 26 f.; vgl. Marboe, Verdross (2012) 185. 488 Kelsen, Die Technik des Völkerrechts (1934) 251; vgl. dazu Ehs, Welt ohne Gericht (2014).
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3. Kapitel: Am Sitz des Völkerbundes
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um dessen Leben zu erhalten und zu fördern, herausschneiden will.«489 Er wiederholte daher seine Ansichten, dass das Völkerrecht, so wie das staatliche Recht, eine Rechtsordnung, sei, wenn auch eine »primitive Rechtsordnung«, in der es noch an zentralen Organisationen fehle, die die generellen Normen auf konkrete Fälle anwenden.490 Während er hier also nur bereits früher geäußerte Ideen wiederholte, war ein anderer Gedankengang in seiner Genfer Antrittsvorlesung neuartig: Er entwickelte eine »Evolutionstheorie« des Rechtes, eine Vorstellung, dass die – historische wie auch künftige – Entwicklung des Rechts bestimmten Gesetzmäßigkeiten folge (Marx hätte hier wohl gesagt: dass das Recht sich notwendigerweise in eine bestimmte Richtung entwickeln müsse491). Nach Kelsen waren die ältesten Organe des staatlichen Rechts nicht Gesetzgebungsorgane, sondern Gerichte. Diese Gerichte hatten das dezentral, im Wege der Gewohnheit entstandene positive Recht vollzogen, aber auch durch ihre Rechtsprechung weiterentwickelt. Erst in einer späteren Phase dieser Evolution sei die Gesetzgebung hinzugetreten, und ganz am Schluss die Verwaltung.492 Eben diesen Weg, den das staatliche Recht genommen hatte, müsse auch das internationale Recht nehmen, und man dürfe die Reihenfolge nicht umdrehen, so wie man auch nicht »an die Konstruktion einer prächtigen Kuppel« schreiten könne, ohne zuvor die »Fundamente des Baus gelegt« zu haben. Dies war eine direkte Kritik am Völkerbund, dessen Hauptorgane – Völkerbundversammlung und Völkerbundrat – eine Legislative und eine Exekutive geschaffen hatten, während die Jurisdiktion des StIGH nur eine optionale war. Es wäre – so Kelsen – besser gewesen, hätten die Staaten »eine wirkliche internationale Gerichtsgemeinschaft« geschaffen.493 Kelsen kritisierte aber auch den Briand-Kellogg-Pakt mit seiner generellen Ächtung des Krieges. Es sei »absurd«, einem Staat das Recht auf Selbsthilfe zu nehmen, ohne ihm zugleich »Hilfe durch die Rechtsgemeinschaft« zu garantieren.494 Es wäre besser gewesen, den Krieg nicht zu verbieten, sondern ihn »ausnahmslos an ein vorangegangenes Gerichtsurteil zu binden«.495 Habe man die internationale Gerichtsbarkeit zentralisiert, so wäre der nächste Schritt, die internationale Völkergemeinschaft zu verpflichten, gemeinsam für die Durchsetzung der vom Gerichtshof verhängten Sanktionen zu sorgen. Dann, aber auch erst dann, könne man an die »Errichtung einer zentralen Exekutivgewalt« denken.496 In einer noch späteren Phase könne man erwägen, dass nicht bloß Staaten, 489 Kelsen, Die Technik des Völkerrechts (1934) 241. Das Bild des »Chirurgen« wird von ihm schon früher gebraucht: Kelsen, Rechtstechnik und Abrüstung (1932) 877. 490 Kelsen, Die Technik des Völkerrechts (1934) 244. 491 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844) 510. Vgl. dazu auch Zeleny, Hans Kelsen als politischer Mensch (2018) 28 f. 492 Kelsen, Die Technik des Völkerrechts (1934) 246 f. Siehe auch Busch/von Schmädel/ Staudigl-Ciechowicz, Peace through law (2011) 166. 493 Kelsen, Die Technik des Völkerrechts (1934) 250 f. 494 Kelsen, Die Technik des Völkerrechts (1934) 249. Vgl. zum Briand-Kellogg-Pakt allgemein Köck/Fischer, Internationale Organisationen (1997) 170. 495 Kelsen, Die Technik des Völkerrechts (1934) 251. 496 Kelsen, Die Technik des Völkerrechts (1934) 253.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
sondern auch einzelne Menschen den internationalen Gerichtshof anrufen können. Daneben könne es auch andere, politische Organe geben (Kelsen nannte hier ausdrücklich den Völkerbundrat), die die Streitbeilegung im außergerichtlichen Wege versuchen, aber nicht in Konkurrenz, sondern in Ergänzung des Gerichtshofes. »Die Autorität des Gerichtes darf nur ausgeschaltet werden können, wenn der Rat mit Erfolg tätig war, wenn der Streit auf gütlichem Weg aus der Welt geschafft wurde.«497 Kelsens Vorstellungen waren visionär. Er entwickelte sie in den folgenden Jahren immer weiter, drang auf eine umfassende Revision des Völkerbundes und später, nach dessen endgültigem Scheitern, auf Schaffung einer neuen internationalen Organisation, die den oben genannten Prinzipien entsprechen sollte. Die tatsächliche Gründung der Vereinten Nationen 1945 war für Kelsen, dies sei hier vorweggenommen, enttäuschend, weil sie eben nicht die erhoffte Machtverschiebung vom Völkerbundrat (bzw. nunmehr UN-Sicherheitsrat) zum Internationalen Gerichtshof brachte. Aber auf europäischer Ebene wurden Kelsens Forderungen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention 1950 und ihrem teils politischen, teils juristischen Schutzmechanismus,498 dessen sich auch einzelne Menschen bedienen konnten, recht getreu verwirklicht. Ob sich freilich die Schöpfer der Europäischen Menschenrechtskonvention direkt oder indirekt von Kelsen inspirieren ließen, ist unbekannt.
2. Der Pensionsstreit Am 24. Oktober 1933, einen Tag vor Kelsens Genfer Antrittsvorlesung, berichtete die Wiener »Neue Freie Presse«, dass »ein Montagsblatt […] falsche Gerüchte über Professor Dr. Kelsen« verbreitet hätte, wonach ihm gegenüber – nicht näher spezifizierte – Drohungen ausgestoßen worden seien. Kelsen selbst sei an die Redaktion der »Neuen Freien Presse« herangetreten, um diese Drohungen zu dementieren. Er sei weder in Köln noch in Genf bedroht worden, und sein Aufenthalt in Genf stünde »im vollständigen Einvernehmen mit der preußischen Unterrichtsverwaltung«.499 Allerdings berichtete die im Saarland500 erscheinende Zeitung »Deutsche Freiheit« fünf Tage später ebenfalls, dass die Schweizer Behörden von »Drohungen« erfahren hatten, »die für die Sicherheit und das Leben Kelsens schwere Befürchtungen hegen« 497 Kelsen,
Die Technik des Völkerrechts (1934) 255. Art. 25 EMRK (BGBl 1958/210) konnte sich jede natürliche Person, die in ihren, in der EMRK genannten Rechten verletzt zu sein behauptete, die Europäische Kommission für Menschenrechte anrufen, worauf diese und nach ihr das Ministerkomitee des Europarates eine außergerichtliche Einigung versuchen sollten. Wenn dies nicht gelang, konnte die Kommission oder ein Vertragsstaat – nicht jedoch eine einzelne Person – gem. Art. 45 EMRK den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen. Mit dem 11. Zusatzprotokoll zur EMRK (BGBl 1998/30) wurde das Recht der Individualbeschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingeführt. 499 NFP Nr. 24827 v. 24. 10. 1933, 7. 500 Das Saarland stand bis 1935 unter der Verwaltung des Völkerbundes, die Zeitungen waren daher dort noch nicht mit dem NS-Regime »gleichgeschaltet«. 498 Nach
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3. Kapitel: Am Sitz des Völkerbundes
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lassen. Gleich am nächsten Tag kam ein Dementi von der »Berliner Börsen-Zeitung«, die sogar ein Interview mit Kelsen brachte, in dem dieser behauptete, weder in Deutschland noch nach seiner Emigration bedroht worden zu sein und auch nicht unter Polizeischutz zu stehen.501 Mangels weiterer Quellen zu diesem Vorfall stehen wir vor einem Rätsel, welcher Seite Glauben zu schenken ist. Traurige, aktenkundige Realität war aber jedenfalls, dass das Nazi-Regime in Deutschland mit Kelsen während dessen Schweizer Exil einen erbitterten Kampf bürokratischer Art führte: Es ging um seine nicht unbeträchtlichen Pensions‑ und Gehaltsforderungen gegenüber dem preußischen Staat. Im Gegensatz zur Endzeit der NS-Terrorherrschaft war es in den 1930er Jahren offenbar noch möglich, dass ein jüdischer Emigrant juristisch mit NS-Behörden über derartige Ansprüche diskutierte, denn diese waren in den Anfangsjahren ihres Regimes noch sehr darum bemüht, ihr Handeln juristisch korrekt aussehen zu lassen. Im Fall Kelsen mussten sie damit scheitern, weshalb sie ihm letztlich sein Geld widerrechtlich nahmen. Schon unmittelbar nach Kelsens Beurlaubung, im Mai 1933, war die erste fiskale Maßnahme ergangen. Das Ministerium wies auf Initiative der Quästur (= Finanzabteilung) der Kölner Universität diese an, Kelsen nur mehr die halbe Jahreskolleggeldgarantie – also 6.000 statt 12.000 RM – auszubezahlen,502 wobei die Rechtsgrundlage für diese Maßnahme völlig unklar blieb. Die nächste Schikane folgte, als der neue Kölner Oberbürgermeister und Vorsitzende des Universitätskuratoriums, Günter Riesen, im Oktober 1933 behauptete, dass die Krisenlohnsteuer »aufgrund eines Irrtums […] zu niedrig bemessen worden« sei, weshalb von Kelsens Gehalt 291,92 RM einbehalten wurden.503 Im Dezember 1933 belehrte das Kuratorium Kelsen, dass seine »Honorargarantie« (gemeint: die Kolleggeldgarantie), auf 500 RM pro Semester herabgesetzt worden war, und dass Kelsen, da er mit 31. Dezember 1933 ausscheide, nur mehr 250 RM erhalten werde; auch die Dienstbezüge wurden mit Jahresende 1933 eingestellt.504 Am 22. Februar 1934 erklärte das preußische Wissenschaftsministerium, dass Kelsen keinen Anspruch auf ein Ruhegehalt habe, da er lediglich drei Jahre für den Staat Preußen gearbeitet und somit nicht die in § 8 BBG geforderte zehnjährige Dienstzeit erbracht habe.505 Diese Behauptung stand in klarem Widerspruch zu den Garantien, die Kelsen 1930 gegeben worden waren, dass nämlich der preußische Staat die Dienstzeiten Kelsens in Österreich voll anrechnen würde. Nachdem Kelsen zu allen bisherigen Schritten geschwiegen hatte, reagierte er nunmehr auf diesen Erlass mit einem un501 Deutsche Freiheit v. 29. 10. 1933, Berliner Börsen-Zeitung v. 30. 10. 1933, beide zit. n. Lepsius, Kelsen und der Nationalsozialismus (2009) 272 f. 502 Vgl. das Schreiben des Universitätsquästors an das Kuratorium der Universität Köln vom 23. 5. 1933 sowie das in Folge ergangene Telegramm von Ministerialrat Johann Daniel Achelis an das Kuratorium, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 129, 131. 503 Schreiben des Kölner Oberbürgermeisters an Hans Kelsen, 18. 10. 1933, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 145. 504 UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 141, 147. 505 Erlass des preußischen Wissenschaftsministeriums v. 22. 2 . 1934, 34 U. I. Nr. 20313, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 152; vgl. Golczewski, Kölner Universitätslehrer (1988) 119.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
gewöhnlichen Schritt. Er kontaktierte seinen seinerzeitigen Verhandlungspartner im Ministerium, Ministerialrat a. D. Dr. Wolfgang Windelband, seit Mai 1933 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Berlin, und bat ihn um eine Bestätigung der seinerzeit gegebenen Versprechen – was dieser, mit einem Brief vom 20. März 1934, auch tat. Parallel dazu erwirkte Kelsen beim österreichischen Unterrichtsministerium einen Erlass, in dem seine österreichischen Dienstzeiten nochmals mit 29 Jahren, 3 Monaten und 2 Tagen festgesetzt wurden. Gestützt auf diese beiden Schreiben, wandte sich Kelsen am 29. März an die Kölner Fakultät, mit der Bitte, sich für ihn in Berlin zu verwenden: »Die Zuerkennung eines Ruhegenusses ist für mich eine Existenzfrage. […] Mein Vertrag [am IUHEI] läuft nach 3 Jahren ab. Dann bin ich zu alt, um noch auf eine neue Anstellung rechnen zu können und dann bleibt mir nichts als die wenigen Ersparnisse, von denen ich mit Frau und Kindern unmöglich leben kann. Im Übrigen glaube ich nichts anderes als mein Recht zu verlangen. Ich glaube das Vertrauen, das die hohe Fakultät mir durch ihre Berufung entgegengebracht hat, nicht getäuscht, ich glaube der Fakultät, während der Zeit da ich ihr angehört habe, keine Unehre gemacht zu haben. Ich glaube daher auf die Unterstützung der Fakultät hoffen zu dürfen.«506 Die Fakultät selbst hatte schon am 18. April 1933 das Ministerium auf Kelsens Dienstzeiten in Österreich hingewiesen, welche den Dienstzeiten im Deutschen Reich gleichzustellen seien. »Eine andere Interpretation des neuen Beamtengesetzes würde bei Lehrpersonen, die aus Österreich nach Deutschland berufen werden, zu unbegründeten Härten führen.«507 Nun schlug das Kuratorium vor, die Dienstzeiten Kelsens neu, und zwar offenbar anhand seiner tatsächlichen Verwendungsdauer, unter Fortfall sämtlicher Alterszulagen, zu bemessen, lediglich die Kriegsdienstzeiten sollten 1 ½ fach angerechnet werden. Damit kam das Kuratorium auf eine Dienstzeit von »lediglich« 18 Jahren und 275 Tagen, was immer noch weit über den von § 8 BBG geforderten zehn Jahren lag.508 Dieser Vorgangsweise konnte sich Ministerialrat Johann Daniel Achelis vom Reichswissenschaftsministerium, das in der Zwischenzeit an die Stelle des preußischen Wissenschaftsministeriums getreten war, im Prinzip anschließen. Er setzte aber die anrechenbare Zeit in Österreich nochmals herab, nämlich auf sechs Jahre. Dies wurde mit § 11 BBG begründet, der etwas vage bestimmte, dass bei der Anrechnung von Beschäftigungen außerhalb des Reichs-, Landes‑ oder Gemeindedienstes das Besoldungsdienstalter neu festzusetzen sei, ohne dass Hinweise gegeben wurden, wie diese Festsetzung zu erfolgen hatte. »Der Ruhegehaltsberechnung ist hiernach ein Grundgehalt von 9.900 RM zu Grunde zu legen,«509 hieß es nun einfach. 506 Hans Kelsen, Schreiben an die rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Köln v. 29. 3. 1934, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 155; UA Köln, Zug 598/143. 507 Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Köln, Schreiben an den kommissarischen Leiter des Wissenschaftsministeriums Bernhard Rust v. 18. 4. 1933, UA Köln, Zug 598/143. 508 Schreiben des Kuratoriums der Universität Köln an das preußische Wissenschaftsministerium v. 9. 4. 1934, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 157. Vgl. Lepsius, Kelsen und der Nationalsozialismus (2009) 279. 509 Erlass des Reichswissenschaftsministeriums v. 17. 5. 1934 UI 21308, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 163. Vgl. auch GStA PK, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 10, Tit. IV, Nr. 3 Bd. I, Bl. 501 ff.
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Außerdem aber verfügte Achelis, dass der »Bezug der Versorgungsbezüge« während des Auslandsaufenthaltes von Kelsen »ruhe«.510 Damit war Kelsens Ruhegenuss zwar dem Grunde nach auch vom nationalsozialistischen Machthaber anerkannt, faktisch aber erhielt Kelsen keinen einzigen Pfennig ausbezahlt, solange er nicht nach Deutschland zurückkehrte. Kelsen richtete von Genf aus ein Schreiben direkt nach Berlin, in dem er zunächst sehr entschieden auftrat und gegen den Erlass protestierte. Es wäre ihm »niemals in den Sinn gekommen […], eine pensionsberechtigte Anstellung [in Österreich] mit einer solchen zu vertauschen, bei der ich das bisher erworbene Pensionsrecht verliere.« Er versuchte sogar, Achelis davon zu überzeugen, dass die Erfüllung der ihm gegebenen Zusicherungen durchaus nicht im Widerspruch zum BBG stünde. »Seine Bestimmungen betreffend Vereinbarungen in Bezug auf Anrechnung von Dienstzeit wollen offenkundig nur sogenannte ›Parteibuchbeamte‹ treffen und sind – bei loyaler, sinngemässer und der Absicht des Gesetzgebers entsprechender Interpretation – gewiss nicht auf Professoren anwendbar, die vom Ausland nach Preußen berufen wurden.« Seine eigene Berufung sei unabhängig von irgendeiner politischen Einflussnahme erfolgt, ja noch mehr: »Es war die Regierung Braun die sich durch mehrere Jahre meiner Berufung entgegensetzte und erst, als ich auch von der Universität Frankfurt vorgeschlagen wurde, die Berufung an mich ergehen liess.« Dieser kleine Seitenhieb auf die Sozialdemokraten war aber auch schon das Äußerste, zu dem sich Kelsen hinreißen ließ. Vielmehr schloss er seinen Brief geradezu mit einer flehentlichen Bitte: »Ich bitte das Ministerium inständig, diese Umstände noch einmal zu erwägen. Ich bitte dabei die furchtbare Härte der Massnahme zu berücksichtigen, die in der Anwendung des § 3 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums gelegen ist: Ohne jedes persönliche Verschulden und trotz öffentlich anerkannter Verdienste seines Lehramtes enthoben zu werden.«511 Da Kelsens Bitten nichts halfen, verlegte er sich wieder auf das rechtliche Argumentieren. In einem Brief an das Kölner Kuratorium erklärte er, dass – gemäß einer Verordnung des Reichspräsidenten aus dem Jahre 1931 – während eines Auslandsaufenthaltes Auszahlungen nur dann zu ruhen hatten, wenn der Bezugsberechtigte ohne Zustimmung der obersten Reichsbehörde seinen Wohnsitz im Ausland habe; er aber habe diese Zustimmung mit Erlass vom 5. Juli 1933 erhalten.512 Das Ministerium konterte, dass es seinerzeit keinen dauernden Auslandsaufenthalt genehmigt habe und dass es damals von einem aktiven Dienstverhältnis Kelsens zum Staate Preußen ausgegangen war. Kelsen solle eine Bescheinigung der deutschen Auslandsvertretung 510 Johann
Daniel Achelis, Schreiben v. 14. 6. 1934, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 170. Kelsen, Schreiben an das Reichswissenschaftsministerium v. 22. 6. 1934, GStA PK, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 10, Tit. IV, Nr. 3 Bd. I, Bl. 510; eine Kopie auch in UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 187. 512 Hans Kelsen, Schreiben an das Kuratorium der Universität Köln v. 31. 8. 1934, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 185 (unter Hinweis auf die Verordnung des Reichspräsidenten nach Art. 48 WRV v. 6. 10. 1931 RGBl I S. 537); vgl. Golczewski, Kölner Universitätslehrer (1988) 119. 511 Hans
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
vorlegen, »dass sein Aufenthalt und seine Tätigkeit im Ausland den deutschen Interessen nicht zuwider laufe.«513 Das deutsche Konsulat in Genf wurde zu jener Zeit von Wolfgang Krauel geleitet, der in der Literatur als kein Freund des Nazi-Regimes bezeichnet wird und seine Position immer wieder dazu benützte, um Flüchtlingen zu helfen.514 So auch diesmal: Er bescheinigte Kelsen »wunschgemäß, daß Ihr Aufenthalt und Ihre Tätigkeit in Genf den deutschen Interessen nicht zuwiderlaufen. Diese Bescheinigung benötigen Sie, wenn ich Sie richtig verstanden habe, um die Auszahlung Ihrer bereits festgesetzten Pension zu ermöglichen, die Sie jedoch lediglich innerhalb Deutschlands zu verwenden beabsichtigen, sodaß keinerlei Devisenverluste für Deutschland entstehen.«515 Diese Auflage war Kelsen bereit einzuhalten: Er erklärte, dass er sein Geld nur in Deutschland ausgeben wolle, und bat um Überweisung auf sein Konto bei der Dresdner Bank in Köln.516 Tatsächlich erteilte nun das Wissenschaftsministerium Kelsen widerruflich und bis Ende 1937 befristet eine Genehmigung für seinen Genfer Wohnsitz und ordnete die Überweisung der Versorgungsbezüge auf ein Konto, »das die Verwendung der Gelder nur im Inland zuläßt (Sperrmarkkonto)«, an.517 Das Reichswissenschaftsministerium hatte das »Spiel« also scheinbar verloren. »Bekam Kelsen jetzt sein Geld? Keineswegs. Denn inzwischen hatte man sich im Ministerium einen neuen Trick ausgedacht.«518 Unter Bezugnahme auf die bereits erwähnte Verordnung von 1931 behauptete das Kuratorium nunmehr, dass eine Auszahlung der Pension nicht möglich sei, weil Kelsen andere Einkünfte (nämlich sein Gehalt am IUHEI) beziehe. Kelsen widersprach: Die betreffende Bestimmung sei unanwendbar, zumal das schweizerische Arbeitseinkommen nicht den deutschen Steuergesetzen unterlag.519 Das Kuratorium musste erneut klein beigeben und kündigte an, dass rückwirkend mit 1. Jänner 1934 eine monatliche Pension von 480,75 RM auf Kelsens Konto bei der Dresdner Bank überwiesen werden solle.520 Doch der ungleiche Kampf war noch nicht zu Ende … 513 Erlass des Reichswissenschaftsministeriums v. 25. 10. 1934 UI Nr. 22837, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 194. – Die Argumentation war unrichtig: Bereits der Erlass vom 5. 7. 1933 hatte von einer »Pensionierung« gesprochen; vgl. Golczewski, Kölner Universitätslehrer (1988) 119 f. 514 Favez, The Red Cross and the Holocaust (1988) 24. Hinzuweisen ist darauf, dass Krauel 1939 der NSDAP beitrat, 1944 jedoch aus der Partei ausgeschlossen wurde: Schriftliche Auskunft des Politischen Archives des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland vom 10. 1. 2018. 515 Schreiben des Deutschen Konsulats in Genf an Hans Kelsen v. 8. 11. 1934, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 198. 516 Hans Kelsen, Schreiben an das Kuratorium der Universität Köln v. 25. 11. 1934, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 200. 517 UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 203. Vgl. zum Problem der Ausfuhr von Kapital deutscher Emigranten in die Schweiz allgemein Friedländer /Kreis/Milton, Die Schweiz und die Flüchtlinge (2001) 236. 518 Golczewski, Kölner Universitätslehrer (1988) 120. 519 Hans Kelsen, Schreiben an das Kuratorium der Universität Köln v. 18. 5. 1935, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 206. 520 Peter Winkelnkemper, Schreiben an Hans Kelsen v. 25. 6. 1935, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 212.
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3. Das Schweizer Exil »Immer war ich gerne in dieses bei kleinem Umfang großartige und in seiner Vielfalt unerschöpfliche Land gekommen«, berichtete Stefan Zweig über seine Schweiz-Reise 1917. »Nie [zuvor] aber hatte ich den Sinn seines Daseins so sehr empfunden: die schweizerische Idee des Beisammenseins der Nationen im selben Raume ohne Feindlichkeit, diese weiseste Maxime, durch wechselseitige Achtung und eine ehrlich durchlebte Demokratie sprachliche und volkliche Unterschiede zur Brüderlichkeit zu erheben […] Nein, hier war man nicht fremd; ein freier, unabhängiger Mensch fühlte sich in dieser tragischen Weltstunde hier mehr zu Hause als in seinem eigenen Vaterland.«521 Hans Kelsen muss ähnlich gefühlt haben, nachdem er das nationalsozialistische Deutschland und das autoritär regierte Österreich verlassen und Schweizer Boden betreten hatte. Vor allem Genf, der Sitz des Völkerbundes, der ILO und des Roten Kreuzes, wo nahezu jeder dritte Einwohner Ausländer war, vermittelte eine internationale Atmosphäre, die es Kelsen leicht machte, sich rasch heimisch zu fühlen.522 Dabei war Genf keine große Stadt: Die einstige Wirkungsstätte Jean Calvins zählte lediglich rund 130.000 vorwiegend katholische (!) Einwohner. Die auf Calvin zurückgehende Universität Genf befand sich im Zentrum der Stadt, in der Nähe des Bâtiment électoral in der Rue de Candolle, wo der Völkerbund seine Vollversammlungen abhielt. Das Völkerbundsekretariat übersiedelte gerade zu der Zeit, als Kelsen in Genf ankam, vom alten, in der Rue des pâquis gelegenen Palais Wilson in das noch im Bau befindliche »Palais des Nations« im Parc de l’Ariana, wo ab 1938 auch die Völkerbundversammlungen stattfanden. Margit v. Mises bezeichnete später einmal Genf als eine der schönsten Städte der Welt, nicht zuletzt aufgrund seiner einzigartigen Lage am Ausfluss der Rhône aus dem Genfer See. »Überall in den Gärten und Parkanlagen, die den See umgeben, sieht man Spaziergänger, und überall gibt es Konditoreien und Kaffeehäuser mit den verführerischsten Leckerbissen.«523 Freilich, völlig ungetrübt war auch die Stimmung in der Schweiz in jenen Jahren nicht. Die triste wirtschaftliche Situation in den Nachbarstaaten hatte sich katastrophal auf die schweizerischen Exporte ausgewirkt, die Eidgenossen waren nicht von Inflation und steigenden Arbeitslosenzahlen verschont geblieben. Dies führte auch in der Schweiz zu einer Radikalisierung sowie zu antisemitischen und ausländerfeindlichen Tendenzen; tatsächlich war der Ausländeranteil an der schweizerischen Bevölkerung aufgrund dieser Entwicklungen von 1910 bis 1930 fast um die Hälfte zurückgegangen, sodass die Situation in Genf nicht die gesamtschweizerische Lage 521 Zweig,
Die Welt von Gestern (1942) 300. Oestreicher, Times to remember (1977) 5. 523 M. Mises, Ludwig von Mises (1981) 54. Im Übrigen folgen die Angaben zur Stadt Genf Meyers Lexikon (Leipzig 71924–1933) sowie Karl Baedeker, Die Schweiz. Handbuch für Reisende (Leipzig 371927). 522 Kelsen
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widerspiegelte.524 Rechtsgerichtete Gruppierungen, die »Fronten«, waren entstanden, und als am 9. November 1932 eine dieser Bewegungen in Genf eine Versammlung abhielt, veranstalteten die Sozialisten eine Gegendemonstration. Die Polizei musste durch Armeeeinheiten verstärkt werden, schließlich eskalierte die Situation, dreizehn Personen wurden getötet, mehr als sechzig verletzt.525 Bei den Wahlen zum Genfer Kantonsparlament [Grand Conseil] ein Jahr später konnten die Fronten immerhin 9 % der Stimmen erlangen; ähnlich kritisch war die Situation auch in anderen Kantonen. 1934/35 initiierten die Fronten eine Volksabstimmung, die auf eine Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung abzielte, jedoch am 8. September 1935 mit überwältigender Mehrheit abgelehnt wurde, was längerfristig auch zum Niedergang der Fronten führte. Die Schweizer Demokratie war gerettet.526 Anders entwickelten sich die Verhältnisse in Österreich, wo die bürgerliche Regierung unter Engelbert Dollfuß seit März 1933 autoritär regierte und wo alle Versuche der oppositionellen Sozialdemokraten, den ausgeschalteten Nationalrat oder den gleichfalls lahmgelegten VfGH mit legalen Mitteln zu reaktivieren, gescheitert waren.527 Der im März 1933 verbotene Republikanische Schutzbund war im Untergrund weiter aktiv, und als sich Schutzbündler am 12. Februar 1934 bei einer Hausdurchsuchung zur Wehr setzten, führte dies zu mehr oder weniger spontanen Erhebungen der Arbeiterschaft in zahlreichen Städten, von denen der Parteivorstand der Sozialdemokraten selbst überrascht wurde. Bundesheer und Heimwehren schlugen den »Sozialdemokratischen Februaraufstand« innerhalb von vier Tagen nieder, es gab mehr als 300 Tote. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei wurde verboten, ihr Parteivorsitzender, der Wiener Bürgermeister Karl Seitz, wurde so wie viele andere Funktionäre verhaftet, das Bundesland Wien unter kommissarische Verwaltung des Bundes gestellt.528 Die Redaktion der gleichfalls verbotenen »Arbeiter-Zeitung« wurde in die ČSR verlegt, wohin auch viele Sozialdemokraten, wie etwa Otto Bauer, flohen. Die Universität Wien wurde angewiesen, ein Disziplinarverfahren gegen Max Adler einzuleiten, das jedoch mangels konkreter Anschuldigungen ergebnislos eingestellt wurde.529 Am 1. Mai 1934 wurde eine neue Verfassung verkündet, die an die Stelle von Kelsens Bundes-Verfassungsgesetz trat.530 Während das B-VG in Art. 1 verheißen hatte, dass das Recht der Republik vom Volk ausgehe, nahm die neue Maiverfassung in ihrer Präambel Gott selbst als Quelle allen Rechts an und erteilte damit 524 Friedländer /Kreis/Milton,
Die Schweiz und die Flüchtlinge (2001) 63. Jeanneret, Genfer Unruhen, in: Historisches Lexikon Schweiz http://www.hls-dhsdss.ch/textes/d/D17337.php [Erstellt: 25. 8. 2005/Zugriff: 02. 05. 2019]. 526 NFP Nr. 25501 v. 9. 9. 1935; Friedländer /Kreis/Milton, Die Schweiz und die Flüchtlinge (2001) 23; Aubert, La science juridique suisse (2001) 55 ff.; Kley, Verfassungsgeschichte (2013) 352 ff. 527 Dazu Jabloner, Gescheiterte Bemühungen (2014); zu den nachfolgenden Ereignissen R athkolb, Erste Republik (2015) 500. 528 Verordnungen v. 12. 1 2. 1934 BGBl 77 und 78. 529 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 96–98. 530 Verfassung 1934 BGBl II/1, § 56 Verfassungsübergangsgesetz 1934 BGBl II/75. 525 Pierre
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3. Kapitel: Am Sitz des Völkerbundes
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Abb. 37: Hans und Grete Kelsen in Genf, ca. 1935.
gleich zu Beginn der Demokratie eine klare Absage. Der in der »Maiverfassung 1934« verheißene ständestaatliche Neuaufbau des Staates wurde in der Praxis kaum verwirklicht; die Realität war eine Kanzlerdiktatur. Der Bundeskanzler selbst, Dollfuß, konnte sich über seinen Erfolg nur kurz freuen: Am 25. Juli wurde er bei einem Putschversuch österreichischer Nationalsozialisten erschossen.531 Am 19. März 1934 richtete William Rappard einen Brief an Ludwig Mises, der nach wie vor als Sekretär der niederösterreichischen Handels‑ und Gewerbekammer in Wien arbeitete, und bot ihm eine Stelle als Gastprofessor für internationale Wirtschaftsbeziehungen am IUHEI an. Wir dürfen davon ausgehen, dass Rappard hier einer Empfehlung von Kelsen gefolgt war, der seinen alten Freund nicht länger in Österreich wissen wollte. Mises akzeptierte sofort und übersiedelte im Oktober 1934 nach Genf.532 Es war eine Übersiedlung, keine Flucht, denn Mises wurde nicht persönlich verfolgt, und er kehrte auch immer wieder zu längeren Aufenthalten nach Österreich zurück, wo er sich dann auch weiter in der Kammer betätigte. Aber die Atmosphäre in Österreich war für ihn – wie für viele österreichische Intellektuelle – schlicht unerträglich geworden. Kelsen tat sein Möglichstes, damit sich der 53-jährige Junggeselle Mises rasch in Genf eingewöhnte und trat ihm sogar seine Haushälterin Tiny ab.533 Umso überraschter war er, als Mises ihm vier Jahre später, im Juni 1938, seine Verlobte, die neun 531 R athkolb,
Erste Republik (2015) 500. Law and Economics (1984) 103; Hülsmann, Mises (2007) 684. 533 M. Mises, Ludwig von Mises (1981) 54. Es ist dies der einzige Fall, dass uns eine Haushälterin 532 Silverman,
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Jahre jüngere Witwe Margit Sereny, vorstellte und ihn bat, bei der bevorstehenden Vermählung als Trauzeuge zu fungieren. Völlig ungeniert entfuhr es ihm: »Ich kann es nicht glauben. Niemand hätte je gedacht, daß Mises einmal heiraten würde.«534 Tatsächlich aber hatten die beiden einander schon 1925 in Wien kennen gelernt und sich 1926 verlobt. Erstaunlich war es nur gewesen, dass Ludwig von535 Mises seine Braut bei seiner Emigration 1934 in Österreich zurückgelassen und erst nach dem »Anschluß« Österreichs an NS-Deutschland zu sich geholt hatte.536 Margit v. Mises erinnerte sich sehr genau an dieses erste Zusammentreffen mit dem Freund ihres Bräutigams und beschrieb Kelsen wie folgt: »Er war klein, schlank und gut proportioniert. Hinter scharfen Brillengläsern zwinkerte er humorvoll mit den Augen.« Am 6. Juli 1938 fand die Hochzeit statt; der zweite Trauzeuge war Gottfried von Haberler, ein ehemaliger Schüler von Mises’, der damals als Sachverständiger für Geldfragen beim Völkerbund beschäftigt war. Zum anschließenden Mittagessen im Hôtel des Bergues kamen auch die Ehefrauen der Trauzeugen sowie William Rappard und der ebenfalls in Genf lehrende Ökonom Wilhelm Röpke, auch diese mit ihren Ehefrauen.537 Ausführlich schildert uns Margit v. Mises in ihren Erinnerungen das Leben der österreichischen Emigranten in Genf, die einander oft trafen, sich nach Möglichkeit bei größeren und kleineren Problemen halfen,538 aber auch z. B. gemeinsame Ausflugsfahrten unternahmen. Offenbar hatten Mises und Kelsen erst jetzt, in ihrer Genfer Zeit, Automobile erworben, die sie für Spazierfahrten benützten. Dabei erwies es sich, dass Mises ein sehr schlechter Autofahrer war, der seine Frau mit seinen Fahrkünsten zu Tode ängstigte.539 Und anscheinend fuhr auch Kelsen nicht besser; denn seine Tochter Maria Kelsen erinnerte sich später, dass ihr Vater gelegentlich einen regelrechten Schrecken bei anderen Verkehrsteilnehmern ausgelöst habe. »Als ihn bei einem Ausflug nach Frankreich ein französischer Autofahrer als ›blöden Schweizer‹ beschimpfte, freute er sich darüber, für einen Schweizer gehalten zu werden.«540 Hans Kelsen war, so scheint es, gut in die Genfer Emigrantengesellschaft integriert. Er konnte an viele alte Kontakte anknüpfen und schloss auch neue Bekanntschaften. Besonders eng war vor allem seine Verbindung zu Rudolf A. Métall, der Kelsens mit Namen bekannt ist, und selbst hier nur mit der Kurzform ihres Vornamens (der vermutlich Ernestine lautete). 534 M. Mises, Ludwig von Mises (1981) 56. Dass Kelsen von seinem Freund einfach als von »Mises« sprach, zeugte nicht von Distanz, sondern war ein Überbleibsel aus der Schule, wo es auch noch zu meiner Zeit z. T. vorkam, dass sich Schüler untereinander genauso ansprachen, wie sie von den Lehrern angesprochen wurden. 535 In Österreich waren Adelsprädikate seit 1919 verboten; außerhalb Österreichs führte Ludwig Mises weiterhin das seinem Urgroßvater erblich verliehene »Edler von«. 536 Ausführlich M. Mises, Ludwig von Mises (1981) 29 ff. 537 M. Mises, Ludwig von Mises (1981) 56 f. 538 Siehe dazu auch die Bemerkungen bei Herz, Vom Überleben (1984) 109. 539 M. Mises, Ludwig von Mises (1981) 65. 540 Robert Walter, Aktenvermerk vom 5. 2 . 2002 über ein früher mit Maria Feder (geb. Kelsen) geführtes Gespräch, in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches.
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3. Kapitel: Am Sitz des Völkerbundes
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1931–1940 als leitender Beamter bei der Sozialversicherungsabteilung der ILO arbeitete.541 Auch Richard Schüller, ein bedeutendes Mitglied der Österreichischen Schule der Nationalökonomie und bis 1932 Leiter der handelspolitischen Abteilung im Außenministerium,542 der sich beruflich oft in Genf beim Völkerbund aufhielt, zählte zum Freundeskreis um Kelsen und Mises.543 Ein weiterer gern gesehener Gast war Friedrich August v. Hayek; er war seit 1931 an der London School of Economics tätig, kam aber, auf Einladung von Mises, immer wieder zu Gastvorträgen nach Genf.544 Anfang Februar 1934 erhielt Kelsen Post aus Paris: Sein ehemaliger Kölner Student Hans Mayer war nach Frankreich emigriert und zunächst in Straßburg untergekommen, wo er jedoch nicht dauerhaft bleiben konnte. Kelsen riet ihm zunächst davon ab, zu ihm nach Genf zu kommen, verfasste dann aber doch ein Empfehlungsschreiben an den Sozialphilosophen Max Horkheimer, der das – von Carl Grünberg begründete und mittlerweile zu Weltruhm gelangte – Frankfurter Institut für Sozialforschung nach Genf »transferiert« hatte.545 Mayer kam nach Genf und arbeitete auch einige Zeit lang am IUHEI, jedoch nicht bei Horkheimer, sondern beim Historiker Carl Jacob Burckhardt, der 1918–1922 Gesandtschaftsattaché in Wien gewesen war und seit 1932 am IUHEI wirkte; 1944–1948 war Burckhardt Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Mayers Aufzeichnungen zufolge standen Kelsen und Burckhardt »gut miteinander […], wenngleich der Jurist und Emigrant Kelsen mit Unbehagen zur Kenntnis nahm, daß sein Kollege Burckhardt, der schweizerische Diplomat, Mitarbeiter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und Geschichtsforscher, mit den Amtsstellen eines Dritten Reiches verkehrte«. Von den Vorlesungen am IUHEI berichtete Mayer, dass Mises »sein Kolleg in etwas sonderbarem Englisch vor[trug]. Hans Kelsen sprach fließend Französisch. Er trug den französischen Text seiner Vorlesung mit der gleichen Intensität und in der wohlbekannten Haltung eines einsamen Denkers vor, wie damals in Köln seine deutschen Kollegs.«546 Mayer selbst veröffentlichte 1937 in der IZTHR einen Beitrag über das »Ideologieproblem und die Reine Rechtslehre«.547 1940 erhielt er den Rechtsstatus eines Flüchtlings und wurde deshalb in einem Anhaltelager interniert, erst 1943 kam er frei; nach dem Krieg ging er zurück nach Deutschland.548 Hans Kelsens Kontakte zu Großbritannien können nur lückenhaft rekonstruiert werden; seine erste England-Reise fand wohl 1920 statt, worüber an anderer Stelle schon berichtet wurde.549 In Kelsens Genfer Zeit intensivierten sich dann offenbar seine Beziehungen zu britischen Wissenschaftlern, und er überquerte noch mehrmals 541 Bersier
Ladavac, Métall (2008) 315 f.; Losano, Kelsens Gutachten von 1933 (2016) 86. Fakultät (2014) 557. 543 Vgl. den Hinweis bei Nautz, Unterhändler des Vertrauens (1990) 165. 544 Mayer, Erinnerungen I (1982) 200. 545 Mayer, Erinnerungen I (1982) 177. 546 Mayer, Erinnerungen I (1982) 200, 204. 547 Mayer, Ideologieproblem (1937). 548 Hefler, Mayer (2008) 295. 549 Oben 380. 542 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz,
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den Ärmelkanal, wozu auch der Umstand, dass sein Bruder Ernst von 1931 bis zu seinem frühen Tod 1937 in England lebte, beigetragen haben könnte. Am bedeutendsten war wohl der wissenschaftliche Austausch mit Hersch Lauterpacht, der aus Galizien stammte und 1919–1922 sowohl die Rechts‑ als auch die Staatswissenschaften in Wien studiert hatte; Kelsen bezeichnete ihn später als »einen meiner besten Schüler« aus seiner Wiener Zeit. Kurz nach Erwerb seines zweiten Doktortitels war Lauterpacht nach England emigriert und lehrte hier zunächst an der London School of Economics, 1938–1960 als Professor für Völkerrecht an der University of Cambridge.550 Wohl über ihn kam der Kontakt mit Harold Laski zustande, der 1926–1950 Professor an der London School of Economics war und bereits 1931 in der ZÖR publiziert hatte;551 1945–1946 war Laski Vorsitzender der Labour Party. Über Details dieser Kontakte ist kaum etwas bekannt. 1934 oder 1935 hielt sich Hans Kelsen, wohl zu einer Vortragsreise, in London auf, wo er seinen ehemaligen Kölner Schüler Hans Herz traf. Dieser war kurz zuvor aus Deutschland emigriert, und Kelsen lud ihn nach Genf ein.552 Von der Schweiz aus kehrte Herz mehrmals heimlich nach Deutschland zurück, wo er sich im Widerstand engagierte und Anfang 1938 unter dem Pseudonym Eduard Bristler ein Buch über »Die Völkerrechtslehre des Nationalsozialismus« veröffentlichte. Darin bezeichnete er das »nazistische Völkerrecht« als eine Ideologie, die v. a. die Wiederbewaffnung Deutschlands rechtfertigen wollte. »Das mit den Runenzeichen und dem Namen Himmler unterzeichnete ›Verbot einer Druckschrift‹ im Reichsanzeiger war mir die ›Besprechung‹, auf die ich am stolzesten war«, erklärte Herz später.553 1938 emigrierte Hans Herz in die Vereinigten Staaten und änderte seinen Namen in John Herz.554
4. Kelsens Lehrtätigkeit in Genf Das IUHEI war ein verhältnismäßig kleines Institut, das, wie schon die Namen der Professoren deutlich machen, sehr international zusammengesetzt war. Neben Kelsen gehörten dem fest angestellten Lehrkörper noch ein zweiter Völkerrechtler, Hans Wehberg, ferner zwei Professoren für die »Organisation der internationalen Beziehungen«, William E. Rappard und Pitman B. Potter, zwei Ökonomen, Ludwig von Mises und Wilhelm Röpke, sowie drei Historiker, Maurice Bourquin, Paul Mantoux und Guglielmo Ferrero, an; dazu kam eine Reihe von Gastvortragenden (Stand
550
Geb. Żółkiew in Galizien [Šovkva/UKR] 16. 8. 1897, gest. London 8. 5. 1960; vgl. Kelsen, Lauterpacht (1961); Kletzer, Lauterpacht (2004) 240 f. 551 Laski, Das Recht und der Staat (1931). 552 Herz, Vom Überleben (1984) 104 f. 553 Herz, Vom Überleben (1984) 111 f. Mit den »Runenzeichen« sind die beiden Siegrunen gemeint, mit denen die von Heinrich Himmler geführte »Schutzstaffel (SS)« firmierte. 554 Donhauser, Herz (2008)145 f.
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Abb. 38: Hans Kelsen, Arm in Arm mit William Rappard, um 1933.
1938).555 Auch die Zahl der inskribierten Studentinnen und Studenten war überschaubar, sie schwankte zwischen 50 und 80.556 Wer am IUHEI studieren wollte, musste zumindest ein Lizentiat der Universität Genf in Ökonomie, Geschichte oder Rechtswissenschaften, oder einen gleichwertigen Abschluss einer anderen Universität vorweisen können. Das IUHEI selbst bot zwei Studienabschlüsse an: Um das »Diploma« zu erwerben, genügte der Besuch von zwei Vorlesungen, zwei Seminaren und einigen Gastvorträgen über zwei Semester sowie die Abfassung einer kleineren Abschlussarbeit (»dissertation«) in französischer, deutscher oder englischer Sprache. Studierende, die sich bereits im Bereich der internationalen Beziehungen spezialisiert hatten, konnten sich zusätzlich an der Universität Genf inskribieren und so ein »Doctorat ès sciences politiques« erwerben. Die in diesem zweiten Fall abzufassende »dissertation« war wesentlich aufwändiger, und die Arbeit musste auch in einer mündlichen Aussprache mit einem Prüfungssenat (»soutenance«) verteidigt werden.557 Kelsens Lehr‑ und Prüfungstätigkeit in Genf war nicht besonders umfangreich. Er hatte lediglich zwei Vorlesungen – eine über die Quellen des Völkerrechtes, eine über die Theorie desselben – sowie ein Seminar abzuhalten, dazu kam die Verpflichtung, auch öffentliche Vorträge zu halten. Große Schwierigkeiten bereitete ihm anfangs die französische Unterrichtssprache; er berichtete in seiner Autobiographie, dass er in 555 William R appard, Brief an Sydnor Walker (RF) v. 14. 2 . 1938, AHEI, Ordner Administration 1937–1939. 556 Busch/Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2015) 24. 557 Busch/Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2015) 20.
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seinem ersten Jahr »keine Vorlesung gehalten [habe,] ohne sie vorher drei‑ bis viermal mir laut vorgelesen zu haben.«558 Im zweiten Jahr war er schon deutlich sicherer, konnte »ohne zu grosse Befangenheit« an Diskussionen teilnehmen und begann auch auf Französisch zu publizieren. »Die Not lehrt alles, auch fremde Sprachen«, resümierte Kelsen später.559 Auch in Genf hielt Kelsen Privatseminare in seinem Haus ab, »wo es weit über die Reine Rechtslehre hinaus um Weltansichten der Primitiven, um Platos und des Aristoteles’ politische Theorien und ähnliches ging«, berichtete Hans Herz.560 Was die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses Kreises betrifft, sind wir weitgehend auf Vermutungen angewiesen. Neben Herz selbst und auch Hans Mayer gehörten dem Kreis wohl auch viele der – insgesamt 13561 – Dissertanten Kelsens aus seiner Genfer Zeit an. Auch ein junger Privatdozent zählte sich selbst zu Kelsens Schülern: Hans J. Morgenthau, 1904 im bayrischen Coburg geboren, der seit 1932 Öffentliches Recht an der Universität Genf unterrichtete und von Kelsen nach Kräften gefördert wurde, auch nachdem Morgenthau die Schweiz wieder verlassen hatte und 1935 nach Spanien, 1937 in die USA emigriert war.562 Der bedeutendste Dissertant Kelsens in dessen Genfer Zeit war der Italiener Umberto Campagnolo,563 der zunächst in Padua [Padova/IT] Philosophie studiert hatte, dann aber wegen seiner antifaschistischen Haltung ins Schweizer Exil gegangen war. Hier entdeckte er sein Interesse für das Völkerrecht, setzte seine Studien am IUHEI fort und besuchte auch, mit Hilfe eines Empfehlungsschreibens von Hans Kelsen, 1935 einen Kurs an der Académie de Droit International in Den Haag. 1937 legte Campagnolo seine Dissertation »Nations et Droit ou Le développement du droit international comme développement de l’Etat [Nationen und Recht oder die Entwicklung des Völkerrechts als Entwicklung des Staates]« vor. Darin kam er zu einigen, der Reinen Rechtslehre geradezu entgegengesetzten Ergebnissen. Zwar identifizierte auch Campagnolo den Staat mit dem Recht, aber für ihn gab es überhaupt nur staatliches Recht; das Völkerrecht sah Campagnolo nur als einen Bestandteil der staatlichen Ordnung an.564 Damit legte er sich nicht nur auf die – weit verbreitete – Lehre vom Primat des staatlichen Rechts vor dem Völkerrecht fest, sondern folgte dieser Lehre bis in ihre letzte Konsequenz: dass nämlich überhaupt nur ein einziger Staat wahrhaft souverän sein könne und dass dieser zu einem »Weltstaat« werde, wenn er seine Souveränität 558 Kelsen,
Autobiographie (1947) 37 = HKW I, 81. Kelsen, Interview mit Duclos 1957. 560 Herz, Vom Überleben (1984) 109. 561 Siehe die Aufstellung bei Busch/Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2015) 31. 562 So verfasste Kelsen am 15. 2 . 1934 und am 28. 3. 1937 je ein Empfehlungsschreiben für Morgenthau: LOC, Manuscript Division, Hans Morgenthau Papers, Box 33, Folder 6. Vgl. zu den Beziehungen zwischen Kelsen und Morgenthau auch Bernstorff, Peace and Global Justice (2016) 85. 563 Geb. Este/IT 25. 3. 1904, gest. Venedig [Venezia/IT] 25. 9. 1976; später Lehrtätigkeit an den Universitäten Padua und Venedig. Vgl. Losano, Presenze italiane (1999); Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2004) 181; Busch/Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2015) 19. 564 Kelsen, Campagnolo-Gutachten 1937, 287, 305. 559 Hans
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über alle anderen Staaten ausdehne (imperialistische Variante), oder wenn sich sämtliche Staaten freiwillig zu einem Bundesstaat zusammenschließen (föderalistische Variante).565 In seinem 30-seitigen, mit 28. Dezember 1937 datierten Gutachten erklärte Kelsen rundheraus, dass er Campagnolos »positive Theorie ablehne«. Dennoch bezeichnete er die Arbeit als »einen ungewöhnlich interessanten und durch seine gründliche philosophische Fundierung sehr beachtenswerten Versuch«, der »weit über dem Niveau einer selbst vorzüglichen Doktor-These« stehe. Er bewertete die Arbeit nicht nur positiv, sondern sprach sich auch dafür aus, dass das IUHEI dem Dissertanten einen Druckkostenzuschuss gewähre.566 Die Begutachtung der Dissertation Campagnolos ist ein weiteres Beispiel für die große Toleranz, die Kelsen gegenüber wissenschaftlichen Gegnern an den Tag legte, sofern deren Werk qualitativ hochwertig war. Sie ist umso bemerkenswerter, als der zweite Prüfer, Paul Guggenheim,567 darum bat, der Prüfungskommission fernbleiben zu dürfen, weil er mit Campagnolos Thesen nicht einverstanden war, während Kelsen keine Probleme damit hatte, eine Arbeit zu approbieren, deren Ergebnisse er persönlich ablehnte. Die Prüfungskommission tagte am 22. Februar 1938 und zollte Campagnolos Arbeit nach langer Diskussion »höchste Anerkennung«. Das Werk erschien noch im selben Jahr in einem Pariser Verlag.568
5. Kelsens Genfer Publikationen a) Die »Reine Rechtslehre« Es ist geradezu unglaublich, mit wie wenigen Worten Hans Kelsen in seiner Autobiographie seines bis heute berühmtesten Buches, der »Reinen Rechtslehre«, gedenkt. Nicht einmal ein ganzer Satz ist sie ihm hier wert. Nur ein kleiner Hinweis findet sich im Abschnitt »Genf« zu einer Arbeit, die Kelsen nach eigenen Angaben schon in Wien begonnen und die »im Laufe der Zeit manche Wandlung erfahren hatte. Mein urspruenglicher Plan war eine systematische Theorie des Rechtspositivismus, verbunden mit einer Kritik der Naturrechtslehre.«569 Über das 1928 fertiggestellte, jedoch niemals publizierte Manuskript zum »Naturrecht der Griechen« wurde schon oben 565 Kelsen,
Campagnolo-Gutachten 1937, 287, 305. Campagnolo-Gutachten 1937, 315, 317. Das IUHEI lehnte allerdings eine Finanzierung der Drucklegung ab, zumal dies den Gepflogenheiten des Instituts widerspreche: William R appard, Schreiben an Hans Kelsen v. 29. 1 2. 1937, zit. n. Losano, Presenze italiane (1999) 64. 567 Paul Guggenheim (geb. Zürich 15. 9. 1899, gest. Genf 31. 8. 1977) lehrte ab 1930 als Privatdozent, ab 1941 als Professor am IUHEI. Er hatte Kelsen schon 1926 im Haag kennengelernt und übernahm in seinen Arbeiten weitgehend dessen Völkerrechtstheorie; im Gegensatz zu Kelsen wurde ihm jedoch »Realitäts‑ und Praxisnähe attestiert«: Rub, Guggenheim (2004) 196 f., 202. 568 Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2004) 185. Die Druckfassung der Dissertation enthält den Vermerk, dass sie am 22. Februar 1938 approbiert worden sei, was nicht bedeute, dass ihre Thesen der Meinung des Instituts entsprechen: Losano, Presenze italiane (1999) 64. 569 Kelsen, Autobiographie (1947) 37 f. = HKW I, 81. 566 Kelsen,
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Abb. 39: Hans Kelsen in Genf, ca. 1935.
berichtet;570 auf die weiteren Arbeiten und Publikationen Kelsens zum Naturrecht ist an anderen Stellen noch weiter einzugehen. Was aber hat es mit der »systematischen Theorie des Rechtspositivismus« auf sich? Eine solche hatte Kelsen ja gewissermaßen schon in seiner »Allgemeinen Staatslehre« von 1925 gegeben, die strikt den Postulaten der Reinen Rechtslehre gefolgt war. Nur was die Reine Rechtslehre selbst war – dies war bislang noch nicht zusammenhängend dargestellt worden. Und ebendies gedachte er nun nachzuholen.571 Als eine Vorstufe zu seinem späteren opus magnum kann der Aufsatz »Methode und Grundbegriff der reinen Rechtslehre« angesehen werden, der 1933 in deutscher Sprache in einer niederländischen Zeitschrift erschien und bald darauf auch ins Französische übersetzt wurde. Abgesehen von einem kurzen, einleitenden Absatz – der nur in der deutschen, nicht in der französischen Ausgabe enthalten ist – stimmen die 17 Abschnitte (»Paragraphen«) des Aufsatzes von 1933 großteils wörtlich mit den ersten 17 Abschnitten von Kelsens Buch »Reine Rechtslehre« aus dem Jahr 1934 überein, das sich diesbezüglich fast nur durch kleinere Einschübe und Ausschmückungen vom 570 Oben
416.
571 Hingewiesen sei darauf, dass schon Felix Kaufmanns Habilitationsschrift (Kaufmann, Logik
und Rechtswissenschaft [1922]) laut Untertitel den Anspruch erhob, den »Grundriss eines Systems der reinen Rechtslehre« darzustellen; der Aufbau jener Schrift ist allerdings ein völlig anderer als jener von Kelsens Reiner Rechtslehre. Vgl. ferner das Vorwort zur 2. Auflage der Reinen Rechtslehre, in dem Kelsen schreibt, dass es in der 1. Auflage nicht darum ging, eine allgemeine Rechtslehre vorzulegen, sondern nur »die besonders charakteristischen Ergebnisse einer reinen Rechtslehre zu formulieren«: Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) VII.
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Aufsatz unterscheidet. Ähnlich wie schon 1931 in seinem Aufsatz über »Allgemeine Rechtslehre im Lichte materialistischer Geschichtsauffassung« bezeichnete Kelsen auch in seiner Arbeit von 1933 das Recht als eine »Ideologie« der natürlichen Wirklichkeit und problematisierte den Umstand, dass z. B. eine Pflanze keine Aussage über sich selbst treffe, hingegen das Recht sich zumeist schon selbst deute (z. B. indem ein normativ zu deutender Akt bereits den Titel »Gesetz« trage). Es ergebe sich die Notwendigkeit, in diesen Fällen zwischen dem subjektiven und dem objektiven Sinn eines Aktes zu unterscheiden.572 Dass ein Akt nicht nur subjektiv gewollt, sondern objektiv gesollt sei, sei nur möglich, wenn man ihn als gesollt annehme. Der Begriff »Grundnorm« wurde in diesem kurzen Aufsatz jedoch nicht verwendet, es blieb beim Hinweis darauf, dass das Sollen eine »relativ apriorische Kategorie zur Erfassung des empirischen Rechtsmaterials« sei. Kelsen berief sich direkt auf Kant, als er erklärte, dass der Rechtsbegriff nicht (wie es die Naturrechtslehre mache) »metaphysisch-transzendent«, sondern »erkenntnistheoretisch-transzendental« gewonnen werden müsse. Die Geltung eines solchen Rechts sei völlig unabhängig von seinem Inhalt, weder der sowjetischen noch einer faschistischen noch einer demokratisch-kapitalistischen Rechtsordnung könne ihres Inhalts wegen der Rechtscharakter abgesprochen werden.573 Gerade indem die Reine Rechtslehre das Recht von naturrechtlichen Gerechtigkeitsvorstellungen »zu isolieren« suche, bewahre sie eine »antiideologische Tendenz«.574 Es ist davon auszugehen, dass dieser Aufsatz auf einen Vortrag oder auf Vorträge zurückgeht, den oder die Kelsen bereits 1932 oder früher gehalten hatte. Kelsen ließ es aber nicht damit bewenden, sondern baute seinen Aufsatz in weiterer Folge zu einem ganzen Buchmanuskript aus. Anstoß dazu könnte gewesen sein, dass er, wie berichtet, im März 1933 im schwedischen Lund eine ganze Vortragsreihe über die Reine Rechtslehre hielt, zumal ihm hier wesentlich mehr Redezeit zur Verfügung stand und die Texte unmittelbar darauf in schwedischer Sprache veröffentlicht wurden. Etwa zur selben Zeit, am 3. August 1933, schrieb Kelsen von Strobl aus – wo er, wie berichtet, in jenem ereignisreichen Jahr seinen Sommerurlaub verbrachte – einen Brief an den italienischen Juristen Renato Treves, in dem er seine Freude darüber ausdrückte, dass Treves »die Uebersetzung [s]einer Schrift über die Methode und Grundbegriffe der Reinen Rechtslehre [ins Italienische] vollendet« habe.575 Bei der in diesem Brief genannten Schrift handelte es sich aber offenbar nicht um den schon publizierten Aufsatz, sondern um dasselbe Manuskript, das auch seinen 572 Kelsen, Methode und Grundbegriff (1933) 72. Wörtlich in Kelsen, Reine Rechtslehre (1934) 4.
573 Kelsen, Methode und Grundbegriff (1933) 83. Wörtlich in Kelsen, Reine Rechtslehre (1934) 24. Vgl. dazu Paulson, Toward a Periodization (1990) 38. 574 Kelsen, Methode und Grundbegriff (1933) 90. Wörtlich in Kelsen, Reine Rechtslehre (1934) 38. 575 Hans Kelsen, Brief an Renato Treves v. 3. 8. 1933, in: Paulson, Kelsen and Renato Treves (1992) 55–58. Eine von Treves dem HKI übermittelte Kopie des Originalschreibens befindet sich in HKI, Nachlass Kelsen 21i.69. Vgl. zur Entstehungsgeschichte auch Cadore, »Good-bye to all that«? (2018) 260.
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schwedischen Vorlesungen zugrunde gelegen hatte. Es trug vermutlich den Titel »Die Reine Rechtslehre. Ihre Methode und ihr fundamentales Konzept« und ist heute leider verschollen. Ähnlich wie der »Grundriß« von 1926 war es niemals für eine Publikation in deutscher Sprache bestimmt, sondern diente ausschließlich als Grundlage für eine Reihe von Übersetzungen.576 Die schwedische und die italienische Fassung erschienen noch im Jahr 1933, und ebenso eine spanische Übersetzung von Luis Legaz y Lacambra sowie eine tschechische von Václav Chytil, im folgenden Jahr auch eine polnische Übersetzung von Tadeusz Przeorski. Von hoher Wichtigkeit für die weltweite Verbreitung der Reinen Rechtslehre war die Übersetzung des Manuskripts ins Englische, denn bislang war, von einer Ausnahme abgesehen,577 überhaupt noch kein Text Kelsens auf Englisch erschienen.578 Nun aber wurde die wirkmächtigste Zusammenfassung von Kelsens Lebenswerk in die schon damals global führende Sprache übertragen, womit seine Gedanken insbesondere auch in Nordamerika bekannt wurden. Die englischsprachige Ausgabe von »The Pure Theory of Law. Its Method and Fundamental Concepts« wurde in zwei Teilen im Oktober 1934 und im Juli 1935 in »The Law Quarterly Review«, einer in London und Toronto erscheinenden Zeitschrift abgedruckt. In einer kurzen Einleitung problematisierte der Übersetzer, Charles H. Wilson, die Übersetzung einzelner Grundbegriffe (»Geltung«, »Gesetzlichkeit« usw.) und bewies damit wohl erstmals, dass eine Übersetzung von Kelsens Texten ins Englische ungleich schwieriger war als eine in kontinentaleuropäische Sprachen.579 Danach erschienen auch noch Übersetzungen ins Portugiesische (1939) und ins Chinesische (1946) – letztere war wohl eine nicht minder schwierige Arbeit als das Werk von Charles Wilson! Rückblickend können diese Publikationen als Kurzfassung des Buches »Reine Rechtslehre« angesehen werden, denn ihre Gliederung und ein großer Teil des Wortlautes stimmen fast vollständig mit der deutschen Ausgabe von 1934 überein. Nur das Schlusskapitel der deutschen Ausgabe, »Staat und Völkerrecht«, fehlte noch, und in einigen wenigen Details gab es noch Umstellungen und Erweiterungen. Die spanische und die portugiesische Ausgabe enthielten auch ein Vorwort von Kelsen, das mit »Wien, September 1933« datiert war. Es ist erstaunlich, dass Kelsen ausgerechnet zu jener Zeit, in der seine persönliche Existenz auf das Höchste bedroht war, die Muße fand, ein derartiges Manuskript abzuschließen. Der Umstand zeigt aber auch, wie 576 Vgl. die Übersicht bei Walter /Jabloner /Zeleny, Hans Kelsens stete Aktualität (2003) 167–168. Die dort erfolgte Zuweisung der bulgarischen Übersetzung zu den »Teilübersetzungen« ist unrichtig, es handelt sich bei ihr um eine Übersetzung der deutschen Ausgabe von 1934. 577 Diese betraf eine englische Übersetzung von Kelsen, Der Begriff des Staates (1923), in dem er sich mit Sigmund Freud auseinandergesetzt hatte, weshalb die Übersetzung 1924 im International Journal of Psycho-Analysis erschien; eine große Dissemination dieses Artikels in juristischen Kreisen ist zu bezweifeln. 578 Dies bedeutet nicht, dass die Reine Rechtslehre als solche dem englischsprachigen Publikum unbekannt war, zumal es schon vor 1934 Schriften anderer Autoren zu diesem Thema gegeben hatte, so insbesondere Voegelin, Kelsen’s Pure Theory of Law (1927). 579 Wilson, Introduction (1934) 476. Vgl. zur Bedeutung Wilsons für die Verbreitung der Reinen Rechtslehre im englischen Sprachraum Kletzer, United Kingdom (2010) 137.
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wichtig ihm dieses Buch war, und möglicherweise bot es ihm auch jene Ablenkung, die nötig war, um nicht zu verzweifeln. In der portugiesischen Ausgabe wird Kelsen – entsprechend seines Status vom September 1933 – als »Antigo Professor das universidades de Viena e Colónia« bezeichnet. Und das Vorwort zur spanischen Ausgabe endet mit dem Hinweis darauf, dass die junge spanische Republik die Wissenschaftsfreiheit in ihre Verfassung aufgenommen habe, weshalb sie eines der wenigen Länder sei, in denen die Reine Rechtslehre Verständnis erhoffen könne.580 Etwas optimistischer klang da schon das Vorwort, das Kelsen im Mai 1934 in Genf der deutschen Ausgabe voranstellte, die im Oktober desselben Jahres im Verlag Franz Deuticke (Leipzig–Wien) erschien.581 Hier erklärte Kelsen, dass er »[i]n allen Kulturländern […] ermutigende Zustimmung« erfahren habe bei seinem Vorhaben, »eine reine, das heißt: von aller politischen Ideologie und allen naturwissenschaftlichen Elementen gereinigte, ihrer Eigenart, weil der Eigengesetzlichkeit ihres Gegenstandes bewußte Rechtstheorie zu entwickeln.« Freilich gab es auch einige Gegner, aber deren Motive seien nicht – nur – wissenschaftliche, sondern vor allem politische. Denn sie opponieren vor allem gegen »das Verhältnis der Rechtswissenschaft zur Politik, […] die saubere Trennung der einen von der anderen, […] den Verzicht auf die eingewurzelte Gewohnheit, im Namen der Wissenschaft vom Recht, unter Berufung also auf eine objektive Instanz, politische Forderungen zu vertreten«.582 Es war also schon das Ziel, nicht erst das Ergebnis der Reinen Rechtslehre, welches die Gemüter erhitzte. Allerdings werde, so Kelsen weiter, die Reine Rechtslehre verdächtigt, gar nicht so »rein« zu sein, wie sie es vorgebe, und beschuldigt, selbst nur »Ausdruck einer bestimmten politischen Werthaltung« zu sein. »Aber welcher?«, fragte Kelsen rhetorisch. »Faschisten erklären sie für demokratischen Liberalismus, liberale oder sozialistische Demokraten halten sie für einen Schrittmacher des Faschismus. Von kommunistischer Seite wird sie als Ideologie eines kapitalistischen Etatismus, von nationalistisch-kapitalistischer Seite bald als krasser Bolschewismus, bald als versteckter Anarchismus disqualifiziert. Ihr Geist sei – versichern manche – der katholischen Scholastik verwandt, andere wieder glauben in ihr die charakteristischen Merkmale einer protestantischen Staats‑ und Rechtslehre zu erkennen. Und auch solche fehlen nicht, die sie als atheistisch brandmarken möchten. Kurz, es gibt überhaupt keine politische Richtung, deren man die Reine Rechtslehre noch nicht verdächtigt hätte. Aber das gerade beweist besser, als sie es selbst könnte: ihre Reinheit.«583 580 Kelsen, El Método (1933) 8. Er bezog sich wohl auf die in Art. 34 der spanischen Verfassung 1931 verbürgte Meinungsäußerungsfreiheit. 581 Am HKI befindet sich ein Exemplar mit einer handschriftlichen Widmung Kelsens an Métall, welches den Datumsvermerk »31. Oktober 1934« trägt. Es ist nach dem weiter oben zum Verlag Julius Springer Gesagten erstaunlich, dass Kelsen sein Buch in einem auch in Leipzig beheimateten Verlag erscheinen lassen konnte. 582 Kelsen, Reine Rechtslehre (1934) III. 583 Kelsen, Reine Rechtslehre (1934) V. Die hier nur pauschal zusammengefassten Argumente, die gegen Kelsen erhoben wurden, werden bei Métall, Die politische Befangenheit (1936) umfassend dokumentiert.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Inhaltlich war das Buch eine Vervollständigung jener Gedanken, die Kelsen in seinem Aufsatz »Methode und Grundbegriff der reinen Rechtslehre« begonnen hatte. Kelsen fasste hier u. a. seine Lehren gegen den Dualismus von objektivem und subjektivem Recht und den Dualismus von Recht und Staat zusammen, erläuterte den Stufenbau der Rechtsordnung und gab auch einen ersten Einblick in die Interpretationstheorie der Reinen Rechtslehre.584 Diese war sozusagen die Kehrseite der Stufenbautheorie: Denn wenn die Stufenbaulehre auch sage, dass das Recht »seine eigene Erzeugung« regle, so, könne diese Regelung doch niemals eine vollständige sein: »Stets muß ein bald größerer, bald geringerer Spielraum freien Ermessens bleiben, so daß die Norm höherer Stufe im Verhältnis zu dem sie vollziehenden Akt der Normerzeugung oder Vollstreckung immer nur den Charakter eines durch diesen Akt auszufüllenden Rahmens hat.« Diesen Rahmen auszufüllen aber sei nicht die Aufgabe des Rechtswissenschaftlers, sondern ausschließlich die Aufgabe des von der Rechtsordnung dazu berufenen Organs. Der Rechtswissenschaftler könne – auf jeder Stufe der Rechtsordnung – nicht die einzige »richtige« Lösung finden, sondern immer nur den Rahmen aufzeigen, innerhalb dessen es verschiedene Lösungsmöglichkeiten gebe. »So wenig wie man aus der Verfassung durch Interpretation richtige Gesetze, kann man aus dem Gesetz durch Interpretation richtige Urteile gewinnen.«585 So bedeutsam diese Lehren auch für die Praxis waren – berühmter ist doch jene Passage in der »Reinen Rechtslehre«, in der Kelsen die Grundnorm erläuterte. Er bezeichnete sie hier als eine »hypothetische Grundlage«, mit der die Reine Rechtslehre operiere. »Unter der Voraussetzung, daß sie gilt, gilt auch die Rechtsordnung, die auf ihr beruht.«586 Es gebe eine Grundnorm der Moral, das ist jene Norm, aus deren Inhalt sich alle anderen Moralnormen deduzieren lassen (Kelsen spricht hier, ohne ihn namentlich zu erwähnen, den kategorischen Imperativ Kants an).587 Und es gebe eine Grundnorm des Rechts, die keinen spezifischen Inhalt habe, sondern nur eine Erzeugungsregel beinhalte, nach der die oberste positive Norm erzeugt werde (die Grundnorm selbst ist, da vorausgesetzt, keine gesetzte Norm, kein positives Recht). Bei dieser obersten Norm könne es sich um das Recht eines Staates handeln – oder, wenn man von einem Primat des Völkerrechts vor dem staatlichen Recht ausgehe, um eine Norm des Völkerrechts.588 Kelsen ließ auch hier wieder beide Varianten nebeneinander bestehen. 584 Vgl. dazu auch den etwa zur selben Zeit erschienenen Aufsatz: Kelsen, Zur Theorie der Interpretation (1934) = WRS 1113–1121. 585 Kelsen, Reine Rechtslehre (1934) 74, 91, 98. Vgl. dazu auch Somek, Ermächtigung und Verpflichtung (2005) 61; Dreier, Der Preis der Moderne (2017) 23 f. 586 Kelsen, Reine Rechtslehre (1934) 77. 587 Somek, Ermächtigung und Verpflichtung (2005) 59, spricht hier von einem »statischen Normensystem« und stellt es der »dynamischen Betrachtungsweise« des Rechts durch Kelsen gegenüber, was m. E. etwas missverständlich ist, zumal Kelsen – im Gegensatz etwa zu Sander oder Cossio – das Recht durchaus auch statisch betrachtet. Es kommt nicht auf eine Betrachtungsweise, sondern auf die Struktur der Normenordnung an. 588 Kelsen, Reine Rechtslehre (1934) 63 f., 71 f.
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3. Kapitel: Am Sitz des Völkerbundes
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Der das Buch abschließende Abschnitt über »Staat und Völkerrecht« war noch nicht in seinem 1933 den diversen Übersetzern zugesendeten Manuskript enthalten, sondern erst nachträglich für die deutsche Ausgabe angefügt worden. Kelsen erläuterte hier nicht nur die Grundnorm, sondern auch den Stufenbau des Völkerrechts, widerlegte den Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht und kam – wie schon in so vielen Schriften zuvor – auf die Idee einer zentralisierten Weltrechtsordnung zu sprechen. Indem die Reine Rechtslehre das Souveränitätsdogma auflöse, erleichtere sie eine derartige Entwicklung, jedoch »ohne sie zu rechtfertigen oder zu postulieren […] Die Feststellung solch möglicher Wirkung kann der Reinheit der Lehre keinen Abbruch tun.«589 Auch das Buch von 1934 erfuhr eine Reihe von Übersetzungen, vor allem – aber nicht nur – in jene Sprachen, in denen das Manuskript von 1933 noch nicht erschienen war. 1935 wurde eine japanische, 1937 eine bulgarische, 1941 eine spanische, 1949 eine koreanische Ausgabe veröffentlicht. Ein Dissertant Kelsens namens Henri Thévenaz bat seinen Lehrer um Erlaubnis, das Buch ins Französische übersetzen zu dürfen. Durch den Krieg verzögerte sich dieses Vorhaben jedoch um viele Jahre.590 b) Das brasilianische Gutachten Die 1939, in São Paulo erschienene, portugiesische Ausgabe der »Reinen Rechtslehre« zeugt von dem hohen Ruf, den Hans Kelsen mittlerweile auch auf dem lateinamerikanischen Kontinent genoss. Namentlich in Brasilien war Kelsen schon 1933 als einer der bedeutendsten Verfassungsrechtler der Gegenwart bezeichnet worden.591 Es nimmt daher nicht Wunder, dass Kelsen in jenem für ihn selbst so bewegten Jahr – konkret zwischen April und Oktober 1933, also just, als er mit geradezu existenziellen Sorgen zu kämpfen hatte – von zwei brasilianischen Juristen, Flávio da Silveira und Roman Poznanski,592 um ein Gutachten zu hochaktuellen Fragen des brasilianischen Verfassungsrechts gebeten wurde. 1930 war die bisherige brasilianische Regierung durch eine Revolution gestürzt und eine Militärdiktatur unter Getúlio Vargas errichtet worden. Eine Erhebung im Bundesstaat São Paulo gegen dieses Regime wurde zwar im Oktober 1932 niedergeschlagen, führte aber doch mittelbar zu einer zeitweisen Rückkehr Brasiliens zu konstitutionellen Verhältnissen.593 Schon vor der Erhebung von São Paulo hatte Vargas Wahlen zu einer Nationalversammlung verheißen, die über eine neue Verfassung beraten sollte. Am 3. Mai 1933 wurden die Wahlen abgehalten, vier Tage später wurde 589 Kelsen, Reine Rechtslehre (1934) 154. Es war dieser Satz wohl eine verspätete Antwort auf die Kritik, die Erich Kaufmann 1921 am ähnlich gestalteten Schluss von Kelsens »Problem der Souveränität« geübt hatte, vgl. oben 346. 590 Siehe unten 830. 591 Silveiro Siqueira, Brazilian Constituent (2016) 80. 592 Vgl. zu ihnen Silveiro Siqueira, Brazilian Constituent (2016) 81. 593 Das Folgende nach Losano, Kelsens Gutachten von 1933 (2016) 65 ; Silveiro Siqueira, Brazilian Constituent (2016) 78 f.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
mit der Verordnung Nr. 22.621 die konstituierende Versammlung nach Rio de Janeiro einberufen und ihr eine Geschäftsordnung gegeben, die ziemlich genaue Direktiven vorgab, worüber die konstituierende Versammlung beraten und worüber sie nicht beraten sollte. Unter anderem wurden das republikanische und das bundesstaatliche Prinzip für die neue Verfassung schon vorausgesetzt, die Entscheidung über diese Grundsatzfragen also nicht zur Disposition gestellt. Aus diesem Anlass richteten Silveira und Poznanski eine Reihe von Fragen an Kelsen, insbesondere, ob es nicht der »Souveränität« der Nationalversammlung widerspreche, wenn ihr Aufgabenkreis im Vorhinein durch eine »Geschäftsordnung« vorgegeben werde. In seinem mit »Genf, 14. Oktober 1933« datierten Gutachten erklärte Kelsen, dieses »ausschließlich und allein von einem positivrechtlichen Standpunkt aus« verfassen zu wollen. »Der Begriff der Souveränität im eigentlichen Sinn des Wortes [habe] überhaupt keinen Platz im Bereich des positiven Rechtes.«594 In Frage könne nur stehen, ob die Konstituierende Nationalversammlung eine höchste, unbeschränkte Gesetzgebungskompetenz besäße. Das wäre nur der Fall, wenn sie direkt aus einer Revolution heraus entstanden wäre. Tatsächlich aber verdankt sie ihre juristische Existenz einzig und allein der Verordnung vom 7. April, die sie daher auch nicht aufheben dürfe – sofern sie nicht selbst eine neuerliche Revolution auslösen wolle. Auch wenn die Nationalversammlung als »konstituierend« bezeichnet werde, sei sie doch durch die genannte Verordnung konstituiert worden, und alle Vorgaben, die die Verordnung der Nationalversammlung gegeben habe, seien daher rechtmäßig.595 Kelsens Gutachten wurde 1934 gemeinsam mit dem Gutachten eines brasilianischen Juristen, Eusébio de Queiroz Lima aus Rio de Janeiro, in der von Silveira und Poznanski neu begründeten Zeitschrift »Politica« veröffentlicht, kursierte aber schon im November 1933 in Brasilien und war von einigem Einfluss auf die Arbeiten der Nationalversammlung, obwohl es sich um eine Privatarbeit, nicht um ein in öffentlichem Auftrag erstelltes Gutachten handelte.596 Die Nationalversammlung blieb im Rahmen der ihr gegebenen Geschäftsordnung und erließ am 16. Juli 1934 eine neue Verfassung, am folgenden Tag wählte sie Getúlio Vargas zum Staatspräsidenten. Die von ihm initiierte Verfassung blieb drei Jahre in Kraft, bis sie in einem Staatsstreich von Vargas selbst 1937 aufgehoben und der diktatorische »Estado Novo« ausgerufen wurde.597 Kelsen hatte es mit seiner Entscheidung, die ihm gestellten Fragen »ausschließlich und allein von einem positivrechtlichen Standpunkt aus« beantworten zu wollen, vermieden, zu den politischen Hintergründen des brasilianischen Verfassungsstreites 594 Kelsen,
Brasilien-Gutachten 1933, 73 f.; vgl. dazu Losano, Kelsens Gutachten von 1933 (2016) 70. 595 Kelsen, Brasilien-Gutachten 1933, 74. 596 Losano, Kelsens Gutachten von 1933 (2016) 70 f.; Silveiro Siqueira, Brazilian Constituent (2016) 80. 597 Losano, Kelsens Gutachten von 1933 (2016) 66; Silveiro Siqueira, Brazilian Constituent (2016) 85 f.
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3. Kapitel: Am Sitz des Völkerbundes
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Stellung zu nehmen. Dies war auch durchaus verständlich, zumal er diese Hintergründe von Genf aus kaum vollständig erfassen konnte. Nichtsdestoweniger hatte sein Gutachten einen eminent politischen Einfluss, und zwar zugunsten der Militärdiktatur von Getúlio Vargas, indem er die Legalität ihrer Verordnungen hervorhob, ohne ihre Legitimität (die ja nur von einem metapositivistischen Standpunkt beurteilt hätte werden können) zu problematisieren. Vielleicht liegt hier eine Wurzel für die noch heute in Lateinamerika und besonders in Brasilien verbreitete (wenn auch irrige) Ansicht, Kelsen habe mit seiner Reinen Rechtslehre Diktaturen und autoritäre Regime unterstützt. c) Aufsätze zum Allgemeinen Völkerrecht Naturgemäß fand Kelsens völkerrechtliche Lehrtätigkeit in Genf ihren Niederschlag in einer Reihe von völkerrechtlichen Aufsätzen. Im Juli 1934 veröffentlichte er – möglicherweise auch, um sich der tschechoslowakischen Juristenwelt in Erinnerung zu rufen – in der »Prager Juristischen Zeitschrift« einen Aufsatz über »Völkerrechtliche Verträge zu Lasten Dritter«. Er leitete diesen Beitrag mit einem Urteil des Ständigen Internationalen Schiedsgerichtshofes ein, in dem dieser erklärt hatte, dass ein völkerrechtlicher Vertrag nur »inter pares« (zwischen den Vertragsparteien) wirke.598 Dass dieses »selbstverständlich[e]« Prinzip »keineswegs so allgemein und ausnahmslos, wie es scheinen möchte«, gelte, wollte Kelsen in seinem Aufsatz aufzeigen.599 Um dies zu erreichen, belastete Kelsen allerdings den Begriff des »Vertrages zu Lasten Dritter« ganz außerordentlich und nahm einen solchen auch schon an, wenn ein Staat verpflichtet war, sog. Staats-Servituten, die auf von ihm erworbenen Gebieten lasteten, weiter zu dulden. Ein weiterer Falltyp, den Kelsen nannte, lag vor, wenn zwei oder mehr Staaten durch völkerrechtlichen Vertrag einen neuen Staat schufen und ihm dabei gewisse Verpflichtungen auferlegten, wie dies etwa 1815 bei der Bildung des Freistaates Krakau [Kraków/PL] oder – aktueller – 1919 bei der Bildung der Freien Stadt Danzig [Gdańsk/PL] der Fall gewesen war. Schließlich nannte Kelsen die Möglichkeit, dass ein Staat aufgrund eines Bündnisses in einen – gerechtfertigten – Krieg mit einem anderen Staat eintrat. Kelsen blieb allerdings die Antwort auf die Frage schuldig, worin in diesem Fall die Pflicht des Drittstaates bestünde. Es scheint, dass Kelsen selbst nicht zufrieden mit dieser Arbeit war, denn zwei Jahre später veröffentlichte er in der IZTHR den Aufsatz »Contribution à la théorie du traité international [Beitrag zur Theorie des internationalen Vertrags]«, in dem er einige Gedanken aus seinem vorherigen Aufsatz übernahm, jedoch weiterentwickelte und auch nur mehr einen Teil der von ihm gewählten Beispiele erneut aufgriff. Jedenfalls war dieser zweite Aufsatz wesentlich ausgereifter als der erste; ganz im Sinne der
598 PCIJ, Series A, No. 7 (1925) 29 (Deutsche Interessen in Polnisch-Oberschlesien); bei Kelsen, Völkerrechtliche Verträge (1934) 420, wird irrtümlich 1926 als Jahreszahl angegeben. 599 Kelsen, Völkerrechtliche Verträge (1934) 420.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Reinen Rechtslehre ging es ihm hier zunächst allgemein darum, zu zeigen, dass Verträge [traités] im Völkerrecht eine ähnliche Funktion haben wie Verträge [contrats] im staatlichen Recht: dass nämlich beide im Rahmen des Stufenbaues der Rechtsordnung sowohl ein Akt der Rechtsanwendung als auch der Rechtserzeugung seien – letzteres wurde ja von der traditionellen zivilrechtlichen Lehre durchaus bestritten. Auch konnte er belegen, dass auch das Privatrecht Verträge zu Lasten Dritter kenne: Er verwies hier auf die arbeitsrechtlichen Kollektivverträge (Tarifverträge), die durchaus eine Drittwirkung, etwa zugunsten oder zulasten von Nichtmitgliedern der vertragsabschließenden Arbeitnehmerorganisation entfalten könnten.600 Kelsen betonte auch in diesem Aufsatz, dass das Recht – auch das Völkerrecht – immer von Menschen gemacht und immer Menschen als Adressaten habe. Wenn ein Mensch als Repräsentant eines Staates einen völkerrechtlichen Vertrag unterzeichne, so sei dies letztlich immer ein Vertrag zu Lasten Dritter, weil er andere Menschen damit verpflichte.601 In der Praxis komme es aber sogar vor, dass Menschen von gar nicht am Vertrag beteiligten Staaten verpflichtet werden. Kelsen führte hier als Beispiel einen 1922 zwischen den Großmächten geschlossenen Vertrag an, in dem diese die Einhaltung bestimmter Regeln des Kriegsvölkerrechts vereinbart und erklärt hatten, dass sich jeder Einzelne (nicht nur Angehörige der Signatarstaaten) strafbar mache, wenn er diese Regeln nicht einhalte.602 Vor allem aber sehe Art. 17 der Völkerbundsatzung vor, dass sich sowohl Mitglieder als auch Nichtmitglieder des Völkerbundes dem in dieser Satzung vorgesehenen Streitbeilegungsmechanismus unterwerfen müssen; weigere sich ein Staat, dies zu tun, so könne der Völkerbund feindselige Maßnahmen gem. Art. 16 gegen diesen Staat ergreifen. Kelsen sah darin eine Bestätigung seiner schon früher postulierten »bellum iustum«-These.603 Der dritte zu diesem Themenbereich gehörende Aufsatz erschien ebenfalls 1936, in einer französischen Zeitschrift, und hatte die Transformation von Völkerrecht in staatliches Recht zum Gegenstand. Es sei völlig herrschende Auffassung, so Kelsen, dass ein völkerrechtlicher Vertrag immer nur die Staaten, nicht auch deren Einwohner [sujets des Etats], binde. Damit auch diese Rechten und Pflichten erwerben, müssten die völkerrechtlichen Normen – etwa durch ein Gesetz – in staatliche Normen transformiert werden.604 Diese Auffassung sei jedoch unrichtig, da Normen – gleich ob staatlicher oder völkerrechtlicher Natur – immer nur das Verhalten von Menschen zum Gegenstand hätten. Daraus folge zwangsläufig, dass auch ein völkerrechtlicher Vertrag für gewisse Menschen, nämlich staatliche Organe, bestimmte Rechte und 600 Kelsen,
Contribution (1936) 254 f. Contribution (1936) 267. 602 Traité relatif à l’emploi des sous-marins et des gaz asphyxiants en temps de guerre, Article 3; https://ihl-databases.icrc.org/dih-traites/48f761e1a61e194b4125673c0045870 f./610f7c46a90fe8bec 1256417003e6125?OpenDocument [Zugriff: 02. 05. 2019], der Art. 3 auch abgedruckt bei Kelsen, Contribution (1936) 271 f. 603 Kelsen, Contribution (1936) 281. 604 Kelsen, La transformation (1936) 5. 601 Kelsen,
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3. Kapitel: Am Sitz des Völkerbundes
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Pflichten begründe.605 Welche Organe konkret zur Wahrnehmung dieser Rechte und Pflichten berufen seien, bestimme sich in der Regel nach staatlichem Recht, insofern seien die Normen des Völkerrechts unvollständig und bedürfen einer Vervollständigung. Mit diesem Argument betonte Kelsen nochmals die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht. Mitunter enthielten völkerrechtliche Verträge auch ganz konkrete Bestimmungen für einzelne Personen oder Personengruppen. Auch in diesem Fall bedürfe es nach Kelsen keiner Transformation, sofern die völkerrechtlichen Normen schon hinreichend konkret seien.606 Fehle ihnen diese Konkretheit, so bedürften auch sie einer Vervollständigung durch staatliches Recht. Von einer Transformation könne dabei aber keine Rede sein. Nur wenn das staatliche Recht ausdrücklich bestimme, dass völkerrechtliche Normen transformiert werden müssen, damit sie angewendet werden können, sei eine solche Transformation notwendig. Doch folge diese Notwendigkeit nicht aus der Natur des Völkerrechts, sondern aus einer konkreten Bestimmung des positiven staatlichen Rechts.607 Die Lehre von der Transformation diente nach Kelsen hauptsächlich der Aufrechterhaltung der Souveränitätsdoktrin und wurde von Vertretern einer dualistischen Völkerrechtstheorie behauptet, wie insbesondere vom italienischen Völkerrechtler Dionisio Anzilotti, mit dem er sich eingehend auseinandersetzte.608 Von besonderer Bedeutung war hier Anzilottis These, dass staatliches und Völkerrecht auf zwei verschiedene »Grundnormen« [normes fondamentales] zurückzuführen seien, von denen die völkerrechtliche Grundnorm den Inhalt »pacta sunt servanda« habe. Kelsen bemerkte, dass diese Regel nur eine Norm des Völkergewohnheitsrechtes sei und daher aus derselben Quelle stamme, aus der auch das staatliche Recht seine Geltung ableite. Internationales Recht und staatliches Recht basieren auf einer einzigen Grundnorm des internationalen Rechts.609 Damit legte sich Kelsen deutlicher als je zuvor auf einen Primat des Völkerrechts fest. d) »Die Parteidiktatur« Im Oktober 1934 nahm Kelsen am jährlichen Treffen des Institut international de Droit Public in Paris teil und hielt dort einen Vortrag über »La dictature de parti« [Die Parteidiktatur], der im Folgejahr gedruckt erschien und eine Reihe von Übersetzungen, u. a. ins Englische, Deutsche und Spanische, erfuhr.610 605 Kelsen, La transformation (1936) 7 f. Er verglich hier den Staat mit einer juristischen Person, für die ebenso gelte, dass ihre Rechte und Pflichten von den dahinter stehenden physischen Personen wahrzunehmen seien. 606 Kelsen, La transformation (1936) 15–17. 607 Kelsen, La transformation (1936) 48. 608 Kelsen, La transformation (1936) 9 ff. 609 Kelsen, La transformation (1936) 21: »la base dernière de la validité des lois du droit interne comme du droit international contractuel est dans la norme fondamentale du droit international sur laquelle reponse le système universel du droit tout entier.« 610 Der französische Originaltext wurde samt der anschließenden Diskussion im Jahrbuch des Instituts veröffentlicht: Kelsen, La dictature de parti (1935). Eine deutsche Übersetzung sollte in
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
In dieser Arbeit bemühte sich Kelsen, die Parallelen und Unterschiede der bolschewistischen und der faschistischen Diktatur aufzuzeigen.611 In ersterer werde der Staatsapparat der Partei untergeordnet, in der anderen trete die Partei neben den Staat, und jedes Staatsamt werde in »Personal-Union« mit einem entsprechenden Parteiamt verbunden. Gerechtfertigt werde die Diktatur des Proletariats damit, dass die Partei die »Avant-Garde« darstelle; ähnlich verhalte es sich mit dem Elitegedanken der faschistischen Diktatur, die in einer Führer-Idee gipfle, welche in Deutschland »sogar eine Wendung zum Messianismus« nehme.612 Bemerkenswert sind Kelsens Äußerungen über den faschistischen Antisemitismus: Dieser könne auf lange Sicht keine Religion dulden, »deren Gott ein Stammesgott der Hebräer, deren Stifter der Sohn einer Jüdin« sei, weshalb der Faschismus in Zukunft eine viel größere Gefahr für das Christentum darstellen werde als der atheistische Bolschewismus, insbesondere für das protestantische Christentum, welches im Gegensatz zur Katholischen Kirche nicht international organisiert sei. Zuletzt äußerte sich Kelsen zur wirtschaftlichen Organisation der Diktaturen und kam zur Erkenntnis, dass der faschistische Totalitarismus letztlich zu einer völligen Verstaatlichung der Wirtschaft führen müsse, dass er womöglich »eine bessere Gewähr für die endliche Verwirklichung des Sozialismus« biete »als dessen ureigene Ideologie.«613
einer gemeinsamen Festschrift für vier slowenische Rechtsgelehrte, den Kriminalisten Method Dolenc (1875–1941), den Romanisten Gregor Gojmir Krek (1875–1942), den Kanonisten Radoslav Kušej (1875–1941) und den Ökonomen Milan Škerlj (1875–1947), erscheinen. Diese wurde jedoch – aus unbekannten Gründen – niemals publiziert. Sonderdrucke der einzelnen Aufsätze sind u. a. in der Bibliothek des Max Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg vorhanden (freundlicher Hinweis von Prof. Marijan Pavčnik), der Sonderdruck von Kelsens Aufsatz (Kelsen, Parteidiktatur [1937]) auch in der Bibliothek des HKI. Vgl. das chronologische Werkverzeichnis bei Walter /Jabloner /Zeleny, Hans Kelsens stete Aktualität (2003) 173 unter Nr. 213. Die biographischen Angaben der Jubilare folgen der slowenischen Wikipedia. 611 Kelsen lehnte die zu jener Zeit aufkommenden Totalitarismus-Theorien ab und machte insbesondere in der Diskussion zu seinem Vortrag deutlich, dass sich der Faschismus als bürgerliches Phänomen stets vom Kommunismus unterscheiden werde: Herrera, Kelsen als Demokrat (2014) 103. 612 Kelsen, Parteidiktatur (1937) 422, 425. 613 Kelsen, Parteidiktatur (1937) 428–430.
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Viertes Kapitel
Das Prager »Gastspiel«614 1. Die Ernennung zum Professor in Prag In dem 1926 veröffentlichten Romanfragment »Das Schloß« des zwei Jahre zuvor verstorbenen Prager Schriftstellers Franz Kafka wird der Protagonist, K., als Landvermesser zu einem Schloss bestellt, aber auf nicht erklärbare Art und Weise scheitern alle seine Versuche, auch wirklich dorthin zu gelangen. In einer ähnlich kafkaesken Situation befand sich Hans Kelsen im Jahr 1934, als er auch noch Monate nach seiner Zusage an das tschechoslowakische Schulministerium, den Ruf an die Deutsche Universität Prag annehmen zu wollen, keine Antwort aus der Stadt Kafkas erhalten hatte. Freilich, unerklärbar war das ministerielle Zögern im Falle Hans K. keineswegs. Vielmehr hatte sich die Berufung Kelsens zu einem Politikum entwickelt, das außerordentlich hohe Wellen schlug. Nicht nur von deutschnationaler, sondern auch von tschechischnationaler Seite blies ihm der Wind entgegen. In mehreren tschechischen Zeitungen wurde gegen teure Berufungen aus dem Ausland gewettert und speziell Kelsen als »Pangermanist« angeprangert, der stets für den »Anschluß« Österreichs an das Deutsche Reich eingetreten sei.615 Ja, der Tschechoslowakische Nationalrat (der Verband aller Abgeordneten tschechischer oder slowakischer Nationalität im tschechoslowakischen Parlament) richtete sogar eine Eingabe an die Regierung, in der behauptet wurde, Kelsen solle auf Wunsch Berlins nach Prag kommen, um von hier aus prodeutsche Ideen zu verbreiten.616 Dass diese Behauptung absurd war, braucht hier nicht näher ausgeführt zu werden, allein, sie fiel namentlich bei Innenminister Jan Černý auf fruchtbaren Boden, was zu weiteren Verzögerungen führte.617 Als vom 2.–7. September 1934 in Prag der Achte Internationale Philosophische Kongress stattfand, wurde auch Kelsen als Referent zu dieser Großveranstaltung geladen. Métall berichtete, dass er dort über »Norm und Tatsache in der Soziologie« hätte sprechen sollen, von den Veranstaltern aber – offenbar »unter dem Druck der nationalsozialistischen deutschen Delegation« – wieder ausgeladen und das ihm 614 So
die Formulierung von Kelsen selbst in Kelsen, Autobiographie (1947) 39 = HKW I, 84. list v. 6. 1 2. 1933, Národní archiv, MCV-VA I, Karton 3407, Sign. Kelsen Hans. 616 Schreiben des Tschechoslowakischen Nationalrates [Národní Rada Československá] an Ministerpräsident Jan Malypetr v. 9. 1 2. 1933, Národní archiv, PMR, Karton 863, Sign. 20 č. j. 15510/1935 Kelsen Hans. 617 Míšková, Die Deutsche (Karls‑)Universität (2007) 41; Osterkamp, Kelsen in der Tschechoslowakei (2009) 310. 615 Poledni
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
zugedachte Thema einem Heidelberger Professor übertragen wurde. Hierauf habe auch Weyr seine Teilnahme am Kongress abgesagt und seinen bereits gedruckten Vortrag zurückgezogen – »im Interesse der Freiheit der Wissenschaft«.618 Tatsächlich enthält zwar der gedruckte Tagungsband einen Vortrag von Weyr, doch findet sich in einem Bericht über die Tagung kein Hinweis darauf, dass er diesen Vortrag auch wirklich gehalten hat.619 In der Druckfassung des wohl nie gehaltenen Vortrages, betitelt »Rechtswissenschaft und Rechtssoziologie«, bezeichnete sich Weyr als »überzeugter Anhänger […] der von Kelsen begründeten sog. normativen Theorie oder Reinen Rechtslehre«. Er stellte fest, dass die »Reine Rechtslehre […] viele Anfeindungen zu erdulden gehabt« habe und noch immer erdulde, ohne Kelsens persönliche Diskriminierung explizit zu nennen.620 Auch zwei ehemalige Kelsen-Schüler aus Wiener Tagen, Felix Kaufmann und Julius Kraft, waren mit je einem Vortrag in diesem Tagungsband vertreten; ob sie ihre Vorträge auch tatsächlich hielten, ist unbekannt. Die gedruckten Texte widmeten sich allgemeinen Fragen der Wissenschaftstheorie und nahmen weder auf Kelsen noch auf die Reine Rechtslehre Bezug.621 Bei dem Heidelberger Professor dürfte es sich um Willy Hellpach gehandelt haben,622 er sprach allerdings nicht zu dem Kelsen zugedachten Thema, sondern hielt einen stark rassistisch geprägten Vortrag über das »Volk als Naturtatsache, geistige Gestalt und Willensschöpfung« – der auf entsprechend viel Kritik stieß.623 Der große Skandal blieb aber aus; der Kongress wurde wie geplant am 2. September im Rudolfinum624 von Außenminister Edvard Beneš eröffnet und lief ohne Zwischenfälle ab.625 Einen Tag später, am 3. September, wurde in Genf die jährliche Völkerbundtagung eröffnet, zu der auch Beneš unmittelbar nach Kongresseröffnung fuhr.626 Kelsen nützte diese Gelegenheit, um Beneš in Genf um ein persönliches Gespräch zu bitten. Er erinnerte sich später daran, dass Beneš mit ihm über allgemeine, politische Themen gesprochen und einen »uebertriebenen Optimismus« gegenüber den 618 So auch die Berichterstattung im Rudé právo v. 6. 9. 1934, Národní archiv, MCV-VA I, Karton 3407, Sign. Kelsen Hans, und in der New York Times v. 6. 9. 1934. 619 Sauter, Der VIII. Internationale Philosophenkongress (1934/35). 620 Weyr, Rechtswissenschaft und Rechtssoziologie (1936) 337, 339. 621 Kaufmann, Die Bedeutung der logischen Analyse (1936); Kraft, Die Geisteswissenschaften als Naturwissenschaften (1936). 622 Geb. Oels [Oleśnica/Polen] 26. 2 . 1877, gest. Heidelberg 6. 7. 1955; 1920–1922 Professor für Psychologie in Karlsruhe, 1924/25 badischer Staatspräsident, 1925 Kandidat für die Reichspräsidentenwahl (Deutsche Demokratische Partei), ab 1925 Honorarprofessor in Heidelberg. Vgl. Wilhelm Witte, Hellpach, Willy, in: NDB VIII (1969) 487 f. 623 Hellpach, Zentraler Gegenstand (1936); vgl. Sauter, Der VIII. Internationale Philosophenkongress (1934/35) 444 f. 624 Das heute (wieder) als Konzerthaus benützte Gebäude an der Moldau war zu jener Zeit, 1920–1939, Sitz des Abgeordnetenhauses und befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft des Gebäudes der philosophischen Fakultät der Karlsuniversität. 625 Vgl. auch die Berichterstattung im Prager Tagblatt Nr. 306 v. 4. 9. 1934, 3. 626 Prager Tagblatt Nr. 306 v. 4. 9. 1934, 4.
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4. Kapitel: Das Prager »Gastspiel«
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Diktaturen in Deutschland und Italien an den Tag gelegt habe.627 Sicher wird auch Kelsens ausständige Berufung zur Sprache gekommen sein, aber noch immer sollte es fast ein Jahr dauern, bis Staatspräsident Masaryk das Ernennungsdekret unterzeichnete. Am 19. Mai 1935 fanden in der ČSR Parlamentswahlen statt, die ersten nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland. Die Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei der ČSR,628 die immer mehr zum Sprachrohr ihrer Schwesterpartei in Deutschland geworden war, hatte sich im September 1933 selbst aufgelöst, um einer behördlichen Auflösung zu entgehen, doch war an ihre Stelle die »Sudetendeutsche Partei« unter Konrad Henlein getreten, und diese konnte bei den Wahlen von 1935 zwei Drittel aller deutschen Stimmen auf sich vereinigen. Mit 44 Mandaten war sie zweitstärkste Kraft im Parlament nach der tschechischen Agrarpartei.629 Dieses Ereignis war ein Wendepunkt in der innenpolitischen Entwicklung der ČSR, da von nun an jede weitere Annäherung zwischen Deutschen und Tschechen unmöglich war; beide Nationen standen einander unversöhnlich gegenüber. Um sich gegen innere und äußere Feinde zu schützen, beschloss die Nationalversammlung ein Jahr später ein »Staatsverteidigungsgesetz«,630 das die Rechte des Staatspräsidenten und der Regierung, insbesondere für den Fall der »Wehrbereitschaft«, aber auch darüber hinaus, bedeutend vermehrte, sodass Kritiker, wie etwa Fritz Sander davor warnten, dass der Staatspräsident zum Diktator werden, die Tschechoslowakei zu einem autoritären Staat mutieren könne.631 Österreich hatte ja hier ein schlechtes Beispiel vorgegeben. Vielleicht auch unter dem Einfluss dieser Entwicklungen unternahm der neue Schulminister, Jan Krčmář, ein renommierter Zivilrechtsprofessor der tschechischen Karlsuniversität, einen neuen Vorstoß zugunsten Kelsens. Ohne dass dieser Punkt auf die Tagesordnung gesetzt war, brachte er die Berufung in der Ministerratssitzung vom 20. Juli 1935 zur Abstimmung und konnte mit diesem »Überraschungscoup« die Zustimmung der Regierung erwirken, dass Kelsen nun doch ernannt wurde.632 Mit Entscheidung des Staatspräsidenten Tomáš G. Masaryk vom 31. August 1935 wurde Hans Kelsen zum ordentlichen Professor für Völkerrecht an der juristischen Fakultät der Deutschen Universität Prag »mit Wirkung zum tatsächlichen Dienstantritt« ernannt. Für die Bemessung der Dienstbezüge wurden ihm sämtliche 627 Kelsen,
Autobiographie (1947) 43 = HKW I, 87 f. zu dieser Partei schon oben 455. 629 Prager Tagblatt Nr. 253 v. 30. 10. 1935, 1. Vgl. Suppan, 1000 Jahre Nachbarschaft (2016) 172. 630 Gesetz v. 13. 5. 1936 čsSlg 131 über die Verteidigung des Staates. Vgl. Prager Tagblatt Nr. 103 v. 1. 5. 1936, 2. 631 Sander, Das Staatsverteidigungsgesetz (1936) 192 f. 632 Osterkamp, Kelsen in der Tschechoslowakei (2009) 310. Dort wird irrtümlich der 15. 7. 1935 genannt, das richtige Datum ergibt sich aus Národní archiv, PMR, Karton 863, 7.20 č. j. 15510/1935 Kelsen Hans. Vom 15. 7. 1935 datiert jedoch ein Schreiben des Schulministeriums (a. a. O.) an das Ministerratspräsidium, das über die Gehaltsverhandlungen mit Kelsen berichtet, die also schon zuvor zum Abschluss gebracht worden waren. 628 Vgl.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Dienstzeiten seit 9. Juni 1906, also seit er in Österreich das Gerichtsjahr begonnen hatte, angerechnet. Sein Gehalt belief sich auf 66.000 Kčs zuzüglich einer Kolleggeldgarantie von 9.600 Kčs.633 Vor allem aber hatte sich Kelsen ausbedungen, nur in den Wintersemestern in Prag zu lehren, in den Sommersemestern wollte er weiterhin am IUHEI unterrichten. »Ich dachte nicht daran, meine Genfer Stellung gaenzlich aufzugeben und nach Prag zu uebersiedeln, da ich mir ueber die Chancen meiner Prager Stellung keinerlei Illusionen machte«, erklärte Kelsen später.634 In reichsdeutschen Zeitungen wurde von Kelsens Ernennung berichtet und dabei behauptet, dass Kelsen in Prag nicht nur ein »Maximalgehalt von 120.000 Kronen« erhalte, sondern auch zum Berater der Regierung in internationalen Fragen gemacht worden sei, womit er weitere 350.000 Kčs erhalte: »Herr Kelsen hat seine Schäfchen im Trocknen«.635 Über eine derartige Beratertätigkeit ist allerdings nichts bekannt, und hinsichtlich des Gehaltes waren die Angaben, wohl mit Absicht, schlicht falsch.636 Voraussetzung für den Dienstantritt Hans Kelsens war, dass er zuvor die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erlangte.637 Da nach § 4 der tschechoslowakischen Verfassungsurkunde Doppelstaatsbürgerschaften ausgeschlossen waren, traten Hans und Grete Kelsen sowie ihre noch minderjährige Tochter Maria aus dem deutschen und aus dem österreichischen Staatsverband aus und erwarben, am 24. März 1936, die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft, während die ältere, bereits volljährige Tochter Anna ihre bisherigen Staatsbürgerschaften beibehielt.638 Das deutsche Reichswissenschaftsministerium nahm dies sofort zum Anlass, Kelsens so hart umkämpfte 633 Erlass des čs Schulministeriums v. 7. 9. 1933, Č.j. 106141/35-IV/3, UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Hans Kelsen, F 59. Vgl. auch Malý, Hans Kelsen in Archivdokumenten (2018) 43 (mit Abdruck des Wortlauts der Entscheidung des Staatspräsidenten in Anm. 13). 66.000 Kčs entsprach etwa 8.181 CHF (vgl. Wiener Zeitung Nr. 240 v. 31. 8. 1935, 13); somit bezog Kelsen nicht einmal die Hälfte seines Schweizer Gehalts. Laut https://www.eurologisch.at/docroot/ waehrungsrechner/#/ [Abfrage vom 27. 11. 2019] entspricht dies einer Kaufkraft von heute (2019) € 51.699,77. 634 Kelsen, Autobiographie (1947) 40 = HKW I, 84. Vgl. auch William R appard, Brief an die Rockefeller Foundation v. 11. 2 . 1937, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4089. 635 Westdeutscher Beobachter v. 15. 11. 1936, als Zeitungsausschnitt in UA Köln, Zug 571/105. Vgl. auch die Berichterstattung im Venkov v. 7. 11. 1935, Národní archiv, MCV-VA I, Karton 3407, Sign. Kelsen Hans. 636 So auch Osterkamp, Kelsen in der Tschechoslowakei (2009) 310. 637 Erlass des čs Schulministeriums v. 7. 9. 1933, Č.j. 106141/35-IV/3, UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Hans Kelsen, F 59. 638 Während für Hans Kelsens Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft der 7. 1. 1936 belegt ist (vgl. den Wiedergutmachungsbescheid v. 3. 11. 1953 U2 41–10/0 Nr. 9895/54, UA Köln Zug 17/III, 1869a, 235), ist das Datum für den Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft unbekannt. Siehe aber zur Zurücklegung beider Staatsbürgerschaften das Schreiben von Franz X. Weiß an die Prager Landesbehörde v. 17. 3. 1936, Národní archiv, PZU, Kraton 444, Sign. Kelsen Hans č. j. 5340/1935. Allgemein zu den Bedingungen über Erwerb und Verlust der čs Staatsbürgerschaft vgl. Adamovich, Grundriß (1929) 53. Die Volljährigkeitsgrenze lag in der ČSR nach dem Gesetz v. 23. 7. 1919 čsSlg 447 bei 21 Jahren, sodass Anna (geb. 23. 11. 1914) knapp darüber, Maria (geb. 15. 1 2. 1915) knapp darunter lag.
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4. Kapitel: Das Prager »Gastspiel«
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Ruhegenüsse zu streichen.639 Kelsen erhob Einspruch und erklärte, dass der Wechsel der Staatsangehörigkeit keinen Einfluss auf den Ruhegenuss haben könne, zumal er seinerzeit, 1930, die preußische Staats‑ und deutsche Reichsangehörigkeit ja überhaupt nicht hatte annehmen müssen; er hatte dies damals lediglich getan, »weil [er] als Professor des öffentlichen Rechts nicht der politischen Rechte entbehren wollte.«640 Doch diesmal hatte er den Kampf endgültig verloren; auf sein Konto bei der Dresdner Bank (auf das er weder von Genf noch von Prag aus zugreifen konnte) wurde keine Mark mehr einbezahlt. Am 29. Mai 1936 leistete Hans Kelsen beim Magistrat der Stadt Prag seinen staatsbürgerlichen Eid ab.641 Am 2. Juli folgte der Diensteid in die Hand des Rektors der Deutschen Universität, des Theologen Karl Hilgenreiner, womit Kelsen formell seinen Dienst an der Deutschen Universität zu Prag antrat.642
2. Die ersten Ehrendoktorate In derselben Zeit wurden Kelsen die bis dato größten Auszeichnungen in seiner Karriere zuteil: Am 20. April 1936 verlieh ihm die Rijksuniversiteit Utrecht in den Niederlanden, am 18. September 1936 auch die Harvard University in den USA je ein Ehrendoktorat. Kelsen hatte schon seit langem einen guten Ruf in den Niederlanden; seine »Hauptprobleme« waren in einer niederländischen Zeitschrift auf nicht weniger als 45 Seiten rezensiert worden.643 Dennoch befand sich während Kelsens Wiener Zeit nur ein einziger Niederländer, Marinus Maurits van Praag,644 unter Kelsens Schülern. Nach Kelsens Berufung an die Universität Köln intensivierten sich dessen Kontakte in die Niederlande, und er unternahm mehrere Vortragsreisen; u. a. trug er am 23. November 1931 vor einer Utrechter Studentenvereinigung über »Die Gerechtigkeit bei Plato«645 und zwei Tage später im niederländischen Verein für Rechtsphilosophie über 639 Erlass des Wissenschaftsministeriums v. 6. 2 . 1936, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 214. Es stütze sich dabei auf § 27 Zivilruhegehaltsgesetz. Vgl. dazu auch das Schreiben des Kuratoriums an das Finanzamt v. 9. 1. 1939, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 224 sowie Lepsius, Kelsen und der Nationalsozialismus (2009) 279. 640 Hans Kelsen, Brief an das Kuratorium der Universität Köln v. Juni 1936, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 215. Hingewiesen sei darauf, dass Kelsen aufgrund seiner Abstammung niemals die »Reichsbürgerschaft« nach dem Reichsbürgergesetz v. 15. 9. 1935 dRGBl I S. 1146 – einem der sog. Nürnberger Rassegesetze – erhalten hatte, seine »politischen Rechte« schon aus diesem Grund nur mehr sehr begrenzte waren. 641 Národní archiv, PZU, Karton 444, Sign. Kelsen Hans č. j. 5340/1935. Vgl. zur Datierung des Erwerbs der čs Staatsbürgerschaft auch Kreuz, Prager Wurzeln (2009) 34. 642 Mitteilung des Dekans der juridischen Fakultät an die Landesbehörde in Prag v. 3. 7. 1936, UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Hans Kelsen, F 59. 643 Klanderman, Rezeption (2010) 90. 644 Vgl. zu ihm schon oben 545. 645 Siehe oben 494.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
»Souveränität« vor.646 1933 wurde Kelsen zum auswärtigen Mitglied der »Utrechtsch Genootschap van Kunsten en Wetenschapen« [Utrechter Genossenschaft für Künste und Wissenschaften] gewählt;647 drei Jahre später folgte das Ehrendoktorat. Wer Kelsen für die Verleihung dieser Würde vorgeschlagen hatte, ist aus den Akten nicht ersichtlich; möglicherweise kam die Initiative von Julius Kraft, der gemeinsam mit seiner Frau Margit Kraft-Fuchs 1933 in die Niederlande emigriert war und bis 1939 in Utrecht als Privatdozent lehrte.648 Anlass für die Verleihung des Doctor honoris causa war der 350. Geburtstag der am 26. März 1636 gegründeten Universität, und außer Kelsen wurden noch 37 weitere Wissenschaftler auf diese Weise geehrt. Schon wenige Monate später konnte sich Kelsen erneut über eine bedeutende Auszeichnung freuen: Auch die Harvard University feierte 1936 einen runden Geburtstag, den dreihundertsten, und auch dieses Jubiläum wurde zum Anlass genommen, Kelsen gemeinsam mit einer Anzahl weiterer Gelehrter auszuzeichnen. Der Vorschlag dazu war vom Dekan der Harvard Law School, Roscoe Pound, ausgegangen.649 Pound, 1870 in Lincoln in Nebraska, am Rande des »Wilden Westens« geboren, hatte zuerst Botanik in Nebraska, danach Recht in Harvard studiert und Professuren an der University of Nebraska, an der Northwestern University in Illinois und an der University of Chicago innegehabt, bevor er 1910 nach Harvard berufen wurde; zwanzig Jahre lang, 1916–1936, leitete er die Harvard Law School. Er war ein Vertreter der »sociological jurisprudence«, die die Ergänzungsbedürftigkeit der Rechtswissenschaft durch die Soziologie lehrte, und bezeichnete das Recht als »social engineering«, zumal es seine Aufgabe sei, so viele soziale Interessen wie möglich miteinander in Einklang zu bringen.650 Im Februar 1934 veröffentlichte Pound im angesehenen Yale Law Journal einen Überblick über verschiedene aktuelle Rechtstheorien, wobei er Jhering, Stammler, Gény, Duguit und Kelsen als die »signifikanten Namen« bezeichnete.651 »Kelsen ist, seitdem Stammler in den Ruhestand getreten ist, fraglos der führende Jurist unserer Zeit«, erklärte Pound in diesem Zusammenhang.652 Kelsens Ideen, die übrigens 646 Klanderman,
Rezeption (2010) 90. des Direktors der Utrechter Genossenschaft an Hans Kelsen v. 24. 6. 1933, HKI, Nachlass Kelsen 15a44.57. 648 Donhauser, Julius Kraft (2008) 217. 649 Roscoe Pound, Vorschlag vom 7. 1 2. 1935, in: Harvard Pusey Library, UA V 827.10.19. Pound hatte offenbar seine Stellung als Dean der Harvard Law School genützt, um Kelsen eigenmächtig vorzuschlagen; der Lehrkörper war nicht zu einer Stellungnahme aufgefordert worden: Thomas Reed Powell, Brief an John A. Fairlie (RF) v. 2. 2 . 1939, in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939. Powell war diesem Schreiben zufolge kein Freund von europäischen Rechtswissenschaftlern und warf ihnen u. a. zu große Theorielastigkeit vor. 650 Kelsen, Pound (1945/1946); Birgit Schäfer, Pound Roscoe, in: Stolleis, Juristen (1995) 501–502. Zur sociological jurisprudence allgemein Reich, Sociological Jurisprudence und Legal Realism (1967) 44 ff., zu Pound ebd. 55 ff. 651 Pound, Law and the Science of Law (1934) 530. 652 »Kelsen, now that Stammler has retired, is unquestionably the leading jurist of the time.« Pound, Law and the Science of Law (1934) 532. 647 Schreiben
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4. Kapitel: Das Prager »Gastspiel«
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nach Ansicht Pounds auf Stammler basierten, würden in allen Ländern diskutiert, seine Schüler berichten enthusiastisch von seinen Lehren. Als deren zentrale Elemente nannte er die Thesen, dass Rechtswissenschaft eine normative Wissenschaft sei, dass das positive Recht auf einer letzten, rechtlich unabhängigen Norm basiere, und drittens, dass alles Recht eine Einheit bilde. Auch in seinem, am 7. Dezember 1935 der Universitätsleitung vorgelegten Vorschlag, Kelsen mit einem Ehrendoktorat auszuzeichnen, bezeichnete Pound Kelsen als einen »Denker ersten Ranges und außergewöhnlich kraftvollen Lehrer«, der »die meisten der jüngeren Rechtsgelehrten Kontinentaleuropas zu Schülern« gehabt habe, sodass seine Lehre außerordentlich einflussreich in Kontinentaleuropa sei. Bei dem meisten, was in den letzten zwanzig Jahren auf dem Gebiet der theoretischen Rechtswissenschaft geschrieben worden sei, handle es sich um eine Auseinandersetzung mit seinen Gedanken – sei es zustimmend, sei es kritisierend.653 Am 21. August 1936 bestieg Kelsen – ohne Begleitung seiner Frau, jedoch vermutlich gemeinsam mit Rappard, der ebenfalls für ein Ehrendoktorat vorgesehen war – in Le Havre die RMS »Aquitania« und erreichte am 1. September New York. Hier blieb er drei Tage im gediegenen Harvard Club, bevor er per Bahn nach Boston weiterreiste. Dort holte ihn Roscoe Pound persönlich vom Bahnhof ab.654 Es war das erste persönliche Treffen der beiden,655 und es wurde hier das Fundament für eine Freundschaft gelegt, die nach Kelsens Emigration in die USA 1940 entscheidend für sein wissenschaftliches Überleben jenseits des Atlantik werden sollte. Dabei war Pound selbst kein Anhänger der Reinen Rechtslehre; er lehnte den Wertrelativismus als eine »give-up philosophy« ab und befürchtete, dass er ein Wegbereiter für Diktaturen wäre.656 Die Verleihung der Ehrendoktorate war nur Teil einer Reihe von Festivitäten, mit denen die älteste Universität der USA ihre Gründung feierte. Vom 31. August bis zum 12. September fand eine internationale Konferenz (»The Harvard Tercentenary Conference of Arts and Sciences«) statt, zu der mehr als zweitausend Wissenschaftler aus allen Fachbereichen kamen, um 72 Vorträge zu hören, die teilweise auch im Radio und sogar im Fernsehen übertragen wurden.657 William Rappard gab am 8. September eine einstündige Abendvorlesung über »Economic Nationalism« im Sanders Theatre, einem riesigen, für seine gute Akustik berühmten Hörsaal. Hans Kelsen hielt am nächsten Morgen im selben Raum einen halbstündigen Vortrag zum Thema 653 Roscoe
Pound, Vorschlag vom 7. 1 2. 1935, in: Harvard Pusey Library, UA V 827.10.19. Pusey Library, UA V 827.216.12 pf. – Der Harvard Club ist ein für Angehörige des Lehrkörpers und Alumni von Harvard reservierter Club; sein Sitz befindet sich seit 1894 in Midtown Manhattan, 35 W 44th Street, New York/NY. 655 Hans Kelsen, Brief an Roscoe Pound v. 12. 10. 1936, Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7. 656 Vgl. dazu Kelsen, Buchbesprechung Pound (1941). 657 Wie aus einem in der Pusey Library (Harvard) verwahrten, leider nicht mehr identifizierbaren Zeitungsausschnitt hervorgeht, wurde Kelsens Vortrag über den Kurzwellensender W1XAL im Radio übertragen. 654 Harvard
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
»Centralization and Decentralization«.658 Dieses Thema hatte Kelsen (alternativ zu einem Vortrag über »Die Seele und das Recht«659) selbst vorgeschlagen. Er begann seinen Vortrag mit der Ankündigung, dass er nicht über die politischen Vorzüge oder Nachteile der Zentralisation und Dezentralisation sprechen, sondern das Thema von einer rechtstheoretischen Seite erfassen wolle. Ziel des Vortrages sei es, dem Auditorium an einem konkreten Beispiel die Bedeutung der Reinen Rechtslehre, an der er und seine Freunde seit einem Vierteljahrhundert arbeiteten, zu zeigen.660 Es ist dieser Vortrag somit das erste Mal, dass sich Kelsen explizit darum bemühte, die Grundbegriffe der Reinen Rechtslehre einem nordamerikanischen Publikum zu vermitteln. Kelsens Vortragsmanuskript war vermutlich zunächst von Josef L. Kunz ins Englische übersetzt und bereits im Juni 1936 nach Harvard geschickt worden; für die Schriftfassung, die 1937 in den »Harvard Tercentenary Publications« erschien, erbaten sich die Organisatoren das Originalmanuskript und ließen es von einem Dolmetscher namens Wolfgang H. Kraus nochmals übersetzen. Aber auch diese Fassung zeugte von den großen Übersetzungsschwierigkeiten, die Kelsen in den USA hatte: Wurde darin doch z. B. »Rechts-Gesetz« mit »Rule of Law« übersetzt!661 In der Sache war der erste Teil von Kelsens Vortrag eine Zusammenfassung von Grundbegriffen der Reinen Rechtslehre (Grundnorm, Stufenbau usw.), im Anschluss daran zeigte er verschiedene Arten auf, wie man das Recht differenzieren könne: nach persönlichem (z. B. religiösem) Status, nach örtlichem Geltungsbereich usw. Der Bundesstaat sei somit nur eine von vielen Möglichkeiten einer dezentralisierten Rechtsordnung und unterscheide sich insbesondere vom Staatenbund nur in gradueller Hinsicht.662 In der Demokratie sei die Dezentralisation ein Mittel, um die Freiheit des Einzelnen zu schützen, so etwa, wenn die Mehrheit der Bevölkerung katholisch, eine Minderheit protestantisch sei; in diesen Fällen sei Dezentralisation sogar ein »demokratisches Postulat«. Zuletzt kam Kelsen auf die internationale Staatengemeinschaft zu sprechen. Auch hier liege eine dezentralisierte Rechtsordnung vor; und ihre Grundregel laute: pacta sunt servanda.663 Eine Woche später, am 18. September, erreichten die Feiern mit einer dreistündigen, monumentalen, unter freiem Himmel stattfindenden und erst kurz vor ihrer Beendigung durch einen Wolkenbruch gestörten Zeremonie, in deren Rahmen die Ehrendoktorate vergeben wurden, ihren Höhepunkt.664 Die etwa 14.000 Gäste blickten 658 Harvard Tercentenary Conference of Arts and Sciences. August 31st to September 12th, 1936 (Cambridge 1936) 7 f. 659 Zu diesem Thema hatte Kelsen bereits einen Vortrag beim 2. Jahrestreffen des Institut International de Philosophie du Droit et de Sociologie Juridique in Paris gehalten: Kelsen, L’âme et le droit (1936). 660 Kelsen, Centralization and Decentralization (1937) 210. 661 Kelsen, Centralization and Decentralization (1937) 212. 662 Kelsen, Centralization and Decentralization (1937) 234. 663 Kelsen, Centralization and Decentralization (1937) 229, 238. 664 Die Promotionsurkunde Kelsens in: HKI, Nachlass Kelsen 15a40.57. Ebendort auch ein Zettel mit aufgedrucktem Text, der möglicherweise von Präsident Conant bei der Überreichung verlesen
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4. Kapitel: Das Prager »Gastspiel«
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auf die Harvard Memorial Church, deren Stufen zu einer Tribüne umfunktioniert worden waren. In deren Mitte saßen der Präsident der Harvard University, James Bryant Conant, der Präsident der Vereinigten Staaten, Franklin D. Roosevelt (ein Harvard-Absolvent), sowie weitere Repräsentanten von Staat, Wissenschaft und Gesellschaft, links und rechts von den insgesamt 61 Promovenden umrahmt, unter denen sich Kelsen und Rappard, der Philosoph Rudolf Carnap, der Psychologe C. G. Jung, der Mediziner Karl Landsteiner, der Papyrologe Leopold Wenger und viele andere herausragende Wissenschaftler aller Disziplinen befanden.665 Der erst 43-jährige Conant hielt eine Rede, in der er vor einer Welle des »Anti-Intellektualismus« warnte, der die Welt gegenwärtig flute, und in der er dazu aufrief, eine amerikanische Zivilisation zu entwickeln, die den materiellen Möglichkeiten der USA entspreche. Die Rede muss einen großen Eindruck auf Kelsen gemacht haben, denn er zitierte später große Ausschnitte aus ihr in einer seiner eigenen Publikationen.666 Im Rahmen von Kelsens erstem Amerika-Aufenthalt kam es auch zu einem ersten (dem einzigen quellenmäßig gesicherten) persönlichen Zusammentreffen mit dem Harvard-Professor Felix Frankfurter, bei dem Kelsen zum Abendessen eingeladen war.667 Frankfurter war 1882 in Wien geboren worden, jedoch im Alter von zwölf Jahren mit seinen Eltern nach Amerika emigriert, wo er an der Harvard Law School studiert hatte und seit 1921 selbst dort unterrichtete. Als enger Vertrauter von Präsident Roosevelt wurde er später, 1939, Richter am Supreme Court der Vereinigten Staaten. Als solcher propagierte Frankfurter größte Zurückhaltung bei politischen Entscheidungen (judicial self-restraint), eine Position, die im Prinzip ganz auf der Linie der Reinen Rechtslehre lag,668 auch wenn sich Kelsen als Verfassungsrichter nicht immer an sie gehalten hatte.669 Es wäre reizvoll, wenn auch unwissenschaftlich, darüber zu spekulieren, ob Kelsen und Frankfurter bei ihrem Abendessen im Oktober 1936 auch über derartige Themen sprachen. Sicher ist allerdings, dass Frankfurter niemals ein Anhänger der Reinen Rechtslehre wurde. An seinen ehemaligen Mitarbeiter Philip Elman schrieb er später einmal, dass er großen Respekt vor Kelsen habe, auch wenn er seine juristischen Abstraktionen nicht sehr genial finde.670 Bald nach Ende der Jubiläumsfeierlichkeiten in Harvard kehrte Kelsen, vermutlich wieder über New York und Le Havre, zunächst nach Genf zu seiner Familie zurück, von wo er am 12. Oktober Roscoe Pound herzlich für den warmen Empfang, wurde: »Hans Kelsen, Doctor of Laws. A leader of juristic thought, professor at Vienna, Cologne, and Geneva, his teachings shape the jurisprudence of a continent.« 665 Eine Auflistung aller Preisträger erfolgte u. a. in The Harvard Crimson v. 18. 9. 1936. Siehe im Übrigen die ausführliche Berichterstattung in Nature, 17. 10. 1936, 667–670: »The Harvard Tercentenary Celebrations«. 666 Kelsen, Wissenschaft und Demokratie (1937), die Zitate in Teil II = VdD 243–247. 667 Hans Kelsen, Brief an Felix Frankfurter v. 11. 10. 1938, in Kopie in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4089; vgl. auch Ehs, Frankfurter (2013) 452. 668 Vgl. dazu näher Ehs, Frankfurter (2013) 471. 669 Siehe oben 430. 670 Felix Frankfurter, Brief an Philip Elman v. 23. 10. 1944, in: Harvard Law School Library, Elman Papers, Box 1, Folder 30.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
der ihm in den Staaten bereitet worden war, dankte.671 Wenige Tage später reiste er, abermals alleine, nach Prag, um dort seine neue Professur anzutreten. In das Personalstandsverzeichnis der Universität war Kelsen – im Gegensatz zu Köln 1930 – ohne Einrechnung seiner Vordienstzeiten und daher als dienstjüngster Professor an letzter Stelle eingereiht worden. Allerdings war sein Eintrag durchaus sehenswert und übertraf die Länge sämtlicher anderer Fakultätskollegen: Wurde er dort doch als »korresp. Mitglied der Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Prag, Membre associé de l’Academie Royale des Sciences, des Lettres et des Beaux Arts de Belgique, Membre Corrispondente della Reale Accademia delle Scienze dell’Istituto di Bologna, Ausw. Mitglied der Utrechtsch Genootschap van Kunsten en wesenschapen, Foreign Honorary Member of the American Academy of Arts and Sciences, Member of the American Academy of Political and Social Sciences, Membre associé de l’Institut International de Sociologie, Membre titulaire de l’Institut International de Droit Public, Vice President de l’Institut International de Philosophie du droit, Doctor Honoris causa der Reichsuniversität Utrecht, Doctor Honoris causa der Harvard-University, Cambridge« geführt.672 In welchem Kontrast zu diesen akademischen Auszeichnungen stand jene »Ehrung«, die Kelsen zur selben Zeit von Seiten der deutschen Rechtswissenschaft zuteil wurde: Am 3. und 4. Oktober 1936 veranstaltete die von Carl Schmitt geleitete Reichsgruppe Hochschullehrer des Nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes in München eine Tagung zum Thema »Das Judentum in der Rechtswissenschaft«.673 Eingehend wurden »Das Judentum im Wettbewerbsrecht«, »Der Einfluß jüdischer Theoretiker auf die deutsche Völkerrechtslehre« und ähnliche Themen behandelt, wobei auch Kelsen immer wieder Erwähnung fand. Eine substantiierte Auseinandersetzung fand allerdings nicht statt, vielmehr wurde Kelsen vor allem persönlich diffamiert und lächerlich gemacht. Norbert Gürke bezeichnete ihn als »Sohn des Abraham Littmann aus Brody in Galizien«;674 Erich Jung spielte auf das sich hartnäckig haltende Gerücht eines angeblichen Namenswechsels Kelsens an, wenn er ihn als »Kelsen-Kohn« bezeichnete;675 Edgar Tatarin-Tarnheyden schließlich gab seinem Bedauern darüber Ausdruck, dass man es seinerzeit für notwendig gehalten habe, »selbst so typische Vertreter jüdischer Mentalität wie Hans Kelsen und Hermann Heller aus dem Auslande [= Österreich] zu importieren«, und verglich die seinerzeitigen Streitgespräche zwischen Kelsen und Heller auf den Deutschen Staatsrechtslehrertagungen mit dem »Gezänke Mimes und Alberichs im zweiten Akt des ›Siegfried‹«.676 671 Hans Kelsen, Brief an Roscoe Pound v. 12. 10. 1936, Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7. 672 Personalstand der Deutschen Universität in Prag zu Anfang des Studienjahres 1936–37 (Prag 1936) 13. 673 Mehring, Schmitt (2009) 374–377; Neumann, Schmitt (2015) 383–387. 674 Gürke, Der Einfluß jüdischer Theoretiker (1936) 14. 675 Jung, Rechtsquellenlehre (1936) 7; vgl. dazu Métall, Kelsen (1969) 1; zum Aufkommen des Gerüchts um »Kelsen-Kohn« siehe schon oben 492. 676 Tatarin-Tarnheyden, Der Einfluß des Judentums (1936) 19.
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4. Kapitel: Das Prager »Gastspiel«
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Die Tagung, zu der »weit über hundert rechts‑ und wirtschaftswissenschaftliche Hochschullehrer aus allen Gauen des Reiches sowie eine große Anzahl von Gästen« gekommen waren,677 war wohl der intellektuelle Tiefpunkt einer wenige Jahre zuvor noch hoch entwickelten deutschen Rechtswissenschaft.
3. Hans Kelsen in seiner Geburtsstadt Prag – es ist unwahrscheinlich, dass Hans Kelsen, als er Mitte Oktober 1936 in seine Geburtsstadt zurückkehrte, noch mehr als nur vage Erinnerungen an seine ersten vier Lebensjahre besaß, die er bereits in der »Goldenen Stadt« an der Moldau verbracht hatte. Immerhin, die Stadt war ihm nicht fremd, zumal es schon vor 1936 immer wieder Gelegenheit für einen Besuch gegeben hatte, über diverse Vorträge, die Kelsen in Prag gehalten hatte, wurde schon oben berichtet.678 Die einstige Landeshauptstadt des k. k. Kronlandes Böhmen war nunmehr Hauptstadt der Tschechoslowakischen Republik (Československá republika, ČSR) und durch Zuzug und Eingemeindungen auf mehr als 670.000 Einwohner angewachsen. Die Straßenbahnen, die in Hans Kelsens Kindheit noch mit Pferden gezogen worden waren, wurden schon längst elektrisch betrieben, und seit ein paar Monaten kurvten auch einige Oberleitungsbusse durch die Stadt. Der Veitsdom, an dem zur Zeit von Kelsens Geburt noch gearbeitet worden war, war 1929, fast sechs Jahrhunderte nach Baubeginn, fertiggestellt worden und überragte nunmehr auch mit seinem Langhaus die ihn umgebende Prager Burg auf dem Burghügel, dem Hradschin, und damit die gesamte Metropole. Die Burg selbst, einst Residenz der böhmischen Könige, war mittlerweile Amtssitz des tschechoslowakischen Staatspräsidenten Edvard Beneš, der am 18. Dezember 1935 in dieses Amt gewählt worden war und damit die Nachfolge des Staatsgründers Tomáš G. Masaryk angetreten hatte.679 Etwa 30.000 Pragerinnen und Prager, somit 4,5 % der Gesamtbevölkerung der Hauptstadt, waren Deutsche, ihre Zahl war seit 1918 beträchtlich gestiegen, da nur mehr wenig Abwanderung nach Wien stattfand, Prag vielmehr das unangefochtene kulturelle Zentrum für die Deutschen in der Tschechoslowakei war, was nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland 1933 durch den Zuzug vieler Exilanten noch weiter gestärkt wurde. Die deutschsprachigen Hochschulen in der ČSR zählten mehr als doppelt so viele Hörerinnen und Hörer wie vor dem Ersten Weltkrieg, an der Deutschen Universität zu Prag alleine waren es rund 5.000.680 Dies kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Situation der Deutschen in der ČSR eine 677 Siehe die »Vorbemerkung« zu Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist (1936) 5. 678 Oben 410. 679 Die Angaben zur Stadt Prag folgen Meyers Lexikon (Leipzig 71924–1933) sowie Karl Baedeker, Sachsen, nordböhmische Bäder, Ausflug nach Prag. Handbuch für Reisende (Leipzig 21928). 680 Prinz, Das kulturelle Leben (1970) 217.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Abb. 40: Prager Burg mit Veitsdom und Karlsbrücke, 1932.
überaus schwierige war, und dass sie mit ihrer Rolle als Minderheit, nachdem sie jahrhundertelang die Führungsrolle beansprucht hatten, nur schwer zurechtkamen. Die Verfassungsurkunde der ČSR vom 29. Februar 1920 war ohne ihr Mitwirken zustande gekommen, und die Minderheitenrechte, zu denen sich die ČSR in St. Germain völkerrechtlich verpflichtet hatte, waren – jedenfalls aus ihrer Sicht – mit der Verfassungsurkunde und einem eigenen Sprachengesetz nur höchst ungenügend umgesetzt worden. Insbesondere durfte die deutsche Sprache (oder eine andere Minderheitensprache wie namentlich die ungarische, ukrainische oder polnische) im Verkehr mit Behörden nur dann verwendet werden, wenn die betreffende Minderheit im jeweiligen Gerichtsbezirk zumindest 20 % der Bevölkerung ausmachte – was gerade in Prag nicht der Fall war. Ausgerechnet am Sitz zweier deutschsprachiger Hochschulen sowie zahlreicher deutschsprachiger Zentralvereine und Wirtschaftsverbände mussten daher alle amtlichen Schriftstücke auf Tschechisch verfasst werden.681 Kelsen berichtete in seiner Autobiographie, dass er »aus Anlass [s]eines Amtsantritts in Prag« – offenbar noch vor seiner ersten Vorlesung am 22. Oktober 1936682 – mit dem neuen Staatspräsidenten Edvard Beneš zusammentraf. Dabei brachte Kelsen auch die politische Situation der ČSR zur Sprache und propagierte die Umwandlung der zentralistisch organisierten Republik »in einen Bundesstaat, gebildet aus einem 681 Slapnicka, Die böhmischen Länder (1970) 33. Allerdings weist Evans, Das Dritte Reich II (2006) 805, darauf hin, dass diese Situation nur für ca. 10 % aller in der ČSR lebenden Deutschen bestand. 682 Kelsen, Autobiographie (1947) 42 = HKW I, 87, erwähnt mehrere Gespräche mit Beneš, von denen er anscheinend eines vor, eines nach dem 22. 10. 1936 führte.
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4. Kapitel: Das Prager »Gastspiel«
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tschechischen, slovakischen und sudetendeutschen Gliedstaat«.683 Beneš lehnte diesen Gedanken jedoch entschieden ab, was Kelsen erneut als »zu optimistisch« einschätzte. Die Deutsche Universität Prag, an der vor dem Ersten Weltkrieg noch Wissenschaftler wie Albert Einstein gelehrt hatten,684 hatte die Umkehr im Verhältnis der beiden Nationalitäten zueinander schon recht bald nach Zerfall der Habsburgermonarchie zu spüren bekommen. Während bis dahin zwei formell gleichberechtigte Lehranstalten, eine deutsche und eine tschechische, bestanden hatten, die sich nicht nur die Bibliothek und andere Einrichtungen, sondern auch den traditionsreichen Namen »Karl Ferdinands-Universität« [Univerzita Karlo-Ferdinandova] miteinander teilten, war 1920 mit der »lex Mareš«685 eine vollständige, insbesondere auch vermögensrechtliche Trennung durchgeführt worden. Fortan durfte nur die tschechische Hochschule den Namen »Karlsuniversität« [Univerzita Karlova] tragen und sich auf eine knapp sechshundertjährige Tradition berufen, während ihre deutsche Schwester amtlich nur als die »Deutsche Universität zu Prag« bezeichnet wurde (und der Name des unter den Tschechen verhassten Habsburgers Ferdinand III. bei dieser Gelegenheit ganz aus der Universitätsbezeichnung verschwand). Das seit dem 14. Jahrhundert von der Universität als Hauptgebäude benutzte sog. Karolinum am Obstmarkt [Ovocný trh], wo sich u. a. die juristische Fakultät der Deutschen Universität befand, wurde in der lex Mareš ausdrücklich der Tschechischen Universität zuerkannt und 1934 auch als ihr gehörend im Grundbuch eingetragen, doch konnte sich die Deutsche Universität bis 1939 allen Versuchen, sie aus ihren Räumlichkeiten zu vertreiben, widersetzen. Ein vorläufiger Höhepunkt der Konflikte war erreicht, als das Schulministerium im November 1934 das Rektorat der Deutschen Universität anwies, das Original der Gründungsurkunde der Universität von 1348, die historischen (z. B. bei akademischen Feiern verwendeten) Fakultätszepter sowie die Amtskette des Rektors an die tschechische Universität – als der einzig legitimen Erbin der Universitätsgründung von 1348 – zu übergeben. Als der Rektor der Deutschen Universität, Otto Grosser, sich weigerte, der Anordnung Folge zu leisten, hielt der Rektor der tschechischen Karlsuniversität, Karel Domin, am 24. November eine flammende Ansprache vor »seinen Studenten«, die daraufhin das Karolinum zu erstürmen versuchten, das aber von den deutschen Studenten verteidigt wurde. Noch mehrere Tage gab es in der Innenstadt Krawalle, bis Grosser schließlich die symbolträchtigen Insignien herausgab.686 683 Kelsen,
Autobiographie (1947) 43 = HKW I, 87. v. Laue, Einstein Albert, in: NDB IV (Berlin 1959) 404–408. 685 Gesetz v. 19. 2 . 1920 čsSlg 135 betreffend das Verhältnis der Prager Universitäten (benannt nach dem 1913/14 und 1920/21 amtierenden Rektor der Tschechischen Universität und Mitglied der čs Nationalversammlung František Mareš). 686 Prager Tagblatt Nr. 275 v. 23. 11. 1934, 1; Nr. 276 v. 24. 11. 1934, 1; Nr. 277 v. 25. 11. 1934, 1; vgl. die detailreiche, jedoch durch einen nationalsozialistischen Blickwinkel beeinträchtigte Darstellung bei Wolfram v. Wolmar, Prag und das Reich (1943) 636 ff.; vgl. ferner Merkl, Ein tschechisches Zeugnis (1935) = MGS I/2, 165–173; Míšková, Die deutsche (Karls‑)Universität (2007) 37. Auch in 684 Max
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Die angespannte Lage im Sprachenkonflikt ging Hand in Hand mit einem Antisemitismus, der auch an der tschechischen Karlsuniversität weit verbreitet, aber an der Deutschen Universität auffallend stark war. Dies hing auch damit zusammen, dass der jüdische Anteil an der Prager Studentenschaft traditionell hoch war und nach 1918 durch den Zuzug von Studentinnen und Studenten aus der Slowakei nochmals erhöht wurde, sodass er in der Zwischenkriegszeit etwa bei 20–25 % lag.687 1922 wurde der jüdische Historiker Samuel Steinherz zum Rektor der Deutschen Universität Prag gewählt. Seine Wahl folgte den ungeschriebenen Regeln der Anciennität, und ebenso ungeschrieben war die Regel, dass ein Jude auf dieses Amt zu verzichten habe. Steinherz aber nahm die Wahl an, was zu schweren Unruhen und einem Streik der Studierenden führte; Steinherz musste dem Schulminister, Rudolf Bechyně, seinen Rücktritt vorschlagen, doch bewog ihn dieser, sein Amt bis zum Ende des akademischen Jahres zu behalten.688 Auch in der folgenden Zeit kam es immer wieder zu antisemitisch motivierten Ausschreitungen. Dennoch war die ČSR ab 1933 für viele jüdische Emigranten aus Deutschland ein Zufluchtsort, allein Prag nahm rund 10.000 jüdische Flüchtlinge auf – bis zum 11. März 1938, als die ČSR einen Tag vor dem »Anschluß« Österreichs an das Deutsche Reich ihre Grenzen hermetisch abschloss.689
4. Die erste Vorlesung Auch in Prag verfügte Kelsen über einen Assistenten: Hans Georg Schenk. Er war 1935 in Prag zum JDr. promoviert worden und emigrierte später nach Großbritannien.690 1971, anlässlich des 90. Geburtstages von Hans Kelsen, erinnerte er sich an dessen Wirken an der Deutschen Universität Prag zurück und bezeichnete es als eine »[Don]Quichotterie«, dass sich Kelsen seinerzeit in dieses »Hornissennest« gewagt hatte.691 Auch Kelsen war sich der brisanten Lage, in der er sich befand, vollauf bewusst. »Aber ich glaubte, die wenn auch geringe Chance einer pensionsberechtigenden Stellung nach dem Verlust meiner oesterreichischen und deutschen Pension
Wien gab es Sympathiebekundungen der Studenten für ihre Kommilitonen an der Deutschen Universität zu Prag, vgl. Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz, Fakultät (2014) 662. 687 Míšková, Juden an der Prager Deutschen Universität (1999) 119. 688 Míšková, Juden an der Prager Deutschen Universität (1999) 122 f.; Osterkamp, Kelsen in der Tschechoslowakei (2009) 311. 1942 kam Steinherz im KZ Theresienstadt ums Leben. 689 Iggers, Emigration (1999). 690 Geb. Prag [Praha/CZ] 6. 4. 1912, gest. Nizza [Nice/F] 22. 8. 1979. Dr.iur Prag 1935, 1935–1938 Assistent am Staatswissenschaftlichen Institut der Dt. Universität Prag, 1939 Emigration nach Großbritannien, ab 1942 Lehrtätigkeit an der University of Oxford. Vgl. Österreichische Nationalbibliothek (Hg.), Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft. 18. bis 20. Jahrhundert, Bd. 1 (München 2002) 1193. Für die IZTHR verfasste Schenk einen Beitrag zur Geschichte des Rechtspositivismus: Schenk, Rechtspositivismus (1939). 691 Schenk, Hans Kelsen in Prague (1971) 615. Vgl. auch die Darstellung bei Wolfram v. Wolmar, Prag und das Reich (1943) 652 f.
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4. Kapitel: Das Prager »Gastspiel«
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nicht von der Hand weisen zu duerfen.«692 Immerhin war er von Beginn an bestrebt, kein großes Aufsehen zu erregen, weshalb er auch auf eine formelle Antrittsvorlesung verzichtete.693 Kelsens erste reguläre Vorlesung in Prag war für Donnerstag, den 22. Oktober, 10 Uhr vormittags, im Hörsaal II des Karolinums angesetzt.694 Der Dekan, der Strafrechtler Edgar Foltin (er hatte 1933 für die Berufung Kelsens gestimmt) hatte in Vorahnung der kommenden Ereignisse Anweisung gegeben, dass alle Studierenden, die das Gebäude betreten wollten, sich durch einen Ausweis legitimieren müssten, damit nur ordentlich inskribierte Studierende hereinkämen. Bei den ersten fünfzig, ab 9 Uhr Eintretenden, wurde diese Anordnung auch befolgt. »Dann wurde die Eingangstür des Karolinums von den außen versammelten Studenten gewaltsam aufgebrochen und der Funktionär des Rektorates war außerstande, den Strom der Eindringenden aufzuhalten.«695 Als Kelsen ins Gebäude kam und zunächst ins Professorenzimmer ging, fand er das Haus »von nationalistischen Studenten und von Angehoerigen nicht-studentischer deutschnationaler Organisationen besetzt«. Auch im Hörsaal II saßen nur nationalistische Studenten. »[D]ie Studenten, die meine Vorlesung inskribiert hatten, waren mit Gewalt verhindert worden den Hoersaal zu betreten.«696 Dekan Foltin telefonierte mit dem Ministerium, das mit schweren Konsequenzen für die Studierenden drohte, sollten sie die Vorlesung stören, was der Dekan auch in einer Ansprache vor den Studierenden betonte, worauf diese erklärten, sich ruhig verhalten zu wollen. Kelsen ging nun vom Professorenzimmer »durch ein enges Spalier dieser […] aufgehetzten Menge« zum Hörsaal II, betrat das Podium und begann seine Vorlesung mit dem Satz:697 »›Gestatten Sie, meine Damen und Herren, meine Vorlesung über Völkerrecht mit einigen grundsätzlichen Feststellungen zu beginnen.‹ Nach diesen Worten erhob sich die überwiegende Mehrzahl der Anwesenden und verließ den Raum. Die wenigen zurückgebliebenen Hörer wurden von den völkischen Studenten energisch aufgefordert, sich dem Exitus anzuschließen und mußten gegen ihren Willen den Saal verlassen.«698 Hierauf verließ auch Kelsen den leeren Hörsaal und 692 Kelsen,
Autobiographie (1947) 40 = HKW I, 85. Abendzeitung Nr. 243 v. 22. 10. 1936, 1. 694 Ordnung der Vorlesungen an der Deutschen Universität in Prag im Wintersemester 1936–37 (1936) 11. 695 Prager Abendzeitung Nr. 243 v. 22. 10. 1936, 1; vgl. auch Prager Tagblatt Nr. 247 v. 23. 10. 1936, 4. 696 Kelsen, Autobiographie (1947) 40 = HKW I, 85. 697 Das Folgende nach Prager Abendzeitung Nr. 243 v. 22. 10. 1936, 1. Vgl. auch die Darstellungen bei Wolfram v. Wolmar, Prag und das Reich (1943) 652 f.; Kelsen, Autobiographie (1947) 40 = HKW I, 85; Schenk, Hans Kelsen in Prague (1971) 615. 698 Beachte aber, dass das Prager Tagblatt Nr. 248 v. 24. 10. 1936, 3, Auszüge aus »Kelsens Antrittsvorlesung« abdruckte. Demnach nehme er sich vor, »zu lehren, wie es wirklich mit dem Völkerrecht steht«, und den »wahren Tatbestand« von »Scheinideologien« zu trennen; er selbst müsse sich als Wissenschaftler aller Werturteile enthalten. Es bleibt unklar, ob Kelsen jene Worte wirklich jemals sprach, oder ob sich die Zeitung auf ein von ihm zur Verfügung gestelltes Manuskript stützte. Das Redemanuskript ist erhalten in: HKI, Nachlass Kelsen 14q3.55. 693 Prager
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
musste durch ein Spalier von »Fanatiker[n] mit hasserfuellten Blicken«699 zurück ins Professorenzimmer gehen, wo er seinen Mantel holte und das Karolinum verließ. Die etwa 400 Studenten hielten aber das Gebäude besetzt und standen auch in größeren Gruppen in der daneben verlaufenden Eisengasse [Železná], bis die Versammlung von uniformierten Polizisten aufgelöst wurde. Die nächste Vorlesungseinheit sollte gleich am nächsten Tag um 11 Uhr beginnen. Abermals waren strenge Ausweiskontrollen angeordnet worden. Sogar der Präsident der Ersten Kammer der Nationalversammlung, František Soukup, der Kelsens Vorlesung hören wollte, wurde als universitätsfremde Person vom Universitätsbediensteten am Betreten des Gebäudes gehindert. Und dennoch war der Hörsaal II wiederum schon lange vor Vorlesungsbeginn von vielen fakultätsfremden Studenten besetzt, diesmal aber auch von vielen demokratischen und tschechischen Studenten, die offenbar ein Gegengewicht gegen die Kelsen-Gegner des Vortages bilden wollten. Um 10 Uhr erschien der Dekan, worauf ihm die Studenten versicherten, nicht stören, sondern Kelsen hören zu wollen. Nun wurden die Zustände offenbar völlig chaotisch: Angesichts des völlig überfüllten Hörsaales verlegte der Dekan die Vorlesung kurzerhand in den größeren Hörsaal IV, der aber erst wieder von deutschnationalistischen Studenten besetzt wurde, während die »echten« Kelsen-Hörer im Hörsaal II zurückblieben und sogar gehindert wurden, ebenfalls den Hörsaal zu wechseln; sie wurden mit Zurufen wie »Jüdische Schweine«, »Marxisten haben hier nichts zu suchen« und »denen müsste man die deutsche Sprache verbieten« verhöhnt. Als Kelsen um 11 Uhr den Hörsaal IV betrat und seine ersten Worte sprach, erhoben sich die Studierenden erneut und verließen den Raum, sodass Kelsen seine Vorlesung abermals nicht halten konnte.700 Über die Vorgänge an der Universität wurde in in‑ und ausländischen Zeitungen berichtet, sogar in der Londoner »Times«.701 Der Rektor der Deutschen Universität, 699 Kelsen, Autobiographie (1947) 40 = HKW I, 85. Er erwähnt dort, dass die bei ihm inskribierten Studenten in einem Hörsaal »gefangen gehalten« wurden, was sich aber möglicherweise auf die – von ihm nicht gesondert dargestellten – Vorfälle vom 23. 10. (zu diesen sogleich) bezog. 700 Prager Abendzeitung Nr. 244 v. 23. 10. 1936. Vgl. dazu auch Kelsen, Autobiographie (1947) 40 = HKW I, 85: »Wie all das ohne die stillschweigende Duldung des Dekans möglich war, der als Christlich-Sozialer nicht auf der Seite der Nationalisten stand, ist mir nie erklaerlich gewesen.« Gegenüber Weyr beklagte sich Kelsen, dass Dekan Foltin ihn den Studierenden nicht einmal vorgestellt hatte: Weyr, Paměti 2 (2001), 121; Domej, Weyr und Kelsen (2003) 4. 1938 verlor Edgar Foltin aufgrund seiner jüdischen Abstammung seinen Lehrstuhl und emigrierte in die USA, vgl. Stiefel/Mecklenburg, Deutsche Juristen (1991) 155; Míšková, Die deutsche (Karls‑)Universität (2007) 61 f. 701 The Times Nr. 47.515 v. 26. 10. 1936, 13. Vgl. ferner NFP Nr. 25905 v. 23. 10. 1936, 8; Kurjer Warszawski v. 23. 10. 1936, Národní archiv, MCV-VA I, Karton 3407, Sign. Kelsen Hans. Hervorhebenswert ist der anonyme Leitartikel im Prager Tagblatt Nr. 248 v. 24. 10. 1936, 1: »Hätte man [Kelsen] vor wenigen Jahren, als er an der Universität Köln lehrte […] nach Prag berufen, so hätten dieselben Studenten, die heute so entsetzt sind, seine Vorlesungen mit Begeisterung besucht. Aber inzwischen kam Hitler und sein Unterrichtsminister entfernte ›aus rassischen Gründen‹ auch Kelsen. Seither sind die völkischen Studenten gegen Kelsens Weltanschauung.« Vgl. auch ebd. 4 eine Zusammenschau verschiedener tschechoslowakischer Zeitungsmeldungen. 1938 wurde der Fall des »Professor
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4. Kapitel: Das Prager »Gastspiel«
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Michael Stark, der Akademische Senat sowie mehrere Studentenverbände distanzierten sich von den Störenfrieden, und es wurden Disziplinarverfahren gegen drei der Studenten durchgeführt, die mit einer auf ein bzw. zwei Semester bemessenen »Relegierung« (Verweisung) von der Universität endeten. Auch der Rektor der tschechischen Karlsuniversität meldete sich zu Wort und rügte die Beteiligung tschechischer Studenten an den Vorfällen, die einen Eingriff in das »innere Leben der Deutschen Universität« dargestellt hatten. Der Vertreter der Deutschen Christlich-Sozialen Volkspartei in der Regierung, Minister Erwin Zajiček, bezeichnete die Kundgebungen gegen Kelsen als »Demonstrationen gegen den demokratischen Staat« und die Demonstranten als »Totengräber der Hochschulautonomie.«702 Das Schulministerium reagierte noch am Freitag, indem der gesamte Vorlesungsbetrieb an der juristischen Fakultät »bis auf weiteres gesperrt« wurde.703 Am folgenden Montag fand eine Fakultätssitzung statt, zu der auch Kelsen kam und mit Applaus begrüßt wurde, sich jedoch danach zurückzog, da sich die Sitzung vor allem den Vorfällen der vergangenen Woche widmete; es wurden diverse Maßnahmen zur Wiederherstellung der Ordnung beschlossen, wie insbesondere ein durchgehender Legitimationszwang.704 Schulminister Emil Franke hielt jedoch die Reaktion der Universität für ungenügend, insbesondere, dass nur gegen drei Studenten Disziplinarverfahren eingeleitet worden waren. Auch im Parlament lösten die Vorfälle Diskussionen aus.705 Damit nicht genug: Am 28. Oktober erhielt Kelsen einen »maschinengeschriebenen, mit einem Hakenkreuz unterzeichneten Drohbrief«706 – Kelsen sprach später sogar von mehreren Drohbriefen –, »in denen ich mit dem Leben [sic! wohl eher: mit dem Tode] bedroht wurde, falls ich meine Taetigkeit an der Universitaet nicht aufgaebe.«707 Auffallend rasch wurde nicht nur in tschechoslowakischen, sondern auch in ausländischen Zeitungen darüber berichtet; der »Kölner Stadtanzeiger« bezeichnete die Morddrohungen gegen Kelsen als »Lügen« und berief sich auf ein Interview Kelsens mit einem Genfer Journalisten, in dem dieser entsprechende Behauptungen als falsch bezeichnet hatte.708 Offenbar handelte es sich dabei aber um die bereits 1933 kursierenden709 Drohgerüchte um Kelsen. Diese waren seinerzeit möglicherweise wirklich haltlos gewesen. Nun aber musste Kelsen die gegen ihn erhobenen Drohungen sehr Kelsen« in einer englischen Darstellung der tschechisch-deutschen Beziehungen als Beleg für den Einfluss der Nationalsozialisten auf die Prager Universität herangezogen: Wiskemann, Czechs and Germans (1938) 225. 702 Prager Tagblatt Nr. 247 v. 23. 10. 1936, 3; Nr. 248 v. 24. 10. 1936, 4; Nr. 249 v. 25. 10. 1936, 5; Nr. 250 v. 27. 10. 1936, 4; Nr. 252 v. 30. 10. 1936, 5, Nr. 260 v. 8. 11. 1936, 3. 703 Prager Abendzeitung Nr. 244 v. 23. 10. 1936. 704 Prager Tagblatt Nr. 250 v. 27. 10. 1936, 4. 705 Prager Tagblatt Nr. 263 v. 12. 11. 1936, 3, Nr. 265 v. 14. 11. 1936, 1; Prager Abendzeitung Nr. 262 v. 14. 11. 1936, 1. Lidové noviny v. 15. 1 2. 1936, Národní archiv, MCV-VA I, Karton 3407, Sign. Kelsen Hans. 706 Prager Abendzeitung Nr. 252 v. 3. 11. 1936, 1. 707 Kelsen, Autobiographie (1947) 41 = HKW I, 86. 708 Kölner Stadtanzeiger v. 30. 10. 1936, als Zeitungsausschnitt in UA Köln, Zug 571/105. 709 Vgl. oben 574.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
ernst nehmen: Wie er in seiner Autobiographie berichtet, wurde Hans Kelsen in Prag von Ada Lessing, der Witwe des deutschen Philosophen Theodor Lessing, besucht. Theodor Lessing hatte 1925 seine Lehrtätigkeit an der Technischen Hochschule Hannover aufgeben müssen, nachdem er im »Prager Tagblatt« vor der Wahl Hindenburgs zum Deutschen Reichspräsidenten gewarnt und damit wütende Reaktionen unter den Studenten hervorgerufen hatte.710 1933 war er in die Tschechoslowakei emigriert, dort jedoch von Nationalsozialisten erschossen worden. »Der Moerder wurde niemals ergriffen«.711 Ada Lessing warnte Kelsen, dass es ihm ebenso ergehen könne, auch ihr Mann hatte zuvor Morddrohungen erhalten, aber nicht ernstgenommen. Und noch eine Gewalttat erschütterte gerade zu jener Zeit das Umfeld Kelsens: Am 22. Juni 1936 war Moritz Schlick, das geistige Haupt des »Wiener Kreises«, mitten auf den Stiegen des Hauptgebäudes der Universität Wien von einem seiner ehemaligen Dissertanten erschossen worden.712 Die Tat selbst hatte keinen antisemitischen Hintergrund. Schlick war kein Jude; der Täter, der sich schon seit längerem in psychiatrischer Behandlung befand, war offenbar in jene Studentin verliebt gewesen, auf die auch Schlick mehr als nur ein Auge geworfen hatte. Dennoch wurde auch Schlicks Ermordung sofort politisch-antisemitisch umgemünzt. Der Staatswissenschaftler Johannes Sauter schrieb wenige Wochen später in einer Zeitung (die ausgerechnet den Titel »Schönere Zukunft« trug): »[A]uf die philosophischen Lehrstühle der Wiener Universität im christlich-deutschen Österreich gehören christliche Philosophen! Man hat in letzter Zeit wiederholt erklärt, daß die friedliche Regelung der Judenfrage in Österreich im Interesse der Juden selbst gelegen sei, da sonst eine gewaltsame Lösung derselben unvermeidlich sei. Hoffentlich beschleunigt der schreckliche Mordfall an der Wiener Universität eine wirklich befriedigende Lösung der Judenfrage!«713 Kelsen zeigte den an ihn gerichteten Drohbrief dem Dekan, worauf beide gemeinsam Anzeige bei der Polizei erstatteten. Diese nahm am 2. November mehrere Hausdurchsuchungen vor, so insbesondere in der »Lese‑ und Redehalle der deutschen Studenten in Prag« in der Lützowstraße [Lützowova] Nr. 38.714 Bei der »Lese‑ und Redehalle«, unter Studenten einfach nur »Halle« genannt, handelte es sich um einen bedeutenden und traditionsreichen Studentenverein, dem seinerzeit u. a. Franz 710 Prager Tagblatt Nr. 97 v. 25. 4. 1925, 3 (»Vom Tage«). Der damals schon 78-jährige Generalfeldmarschall wurde darin als »repräsentatives Symbol« bezeichnet; Hindenburg selbst sei zwar harmlos, hinter ihm jedoch steckten andere, gefährliche Personen. Vgl. Evelyn Lacina, Lessing, Theodor, in: NDB XIV (Berlin 1985) 351–353. 711 Kelsen, Autobiographie (1947) 41 = HKW I, 86. Vgl. Prager Tagblatt Nr. 204 v. 1. 9. 1933 (»Die Ermordung Lessings«, »Wer sind die Hintermänner?«). 712 Dazu ausführlich mit Dokumenten: Stadler, Der Wiener Kreis (2015) 615–645. Zu den Augenzeugen dieser Bluttat zählte u. a. Kelsens Schüler Georg Fleischer: Jabloner, Fleischer (2008) 101. 713 Zit. n. Stadler, Der Wiener Kreis (2015) 623. 714 Prager Abendzeitung Nr. 252 v. 3. 11. 1936, 1; Obmannsbericht über das 177. Semester, in: 84. Bericht der Lese‑ und Redehalle (1937) 27. Vgl. auch Lidové noviny v. 4. 11. 1936, Národní archiv, MCV-VA I, Karton 3407, Sign. Kelsen Hans.
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4. Kapitel: Das Prager »Gastspiel«
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Kafka angehört hatte. Im Jänner 1936 hatte er in einer Kampfabstimmung eine neue, nationalsozialistische Leitung erhalten,715 was eine Welle von Ein‑ und Austritten zur Folge gehabt hatte, sodass der Verein nunmehr, wie Kelsen richtig vermerkte, »voellig unter der Kontrolle der Nationalsozialisten stand«.716 Bei der Hausdurchsuchung wurden eine Schreibmaschine, Papier und Tusche beschlagnahmt, um sie kriminaltechnisch untersuchen zu können. Auch wurde ein Vorstandsmitglied des Vereins, der Mediziner Dr. Rudolf Orlich aus Preußisch-Schlesien, in Polizeihaft genommen, jedoch am nächsten Tag wieder freigelassen.717 Vermutlich war er jener »Nazi-Agent aus Deutschland«, von dem Kelsen in seiner Autobiographie schrieb, dass die Polizei »wegen der zu erwartenden diplomatischen Schwierigkeiten« mit Deutschland davor zurückschreckte, rechtlich gegen ihn vorzugehen.718 Im Dezember erschien in den Zeitungen eine Polizeinotiz, wonach die Untersuchung der beschlagnahmten Schreibmaschine ergeben hatte, dass die Kelsen-Drohbriefe nicht mit ihr geschrieben worden waren, womit die Sache vorerst im Sande verlief.719 Eines Tages jedoch, so berichtete Kelsen, wurde er auf die Polizeidirektion gerufen, wo er erfuhr, dass die Polizei vom »Plan eines gegen mich zu richtenden Attentats« erfahren hatte.720 Orlich habe in der »Halle« mit anderen Studenten darüber gesprochen, dass man Kelsen »windelweich« schlagen solle. Sobald er den Hörsaal verlasse, solle ihn eine Gruppe von Studenten zunächst durchlassen, eine andere aber ihn umstellen und dann verprügeln. Dieses Gespräch wurde von einer Putzfrau, Hermine Zollmann, gehört und einem Bekannten mitgeteilt, der seinerseits die Polizei informierte.721 Nun wurde allerdings ein strafrechtliches Verfahren gegen Orlich (der mittlerweile als Arzt in Leutschau [Levoča/SK] arbeitete) eingeleitet, und zwar wegen des Verdachts auf »versuchte Verleitung zur Beschränkung der persönlichen Freiheit« (§ 93 StG) und »zur schweren Körperverletzung« (§ 152 StG). Doch endete dieses Verfahren ein halbes Jahr später, im Juli 1937, mit einem Freispruch für den Angeklagten, weil sich die Hauptzeugin, Frau Zollmann, bei ihrer Befragung nicht mehr an den genauen Wortlaut dessen, was Orlich bei jenem Gespräch gesagt hatte, erinnern konnte (oder wollte).722
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Obmannsbericht über das 176. Semester, in: 84. Bericht der Lese‑ und Redehalle (1937) 21. Autobiographie (1947) 41 = HKW I, 86. 717 Deutsche Zeitung Bohemia Nr. 256 v. 4. 11. 1936, 5; 84. Bericht der Lese‑ und Redehalle (1937) 19. – Er ist nicht mit jenem Robert Orlich identisch, der später SS-Unterscharführer im KZ Auschwitz war; letzterer war gebürtiger Österreicher. 718 Kelsen, Autobiographie (1947) 41 f. = HKW I, 86. Er bezeichnet ihn dort als Medizinstudenten und Obmann des Studentenvereins, tatsächlich war Orlich ein ehemaliger Obmann und 1936 bereits promovierter Mediziner. 719 Obmannsbericht über das 177. Semester, in: 84. Bericht der Lese‑ und Redehalle (1937) 27. 720 Kelsen, Autobiographie (1947) 41 = HKW I, 86. 721 Darstellung nach: Deutsche Zeitung Bohemia Nr. 170 v. 22. 7. 1937; von geringfügigen Abweichungen abgesehen mit Kelsen, Autobiographie (1947) 41 = HKW I, 86, übereinstimmend. 722 Deutsche Zeitung Bohemia Nr. 170 v. 22. 7. 1937; Kelsen, Autobiographie (1947) 41 = HKW I, 86. 716 Kelsen,
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Kelsen gewann angesichts der »sehr schwaechliche[n] Politik der Unterrichtsverwaltung« gegenüber der »voellig nazifizierten Deutschen Universitaet« sowie angesichts der Haltung von Polizei und Justiz den »Eindruck, dass die tschechoslowakische Regierung sich Nazi-Deutschland gegenüber nicht gewachsen fuehle und Konflikte, hervorgerufen durch eine radikale Verfolgung der Nazis in der Tschechoslowakei, lieber vermeiden wollte.« Er bot Präsident Beneš seine Demission an, der ihn jedoch nachdrücklich darum bat, zu bleiben, »da das Prestige der Regierung auf dem Spiel stehe.«723 In der Zwischenzeit hatte Schulminister Franke unter der Bedingung, dass die Disziplinaruntersuchungen fortgeführt würden,724 seine Zustimmung zur Wiedereröffnung der Fakultät am 18. November 1936 gegeben, damit die Studierenden kein ganzes Semester verlören. Der Stundenplan der Vorlesungen wurde so geändert, dass »[w]ährend der Vorlesungszeit Prof. Kelsens […] im Karolinum keine anderen Vorlesungen statt[finden sollten].«725 Der Genannte konnte somit am Freitag, dem 20. November, seine Vorlesung aus Völkerrecht fortsetzen, und diese verlief nunmehr in aller Ruhe. Rektor Stark betrat an jenem Tag demonstrativ gemeinsam mit Kelsen das Karolinum; Dekan Foltin kam noch kurz vor Vorlesungsbeginn in den Hörsaal und ermahnte die Studierenden eindringlich. Er und Professor Franz Laufke wohnten auch der Vorlesung bei, während die Professoren Egon Weiß und Robert Neuner den Ordnungsdienst überwachten.726 Vor allem aber hielt Kelsen, der seit Bekanntwerden der Drohungen gegen ihn Polizeischutz erhalten hatte, auch seine Vorlesung nur in Anwesenheit zweier »Detektive« (wohl eher Kriminalbeamter), von denen einer in der ersten, einer in der letzten Reihe des Hörsaales saß, »ein groteskes Bild akademischer Freiheit«, wie Kelsen später vermerkte.727 Es ist charakteristisch für Kelsen, dass er die Eindrücke die er in den vergangenen Jahren von so vielen verschiedenen Universitäten – Wien, Köln, Genf, Prag, aber auch von Utrecht und vor allem Harvard – empfangen hatte, in einem eigenen Aufsatz, betitelt »Wissenschaft und Demokratie«, verarbeitete. Dieser erschien im Februar 1937 in zwei Teilen in der »Neuen Zürcher Zeitung« und liest sich gewissermaßen wie eine Fortsetzung seiner 1933 in Tübingen erschienenen Schrift über »Staatsform und Weltanschauung«. Auch »Wissenschaft und Demokratie« beginnt mit dem Hinweis, dass ein Sozialwissenschaftler, der seinen Gegenstand nur erkennen, nicht bewerten 723 Kelsen,
Autobiographie (1947) 42 = HKW I, 87. wurde gegen einen Studenten, Emil Erlbeck, der bei den Krawallen einen anderen Studenten »inhaftiert«, also wohl in einem Hörsaal gefangen gehalten hatte, Strafanzeige erstattet und Erlbeck deshalb am 21. 6. und 5. 8. 1937 in zwei Instanzen zu einer Woche unbedingtem Arrest verurteilt: Westböhmische Tageszeitung Nr. 144 v. 22. 6. 1937, 4; Nr. 180 v. 6. 8. 1937, 4. 725 Prager Tagblatt Nr. 266 v. 15. 11. 1936, 4. Die Vorlesung Kelsens aus Völkerrecht, die ursprünglich für Donnerstag, 10–12 Uhr, Freitag, 11–13 Uhr und Samstag, 9–10 Uhr angesetzt war, sollte nunmehr am Montag, 8–10 Uhr, Freitag, 8–9 Uhr und Samstag, 8–10 Uhr, stattfinden. Kelsen musste jetzt also zeitig in der Früh aufstehen. 726 Prager Abendzeitung Nr. 267 v. 10. 11. 1936, 2. 727 Kelsen, Autobiographie (1947) 41 = HKW I, 86. 724 U.a.
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4. Kapitel: Das Prager »Gastspiel«
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will, kein Plädoyer für die eine oder andere Staatsform abgeben könne.728 Der »emotionale[n] Indifferenz« der Wissenschaft zur Politik entspreche aber keineswegs eine Indifferenz der Politik zur Wissenschaft, so Kelsen. In der Autokratie könne es – so wie in der Kirche – keine Opposition, keine Meinungsvielfalt, daher auch keine Freiheit der Wissenschaft geben. »Und nichts ist bezeichnender für die Wendung zu einer [zur] Autokratie geneigten Geisteshaltung, als wenn der Glaube an die Möglichkeit einer von politischen Interessen unabhängigen und daher der Freiheit würdigen Wissenschaft zu schwinden beginnt« und einer »Höherwertung des Irrationalen gegenüber dem Rationalen« weiche. Kelsens Artikel erschöpfte sich nicht darin, die geistige Freiheit – sei es die Freiheit der Meinungsäußerung, die Glaubens‑ und Gewissensfreiheit oder eben die Freiheit der Wissenschaft – zu einem »Lebensprinzip jeder Demokratie« zu erklären.729 Er stellte darin, wohl unter dem Eindruck seiner eigenen Erlebnisse, das europäische Konzept in Frage, wonach die Freiheit der Wissenschaft dann am besten gewahrt sei, wenn die Universitäten staatliche Anstalten und ihre Professoren staatliche Beamte seien. Wenn ein demokratischer Staat sich in eine Diktatur verwandle, könne sich seine Macht über die Universitäten sehr nachteilig auf die Wissenschaftsfreiheit auswirken. Dem gegenüber stünden die privaten Universitäten, wie insbesondere Harvard. Noch nie hätten ihre Träger ihre Macht »so mißbraucht […] wie die fascistischen und proletarischen Diktaturen.«730 Ausführlich zitierte Kelsen aus der Rede von Präsident Conant zum 300-Jahr-Jubiläum der Harvard University und erklärte zustimmend: »Und in der Tat, die Vereinigten Staaten haben bewiesen, daß die Demokratie ein guter, fruchtbarer Boden für die Wissenschaft ist.«731 Begann Kelsen, über eine Emigration in die Vereinigten Staaten nachzudenken?
5. An der Prager Fakultät Die rechtlichen Vorschriften für das Studium der Rechts‑ und Staatswissenschaften in der ČSR hatten sich seit der Monarchie kaum verändert und waren daher jenen in der Republik Österreich sehr ähnlich.732 Wie in Wien, wurde auch in Prag zwischen 728 Kelsen,
Wissenschaft und Demokratie (1937) I/1 = VdD 238 f. Wissenschaft und Demokratie (1937) I/2 = VdD 241 f. 730 Kelsen, Wissenschaft und Demokratie (1937) II/1 = VdD 244. Vgl. dazu Evans, Das Dritte Reich I (2003) 545: »Die NS-Führung hatte mit den deutschen Universitäten ein vergleichsweise leichtes Spiel, da diese im Unterschied zu den Hochschulen in manchen anderen Ländern überwiegend vom Staat finanziert wurden und das Universitätspersonal ausschließlich aus Beamten bestand.« 731 Kelsen, Wissenschaft und Demokratie (1937) II/1 = VdD 245. Vgl. Dreier, Der Preis der Moderne (2017) 20. 732 So wurde insbesondere die Rigorosenordnung v. 15. 4. 1872 RGBl 57 beibehalten und mit der Regierungsverordnung v. 4. 5. 1920 čsSlg 324 nur in Details abgeändert. Völkerrecht war demnach, wie schon bisher, Teil des dritten Rigorosums, in dessen Rahmen auch Verfassungs‑ und Verwaltungsrecht geprüft wurden. 729 Kelsen,
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Rigorosen, die zum Erwerb des Doktorgrades führten, und Staatsprüfungen, die die Voraussetzung für die juristischen Berufe waren, unterschieden. Und so wie in Wien, so wurden auch in Prag die Professoren üblicherweise für beide Prüfungsarten herangezogen. Kelsen jedoch prüfte in Prag nur im Rahmen von Rigorosen, nicht auch bei Staatsprüfungen. Der für die Zuteilung zuständige Minister rechtfertigte dies damit, dass er keinen entsprechenden Vorschlag des Professorenkollegiums erhalten hatte.733 Dies, sowie auch der Umstand, dass Kelsen im Sommer 1938 bei der Dekanswahl übergangen und an seiner Stelle der dienstjüngere Kanonist Ernst Hoyer zum Dekan gewählt wurde,734 zeigten, dass Kelsen ein Außenseiter an der Fakultät war.735 Das beste Verhältnis hatte Kelsen wohl zum Nationalökonomen Franz Xaver Weiß, den er schon kannte, seitdem beide während des Weltkrieges im Kriegsfürsorgeamt gearbeitet hatten.736 Weiß, 1885 in Wien geboren, hatte sich dort 1925 – gegen zähe antisemitische Widerstände – habilitiert,737 jedoch schon im folgenden Jahr in Prag nachhabilitiert und im selben Jahre eine Professur an der Deutschen Technischen Hochschule in Prag angenommen, von wo er 1930 an die Deutsche Universität Prag gewechselt war. Als sich Kelsen im Frühjahr 1936 in Prag aufhielt, um die Formalitäten zum Erwerb der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft abzuwickeln, wohnte er als Gast bei Weiß in dessen Villa in Prag IV., Tychostraße [Tychonova] Nr. 8.738 1938 emigrierte Franz X. Weiß nach England.739 Als außerordentlich kompliziert muss hingegen das Verhältnis zu Fritz Sander bezeichnet werden. Wie Kelsen berichtete, hatte ihn Weiß gebeten, direkt auf Sander zuzugehen, wenn er das erste Mal ins Professorenzimmer käme, und ihm die Hand zu reichen. »Das tat ich auch. Sander war sichtlich erregt. Als ich in mein Hotel zurueckging, bat er mich begleiten zu dürfen. Er dankte mir in sehr herzlichen Worten und bat mich – ich zitiere jetzt woertlich – ihm und seiner Frau die Ehre zu tun sie in 733 Vgl. die Innsbrucker Nachrichten Nr. 67 v. 13. 3. 1937, 6, unter Berufung auf einen Artikel in der Reichenberger Zeitung. Vgl. auch Čes Slovo v. 17. 3. 1937, Národní archiv, MCV-VA I, Karton 3407, Sign. Kelsen Hans. 734 Vgl. dazu Hans Kelsen, Schreiben an Dekan Ernst Hoyer v. 10. 10. 1938, UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Hans Kelsen, F 59. Zum Problem der Anciennität vgl. schon oben 608. 735 Erwähnt sei, dass von den fünf Professoren, die 1933 gegen die Berufung Kelsens gestimmt hatten, der Römischrechtler Mariano San Nicolò in der Zwischenzeit nach München wegberufen worden war. 1945 wurde er auf Druck der US-Militärregierung von seinem Lehrstuhl entfernt. Aus dieser Zeit stammt ein Brief Hans Kelsens an Karl Loewenstein, worin Kelsen die Hoffnung äußert, dass »dieser Bursche« (San Nicolò) nie wieder »eine akademische Tätigkeit« entfalten könne; vgl. Lang, Politikwissenschaft (2004) 158. Jedoch konnte San Nicolò 1948 wieder sein Amt antreten und war 1952/53 Rektor der Universität München (!); vgl. Steinwenter /Falkenstein, San Nicolò (1955). 736 Oben 175. 737 Taschwer, Nachrichten (2015) 120. 738 Kreuz, Prager Wurzeln (2009) 35. 739 UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Franz Xaver Weiß; Míšková, Die deutsche (Karls‑)Universität (2007) 74, 291.
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4. Kapitel: Das Prager »Gastspiel«
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ihrem Haus zu besuchen.«740 Vermutlich kam es auch zu diesem Besuch, denn Kelsen schrieb weiter, dass Sander ihn auch in der Folge mit »Aufmerksamkeiten« überhäufte und ihm versicherte, wie glücklich er über die wiedergewonnene Verbindung sei – dass er aber zugleich die Demonstrationen der nationalsozialistischen Studenten gegen Kelsen zumindest indirekt unterstützte. Rechtstheoretisch hatte sich Fritz Sander in der Zwischenzeit meilenweit von Kelsen und seiner Reinen Rechtslehre entfernt.741 Dies zeigt insbesondere seine Anfang 1936 publizierte »Allgemeine Staatslehre«, in der er sich bewusst gegen jene »positivistischen« Strömungen wandte, die Begriffe wie »Souveränität« oder »Herrschermacht« aus der Staatslehre eliminieren wollen. Es wurde ihnen ein »schonungsloser Kampf angesagt, der nicht früher beendigt werden kann, als bis die Erkenntnis allgemein anerkannt ist, daß die Staatswissenschaft keine Rechtswissenschaft ist, daß der ›Jurist‹ innerhalb der Staatslehre nichts zu suchen hat«742 – wahrhaft eine bemerkenswerte Aussage für einen Juristen, der ein Buch über Staatslehre schrieb! Da das Buch nur über minimale Literaturangaben verfügte, wurde Kelsen kein einziges Mal namentlich genannt und daher auch nicht direkt angegriffen. Aber die von Kelsen – und einst auch von Sander – so energisch betriebene Gleichsetzung von Staat und Recht wurde nunmehr von Sander vehement verneint und dahingehende Bemühungen als Produkt eines »politischen Liberalismus« abgelehnt.743 Im Gegenteil bezeichnete Sander Recht und Staat als miteinander unverträglich.744 Im Übrigen hatte sich Sander in der Zwischenzeit in eine ganz eigentümliche, von ihm entwickelte Terminologie verstrickt (so bezeichnete er z. B. Freiheitsrechte als »Verhalten-Werbungen«), die er auch in rechtsdogmatischen Arbeiten, wie insbesondere seinem Lehrbuch des tschechoslowakischen Verfassungsrechts, verwendete, welche für den Nicht-Eingeweihten daher so gut wie unverständlich waren. Sander verschwand »akademisch ins Obskure«.745 Politisch hatte sich Sander – trotz seiner jüdischen Herkunft – immer mehr der Sudetendeutschen Partei und damit indirekt der NSDAP angenähert,746 was er Kelsen 740 Kelsen,
Autobiographie (1947) 25 = HKW I, 64.
741 Vgl. zu dieser Entwicklung, die schon früh einsetzte, Korb, Sander gegen Kelsen (2009) 203 f. 742 Sander,
Allgemeine Staatslehre (1936) XII. Allgemeine Staatslehre (1936) 505. 744 Sander, Allgemeine Staatslehre (1936) 494. 745 Kletzer, Sander (2008) 448; ebenso die Einschätzung durch Weyr, Paměti I (1999) 420. – Um nur ein Beispiel zu geben: In seinem Lehrbuch (Sander, Grundriß [1938] 21) erläuterte er (zutreffenderweise), dass die tschechoslowakische Verfassungsurkunde eine Gesetzgebung durch die Nationalversammlung, in manchen Fällen aber auch durch einen 24-köpfigen Ausschuss der Nationalversammlung, in manchen Fällen durch Volksabstimmung vorsehe. Daraus folgerte Sander aber, dass die Verfassungsurkunde die Gesetzgebung dreier verschiedener Staaten regelte, welche alle den gemeinsamen Namen »Tschechoslowakische Republik« trügen! 746 Siehe dazu den Hinweis bei Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III (1999) 297, wonach Sander einen Antrag auf »Arisierung« gestellt hatte. Zu den politologischen Schriften Sanders, insbesondere zu seiner 1934 erschienenen Arbeit »Das Problem der Demokratie«, in der er offen mit dem Faschismus sympathisierte, vgl. Korb, Sander gegen Kelsen (2009) 204; Osterkamp, K elsen in der Tschechoslowakei (2009) 309. 743 Sander,
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
auch einmal anvertraute. In den Wochen vor dem »Münchner Abkommen« 1938 war Sander dann tatsächlich eine Art Verbindungsmann zwischen Beneš und der Sudetendeutschen Partei.747 Wohl aufgrund seiner Verbindungen wurde Sander später, nach der Annexion der Tschechei durch Nazideutschland, in seinem Lehramt belassen. Er konnte sich nur kurz darüber freuen: Am 3. Oktober 1939 starb er plötzlich in seiner Prager Wohnung – ob an einem Herzinfarkt, wie es in der Sterbeurkunde hieß, oder durch Selbstmord, wie Kelsen vermutete, bleibt ungewiss.748 In Prag traf Kelsen auch auf seinen einstigen Schüler Walter Henrich, der im selben Jahr zum ordentlichen Professor an der Deutschen Technischen Hochschule in Prag ernannt worden war, nachdem er seit 1928 an der Deutschen Technischen Hochschule in Brünn gelehrt hatte.749 An der Festschrift für Kelsen von 1931 hatte Henrich noch mitgewirkt, befasste sich aber ansonsten kaum noch mit Rechtstheorie. Über sein persönliches Verhältnis zu Kelsen in den Jahren 1936–1938 ist nichts bekannt. 1942–1945 lehrte Henrich an der Deutschen Universität in Prag, danach in Würzburg, wo er 1955 starb.750 Der bedeutendste wissenschaftliche und persönliche Kontakt Kelsens in der ČSR war jener zu František Weyr, auch wenn dieser nicht in Prag, sondern in Brünn lehrte. Die schon seit langem bestehende, enge fachliche Verbindung hatte sich längst zu einer tiefen persönlichen Freundschaft ausgeweitet. Besonders deutlich wird dies darin, dass Kelsen, nachdem er in den ersten Wochen nach seiner Ankunft in Prag in einem Hotel Quartier genommen hatte,751 für die restliche Zeit seines Prager Aufenthaltes in der Wohnung von Weyrs Schwester Marie Sobičková und deren Gatten Konstantin Sobička, an der Uferstraße [nábřeží], am linken Moldauufer, im Prager Stadtteil Smichov, in Untermiete lebte. Auch Weyr nächtigte hier regelmäßig, wenn er sich in Prag aufhielt, und traf auf diese Weise oft mit Kelsen zusammen. Wie Marie Sobičková ihrem Bruder mitteilte, war Kelsen ein »sehr angenehmer, ruhiger Mieter und zugleich ein sehr witziger und geistreicher Gesellschafter.«752 Am 18. Jänner 1937 reiste Kelsen auf Einladung Weyrs zu zwei Gastvorträgen an der Masaryk-Universität bzw. am Folgetag an der Masaryk-Volkshochschule nach Brünn, wo er mit »standing ovations«, wie man heute sagen würde, willkommen geheißen wurde – ein denkwürdiger Gegensatz zum Empfang, der ihm in Prag bereitet worden war. Kelsen hielt seinen Vortrag an der Universität über die »Bedeutung normativer Theorien für die
747 Dazu näher Olechowski/Busch, Kelsen als Professor an der Deutschen Universität Prag (2010) 1129. 748 Kelsen, Autobiographie (1947) 26 = HKW I, 65; Korb, Sander gegen Kelsen (2009) 205; Olechowski/Busch, Kelsen als Professor an der Deutschen Universität Prag (2010) 1130. 749 Perthold-Stoitzner, Henrich (2008) 135. 750 Perthold-Stoitzner, Henrich (2008) 136. 751 In einem Schreiben von Roscoe Pound an Robert Livingston-Schuyler v. 7. 1 2. 1936, Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7, wird als Adresse Kelsens in Prag das noch heute existierende Hotel Axa, Praha 1, Na Poříčí 40, genannt. 752 Weyr, Paměti I (1999) 420. Vgl. auch Domej, Weyr und Kelsen (2003) 53.
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4. Kapitel: Das Prager »Gastspiel«
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Praxis« auf deutsch – auch dies keine Selbstverständlichkeit vor einem tschechischen Auditorium in jenen Tagen! Nichtsdestoweniger dankten ihm die Zuhörerinnen und Zuhörer auch nach Beendigung seines Vortrages mit stürmischem Beifall.753 In Weyr hatte Kelsen einen geistigen Seelenverwandten gefunden, ging doch die »Brünner rechtstheoretische Schule« von ganz ähnlichen Postulaten aus wie seine Reine Rechtslehre: der neukantianischen Erkenntnisphilosophie, der Trennung von Sein und Sollen, der Beschränkung des Rechtswissenschaftlers auf reine Erkenntnis, der antiideologischen Tendenz, der Methodenreinheit und dem Rechtspositivismus.754 Trotz aller Übereinstimmungen kamen beide Wissenschaftler mitunter zu unterschiedlichen Ergebnissen. So postulierte Weyr – bei grundsätzlicher Anerkennung der Lehre vom Stufenbau und auch der monistischen Völkerrechtslehre Kelsens – die These von der »Souveränität des Gesetzgebers«, wonach dieser weder durch materiellrechtliche Bestimmungen der Verfassung (wie etwa Grundrechte) noch durch das Völkerrecht in seiner Gesetzgebungsbefugnis eingeschränkt werden könne. Dieser rechtstheoretische Standpunkt hatte auch eine politische Dimension, war doch insbesondere die Rechtsstellung der nationalen Minderheiten in der Tschechoslowakei durch Verfassungsrecht und Völkerrecht abgesichert.755 Die von Kelsen und Weyr gemeinsam mit Gaston Jèze herausgegebene Zeitschrift, die IZTHR, hatte in der Zwischenzeit eine durchaus erfreuliche Entwicklung genommen und eine Reihe international bekannter Autoren gewinnen können. 1934 war das Herausgeberkomitee durch den Pariser Professor Louis Le Fur erweitert worden; die Redaktion lag weiter bei Jaromír Sedláček, doch assistierte ihm nunmehr Rudolf A. Métall als »Redaktionssekretär«. 1937 brachte erneut eine Umstellung, nunmehr waren Kelsen und Weyr die Hauptherausgeber, wurden dabei jedoch von einer Reihe weiterer Professoren unterstützt, neben Jèze, Le Fur und Sedláček nunmehr auch M. Djuvara, A. L. Goodhart sowie D. G. Rengers Hora Siccama. Erst der Einmarsch der Nationalsozialisten in die ČSR bedeutete auch das Ende der IZTHR, deren letzter Jahrgang 1938 in Brünn erschien. Kelsen versuchte, in der Schweiz eine »Neue Folge« herauszubringen, die jedoch aufgrund des Kriegsausbruch 1939 ihr Erscheinen nach nur einem Band ebenfalls einstellen musste.756 Als Kelsen 1936 nach Prag gekommen war, hatte er eigentlich vorgehabt, nur in den Wintersemestern hier zu unterrichten und jedes Sommersemester nach Genf zurückzufahren. Da er jedoch im Wintersemester 1936/37 kaum hatte lehren kön753 Domej, Weyr und Kelsen (2003) 54; Osterkamp, Kelsen in der Tschechoslowakei (2009) 311. Der Vortrag in der Volkshochschule war mit dem Titel »Staatsform und Weltanschauung« angekündigt und setzte sich mit Demokratie und Autokratie auseinander. Vgl. die Berichterstattung in den Zeitungen: Prager Presse v. 14. 1. 1937; Lidové noviny v. 19. 1. 1937; vgl. auch den Artikel »Demokracie a autokracie«, der in derselben Zeitung, vermutlich in der Ausgabe v. 20. 1. 1937, erschien, in: Národní archiv, MCV-VA I, Karton 3407, Sign. Kelsen Hans. 754 Ausführlich Kubeš, Die Brünner Schule (1980) 11 ff. 755 Osterkamp, Kelsen in der Tschechoslowakei (2009) 315. 756 Ziemann, Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts (2007) 181 f.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
nen,757 sah er sich gezwungen, auch im Sommersemester 1937 in Prag Lehrveranstaltungen abzuhalten.758 Er kündigte daher erneut eine Vorlesung aus »Völkerrecht«, diesmal vierstündig und um ein zweistündiges Seminar ergänzt, an.759 Die Stimmung in Prag hatte sich in der Zwischenzeit »einigermassen beruhigt«. Auch im Wintersemester 1937/38 hielt Kelsen eine fünfstündige Vorlesung aus »Völkerrecht« sowie ein zweistündiges, völkerrechtliches Seminar an der Deutschen Universität.760 Während dieser Zeit, im November 1937, schickte ihm das IUHEI die oben erwähnte, von Campagnolo eingereichte Dissertation nach Prag, damit er sie dort lesen könne. Das mit 28. Dezember 1937 datierte Gutachten signierte Kelsen allerdings in Genf, wo er offenbar die Weihnachtsferien verbrachte.761 Es ist dies nur ein kleiner Hinweis darauf, dass Kelsen wohl mehrmals zwischen Genf und Prag pendelte, wobei er – da er kaum durch Deutschland durchreisen konnte – wohl zumeist über Wien fuhr, was ihm Gelegenheit gab, seine dortigen Kontakte zu beleben.762 Kelsen unterhielt auch Verbindungen mit slowakischen Kollegen: Am 30. November 1937 hielt er in der Internationalen Kulturliga von Bratislava einen Vortrag über die Reform des Völkerbundes.763 Und an der Festschrift zum 60. Geburtstag des Verwaltungsrechtlers Karel Laštovka, Professor an der Comenius-Universität Bratislava,764 beteiligte sich Kelsen mit einem Beitrag »Die Ziele der Reinen Rechtslehre«.765
757 Die Fakultätsschließung hatte vier Wochen gedauert; der Beginn der Weihnachtsferien war zum Ausgleich um knapp zwei Wochen auf den 19. 1 2. 1936 verschoben worden, vgl. Prager Tagblatt Nr. 278 v. 29. 11. 1936, 4. 758 Hans Kelsen, Schreiben an Dekan Foltin v. 28. 1. 1937, UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Hans Kelsen, F 59: »Ich beehre mich, Ihnen mitzuteilen, daß ich mein Urlaubsgesuch zurückziehe.« Mit Erlass des Schulministeriums v. 30. 6. 1937, Č.j. 40385/37-IV/3, UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Hans Kelsen, F 59, wurde Kelsen auch die Genehmigung für Spezialvorlesungen aus internationalem Recht, Rechtsphilosophie oder allgemeiner Staatswissenschaft erteilt, doch machte Kelsen davon keinen Gebrauch. 759 Ordnung der Vorlesungen an der Deutschen Universität in Prag im Sommersemester 1937 (Prag 1937) 12. Vgl. Kelsen, Autobiographie (1947) 42 = HKW I, 87. 760 Ordnung der Vorlesungen an der Deutschen Universität in Prag im Wintersemester 1937/38 (Prag 1937) 11. 761 Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2004) 183. 762 Bei diesen Wien-Aufenthalten nächtigte Kelsen, so wie auch im Sommer 1933, zumeist bei seiner Mutter in Wien III., Marokkanergasse 20. Wie aus einem Telegramm hervorgeht, welches der Generalsekretär des IUHEI, Mussard, am 4. 7. 1936 an Kelsen mit der Adresse Wien XVIII., Julienstraße 42 (heute Dr. Heinrich Maier-Straße) schickte, wohnte Kelsen zumindest bei dieser Gelegenheit in der offenbar leerstehenden Wohnung des 1933 verstorbenen Friedrich Woeß; vgl. zur Adresse Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger 1936. 763 Westböhmische Tageszeitung Nr. 273 v. 27. 11. 1937, 2. 764 Geb. Köln an der Elbe [Kolín/CZ] 14. 1 2. 1876, gest. Prag [Praha/CZ] 10. 6. 1941; 1921–1939 Professor für Verwaltungsrecht an der Universität Bratislava, 1924/25 Rektor. Vgl. https://sk.wikipedia. org/wiki/Karel_La%C5 %A1tovka [Zugriff : 02. 05. 2019]. 765 Kelsen, Ziele (1936). Der Text stimmt streckenweise wörtlich mit Abschnitten aus dem Vorwort und aus den ersten Kapiteln von Kelsen, Reine Rechtslehre (1934) überein.
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4. Kapitel: Das Prager »Gastspiel«
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Kelsens Lehrveranstaltungen in Prag endeten am Freitag, dem 11. Februar 1938. Vermutlich unmittelbar darauf 766 reiste Kelsen nach Genf ab, zumal ihm das Schulministerium für das Sommersemester 1938 einen »voll bezahlten und einrechenbaren Urlaub für wissenschaftliche Zwecke« bewilligt hatte.767 Er hatte vor, in jenem Semester wieder am IUHEI zu lehren und dann, im Herbst, nach Prag zurückzukehren. Wohl im Vertrauen auf eine baldige Rückkehr ließ Kelsen seinen dicken Wintermantel bei Weyrs Schwager zurück.768 Er konnte nicht ahnen, dass er seine Geburtsstadt nie wieder betreten würde.
6. Der »Anschluß« Österreichs an das Deutsche Reich Zurück in Genf, fand Hans Kelsen dort nur mehr seine Frau und seine jüngere Tochter Maria vor. Die ältere Tochter, Anna, war im Herbst 1937 zurück nach Wien gekehrt und hatte dort eine Stelle als Bürokraft angenommen.769 Die in Genf verbliebenen Familienmitglieder nahmen dies zum Anlass, in eine Wohnung in der Rue Carteret 12 nahe des Genfer Hauptbahnhofes zu übersiedeln, möglicherweise war die alte Wohnung in der Avenue Gaspard Vallette zu groß und/oder zu teuer geworden. Was aber Anna Kelsen betraf, so musste die 23-jährige schon bald nach ihrer Rückkehr nach Wien zum zweiten Mal in ihrem Leben die Machtergreifung der Nationalsozialisten aus nächster Nähe erleben. Am 12. Februar 1938 kam es in Berchtesgaden zu jener folgenschweren Unterredung zwischen Hitler und dem österreichischen Bundeskanzler Kurt Schuschnigg, mit der Österreich in völlige Abhängigkeit von NS-Deutschland geriet. Unter anderem erzwang Hitler die Ernennung des österreichischen Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart zum Innenminister; gleichsam als monarchistisches Gegengewicht wurde Adamovich am 16. Februar zum Justizminister im neuen (und letzten) Kabinett Schuschnigg bestellt.770 Noch wollte der österreichische »Frontführer und Bundeskanzler« nicht aufgeben und kündigte am 9. März eine Volksbefragung »für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich« an, die am Sonntag, dem 13. März 1938, stattfinden sollte.771 Dem kam Hitler zuvor und befahl der Wehrmacht, am 12. März in Österreich einzumarschieren. Weder von Italien noch vom British Empire, von 766 Am 19. 2 . 1938 schrieb Kelsen mit Absenderaufenthalt Genf einen Brief an Rappard: Busch/ Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2015) 13 Anm. 47. 767 Erlass des čs Schulministeriums v. 22. 1 2. 1937, Č.j. 179.087/37-IV/3, UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Hans Kelsen, F 59. 768 František Weyr, Brief an Hans Kelsen v. 10. 8. 1948, HKI, Nachlass Kelsen 16b14.59. 769 Kelsen Oestreicher, Times to remember (1977) 6. 770 Wiener Zeitung Nr. 47 v. 17. 2 . 1938, 2; Ludwig Adamovich jun., Interview v. 3. 11. 2009. Vgl. allgemein Stern, Staatsrecht V (2000) 856; Evans, Das Dritte Reich II (2006) 781 ff.; Botz, Nationalsozialismus (2008) 57 f.; R athkolb, Erste Republik (2015) 508 f.; Uhl, »Anschluss« 1938 (2018) 89. 771 Wiener Zeitung Nr. 68 v. 10. 3. 1938, 4; vgl. R athkolb, Erste Republik (2015) 509.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Frankreich, den USA oder der Sowjetunion kam irgendeine Hilfe. Angesichts dessen entschloss sich Schuschnigg, auf bewaffneten Widerstand zu verzichten, und trat noch am Abend des 11. März zurück, worauf Seyß-Inquart in derselben Nacht zum neuen Bundeskanzler ernannt wurde und, nach dem Rücktritt des Bundespräsidenten Miklas, auch noch dessen Geschäfte übernahm.772 Der Einmarsch deutscher Truppen wurde damit nicht aufgehalten und begann im Morgengrauen. Einen Tag später, am 13. März, überschritt Hitler selbst die Grenze. Mit zwei paktierten Gesetzen vom selben Tag erklärten die österreichische Bundesregierung und die deutsche Reichsregierung Österreich zu einem Land des Deutschen Reiches.773 Noch bevor aber ein einziger deutscher Soldat seinen Fuß auf österreichischen Boden gesetzt hatte, hatten die Nationalsozialisten auch im Inneren die Macht übernommen. Die österreichische Polizei erhielt Weisung, Hakenkreuzbinden auf ihre Ärmel zu stecken; bereits in der Nacht auf den 12. März erfolgten die ersten politischen Verhaftungen. Der Schriftsteller Carl Zuckmayer erinnerte sich an jene Nacht wie folgt: »Die Stadt [Wien] verwandelte sich in ein Alptraumgemälde des Hieronymus Bosch: Lemuren und Halbdämonen schienen aus Schmutzeiern gekrochen und aus versumpften Erdlöchern gestiegen. Die Luft war von einem unablässig gellenden, wüsten, hysterischen Gekreische erfüllt, aus Männer‑ und Weiberkehlen, das tage‑ und nächtelang weiterschrillte.«774 Eine Massenflucht von Jüdinnen und Juden sowie von vielen anderen Personen, die um ihr Leben fürchten mussten, begann. Zu ihnen zählte auch Anna Kelsen, sie kehrte noch im März 1938 zu ihren Eltern nach Genf zurück.775 Lilli Kelsen, die Witwe des 1937 verstorbenen Ernst Kelsen, und ihre 19-jährige Tochter Liesl konnten nach England entkommen,776 und auch den meisten anderen Familienmitgliedern gelang die Flucht. Zurück blieben, wohl aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters, nur Hans Kelsens Mutter, Auguste Kelsen, seine Schwester Gertrude sowie deren Gatte Richard Weiss. Der 64-jährige Weiss wurde – wie so viele andere Juden in jenen Tagen unmittelbar nach dem »Anschluß« – gezwungen, auf seinen Knien die auf die Straßen geschmierten pro-österreichischen Wahlparolen für die nicht stattgefundene Volksbefragung wegzuwaschen (die neuen Machthaber sprachen zynisch von »Reibpartien«).777 Im Herbst wurde Auguste Kelsen gezwungen, 772 Wiener
Zeitung Nr. 70 v. 12. 3. 1938, 1. Vgl. Uhl, »Anschluss« 1938 (2018) 91. Bundesverfassungsgesetz v. 13. 3. 1938 BGBl 75; dt. Gesetz v. 13. 3. 1938 dRGBl I 1938, 237; vgl. dazu Wiederin, März 1938 (1990). 774 Zuckmayer, zit. n. Uhl, »Anschluss« 1938 (2018) 92; das Zitat auch bei Suppan, 1000 Jahre Nachbarschaft (2016) 181 f. Eine ausführliche Schilderung der Ereignisse u. a. auch bei Botz, Nationalsozialismus (2008) 62. 775 Kelsen Oestreicher, Times to remember (1977) 7. Bis zum 28. 3. 1938 benötigten Österreicher für ihre Einreise in die Schweiz kein Visum, danach wurde ein solches Pflicht, wobei der Schweizerische Generalkonsul in Wien nur »Ariern«, das Konsulat in Bregenz aber auch »nichtarischen« Österreichern ein solches Visum ausstellte; vgl. Friedländer /Kreis/Milton, Die Schweiz und die Flüchtlinge (2001) 101, 140. 776 Carole Angier, Interview v. 8. 9. 2010. Vgl. zu Ernst Kelsen bereits oben 382 Anm. 852. 777 Anne Feder Lee, Interview v. 15. 10. 2006. Vgl. Moser, Das Schicksal der Wiener Juden (1978) 175; Botz, Nationalsozialismus (2008) 127. 773
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4. Kapitel: Das Prager »Gastspiel«
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Abb. 41: Hans Kelsen mit seiner Schwester Gertrude Weiss, 1930.
ihre Wohnung in der Marokkanergasse aufzugeben und in eine »Sammelwohnung« umquartiert.778 Wie verzweifelt die 78-jährige Frau war, zeigt sich u. a. darin, dass sie sich sogar taufen ließ – ein in jener Zeit gar nicht so seltener, aber natürlich völlig untauglicher Versuch, den rassistisch motivierten Judenverfolgungen zu entgehen.779 Hans Kelsen versuchte, von Genf aus seiner Mutter zu helfen, indem er den einzigen »Vorteil« auszunützen versuchte, der sich für sie beide aus dem »Anschluß« ergab. Von Genf aus wies er die Dresdner Bank an, sein Guthaben bei diesem Geldinstitut in Höhe von ca. 8.000 RM, das er nach wie vor nicht aus Deutschland wegführen durfte, an seine Mutter zu überweisen, zumal Wien nunmehr Teil des »Großdeutschen Reiches« war. »Darauf erhielt ich von der Bank die Mitteilung, dass sie den Auftrag nicht ausführen könne, da mein gesammtes [sic] Vermögen von dem Finanzamt Köln beschlagnahmt worden sei, und zwar wegen angeblich nicht bezahlter Reichsfluchtsteuer.«780 Tatsächlich hatte das Finanzamt Köln-Süd im Dezember 1938 dem Kuratorium der Universität Köln mitgeteilt, dass der »jüdische[..] Universitäts778 Zunächst Wien III., Gerlgasse 10/30; ab Oktober 1939: Wien III., Untere Viaduktgasse 10/6; die letzten vier Tage vor ihrer Emigration nach Jugoslawien (25. 4.–29. 4. 1940) in der Pension Opernring in I., Opernring 11. (Schriftliche Auskunft des Wiener Stadt‑ und Landesarchives vom 24. 5. 2006 aufgrund einer entsprechenden Anfrage von Frau Mag. Eva Blimlinger, in Kopie im HKI, Bestand Kelsen Persönliches.). 779 Murauer, Lebensspuren (2010) 23. 780 Hans Kelsen, »Schilderung des Verfolgungsvorganges«, datiert Genf, 11. 7. 1955, in: UA Köln, Zug 598/136.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
professor Dr. Hans Kelsen […] 1933 nach der Schweiz ausgewandert [sei] und […] dem Reich an Reichsfluchtsteuer noch einen Betrag von ca. RM 16.000,–« schulde (!).781 Dass nur ein ungefährer Betrag genannt wurde, zeigt, dass das NS-Regime sich nicht einmal mehr sonderliche Mühe gab, sein rechtswidriges Verhalten zu verbergen. Tatsächlich war a) die Reichsfluchtsteuer nicht auf Personen anzuwenden, die (wie Kelsen) erst nach dem 31. Dezember 1927 in das Deutsche Reich eingewandert waren,782 und b) bedeutete eine Steuerschuld von ca. 16.000 RM, dass das gesamte steuerbare Vermögen ca 64.000 RM betragen hätte, da der Steuersatz bei 25 % lag; Kelsens tatsächliches Vermögen lag weit darunter, sogar unter der Mindestgrenze, ab der die Reichsfluchtsteuer überhaupt griff. Doch versuchte Kelsen nicht mehr, sich zu wehren. Nachdem ihm der »Gerechtigkeitsstaat«783 wider alle gesetzlichen Vorschriften seine Gehalts‑ und Pensionszahlungen aus dreißig Jahren Staatsdienst verweigert hatte, waren nun auch seine in Deutschland zurückgelassenen Ersparnisse endgültig verloren. Infolge der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurden zehn der insgesamt 19 Professoren der Wiener rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät, also mehr als die Hälfte, in den Ruhestand versetzt. 30 Privatdozenten verloren aus politischen und/oder rassistischen Gründen ihre Lehrbefugnis.784 Unter den so »Gemaßregelten« befand sich auch Adolf Merkl, der am 22. April 1938 zunächst beurlaubt und später in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde. Persönlich blieb Merkl unbehelligt; nachdem er sich zwei Jahre als »Helfer in Steuersachen« durchgeschlagen hatte, wurde er – aufgrund des durch den Krieg hervorgerufenen Lehrkräftemangels – an die Universität Tübingen berufen, wo er bis 1950 blieb.785 Erich Hula, der in Österreich bis zuletzt gegen Hitler gekämpft hatte, floh nach dem »Anschluß« mit seiner Frau in die Tschechoslowakei. An der Grenze wurde ihr Zug aufgehalten, und alle Flüchtlinge wurden zum Aussteigen gezwungen. Lediglich das Ehepaar Hula durfte weiterreisen, weil sie im Besitz amerikanischer Pässe waren.786 Weniger Glück hatte Fritz Schreier, der am 17. März 1938 verhaftet und zunächst ins KZ Dachau, dann ins KZ Buchenwald gebracht wurde. Ein halbes Jahr später wurde er von dort entlassen und emigrierte über die Schweiz in die USA. Seine Eltern starben im KZ Theresienstadt.787 781 Finanzamt Köln-Süd, Reichsfluchtsteuerstelle, Schreiben an das Kuratorium der Universität Köln v. 29. 1 2. 1938, in: UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 223:. 782 Vgl. die Verordnung des Reichspräsidenten v. 8. 1 2. 1931 RGBl. I S. 699 zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens, III/1 § 2 Z. 2. Die Reichsfluchtsteuer war ursprünglich eingeführt worden, um wohlhabende Deutsche von einer Emigration abzuhalten; in der NS-Zeit wurde sie wesentliches Instrument zum Entzug von jüdischem Vermögen. 783 So die Charakterisierung des Deutschen Reiches nach Kluge/Krüger, Reichsbürgerkunde (1941) 4. 784 Olechowski/Ehs/Staudigl, Fakultät (2014) 750. 785 Olechowski/Ehs/Staudigl, Fakultät (2014) 512; zu Merkls Zeitungsartikel vom 10. 4. 1938 vgl. noch unten 773. 786 Rutkoff/Scott, New School (1986) 103. 787 Lukas, Schreier (2008) 473; Feichtinger, Transatlantische Vernetzungen (2009) 332.
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4. Kapitel: Das Prager »Gastspiel«
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7. Die Zerschlagung der Tschechoslowakei Mit dem »Anschluß« Österreichs an das Deutsche Reich war die ČSR in eine äußerst schwierige Situation geraten, da der tschechische Landesteil nunmehr im Süden, Westen, Norden und Nordosten vom Großdeutschen Reich umklammert war. Am 23. und 24. April 1938 hielt die Sudetendeutsche Partei unter Konrad Henlein in Karlsbad [Karlovy Vary/CZ] ihre Hauptratstagung ab und formulierte ihr »Karlsbader Programm«, das u. a. auf »eine völlige Gleichberechtigung und Gleichrangigkeit der deutschen Volksgruppe mit dem tschechischen Volke« und Autonomie im deutschen Siedlungsgebiet für alle »Interessen und Angelegenheiten der deutschen Volksgruppe« abzielte.788 Diese Forderungen erschienen Beneš zunächst unannehmbar, aber unter dem immer stärker werdenden Druck der Sudetendeutschen Partei, die auch recht erfolgreich um die Sympathien der europäischen Großmächte warb, musste er allmählich einlenken. Doch erfolgte dieses Einlenken zu spät; schon im März 1938 hatte Hitler gegenüber Henlein erklärt, dass er »das tschechoslowakische Problem in nicht allzu langer Zeit […] lösen« werde, worauf Henlein erwidert hatte, fortan »immer so viel fordern« zu wollen, dass er »nicht zufrieden gestellt werden« könne.789 Als die ČSR im Mai 1938 Truppenbewegungen der Deutschen Wehrmacht mit einer Teilmobilisierung ihrer eigenen Truppen beantwortete, kam es zu einzelnen bewaffneten Zusammenstößen zwischen Deutschen und Tschechoslowaken; über den Sommer wurde das Verhältnis zwischen beiden Staaten immer angespannter, und die Zwischenfälle im Grenzgebiet häuften sich.790 Am 15. September veröffentlichte Henlein in Eger [Cheb/CZ] eine Proklamation, in der er sich über die Unterdrückung der Sudetendeutschen durch »Maschinengewehre, Panzerwagen und Tanks« verwahrte und die Forderung erhob: »Wir wollen als freie deutsche Menschen leben! Wir wollen Friede und Arbeit in unserem Land! Wir wollen heim ins Reich!«791 Hans Kelsen berichtet in seiner Autobiographie, dass er im »Sommer 1938, als die Situation in der Tschechoslovakei immer kritischer wurde, […] in Genf den Besuch eines hohen Funktionaers des tschechoslovakischen Aussenministeriums« erhielt.792 Wahrscheinlich handelte es sich um Jaromir Kopecký, den Botschafter der ČSR beim Völkerbund, der, wie noch auszuführen sein wird,793 auch noch bei anderer Gelegenheit mit Kelsen zusammen kam. Nun, im »Sommer 1938« erbat der Gesandte von Kelsen, eine »Verfassungsreform auszuarbeiten«, wie sie Kelsen schon früher bei 788 NFP Nr. 26445 v. 25. 4. 1938, 1; Alexander, Quellen (2005) 170 f. Vgl. Suppan, 1000 Jahre Nachbarschaft (2016) 187. 789 Protokoll über eine Unterredung zwischen Henlein und Hitler v. 28. 3. 1938, auszugweise bei Alexander, Quellen (2005) 170. Vgl. auch Stern, Staatsrecht V (2000) 858. 790 Evans, Das Dritte Reich II (2006) 808 ff. 791 NFP Nr. 26587 v. 16. 9. 1938, 1. Die v. a. durch die Proklamation Henleins bekannt gewordene Parole »Heim ins Reich« wurde schon früher und auch mit Beziehung auf einen »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich verwendet, vgl. Merkl, Rechtsform (1925) 2 = MGS II/1, 585. 792 Kelsen, Autobiographie (1947) 43 = HKW I, 88. 793 Unten 634.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Beneš angeregt hatte,794 also die Umwandlung der ČSR in einen Bundesstaat, in dem jede Bevölkerungsgruppe ihren eigenen Landesteil bekommen sollte. Kelsen berichtet auch, dass er einen solchen Entwurf anfertigte;795 leider ist dieser verschollen.796 Kelsen Bemühungen kamen, wie er selbst später erklärte »zu spät. England hatte bereits beschlossen, die Tschechoslowakei zu zwingen, das sudetendeutsche Gebiet Nazideutschland zu überlassen.«797 Tatsächlich spielte das British Empire eine Schlüsselrolle bei der Zerschlagung der ČSR. Der britische Premierminister Arthur Neville Chamberlain versuchte mit seiner Appeasement-Politik, den Frieden in Europa zu bewahren und zu diesem Ziele Hitler weitestgehende Zugeständnisse zu machen. Am 29. September 1938 kamen Chamberlain, Hitler, Mussolini sowie auch der französische Premierminister Édouard Daladier in München zusammen und vereinbarten – ohne die ČSR an ihren Verhandlungen auch nur zu beteiligen – die Abtretung der Sudetenländer an das Deutsche Reich (Münchner Abkommen). In einem zugleich abgeschlossenen Zusatzabkommen gaben Großbritannien und Frankreich eine Garantieerklärung zugunsten der Integrität der restlichen ČSR ab, der Deutschland und Italien unter der Bedingung beitraten, dass auch die Frage der polnischen und ungarischen Minderheiten in der ČSR gelöst werde. Aus diesem Grund trat die ČSR etwas später weitere Landesteile an ihre Nachbarländer Polen und Ungarn ab.798 In Reaktion auf das Münchner Abkommen trat Edvard Beneš am 5. Oktober als Staatspräsident zurück und ging ins Exil. Zu seinem Nachfolger wurde erst mehrere Wochen später der Präsident des Obersten Verwaltungsgerichtshofes, Emil Hácha, gewählt.799 In der ČSR, die ein Drittel ihres Staatsgebietes verloren hatte, verschärften sich die Gegensätze zwischen den verbliebenen Nationen – Tschechen, Slowaken und Ukrainern –, weshalb am 22. November eine Verfassungsänderung vorgenommen wurde, mit der die Slowakei sowie die Karpaten-Ukraine Autonomie und eigene Parlamente erhielten. Der Staatsname wurde, um die Autonomie der Slowakei noch besonders zu betonen, in Tschecho-Slowakei (Česko-Slovenská Republika, Č-SR) 794 Vgl.
oben 610 f. Kelsen, Autobiographie (1947) 43 = HKW I, 88. 796 Es sei angemerkt, dass Fritz Sander bereits 1933 »Vorschläge für eine Revision der Verfassungsurkunde der Tschechoslowakischen Republik« gemacht und dabei vorgeschlagen hatte, die ČSR in einen Bundesstaat, gebildet aus fünf Ländern, in denen jeweils die Tschechen, Deutschen, Ruthenen (Ukrainer), Slowaken und Magyaren die Mehrheit besaßen, umzuwandeln. Sowohl das Zentralparlament als auch die Landtage sollten dabei in »nationale Kataster« gegliedert werden, ähnlich wie dies beim Mährischen Landtag schon 1905–1918 bestanden hatte (vgl. oben 96), um die jeweilige nationale Minderheit (also auch z. B. die tschechische Minderheit im deutschen Landesteil) besonders zu schützen. Zentrale Bedeutung sollte einem »Staatsgericht« zukommen, das paritätisch von den fünf Nationen zu beschicken wäre: Sander, Vorschläge (1933). Ob sich Kelsen von diesen Vorschlägen beeinflussen ließ, ist unbekannt. 797 Kelsen, Autobiographie (1947) 43 = HKW I, 88. 798 Beide Texte in: Schelle/Tauchen, Tschechoslowakische Rechtsgeschichte (2009) 54 f.; auszugweise auch bei Alexander, Quellen (2005) 174. Vgl. Stern, Staatsrecht V (2000) 859 f.; Evans, Das Dritte Reich II (2006) 815 f., 823; Suppan, 1000 Jahre Nachbarschaft (2016) 189. 799 Slapnicka, Die böhmischen Länder (1970) 107. 795
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4. Kapitel: Das Prager »Gastspiel«
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abgeändert.800 Im Dezember folgte ein Ermächtigungsgesetz, das der Regierung den Weg zu einem autoritären Führungsstil ebnete.801 Die politischen Entwicklungen hatten massive Auswirkungen auf die deutschsprachigen Hochschulen in der Tschechoslowakei. Unmittelbar nach dem »Heimins-Reich«-Aufruf Henleins wurden alle Rektoren und Dekane ins Schulministerium zitiert, wo sie den Aufruf ablehnten und ihre Loyalität zum tschechoslowakischen Staat bekundeten.802 Dies führte dazu, dass ein Großteil jener Professoren, die für Henlein waren – etwa die Hälfte sämtlicher deutschsprachiger Hochschullehrer in der ČSR –, in den folgenden Tagen fluchtartig das Land verließ oder vom Sommerurlaub einfach nicht mehr zurückkehrte, so etwa Wilhelm Weizsäcker, der nach Wien ging, oder auch Fritz Sander, der nach Schweden floh.803 Am 23. September 1938 trat der schon vor Beginn des Exodus zum Rektor der Deutschen Universität Prag gewählte Erziehungswissenschaftler Ernst Otto sein Amt an und forderte die geflohenen Professoren energisch auf, wieder an die Universität zurückzukehren. Die Sudetendeutsche Partei jedoch ordnete an, diese Weisung nicht zu befolgen; man wolle nicht für »die Juden« eine »deutsche Universität imitiere[n].«804 Parallel dazu diskutierten die – von verschiedenen reichsdeutschen Universitäten, wie v. a. Wien und München aufgenommenen – exilierten Professoren über eine dauerhafte Verlegung der Deutschen Universität in sudetendeutsches, d. h. nunmehr reichsdeutsches Gebiet. Hitler jedoch entschied persönlich, dass die Universität in Prag bestehen bleiben solle, worauf das Gros der geflohenen Professoren nach Prag zurückkehrte.805 Der Vorlesungsbetrieb konnte erst am 11. Jänner 1939 wiederaufgenommen werden. Am 18. Jänner – dem Gründungstag des Deutschen Reiches 1871 – wehte über dem altehrwürdigen Karolinum die Hakenkreuzfahne, ohne dass es die tschecho-slowakische Regierung verhinderte.806 Zu den Professoren, die nicht an die Universität Prag zurückkehrten, zählte auch Hans Kelsen. Er hatte für das Wintersemester 1938/39 noch eine fünfstündige Vorlesung aus Völkerrecht sowie ein zweistündiges völkerrechtliches Seminar angekündigt.807 Angesichts der politischen Verhältnisse aber sendete er eine Woche 800
Verfassungsgesetze v. 22. 11. 1938 čsSlg 299 und 328. Eine Autonomie für die Karpaten-Ukraine war schon in § 3 der Verfassungsurkunde von 1920 vorgesehen gewesen, aber bis dahin nicht verwirklicht worden. 801 Verfassungsgesetz v. 15. 1 2. 1938 čsSlg 330 über die Ermächtigung zu Änderungen der Verfassungsurkunde und der Verfassungsgesetze der čecho-slovakischen Republik und über die außerordentliche Verordnungsgewalt. Vgl. Kuklik/Něměcek, Memorandum (2016) 108. 802 Míšková, Die deutsche (Karls‑)Universität (2007) 47. 803 Míšková, Die deutsche (Karls‑)Universität (2007) 51; Olechowski/Busch, Kelsen als Professor an der Deutschen Universität Prag (2010) 1125. 804 Er führte damit einen Erlass des Schulministeriums v. 30. 9. 1938 aus: Míšková, Die deutsche (Karls‑)Universität (2007) 53. 805 Míšková, Die deutsche (Karls‑)Universität (2007) 54. 806 Míšková, Die deutsche (Karls‑)Universität (2007) 58. 807 Ordnung der Vorlesungen an der Deutschen Universität in Prag im Wintersemester 1938–39 (Prag 1938) 12.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
vor Semesterbeginn, und noch vor dem Münchner Abkommen, am 25. September, über Vermittlung der tschechoslowakischen Delegation beim Völkerbund und im Wege der tschechoslowakischen Gesandschaft in Bukarest (!), ein Schreiben aus Genf an das Schulministerium, in dem er um Verlängerung seines im Februar 1938 angetretenen Urlaubes ersuchte. In einem zweiten, am 6. Oktober an die Fakultät gerichteten Brief äußerte er ganz offen seine Befürchtung, dass seine Rückkehr nach Prag »bei der gegenwärtigen Lage Anlass zu Unruhen geben könnte, die einen noch ernsteren Charakter annehmen würden als im Herbst 1936.«808 Zugleich richtete er ein persönliches Schreiben an den neuen Dekan, Ernst Hoyer, in dem er erklärte, dass er ja schon immer ein »Stein des Anstoßes« gewesen sei, sein Urlaubsgesuch daher der Fakultät wohl nur gelegen komme.809 Hoyer entgegnete Kelsen jedoch, dass über sein Urlaubsgesuch erst bei der kommenden Fakultätskonferenz am 26. Oktober entschieden werden könne, und forderte ihn auf, nach Prag zu kommen, um an der Konferenz teilzunehmen. Kelsen schrieb erneut nach Prag, dass für ihn die einzige Möglichkeit, nach Prag zu kommen, die Eisenbahnverbindung über Rumänien sei, was mehrere Tage in Anspruch nehmen würde, und er wollte diese beschwerliche Reise erst antreten, wenn über sein Urlaubsgesuch schon entschieden worden war.810 Zur Fakultätssitzung am 26. Oktober war bereits ein Großteil der Professoren wieder in Prag; einstimmig wurde das Urlaubsgesuch Kelsens befürwortet und an das Ministerium weitergeleitet. Dieses jedoch informierte daraufhin die Fakultät darüber, dass Kelsen nicht beabsichtige, nach Prag zurückzukehren, sondern sich »eine neue Existenz in Amerika suchen« wolle. »Dadurch wird die Behandlung seines Ansuchens um die Erteilung eines Urlaubes gegenstandslos«.811 Kelsens Gehaltszahlungen wurden rückwirkend mit 30. September eingestellt – de facto hatte Kelsen seit September kein Gehalt mehr bezogen.812 Nichtsdestoweniger wurde 808 Hans Kelsen, Schreiben an die juristische Fakultät der Deutschen Universität Prag v. 6. 10. 1938, in: UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Hans Kelsen, F 59. Es beantwortete einen – mit Luftpost beförderten – Erlass des Schulministeriums v. 30. 9. 1938, mit welchem er offenbar zum Dienstantritt in Prag aufgefordert wurde. Das Schreiben v. 25. 9. 1938 ist nicht erhalten, wird aber von Kelsen in seinem Schreiben vom 6. 10. 1938 erwähnt. 809 Hans Kelsen, persönliches Schreiben an Dekan Hoyer v. 10. 10. 1938, in: UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Hans Kelsen, F 59. Vgl. auch Osterkamp, Kelsen in der Tschechoslowakei (2009) 311. 810 Dekan Ernst Hoyer, Schreiben an Hans Kelsen v. 13. 10. 1938 und Antwortschreiben Kelsens v. 23. 10. 1938, beide in: UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Hans Kelsen, F 59. 811 Schreiben des juridischen Dekanats an das Schulministerium v. 29. 10. 1938 und Antwortschreiben des Schulministeriums v. 17. 11. 1938, UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Hans Kelsen, F 59. 812 Schreiben des Landesamtes in Prag an die Finanzprokuratur v. 21. 10. 1938, Národní archiv, PZU, Karton 28, Sign. Kelsen Hans. Ob das Oktobergehalt noch ausbezahlt worden war, war zunächst unter den beteiligten Behörden unklar; da Kelsen einer Aufforderung zur Rückzahlung seines Oktobergehalts nicht nachkam, wurde im April 1939 sogar ein Exekutionsverfahren gegen ihn eingeleitet: Schreiben der Finanzprokuratur in Prag v. 7. 6. 1939, Národní archiv, PZU, Karton 28, Sign. Kelsen Hans.
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4. Kapitel: Das Prager »Gastspiel«
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Kelsen im Dezember ein nicht einrechenbarer und unbezahlter Urlaub für das gesamte Studienjahr 1938/39 gewährt.813 Woher das Schulministerium über Kelsens (zu jener Zeit tatsächlich schon bestehende814) Emigrationspläne Bescheid wusste, ist unbekannt. Dass das Ministerium, wie auch die gesamte tschecho-slowakische Regierung, zu diesem Zeitpunkt schon völlig unter dem Einfluss der nationalsozialistischen deutschen Reichsregierung stand,815 wird daran deutlich, dass sie am 27. Jänner 1939 beschloss, dass alle jüdischen Lehrpersonen aus dem Staatsdienst auszuscheiden seien; in weiterer Folge wurden u. a. Edgar Foltin, Hans Kelsen, Robert Neuner, Egon Weiß und Franz Xaver Weiß in den Ruhestand versetzt, ebenso Ernst Hoyer und Robert Mayr-Harting, die beiden letzteren wegen »politischer Unzuverlässigkeit« (vgl. § 4 BBG).816 Als Hitler entschieden hatte, dass der Vorlesungsbetrieb in Prag wiederaufzunehmen sei, hatte er die Annexion des Restes der Tschechoslowakei einschließlich Prags schon längst beschlossen.817 Bei den Wahlen zu den neugeschaffenen Parlamenten für die Slowakei und die Karpaten-Ukraine im Februar 1939 erreichten die auf vollständige Loslösung von der Č-SR drängenden Parteien überwältigende Siege, weshalb die tschechoslowakische Regierung Militär in diese beiden Landesteile einrücken ließ. Daraufhin erklärte das slowakische Parlament am 14. März 1939 die Souveränität des »Slowakischen Staates«. Am selben Tag marschierten deutsche Truppen in die Tschechei sowie ungarische Truppen in die Karpaten-Ukraine ein. Staatspräsident Emil Hácha und Außenminister František Chvalkovský wurden am 15. März nach Berlin beordert und dort unter massiven Druck gesetzt. Schließlich unterzeichneten sie gemeinsam mit Hitler und dem deutschen Außenminister Joachim v. Ribbentrop eine Erklärung (das sog. Berliner Abkommen), mit der sie »das Schicksal des tschechischen Volkes und Landes vertrauensvoll in die Hände des Führers« legten.818 Die Tschechei wurde am 16. März als »Protektorat Böhmen und Mähren« formell vom Deutschen Reich annektiert,819 während die Slowakei zwar als souveräner Staat anerkannt wurde, allerdings einen »Schutzvertrag« mit dem Deutschen Reich schloss, der auch sie in Abhängigkeit von Hitler brachte.820 Der im Oktober 1938 zurückgetretene Staatspräsident Edvard Beneš war Gastprofessor an der University of Chicago, als er von der Zerstörung seines Heimatlandes, an dessen Aufbau er so wesentlich Anteil gehabt hatte, erfuhr. In einer am 813 Erlass des čs Schulministeriums v. 28. 1 2. 1938, Č.j. 187.380/38-IV/3, UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Hans Kelsen, F 59. 814 Siehe unten 659. 815 Dazu Evans, Das Dritte Reich II (2006) 824. 816 Míšková, Die deutsche (Karls‑)Universität (2007) 58, 64, 74; Suppan, 1000 Jahre Nachbarschaft (2016) 192. 817 Dazu näher Suppan, 1000 Jahre Nachbarschaft (2016) 191. 818 Text in: Wiener Zeitung Nr. 70 v. 16. 3. 1939, 1; Alexander, Quellen (2005) 176. Vgl. Stern, Staatsrecht V (2000) 860; Evans, Das Dritte Reich II (2006) 826; Suppan, 1000 Jahre Nachbarschaft (2016) 192. 819 Führererlass v. 16. 3. 1939 dRGBl I S. 485 = čsSlg 75/1939. 820 Schutzvertrag v. 18./23. 3. 1939 dRGBl II S. 606.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
8. Juni 1939 gehaltenen Rede stellte er sich an die Spitze des Widerstandes gegen das NS-Regime in der Tschechoslowakei.821 Wohl in diesem Zusammenhang richtete der tschechische Journalist Jan Ripka, der im Pariser Exil lebte, am 24. Juni 1939 ein Schreiben an den tschechoslowakischen Gesandten beim Völkerbund in Genf, den schon erwähnten Jaromir Kopecký, mit der Bitte, Hans Kelsen zu kontaktieren und ihn um ein Gutachten zu ersuchen; Kopecký erwiderte, dass Kelsen bereits von sich aus an ihn herangetreten sei, um ihm seine Unterstützung anzubieten.822 Hans Kelsen verfasste ein Memorandum, in dem er erklärte, dass das Berliner Abkommen vom 15. März 1939 völkerrechtswidrig sei. Es sei nur unter militärischem Druck zustande gekommen und stelle überdies einen Bruch des Münchner Abkommens bzw. von dessen oben erwähnten Zusatzabkommen vom 29. September 1938 dar, in dem Deutschland eine Garantie zugunsten der ČSR abgegeben hatte, zumal die ČSR alle sie betreffenden Bedingungen erfüllt hatte. »Nach einer von den massgebendsten Vertretern des modernen Völkerrechts begründeten Anschauung« – Kelsen zitierte hier Lassa F. Oppenheim (1858–1919) – »ist ein Vertrag, den ein Staat im Widerspruch zu einem von ihm vorher geschlossenen Vertrag mit einem dritten Staate schliesst, als nichtig anzusehen.«823 Was Hácha betreffe, so habe dieser mit der Unterzeichnung des Berliner Abkommens seine Kompetenzen überschritten, das Berliner Abkommen sei somit auch aus verfassungsrechtlicher Sicht nichtig. Die Okkupation des »größten Teils der Tschecho-Slowakei« durch das Deutsche Reich – sowie auch die Okkupation der Karpaten-Ukraine durch Ungarn – waren daher nicht provozierte Angriffe auf einen souveränen Staat im Sinne des Art. 10 der Völkerbundsatzung; der Völkerbundrat war daher verpflichtet, die Integrität der Č-SR zu schützen.824 Das weitere Schicksal dieses Memorandums ist nicht klar.825 Es scheint, dass Kopecký plante, es bei der Völkerbundversammlung im Herbst 1939 zu veröffentlichen, was jedoch durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges am 1. September vereitelt wurde; auch der Völkerbund hatte den Untergang der Č-SR anerkannt und sah Kopecký nicht mehr als vertretungsbefugte Person an. Ein persönliches Treffen von Kelsen mit Beneš kam ebenfalls nicht zustande, sodass Kelsens Arbeiten für die tschechoslowakische Widerstandsbewegung ihr Ende fanden. Formell war Kelsen zu diesem Zeitpunkt noch immer Professor der Deutschen Universität zu Prag, die ab 1. September 1939 wieder »Karlsuniversität« heißen durfte, 821 Kuklik/Něměcek,
Memorandum (2016) 110. Memorandum (2016) 111. 823 Kelsen, Tschechoslowakei-Gutachten 1939, 117. Beachte, dass Kelsen hier ohne weiteres von der völkerrechtlichen Gültigkeit des Münchner Abkommens ausging, während Beneš – spätestens ab 1940 – die Nichtigkeit auch dieses Abkommens und aller nachfolgenden Ereignisse, wie insbesondere seiner eigenen Rücktrittserklärung vom 5. 10. 1938, behauptete, worauf er die Legitimität der von ihm gebildeten Exilregierung stützte. Vgl. dazu schon Olechowski, Kelsens Debellatio-These (2013) 537. 824 Kelsen, Tschechoslowakei-Gutachten 1939, 118 f. 825 Dazu näher Kuklik/Něměcek, Memorandum (2016) 112 f. 822 Kuklik/Něměcek,
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4. Kapitel: Das Prager »Gastspiel«
635
während die tschechische Univerzita Karlova sowie alle anderen tschechischen Hochschulen im November geschlossen wurden.826 Bereits am 12. Mai 1939 hatte Kelsen seine Pensionierung selbst beantragt,827 dies wurde aus unbekannten Gründen zunächst abgelehnt. Am 16. Dezember 1939 wurde jedoch – ohne ein neuerliches Gesuch Kelsens – entschieden, dass dieser mit Jahresende in den Ruhestand zu versetzen sei. Ruhegenüsse erhielt er keine. Abschließend sei hier noch auf das Schicksal von František Weyr eingegangen, der just in jenen Tagen, am 25. April 1939, seinen 60. Geburtstag hatte. Seine Freunde und Kollegen hatten schon seit längerem geplant, ihm eine zweibändige Festschrift zu widmen – der erste Band mit tschechischen Beiträgen und einer Einleitung von Karel Engliš, der zweite mit deutschen und französischen Beiträgen sowie einer Einleitung von Hans Kelsen. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten verhinderte das Erscheinen des zweiten Bandes, lediglich ein einziges Exemplar wurde von der Buchdruckerei Orbis in Prag gedruckt und Weyr zum Geburtstag geschenkt.828 In diesem Vorwort bezeichnete Kelsen sich selbst als »älteste[n] Freund« Weyrs und würdigte nicht nur die einzelnen wissenschaftlichen Leistungen des Jubilars – insbesondere die Überwindung des rechtstheoretischen Dualismus zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht –, sondern ganz allgemein »die persönliche Redlichkeit und den persönlichen Mut des Forschers«, die alleine zur »wissenschaftliche[n] Wahrheit« führen. Hinweise auf die aktuellen politischen Entwicklungen fehlten gänzlich.829 Weyrs persönlicher Mut wurde in den nachfolgenden Jahren noch oft gefordert: Aufgrund der Schließung sämtlicher tschechischsprachiger Hochschulen konnte Weyr in der NS-Zeit nicht lehren. Er lebte in diesen Jahren in Prag; 1943 erlitt er einen Herzinfarkt, wurde kurz darauf von der Gestapo verhaftet und einen Monat in Einzelhaft gehalten. Nach Wiederrichtung der Tschechoslowakei und der Masaryk-Universität Brünn 1945 konnte Weyr seine Lehrtätigkeit wiederaufnehmen und erhielt 1947, gemeinsam mit Engliš, sogar ein Ehrendoktorat. Nach Machtübernahme der Kommunisten 1948 verlor Weyr jedoch erneut seinen Lehrstuhl; Versuche Kelsens, ihn in die USA zu holen, scheiterten. František Weyr starb am 29. Juni 1951.830
826 Suppan,
100 Jahre Nachbarschaft (2016) 202 f. Kelsen, Schreiben an das juridische Dekanat v. 12. 5. 1939, UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Hans Kelsen, F 59. 828 Métall, Kelsen und seine Wiener Schule (1974) 21. 829 Kelsen, Vorwort (1939). Dieses Vorwort wurde auch abgedruckt in Métall, Kelsen und seine Wiener Schule (1974) 22–25. In seinem wissenschaftlichen Beitrag zur Festschrift befasste sich Kelsen mit der Theorie des Völkergewohnheitsrechts: Kelsen, Theorie du droit international coutumier (1939). 830 Domej, Kelsen und Weyr (2003) 55 f. 827 Hans
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Fünftes Kapitel
Zwischen Krieg und Frieden 1. Der Völkerbund und Hans Kelsen a) »The World Crisis« »The World Crisis« – so hatte Winston Churchill sein fünfbändiges Werk über den Ersten Weltkrieg betitelt. »The World Crisis« war – wohl nicht zufälligerweise – auch der englische Titel eines umfangreichen Sammelbandes, den die Professoren des IUHEI im Jahre 1938 aus Anlass des zehnjährigen Bestehens ihres Instituts sowohl in englischer wie auch in französischer Sprache veröffentlichten. Rappard stellte darin die provokante Frage, was der Völkerbund überhaupt sei, Maurice Bourquin erläuterte die Krise der Demokratie und Ludwig v. Mises problematisierte die internationale Arbeitsteilung als Produkt einer liberalisierten Weltwirtschaft. Hans Kelsen trug zu diesem Sammelband mit einem – wie er selbst sagte: rechtstechnischen – Aufsatz bei, ob und wie der Völkerbundpakt von den Pariser Vororteverträgen getrennt werden könne. Der Pakt (im englischen Original: »Covenant« – Kelsen kritisierte bereits diese Bezeichnung und präferierte eher »Verfassung« oder »Statut«831) war ja kein eigener völkerrechtlicher Vertrag, sondern bildete die Artikel 1–26 der – diesbezüglich identischen – Friedensverträge von Versailles, St. Germain-en-Laye, Neuilly-sur-Seine, Trianon und Sèvres.832 Diese äußere Form war in mehrfacher Hinsicht problematisch, hingewiesen sei nur auf das Problem, dass die Unterzeichner der Verträge durchaus nicht miteinander identisch waren (so war z. B. China nicht Unterzeichner des Versailler Vertrages, Brasilien nicht Unterzeichner des Vertrages von St. Germain). Sie war 1919 insbesondere deshalb gewählt worden, weil die Siegermächte so die Verliererstaaten zur Akzeptanz des Völkerbundpaktes zwingen wollten, ohne sie zugleich zu Mitgliedern des Völkerbundes zu machen. Dies war nach verbreiteter (von Kelsen nicht geteilter833) Ansicht bei den Artikeln 11 und 17, die von Streitfragen und militärischen Auseinandersetzungen zwischen Bundesmitgliedern und Bundes-Nichtmitgliedern handelten, von Bedeutung gewesen, hatte
831 Kelsen, De la séparation (1938) 143 = Kelsen, The Separation (1938) 133. Der auch in der Bibel (z. B. Gen 17,2) verwendete Begriff »covenant« war vom Presbyterianer Wilson bewusst für den Völkerbundpakt gewählt worden: Ziegerhofer, Völkerbund und ILO (2019) 296. 832 Köck/Fischer, Internationale Organisationen (1997) 103. 833 Kelsen, De la séparation (1938) 148 = Kelsen, The Separation (1938) 138.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
aber spätestens mit dem Beitritt Österreichs und Bulgariens 1920, Ungarns 1922 und Deutschlands 1926 sowie der Türkei 1932 seine Relevanz verloren. Was das Verfahren zur Trennung betraf, so hielt Kelsen es für unzweckmäßig, alle Vertragsparteien der Pariser Vororteverträge zu einer Änderung dieser Verträge zu bewegen. Vielmehr sahen die Artikel 26 und 422 des Versailler Vertrages (Artikel 26 und 367 des Vertrags von St. Germain etc.) vor, dass Novellierungen des Völkerbundpaktes bzw. des Statuts der ILO von der Gesamtheit der im Völkerbundrat vertretenen und der Hälfte der in der Völkerbundversammlung vertretenen Mitglieder bzw. von einer Zweidrittelmehrheit der Mitglieder der Hauptversammlung der ILO beschlossen werden konnten.834 Kelsens Forderungen waren brandaktuell; schon kurz nach der Veröffentlichung, am 30. September 1938, erließ die Völkerbundversammlung eine Resolution, mit der sie eine umfassende Änderung ihrer Satzung und, damit verbunden, eine Loslösung von den Friedensverträgen vorschlug.835 Dies wurde von Kelsen auch prompt in der belgischen »Revue de Droit international« eingehend kommentiert.836 Ob Kelsens Aufsatz einen Einfluss auf diese Resolution hatte, ist unbekannt, aber wohl zu vermuten. Folgen hatte sie allerdings keine, zumal die Resolution bei den Mitgliedsstaaten keine Reaktion auslöste. Der Völkerbund stützte seine Existenz bis zu seinem formellen Ende 1946 ausschließlich auf die Pariser Vororteverträge. b) Der Völkerbundkommentar Kelsen ließ es nicht bei diesem Aufsatz bewenden. Im Dezember 1939 veröffentlichte er einen 178 Seiten starken Kommentar zur Völkerbundsatzung: »Legal Technique in International Law. A Textual Critique of the League Covenant«. Bereits der Titel macht deutlich, dass es Kelsen weniger darum ging, die politischen Ziele des Völkerbundes zu kritisieren, als vielmehr um die textliche Gestaltung der Völkerbundsatzung, die aus seiner Sicht unzureichend war. Es sei zwar, so Kelsen, ein Gemeinplatz, dass die Völkerbundsatzung kein juristischer, sondern ein politischer Text sei, doch Kelsen widersprach dem energisch: Die Satzung habe einen erheblichen normativen Gehalt und müsse daher aus diesem Blickwinkel heraus kritisiert werden.837
834 Kelsen,
De la séparation (1938) 164 = Kelsen, The Separation (1938) 152. Text der Resolution in: J. O., Supplément Spécial No. 183: Actes de la dix-neuvième session ordinaire de L’assemblée (Genève 1938), Annexe 9. Kelsen, De la séparation (1938) 153 = Kelsen, The Separation (1938) 142, hatte auch eine Trennung des Statuts der ILO vorgeschlagen, die in gleicher Weise wie der Völkerbundpakt Teil der Friedensverträge war (Art. 387–427 des Versailler Vertrages, 332–372 des Vertrags von St. Germain etc.). Hier allerdings war Kelsen offenbar ein Fehler unterlaufen: Bereits 1934 hatte die ILO eine Abänderung ihres Statuts gem. Art. 422 Versailler Vertrag bzw. Art. 367 Vertrag von St. Germain beschlossen, um den Beitritt der USA (die nach wie vor die Ratifikation der Pariser Friedensverträge und einen Beitritt zum Völkerbund verweigerte) zu ermöglichen; vgl. dazu auch Maul, The International Labour Organization (2019) 101. 836 Kelsen, Les résolutions (1939). 837 Kelsen, Legal Technique (1939) 7 f. Vgl. dazu auch Paulson, Rezeption (1988) 193. 835 Der
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5. Kapitel: Zwischen Krieg und Frieden
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Verfehlt in textlicher wie inhaltlicher Sicht war schon einmal Artikel 1 der Völkerbundsatzung, der auf einen Anhang verwies, wonach bestimmte einzelne Staaten, wie insbesondere die USA, »automatisch« zu Völkerbundmitgliedern erklärt wurden. Tatsächlich aber hatten die USA die Pariser Vororteverträge – und damit die Völkerbundsatzung – zwar wesentlich mitgestaltet und unterzeichnet, aber niemals ratifiziert, weshalb sie auch nach absolut herrschender Ansicht niemals Mitglied des Völkerbundes waren; eine strenge Lesart des Artikel 1 hätte sie dennoch zu Mitgliedern gemacht, dann freilich, so Kelsen, wäre dies ein Vertrag zu Lasten Dritter.838 Stark kritisiert wurde von Kelsen auch der Artikel 8, der den Mitgliedsstaaten ein Bekenntnis zur Einsicht abverlangte, dass die Bewahrung des Friedens nur durch Abrüstung möglich sei (Kelsen vermisste hier schon den normativen Gehalt) und bestimmte Maßnahmen, wie etwa gegenseitige Informationen über Rüstungen anordnete; Kelsen schlug eine völlig neue Textierung vor, ohne seine – aus anderen Publikationen bekannte – Meinung zu äußern, dass Rüstungsbeschränkungen kein Mittel zur Friedenswahrung seien. Kritik fand schließlich auch Artikel 26, der die Abänderbarkeit der Völkerbundsatzung regelte, dabei aber in Konkurrenz zu Artikel 422 des Versailler Vertrages und der entsprechenden Artikel der übrigen Vororteverträge, wie z. B. Artikel 367 des Vertrages von St. Germain, stand, die andere Regelungen über ihre Abänderbarkeit vorsahen. Kelsen verwies auch hier wieder auf die Resolution des Völkerbundes vom 30. September 1938, die eine Loslösung der Völkerbundsatzung von den Vororteverträgen gefordert hatte.839 »Legal Technique« war die erste Monographie Kelsens, die in englischer Sprache erschien. Allerdings war das Manuskript von ihm nicht auf Englisch, sondern höchstwahrscheinlich auf Deutsch verfasst und von einem Albert E. Highley ins Englische übersetzt worden. Und genauere Lektüre macht auch deutlich, wie gering die Englisch-Kenntnisse Kelsens zu jener Zeit noch waren: Bei seiner Textkritik bezog er sich fast durchwegs auf die französische Fassung der Völkerbundsatzung, nur ganz vereinzelt auf den englischen Text.840 c) The New Commonwealth Es ist bemerkenswert – und vielleicht dem »Reinheitsgebot« seiner eigenen Theorie geschuldet –, dass Hans Kelsen in seinen Schriften zur rechtstechnischen Reform der Völkerbundsatzung kein Wort über die inhaltliche Reformbedürftigkeit dieser Satzung verlor. Denn dass hier noch weit größere Mängel bestanden als in formaler Hinsicht, war ihm durchaus bewusst. Bereits im Juli 1936 hatte er dem »Geneva Press Service«, einer auf Angelegenheiten des Völkerbundes spezialisierten Presseagentur, ein Interview gegeben, in dem er zwei ganz konkrete inhaltliche Forderungen 838 Kelsen, Legal Technique (1939) 34. Vgl. dazu auch Guggenheim, Der Völkerbund (1932) 25. 839 Kelsen, 840 So
Legal Technique (1939) 176. etwa bei Artikel 8 der Satzung: Kelsen, Legal Technique (1939) 65.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
für eine Reform des Völkerbundes erhoben hatte. Die erste betraf das mangelhafte Sanktionensystem des Völkerbundes,841 was er auf das angloamerikanische Rechtsdenken zurückführte, wonach Sanktionen nicht wesentlich für das Recht seien. Das Gegenteil sei der Fall, das Sanktionensystem müsse schlagkräftiger und in die Hand einer unabhängigen Instanz gegeben werden: »Sanktionen sind Sache des Gerichts!« Den zweiten Grund ortete Kelsen im Politischen: Der Völkerbund sei demokratisch aufgebaut; wer dem Völkerbund angehöre, respektiere auch den »territorialen Zustand der anderen Mitgliedsstaaten«, was aber »den Expansionsgeluesten, die die fascistischen Staaten an den Tag legen, durchaus zuwider« laufe. Daher sollte man in einen reformierten Völkerbund nicht Staaten aufnehmen, die »der Dynamik der Institution nicht entsprechen«.842 Damit sprach sich Kelsen für einen dauerhaften Ausschluss faschistischer Staaten aus dem Völkerbund aus! Eineinhalb Jahre später, am 19. November 1937, hielt Kelsen in Prag einen Vortrag über die Reform des Völkerbundes, in dem er denselben für »tot« erklärte; der Völkerbund sei an der Diskrepanz zwischen Idee und Realität gescheitert.843 Die Schuld daran träfe aber nicht in erster Linie Deutschland oder sonst eine der im Ersten Weltkrieg besiegten Mächte, sondern vielmehr die beiden Siegerstaaten Japan und Italien, die 1931 die Mandschurei bzw. 1936 Abessinien erobert hatten, den »durch den Völkerbundpakt garantierten Territorialstatus nicht mehr anerkennen wollten und sich auf dem Wege der Gewalt der Gebiete anderer Völkerbundmitglieder bemächtigten«.844 Japan und Deutschland seien aus dem Völkerbund ausgetreten, Italien habe seinen Austritt angemeldet.845 Die USA sei dem Völkerbund niemals beigetreten, die Sowjetunion habe diesen Schritt zwar (1934) vollzogen, könne ihm aber nur dauerhaft angehören, wenn sie das Dogma der sozialistischen Weltrevolution definitiv aufgebe. Von einer »Universalität« sei der Völkerbund also weit entfernt. Versagt habe er auch in seinen Bemühungen um Abrüstung. Kurz, er habe nicht nur »in dem einen oder anderen Falle versagt«, sondern habe sich »in den wichtigsten weltpolitischen Situationen […] als unfähig erwiesen […], die Zwecke zu erfüllen, für die er geschaffen wurde«, und es bestehe »unter den gegenwärtigen und den für die nächste Zukunft voraussehbaren Umständen keine Hoffnung […], die wesentlichen Bestimmungen des Völkerbundstatuts zur Anwendung zu bringen.«846 Es waren dies 841 Vgl.
zu diesem Köck/Fischer, Internationale Organisationen (1997) 178 f. Kelsen, Sanktionen (1936) 1, 3. 843 Lidové noviny v. 20. 11. 1937, Národní archiv, MCV-VA I, Karton 3407, Sign. Kelsen Hans. Es ist davon auszugehen, dass dieser Vortrag die Grundlage für die 19 Seiten starke Broschüre »Zur Reform des Völkerbundes« war, die 1938 als Heft 3 der »Friedensrevue Pax«, dem Organ der Internationalen Kulturliga in Prag, erschien. 844 Kelsen, Zur Reform des Völkerbundes (1938) 9. Zu den Hintergründen Ziegerhofer, Völkerbund und ILO (2019) 298. 845 Der Austritt Italiens aus dem Völkerbund erfolgte am 11. 1 2. 1937, somit wenige Tage nach Kelsens Vortrag; vgl. NFP Nr. 26314 v. 12. 1 2. 1937, 1. Vgl. zur mangelnden Universalität des Völkerbundes auch Köck/Fischer, Internationale Organisationen (1997) 105. 846 Kelsen, Zur Reform des Völkerbundes (1938) 5. 842
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5. Kapitel: Zwischen Krieg und Frieden
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Abb. 42: Hans Kelsen in Paris, um 1935.
geradezu Kassandrarufe, nur vier Monate vor dem »Anschluß« Österreichs und zehn Monate vor dem Münchner Abkommen! Kelsen erwähnte in seinem Vortrag auch den wenige Tage zuvor, am 6. November 1937, erfolgten Beitritt Italiens zum deutsch-japanischen »Antikominternpakt«.847 Er bezeichnete ihn als »die Keimzelle einer internationalen Konstellation, deren Tragweite noch nicht vorauszusehen« sei.848 Zuletzt wiederholte Kelsen jene Kritikpunkte am Völkerbund, die er schon 1936 gegenüber dem »Geneva Press Service« geäußert hatte. Und bei allem Pessimismus ließ er doch auch jetzt durchblicken, dass er an eine Reformierbarkeit des Völkerbundes, ja an dessen »Wiedergeburt« glaube. Kelsen stand damit nicht alleine. Auf Initiative des britischen Großindustriellen und liberalen Politikers Lord David Davies hatten sich schon seit geraumer Zeit führende Politiker und Intellektuelle zu einer weltweit agierenden Vereinigung zusammengeschlossen, die den klangvollen Namen »The New Commonwealth Society« trug und die Errichtung einer neuen internationalen Vereinigung propagierte, die effektiver als der alte Völkerbund sein sollte. Vor allem mit seiner Forderung nach einer internationalen Gerichtsbarkeit und einer internationalen Polizei849 bestand Einklang zwischen Lord Davies und Hans Kelsen. Die Society gliederte sich in eine internationale und mehrere nationale Sektionen, wobei die 1934 gegründete britische 847 NFP
Nr. 26279 v. 7. 11. 1937, 1. Zur Reform des Völkerbundes (1938) 19. 849 Ploẞ, Die »New Commonwealth Society« (2017) 50 ff. 848 Kelsen,
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Sektion die bedeutendste war, was sich nicht zuletzt daran zeigte, dass sie 1936–1951 von Churchill geleitet wurde, also zum Teil in derselben Zeit, als dieser (1940–1945 und erneut 1951–1955) Premierminister des Vereinigten Königreiches war.850 Auch in Frankreich und sogar in Deutschland entstanden Sektionen; die österreichische Sektion wurde 1937 von Alfred Verdroß ins Leben gerufen.851 Wichtigste Persönlichkeit in der New Commonwealth Society blieb Lord Davies, der ihr nicht nur ihr Programm vorgab, sondern auch sein nicht unbeträchtliches Vermögen einsetzte, um ihre Ziele zu unterstützen. Als auch die Rockefeller Foundation zur Unterstützung der Society gewonnen werden konnte, gelang 1935 die Gründung eines eigenen Forschungsinstituts. Dieses gab u. a. eine Zeitschrift (sie trug denselben Namen wie ihre Trägerinstitution: »The New Commonwealth«) sowie eine Schriftenreihe heraus. Direktor dieses Instituts war Ernst Jäckh; er unterstand einem Präsidium, dem u. a. William Rappard angehörte.852 Auch sonst bestanden enge personelle Verflechtungen zwischen der New Commonwealth Society und dem Genfer IUHEI. Zwar geben keine Quellen Auskunft über einen formellen Beitritt Kelsens zur »New Commonwealth Society«, doch waren seine Verbindungen zu ihr so eng, dass von einer Mitgliedschaft Kelsens auszugehen ist. Die Zeitschrift »The New Commonwealth« war das ideale Medium für Kelsen, um seine Pläne für eine neue internationale Organisation auszubreiten.853 Für das Mai‑ und das Juni-Heft 1934 dieses Blattes fasste Kelsen in einem kurzen, zweiteiligen Aufsatz den status quo der internationalen Ordnung zusammen und wiederholte seine Forderung nach einem internationalen Gerichtshof, der nicht nur Rechtsverletzungen feststellen, sondern auch Sanktionen gegen den Rechtsbrecher anordnen könne. »Es wäre absurd, einem Menschen, der auf die Sicherung seiner Rechte bedacht ist, nur vorzuschlagen, dass er auf die Selbsthilfe verzichten solle, solange er nicht auf eine wirksame Hilfe der Rechtsgemeinschaft zählen kann.«854 Etwa zur selben Zeit verfasste Kelsen auch eine kleine Broschüre, »The Legal Process and International Order«, die in einer Schriftenreihe des Jäckh’schen Forschungsinstituts erschien und weitgehend die gleichen Forderungen wie der Zeitschriftenaufsatz erhob.855 Im August 1937 nahm Kelsen an einer Konferenz der New Commonwealth
850 Ploẞ,
Die »New Commonwealth Society« (2017) 11, 116. Busch, Verdross (2012) 153. 852 Ploẞ, Die »New Commonwealth Society« (2017) 123, 132 f. 853 Beachte etwa das Editorial »Our Purpose« für das Mai-Heft von »The New Commonwealth« No. 8 Vol. 2, 101, das ganz offensichtlich von einer Person mit ähnlichen Vorstellungen wie jenen Kelsens verfasst worden war: »One of our purposes is to tackle the ›Bogey’s.‹ For instance, there is our old friend Souvereignity. She inevitably makes her appearance like a ›Jack-in-the-box.‹ No-one can tell you who she really is, what she does, or what useful purpose she serves. She is described as being self-sufficient, self-supporting, self-reliant and extremely self-conscious. She is independent, usually aggressive, often irritable and pugnacious. […] In short, she is ego with a big ›E‹«. 854 Kelsen, The Legal Process (Zeitungsartikel, 1934) 122. 855 Kelsen, The Legal Process (Broschüre, 1934). 851
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5. Kapitel: Zwischen Krieg und Frieden
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Society in Pontigny in der Bourgogne teil, wo er erneut für eine Revision des Völkerbundpaktes plädierte.856 Ein halbes Jahr später, im Februar 1938 – Kelsen hatte sein letztes Vorlesungssemester in Prag absolviert und befand sich seit wenigen Tagen wieder in Genf – rief Rappard alle Mitglieder des IUHEI auf, Vorschläge für größere Forschungsprojekte des IUHEI zu erstatten, um diese der Rockefeller Foundation zur Finanzierung vorlegen zu können.857 Kelsen kam dieser Aufforderung nach, indem er am 19. Februar 1938 ein Projekt zum Thema »Les différentes possibilités d’une organisation juridique de la communauté internationale [Die verschiedenen Möglichkeiten einer juristischen Organisation der internationalen Gemeinschaft]« einreichte. In dieses Projekt sollten sich sowohl die Juristen als auch die Ökonomen und Historiker des Instituts einbringen können.858 Kelsens Vorschlag wurde zunächst nicht aufgegriffen. 1939, nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, kam es aber in Paris und Genf zu mehreren Gesprächen zwischen Lord Davies einerseits, Rappard, Kelsen und Scelle andererseits, bei denen sich alle Beteiligten dafür aussprachen, dass nach Beendigung dieses neuen Krieges die Fehler von Versailles vermieden werden müssten: Ein Diktatfrieden, der erst wieder Deutschland »niederhalte«, würde neue Krisen heraufbeschwören, womöglich Deutschland in die Arme der Sowjetunion treiben! Vielmehr solle die Schaffung einer Europäischen Föderation zu einem der Kriegsziele erklärt werden; eine solche würde später auch die Lösung der österreichischen, tschechoslowakischen und polnischen Frage erleichtern.859 Dies korrespondiert mit einer allgemeinen Entwicklung im New Commonwealth, in dem Zweifel laut geworden waren, ob es überhaupt machbar sei, eine weltumspannende Friedensordnung etablieren zu können; die Bemühungen konzentrierten sich immer stärker auf die Schaffung eines Vereinten Europa.860 In diesem Sinne schickte das IUHEI im November 1939 einen neuen »call« an seine Mitglieder, in dem Vorschläge für »Fragen betreffend den künftigen Frieden Europas« erbeten wurden. Kelsen antwortete gemeinsam mit dem Völkerrechtler Paul Guggenheim, in dem sie ein breit angelegtes Forschungsprogramm für eine neue Staatengemeinschaft861 (»community«) vorlegten. Die Überlegungen sollten auf einer umfassenden Kritik der Völkerbundsatzung basieren und offenbar in der 856 Freundlicher
Hinweis von MdB Dr. Christoph Ploß. Die erste Finanzierungsperiode des IUHEI durch die RF lief 1939 aus, und die RF hatte angekündigt, das ordentliche Budget des Instituts für die Folgeperiode deutlich kürzen, jedoch besondere Forschungsprojekte zusätzlich unterstützen zu wollen. Vgl. Busch/Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2015) 13. 858 Busch/von Schmädel/Staudigl-Ciechowicz, Peace through law (2011) 166; Busch/ Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2015) 13. 859 Ploẞ, Die »New Commonwealth Society« (2017) 213. 860 Busch/Ehs, Europa als Rechtsgemeinschaft (2008). 861 Kelsen und Guggenheim wollten aber auch zur Diskussion stellen, ob diese Gemeinschaft nur Staaten offenstehen sollte, oder ob auch andere Organisationen, etwa Minderheitenvertreter, Mitglieder werden können sollten. 857
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Satzung für eine neue Staatengemeinschaft münden. Kelsen wollte sich dabei auf die Frage konzentrieren, ob die Gemeinschaft eine »juristische« oder eine »politische« sein sollte, während Guggenheim sich u. a. mit dem Problem beschäftigen wollte, ob die Gemeinschaft »global« oder lediglich als eine »European federation« konzipiert sein sollte.862 Im Dezember reichte Kelsen ein weiteres Papier ein, in dem er erneut bekräftigte, zu einer »pacific international community« forschen und zu diesem Zweck die Völkerrechtssatzung analysieren zu wollen.863 Ein halbes Jahr später emigrierte Kelsen in die USA, wo er seine kritischen Untersuchungen zum Völkerbund und seine Arbeiten an einer neuen »Liga« fortsetzte. In Europa waren Gleichgesinnte im Rahmen der New Commonwealth Society weiter tätig, doch verlor die Gesellschaft 1944 mit dem Tod von Lord Davies nicht nur ihren spiritus rector, sondern auch ihren bedeutendsten Geldgeber. Das New Commonwealth Institute wurde wegen mangelnder Finanzierbarkeit ausgegliedert, schaffte aber unter dem Namen »London Institute for World Affairs« und neuer Finanzbasis den Sprung in die Selbständigkeit.864 Kelsen blieb dem Institut eng verbunden, und fünf Jahre nach Gründung der UNO, 1950, veröffentlichte er unter den »Auspizien« des London Institute eine über 900 Seiten starke Analyse zur Charta der Vereinten Nationen.865
2. Kelsen und die Einheitswissenschaft a) Die »Unity of Science«-Bewegung Wie an anderer Stelle bereits betont, hatte Kelsen in seiner Wiener Zeit dem Philosophenzirkel des »Wiener Kreises« nicht angehört.866 Was Kelsens »Wiener Schule der Rechtstheorie« mit dem »Wiener Kreis« verband, das war vor allem ihre antimetaphysische und ideologiekritische Tendenz, doch lehnte Kelsen die Moralphilosophie dieses Kreises stets ab, und umgekehrt war das Interesse der Philosophen an der Rechtswissenschaft gering bzw. wurde die Möglichkeit einer eigenen Sphäre des »Sollens« neben dem »Sein« geleugnet. Vielmehr gehörte es geradezu zu den Grundüberzeugungen des Wiener Kreises, dass Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis nur das sinnlich Erfahrbare, das Seiende sein könne. Aus dieser Überzeugung 862 Outline of a research proposal by Hans Kelsen and Paul Guggenheim, answering the Institute’s call for proposals on ›Questions concernant la future paix européenne‹ (November 1939), als Appendix I abgedruckt bei Busch/von Schmädel/Staudigl-Ciechowicz, Peace through law (2011) 175–176. 863 Outline of a research proposal by Hans Kelsen (Dezember 1939), als Appendix II abgedruckt bei Busch/von Schmädel/Staudigl-Ciechowicz, Peace through law (2011) 176–177. 864 Ploẞ, Die »New Commonwealth Society« (2017) 218–221. 865 Kelsen, The Law of the United Nations (1950). 866 Dies erklärt er selbst in einem Brief an Henk L. Mulder v. 5. 5. 1963, aufgrund einer entsprechenden Anfrage. Die entscheidende Passage dieses Briefes ist abgedruckt bei Jabloner, Kelsen und die Einheitswissenschaft (2001) 19 f.
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erwuchs allmählich unter den Mitgliedern des Wiener Kreises die Überlegung, dass alle Wissenschaft eine Einheit bilde, dass Biologie, Chemie, Physik etc. jeweils nur unterschiedliche Zweige einer Einheitswissenschaft seien.867 Insbesondere die bahnbrechende Entwicklung der Physik durch Relativitätstheorie und Quantentheorie hatte diese zu einer Art »Leitwissenschaft« werden lassen, weshalb insbesondere Otto Neurath, einer der wichtigsten Vertreter des Wiener Kreises, sich um die Schaffung einer wissenschaftlichen Einheitssprache auf Basis der Sprache der Physik bemühte (sog. Physikalismus). Ein weiterer Vertreter des Wiener Kreises, Rudolf Carnap, versammelte Wissenschaftler der verschiedensten Fachrichtungen um sich, um sie zu interdisziplinärem Austausch und langfristig zur Etablierung einer »Einheitswissenschaft« zu bewegen. Nach vorbereitenden Treffen in Königsberg [Kaliningrad/RU] und Prag fand im September 1935 in Paris der »Erste Kongreß für Einheit der Wissenschaft« statt, an dem offenbar auch Kelsen teilnahm, der zu jener Zeit in Briefwechsel mit Carnap stand.868 Kelsen hielt zwar keinen Vortrag, wurde aber in ein Komitee gewählt, das aus seiner Mitte ein kleineres Subkomitee mit Carnap an der Spitze wählte und das weitere derartige Kongresse organisieren sollte.869 In diesem Sinne fanden in Kopenhagen 1936 ein Kongress zum Problem der Kausalität, in Paris 1937 eine »Enzyklopädiekonferenz«, ein vierter Kongress im englischen Cambridge 1938, ein fünfter Kongress vom 3. bis 9. September 1939 im amerikanischen Cambridge, an der Harvard University, statt. Unmittelbar vor Kongresseröffnung, am 1. September 1939, brach der Zweite Weltkrieg aus, was längerfristig das Ende der »Unity of Science-Bewegung« bedeutete. Ein für 1940 in Oslo geplantes Treffen musste wegen der deutschen Eroberung Norwegens abgesagt werden, der sechste, 1941 in Chicago abgehaltene Kongress wurde nur noch in reduzierter Form durchgeführt, danach kamen keine derartigen Treffen mehr zustande.870 b) »Vergeltung und Kausalität« Im Juni 1939 veröffentlichte Kelsen im »Journal of Unified Science« einen Aufsatz über »Die Entstehung des Kausalgesetzes aus dem Vergeltungsprinzip«.871 Es handelte sich um dasselbe Thema, das er wenig später, im September, beim 5th International Congress for the Unity of Science in Harvard unter dem Titel »The Principle of Retribution and the Law of Causality« vortrug.872 867 Haller,
Neopositivismus (1993) 12. Jabloner, Kelsen und die Einheitswissenschaft (2001) 20. 869 Stadler, Der Wiener Kreis (2015) 179. 870 Stadler, Der Wiener Kreis (2015) 183–198. 871 Kelsen, Entstehung (1939). 872 Zu diesem Vortrag existiert ein siebenseitiger Text, der möglicherweise mit dem Redetext identisch ist: Kelsen, Causality and Retribution (1939). Er wurde für den 9. Band des Journal of Unified Science zum Druck angenommen, doch erschien dieser Band niemals, vielmehr ist der Aufsatz nur als Sonderdruck (u. a. im HKI) existent. Vgl. Walter /Jabloner /Zeleny, Hans Kelsens stete Aktualität (2003) 175. 868 Dazu
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Aufsatz und Vortrag gaben einen ersten Einblick in die Themen jener großen Monographie, zu der Kelsen im Frühjahr 1940 das Vorwort unterzeichnete: »Vergeltung und Kausalität. Eine soziologische Untersuchung«. Sie sollte als zweiter Band der neuen Reihe »Library of Unified Science« bei W. P. van Stockum & Zoon in Den Haag sowie in The University of Chicago Press erscheinen. (Den ersten Band bildete ein 467 Seiten starkes, »Kleines [!] Lehrbuch des Positivismus«, das der Mathematiker Richard v. Mises, Ludwigs jüngerer Bruder, 1939 veröffentlicht hatte.) Kelsen ging im Mai 1940 ins US-amerikanische Exil; die Drucklegung erfolgte also erst während oder nach seiner Emigration. Er berichtet von »schwierigen äusseren Umstände[n], unter denen die letzten Fahnenkorrekturen durchgeführt werden mussten.«873 Die Formulierung macht es wahrscheinlich, dass er zumindest einen Teil der Fahnen während der Flucht, womöglich auf der Schiffspassage, die ihn wieder nach Amerika brachte, bearbeitete. Die Monographie wurde in den Niederlanden gedruckt, die zu dieser Zeit aber schon Opfer der Hitler’schen Aggression geworden waren, weshalb das Buch vorerst nicht veröffentlicht werden konnte. Es muss angenommen werden,874 dass die gesamte Auflage in irgendeinem holländischen Kellergewölbe das »Tausendjährige Reich« überstand. Erst 1946 gelangte es in den Buchhandel (wobei Kelsen, der zu diesem Zeitpunkt schon in Berkeley lebte, Gelegenheit erhielt, vermittels eines Beiblattes auf die Gründe für die Verzögerung sowie auf einige, unbedeutende Errata hinzuweisen).875 In der Sache ging es v. a. um jenes Problem, mit dem Kelsen schon 1911 seine Habilitationsschrift und seinen Habilitationsvortrag begonnen hatte: Um die Gegenüberstellung von Naturgesetz und Rechtsgesetz. Schon damals hatte Kelsen erklärt, dass der Staat mit seinen Gesetzen »der ältesten menschlichen Erkenntnis das Analogon für die Ordnung der Natur« war, deren Lauf man ebenso als nach Gesetzen vorgezeichnet ansah.876 Nun breitete Kelsen diese Idee in aller Ausführlichkeit aus und drang damit – dem Grundgedanken der »Unity of Science« entsprechend – tief in »Ethnologie, Religionsgeschichte, Altertumskunde und Physik« ein.877 Kelsen bat im Vorwort zu seiner Monographie »Vergeltung und Kausalität« um Entschuldigung, dass er auf all diesen Gebieten kein Fachmann sei – aber es darf füglich bezweifelt werden, dass es überhaupt einen Wissenschaftler gab, der all diese Gebiete beherrschte. Kelsen war hier ein Dilettant im positiven Sinne des Wortes, ein Wissenschaftler, der, 873 Beiblatt
zu Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941). diesbezügliche Anfrage beim Verlag W. P. van Stockum blieb leider erfolglos. 875 Vgl. Kelsen, Autobiographie (1947) 39 = HKW I, 83, wo er irrtümlich das Jahr 1939 als Datum der Drucklegung angibt. Auf dem Beiblatt wird als Druckdatum 1940 genannt, doch datiert das Copyright auf Seite IV des Buches bereits von 1941. – Kelsen erwähnt in seiner Autobiographie auch ein »etwa 2000 Maschinenschreibseiten« umfassendes Manuskript, zu dem sein Buch »Vergeltung und Kausalitaet« nur »Nebenprodukt« sein sollte. Er bezieht sich dabei offenbar auf Typoskripte, welche sich im Nachlass Kelsens befinden (HKI, Nachlass Kelsen 3IVf.15 u. a.) und bis heute noch nie veröffentlicht wurden, vgl. Jestaedt in HKW I, 83. 876 Kelsen, Hauptprobleme (1911) 4 = HKW 2, 81. 877 Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941) XI. 874 Eine
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um eine keineswegs zentrale These seiner 30 Jahre alten Habilitationsschrift zu beweisen, einen riesigen Umweg machte. Wohl kam ihm hier seine Beschäftigung mit den Alten Griechen zupass, die einen bedeutenden Teil auch dieses Buches ausmachte. Seine ethnographischen Untersuchungen mögen eventuell vom Ethnographischen Museum in Genf inspiriert worden sein. Vor allem aber gelang es Kelsen, auch die neuesten Entwicklungen in der Physik in seine Untersuchung zu integrieren, womit er einen ungeheuer weiten Bogen spannte. Kern von Kelsens Thesen war eine Evolutionstheorie, wonach sich die Menschheit vom Prinzip, die Natur normativ zu deuten, zum Prinzip der kausalen Deutung weiterentwickelt habe.878 Dabei stand er vor dem Problem, dass er für das Denken archaischer Gesellschaften, wie sie vor mehreren tausend Jahren in Europa bestanden, keinerlei Quellen präsentieren konnte, dies auch gar nicht versuchte. Vielmehr ging er – ohne dies explizit auszusprechen – so vor, dass er eine Reihe von Völkern der Gegenwart untersuchte, von denen die Völkerkunde jener Zeit annahm, dass sie noch keine Kultur besäßen, sondern sich seit der Urgeschichte kaum verändert hätten und damit Rückschlüsse auf die Urgeschichte der »Kulturvölker« zuließen.879 Diese angeblich kulturlosen Völker wurden zu jener Zeit in der Regel als »Naturvölker« bezeichnet. Doch gerade diesen Begriff wollte Kelsen vermeiden: Denn es sei gerade der Begriff der »Natur«, der den »Primitiven« völlig fehle, weil sie ihre Umgebung nicht kausal deuteten, sondern ihr Denken auch bei »nichtmenschlichen Lebewesen und leblosen Dingen durch die Vorstellung bestimmt [sei], dass in ihnen Menschen, die Totenseelen von Ahnen und dergleichen verkörpert sind«.880 Da diese Vorstellung, nach der Vermutung Kelsens, am Anfang der Menschheitsgeschichte stand,881 verwendete er für jene Völker die Bezeichnung »Primitive«,882 womit noch deutlicher
878 Vgl. dazu Topitsch, Einleitung (1982) XXIII; Dreier, Der Preis der Moderne (2017) 5. Zur Frage, inwieweit Kelsen einem darwinistischen Konzept folgte, ausführlich Oeser, Kelsens Ideologiekritik (2001) 276. 879 In seinen 1939 erschienenen Aufsätzen wird dieses Thema nur mit wenigen kurzen Sätzen abgehandelt: Kelsen, Causality and Retribution (1939) 235; Kelsen, Entstehung (1939) 71. 880 Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941) 14, 49. Vgl. Jabloner, Bemerkungen (1982) 53 f. 881 Vgl. insbesondere Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941) 349, wo er die Theorie eines Prä-Animismus in der Menschheitsgeschichte zurückwies, und dazu auch Kelsen, Autobiographie (1947) 39 = HKW I, 83; Jabloner, Bemerkungen (1982) 55. 882 Kelsen definierte diesen Begriff nicht, sondern verwendete ihn, eigenen Angaben zufolge, mit der bei »modernen Ethnologen üblichen Bedeutung«: Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941) 285. Der heutigen Leserin/dem heutigen Leser fällt natürlich sofort die pejorative, ja rassistische Konnotation des Begriffes auf, was auch noch durch die wiederholt verwendeten, heute als beleidigend empfundenen Begriffe wie »Neger« oder »Hottentotten« verstärkt wird. Doch ist zu konstatieren, dass Kelsen in der Terminologie seiner Zeit blieb – und auch in den Denkweisen der 1940er Jahre, die weltweit von (aus heutiger Sicht) rassistischen Vorstellungen geprägt waren. Kelsen selbst lag es fern, die von ihm als »Primitive« bezeichneten Völker als dumm zu bezeichnen oder sich über sie lustig zu machen; vgl. z. B. Kelsen, a. a. O. 433 f., wo er mit höchstem Respekt vom westafrikanischen Volk der Ewe spricht, deren Mythologie auffällige Ähnlichkeiten mit der Ideenlehre Platons besitze.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
wurde, dass diese am Anfang einer Entwicklung stünden, die die Völker Europas bereits vollzogen hätten. Zum Beleg dieser Thesen berichtete Kelsen u. a. von der Vorstellung »verschiedenste[r] Völker«, »dass, wenn der Häuptling sich richtig verhält, der Regen in der entsprechenden Jahreszeit fällt. Bleibt er aus, so wird das als Strafe für das unrichtige Verhalten des Häuptlings angesehen und dieser mitunter dafür verantwortlich gemacht.«883 Von den Kpelle (Westafrika) berichtete Kelsen, dass diese versuchten, mit einzelnen Heuschrecken zu reden, um einen Heuschreckenschwarm zu entfernen. Die »Guaimi« (Guaymí, Mittelamerika) ergriffen bei einem Erdbeben ihre Waffen und zielten damit gegen den Himmel, um ihre Mutter Erde vor dem zürnenden Himmel zu beschützen. Die »Kaffer« (Xhosa, südliches Afrika) behandelten einen Sturm »wie ein gesellschaftliches Ereignis«. Wurde bei den Waniaturu (Ostafrika) ein Mensch durch Blitzschlag getötet, so musste er ein Zauberer gewesen sein. Die bei vielen »primitiven« Völkern bekannte sog. Giftprobe, bei der eine der Hexerei verdächtige Person vergiftet werde, beruhe auf der Vorstellung, dass das Gift selbst wüsste, ob die Person böse sei oder nicht und nur im ersten Fall der Person Schaden zufüge. Besonders interessant erscheinen jene Riten, mit denen sich die »Primitiven« vor der Rache verstorbener Seelen schützen wollen: Wenn bei den »Toradja« (Toraja, Indonesien) ein Mensch getötet werde, so spreche der Täter auf das (tote!) Opfer ein, es solle sich nicht rächen, es müsse doch irgendein Unrecht begangen haben, sonst hätte er es nicht töten können. Zahlreich seien die Gebräuche, mit denen sich Jäger vor der Rache eines getöteten Tieres schützen wollen. Aber auch umgekehrt werde Rache an Tieren, ja an Pflanzen genommen: Fällt bei den »Kuki« (Chin, Südostasien) ein Mann vom Baum und stirbt, so hauen seine Verwandten den Baum in Stücke.884 Das überaus reiche Material zu diesem Abschnitt gewann Kelsen natürlich nicht durch eigene anthropologische Untersuchungen, sondern trug es aus den einschlägigen Werken seiner Zeit zusammen, gab aber dem Stoff eine neue Deutung. Während Ethnologen wie Edward B. Tylor oder Lucien Lévy-Bruhl, die er reichlich zitierte, »den primitiven Seelenglauben im wesentlichen nur als Aberglauben« betrachteten, hob Kelsen die eminent soziale Funktion dieses Glaubens hervor.885 Aus heutiger Sicht ist Kelsens Methode nicht nur deswegen fragwürdig, weil die moderne Ethnologie nicht mehr davon ausgeht, dass auch nur irgend ein Volk auf einer »primitiven« Entwicklungsstufe »stehengeblieben« sei und so Aufschlüsse über unsere eigene Vergangenheit geben könne. Vielmehr beging er denselben methodischen Fehler wie die Rechtsgermanistik des 19. Jahrhunderts, die Quellen aus verschiedenen Zeitaltern und verschiedenen Orten zusammentrug, um ein stimmiges Gesamtbild zu schaffen. Jabloner vergleicht diese »Stimmigkeit« mit der musikalischen »Form eines Rondos«: Kelsen hatte seine These schon vorab formuliert und suchte sich aus 883 Kelsen,
Vergeltung und Kausalität (1941) 108. Vergeltung und Kausalität (1941) 31, 35 f., 38, 73, 92, 97, 110. 885 Kelsen, Autobiographie (1947) 38 f. = HKW I, 82 f. 884 Kelsen,
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dem vorhandenen Material jene Ergebnisse, die seine These stützen können, anderes Material wird von ihm negiert oder ignoriert.886 Kelsens Buch ist daher von Ethnologen scharf kritisiert worden. Die von ihm vorgebrachten Thesen selbst konnten von diesen Kritikern nicht widerlegt werden.887 Die ethnologischen Untersuchungen bildeten aber nur den ersten Abschnitt von Kelsens Untersuchungen. Im zweiten Abschnitt widmete er sich der griechischen Philosophie und Religion. Auch diese gingen, so Kelsen, ursprünglich vom Vergeltungsgedanken aus;888 aber die Seele sei ab einer gewissen Entwicklungsstufe nicht mehr Subjekt, sondern lediglich Objekt der Vergeltung. Nicht die Seelen der Toten nehmen Rache an den lebenden Menschen,889 sondern die Menschen werden für ihr gesetzwidriges oder unmoralisches Handeln von den Göttern bestraft. So war z. B. die Zerstörung Trojas nicht etwa Folge von militärischer Unterlegenheit oder mangelnder Kriegskunst, sondern Vergeltung für die Verletzung des Gastrechtes durch Paris, als er Helena raubte – und auch Vergeltung dafür, dass die Trojaner, selbst nachdem Helenas Ehemann Menelaos Paris im Zweikampf besiegt hatte, Helena nicht herausgaben.890 Reiches Material zum Beleg seiner Thesen fand Kelsen auch in der Odyssee, in den Tragödien von Sophokles, Aischylos und Euripides sowie in anderen antiken Schriften. Regelmäßig finde die Strafe dabei, so Kelsen, im Diesseits, nicht im Jenseits statt, und wenn der Frevelnde gestorben sei, so werden Kinder für ihre Eltern bestraft (so etwa Agamemnon für die Tat seines Vaters Atreus), denn der Gedanke, dass auch die unsterbliche Seele nach dem Tode bestraft werden könne, sei in diesen ältesten Kulturzeugnissen noch unbekannt.891 Erst die religiösen Strömungen der Orphiker und Pythagoreer (ca. 6. Jh. v. Chr.) entwickelten die Lehre von der unsterblichen Seele, die immer wieder geboren werde und im neuen Leben Buße tue für die Schuld, die sie im alten Leben auf sich geladen hatte. Damit erklärten Orphiker und Pythagoreer sowohl das Phänomen des schuldlosen Leides wie auch des ungestraften Bösen. »Wie gewaltig muss der Wunsch nach Vergeltung sein, wenn er die Phantasie so weit über die Grenze aller durch den Verstand kontrollierbaren Erfahrung zu treiben vermag!«, staunte Kelsen.892 Platon, jener griechischer Philosoph, der Kelsen schon seit Jahren am meisten beschäftigte, war seiner Ansicht nach von den Orphikern und Pythagoreern beeinflusst, 886 Jabloner,
Bemerkungen (1982) 58. Rezeption (1988) 184 f.; Dreier, Rechtsdeutung (2001) 294. 888 Vgl. zum Seelenglauben der vor-homerischen Zeit schon Kelsen, L’âme et le droit (1936) 343. 889 Vgl. insbesondere das Beispiel des Elpenor, des Gefährten des Odysseus, der nicht begraben wurde, und dessen Seele keine Rache nimmt, sondern Odysseus bittet, ihn zu beerdigen: Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941) 223; Kalogerakos, Vergeltung (2014) 159. 890 Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941) 183. 891 Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941) 197, 210. Die Beispiele von Tantalos und Sisyphos in der Odyssee, die im Jenseits bestraft werden, hält Kelsen nicht für homerischen Ursprungs, sondern für Zusätze aus späterer Zeit. In der Sekundärliteratur ist diese Frage bis heute umstritten – freundlicher Hinweis von Prof. Dr. Ekkehard Weber, Wien. 892 Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941) 226. Vgl. dazu auch Topitsch, Einleitung (1982) XXVI; Oeser, Kelsens Ideologiekritik (2001) 284. 887 Paulson,
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als er seine Seelen‑ und Ideenlehre entwickelte.893 Diese stand in einem deutlichen Kontrast zu der zu seiner Zeit schon vorherrschenden Naturphilosophie, die die Vorgänge der Natur kausal, ohne Zuhilfenahme des Wirkens beseelter Wesen, erklären wollte. Im Mittelpunkt von Platons Weltanschauung stand nicht die Natur, sondern die Gesellschaft und mit ihr das Problem der Gerechtigkeit. Platon musste geradezu zur Vorstellung der Unsterblichkeit der Seele kommen, weil nur »diese die notwendige Voraussetzung für die Annahme eines ausnahmslosen Rechtsgesetzes der Vergeltung ist, das als das Grundgesetz der Welt gilt.«894 Die griechische Naturphilosophie war nach Kelsen noch lange von einem animistischen, normativen Denken beherrscht. So habe etwa einer ihrer Begründer, Thales von Milet, noch angenommen, dass ein Magnet eine Seele besitze, weil er das Eisen bewege.895 Herakleitos erkannte bereits die »Notwendigkeit des Geschehens« und damit ein wesentliches Element des Kausalgesetzes, doch glaubte auch er noch, dass diese Notwendigkeit vom Willen einer Gottheit garantiert werde.896 Erst die sog. Atomisten, Leukippos und Demokritos, entwickelten den modernen Begriff der Kausalität, indem sie ihn fast vollständig vom Prinzip der Vergeltung trennen, ja indem sie überhaupt alle teleologischen »Gesichtspunkte aus der Naturbetrachtung« entfernen.897 Bezeichnend sei es dabei, dass die Atomisten für die Urbewegung des Stoffes keine Ursache angaben, »sie gehen von der Annahme der in Bewegung befindlichen Atome als von einer Grundhypothese aus« – Kelsen unterlässt hier eine Parallele zur Grundnorm des Rechts –, und Demokrit nahm sogar an, dass das All niemals geschaffen worden sei, sondern immer schon existiert habe und unendlich sei.898 Nun übersprang Kelsen zwei Jahrtausende, er erwähnte nur kurz, dass in der »theologische[n] Weltanschauung des Mittelalters« das von den Alten Griechen entwickelte Kausalitätsprinzip fast wieder verloren gegangen sei, bis es von Francis Bacon (1561–1626), Galileo Galilei (1564–1642) und Johannes Kepler (1571–1630) wiederaufgenommen wurde. Erst allmählich streifte es auch die letzten Bezüge zum Vergeltungsprinzip ab: so etwa, dass Wirkung und Ursache einander »gleich« sein müssen (analog zum Talionsprinzip im Strafrecht), dass genau eine Ursache genau eine
893 Kalogerakos,
Vergeltung (2014) 160. Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941) 235. Er unterschied sich damit auch ganz wesentlich von Aristoteles, der die Gerechtigkeit nur im Diesseits verwirklicht wissen wollte und der Seele »der Hauptsache nach eine psychologisch-biologische Potenz« zumaß, die mit dem Tod des Körpers ende: Kelsen, a. a. O. 472. 895 Kelsen, Entstehung (1939) 74; Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941) 238. 896 Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941) 242 f. Vgl. auch Kelsen, Causality and Retribution (1939) 235; Kalogerakos, Vergeltung (2014) 162. 897 Kelsen, Entstehung (1939) 94; Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941) 251. Vgl. auch Kelsen, Causality and Retribution (1939) 236; Jabloner /Zeleny, Kelsen und die griechischen Philosophen (2006) 12; Kalogerakos, Vergeltung (2014) 163. 898 Kelsen, Entstehung (1939) 95; Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941) 252. 894
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Wirkung haben müsse (so wie Tatbestand und Rechtsfolge) oder dass die Ursache der Wirkung zeitlich vorangehen müsse (erst das Delikt, dann die Strafe).899 Die moderne Naturwissenschaft gehe demgegenüber bloß von einer gewissen Äquivalenz zwischen Ursache und Wirkung, von einer Vielheit von Ursachen für eine Vielheit von Wirkungen aus und kenne auch »Ursachen«, die zeitgleich mit ihrer »Wirkung« auftreten. Ja, im Bereich der Quantenphysik gebe es sogar »Wirkungen«, die erst in der Zukunft »verursacht« zu sein scheinen, wodurch der Glauben an das Kausalitätsprinzip in jüngster Zeit schwer erschüttert worden sei.900 In Wahrheit aber sei es schon David Hume (1711–1776) gewesen, der das Kausalitätsprinzip als solches ernstlich in Frage gestellt hatte. Denn bereits in seiner (erstmals 1748 erschienenen) »Enquiry concerning the Human Understanding« habe er dargelegt, dass durch Empirie immer nur eine gewisse Regelmäßigkeit bei der Aufeinanderfolge von Ereignissen erkannt werden könne, nicht aber eine »necessary connexion« zwischen zwei Tatbeständen als Ursache und Wirkung. Diese, die Kausalität, finde nur in der Subjektivität des Beobachters statt.901 Im Bereich der Quantenmechanik könne nun diese gewisse Regelmäßigkeit nicht erkannt werden, zumal es unmöglich sei, alle konstituierenden Größen eines Quants exakt zu messen (»Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation«). Doch spiele dies im Bereich der herkömmlichen Physik kaum eine Rolle, weil »die erdrückende Mehrzahl der Erscheinungsabläufe« sich so und so verhält; an die Stelle einer »strengen Gewissheit« trete, wie insbesondere Reichenbach formulierte, die »Wahrscheinlichkeit«.902 Die moderne Wissenschaft hat also den Glauben an ein »absolute Notwendigkeit des Geschehens behauptendes Kausalgesetz« als Pendant zu der absolute Befolgung erheischenden Rechtsnorm überwunden.903 Erst jetzt sind die Begriffe der Natur und der Gesellschaft vollständig voneinander geschieden. Aber das »letzte Wort der Erkenntnis« ist damit noch nicht gesprochen. Denn die moderne Sozialwissenschaft – die Soziologie – entlarve den »Anspruch des Sollens: als ein vom Sein völlig verschiedener Sinn« zu gelten, als eine bloße »Ideologie« der Herrschenden, die »ihr
899 Kelsen,
Entstehung (1939) 101, 104, 107, 109; Kelsen, Causality and Retribution (1939) 237– 239; Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941) 259, 262, 264, 266. Vgl. dazu Dreier, Vom mythologischen Weltbild (2013) 136. 900 Kelsen, Entstehung (1939) 111; Kelsen, Causality and Retribution (1939) 239; Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941) 1, 259, 267. 901 Hume, zit. n. Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941) 263, 503. – Kant erklärte demgegenüber, dass die Kausalität eine »apriorische Kategorie« sei. Doch sah Kelsen, a. a. O. 260, 276, darin einen Rückschritt gegenüber Hume. Vgl. auch Kelsen, Entstehung (1939) 102, sowie Donhauser, Die neuzeitliche Aufwertung (2014) 171. 902 Kelsen, Entstehung (1939) 113; Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941) 268. Vgl. Donhauser, Die neuzeitliche Aufwertung (2014) 173. 903 Kelsen, Entstehung (1939) 115; Kelsen, Causality and Retribution (1939) 238; Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941) 277. Zu Recht bringt Dreier, Der Preis der Moderne (2017) 6 diese Arbeiten mit Kelsen, Secular Religion (2012), in Verbindung, zumal dieser in dem zuletzt genannten Werk vor einem Rückfall hinter die genannte Entwicklung warnt.
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Wollen als Sollen und dessen Ausdruck als Norm darstellen.«904 Gehe man von dieser Sichtweise ab, so stehe man vor gesellschaftlichen Interaktionen, deren Abläufe von der Soziologie zwar nicht mit absoluter Bestimmtheit, aber mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erkannt werden können. Aber hierin unterscheidet sie sich im Wesen nicht von der modernen Naturwissenschaft. So endet dieses aus dem ganzen Œuvre Kelsens hervorstechende Buch mit einer Kritik am Wesen der Rechtswissenschaft, wie sie radikaler nicht ausfallen kann – und auch niemals wieder so radikal von ihm formuliert werden wird.905 Stanley Paulson hat mit Blick auf diese Thesen auch einen Bruch in der Entwicklung der Reinen Rechtslehre gesehen: Während etwa die Zeit von 1923 (dem Erscheinen der zweiten Auflage der »Hauptprobleme«) bis 1939/40 als »stark neukantianisch« bezeichnet werden könne, folge nunmehr die Phase eines abgeschwächten Neukantianismus.906 Doch ist diese These nicht unwidersprochen geblieben; Nogueira Dias etwa hat darauf hingewiesen, dass Kelsen in seinem Buch »Vergeltung und Kausalität« eben ganz andere Zusammenhänge in den Blick nahm als in der »Reinen Rechtslehre«.907 Wie auch immer man also diese Äußerungen bewerten mag, festzuhalten bleibt, dass das bis heute – im Vergleich zu anderen Schriften Kelsens – relativ unbekannt gebliebene Buch »Vergeltung und Kausalität« kein bloßes Kuriosum im Schaffen Kelsens, sondern ein wesentlicher Markstein in der Entwicklung auch von Kelsens Rechtstheorie ist.
3. Die Emigration in die Vereinigten Staaten a) »Das Boot ist voll!« Die Schweizerische Eidgenossenschaft hatte 1815 ihre Immerwährende Neutralität verkündet, sie war der Geburtsort des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und beherbergte seit 1920 auch den Völkerbund. Aus all diesen Gründen war sie traditionell ein Asylland, das schon vielen politischen Flüchtlingen, von Lenin bis zu Kaiser Karl, Zuflucht gewährt hatte und auch nach Hitlers Machtergreifung in Deutschland zunächst bereit war, einzelne Verfolgte zu unterstützen. An der vordersten Front der Helfer stand dabei William Rappard, der sich bereits 1933 an der Gründung eines Komitees zur Unterbringung von geflüchteten Intellektuellen [Comité 904 Kelsen,
Vergeltung und Kausalität (1941) 282; ähnlich auch Kelsen, Entstehung (1939) 129. Bemerkungen (1982) 52; Dreier, Rechtsdeutung (2001) 296; Oeser, Kelsens Ideologiekritik (2001) 286. 906 Paulson, Toward a Periodization (1990) 40 f. 907 Nogueira Dias, Rechtspositivismus und Rechtstheorie (2005) 5 ff.; vgl. dazu auch Jestaedt, Von den »Hauptproblemen« zur Erstauflage der »Reinen Rechtslehre« (2009) 114 f. In späteren Arbeiten rückte auch Paulson von seiner ursprünglichen These etwas ab und sprach nun von einer einheitlichen Phase in der Entwicklung der Reinen Rechtslehre, die von 1923 bis 1960 reiche, aber in zwei Subperioden unterteilt werden könne: Paulson, Arriving (1999) 151 ff. 905 Jabloner,
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pour le placement des intellectuels réfugés] beteiligt hatte. Das Komitee, in dem auch Anna Kelsen nach ihrer Rückkehr aus Wien 1938 arbeitete, sammelte für diese Personen Geld, half ihnen bei der Wohnungs‑ und Arbeitssuche in der Schweiz und unterstützte sie auch in ihren Bemühungen, falls sie in andere Länder weiterreisen wollten.908 Über Anna Kelsen wurde das Komitee z. B. auf Robert Musil aufmerksam, der 1938 aus Österreich emigriert war und mehr schlecht als recht in Zürich sein Dasein fristete. Musil wurde für den 19. Jänner 1939 zu einer Dichterlesung in das Palais Wilson eingeladen, woran sich ein kleiner Empfang in Kelsens Wohnung in der Av. Gaspard Vallette anschloss. Das bei der Veranstaltung eingenommene Geld kam dem Exilanten zugute.909 Doch wurden im Machtbereich der Nationalsozialisten nicht nur einige wenige Politiker, Künstler und Intellektuelle verfolgt, sondern Hunderttausende von Menschen, und dies teils nur aus dem einen Grund, dass nicht alle ihre Großeltern seinerzeit die Taufe empfangen hatten910 – ein Umstand, der vielen dieser Verfolgten vor Inkrafttreten der Nürnberger Rassegesetze nicht einmal bekannt gewesen war! Der Flüchtlingsstrom, der seit 1933 immer größere Ausmaße annahm, stellte die Schweiz zunehmend vor Probleme, nicht nur aufgrund der direkten finanziellen Belastung, die diese um ihre nackte Existenz kämpfenden Menschen für den eidgenössischen Staatssäckel bedeuteten, sondern auch, weil die guten wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland nicht gefährdet werden durften.911 Und angesichts der zweiten Flüchtlingswelle, die der »Anschluß« Österreichs an NS-Deutschland 1938 auslöste, sah sich die Schweiz genötigt, drastische Einschränkungen vorzunehmen. Im Einvernehmen mit der schweizerischen Fremdenpolizei kennzeichnete Deutschland ab September 1938 die Pässe jüdischer Emigranten mit einem »J«, um Abweisungen durch die Schweizer Behörden an der Grenze zu erleichtern. Denn jüdische Abstammung allein – ohne politische Betätigung – war zwar in Deutschland Grund genug, verfolgt zu werden, aber in der Schweiz nicht Grund genug, Asyl zu erhalten.912 Schon kurz nach dem »Anschluß« hatte Franklin D. Roosevelt eine internationale Konferenz angeregt, um das weltweite Flüchtlingsproblem zu lösen. Wie prekär die Lage in der Schweiz mittlerweile schon geworden war, zeigte sich daran, dass sie sich dagegen sträubte, die Konferenz auf ihrem Gebiet stattfinden zu lassen, weshalb man ins französische Évian auswich. Immerhin 32 Regierungen waren dort vom 6.–15. Juli 1938 vertreten, doch es schien, dass sich die Teilnehmer hauptsächlich darin einig war, 908 Feichtinger, Wissenschaft zwischen den Kulturen (2001) 68; Friedländer /Kreis/Milton, Die Schweiz und die Flüchtlinge (2001) 87; Corino, Musil (2003) 1328. 909 Corino, Musil (2003) 1329. Vgl. zu den Verbindungen zwischen Kelsen und Musil auch die Hinweise bei Métall, Kelsen (1969) 56. 910 Nach der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz v. 14. 11. 1935 dRGBl I S. 1333, galt als »Jude« u. a., wer von mindestens drei Großeltern abstammte, die der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hatten, ohne Rücksicht auf das eigene Religionsbekenntnis. 911 Friedländer /Kreis/Milton, Die Schweiz und die Flüchtlinge (2001) 24, 49 ff. Vgl. auch Mayer, Erinnerungen I (1982) 280. 912 Friedländer /Kreis/Milton, Die Schweiz und die Flüchtlinge (2001) 100 ff.
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dass ihr jeweils eigenes Land nicht noch mehr Flüchtlinge aufnehmen könne. Immer mehr verstanden sich die Schweiz oder auch Großbritannien nicht als Endstation, sondern als bloße Zwischenstation für die Flüchtlinge.913 »Die Emigranten wurden als Belastung der offiziellen schweizerisch-deutschen Beziehungen empfunden«, erinnerte sich Hans Mayer später und berichtet davon, wie Robert Musil immer wieder aufgefordert wurde, »nun endlich an die Weiterreise zu denken und das Transitland Schweiz zu verlassen […] Ich meinte, er solle sich um ein Visum nach Südamerika bemühen. […] Er sah mich mißbilligend an und sagte bloß: ›In Südamerika ist Stefan Zweig.‹ Das war beileibe kein Bonmot. […] Wenn jener Stefan Zweig sich irgendwo in Südamerika aufhielt, wurde dadurch ein Kontinent für Musil unbrauchbar.«914 Musil blieb bis zu seinem plötzlichen Tod am 15. April 1942 in Genf. Kurz davor, am 23. Februar 1942, hatte »jener Stefan Zweig« in Brasilien seinem Leben aus Verzweiflung ein Ende gesetzt. Hans Kelsen galt nach Schweizer Recht nicht als Flüchtling. Er war 1933 mit Zustimmung des preußischen Wissenschaftsministeriums in die Schweiz gekommen und hatte hier ein zeitlich befristetes Dienstverhältnis angetreten, was mit einem (ebenso befristeten) Aufenthaltsrecht nach Art. 5 des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer von 1931 verbunden war.915 Ob er jedoch auch nach Ende seiner Lehrtätigkeit in der Schweiz würde bleiben können, war ungewiss.916 So begann Kelsen schon früh, sich nach den Möglichkeiten und Voraussetzungen für eine Emigration in die Vereinigten Staaten zu erkundigen.917 Auch die USA nahmen schon längst nicht mehr unbegrenzt Immigranten auf, vielmehr war deren Zahl pro Auswanderungsland ziffernmäßig begrenzt. Nur wenige Personengruppen konnten ohne Rücksicht auf diese Quote ein »non-quota-Visum« beantragen, darunter Professoren, die zumindest zwei Jahre in Folge an Colleges, Akademien, Seminaren oder Universitäten der USA lehrten (Sect. 4 [d] Immigration Act of 1924).918 Die Erlangung einer Professur in den Vereinigten Staaten war damit für 913 Friedländer /Kreis/Milton, Die Schweiz und die Flüchtlinge (2001) 56; Feichtinger, Transatlantische Vernetzungen (2009) 323. Die Parallelen zwischen der europäischen Flüchtlingspolitik von damals und jener von heute sind unverkennbar; es scheint, dass die Politikerinnen und Politiker in achtzig Jahren nichts dazugelernt haben. 914 Mayer, Erinnerungen I (1982) 280. 915 Bundesgesetz v. 26. 3. 1931 Bbl 1931 I, 425. 916 Wie aus einem Schreiben von William R appard an die Rockefeller Foundation v. 11. 2 . 1937 und einem Schreiben von Stacy May (RF) an Harold Laski v. 19. 4. 1938 hervorgeht, war Kelsens ursprünglich auf drei Jahre beschränkte Anstellung am IUHEI im Jahr 1936 auf unbegrenzte Zeit verlängert worden, mit der Einschränkung jedoch, dass die Existenz des IUHEI selbst sichergestellt sei. Dies war zunächst bis Ende 1940 der Fall, Anfang 1938 beschloss die Rockefeller Foundation eine weitere Finanzierung des IUHEI bis Ende 1944: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4089. 917 Kelsen Oestreicher, Times to remember (1977) 8. 918 Edward J. Shaughnessy (US-Department of Labor, Immigration and Naturalization Service), Memorandum v. 18. 4. 1939, in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939. Vgl. auch ebd. die Broschüre »General Information Concerning United States Immigration Laws« (1. 2 . 1938).
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viele Wissenschaftler der gangbarste Weg, in das »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« zu gelangen. 1919 hatten einige progressive US-amerikanische Gelehrte, insbesondere ehemalige Professoren der Columbia University, in New York die noch heute existierende »New School for Social Research« gegründet; seit 2005 wird sie einfach als »The New School« bezeichnet. Die anfangs sehr kleine Institution – noch 1933 verfügte ihr Lehrkörper über lediglich vier bis fünf Vollzeit-Angestellte – widmete sich insbesondere der Volksbildung, etwa nach Art und Weise des schon oben919 beschriebenen Wiener Volksheims. Geleitet wurde sie 1922–1945 vom Wirtschaftswissenschaftler Alvin S. Johnson.920 Dieser erkannte als einer der ersten akademischen Funktionäre in den USA das volle Ausmaß der verhängnisvollen Folgen der NS-Machtergreifung für die europäischen Universitäten und bemühte sich schon ab 1933, europäischen Wissenschaftlern eine neue akademische Wirkungsstätte in den USA zu verschaffen. Zu diesem Zweck gründete er ein autonom handelndes Institut innerhalb seiner Universität, das er »The University in Exile« nannte. Die nicht unbeträchtlichen finanziellen Mittel, die er dazu benötigte, warb Johnson bei verschiedenen Philanthropen, wie etwa dem Erdölmilliardär Hiram Halle, ein.921 Auch andere Einrichtungen, wie insbesondere die Rockefeller Foundation, wurden für exilierte Wissenschaftler tätig, auch wenn hier zuweilen eine gewisse Skepsis vorherrschte, ob alle von ihnen für die USA geeignet seien. So erklärte Tracy B. Kittredge,922 Assistant Director der Social Sciences Division der Rockefeller Foundation Representation in Paris, dass die meisten führenden Sozialwissenschaftler Deutschlands »Juden oder Sozialdemokraten oder noch Schlimmeres« seien.923 Im Mai/Juni 1933 wurde unter Mitwirkung der New School und der Rockefeller Foundation ein »Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars« geschaffen, welches beschloss, vorrangig bereits profilierten Wissenschaftlern im Alter von 35–55 Jahren zu helfen. (Hans Kelsen war zu diesem Zeitpunkt 52 Jahre alt, fiel also gerade noch in diese Zielgruppe.) Die Rockefeller Foundation erklärte sich gegenüber dem Committee bereit, alle Mittel, die aus anderen Quellen gewonnen werden konnten, zu verdoppeln und nahm damit eine herausragende Stellung beim »Import von Intelligenz« in die Vereinigten Staaten ein. Doch blieb ihre Haltung, namentlich in Bezug auf jüdische Wissenschaftler ambivalent. Einige US-amerikanische Universitäten hatten schon vor 1933 ein anti-jüdisches Quotensystem eingeführt, das durch die Aufnahme 919 Oben
125.
920 https://www.newschool.edu/about/history
[Zugriff: 02. 05. 2019]. New School (1986) 84, 92; Fleck, Etablierung (2015) 65–74. 922 Geb. Baker/OR 5. 5. 1891, gest. 22. 1 2. 1957. Kittredge hatte an der University of California und in Oxford studiert. Er diente in beiden Weltkriegen bei der US-Marine und war in der Zeit dazwischen – außer für die RF – auch für das Rote Kreuz sowie für die ILO tätig. https://www.history. navy.mil/content/dam/nhhc/research/archives/research-guides-and-finding-aids/electronicfinding-aids/personal-paper-collections/coll-714.pdf [Zugriff: 9. 7. 2019]. 923 Tracy Kittredge, zit. n. Rutkoff/Scott, New School (1986) 89. Vgl. auch Feichtinger, Wissenschaft zwischen den Kulturen (2001) 206. 921 Rutkoff/Scott,
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jüdischer Wissenschaftler aus Europa gesprengt zu werden drohte, eine Welle des Antisemitismus auch in den USA wurde befürchtet.924 Als es nach dem »Anschluß« 1938 zu einer zweiten Emigrationswelle kam, konnte Johnson u. a. die Kelsen-Schüler Erich Hula, Felix Kaufmann und Ernst Karl Winter für seine »University in Exile« gewinnen.925 Zwar hatte er Hula schon 1933 eine Anstellung angeboten, doch hatte jener damals noch abgelehnt, weil er von Österreich aus gegen die Nazis intellektuell kämpfen hatte wollen – über seine abenteuerliche Flucht 1938 wurde schon oben berichtet.926 Nun nahm er das erneuerte Angebot Johnsons dankbar an (»The fool who turned us down in 1933 is available again«, schrieb Johnson humorvoll einem Freund927) und wurde von ihm persönlich auf der »Einwandererinsel« Ellis Island willkommen geheißen. Hula wurde zunächst associate professor an der New School, rückte 1944 zum full professor auf, war 1948–1950 Dean of the Graduate Faculty, und lehrte hier bis zu seiner Pensionierung 1967.928 Auch Felix Kaufmann wurde zunächst, 1938, associate professor und 1944 full professor an der New School und unterrichtete hier u. a. Wissenschaftstheorie, Logik und Ethik. Auch beteiligte sich Kaufmann an der »Unity of Science«-Bewegung. 1949 starb er in New York an den Folgen eines Herzinfarkts.929 Ernst Karl Winter, der zur Zeit des Ständestaates, 1934–1936, Dritter Vizebürgermeister von Wien war, war sicher kein typischer Vertreter der Reinen Rechtslehre; doch auch er bezeichnete sich selbst als Schüler Kelsens, zumal er 1929 in dessen »Wiener staats‑ und rechtswissenschaftlichen Studien« das Buch »Die Sozialmetaphysik der Scholastik« publiziert und als Habilitationsschrift an der Wiener rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät eingereicht hatte. Kelsen hatte damals sowohl die Drucklegung als auch das Habilitationsgesuch unterstützt, doch waren offenbar politische Gründe dafür ausschlaggebend gewesen, dass die Habilitation für Gesellschaftslehre scheiterte.930 Winter war überzeugter Katholik und »Anschluß«-Gegner; nach dem Staatsstreich 1933 bemühte er sich gemeinsam mit Georg Fleischer erfolglos um eine Aussöhnung zwischen den politisch verfeindeten Lagern in Österreich.931 Seine Ernennung zum Vizebürgermeister war daher v. a. als Versuch einer Aussöhnung mit der Sozialdemokratie zu verstehen. Winters Kampf gegen den Nationalsozialismus 924 Rutkoff/Scott, New School (1986) 93–95; Feichtinger, Wissenschaft zwischen den Kulturen (2001) 212; Fleck, Etablierung (2015) 76 f. 925 Rutkoff/Scott, New School (1986) 102; Feichtinger, Transatlantische Vernetzungen (2009) 330; Fleck, Etablierung (2015) 181. 926 Oben 628. 927 Zit. n. Rutkoff/Scott, New School (1986) 103. 928 http://library.albany.edu/speccoll/findaids/eresources/static/pdf/ger044.pdf [Zugriff: 02. 05. 2019]; Feichtinger, Transatlantische Vernetzungen (2009) 331. 929 Kristoferitsch/Orator, Kaufmann (2008) 155 f. 930 Ausführlich, unter Zitierung des durch Zufall erhalten gebliebenen Habilitationsaktes, Holzbauer, Winter (1992) 159–177. Vgl. zu Winters schwieriger Laufbahn an der Universität Wien auch Stifter, Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration (2014) 373–392. 931 Jabloner, Fleischer (2008) 110.
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kostete ihn 1936, nach der Annährung Österreichs an NS-Deutschland im sog. Juliabkommen, das Vizebürgermeisteramt. Kurz vor dem »Anschluß« emigrierte er, angeblich auf Anraten Kelsens,932 über die Schweiz in die USA, und möglicherweise half ihm Kelsen auch dabei, an der New School eine Anstellung zu erhalten. Noch bevor aber die New School sich auch darum bemühte, Kelsen selbst in die Staaten zu holen, hatte sich John Dickinson, ein leitender Beamter im US-Handelsministerium, für Kelsen eingesetzt. Ob er Kelsen persönlich kannte, ob Kelsen ihn selbst darum gebeten hatte, oder ob Dickinson aus eigener Initiative handelte, ist unbekannt. Jedenfalls richtete er am 2. April 1935, also noch vor Kelsens erstem Aufenthalt in den USA, einen Brief an Abraham Flexner, den Begründer des Institute for Advanced Study in Princeton/NJ, in dem er sich für eine Berufung Kelsens aussprach.933 Das Institute for Advanced Study war kein Bestandteil der Princeton University, sondern eine selbständige, private Forschungseinrichtung, die schlagartig bekannt geworden war, nachdem sie 1933 Albert Einstein eine neue Wirkungsstätte gegeben hatte. Dickinson bezog sich in seinem Brief auf diesen Erfolg für das Institut, dem es offenbar gelinge, in jedem Wissenschaftsbereich nur die fähigsten Personen an Bord zu holen. In einem späteren Brief an einen Mitarbeiter Flexners schrieb Dickinson sogar, dass Kelsen im Bereich der Rechtstheorie einen Stellenwert ähnlich wie Einstein besitze.934 Flexner entgegnete, dass das Institut derzeit kein Interesse habe, »professional schools«, also vorwiegend der Berufsausbildung dienende Schulen, zu schaffen.935 Dies veranlasste Dickinson zu einigen bemerkenswerten Äußerungen zur amerikanischen Juristenausbildung: Diese sei nämlich tatsächlich fast nur auf die Berufsausbildung fixiert, sodass theoretische Betrachtungen des Rechts kaum stattfänden. Selbst ein Roscoe Pound könne nur eine Handvoll Studierender in seine Kurse aus »jurisprudence« locken. Daher schien Kelsen weniger für eine klassische law school als vielmehr für ein Forschungsinstitut, wie eben das Institute for Advanced Study, geeignet. Flexner gab zur Überlegung, dass die an seinem Institute bestehende School of Economics and Politics eine geeignete Wirkungsstätte für Kelsen sein könnte, und
932 So jedenfalls https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Karl_Winter [Zugriff: 24. 7. 2019] und zahlreiche andere, auf dieser Website basierende Websites. Eine belastbare(re) Quelle konnte nicht gefunden werden. 933 John Dickinson, Brief an Abraham Flexner v. 2. 4. 1935, in: Institute for Advanced Study, Princeton/NJ, The Shelby White and Leon Levy Archives Center, Director’s Office Records/General Files/Box 34/Ka-Kh. In diesem Brief erklärte Dickinson, dass er nicht wisse, ob Kelsen eine allfällige Berufung überhaupt annehmen würde, was dafür spricht, dass er ohne Kelsens Wissen initiativ geworden war – oder dies zumindest vorgab. 934 John Dickinson, Brief an Winfield Riefler v. 9. 4. 1935, in: Institute for Advanced Study, Princeton/NJ, The Shelby White and Leon Levy Archives Center, Director’s Office Records/General Files/Box 34/Ka-Kh. 935 Abraham Flexner, Brief an John Dickinson v. 4. 4. 1935, in: Institute for Advanced Study, Princeton/NJ, The Shelby White and Leon Levy Archives Center, Director’s Office Records/General Files/Box 34/Ka-Kh.
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versprach, dass er mit den dortigen Professoren darüber reden werde.936 Dann jedoch kam keine Antwort aus Princeton mehr; offenbar war das Interesse des Instituts an Kelsen gering. In England hatte Beveridge, nicht zuletzt unter dem Eindruck seines Wien-Aufenthaltes vom Frühjahr 1933, bei dem er Mises und Kelsen getroffen hatte,937 eine Hilfsorganisation für verfolgte Akademiker, den »Academic Assistance Council« aufgebaut, der 1936 zur »Society for the Protection of Science and Learning« erweitert wurde.938 1934 wandte sich auch Kelsen an diese Organisation und füllte einen entsprechenden Fragebogen aus; auf die Frage, wie gut er Englisch spreche, antwortete Kelsen »Ein wenig, aber ich lerne es«. Eine Emigration in die Tropen, in den Fernen Osten, in die UdSSR oder nach Südamerika lehnte er in diesem Fragebogen nicht nur wegen mangelnder Sprachkenntnisse ab, sondern auch, weil »diese Gebiete für mein wissensch[aftliches] Fach nicht in Betracht kommen.«939 Ob er letztlich Hilfe über diese Organisation bekam, ist unbekannt. Im Dezember 1936 kontaktierten Harold Laski und Hersch Lauterpacht von der London School of Economics die Rockefeller Foundation und informierten sie über die katastrophalen Zustände, unter denen Kelsen in Prag lehren musste. Sie schlugen vor, dass die Foundation einen eigenen Lehrstuhl für Hans Kelsen an einer englischen oder amerikanischen Universität einrichten solle. Die Rockefeller Foundation lehnte dies jedoch ab, weil es keinen Grund gebe, Kelsen gegenüber anderen deutschen Gelehrten derart zu bevorzugen.940 Erst nachträglich erfuhren Kelsen und Rappard von der Initiative der beiden englischen Juristen, und Rappard schickte einen langen Brief an die Rockefeller Foundation, in dem er für diese nicht akkordierte Vorgangsweise um Entschuldigung bat, auch wenn Laski und Lauterpacht in der besten Absicht gehandelt hätten. Zugleich berichtete er, dass Kelsen und er lange über dessen Zukunft in der Schweiz gesprochen haben und er die Sorgen Kelsens durchaus nachvollziehen könne.941 Und auch aus Amsterdam kam im April 1938 eine Anfrage an die Rockefeller Foundation, ob diese eine Anstellung Hans Kelsens unterstützen würde.942 Die Antwort der Foundation ist nicht erhalten. 936 Abraham Flexner, Brief an John Dickinson v. 8. 4. 1935, in: Institute for Advanced Study, Princeton/NJ, The Shelby White and Leon Levy Archives Center, Director’s Office Records/General Files/Box 34/Ka-Kh. 937 Siehe oben 550. 938 Vgl. dazu eingehend Zimmerman, The Society for the Protection of Science (2006). 939 Bodleian Library, MS. SPSL 267/9 fol. 234. Interessant ist hier besonders die Frage, ob Kelsen bereit wäre, Unterstützung von einer Religionsgemeinschaft zu erhalten, und für diesen Fall aufgefordert wird, seine Religion zu benennen, Kelsen diese Rubrik jedoch unausgefüllt lässt. 940 Inter-office correspondence v. 10. 1 2. 1936 und Entwurf eines Antwortschreibens von Raymond B. Fosdick an Harold Laski, datiert 15. 1 2. 1936, beide in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4089. 941 William R appard, Brief an die Rockefeller Foundation v. 11. 2 . 1937, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4089. 942 Dies geht hervor aus je einem Brief von Stacy May (Rockefeller Foundation) an Harold Laski
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b) In Verhandlungen mit amerikanischen Universitäten Am 11. Oktober 1938 schrieb Kelsen eine Reihe von Briefen an amerikanische Professoren. Es mag sein, dass ihm sein 57. Geburtstag, den er an diesem Tag feierte, zu Bewusstsein gebracht hatte, dass seine persönliche Existenz – und auch die seiner Familie – derzeit an einem seidenen Faden hing und dass er dringend etwas unternehmen musste. Vielleicht war auch die Familie an diesem Tag zusammengekommen und hatte einvernehmlich den Entschluss zu einer gemeinsamen Emigration in die Vereinigten Staaten gefasst. Jedenfalls richtete Kelsen ein Schreiben an Roscoe Pound und ein zweites Schreiben an Felix Frankfurter, in denen er von seiner persönlichen Situation berichtete und sie um Hilfe bei seinem Vorhaben bat, eine Professur in den USA zu erlangen. Kelsen habe erfahren, dass der im Juli 1938 verstorbene Richter am US-Supreme Court Benjamin N. Cardozo der Columbia University ein größeres Legat hinterlassen habe, um ein Studium der Rechtsphilosophie, möglicherweise einen eigenen Lehrstuhl, einzurichten. Vielleicht ergebe sich hier eine Möglichkeit?943 Ein dritter Brief ging an Abraham Flexner, der ja schon 1935 eine Berufung Kelsens an das Institute for Advanced Study abgelehnt hatte. Nun, am 11. Oktober 1938, bat Kelsen direkt um Aufnahme. Als »Autor« der demokratischen österreichischen Verfassung und als Mitglied des VfGH sei er mit der damals schon faschistisch gewordenen Regierung in Konflikt geraten, weshalb er nach Köln gegangen sei, wo ihn die Nationalsozialisten vertrieben hatten. Zwar könne er derzeit in Genf am IUHEI lehren, doch sei dessen weitere Existenz äußerst unsicher. Betreffend die Reine Rechtslehre verwies Kelsen auf eine Reihe englischsprachiger Aufsätze (von Voegelin, Lauterpacht, Kunz u. a.), aus denen sich Flexner wohl selbst ein Bild über Kelsen machen sollte; und mit seinen derzeitigen Arbeiten über den Zusammenhang zwischen Recht, Religion, Dichtung und Philosophie in der Antike passe er, so Kelsen, sehr gut in das Profil des Institute for Advanced Study. Roscoe Pound und Felix Frankfurter von der Harvard University sowie Charles E. Merriam von der University of Chicago wären zu Empfehlungsschreiben bereit.944 Flexner reagierte kühl und abweisend; das Institut habe nur ein begrenztes Budget, wenn Kelsen so gut mit Pound, Frankfurter und Merriam stehe, so solle er doch diese bitten, ob sie ihm helfen können.945 v. 19. 4. 1938 und an James Stifler v. 4. 1. 1939, beide in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4089. 943 Hans Kelsen, Brief an Roscoe Pound v. 11. 10. 1938, in: Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7; Hans Kelsen, Brief an Felix Frankfurter v. 11. 10. 1938, in Abschrift in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4089. Vgl. dazu und zum Folgenden auch Cadore, »Good-bye to all of that«? (2018) 251. 944 Hans Kelsen, Brief an Abraham Flexner v. 11. 10. 1938, in: Institute for Advanced Study, Princeton/NJ, The Shelby White and Leon Levy Archives Center, Director’s Office Records/General Files/Box 34/Ka-Kh. 945 Abraham Flexner, Brief an Hans Kelsen v. 31. 10. 1938, in: Institute for Advanced Study, Princeton/NJ, The Shelby White and Leon Levy Archives Center, Director’s Office Records/General Files/Box 34/Ka-Kh.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Wesentlich hilfsbereiter war da Pound, der Kelsen berichtete, dass er mit dem Präsidenten der Harvard University, Conant, gesprochen habe und dass derzeit zwei vakante Lehrstühle in Harvard für Kelsen in Frage kämen: die »Fairchild Professorship on Comparative Public Law«, die früher ein anderer Österreicher, nämlich Josef Redlich, innegehabt hatte, sowie die »Carter Professorship of General Jurisprudence«.946 Doch bereits wenig später musste Pound Kelsen berichten, dass Präsident Conant eine Berufung Kelsens auf einen dieser beiden Lehrstühle abgelehnt habe. Pound bemühte sich nunmehr, an einer anderen »first-class American institution«, etwa an der Yale University oder an der University of Michigan, eine Anstellung für Kelsen zu finden.947 Doch hatte er auch damit keinen Erfolg. Der vorhin erwähnte Charles E. Merriam war Professor of Political Science an der University of Chicago, einer 1891 mit tatkräftiger Unterstützung von John D. Rockefeller Sr. gegründeten Privatuniversität.948 Im Zuge einer Europareise hatte Merriam im August 1934 Kelsen kennengelernt und sich insbesondere von dessen Demokratietheorie begeistert gezeigt.949 Im Juni 1938 lud er, mit Genehmigung des Präsidenten der Universität, Robert M. Hutchins, Kelsen ein, für das Jahr 1938/39 als Gastprofessor nach Chicago zu kommen. Obwohl das Angebot die Eintrittskarte für einen dauernden Aufenthalt in den USA hätte sein können und auch finanziell mit $ 7.000,– großzügig bemessen war, lehnte Kelsen damals noch unter Hinweis auf seine Lehrverpflichtungen in Prag und Genf ab und bat um eine Verschiebung der Gastprofessur auf das Jahr 1939/40.950 Hutchins zeigte sich gewogen, dieser Bitte zu entsprechen, begann nun aber über Möglichkeiten nachzudenken, Drittmittel für dieses doch sehr hohe Gehalt einzuwerben. Am 29. Dezember 1938 erklärte die University of Chicago gegenüber der Rockefeller Foundation, dass sie Hans Kelsen auf unbestimmte Zeit einstellen wolle und an ein jährliches Gehalt von $ 6.000,– denke. Sie beantrage $ 2.000,– bei der Rockefeller Foundation und erklärte, auch beim Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars und beim Oberlaender 946 Roscoe Pound, Schreiben an Hans Kelsen v. 25. 10. 1938, in: Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7. 947 Roscoe Pound, Schreiben an Hans Kelsen v. 1. 11. 1938 und vom 30. 11. 1938, beide in: Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7. 948 Eine erste Universität war schon 1857 gegründet worden, musste jedoch 1887 aufgrund finanzieller Schwierigkeiten ihre Tätigkeit einstellen. Die Trägerin der Universität, die Baptisten-Gemeinde von Chicago, bat ihren Glaubensbruder Rockefeller um Hilfe, sodass 1890 die formelle Neugründung erfolgen und 1891 der Vorlesungsbetrieb wieder aufgenommen werden konnte. In den ersten fünfzig Jahren war die finanzielle Unterstützung durch Rockefeller so dominant, dass die Universität schlicht als die »Rockefeller University« bezeichnet wurde; vgl. Boyer, The University of Chicago (2015) 5 ff. 949 Boyer, »We are all Islanders …« (2007) 100 f. 950 Hans Kelsen, Schreiben an Charles E. Merriam v. 15. 7. 1938, zit. n. Boyer, »We are all Islanders …« (2007) 102. Diese Einladung wird auch in zwei anderen Briefen Kelsens thematisiert: Hans Kelsen, Brief an John A. Fairlie v. 12. 2 . 1939, in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939; Hans Kelsen, Brief an Eric Voegelin v. 21. 2 . 1939, in: Stanford University, Hoover Institutions Archives, Eric Voegelin Papers, Box 20.
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Trust um Unterstützung ansuchen zu wollen.951 Die Rockefeller Foundation jedoch erklärte, dass Kelsen nur schwerlich als »vertriebener Gelehrter [displaced scholar]« bezeichnet werden könne, da er ja in Genf eine Anstellung besitze, und die Existenz des IUHEI dank der Foundation bis Ende 1944 gesichert sei.952 Das Emergency Committee lehnte eine Beteiligung an der Finanzierung aufgrund der überhöhten Summe ab.953 Und auch an der Universität selbst regte sich Widerstand, namentlich, als der Politikwissenschaftler Merriam die Law School bat, seine Initiative (auch finanziell) zu unterstützen: An der Law School lehrten mit Max Rheinstein und Friedrich Kessler bereits zwei Emigranten aus Deutschland; die »faculty« (Professorenschaft) lehnte die Berufung eines weiteren Flüchtlings, noch dazu einen, der auf Rechtsphilosophie spezialisiert war (was ohnehin mehr als genug abgedeckt sei), ab.954 Im US-Bundesstaat Illinois, in dem die University of Chicago gelegen ist, waren aber auch noch andere Gelehrte und Hochschulen für Kelsen tätig. Etwa 200 km südlich von Chicago, in der kleinen Stadt Urbana, befand (und befindet) sich die staatliche University of Illinois, wo zu jener Zeit James W. Garner das Department of Political Science leitete. Im Juni 1938 übersandte er Kelsen das Manuskript für einen Aufsatz über die Nazi-Verfolgungen von deutschen Völkerrechtsprofessoren, darunter auch Hans Kelsen, das er für das »American Journal of International Law« (AJIL) eingereicht hatte.955 Kelsen benützte prompt die Möglichkeit, um auch Garner zu fragen, ob er ihm helfen könne, nach Amerika zu gelangen.956 Doch erhielt er im Jänner 1939 ein weiteres Schreiben von der University of Illinois, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass Prof. Garner am 9. Dezember 1938, nach kurzer schwerer Krankheit, verstorben war. Verfasser des Antwortschreibens war John A. Fairlie, der Garner in der Leitung des Political Science Department gefolgt war und Kelsen nunmehr anbot, zunächst einige Lehrveranstaltungen an der University of Illinois zu halten, um so erst einmal Fuß zu fassen. So würde es ihm leichter fallen, sich um eine ständige Anstellung an einer amerikanischen Universität zu bewerben.957 Interessanterweise wartete Fairlie ein Antwortschreiben Kelsens gar nicht ab, sondern wurde nunmehr selbst aktiv, insbesondere, nachdem er sich mit dem Dekan des 951 James
M. Stifler (University of Chicago), Schreiben an Sydnor H. Walker (Rockefeller Foundation) v. 29. 1 2. 1939, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4089. Dem Schreiben liegt eine positive Stellungnahme von Charles E. Merriam, datiert 2. 11. 1938, sowie auch eine Kopie des oben erwähnten Schreibens von Hans Kelsen an Felix Frankfurter v. 11. 10. 1938 bei; wie die University of Chicago an dieses Schreiben gelangt war, ist unklar. 952 Stacy May (Rockefeller Foundation), Schreiben an James M. Stifler (University of Chicago) v. 4. 1. 1939, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4089. 953 Fleck, Etablierung (2015) 182. 954 Boyer, »We are all Islanders …« (2007) 104 f. 955 Garner, The Nazi Proscription (1939). Vgl. dazu Kirgis, American Society of International Law (2006) 153 f. 956 Hans Kelsen, Brief an James Garner v. 20. 1 2. 1938, in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939. 957 John A. Fairlie, Brief an Hans Kelsen v. 7. 1. 1939, in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
law college der Universität, Albert J. Harno, besprochen und dieser sein Interesse an einer Berufung Kelsens bekundet hatte. Zwar sei sein College sehr klein, und es würden wohl nur wenige Studenten Kelsens Vorlesung besuchen, aber man könne das Experiment wagen.958 Fairlie schrieb nun eine Reihe von anderen Personen an, um weitere Erkundigungen über Kelsen einzuholen. Roscoe Pound pries ihn erneut als einen außergewöhnlichen Rechtsgelehrten, der auch große Qualitäten als Lehrender aufweise.959 John Wigmore, Professor an der Northwestern University in Chicago, berichtete, dass er Kelsen bei den 300-Jahr-Feiern der Harvard University 1936 kennengelernt habe, und dass Kelsen fließend Englisch spreche sowie dass er eine sehr lebhafte und anregende Persönlichkeit sei, von der er, Wigmore, sehr angetan gewesen war. Er nehme an, dass Kelsen Jude sei, könne dies aber nicht mit Gewissheit sagen.960 Auch Harold Laski, der mittlerweile an der University of Washington in Seattle unterrichtete, setzte sich für eine Anstellung Kelsens an der University of Illinois ein: Kelsen sei einer der bedeutendsten Rechtswissenschaftler der Welt. »Und ich sage das, obwohl ich zugleich der Überzeugung bin, dass die meisten seiner Ideen falsch sind.«961 Schließlich wurde William Rappard um seine Meinung befragt. Dieser erklärte, dass er es zutiefst bedauern würde, sollte Kelsen Genf verlassen wollen, doch könne er Kelsens Sorgen verstehen, und er empfahl ihn mit den wärmsten Worten den Amerikanern.962 Am 24. Jänner 1939 bot Fairlie Kelsen ganz offiziell eine Gastprofessur an der University of Illinois für ein Jahr mit einem Jahresgehalt von $ 5.000,– an.963 Kelsen 958 John A. Fairlie, Brief an Albert J. Harno v. 12. 1. 1939 und Antwortschreiben v. 13. 1. 1939, beide in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939. 959 »Indeed his students are so devoted to him that Kelsenism became almost a religious cult in Central Europe«: Roscoe Pound, Brief an John A. Fairlie v. 10. 1. 1939, in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939. Kelsens Englischkenntnisse wurden von Pound in diesem Schreiben als »gut [well]« bezeichnet. Pound berichtete Kelsen, dass Illinois ein großer und reicher Staat sei, der seine Universität »liberally« subventioniere: Roscoe Pound, Brief an Hans Kelsen v. 11. 2 . 1939, in: Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7. 960 John Wigmore, Brief an Albert J. Harno v. 20. 1. 1939, in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939. Auch in der Folge wurde die Frage, ob Kelsen Jude sei, innerhalb der University of Illinois auffallend oft gestellt, vgl. C adore, »Good-bye to all that«? (2018) 255. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Antisemiten an dieser Universität gegen eine Berufung Kelsens waren. 961 »Harold J. Laski, Brief an John A. Fairlie v. 23. 1. 1939 und Antwortschreiben v. 27. 1. 1939, beide in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939. 962 John A. Fairlie, Brief an William Rappard v. 23. 1. 1939 und Antwortschreiben v. 9. 2 . 1939, in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939. 963 John A. Fairlie, Brief an Hans Kelsen v. 24. 1. 1939, in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939. Auf Bitten Fairlies schrieb auch Pound an Kelsen und riet ihm zu, das Angebot anzunehmen: Roscoe Pound, Brief an Hans Kelsen v. 27. 1. 1939, in: Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7.
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5. Kapitel: Zwischen Krieg und Frieden
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bedankte sich sehr für das Angebot und machte auch schon konkrete Vorschläge für die Lehrveranstaltungen, die er in Urbana halten wolle, gab aber keine definitive Zusage, sondern berichtete von seinen Verhandlungen mit der University of Chicago. Er habe nun ein Telegramm an Merriam geschickt und dieser habe ihn telegraphisch gebeten, noch ein paar Tage mit einer Zusage zu warten. Eventuell aber könne man ja beide Lehrtätigkeiten miteinander verbinden?964 Am 25. Februar musste allerdings Merriam an Kelsen schreiben, dass eine Gastprofessur an der University of Chicago aus finanziellen Gründen nicht realisierbar sei; für das Jahr 1938/39, für das ja ursprünglich die Einladung erfolgt war, gab es noch einen »special fund«, der nun aber aufgebraucht sei.965 Kelsen schrieb daher an Fairlie, dass er nunmehr für Verhandlungen frei sei.966 Zur selben Zeit befand sich ein Mitglied der Law School der University of Illinois, George Goble, in Europa auf einer Forschungsreise, und am 14. März 1939 war er bei Hans und Grete Kelsen in deren Genfer Wohnung zum Mittagessen zu Gast; auch eine der beiden Töchter Kelsens war anwesend. Goble berichtete seinen Fakultätskollegen ausführlich von diesem Treffen. Kelsen beherrsche die englische Sprache problemlos, er mache nur manchmal längere Pausen, um das richtige Wort zu suchen, und habe bei der Aussprache des »th’s« Probleme. Er habe »ein freundliches Wesen, ein gutes Lächeln, ein Zwinkern im Auge, einen Sinn für Humor [und sei] jugendlich in seinem Auftreten.« Kelsen sei ein Antifaschist und glaube an die »Bestimmung Amerikas«. Ob er Jude sei, sei nicht erkennbar.967 Somit standen die Zeichen für eine baldige Ernennung Kelsens sehr positiv – plötzlich aber tauchten Probleme auf: Fairlie berichtete Kelsen, dass seine Anstellung nur erfolgen könne, wenn die Universität zusätzliches Budget erhalten würde, und mit einer Entscheidung des Gesetzgebers des Staates Illinois sei erst in zwei bis drei Monaten zu rechnen.968 Kelsen wiederum berichtete an Fairlie, dass er im Falle einer auf zwei Semester beschränkten Gastprofessur lediglich ein befristetes Visum zum Aufenthalt in den Staaten bekommen würde, er benötige aber ein Visum für einen 964 Hans Kelsen, Brief an John A. Fairlie v. 12. 2 . 1939, in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939. Eine Woche später berichtete Kelsen auch Pound von seiner gegenwärtigen Situation: Hans Kelsen, Brief an Roscoe Pound v. 19. 2 . 1939, in: Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7. 965 Charles E. Merriam, Brief an Hans Kelsen v. 25. 2 . 1939, in: University of Chicago Library, Merriam, Charles E. Papers, Box 51, Folder 7. Vgl. Boyer, »We are all Islanders …« (2007) 105. 966 Hans Kelsen, Brief an John A. Fairlie v. 5. 3. 1939, in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939. 967 George Goble, Brief an Albert J. Harno v. 14. 3. 1939, in Kopie auszugsweise in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939. Mit der »Bestimmung Amerikas« spielte Goble offenbar auf die damals weitverbreitete Ansicht an, dass die USA einen Sendungsauftrag zur Kultivierung des amerikanischen Kontinents, womöglich der ganzen Welt, hätten. 968 John A. Fairlie, Brief an Hans Kelsen v. 10. 3. 1939 (noch vor Erhalt von Kelsens Schreiben vom 5. 3. aufgesetzt) und Brief an Hans Kelsen v. 18. 3. 1939, beide in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
permanenten Aufenthalt in den USA.969 Tatsächlich machte dann die hohe Politik einen Strich durch die Rechnung Fairlies: Das Parlament des Staates Illinois beschloss eine substantielle Kürzung des Universitätsbudgets, was vom Gouverneur, Henry Horner, noch weiter gekürzt wurde, sodass eine Ernennung Kelsens nicht finanzierbar war.970 Fairlie gab noch nicht auf: Wenige Tage zuvor hatte ihm J. A. C. Grant, Leiter des Department of Political Science der University of California in Los Angeles, geschrieben, dass er selbst überlege, Kelsen »ein Angebot« zu machen, aber erfahren habe, dass auch Fairlie Kelsen haben wolle. Nun schlug Fairlie vor, ob man es nicht mit einem gemeinsamen Angebot probieren solle, sodass Kelsen ein Semester in Illinois, ein Semester in Kalifornien verbringen würde.971 Doch musste ihm Grant eine Absage erteilen; weder er, noch Edwin D. Dickinson, der Dean der Law School in Berkeley, verfügten über die finanziellen Mittel, um Kelsen auch nur für ein Semester nach Kalifornien holen zu können.972 Fairlie musste nunmehr Kelsen berichten, dass die University of Illinois ihr Angebot aus finanziellen Gründen zurückgezogen habe, und dass auch die Versuche einer Kooperation mit Kalifornien gescheitert seien. Er hielt aber an seinem ursprünglichen Angebot fest, Kelsen zu Gastvorträgen einzuladen, zumal ja Kelsen im Herbst 1939 – zum Kongress der Unity of Science – ohnehin in die USA käme.973 Kelsen nahm dieses Angebot an und erklärte, bis 20. Oktober 1939 in den Staaten bleiben zu wollen, sodass er über die Reine Rechtslehre, sowie über Vergeltung und Kausalität Vorträge halten könne. Zugleich schrieb Kelsen auch an Merriam und schlug ihm das gleiche Programm für Vorträge an der University of Chicago vor.974 Ende August 1939 kam Hans Kelsen in New York an und fuhr zunächst zum erwähnten Kongress nach Harvard, wo er gemeinsam mit den anderen Teilnehmern vom Ausbruch des Zweiten Weltkrieges überrascht wurde.975
969 Hans Kelsen, Brief an John A. Fairlie v. 19. 3. 1939, in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939. 970 John A. Fairlie, Brief an William Rappard v. 3. 6. 1939, in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939. 971 J. A. C. Grant, Brief an John A. Fairlie v. 17. 5. 1939, John A. Fairlie, Brief an J. A. C. Grant v. 27. 5. 1939, beide in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939. 972 J. A. C. Grant, Briefe an John A. Fairlie v. 29. 5. 1939 und v. 7. 6. 1939, beide in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939. Wie aus einem Brief von Frederic Ogg an John Fairlie v. 19. 9. 1939, a. a. O., hervorgeht, hatte Fairlie möglicherweise auch an der University of Wisconsin nach der Möglichkeit einer Anstellung Kelsens gefragt. 973 John A. Fairlie, Briefe an Hans Kelsen v. 12. 6. 1939 und v. 10. 7. 1939; beide in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939. 974 Hans Kelsen, Briefe an John A. Fairlie v. 28. 6. 1939 und v. 28. 7. 1939, in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939; Hans Kelsen, Brief an Charles Merriam v. 28. 7. 1939, in: University of Chicago Library, Merriam, Charles E. Papers, Box 51, Folder 7. 975 Vgl. dazu schon oben 645.
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5. Kapitel: Zwischen Krieg und Frieden
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Schon vor seiner Abreise aus Europa hatte sich Kelsen vorgenommen, seinen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten auch dazu zu benützen, sich nach den Möglichkeiten einer Anstellung an einer amerikanischen Universität zu erkundigen.976 Drei Tage nach Ende des Harvard-Kongresses, am 12. September, sprach Kelsen in New York bei Betty Drury, der Sekretärin des Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars,977 vor und erläuterte ihr seine Sorgen: Als Demokrat und Autor der österreichischen Verfassung von 1920 befände er sich auf einer »black list«; als solcher sei er auch einer der ersten Wissenschaftler gewesen, die von Hitler aus ihren Ämtern gedrängt worden waren. Seine derzeitige Stellung am IUHEI sei sehr unsicher, da das Institut ihn nicht auf unbegrenzte Zeit unterstützen könne. Die Fletcher School of Law and Diplomacy wäre interessiert, seine Dienste für ein Jahr in Anspruch zu nehmen; aber dies würde nicht für ein »non-quota-Visum« ausreichen.978 Kelsen traf auch mit Alvin Johnson von der New School for Social Research zusammen, der ihm prompt ein Angebot unterbreitete, das offenbar ausreichte, um Kelsen ein solches »non-quota-Visum« zu verschaffen. Kelsen lehnte jedoch auch dieses Angebot ab; offenbar hatte er in der Zwischenzeit erkannt, dass dieses Visum zwar für ihn und seine Gattin, nicht jedoch für seine beiden, volljährigen Töchter gelten würde.979 Es war wohl auch die Sorge um seine Familie, die Kelsen angesichts des in Europa ausgebrochenen Krieges dazu veranlasste, die geplanten Vorträge an den Universitäten von Illinois und von Chicago abzusagen und viel früher als beabsichtigt wieder nach Europa zurückzukehren.980 Etwa um den 22. September herum bestieg er in New York die SS Washington und fuhr über Genua zurück nach Genf.981 Auf der 976 Hans Kelsen, Brief an Roscoe Pound v. 1. 8. 1939, in: Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7. 977 Stiefel/Mecklenburg, Deutsche Juristen im amerikanischen Exil (1991) 21. 978 Betty Drury, File Memorandum, 12. 9. 1939, NY Public Library http://legacy.www.nypl. org/research/chss/spe/rbk/docs/mssfile2665.pdf [Zugriff: 02. 05. 2019]. Vgl. Feichtinger, Transatlantische Vernetzungen (2009) 328. 979 Hans Kelsen, Brief an Charles E. Merriam v. 21. 11. 1939, in: University of Chicago Library, Merriam, Charles E. Papers, Box 51, Folder 7; vgl. dazu auch Boyer, »We are all Islanders …« (2007) 105. Siehe auch General Information Concerning United States Immigration Laws, 1. 2 . 1938; ein Exemplar dieser 1938 gedruckten Broschüre befindet sich in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939. Der Behauptung von Feichtinger, Transatlantische Vernetzungen (2009) 328, dass Kelsen schon damals ein non-quota-Visum erhielt, kann nicht beigepflichtet werden, zumal dann der Brief Johnsons an Kelsen v. 21. 5. 1940 (vgl. unten) unerklärlich wäre. 980 Dieser überstürzte Aufbruch könnte auch mit visarechtlichen Gründen zusammenhängen, zumal ihm die Schweiz kein Rückreisevisum ausstellen wollte: Feichtinger, Transatlantische Vernetzungen (2009) 328. Irgendwie muss es Kelsen gelungen sein, diese Probleme zu meistern. Möglicherweise erhielt er Hilfe vom čs Botschafter in den USA, Vladimír Hurban, der sein Amt auch nach März 1939 nicht aufgegeben hatte; vgl. Kuklik/Něměcek, Memorandum (2016) 109. 981 Am Bord des Schiffes verfasste Kelsen einen kurzen Brief an Fairlie, in dem er sich nochmals für dessen Hilfsbereitschaft bedankte und ihn um Verständnis dafür bat, dass er die zugesagten Vorträge nun doch nicht halten könne: Hans Kelsen, Brief an John Fairlie [undatiert, zwischen
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
Reise zog er sich eine schwere Bronchitis zu, von der er erst Ende November wieder genas.982 In der Zwischenzeit bemühten sich seine Genfer Freunde, insbesondere Paul Guggenheim, sowie auch der kolumbianische Konsul Jesús Maria Yepes, für Kelsen ein Visum für »ein lateinamerikanisches Land« (wohl für Kolumbien) zu bekommen, was jedoch fehlschlug.983 Wie pessimistisch Kelsen mittlerweile seine eigene Lage beurteilte, wird aus einem Brief deutlich, den er zu jener Zeit, im November 1939, an Otto Neurath schrieb, der nach England emigriert war: »Wann wir uns wiedersehen werden? Die Beantwortung dieser Frage hängt leider von der Weltgeschichte ab; und mit dieser stehe ich auf schlechtem Fuße.«984 Hans Kelsens Töchter, die mittlerweile das 25. bzw. 24. Lebensjahr vollendet hatten, hatten begriffen, dass ihr Vater sie nicht in die USA mitnehmen konnte, selbst wenn es ihm gelingen sollte, für sich und seine Frau ein non-quota-Visum zu erlangen. So wurden sie selbst initiativ. Anna hatte im Zuge ihrer Arbeit für das Genfer Hilfskomitee eine Reihe von Zionisten kennengelernt, die auch in ihr den Wunsch weckten, nach Erez Israel auszuwandern. Ihr Vater war damit einverstanden, worauf Anna Kelsen ein Studenten-Visum für Palästina beantragte.985 Allerdings hatten die Briten am 17. Mai 1939 ein Weißbuch veröffentlicht (das sog. Mac Donald-Weißbuch, benannt nach dem britischen Kolonialminister Malcolm Mac Donald), welches die Zuwanderung von Juden auf 75.000 innerhalb der nächsten fünf Jahre einschränkte.986 Ein Visum zu bekommen, war daher äußerst schwierig, und Anna Kelsen hoffte auf eine Fürsprache der Israelitischen Kultusgemeinde in Genf für ihre Emigrationspläne, wenn sie zum Judentum konvertieren würde. Eines Tages, so wird erzählt, kam ein Rabbi ins Haus der Kelsens, um mit der Familie zu sprechen. Die jüngere Schwester, Maria, war nicht zu Hause, sondern kam später, gerade während Anna und die Eltern sich mit dem Rabbi unterhielten. Ganz spontan richtete der Rabbi an Maria die Frage: »Was bist Du?« Und die Antwort Marias: »Ich bin Jüdin.« Anna und die Eltern atmeten erleichtert auf, da sie offenbar eine derartige Frage erwartet hatten, mit der der Rabbi die 25jährige testen wollte.987 19. 9. und 25. 9. 1939], in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939. 982 Hans Kelsen, Brief an Charles E. Merriam v. 21. 11. 1939, in: University of Chicago Library, Merriam, Charles E. Papers, Box 51, Folder 7. 983 Métall, Kelsen (1969) 76. – Wie der kolumbianische Journalist Camilo Sánchez Herrera in einem e-mail an den Verfasser v. 18. 4. 2016 mitteilte, wurden zu jener Zeit mehrere tausend Anträge von Juden auf ein Visum für Kolumbien abschlägig behandelt, was von ihm auch mit der allgemein antisemitischen Politik des damaligen Außenministers (Luis López de Mesa, 1938–1942) in Verbindung gebracht wurde. 984 Hans Kelsen, Brief an Otto Neurath v. 2. 11. 1939, zit. n. Jabloner, Kelsen und die Einheitswissenschaft (2001) 20. 985 Kelsen Oestreicher, Times to remember (1977) 7, 9; Corino, Musil (2003) 1328. 986 Text bei: http://avalon.law.yale.edu/20th_century/brwh1939.asp [Zugriff: 02. 05. 2019]. Vgl. zu den Hintergründen Anderl/Jensen, Zionistische Auswanderung (1996) 198. 987 Anne Feder Lee, Interview v. 15. 10. 2006, die zwar nicht sicher ist, ob die Frage vom Rabbi
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5. Kapitel: Zwischen Krieg und Frieden
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Es zeugt diese Anekdote immerhin vom gestiegenen Bewusstsein der jüdischen Identität der Familie Kelsen in dieser Zeit. Im März 1940 konvertierte Anna Kelsen zum Judentum und nannte sich fortan »Hannah«. Sie erhielt ihr Visum und brach schon wenige Tage später nach Triest auf, wo sie sich einschiffte und am 4. April in Haifa ankam.988 Aber auch Maria Kelsen ging ihre eigenen Wege: Sie hatte in Genf einen jungen Juristen, den 1913 in Berlin geborenen Ernst Feder, kennen gelernt. Feder war bereits 1929 in die Schweiz gekommen, hatte an der Universität Genf sowie an der London School of Economics studiert und war 1938 zum Dr. iur. promoviert worden.989 Doch konnte er nicht in der Schweiz bleiben, weshalb er 1939 in die Vereinigten Staaten emigrierte. Obwohl zum Juristen ausgebildet, hatte sich Feder immer schon für die Landwirtschaft interessiert und begann nun, als Landarbeiter in Illinois seinen Lebensunterhalt zu verdienen.990 Von dort schrieb er an Maria Kelsen, ob sie zu ihm nachkommen und ihn heiraten wolle – und sie willigte ein. Im März 1940, fast gleichzeitig mit Hannah, verließ auch Maria Kelsen das Elternhaus und reiste via Kuba nach New York, wo sie am 17. April Ernst Feder heiratete.991 c) Gefahrenvolle Reise Am 10. Mai 1940, einem Freitag, hielt Kelsen wie gewöhnlich seine Vorlesung aus »Théorie générale du droit international« am IUHEI, als er und seine Hörerschaft von der Nachricht überrascht wurden, dass die deutsche Wehrmacht in den frühen Morgenstunden Frankreich sowie die neutralen Staaten Belgien, Luxemburg und die Niederlande überfallen hatte.992 Und der deutsche Vormarsch erfolgte mit beängstigender Geschwindigkeit. Bereits am 15. Mai kapitulierten die niederländischen Truppen, die Briten und die Franzosen wurden am 20. Mai bei Dünkirchen eingekesselt (konnten allerdings zum Teil über den Ärmelkanal gerettet werden).993 Je weiter die deutschen Truppen nach Westen vorrückten, desto wahrscheinlicher schien auch eine Invasion der Schweiz zu werden; Rappard berichtete später, dass sich Kelsen oder von einer anderen Person gestellt wurde, doch ist ersteres am wahrscheinlichsten. Vgl. auch Knight, Erinnerungen (1973). 988 Kelsen Oestreicher, Times to remember (1977) 10, 11. 989 Anne Feder Lee, e-mail an den Verfasser v. 27. 2 . 2008. 990 Diese berufliche Umstellung könnte auch rechtliche Gründe haben, zumal Landarbeiter bevorzugt ein »quota-Visum« erhielten: General Information Concerning United States Immigration Laws, 1. 2 . 1938; ein Exemplar dieser 1938 gedruckten Broschüre befindet sich in: University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939. 991 Kelsen Oestreicher, Times to remember (1977) 10; http://www.univie.ac.at/kelsen/ family/11512_Ernest_Maria.html [Zugriff: 02. 05. 2019]. 992 Vgl. Henri Elfenbein, Schreiben an Hans Kelsen v. 6. 1. 1946, HKI, Nachlass Kelsen 16c3.60, er behauptet dort, offenbar irrtümlich, Kelsen habe an jenem Tag ein »Colleg über Föderalismus« gehalten. Zum Beginn des »Westfeldzuges« vgl. auch Stern, Staatsrecht V (2000) 871 f.; Evans, Das Dritte Reich III (2009) 161 ff. 993 Müller, Weltkrieg (2004) 76–81.
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
in jenen Tagen »in einem Gefühlszustand großer Nervosität« befunden hatte.994 Eile war dringend geboten, und die einzige Option, die sich Kelsen in dieser Situation bot, war die Annahme der Berufung an die New School for Social Research in New York. Er sendete ein Telegramm an Alvin Johnson und bat ihn, sein Angebot vom Vorjahr zu erneuern. Tatsächlich schickte Johnson am 21. Mai einen Brief an Kelsen, in dem er ihm neuerlich eine Professur für »Jurisprudence« an der New School anbot, befristet vom 1. Juli 1940 bis zum 30. Juni 1942, also für zwei Jahre, bei einem Jahresgehalt von US-$ 5.000,–.995 Am 28. Mai, dem Tag der Kapitulation der belgischen Armee,996 begleiteten Rudolf und Grete Métall das Ehepaar Kelsen zum Bahnhof in Genf, wo für lange Zeit Abschied voneinander genommen wurde. Die Fahrt ging zunächst zum US-Konsulat nach Zürich, wo Kelsen für sich und seine Frau zwei amerikanische Visa ausstellen ließ, was mithilfe des Einladungsschreibens von Johnson relativ problemlos war und daher innerhalb von drei Tagen erfolgte.997 »Von dort fuhren er und seine Gattin, nur mit dem allernotwendigsten Gepäck und einigen wenigen wichtigen Manuskripten, nach Locarno, wo sie das letzte Flugzeug nach Barcelona besteigen konnten«, berichtet Métall.998 Von Barcelona reisten die beiden wohl per Zug quer über die Iberische Halbinsel nach Lissabon, wo sie sich einschiffen wollten. Von Lissabon aus schrieb Kelsen am 5. Juni an Rappard nach Genf: »Es waren die schönsten Jahre meines akademischen Lebens. […] Sie wissen, lieber Herr Rappard, dass ich mich nirgends wohler, nirgends mehr zuhause fühle als in der geistigen Atmosphäre, die Sie, wie kein anderer, verstehen um sich zu schaffen.«999 In einem anderen Brief schrieb Kelsen aber auch, dass ihn die »Prager Erlebnisse« so sehr beängstigt hatten, dass für ihn angesichts des Herannahens der deutschen Truppen ein weiteres Verbleiben in der Schweiz unmöglich geworden war.1000 Eine Freundin der Familie, Valentine Piaget, die Gattin des Psychologen Jean Piaget,1001 übernahm die Liquidierung der Wohnung. Kelsens Manuskripte und Briefe wurden eingelagert; Métall berichtet, dass diese nach dem Krieg verloren gingen. Was die riesige Privatbibliothek Hans Kelsens betraf, so hatte Rappard zunächst
994 William R appard, Brief an Valentine Piaget v. 24. 6. 1930; William R appard, Brief an Hans Kelsen v. 4. 7. 1940, beide in: AHEI, Ordner Hans Kelsen correspondance en désordre. 995 Alvin Johnson, Schreiben an Hans Kelsen v. 21. 5. 1945, HKI, Nachlass Kelsen 15k.58. 996 Müller, Weltkrieg (2004) 81; Evans, Das Dritte Reich III (2009) 163 f. 997 Das »Manifest of Alien Passengers« der SS Washington gibt an, dass Hans und Grete Kelsen am 31. 5. 1940 von Zürich aufgebrochen waren. 998 Métall, Kelsen (1969) 76 f. 999 Hans Kelsen, Schreiben an William Rappard v. 5. 6. 1940, in: AHEI, Ordner Hans Kelsen correspondance en désordre. 1000 Hans Kelsen, Schreiben an William Rappard v. 23. 6. 1940, in: AHEI, Ordner Hans Kelsen correspondance en désordre. 1001 Über die Kontakte zwischen Hans Kelsen und dem seit 1921 an der Universität Genf tätigen Jean Piaget ist kaum etwas bekannt, doch sind wechselseitige Beeinflussungen in ihrem jeweiligen wissenschaftlichen Œuvre feststellbar: Pfersmann, Normenarten und Normerkenntnis (1997) 31.
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5. Kapitel: Zwischen Krieg und Frieden
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angeboten, den für ihn bzw. die Studierenden interessanten Teil zu übernehmen,1002 woraus allerdings nichts wurde. 1945 wurde die gesamte Bibliothek an ein Antiquariat verkauft, »da sich der Transport nach Kalifornien, wo Kelsen sich bereits endgültig niedergelassen hatte, als zu kostspielig erwies.«1003 Bei dem erwähnten Antiquariat handelte es sich offenbar um jenes von Hellmut Schumann in Zürich. Dieses veröffentlichte nämlich einen 100 Seiten starken Katalog der Kelsenschen Privatbibliothek, der sowohl fast alle von Kelsen bis dahin verfasste Schriften – von der »Staatslehre des Dante« 1905 bis zur »Parteidiktatur« 1937 – als auch eine riesige Menge an Zeitschriften, Büchern und Separata zu Rechtsphilosophie, Staatswissenschaften, Völkerrecht, Soziologie, Gesellschaftspolitik, Marxismus und vielen anderen Bereichen enthielt; nicht aufgelistet war die belletristische Literatur, die aber wohl auch auf diese oder ähnliche Weise veräußert worden war.1004 Der Aufenthalt von Hans und Grete Kelsen in Lissabon gestaltete sich länger, als ihnen lieb war: Die Stadt, die sich gerade auf eine (am 23. Juni 1940 eröffnete) »portugiesische Weltausstellung« vorbereitete, war zu jener Zeit das Ziel tausender Flüchtlinge aus ganz Europa. Ein Schiffsticket nach Übersee zu erlangen, war fast ein Ding der Unmöglichkeit.1005 Kelsen befürchtete schon, dass er nur über einen Umweg, womöglich über Brasilien, in die USA gelangen würde.1006 Doch erhielt er unerwartet Hilfe durch den damaligen Professor für Verwaltungsrecht an der Universität Lissabon, Marcelo das Neves Alves Caetano (1968–1974 letzter Ministerpräsident des sog. Estado Novo), dem es gelang, zwei der letzten Schiffspassagen für eine direkte Überfahrt in die Staaten für Hans und Grete Kelsen zu erwerben.1007 Das Schiff, auf dem sie in die Neue Welt emigrieren wollten, war die SS Washington, somit dasselbe Schiff, mit dem Hans Kelsen im September 1939 zurück nach Europa gekommen war. Der Luxusdampfer der United States Lines hatte in der Zwischenzeit seinen Linienverkehr New York – Genua infolge des Krieges eingestellt und war am 30. Mai zu einer letzten Fahrt Richtung Europa aufgebrochen, diesmal explizit, um Flüchtlinge nach Amerika zu bringen.1008 In Friedenszeiten hatten auf dem Schiff
1002 William
R appard, Schreiben an Valentine Piaget v. 24. 6. 1940, AHEI, Ordner Hans Kelsen correspondance en désordre. 1003 Métall, Kelsen (1969) 76. 1004 Eine 2012 von Mag. Gerhard Murauer (der auch den Bibliothekskatalog wiederentdeckt hat) gestellte Anfrage in die Schweiz ergab, dass die aufgelisteten Werke von vielen verschiedenen anderen Bibliotheken und Privatkunden aufgekauft wurden; Kelsens Bibliothek wurde also in alle Winde zerstreut. 1005 Vgl. den eindrucksvoll-bedrückenden Bericht des österreichischen Schriftstellers Friedrich Torberg, der nur wenige Monate nach Kelsen ebenfalls über Lissabon in die USA emigrierte: Torberg, Die Erben der Tante Jolesch (1978) 211–218. 1006 Hans Kelsen, Schreiben an William Rappard v. 5. 6. 1940, in: AHEI, Ordner Hans Kelsen correspondance en désordre. 1007 Dies zumindest erzählte Caetano viele Jahre später Herbert Schambeck, der es mir weiter berichtete: Herbert Schambeck, Interview mit dem Verfasser 21. 2 . 2007. 1008 http://www.maritimematters.com/washington-33.html [Zugriff: 06. 06. 2007].
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3. Teil: Köln – Genf – Prag
maximal 657 Passagiere und 475 Mann Besatzung Platz. Als die SS Washington am Abend des 10. Juni 1940 in Lissabon in See stach, befanden sich auf ihr eine Crew von 571 Mann und 1.020 Passagiere – darunter Hans und Grete Kelsen sowie auch die Eltern von Ernst Feder, Sali und Rosa Feder.1009 Vor allem aber traf Kelsen, wohl aus purem Zufall, am Schiff auch auf Tracy B. Kittredge, den Assistant Director der Social Sciences Division der Rockefeller Foundation.1010 Die Rockefeller Foundation hatte ja, als Geldgeber des IUHEI, schon seit 1933 Hans Kelsens Wirken in finanzieller Hinsicht abgesichert. Ab 1940 war Kittredge dann maßgeblich daran beteiligt, dass Kelsen fünf Jahre lang direkt von der Rockefeller Foundation unterstützt wurde, bis er endlich, 1945, eine ordentliche Professur in den Vereinigten Staaten erhielt. Das war angesichts von Kittredges schon oben beschriebener Haltung zu »Juden« und »Sozialdemokraten« alles andere als eine Selbstverständlichkeit.1011 Es ist möglich, dass auf der SS Washington die Grundlagen für eine persönliche Freundschaft gelegt wurden, die entscheidend für das materielle Überleben Kelsens war. Doch noch war es nicht soweit. Denn obwohl das Schiff schon jetzt überladen war, steuerte es noch einen weiteren europäischen Hafen, Galway in Irland, an, um weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Aber schon wenige Stunden, nachdem die SS Washington von Lissabon ausgelaufen war, schien es, als würde die Fahrt ein tragisches Ende nehmen: Am frühen Morgen des 11. Juni, noch kurz vor Sonnenaufgang – das Schiff hatte bereits die portugiesischen Hoheitsgewässer verlassen und befand sich rund 160 Seemeilen westlich von Kap Finisterre1012 –, wurde die SS Washington vom deutschen U-Boot U 101 gesichtet. Dieses kündigte durch Blinksignale an, dass es beabsichtige, das Schiff zu torpedieren, und gab der Mannschaft zehn Minuten (!) zur Evakuierung. Der Kapitän der SS Washington befahl, die Rettungsboote klar zu machen, signalisierte aber zugleich dem U-Boot, dass es sich bei seinem Dampfer um ein amerikanisches Schiff, also um das Schiff eines neutralen Staates, handle, bis vom U-Boot die etwas kryptische Nachricht kam, dass es sich offenbar um eine Verwechslung gehandelt habe und man weiterfahren solle.1013 Glücklich erreichte die SS Washington Galway, nahm dort weitere rund 300 Flüchtlinge auf und stach am 14. Juni – dem Tag, an dem
1009 Dieses Detail erzählte mir Anne Feder Lee bei einem privaten Zusammentreffen im September 2013. Ob das Ehepaar Feder gemeinsam mit dem Ehepaar Kelsen oder auf andere Weise von der Schweiz nach Portugal gekommen war, und ob auch sie Hilfe von Caetano bekamen, ist unbekannt. 1010 Hans Kelsen, Brief an William Rappard v. 23. 6. 1940, AHEI, Ordner Hans Kelsen correspondance en désordre. 1011 Vgl. oben 655. 1012 Die genaue Position war 42° 12’ Nord, 12° 50’ West. 1013 New York Times 12. 6. 1940, 1 u 6 (»Submarine Halts U. S. Refugee Liner«); vgl. auch http:// www.usmm.net/washington.html [Zugriff: 02. 05. 2019]. Der Zwischenfall sorgte in der amerikanischen Öffentlichkeit für beträchtliche Erregung; die deutsche Regierung entschuldigte sich einen Tag später damit, dass sie nicht gewusst habe, dass das Schiff nicht direkt nach Amerika, sondern zunächst nach Irland fahren würde. Die amerikanische Besatzung wurde mit Medaillen ausgezeichnet: New York Times v. 13. 6. 1940, 5; New York Times v. 27. 6. 1940, 18.
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5. Kapitel: Zwischen Krieg und Frieden
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Abb. 43: Mit der SS Washington erreichten Hans und Grete Kelsen im Juni 1940 New York.
Paris von den deutschen Truppen eingenommen wurde – erneut in See.1014 »Nach aufregender Fahrt langte Kelsen am 21. Juni 1940 in New York an, wo er im Alter von fast 60 Jahren in einem fremden Land, dessen Sprache er nur sehr unvollkommen beherrschte, seine akademische Laufbahn von vorne beginnen und sich zum vierten Mal ein neues Leben aufbauen mußte.«1015 Vorerst aber konnten Hans und Grete Kelsen glücklich sein, die gefahrenvolle Überfahrt überstanden zu haben. Noch am Tag seiner Ankunft schickte Kelsen ein Telegramm an Valentine Piaget, bezeichnenderweise bereits in der Sprache seiner neuen Heimat: »Happily arrived, Kelsen.«1016
1014 New York Times v. 15. 6. 1940, 6. Ich danke Anne Feder Lee für den Hinweis auf diesen und den zuvor genannten Zeitungsartikel. 1015 Métall, Kelsen (1969) 77. Vgl. auch die Certificates of Arrival of Hans Kelsen and Margarete Kelsen, 21. 6. 1945, beide Originale im Besitz von Anne Feder Lee, welche die Angaben Métalls zu Zeit und Ort der Ankunft von Hans und Grete Kelsen in den USA bestätigen. 1016 Zit. n. Busch/Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2015) 26.
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Vierter Teil
Amerika und die Welt
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Erstes Kapitel
Coming to America 1. Im »Big Apple« »In den Vereinigten Staaten wandelte sich der Emigrant zum Immigranten, der Umherirrende zum Einwanderer, der Flüchtling zum gleichberechtigten Bürger. Inwieweit das mit einem inneren Wandel verbunden war, ist hier schon aus Raum‑ und Strukturgründen nicht zu untersuchen, ganz abgesehen davon, daß eine solche Untersuchung sich auf die müßige Frage zuspitzen müßte, ob all diese deutschen, österreichischen, tschechoslowakischen und sonstigen von Hitler nach Amerika genötigten Europäer auch ohne Nötigung zu Amerikanern geworden wären. Sie sind’s geworden, und damit gut. Aber sie sind, ob sie wollten oder nicht – und viele, das muß redlicherweise gesagt sein, wollten nicht –, in einem je nachdem überdeckten oder offenen Teil ihres Wesens die Europäer geblieben, die sie ursprünglich waren.«1 Also sprach der österreichische Schriftsteller Friedrich Torberg, der 1938/40 über Prag, Zürich und Lissabon – mithin fast auf demselben Weg wie Hans und Grete Kelsen – in die Vereinigten Staaten emigrierte, allerdings nach dem Krieg, 1951, nach Wien zurückkehrte. Ob er während seines amerikanischen Exils auch die Kelsens kennengelernt hatte oder nicht – seine Darstellung traf jedenfalls auch recht gut die Situation der bei ihrer Ankunft immerhin schon 59 bzw. 50 Jahre alten Staatenlosen. Die Tschechoslowakei, deren Staatsbürgerschaft sie bei ihrer Einwanderung als die ihre angegeben hatten,2 existierte zu jener Zeit schon lange nicht mehr. Wohl auch aus diesem Grund erklärten Hans und Grete Kelsen im Mai 1941 vor den US-Behörden, dass sie dauerhaft in den USA bleiben und die US-Staatsbürgerschaft annehmen wollten, sobald die gesetzlichen Voraussetzungen (wie insbesondere ein zumindest fünfjähriger ununterbrochener Aufenthalt in den Staaten) gegeben seien.3 Kelsens Tochter Hannah berichtete später, dass ihre Eltern recht rasch und mit Freude »the American way of life« erlernten.4 Sichtbarstes Zeichen der Veränderung war, dass sich Hans Kelsen – nicht sofort, aber doch schon relativ bald nach seiner Einwanderung – den Oberlippenbart abrasierte, den er in Europa seit seiner Schulzeit 1 Torberg,
Die Tante Jolesch (1975) 279. or Manifest of Alien Passengers for the United States Immigrant Inspector at Port of Arrival, Port of New York, 21. 6. 1940, Kopie im Besitz von Anne Feder Lee. 3 Declaration of Intention [of becoming an American citizen] of Hans Kelsen and Margarete Kelsen, 24. 5. 1941, Kopie im Besitz von Anne Feder Lee. 4 Kelsen Oestreicher, My Parents in the United States (1977) 2. 2 List
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4. Teil: Amerika und die Welt
getragen hatte, der aber hier in Amerika furchtbar altmodisch wirkte. Eine ziemliche Umstellung musste es für Grete Kelsen sein, dass sie erstmals gezwungen war, ohne Hauspersonal auszukommen, dafür aber nun einen Kühlschrank, einen Geschirrspüler und andere elektrische Haushaltsgeräte zur Verfügung hatte, die in Europa noch weitgehend unbekannt waren. Kam aber Besuch aus Europa, so schickte Grete ihren Gatten in eine ganz bestimmte Konditorei, um dort eine Schwarzwälder Kirschtorte zu kaufen,5 offenbar, weil sie ihren Gästen keine amerikanischen Mehlspeisen zumuten wollte – für die meisten Wiener, die schon einmal in den USA waren, eine sicher nachvollziehbare Entscheidung. Vor allem aber mussten Hans und Grete Kelsen so rasch wie möglich die englische Sprache erlernen – nach dem Bericht ihrer Tochter Hannah bereitete es Hans Kelsen sogar regelrechte Freude, dazu praktisch gezwungen zu sein,6 und viele Jahre später erklärte Kelsen, dass er wohl niemals weltweit so bekannt geworden wäre, hätte er weiter nur auf Deutsch publiziert.7 Vermutlich hatte er seine bislang doch sehr bescheidenen Englisch-Kenntnisse schon in den letzten Monaten in der Schweiz, so gut es ging, aufgebessert. Nichtsdestoweniger verfasste er in seinen ersten Jahren in den Vereinigten Staaten seine Manuskripte noch immer auf Deutsch und ließ sie von Dritten übersetzen; große Mühen bereiteten ihm zunächst auch die Lehrveranstaltungen in englischer Sprache. Zuhause, mit seiner Frau, sprach er weiter nur Deutsch, mit seinen Töchtern, als er sie wiedersah, teils Deutsch, teils Englisch, mit seinen Enkelkindern aber stets Englisch.8 Nach ihrer Ankunft in New York nahm das Ehepaar Kelsen zunächst im eleganten Great Northern Hotel in der 57. Straße, unweit des Central Park, Quartier.9 Von dort aus berichtete Kelsen Rappard per Brief von den großen Schwierigkeiten, »irgendeine Stellung zu finden, da die Budgets der amerikanischen Hochschulen erheblich eingeschränkt wurden.« Derzeit besitze er nur das Angebot der New School, einen einstündigen Kurs zum Thema »Sociology of the Belief in the Soul« zu halten, also zu jenem Thema, an dem er weiterhin arbeitete, allerdings nur »honoris causa«, also offenbar ohne Entgelt.10 Daraus ist zu schließen, dass das Einladungsschreiben von 5 Dies
berichtet der nachmalige Präsident der Stanford University Gerhard Casper, der 1964– 1966 Politikwissenschaften an der UC Berkeley unterrichtete, dort über die damalige Studentin Anne Feder Lee auch deren Großeltern, Hans und Grete Kelsen, kennenlernte und in weiterer Folge oft zu Gast bei ihnen war. Die ominöse Konditorei soll in der Telegraph Avenue gewesen sein: Gerhard Casper, Interview v. 16. 9. 2013. 6 Kelsen Oestreicher, My Parents in the United States (1977) 2. 7 Hans Kelsen, Interview mit Irmgard Bach, Juni 1958. 8 Anne Feder Lee, Interview v. 15. 10. 2006. 9 Métall, Kelsen (1969) 77, schreibt, dass ein dauernder Aufenthalt in der Metropole mit ihren hohen Lebenshaltungskosten für das Ehepaar nicht in Frage kam. Dem kann entgegengehalten werden, dass die Kelsens ja nicht ein derart teures Hotel nehmen hätten müssen. 10 Hans Kelsen, Brief an William Rappard v. 27. 7. 1940, zit. n. Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2004) 179. Diesen Umstand übersieht Feichtinger, Wissenschaft zwischen den Kulturen (2001) 217, wenn er meint, dass Kelsen das Angebot der New School nur deswegen ausschlug, weil er eine dauerhafte Anstellung wollte.
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1. Kapitel: Coming to America
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Alvin Johnson, in dem Kelsen ein Jahresgehalt von $ 5.000,– versprochen worden war, nur dazu gedient hatte, Kelsen ein Visum zu verschaffen, dass aber Johnson offenbar in Wirklichkeit nicht das Geld hatte, um Kelsen anzustellen, und Kelsen das auch von Anfang an bewusst gewesen war! Dazu passt, dass gegenüber Dritten, wie etwa gegenüber der Rockefeller Foundation, in weiterer Folge stets behauptet wurde, Kelsen sei (lediglich) in die USA gekommen, um die Übersetzung einiger seiner Werke ins Englische zu supervidieren,11 die Einladung an die New School for Social Research also nirgends erwähnt wurde! Die Rockefeller Foundation, das musste Kelsen in jenen Tagen immer deutlicher spüren, war der Schlüssel zu seinem materiellen Überleben in der Neuen Welt.12 Wie unermesslich groß und mächtig das dahinterstehende Imperium des Ölmagnaten John D. Rockefeller Jr. war, wurde ihm vor Augen geführt, wenn er das wenige Blocks von seinem Hotel entfernte, aus 15 Hochhäusern bestehende Rockefeller Center besichtigte, für dessen Errichtung ein ganzer Stadtteil abgerissen und 4.000 Menschen ausquartiert worden waren, und wo zu jener Zeit auch die Rockefeller Foundation arbeitete. Als Kelsen nach New York kam, war der 1930 im Stil des Art Deco begonnene Bau noch nicht ganz vollendet – und hatte doch schon einen veritablen Kunstskandal aufzuweisen. Der mexikanische Maler Diego Rivera hatte nämlich 1933 den Auftrag erhalten, ein Gemälde für die Lobby des Rockefeller Center zu malen, das den Titel »Der Mensch am Scheideweg, hoffnungsvoll in eine bessere Zukunft blickend« tragen sollte. Er kam dem Auftrag nach, indem er Lenin, die Hände von Arbeitern unterschiedlicher Hautfarbe zusammenfügend, malte. Riveras Auftraggeber zeigte sich wenig erfreut über das Bild, es wurde sofort nach der Enthüllung wieder abgedeckt und wenig später zerstört.13 John D. Rockefeller Jr. war ein Philanthrop, aber kein Sozialist und schon gar kein Idiot. Die Rockefeller Foundation achtete sehr sorgsam darauf, wer von den vielen exilierten Wissenschaftlern, die aus Europa in die USA kamen, ihre Unterstützung erhielt.14 Die Auswahl war mit großen Schwierigkeiten verbunden und erfolgte letztlich in einer – rückblickend – nur schwer nachvollziehbaren Weise. Sie erklärt sich aber wenigstens zum Teil daraus, dass die Emigration der europäischen Intelligenz nicht mit einem Mal, sondern in immer wiederkehrenden, unterschiedlich großen Schüben erfolgte, sodass jedesmal neu kalkuliert werden musste und nur schwer nachkorrigiert werden konnte.15 Erschien der Kandidat förderungswürdig, so finanzierte die Foundation üblicherweise die Hälfte seines Gehaltes, maximal jedoch $ 2.000,– pro Jahr 11 Vgl. etwa die Antragsbegründung von RA SS 4111, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4089. 12 Dazu eingehend Feichtinger, Transatlantische Vernetzungen (2009) 333. 13 Souter, Diego Rivera (2012) 210–215. 14 Gemelli, The Unacceptables (2000); Fleck, Transatlantische Bereicherungen (2007) 80 ff.; Lepsius, Kelsen und der Nationalsozialismus (2009) 282; Feichtinger, Transatlantische Vernetzungen (2009) 315–322. 15 Fleck, Etablierung (2015) 184.
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4. Teil: Amerika und die Welt
für die Dauer von maximal drei Jahren,16 manchmal auch gestaffelt (etwa 3.000 im ersten, 2.000 im zweiten und 1.000 im dritten Jahr), all dies jedoch nur, wenn die Universität eine permanente Anstellung bot und die volle Finanzierung nach dem dritten Jahr garantierte.17 So musste Kelsen sich darum bemühen, eine derartige permanente Anstellung an einer US-amerikanischen Universität zu erhalten. Schon zwei Tage nach seiner Ankunft in New York, am 23. Juni, schrieb er einen Brief an Roscoe Pound, in welchem er ihm von seiner Flucht berichtete und dass er gerne nach Harvard kommen würde, um in der dortigen Bibliothek zu arbeiten.18 Pound schrieb sofort zurück, und sie verabredeten sich für den 2. Juli in Harvard.19 Über den Inhalt des Gesprächs, das Pound und Kelsen an jenem Tag führten, können wir nur Vermutungen anstellen. Wahrscheinlich riet Pound Kelsen, sich direkt an den Dekan der Harvard Law School zu wenden, um seine Situation mit ihm zu besprechen. Denn Pound hatte das Amt des Dekans nach zehn Jahren Amtszeit abgegeben, sein Nachfolger war James M. Landis, ein Schüler von Felix Frankfurter. Kelsen suchte Landis also auf und erzählte ihm u. a., dass die Rockefeller Foundation einen Teil seines Gehaltes zahlen würde, sollte er in Harvard eine Anstellung bekommen. Landis kontaktierte daraufhin die Rockefeller Foundation, um sich näher zu erkundigen, und erklärte, dass er prinzipiell an einer Anstellung Kelsens interessiert wäre.20 Die Rockefeller Foundation antwortete, dass sie nicht im Vorhinein eine fixe Zusage machen könne, sondern jeden einzelnen Antrag genau prüfen müsse; angesichts der außerordentlichen wissenschaftlichen Bedeutung Kelsens werde sie aber einem etwaigen Antrag sehr wohlwollend gegenüberstehen. Doch sollte die Universität zumindest 60 % des Gehaltes für Kelsen aus anderen Quellen auftreiben.21 Die Harvard University ergriff nun diese Gelegenheit beim Schopf, um die Möglichkeit, Drittmittel zu akquirieren und einen bedeutenden ausländischen Gelehrten für die Universität zu gewinnen, mit der Möglichkeit, einen ihrer ganz großen Alumni postum zu ehren, zu kombinieren: Am 6. März 1935 war mit Oliver Wendell 16 Laut https://www.eurologisch.at/docroot/waehrungsrechner/#/ [Abfrage vom 27. 11. 2019] entspricht dies einer Kaufkraft von heute (2019) ca. € 27.354,32. 17 Stacy May (RF), Brief an Harold Laski v. 19. 4. 1938, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4089. 18 Hans Kelsen, Brief an Roscoe Pound v. 23. 6. 1940, in: Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7. 19 Roscoe Pound, Brief an Hans Kelsen v. 25. 6. 1940 und Antwortschreiben v. 27. 6. 1940, beide in: Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7. 20 James M. Landis (Harvard University), Schreiben an Raymond B. Fosdick (Rockefeller Foundation) v. 15. 7. 1940, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4089. 21 Raymond B. Fosdick (Rockefeller Foundation), Schreiben an James M. Landis (Harvard University) v. 19. 7. 1940, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4089. Nachträglich wurde Landis noch auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, um Geld bei Alvin Johnson anzusuchen, der ja einen Fonds für vertriebene Wissenschaftler geschaffen habe: Joseph H. Willits (RF), Schreiben an James M. Landis (Harvard University) v. 7. 8. 1940, a. a. O.
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Holmes Jr. einer der bedeutendsten Juristen der Vereinigten Staaten verstorben und hatte der Harvard University ein Legat hinterlassen. Holmes hatte an der Harvard Law School studiert und einige Zeit auch gelehrt, dann aber fast dreißig Jahre lang (1902–1932) als Richter am US-Supreme Court dessen Rechtsprechung beeinflusst wie kaum ein anderer.22 Ihm zu Ehren richtete die Harvard Corporation, das oberste Leitungsorgan der Universität mit dem Präsidenten an der Spitze, die – bis heute existierenden – »Oliver Wendell Holmes Lectures« ein, die nicht öfter als einmal in drei Jahren gehalten werden sollten. Das Holmes’sche Legat sollte für ein Vortragshonorar wie auch für die Kosten einer Publikation der Vorträge verwendet werden. Die Vortragenden sollten auf Vorschlag der Law School von der Corporation ernannt werden, und gemäß dieser neuen Richtlinien erhielt Hans Kelsen die Einladung, die erste dieser Holmes Lectures zu übernehmen.23 Über die Finanzierung der neuen Lectureship wurde noch länger zwischen der Universität und der Rockefeller Foundation verhandelt. Letztlich steuerte Harvard $ 2.500,– und die Rockefeller Foundation $ 1.500,– bei, sodass sich das gesamte Jahresgehalt von Kelsen auf $ 4.000,– belief.24 (Zum Vergleich: die Studiengebühr an der Harvard University betrug zu jener Zeit $ 400,–.25) Die Rockefeller Foundation zahlte also etwas weniger als die Hälfte von Kelsens Gehalt, dennoch stellte ihre Förderung eine deutliche Bevorzugung Kelsens gegenüber anderen exilierten Juristen dar: Hatte doch Harvard Kelsen lediglich für ein Jahr angestellt, ohne eine Garantie für die Folgezeit abzugeben!26 Kelsen aber schien ob dieses Erfolges nicht in Sorge über sein Schicksal nach 1941 zu sein. Voller Freude berichtete er Rappard von seiner Ernennung und bezeichnete es als eine hohe Auszeichnung, dass er als erster eine Vorlesung, die den Namen dieses berühmten Juristen trage, halten dürfe. »Es sind nur vier bis sechs Vorlesungen 22 Geb. Boston/MA 8. 3. 1841, gest. Washington D. C. 6. 3. 1935, vgl. Birgit Schäfer, Holmes Oliver Wendell, in: Stolleis, Juristen (1995) 288–290. Die Bedeutung von Holmes für die amerikanische Jurisprudenz wird u. a. daran deutlich, dass jenes Gebäude der UC Berkeley, das die juristische Fakultät beherbergt, Boalt Hall, an der Westfassade eine Granittafel mit einem Zitat von Holmes trägt; vgl. Helfand, Berkeley (2002) 243. Zu erwähnen ist auch, dass ein Schüler Kelsens, Otto Bondy, mit Holmes in Kontakt gestanden war und dieser dessen – erfolglose – Bemühungen um ein Rockefeller Stipendium unterstützt hatte: Zavadil, Bondy (2008) 54 f. 23 James M. Landis (Harvard University), Schreiben an Joseph H. Willits (Rockefeller Foundation) v. 1. 10. 1940, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4089. Vgl. ferner den kurzen Erläuterungstext zu den Oliver Wendell Holmes Lectures bei Kelsen, Law and Peace (1942) V. Die formelle Ernennung durch die Harvard Corporation erfolgte erst am 30. 9. 1941, rückwirkend zum 1. 9. 1941: Jerome D. Green (Secretary of the Harvard Corporation), Ernennungsschreiben, undatiert [30. 9. 1941], in: HKI, Nachlass Kelsen 15o.58. Aus diesem Grund tauchte Kelsens Name auch nicht im Vorlesungsverzeichnis für 1940/41 auf. 24 James M. Landis (Harvard University), Schreiben an Joseph H. Willits (RF) v. 21. 8. 1940 und vom 29. 8. 1940, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4089; Aktenvermerk der Rockefeller Foundation v. 27. 3. 1941, a. a. O.; RA SS 4050, a. a. O. 25 Official Register of Harvard University The Law School XXXVIII (Cambridge/MA 1941) 41. 26 So spricht Cadore, »Good-bye to all that«? (2018) 256, von einem »privilegierte[n] Zugang [Kelsens] zu Anschubfinanzierungen über Förderinstitutionen wie der Rockefeller Foundation«.
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4. Teil: Amerika und die Welt
im Laufe eines Jahres, und zwar über ein von mir zu wählendes rechtstheoretisches Thema. Ich habe also reichlich Zeit, meine wissenschaftlichen Arbeiten fortzuführen und vor allen Dingen das Buch über die Soziologie des Seelenglaubens zu vollenden, an dem ich so viele Jahre arbeite.«27
2. Als Gastprofessor in Harvard a) Cambridge, Middlesex, Massachusetts Für kontinentaleuropäische Universitäten, wie etwa Wien oder Prag, ist es typisch, dass sie sich in den jeweiligen Stadtzentren, dicht an dicht mit Regierungsgebäuden und Banken, mit Kaufhäusern, Museen und Theatern befinden, zumal diese Städte zumeist nicht nur das wissenschaftliche, sondern auch das politische, kulturelle und wirtschaftliche Zentrum der jeweiligen Region oder des jeweiligen Landes sind. Anders waren und sind die Verhältnisse in den USA, wo die offiziellen Hauptstädte der Bundesstaaten, wie etwa Albany/NY oder Sacramento/CA, in der Regel kein solches Zentrum bilden und sich auch die meisten Spitzenuniversitäten, wie Stanford/CA oder Princeton/NJ, fernab der großen Ballungszentren, auf offenem Feld (lat. campus), befinden. Eine gewisse Ausnahme bildet hier vor allem Boston/MA, jene an der Mündung des Charles River in den Atlantik gelegene, vielleicht europäischste Stadt unter den Metropolen der Vereinigten Staaten. Bereits 1630 von puritanischen Einwanderern gegründet, hat sie sich sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht (insbesondere durch ihre zahlreichen Geldinstitute) wie auch auf kulturellem Gebiet (Boston Symphony Orchestra!) international einen Namen gemacht und ist zugleich die Hauptstadt des kleinen, aber bevölkerungsreichen Bundesstaates Massachusetts, wie Boston auch schon vor Gründung der USA der Gouverneurssitz der damaligen britischen Massachusetts Bay Kolonie war. Als allerdings wenige Jahre nach der Gründung Bostons, 1636, auch ein College errichtet werden sollte, wählten die Gründerväter nicht ein Areal im Stadtgebiet, sondern eines auf der anderen Seite des Charles River, im County of Middlesex, als Standort für ihren Campus. Die kleine Siedlung, die hier bereits existierte, wurde zu Ehren der englischen Cambridge University in Cambridge umbenannt. Das College selbst aber, aus dem 1780 die heutige Universität hervorging, erhielt den Namen eines seiner Gründerväter, des puritanischen Theologen John Harvard (1607–1638).28 So hat Amerikas älteste Universität, die zu den führenden der Welt zählt, ihren Sitz bis heute nicht in einer Millionenstadt, sondern in Cambridge/MA, das zu der Zeit, 27 Hans Kelsen, Brief an William Rappard v. 19. 9. 1940, zit. n. Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2004) 179. 28 Diese Namensgleichheit sorgt freilich bis heute immer wieder zu Verwechslungen. Es verdient an dieser Stelle hervorgehoben zu werden, dass selbst ein FBI-Akt zu Hans Kelsen einmal festhielt, dass dieser im August 1940 in »Cambridge in England« gewesen sei: FBI-File Kelsen, Cleveland-Report v. 23. 1 2. 1954, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches.
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als Kelsen hier lehrte, mit rund 115.000 Einwohnern etwas kleiner als Genf war (und heute sogar noch weniger Einwohner als damals aufweist). Doch war Cambridge vom Stadtzentrum Bostons, wie gesagt, nur durch einen Fluss getrennt, und über diesen führten zahlreiche Brücken, sodass die beiden Städte schon rasch zusammenwuchsen. Einzelne Teile der Universität, wie insbesondere 1810 die medizinische Fakultät, wurden sogar von Cambridge nach Boston verlegt – und umgekehrt, 1916, das (nicht zu Harvard zählende) Massachusetts Institute of Technology (MIT) von Boston nach Cambridge. So ist es wohl sachgerechter, wenn man davon spricht, dass sich Harvard und das MIT in einer Metropolregion befinden, die aus Boston und einer Reihe von sie umgebenden Städten besteht und die oft einfach als »Greater Boston« bezeichnet wird. Von kontinentaleuropäischen Universitäten unterscheidet sich das äußere Erscheinungsbild Harvards aber dennoch durch den Umstand, dass sich seine Gebäude auf einem Campus befinden, der heute wie eine grüne Insel aus dem Häusermeer von Greater Boston herausragt. Er wurde zwar nach dem Vorbild des Campus von Cambridge in England geschaffen, doch ist die Bauweise in Harvard lockerer gegenüber den strengen Rechtecken, nach denen die Gebäude der englischen Universität angeordnet sind, und Laubbäume geben dem Harvard Campus einen naturbelasseneren Eindruck als der für Cambridge in England so typische englische Rasen. Historisches Zentrum des Harvard Campus ist der ca. 91.000 m2 (22,4 acres) große »Yard«, wo die 1915 eingeweihte Widener Library, eine der größten Bibliotheken der Welt, und die 1932 errichtete Memorial Church einander gegenüberstehen.29 Hans und Margarete Kelsen nahmen sich in Cambridge eine Wohnung mit der Adresse 20 Prescott Street.30 Diese lag in unmittelbarer Nähe des Campus, auf halbem Wege zwischen der Widener Library (die Kelsen für seine Arbeiten ständig benützte) und der (nicht zu Harvard zählenden) öffentlichen Bibliothek der Stadt Cambridge. Schon bald gelang es den Kelsens auch hier, einen neuen Freundeskreis aufzubauen. Erster privater Kontakt war für sie wohl Hanns Sachs, der seit 1932 in Boston lebte und bei dem Kelsen schon 1936 bei seinem damaligen Harvard-Aufenthalt übernachtet hatte.31 Wie bereits erwähnt, war Sachs Jurist, doch hatte ihn sein Beruf nicht befriedigt, weshalb er sich der Psychoanalyse zugewandt hatte.32 Schon früh hatte Sachs die Gefahr des aufkommenden Faschismus erkannt und war nach Amerika ausgewandert, wo er weiter als Psychoanalytiker arbeitete und ab 1939 die Zeitschrift »American Imago« herausgab. Über Sachs lernten die Kelsens in Boston u. a. das Wiener Ärztepaar Richard und Helene Hoffmann kennen, das 1938 gemeinsam mit 29 Vgl. die zeitgenössische Beschreibung des Harvard Yard in Nature, 17. 10. 1936, 667–670: »The Harvard Tercentenary Celebrations«. 30 Die Adresse geht hervor u. a. aus der Declaration of Intention [of becoming an Ameriacn citizen] of Hans Kelsen and Margarete Kelsen, 24. 5. 1941, beide Originale im Besitz von Anne Feder Lee. 31 Harvard Pusey Library, UA V 827.114, Box 11, Folder: General. Die Adresse von Hanns Sachs in Boston war 168 Marlborough Street. 32 Hans Kelsen, Interview mit Kurt Eissler v. 19. 1 2. 1953.
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der damals 14-jährigen Tochter Ruth und dem 10-jährigen Sohn Alexander aus Wien geflohen war. Alexander (»Sascha«) Hoffmann, der später in Berkeley studierte und als Anwalt u. a. einer Reihe von Bürgerrechtsaktivisten juristisch beistand, blieb sein Leben lang mit Hans und Grete Kelsen in enger Freundschaft verbunden.33 Auch das Wiedersehen mit dem 1938 emigrierten Psychoanalytiker Richard Sterba erfolgte wohl durch Kelsens Kontakt zu Sachs; Kelsen hatte ihn schon vor 1930 in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung kennengelernt. Sterba berichtet, er habe sich einmal gegenüber Kelsen beklagt, dass er »keinen wissenschaftlichen Kopf« habe, um »›viele Stunden in Bibliotheken zu sitzen und Referenzen nachzuschlagen.‹ Worauf [Kelsen] sagte: ›Sie können nicht sagen, Sie hätten keinen wissenschaftlichen Kopf; was Ihnen fehlt, ist ein wissenschaftlicher Popo.‹«34 Vor allem aber traf Kelsen hier, auf der anderen Seite des Atlantiks, auch einige seiner ehemaligen Schüler, so insbesondere Leo Gross, der seit 1941 als lecturer an der Fletcher School of Law and Diplomacy arbeitete.35 Bei dieser Einrichtung handelte es sich um eine von der Harvard University und der Tufts University gemeinsam betriebene Graduiertenschule, die ihren Sitz in Medford in Greater Boston, wenige Kilometer nördlich von Harvard, hatte. 1944–1974 wirkte Gross hier als full professor und wurde so zu einem der wichtigsten wissenschaftlichen Kontakte für Hans Kelsen in den USA, u. a. lud er 1950 »Onkel Hans«36 zu Vorlesungen an die Fletcher School ein. Weniger Erfolg in der Neuen Welt hatte Georg Fleischer, der sich 1933/34 vergeblich um eine Aussöhnung zwischen Sozialdemokraten und Christlichsozialen bemüht hatte37 und 1938 mit seiner Frau Friederike in die USA immigriert war. Über Fleischers Kontakte mit Kelsen in den USA existieren keine direkten Quellen, doch erhielt er vom Harvard Bureau of International Research eine Förderung für eine wissenschaftliche Studie über »The history of the idea of perpetual peace [Die Geschichte der Idee vom ewigen Frieden]« – eine Arbeit, die offenbar von Kelsens eigenen Forschungen zu diesem Thema inspiriert gewesen sein dürfte. Fleischer konnte sich in den USA niemals eingewöhnen, 1945 kehrte er als Mitarbeiter der US-Hochkommission für Deutschland nach Europa zurück, reiste aber vermutlich auch danach immer wieder in die Vereinigten Staaten; im Juli 1953 starb er in Washington D. C. an den Folgen eines Herzanfalls.38 Am bedeutsamsten aber war wohl das Wiedersehen Kelsens mit Henda Silberpfennig, die einst sein Seminar in der Wiener Wickenburggasse besucht hatte, und der er zehn Jahre später, in Cambridge, buchstäblich auf der Straße wieder begegnete.39 Silberpfennig, 1906 in Krakau [Kraków/PL] geboren, hatte ab 1924 zunächst die 33 Alexander
Hoffmann, Interview v. 5. 7. 2007. Erinnerungen (1985) 77. 35 Kammerhofer, Gross (2008) 117. 36 Vgl. oben 557. 37 Vgl. oben 656. 38 Jabloner, Fleischer (2008) 102, 104. 39 Silving, Memoirs (1988) 262. 34 Sterba,
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Staatswissenschaften an der Universität Wien studiert und 1928 den Dr.rer.pol., 1936, nach Absolvierung des juristischen Studiums, auch den JDr. erworben.40 1938 gelang ihr die Emigration in die USA, während ihre Eltern ermordet wurden. Zunächst hatte sie Schwierigkeiten, eine Anstellung zu erhalten; Kelsen jedoch machte sie zur general assistant an der Harvard University und teilte mit ihr sein Arbeitszimmer in Langdell Hall, einem Gebäude der Harvard Law School, wo sie bis zu acht Stunden täglich zusammenarbeiteten. Wie eng das Verhältnis zwischen Kelsen und seiner Schülerin war, wurde u. a. daran deutlich, dass sie auf seine Empfehlung hin ihren Namen amerikanisierte und sich fortan »Helen Silving« nannte.41 In Harvard lernte sie auch den jungen Rechtsphilosophen Lon L. Fuller42 kennen, der zwar die Rechtslehre Kelsens zutiefst ablehnte, aber offenbar Silving gewogen war und ihr empfahl, noch einmal die Rechtswissenschaften zu studieren, weil ihr ganzes in Europa erworbenes Wissen in den USA unbrauchbar sei.43 Dies tat Silving auch, allerdings, da Frauen in Harvard zu jener Zeit noch nicht zugelassen waren, an der Columbia University in New York, weshalb die Zusammenarbeit mit Kelsen 1942, noch kurz vor dessen eigenem Weggang aus Harvard endete, doch blieb sie mit ihrem Lehrer in ständigem Briefkontakt. 1956–1976 lehrte Helen Silving Jurisprudenz an der Universität von Puerto Rico; sie starb 1993 in San Diego/CA.44 Nur kurz kann an dieser Stelle auf das Schicksal jener Schüler Kelsens eingegangen werden, die ebenfalls aufgrund rassistischer oder politischer Verfolgung zur Emigration gezwungen waren, den Kontakt mit Kelsen aber – zumindest bis Kriegsende – kaum oder gar nicht aufrecht halten konnten. So überquerte Rudolf Métall schon wenige Wochen nach Kelsen den Atlantik, allerdings nicht in Richtung USA, sondern mit Kurs Brasilien, wo er technischer Berater der dortigen Regierung in Fragen der Sozialversicherung und 1941 auch Generalsekretär der österreichischen (!) Interessenvertretung in Brasilien wurde.45 1945 kehrte Métall nach Genf zurück und war dort erneut für die ILO – von der er 1940 nur beurlaubt worden war – tätig. Dort machte sich er sich insbesondere um die Wiederaufnahme Österreichs in die ILO 1947 verdient.46 Schon vor Kelsen und Métall, 1938, war Hans Herz in die Vereinigten Staaten gekommen; er nannte sich nunmehr John Herz. Im Gegensatz zu Kelsen gelang es ihm, eine Stellung am Institute for Advanced Study in Princeton zu erhalten; er unterrichtete an verschiedenen Universitäten und wurde 1945 Senior Research Officer im US State Department. 1948 kehrte er zur universitären Lehre zurück und wurde
40 Röwekamp,
Silving (2008) 488; Yael Paz, A Forgotten Kelsenian? (2014) 1134. Silving (2008) 489; Yael Paz, A Forgotten Kelsenian? (2014) 1143. 42 Geb. Hereford/TX 15. 7. 1902, gest. 8. 4. 1978; führender Vertreter der »Legal Process School«, vgl. zu dieser Fisher, Legal Theory (2008) 40–42. 43 Silving, Memoirs (1988) 269 f. 44 Röwekamp, Silving (2008) 491. 45 Bersier Ladavac, Métall (2008) 316. 46 Bersier Ladavac, Métall (2008) 316. 41 Röwekamp,
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Professor an der Howard University in Washington D. C., später am City College in New York. Er starb 2005.47 Hans Aufricht, der so wie Silving nach dem Weggang Kelsens aus Wien zusätzlich zu seinem staatswissenschaftlichen auch ein rechtswissenschaftliches Studium absolviert hatte, emigrierte 1939 in die Vereinigten Staaten. Hier war er zunächst Gastlehrer am Carlton College in Minneapolis, ab 1942 an der New York University. 1943/44 unterrichtete er, ähnlich wie Kelsen, im Rahmen eines Trainingsprogramms der Armee an der Cornell University. Von 1947 bis zu seiner Pensionierung 1967 war Aufricht für die UNESCO tätig.48 Julius Kraft lehrte ab 1939 an der University of Rochester/NY, 1945 wechselte er an die New York University, 1950 an das Washington and Jefferson College in Washington D. C. Er kehrte 1954 nach Europa zurück und nahm 1957 eine Professur für Soziologie an der Universität Frankfurt an. 1960 starb er auf einer Forschungsreise in den Vereinigten Staaten.49 Seine Frau, Margit Kraft-Fuchs, blieb dagegen in Amerika und wurde 1956 Leiterin der Paul Klapper Library am Queens College der City University in New York, wo sie hochbetagt erst 1994 starb.50 Den weitesten Emigrationsweg nahm Otto Bondy, der nach dem »Anschluß« seine Stellung als Rechtsanwalt verloren hatte: Er floh im Jänner 1939 nach Australien, wo er allerdings zunächst als »enemy alien« galt. Später jedoch konnte er in »Down Under« an seine juristische Karriere anknüpfen und verfasste 1951 auch einen Aufsatz über »Logical and Epistemological Problems in Legal Philosophy«, den er Hans Kelsen zu dessen 70. Geburtstag widmete. Später wurde Bondy Präsident der Aus tralischen Gesellschaft für Rechtsphilosophie und internationaler Korrespondent des Hans Kelsen-Instituts, in welcher Funktion er einen Aufsatz über die Stellung der Reinen Rechtslehre in Australien verfasste.51 Er starb 1976.52 Der »Kreis um Kelsen« war somit durch die politischen Ereignisse in alle Winde verstreut worden. Zwar hielten einige seine Mitglieder noch losen Briefkontakt zu Kelsen, nur wenige von ihnen aber, wie etwa Aufricht, beschäftigten sich weiter mit Rechtstheorie. Im Sommer 1940 schrieb Ernst Karl Winter an Kelsen; er hatte ein »Austro-American Center« gegründet und lud seinen ehemaligen Lehrer zum Beitritt ein. Dieser aber lehnte ab, »weil ich mich grundsätzlich von aller Politik fernhalten möchte. Zunächst weil ich überhaupt kein politischer Mensch bin, und dann, weil ich glaube, meiner Abstammung wegen besonders zurückhaltend sein zu müssen.«53
47 Donhauser,
Herz (2008) 145 f. Aufricht (2008) 25 f. 49 Donhauser, Kraft (2008) 218. 50 Stolleis, Kraft-Fuchs (2008) 232. 51 Bondy, Australien (1978). 52 Zavadil, Bondy (2008) 55–58. 53 Hans Kelsen, Schreiben an Ernst Karl Winter vom 25. 9. 1940, in: Eppel, Österreicher im Exil II (1995) 315. 48 Schramm,
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b) »Law and Peace in International Relations« Kelsen kam seinen Verpflichtungen aus der Oliver Wendell Holmes Lectureship nach, indem er im März 1941 sechs Vorträge zum Thema »Law and Peace in International Relations [Recht und Frieden in den internationalen Beziehungen]« hielt. Eine Schriftfassung dieser Vorlesungen wurde 1942 in der Harvard University Press veröffentlicht, wobei er – offenbar vor allem sprachliche – Unterstützung durch die Völkerrechtlerin Eleanor W. Allen54 erhielt; dennoch war der Text an einigen Stellen sprachlich holprig.55 In der ersten dieser Vorlesungen, betitelt, »The Concept of Law«56, erläuterte Kelsen Grundbegriffe der Reinen Rechtslehre (ohne den Begriff der »Pure Theory« zu verwenden). Der Wissenschaftler müsse das Recht wertfrei betrachten; er wolle sowohl eine demokratische, liberale Ordnung als Rechtsordnung auffassen als auch die Ordnungen Russlands, Deutschlands oder Italiens. Jedenfalls aber sei das Recht eine Zwangsordnung und könne den Frieden nur insoweit gewährleisten, als es die Ausübung von Zwang regelt und insbesondere monopolisiert.57 In seiner zweiten Vorlesung, »The Nature of International Law«, ging er der Frage nach, ob dieses Konzept auch auf das Völkerrecht anwendbar sei. Er bejahte diese Frage mit Einschränkungen und bezeichnete das Völkerrecht als eine »primitive« Rechtsordnung, wo es noch an zentralisierten Organen fehlte. Ausführlich ging er auf die Geschichte der »bellum iustum«-Theorie ein und erklärte, dass auch der Kellogg-Pakt den Krieg nur als ein Mittel nationaler Politik, nicht als Reaktion auf ein Völkerrechtsdelikt verbiete.58 In der dritten Vorlesung, »International Law and the State« kam Kelsen auf den Dualismus von Recht und Staat zu sprechen und erläuterte das Souveränitätsdogma, das den Grund für die traditionelle Unterscheidung zwischen internationalem und nationalem Recht darstelle. Stets aber sei das Recht eine Ordnung, die das Verhalten von Menschen regle. Die schwächste seiner Harvard-Vorlesungen war die vierte, »The Technique of International Law«, in der er in völlig unorigineller Art und Weise die Unterschei54 Eleanor
Wyllys Allen, geb. Boston 1893, gest. 1980, hatte 1933 eine Monographie zur Stellung von Staaten in der Rechtsprechung ausländischer, nationaler Gerichte, verfasst: Allen, The Position of Foreign States (1933). Beruflich war sie lange Zeit in der Bibliothek der Harvard Law School tätig, unterrichtete aber auch in Harvard und an anderen Hochschulen; 1974 erhielt sie ein Ehrendoktorat des Bowdoin College in Maine, vgl. Goulka, The Grand Old Man (2004); https://library. bowdoin.edu/arch/college-history-and-archives/honors/allen74.pdf [Zugriff: 02. 05. 2019]. 55 Einige Jahre später berichtete Lon L. Fuller, dass Kelsens erste Vorlesungen in Harvard aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse ein »Flop« gewesen seien. Seitdem jedoch habe sich sein Englisch deutlich verbessert, er spreche nicht mehr so kompliziert wie zu Anfang und weise nur einen geringen Akzent auf: Lon L. Fuller, Brief an Mitchell Franklin (Tulane University) v. 19. 1. 1953, in: Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7. 56 Es muss betont werden, dass das gleichnamige Buch von H. L. A. Hart erst 1961 erschien, das Kapitel daher keinerlei Bezüge zu Hart aufweist. 57 Kelsen, Law and Peace (1942) 4, 12. 58 Kelsen, Law and Peace (1942) 39.
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dungsmerkmale zwischen internationalem und nationalem Recht aufzeigte: Nur indirekte Verpflichtung der Individuen, kollektive Verantwortlichkeit, verschuldensunabhängige Haftung [liability], keine Unterscheidung zwischen zivil‑ und strafrechtlichen Sanktionen, keine Äquivalenz zwischen Delikt und Sanktion, Dezentralisation im statischen und im dynamischen Sinne, d. h. sowohl hinsichtlich des Normenbestandes wie auch hinsichtlich der Normerzeugung.59 Nichtsdestoweniger erklärte Kelsen, dass er nun die theoretischen Grundlagen dargelegt habe für die Beantwortung des folgenden politischen Problems: »Wie kann im Rahmen des Völkerrechts und mit den Mitteln seiner spezifischen Rechtstechnik Frieden unter den Staaten bewirkt werden?«60 Ein Mittel zu diesem Zweck, so Kelsen in seiner fünften Vorlesung, »Federal State or Confederacy of States?«, sei die Zentralisation einer Rechtsordnung. Kelsen kehrte damit zu jenem Thema zurück, zu dem er schon 1936 in Harvard seinen ersten Vortrag gehalten hattte. Breit – und auch hier in merkwürdig unorigineller Art und Weise – problematisierte Kelsen den Bundesstaat und nannte die USA sowie die Schweiz als Prototypen. Dass in diesen beiden Staaten die bundesstaatliche Struktur erfolgreich gewesen sei, beweise wenig: Die Gründung der Vereinigten Staaten war durch eine relativ homogene Gruppe englischsprachiger Protestanten erfolgt; das friedliche Zusammenleben von Deutschen, Franzosen und Italienern in der Schweiz sei vor allem aus der politischen Geschichte der großen Nachbarstaaten zu verstehen.61 Der Völkerbund sei kein Bundesstaat (federal state), sondern ein Staatenbund (confederacy of states); gleichwohl bestehen hier viele Gemeinsamkeiten: Auch ein Staatenbund habe eine »Verfassung« (constitution) in Gestalt des internationalen Vertrages, auf dem er basiere und der gewisse Zentralorgane vorsehe. Und es wäre sogar denkbar, dass eine derartige »Verfassung« Vorgaben für die Verfassungen der Mitgliedsstaaten mache, so z. B. dass nur demokratische Republiken Mitglieder der Konföderation sein könnten62 (wer bereits Kelsens Prager Vortrag vom November 1937 kannte, wusste, worauf diese, scheinbar so unscheinbare Bemerkung hinauslief ). Doch müsse, so Kelsen in seiner sechsten und abschließenden Vorlesung, »International Administration or International Court?« das »Gesetz der Evolution« im Recht beachtet werden: die Zentralisation der Rechtsanwendung müsse der Zentralisation der Rechtserzeugung vorausgehen. Und hier wieder sei es zielführender, nicht ein politisches Organ, sondern ein Justizorgan in den Mittelpunkt zu stellen. Dies beweise nicht zuletzt der Völkerbund, zumal der einzige Bereich, in dem er halbwegs erfolgreich gewesen sei, die Streitschlichtung nach Art. 12–17 seiner Satzung, mehr eine gerichtliche als eine politische Aufgabe gewesen sei. Dennoch habe er nicht den Internationalen Gerichtshof, sondern den Völkerbundrat mit dieser Aufgabe betraut, was ein Fehler gewesen sei. Ebenso sei es ein Fehler gewesen, die Mitgliedsstaaten 59 Kelsen,
Law and Peace (1942) 121 f. Law and Peace (1942) 122. 61 Kelsen, Law and Peace (1942) 143. 62 Kelsen, Law and Peace (1942) 130. 60 Kelsen,
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des Völkerbundes zur Abrüstung zu drängen, denn Aufgabe des Völkerbundes sei nicht nur die Aufrechterhaltung des Friedens zwischen seinen Mitgliedern, sondern auch der Schutz einzelner Mitglieder gegen aggressive Akte von Nichtmitgliedern gewesen – und hier habe sich die einseitige Abrüstung als kontraproduktiv erwiesen.63 Kelsen verwies auf seine theoretischen Erörterungen, als er betonte, dass ein Gerichtshof durchaus Konflikte lösen könne, die als »politisch« bezeichnet werden; ein derartiger Gerichtshof würde im Gegenteil zu einer Weiterentwicklung des Völkerrechtes führen. Wesentlich sei, dass die Staaten Vertrauen zu diesem Gericht haben, und dies sei nur möglich, wenn seine Mitglieder wahrhaft unabhängig seien – unabhängiger, als es die derzeitigen Richter in Den Haag seien.64 Neben den Gerichtshof müsste allerdings auch ein politisches Organ, vergleichbar dem Völkerbundrat, treten, um die Gerichtsurteile zu exekutieren. Freilich würde eine derartige Konstruktion zu einer erheblichen Einschränkung der staatlichen Souveränität führen, doch Kelsen war überzeugt, dass sich die Staaten eher einem internationalen Gerichtshof als einer internationalen Regierung unterordnen würden. Denn die »Rechtsidee« sei immer noch stärker als jede »Ideologie der Macht«.65 Kelsens Vorlesungszyklus an der Harvard University zählt nicht zu seinen originellsten Arbeiten. Sowohl die rechtstheoretischen Ausführungen wie auch die rechtspolitischen Überlegungen waren im Wesentlichen eine Zusammenfassung und Wiederholung dessen, was er schon vielfach in Europa – und zum Teil sogar schon in Harvard – gelehrt hatte. Originalität hatte Kelsen aber auch wohl kaum beabsichtigt; vielmehr war er deutlich vom Bemühen getragen, die »Nützlichkeit«, die »Anwendbarkeit« seiner Reinen Rechtslehre unter Beweis zu stellen, anhand eines Themas, von dem er sich erhoffen konnte, dass es in den USA, am Vorabend von deren Eintritt in den Zweiten Weltkrieg (der im Dezember 1941, zwischen Vorlesung und Drucklegung, erfolgte) großes Interesse finden würde. Doch stieß seine strikte Beschränkung auf die juristische Seite des Problems bei amerikanischen Juristen auf Kritik.66 c) Kuba Im Herbst 1941 unternahm Hans Kelsen erstmals seit seiner Emigration in die Vereinigten Staaten eine Auslandsreise. Für einen Staatenlosen wie ihn war dies mit nicht unbeträchtlichen bürokratischen Hürden verbunden, wie insbesondere zwei Jahre später deutlich wurde, als er 1943 von der Universität von Mexiko zu Vorträgen eingeladen wurde, aber nicht (rechtzeitig) eine Ausreisegenehmigung erhielt und daher seine Reise wieder absagen musste. 1941 jedoch hatte er mehr Glück, und vom 15. bis zum 22. November konnte er an der »Second American Conference of National 63 Beachtenswert ist hier der recht deutliche Vorwurf Kelsens an England und Frankreich, die Tschechoslowakei gegenüber Hitler im Stich gelassen zu haben: Kelsen, Law and Peace (1942) 157. 64 Kelsen, Law and Peace (1942) 167. 65 Kelsen, Law and Peace (1942) 170. 66 Paulson, Rezeption (1988) 182.
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4. Teil: Amerika und die Welt
Committees on Intellectual Cooperation« in Havanna teilnehmen. Wie schon so oft zuvor, hatte auch dies vor allem die Rockefeller Foundation ermöglicht, zumal die Foundation sich in jener Zeit generell um eine Vertiefung der wissenschaftlichen Kontakte zwischen den USA und Lateinamerika bemühte. Auf Kuba gab es ein Wiedersehen mit dem in Havanna lehrenden Antonio Sanchez de Bustamente y Montoro67 und Luis Recaséns Siches aus Mexiko, die beide in den 1920er Jahren nach Wien gekommen waren, um dort Kelsen zu hören (Recaséns Siches sprach dann auch die vorhin erwähnte Einladung nach Mexiko aus); und er konnte auch viele neue Kontakte knüpfen.68 Die Konferenz war auf Einladung der kubanischen Regierung69 zustande gekommen und die Diskussionen standen vor allem unter dem Eindruck der totalitären Regime jener Zeit. Wie Kelsen nach seiner Rückkehr Tracy Kittredge von der Rockefeller Foundation berichtete, waren die Diskussionen jedoch sehr oberflächlich gewesen, und es war vermieden worden, die Kernprobleme direkt anzusprechen.70 Bei diesem Gespräch mit Kittredge, das am 2. Dezember 1941 in New York stattfand, äußerte Kelsen ganz erstaunliche Ideen; es ist allerdings fraglich, inwieweit jene Punkte, die Kittredge in seinem Gedächtnisprotokoll festhielt, wirklich von Kelsen stammten, oder ob er nicht zuweilen einfach wiedergab, was in Havanna diskutiert worden war. So erklärte Kelsen z. B., dass ein Großteil der europäischen Bevölkerung, besonders der unter 30-jährigen, von totalitären Ideologien indoktriniert sei; die intellektuelle Elite sei nach Großbritannien und nach Amerika ausgewandert. Von dort müssten nach dem Krieg konstruktive Anschübe kommen. Die amerikanischen Staaten müssten sich zu einer politischen Union zusammenschließen, da die Intellektuellen der westlichen Hemisphäre künftig eine Führungsrolle haben werden, wobei man sich auf Pläne von Bolivar und San Martin berufen könne. Im Besonderen sei es notwendig, dass lateinamerikanische Studenten Englisch, angloamerikanische Studenten dagegen Spanisch und Portugiesisch lernen, dass Austauschprogramme zwischen den Professoren stattfinden und Bücher übersetzt werden. Forschungseinrichtungen sollten aus Europa nach Amerika transferiert werden und Zeitschriften auf Englisch und Spanisch umstellen.71 67 Sanchez de Bustamente war schon mehrmals in Europa gewesen; am 10. 9. 1919 war er der offizielle Vertreter Kubas in St. Germain bei der Unterzeichnung des Friedensvertrages mit Österreich, vgl. Kalb/Olechowski/Ziegerhofer, St. Germain (in Vorbereitung). Etwa 1926/28 kam er nach Wien und nahm dort am Privatseminar Kelsens teil; vgl. Gassner, Kelsen in Lateinamerika (2014) 65 f. 68 Gassner, Kelsen in Lateinamerika (2014) 65–67. 69 Fulgencio Batista y Zaldívar war 1940–1944 demokratisch gewählter Staatspräsident. 1952 kam er infolge eines Putsches erneut an die Macht und regierte das Land diktatorisch bis zur kubanischen Revolution von 1958. 70 Aktenvermerk v. 27. 11. 1941, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4090. 71 Aktenvermerk v. 2. 1 2. 1941, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4090.
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3. Ein wissenschaftlicher Neuanfang a) »A Sociological Analysis of the Idea of Justice« Es musste Hans Kelsen klar sein, dass ihn die Harvard University und vor allem die Rockefeller Foundation bislang weit über jenes Maß gefördert hatten, das sonst einem emigrierten europäischen Rechtsprofessor gewöhnlich zuteil wurde. Sein weiteres wissenschaftliches und materielles Überleben in den USA hing wesentlich davon ab, dass er die in ihn gesteckten Erwartungen erfüllte. Mit scheinbar niemals nachlassender Energie ging er ans Werk, und bis 1945 erschienen nicht weniger als 30 Arbeiten in englischer, zwei in spanischer und eine in portugiesischer Sprache. Damit hatte Kelsen die Grundsätze, die in Kuba besprochen worden waren, getreulich eingehalten: den Sprachen des amerikanischen Kontinents gehörte die Zukunft; bis 1948 schrieb Kelsen keinen einzigen Aufsatz mehr in seiner Muttersprache.72 Parallel dazu war Kelsen bestrebt, die wichtigsten Arbeiten, die er vor seiner Emigration in deutscher Sprache verfasst hatte, übersetzen zu lassen und so dem amerikanischen Publikum nahezubringen. Dabei war er nur teilweise erfolgreich: So ließ er seine Schrift »Vom Wesen und Wert der Demokratie« von 1929 von einem gewissen Hans Fritz Abraham übersetzen, doch scheint ihn das Ergebnis nicht befriedigt zu haben, weshalb er von einer Veröffentlichung Abstand nahm. Abraham, der offenbar kein English Native Speaker war,73 hatte ganz offensichtlich Mühe gehabt, manche Fachtermini zu finden (so bezeichnete er etwa das »Ständeparlament«, wie es mit der österreichischen Verfassung 1934 eingerichtet worden war, als »vocational organization«).74 Vielleicht auch rieten Freunde und Kollegen Kelsen von einer Publikation ab, da die Schrift doch ganz auf die österreichischen verfassungsrechtlichen Verhältnisse zugeschnitten war. Erst 1955 erschien mit »Foundations of Democracy« eine völlig neue Arbeit zur Demokratietheorie,75 die zwar große Blöcke der Monographie von 1929 enthielt, sich aber ausgiebig mit zwischenzeitlich erschienenen, einschlägigen Schriften, dafür nur mehr wenig mit dem – der Vergangenheit angehörenden – Nationalsozialismus und so gut wie nicht mehr mit spezifisch 72 Erst in jenem Jahr erschien Kelsen, Friedensvertrag (1948), in einer (Ost‑)Berliner Zeitschrift. Schon davor waren Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941), und Kelsen, Zur Grundlegung der Völkerrechtslehre (1946/47), erschienen, die jedoch beide noch vor seiner Emigration entstanden waren. 73 Hans Fritz Abraham ist wohl mit jenem Berliner Rechtsanwalt identisch, der am 18. 6. 1927 in der Juristischen Gesellschaft zu Berlin einen Vortrag über »Die Bedeutung Friedrich Nietzsches für die Rechtsentwicklung der Gegenwart« gehalten hatte: Fijal, Geschichte der Juristischen Gesellschaft zu Berlin (2009) 196. 74 Ein 162-seitiges Typoskript mit handschriftlichen Ausbesserungen und einem mit »Cambridge (Massachusetts), June 1942« datierten Vorwort des Übersetzers wurde dankenswerterweise von Grete Heinz dem HKI überlassen: HKI, Kelsen-Nachlass, Nachträge. Wie sie selbst berichtete, hatte Kelsen ihr das Manuskript übergeben, damit sie es sprachlich korrigiere; die Ausbesserungen stammen also offenbar von ihr selbst: Grete Heinz, Interview v. 26. 9. 2018. 75 Dazu noch ausführlich unten 841.
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österreichischen Problemen wie dem »Ständestaat« auseinandersetzte. »Vom Wesen und Wert der Demokratie« erlebte erst vierzig Jahre nach Kelsens Tod, 2013, eine englische Übersetzung – ohne Rückgriff auf den Übersetzungsversuch von 1942; das »Ständeparlament« z. B. wurde dort, wie allgemein üblich, als »corporative parliament« übersetzt.76 Wesentlich mehr Energie als für seine Demokratieschrift, so scheint es, brachte Kelsen dafür auf, seine soziologischen Untersuchungen auf Englisch zu übersetzen und auch fortzuführen. Bereits am 6. September 1940 rief Kelsen bei der Rockefeller Foundation an und erkundigte sich nach der Möglichkeit, ein Buchprojekt finanziell zu fördern: »A Sociological Analysis of the Idea of Justice [Eine soziologische Analyse der Gerechtigkeit]«.77 Dieses solle aus zwei Bänden bestehen, von denen der erste mit »Causality and Retribution [Kausalität und Vergeltung]« betitelt war, der zweite aber »Sociology of the Belief in the Soul [Soziologie des Seelenglaubens]« heißen sollte. Auf Nachfragen der Rockefeller Foundation bestätigte Dekan Landis, dass das Buch auf Deutsch komplett fertig sei und dass von der deutschen Fassung auch schon teilweise Druckfahnen existierten – offenbar bezog er sich auf das Buch »Vergeltung und Kausalität«, das zu diesem Zeitpunkt ja schon gedruckt aber kriegsbedingt noch nicht veröffentlicht war.78 Doch betraf dies ja nur den ersten der geplanten zwei Bände. Wie auch immer: Landis bezifferte die Gesamtkosten für die Übersetzung und alles, was sonst noch für die Finalisierung des Werkes nötig sei, mit $ 2.500,–. Der Antrag wurde am 20. Dezember von der Rockefeller Foundation genehmigt.79 Anhand der weiteren Korrespondenz mit der Rockefeller Foundation ist erkennbar, dass das Projekt bei seiner Durchführung auf eine Reihe von Schwierigkeiten stieß. Zunächst erklärte Kelsen, dass er Probleme habe, einen geeigneten Übersetzer zu finden, weshalb die ursprünglich bis 30. Juni 1941 gesetzte Frist zur Vollendung der Arbeit mehrmals verlängert werden musste.80 Am 27. November 1941 sprach Kelsen persönlich bei Kittredge in der Rockefeller Foundation vor und erzählte ihm, dass das holländische Verlagshaus $ 2000,– für die Übersetzungsrechte verlangt habe! Kelsen mutmaßte, dass dahinter eine Maßnahme NS-Deutschlands stecke, so viele Devisen wie möglich aus den USA zu erhalten. Da er aber keinerlei Rechte aus seinem Verlagsvertrag erhalten habe, war Kelsen der Ansicht, dass der Vertrag vom Verleger 76 Pils, Terminologiewörterbuch (2016) 89. Vgl. auch Jabloner, In Defense of Modern Times (2016) 334. 77 Aktenvermerk vom 6. 9. 1940, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4089. 78 Oben 646. 79 James M. Landis (Harvard University), Schreiben an Joseph H. Willits (Rockefeller Foundation) v. 3. 1 2. 1940; RA SS 4076, beide in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4089. 80 Verlängerung bis 31. 1 2. 1941: RA SS 4173, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4089. Verlängerung bis 30. 6. 1942: RA SS 4202, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4091.
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gebrochen worden sei, weshalb er auch ohne Zustimmung des holländischen Verlages eine Publikation in Englisch vornehmen werde.81 Kelsen sprach bei dieser Gelegenheit aber auch von einer ganzen »book series« [Schriftenreihe] über Allgemeine Rechtslehre [general jurisprudence], Rechtstheorie und Rechtssoziologie, die er fast vollendet habe, und im Dezember 1941 beantragte Dekan Landis zusätzliche $ 2.500,– mit dem Hinweis auf die Vollendung des dreibändigen Werkes »Sociology of the Idea of Justice«, dessen einzelne Bände er wie folgt betitelte: 1.) »Causality and Retribution« (550 Druckseiten, fertig); 2.) »Sociology of the Belief in the Soul« (ca. 1.200 maschingeschriebene Seiten, fertig übersetzt); 3.) »The Idea of Justice in the Greek Philosophy« (müsse noch übersetzt werden).82 Dies sorgte in der Rockefeller Foundation für Verwunderung, insbesondere, als der bisherige, Kelsen ja sehr gewogene, Referent Tracy B. Kittredge im März 1942 zur Marine ging83 und sein Nachfolger Roger F. Evans den Antrag überprüfte. Er erklärte, dass ursprünglich nur ein zweibändiges Werk vereinbart war, und dass es nicht angehe, jetzt noch einen dritten Band nachzureichen.84 Die Verhandlungen der Harvard University mit der Rockefeller Foundation85 müssen im Zusammenhang mit der schwierigen beruflichen Situation Kelsens gesehen werden. Dieser war nun schon ein zweites Jahr in Harvard tätig und bemühte sich verbissen darum, für ein drittes Jahr, womöglich für unbegrenzte Zeit eine Anstellung in Harvard zu erhalten.86 Und dies wurde offenbar nicht von Kelsens wissenschaftlicher Bedeutung, sondern von seiner Fähigkeit, Drittmittel einzuwerben, abhängig gemacht. Am 9. April 1942 – Kelsen hatte zu diesem Zeitpunkt schon seine Hoffnungen auf eine Verlängerung in Harvard aufgegeben und ein Lehrangebot von der University of California in Berkeley angenommen – sprach Kelsen persönlich bei Evans 81 Aktenvermerk v. 27. 11. 1941, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4090. 82 John M. Landis (Harvard University), Schreiben an Tracy B. Kittredge (RF) v. 2. 1 2. 1941, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4090. Demgegenüber meinte Kelsen schon kurze Zeit später, dass bereits 600 Seiten des zweiten Buches übersetzt seien: Hans Kelsen, Schreiben an Edmund M. Morgan (Harvard Law School) v. 6. 3. 1942, RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4091. 83 Bereits im Ersten Weltkrieg hatte Kittredge in der US-Marine gedient; 1942 verpflichtete er sich erneut und war bis 1955 dort tätig, kam also nicht mehr zur RF zurück. https://www.history. navy.mil/content/dam/nhhc/research/archives/research-guides-and-finding-aids/electronicfinding-aids/personal-paper-collections/coll-714.pdf [Zugriff: 9. 7. 2019]. Noch im Jänner 1942 hatte er Kelsen geraten, er solle einen Antrag auf Verlängerung seines Grants stellen: Tracy B. Kittredge, Schreiben an Hans Kelsen v. 12. 1. 1942, HKI, Nachlass Kelsen 15o.58. 84 Roger F. Evans (RF), Schreiben an Edmund M. Morgan (Harvard Law School) v. 27. 3. 1942, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4091. Kelsen wird über diese Entscheidung der RF wenige Tage später informiert und aufgefordert, direkt mit Evans zu sprechen: Edmund M. Morgan (Harvard Law School), Schreiben an Hans Kelsen v. 7. 4. 1942, in: HKI, Nachlass Kelsen 15o.58. 85 Vgl. Edmund M. Morgan (Harvard Law School), Schreiben an Roger F. Evans (RF) v. 28. 3. 1942, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4091. 86 Siehe unten 708.
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vor und klagte ihm sein Leid: Ständig habe es geheißen, dass er keine Zukunft in Harvard haben werde, niemals habe Dekan Landis mehr als fünf Minuten Zeit für ihn gehabt; von den beiden Übersetzern seines Buches sei der eine inkompetent, der andere unzuverlässig. Zugleich aber schwärmte er von den unvergleichlichen Bibliotheken, über die Harvard verfüge, und hoffte, sein Manuskript abschließen zu können, noch bevor er nach Kalifornien gehe.87 Immerhin bewilligte die Rockefeller Foundation nunmehr weitere $ 750,– für sein Buchprojekt, erklärte aber auch, dass es keine weiteren Förderungen für dieses Projekt mehr geben werde.88 Gegen Jahresende 194389 erschien in der »University of Chicago Press« das Buch »Society and Nature. A Sociological Inquiry«. Ein Hinweis darauf, dass dies der erste von mehreren Bänden sei, fehlte, ebenso ein Vorwort oder ein Hinweis auf den oder die Übersetzer. Dafür enthielt es eine Widmung an die Rockefeller Foundation, gezeichnet von »einem der vielen europäischen Gelehrten, die dieser edlen Institution – dem Symbol von amerikanischer Generosität – das Privileg verdanken, ihre wissenschaftliche Arbeit in einem freien Land fortsetzen zu können.«90 Inhaltlich war das Buch im Wesentlichen eine gekürzte und ins Englische übertragene Fassung des – zu diesem Zeitpunkt immer noch in einem holländischen Kellergewölbe schlummernden – Buches »Vergeltung und Kausalität«. Die meisten Kürzungen waren bei den vielen Fallbeispielen und wörtlichen Zitaten erfolgt.91 Die einzige größere inhaltliche Veränderung hatte Kelsen ganz am Ende vorgenommen, als er der Frage nachging, ob das Kausalgesetz als Norm angesehen werden könne. Dieser Abschnitt mit der Nummer 79 ging aus den Paragraphen 79–81 des Buches »Vergeltung und Kausalität« hervor; in ihnen hatte Kelsen über die jahrhundertelange Vorstellung geschrieben wonach, »das Naturgesetz ursprünglich ein – den Willen 87 Roger F. Evans (RF), Aktennotiz v. 9. 4. 1942, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4091. 88 RA SS 4218, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4091; Roger F. Evans (RF), Schreiben an Hans Kelsen v. 10. 4. 1942, HKI, Nachlass Kelsen 15o.58; Hans Kelsen, Brief an Roger F. Evans (RF) v. 8. 6. 1942 und Antwortschreiben von Evans v. 11. 6. 1942; Aktenvermerk über ein persönliches Gespräch v. 30. 6. 1942, alle in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4091. 89 Huntington Cairns bedankt sich kurz vor Weihnachten für die Übersendung eines Exemplares: Huntington Cairns, Brief an Hans Kelsen v. 23. 1 2. 1943, in: LOC, Manuscript Division, Huntington Cairns Papers, Container 33. 90 Kelsen, Society and Nature (1943) III. Kelsen hatte die RF zuvor um Erlaubnis gefragt, sein Buch der Foundation widmen zu dürfen: Hans Kelsen, Brief an Roger F. Evans (RF) v. 9. 4. 1943, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 205 S, Box 24, Folder 364. 91 Im Gegensatz zu »Vergeltung und Kausalität« wies »Society and Nature« keine Exkurse auf; deren Inhalte waren jedoch in – nur wenig kürzeren – Fußnoten enthalten. So entspricht etwa der Exkurs IV »Das Überwiegen des Strafmomentes in der Vergeltungstheorie«, Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941) 474–478, der Anmerkung 146 im IV. Kapitel von Kelsen, Society and Nature (1943) 358–361. Inhaltliche Kürzungen im Haupttext sind selten, vgl. etwa die Bemerkung von Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941) 271, wonach »[z]wischen der Heisenberg’schen Unbestimmtheitsrelation und dem bekannten Laplace’schen Geist […] kein prinzipieller Unterschied« bestehe, die im englischsprachigen Text fehlt.
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Gottes ausdrückendes – Rechtsgesetz« sei, und er hatte Hume als denjenigen hervorgehoben, der erkannt hatte, dass Kausalität als solche niemals empirisch erkannt werden könne.92 Abschnitt 79 in »Society and Nature« war zwar kürzer, brachte aber neue Quellen, so insbesondere das Buch Hiob93 (in »Vergeltung und Kausalität« hatte Kelsen Bibelzitate vermieden) und den Hinweis, dass nicht erst Hume, sondern schon dessen Zeitgenosse Thomas Reid (1710–1796) den Nachweis erbracht hatte, dass die Kausalität nicht empirisch erkannt werden könne. Das Verdienst Humes bestehe darin, dass er festgestellt hatte, dass das Kausalgesetz überhaupt keine Norm sei.94 Von dieser Änderung abgesehen, war die Reihenfolge und die Zählung der Abschnitte in beiden Büchern gleich; »Society and Nature« enthielt dementsprechend 82 Abschnitte im Gegensatz zu den 84 Paragraphen, in die »Vergeltung und Kausalität« gegliedert war. Was aber den ursprünglich geplanten zweiten Band, »Sociology of the Belief in the Soul«, betrifft, so erschien dieser niemals. In Kelsens Nachlass am Hans Kelsen-Institut befinden sich nicht weniger als neun Kartons mit wissenschaftlichen Notizen, Manuskripten und auch Typoskripten in deutscher und englischer Sprache zu diesem Thema; das wohl als Letztfassung anzusehende Typoskript umfasst knapp 2.000 Seiten.95 Kelsen befasste sich auch in diesem Text ausführlich mit dem Seelenglauben der »Primitiven« (worunter er auch hier wieder verschiedenste afrikanische, asiatische und amerikanische Kulturen untersuchte), die seiner Ansicht nach an zwei Arten von Seelen – die Seelen der Lebenden und die der Toten – glaubten.96 Durch einen »Seelenpluralismus« [belief in more than two souls] seien die Kulturen u. a. der Sioux-Indianer, aber auch der Chinesen, Ägypter und Griechen gekennzeichnet, wobei er für letztere wieder Homer als Kronzeugen anführte. Die Seelenlehre der Primitiven sei von emotionalen Faktoren, nicht von kausalem Denken bestimmt. Die Erkenntnis z. B., dass ein Mensch kausal durch den Sexualakt entstehe, befinde sich in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Reinkarnationslehre. Überhaupt wurde die Familie weniger als biologisches, als vielmehr soziologisches Faktum angesehen, weshalb es auch möglich war, durch Adoptionen künstliche Eltern-Kind-Verhältnisse zu schaffen. Als Ursachen für die Entstehung des Seelenglaubens führte er u. a. die Furcht vor dem eigenen Tod, aber auch die Unvorstellbarkeit des »Nichts« an. Die Furcht vor dem Tod wandle sich in eine Furcht vor den Toten, die den Lebenden das Leben neiden, woraus sich u. a. das Gebot, Tote zu bestatten, erkläre. Der Glaube, dass die Seele des Toten ihren Mord rächen würde, war ein durchaus wirksamer Schutz des Menschenlebens. 92 Kelsen,
Vergeltung und Kausalität (1941) 273–278. 28,26: »God made a law for the rain.« 94 Kelsen, Society and Nature (1943) 259–262. 95 Die Letztversion befindet sich in HKI, Nachlass Kelsen 5a.21 (Teil I des Buches, ca. 500 Seiten), 5b1.21 (Teil II, ca. 400 Seiten), 5b2.21 (Teil III/1, ca. 400 Seiten) und 5b3.22 (Teil III/2, ca. 400 Seiten). Weitere Typoskripte und Manuskripte sowie Literaturexzerpte befinden sich in den Kartons 22–29. 96 So schon Kelsen, L’âme et le droit (1936) 63. 93 Hiob
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Es war vor allem die starke berufliche Anspannung in den folgenden Jahren, die Kelsen hinderte, sein Manuskript zu vollenden. Noch 1948 und wieder zehn Jahre später, 1958, erklärte er, dass er seine Arbeit, die er aufgrund anderer Verpflichtungen liegenlassen hatte müssen, nunmehr vollenden wolle.97 Doch dazu kam es nicht mehr. b) Reine Rechtslehre und Amerikanische Rechtstheorie Kelsen beschränkte sich allerdings nicht darauf, seine deutschsprachigen Werke ins Englische zu übertragen. Von Anfang an war er bestrebt, in einen Dialog mit amerikanischen Rechtsphilosophen zu treten. Dabei erfuhr auch seine Reine Rechtslehre einige nicht unbedeutende Veränderungen. (1.) Bereits im November 1941 erschien in der »Harvard Law Review« Kelsens erster großer rechtstheoretischer Aufsatz: »The Pure Theory of Law and Analytical Jurisprudence«. Er kann als eine Standortbestimmung der Reinen Rechtslehre im weiten Feld der amerikanischen Rechtsliteratur angesehen werden, denn Kelsen hob in diesem Aufsatz vor allem die Gemeinsamkeiten seiner eigenen Lehre mit der »Analytical Jurisprudence« von John Austin (1790–1859) hervor und stellte sie der »Sociological Jurisprudence« von Roscoe Pound entgegen.98 Die Reine Rechtslehre sei eine normative Rechtswissenschaft, die sich mit der Geltung von Rechtsnormen beschäftige; die »Sociological Jurisprudence« beschäftige sich damit, wie diese Normen tatsächlich angewendet werden, also mit ihrer Effektivität. »Die Reine Rechtslehre bestreitet keinesfalls den Wert einer solchen soziologischen Rechtswissenschaft, aber sie lehnt es ab, sie als die einzig mögliche Form von Rechtswissenschaft anzusehen, wie dies viele ihrer Vertreter tun.«99 Übereinstimmungen zwischen Austin und der Reinen Rechtslehre ortete Kelsen insbesondere dort, wo Austin den Zwangscharakter des Rechts hervorhob oder meinte, dass jedes subjektive Recht nur der Reflex einer Rechtspflicht sei. Einen wesentlichen Unterschied sah er jedoch darin, dass die »Analytical Jurisprudence« das Recht nur statisch betrachte (so wie dies Kelsen selbst in seinen »Hauptproblemen« getan hatte!), während sich die Reine Rechtslehre (nunmehr) auch mit dem Problem der Rechtsentstehung beschäftige und hier die Idee von höherrangigen (»superior«) und niederrangigen (»inferior«) Normen entwickelt habe.100 Auch habe Austin – im Gegensatz zu Kelsen – niemals das Völkerrecht in seine Betrachtung miteinbezogen. 97 Hans Kelsen, Brief an Huntington Cairns v. 9. 10. 1948, in: LOC, Manuscript Division, Huntington Cairns Papers, Container 33; Hans Kelsen, Interview mit Irmgard Bach, Juni 1958. 98 Es sei hier an jene, schon oben 110 zitierte Stelle in Kelsens Autobiographie erinnert, wo er ebenfalls meinte, dass er mit seiner Reinen Rechtslehre »einen ganz aehnlichen Versuch einer Begruendung der Rechtswissenschaft« wie Austin unternommen habe: Kelsen, Autobiographie (1947) 8 = HKW I, 42. Eine übersichtliche Darstellung sowohl der Analytical Jurisprudence von Austin als auch der Sociological Jurisprudence von Pound findet sich bei Reich, Sociological Jurisprudence (1967) 29–31, 55–68. 99 Kelsen, Analytical Jurisprudence (1941) 52 = WiJ 269. Vgl. dazu Ladavac, Philosophy of Law (2016) 212. 100 Kelsen, Analytical Jurisprudence (1941) 62 = WiJ 279.
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Die »Sociological Jurisprudence« sehe es als ihre Aufgabe an, die Tätigkeit der rechtserzeugenden und rechtsanwendenden Organe zu beschreiben, ja womöglich vorherzusehen. Dabei spiele auch der Gerechtigkeitsgedanke eine wesentliche Rolle. Die normative Rechtswissenschaft hingegen stelle keine Vermutung auf, wie die Richter entscheiden werden, sie stelle fest, wie die Richter entscheiden sollen.101 Auch in diesem Aufsatz übersetzte Kelsen den Begriff »Rechtsregel« unglücklicherweise mit »rule of law«. Zugleich aber hielt er fest, dass die Aussagen der Rechtswissenschaft (»propositions of jurisprudence«) nicht mit den Normen identisch seien.102 Zu dieser ganz wesentlichen Erkenntnis war Kelsen offensichtlich im Zuge seiner Beschäftigung mit Hume im Rahmen seines Buches »Society and Nature« gekommen; fortan sollte er konsequent an der Unterscheidung zwischen »Rechtsnorm« und »Rechtssatz« festhalten. (2.) Auch in seinem 1942 erschienenen Aufsatz »Value judgements in the science of law [Werturteile in der Rechtswissenschaft]« setzte sich Kelsen mit den Lehren eines seiner Kollegen an der Harvard University auseinander, diesmal mit Ralph B. Perry,103 einem bedeutenden Vertreter des Neorealismus. Dieser hatte 1926 in seinem Buch »General Theory of Value [Allgemeine Theorie der Werte]« die Ansicht vertreten, dass jeder Wert die Funktion eines Interesses sei, das auf diesen Wert ziele. Da aber ein Interesse ein psychisches Faktum sei, sei auch der Wert etwas Reales und gehe unter, wenn das Interesse aufhöre zu existieren.104 Kelsen erklärte, dass diese Lehre für den Bereich des Rechts nicht angewendet werden könne: das Sollen einer Norm sei durchaus verschieden vom Wollen des Rechtserzeugers. Generell unterschied Kelsen scharf zwischen »values of law [Werten des Rechts]« einerseits, »values of justice [Werten der Gerechtigkeit]« andererseits. Im ersten Fall gehe es darum, ein bestimmtes Verhalten am positiven Recht zu messen und es demgemäß als rechtmäßig oder unrechtmäßig zu bezeichnen; im zweiten Fall werde das Gesetz selbst oder der Gesetzgeber als gerecht oder ungerecht qualifiziert. Da es nur ein einziges positives Recht gebe, aber viele verschiedene Gerechtigkeitsvorstellungen, seien Werturteile des Rechtes »objektiv«, Werturteile der Gerechtigkeit »subjektiv«. Perrys Interessentheorie könne auf die »values of justice«, nicht aber auf die »values of law« angewendet werden.105 (3.) Kelsen beschäftigte sich auch weiterhin mit Fragen des positiven Völkerrechts und veröffentlichte bereits 1941 einen ersten einschlägigen Aufsatz im »American 101 Kelsen, Analytical Jurisprudence (1941) 54, 70 = WiJ 271, 287. Auf die Fülle der verschiedenen rechtsrealistischen Strömungen, die 1941 in den USA ihren Höhepunkt schon überschritten hatten, aber noch lange nachwirkten, kann hier nicht eingegangen werden, vgl. dazu Fisher, Legal Theory (2008) 35 ff. 102 Kelsen, Analytical Jurisprudence (1941) 51 = WiJ 268. 103 Geb. Poultney/VT 3. 7. 1876, gest. Boston/MA 22. 1. 1957; 1930–1946 Inhaber der »Edgar Pierce-Professur für Philosophie« an der Harvard University. Vgl. https://www.giffordlectures. org/ lecturers/ralph-barton-perry [Zugriff: 25. 11. 2019]. 104 Kelsen, Value Judgements (1942) 314 = WiJ 211. 105 Kelsen, Value Judgements (1942) 312, 332 = WiJ 209, 229.
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Journal of International Law« (AJIL). Diese Zeitschrift wurde von der American Society of International Law herausgegeben, einer 1906 gegründeten Gesellschaft, die gerade in jener Zeit besonderes Gewicht hatte, zumal ihr 1939–1942 amtierender Präsident, Cordell Hull, zugleich (1933–1944) Außenminister der Vereinigten Staaten war.106 Hans Kelsen war am 30. April 1938, noch unter Charles E. Hughes, Hulls Amtsvorgänger als Präsident der Gesellschaft (1924–1939) wie auch als US-Außenminister (1921–1925), zum Ehrenmitglied dieser Gesellschaft gewählt worden107 und besuchte nach seiner Emigration viele ihrer – in Washington D. C. stattfindenden – Jahrestreffen. Das vierteljährlich erscheinende AJIL wurde in weiterer Folge sogar eines der wichtigsten Foren für Kelsen überhaupt, in dem er nicht weniger als neun Aufsätze und eine Buchbesprechung veröffentlichte.108 Im ersten dieser Aufsätze, der im Oktoberheft 1941 des AJIL erschien, ging es um das Thema »Recognition in International Law [Anerkennung im Völkerrecht]«. Kelsen generalisierte hier Ansichten, die er schon früher in speziellen Fällen, z. B. 1927 in Hinblick auf die ČSR, geäußert hatte: Ein Staat sei bereits gegeben, wenn eine hinreichend zentralisierte Zwangsordnung über Menschen in einem klar abgegrenzten Territorium entstanden und diese ihrerseits nur den allgemeinen Regeln des Völkerrechts unterworfen sei. Die »Anerkennung« einer solchen Ordnung als Staat im Sinne des Völkerrechts habe einen ähnlichen Charakter wie die Anerkennung eines rechtlich relevanten Faktums durch ein Gericht.109 Die Anerkennung sei ein einseitiger Rechtsakt (ein Vertrag könne schon deshalb nicht erfolgen, da die Anerkennung der Gegenseite als Vertragspartner deren Anerkennung als Völkerrechtssubjekt impliziere); kein Staat könne zur Anerkennung eines anderen Staates gezwungen werden. Schon aus diesem Grund könne aber die Anerkennung keine konstitutive Wirkung für die Frage haben, ob der neue Staat ein Völkerrechtssubjekt sei oder nicht.110 (4.) Besonderes Interesse verdient schließlich Kelsens rechtsvergleichende Studie über die österreichische und amerikanische Verfassungsgerichtsbarkeit, die im Mai 1942 im »Journal of Politics« erschien. Dabei erklärte Kelsen, dass er bezüglich Österreichs die Rechtslage vom 1. Jänner 1930 heranziehen wolle,111 was insofern 106 Vgl.
ausführlich Kirgis, American Society of International Law (2006). Proceedings of the 32nd Annual Meeting of the American Society of International Law 32 (1938) 165; J. W. Garner, Schreiben an Hans Kelsen v. 16. 5. 1938, HKI, Nachlass Kelsen 15a39.57, George A. Finch, Schreiben an Hans Kelsen v. 23. 6. 1938, HKI, Nachlass Kelsen 15a38.57. Vgl. Kirgis, American Society of International Law (2006) 130. 108 Kelsen, Recognition (1941); Kelsen, Compulsory Adjudication (1943); Kelsen, Buchbesprechung Schiffer (1943); Kelsen, The international Legal Status of Germany (1944); Kelsen, The Legal Status of Germany (1945); Kelsen, The Old and the New League (1945); Kelsen, Collective Security (AJIL, 1948); Kelsen, Kohler (1949); Kelsen, Rights and Duty of States (1950); Kelsen, North Atlantic Treaty (1950/51). 109 Kelsen, Recognition (1941) 608. 110 Kelsen, Recognition (1941) 611. 111 Kelsen, Judicial Review (1942) 183. 107
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verständlich ist, als im Jahr 1942 weder ein Staat Österreich noch eine österreichische Verfassungsgerichtsbarkeit existierten,112 aber doch die Frage aufwirft, welchen Zweck Kelsen mit seinem Aufsatz verfolgte: Ganz offensichtlich wollte er das – maßgeblich von ihm selbst mitgestaltete – österreichische Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit einer amerikanischen Öffentlichkeit präsentieren und womöglich sogar die Vorzüge gegenüber dem amerikanischen System anpreisen. Dies war kein einfaches Unterfangen, zumal das amerikanische System gänzlich anders geartet war als das österreichische: In Österreich war (zur Rechtslage vom 1. Jänner 1930) die Verfassungsgerichtsbarkeit in einem einzigen Gerichtshof konzentriert, der in einem besonderen Verfahren Gesetze zu prüfen und gegebenenfalls als verfassungswidrig aufzuheben hatte, was bedeutete, dass in Österreich verfassungswidrige Gesetze bis zu ihrer formellen Aufhebung nicht absolut nichtig, sondern nur vernichtbar waren. In den USA dagegen konnte jedes Gericht, das in einem anhängigen Verfahren ein Gesetz anzuwenden hatte, im Falle einer Verfassungswidrigkeit dessen (absolute) Nichtigkeit inzidenter feststellen.113 Kelsen hatte ganz offensichtlich Schwierigkeiten, dieses System rechtstheoretisch zu analysieren: »Innerhalb eines Systems des positiven Rechtes gibt es keine absolute Nichtigkeit«, behauptete er.114 Seiner Ansicht nach war das amerikanische System so zu deuten, dass die Gerichte Gesetze rückwirkend aufheben, dass also ihren Entscheidungen sehr wohl konstitutive, nicht bloß deklarative Bedeutung zukomme, wofür er immerhin Fallbeispiele anführen konnte, in denen auch amerikanische Behörden von einem »rückwirkenden Effekt« gesprochen hatten. Kelsen erklärte, dass es »besonders die Erfahrung mit der Verfassungspraxis in den Vereinigten Staaten war, die die Regelung dieser Frage in der österreichischen Verfassung« beeinflusst hatte. Und nach dieser Verfassung hatte ein aufhebenes Erkenntnis des VfGH nur für den Anlassfall eine rückwirkende Kraft – was notwendig war, weil sonst keine Anträge gestellt worden wären –, ansonsten jedoch eine Wirkung ex nunc.115 Die Intention von Kelsens Aufsatz, den amerikanischen Lesern das österreichische System schmackhaft zu machen, wird besonders am Ende deutlich, als er auf die Möglichkeit des VfGH hinwies, in gewissen Fällen (Art. 138 Abs. 2 B-VG) bindende Rechtsgutachten zu erstellen. Viele amerikanische Juristen – Kelsen zitierte hier Felix Frankfurter – hätten sich gegen eine solche Kompetenz mit dem Hinweis auf die Gewaltenteilung ausgesprochen. »Aber das ist ein Argument gegen die ganze Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit, die nicht eine rein judizielle, sondern [auch] eine legislative Funktion ist.«116
112 So jedenfalls nach der – u. a. von Kelsen vertretenen – sog. Annexionstheorie, vgl. noch unten 734. 113 Kelsen, Judicial Review (1942) 185, 187. 114 Kelsen, Judicial Review (1942) 190. 115 Kelsen, Judicial Review (1942) 194, 196. 116 Kelsen, Judicial Review (1942) 200; vgl. auch Ehs, Frankfurter (2013).
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c) »General Theory of Law and State« Im August 1910 hatte die Association of American Law Schools beschlossen, die bedeutendsten kontinentaleuropäischen Arbeiten zu Rechtstheorie und Rechtsphilosophie ins Englische übersetzen zu lassen und in einer eigenen Schriftenreihe, der »Modern Legal Philosophy«, zu edieren.117 In der Folge erschienen hier einige Arbeiten von Klassikern wie Rudolf v. Jhering, Joseph Kohler oder Giorgio del Vecchio. Knapp dreißig Jahre später, im Dezember 1939, fasste die Association den Beschluss, der ersten Schriftenreihe eine zweite folgen zu lassen, die sich auf die bedeutendsten Rechtsphilosophen des 20. Jahrhunderts konzentrieren sollte. Ein Komitee wurde gebildet, dem als einziges der Mitglieder des Komitees von 1910 John W. Wigmore, ansonsten jüngere Kräfte wie Lon L. Fuller und Josef L. Kunz angehörten. Rasch bestand Einigkeit, dass die neue Serie Autoren wie »Max Weber, Kelsen, Petrazycki, Radbruch, die französischen Institutionalisten wie v. a. Hauriou und Renard, die Interessenjurisprudenz um Heck und einige andere« umfassen sollte. Die Übersetzungskosten konnten durch private Geldgeber (auch hier wieder v. a. die Rockefeller Foundation) gedeckt werden, die Publikationskosten trug die Harvard University.118 Dass Kelsen in dieser Reihe so prominent genannt wurde, war wohl vor allem dem Einfluss seines ehemaligen Schülers Josef L. Kunz zu verdanken. Ende Dezember 1939 stellte das Komitee seinen Publikationsplan vor. Die Werke Hans Kelsens sollten – nach jenen von Max Weber – den zweiten Band der Reihe bilden. Zur Übersetzung waren die »Allgemeine Staatslehre« (1925), die »Reine Rechtslehre« (1934), »Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus« (1928) sowie die 2. Auflage »Vom Wesen und Wert der Demokratie« (1929) vorgesehen.119 Möglicherweise war dies der Hintergrund für die vorhin erwähnte Übersetzung von Kelsens Demokratieschrift, deren Veröffentlichung dann ja unterblieb. Was aber die »Allgemeine Staatslehre« und die »Reine Rechtslehre« betrifft, so entschloss sich Kelsen, von einem unveränderten oder leicht adaptierten Abdruck Abstand zu nehmen und stattdessen ein völlig neues Buch zu schreiben, in dem er die wesentlichen Erkenntnisse aus beiden Werken zusammenführen und das er daher als »General Theory of Law and State« bezeichnen wollte.120 An diese sollte die 117 Editorial Committee [of the Book Series »The Modern Legal Philosophy«], General Introduction to the Series, in: Kohler, Philosophy of Law (1921), V–X. 118 Editorial Committee [of the Book Series »20th Century Legal Philosophy Series«], General Introduction to the Series, in: Kelsen, General Theory (1945) VII–XII. 119 Handbook of the Association of American Law Schools and Proceedings of the 38th Annual Meeting (1940) 249. Bei der Präsentation des Publikationsplans kam heftiger Widerspruch von James J. Kearney, der erklärte, dass er es nicht für richtig befinde, Rechtsphilosophen unabhängig davon, wie »heimtückisch und destruktiv« ihre Lehren sein mögen, in die Reihe aufzunehmen. Dass sich dies auf Kelsen bezog, wie Cadore, »Good-bye to all that«? (2018) 255, nahelegt, ist nicht anzunehmen; Kearney spielte hier wohl eher auf den X. Band an, der totalitäre Staatsrechtslehrer, wie Pašukanis oder Schmitt enthalten sollte. 120 Vgl. auch die oben 691 erwähnte Unterredung Kelsens mit Kittredge v. 27. 11. 1941, wonach Kelsen eine Trilogie schreiben wollte, deren erster Band eine »General Jurisprudence« sein sollte.
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inhaltlich unveränderte Übersetzung der kurzen Schrift über »Die philosophischen Grundlagen« – die Schriftfassung von Kelsens Berliner Vortrag von 1928121 – einfach angehängt werden. Obwohl dies eigentlich nicht der Sinn und Zweck der neuen Schriftenreihe war, scheint das Komitee diesem Plan zugestimmt zu haben. Das Bureau of International Research der Harvard University gewährte Kelsen einen Grant in Höhe von $ 1.500,– für dieses Buchprojekt, was wohl vor allem die Übersetzungskosten betraf.122 Unglücklicherweise wählte Kelsen auch in diesem Fall keinen Amerikaner oder sonstigen Native English Speaker, sondern den Schweden Anders Wedberg, den er ja schon von seiner Schweden-Reise 1933 kannte und der etwa zur selben Zeit wie Kelsen in Harvard weilte,123 als Übersetzer aus. Kelsen scheint profunde Kenntnisse der Rechtsphilosophie für wichtiger als die perfekte Beherrschung der englischen Sprache erachtet zu haben. Das Typoskript, das Wedberg zur Übersetzung diente, wird heute im Hans Kelsen-Institut verwahrt.124 Eine nähere Untersuchung desselben zeigt, dass Kelsen keineswegs einen rein deutschsprachigen Text verfasste und Wedberg allein die Übersetzung besorgte. Vielmehr weist das Typoskript, je weiter man liest, immer längere englischsprachige Passagen auf – der Abschnitt »Legal Character of International Law« im letzten Kapitel »National and International Law« zum Beispiel ist fast zur Gänze auf Englisch verfasst. Und auch dort, wo Kelsen auf Deutsch schrieb, sind Bleistiftnotizen mit der Handschrift beider Personen sichtbar – Kelsen und Wedberg machten hier Notizen zu Übersetzungsschwierigkeiten. Offenbar fühlte sich Kelsen schon wenige Jahre nach seiner Immigration in die USA so sattelfest im Englischen, dass er sich diese Arbeit zutraute. Kelsen erklärte später, dass ihn das Abfassen von Manuskripten in einer Fremdsprache zwinge, »die Gedanken, die ich ausdrücken [will], noch klarer zu denken und schärfer zu fassen.« Bei der Übersetzung seiner deutschen Texte ins Englisch sei er häufig »zu dem Ergebnis gekommen, dass nicht viel Sinn dabei ist, dass ich gezwungen war, meine Gedanken noch klarer zu formulieren, als ich es bisher getan habe.«125 Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – wies das Buch an vielen Stellen »Germanismen« auf, d. h. Kelsen drückte sich vielfach – in den Augen eines amerikanischen Publikums – holprig aus, was dem Erfolg seines Buches nicht gerade förderlich war.126 121 Kelsen,
Naturrechtslehre (1928). Schreiben des Bureau of International Research v. 14. 11. 1941, HKI, Nachlass Kelsen 15o.58. 123 Bindreiter, Schweden und Finnland (2016) 97 f. 124 HKI, Nachlass Kelsen, 14a.54. Im Auftrag des HKI hat erst vor kurzem Frau Dr. Kamila Staudigl-Ciechowicz LL. M. eine wissenschaftliche Edition dieses Manuskripts in Angriff genommen. 125 Hans Kelsen, Interview mit Irmgard Bach, Juni 1958. 126 Bezeichnend ist etwa ein Schreiben von Salo Engel, einem Schüler Kelsens aus Genfer Tagen, der nunmehr selbst Professor an der University of Tennessee in Knoxville war und mit seinen Seminaristen »mit heissem Bemühen und grossem Gewinn« die »General Theory« durchnahm, jedoch direkt Kelsen fragte, ob er ihm nicht das deutsche Originalmanuskript übermitteln könne, »um feststellen zu können, ob nicht manche Schwierigkeiten auf die Uebersetzung zurückzuführen sind.« Salo Engel, Schreiben an Hans Kelsen v. 1. 3. 1949, HKI, Nachlass Kelsen 16c3.60. 122
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Im April 1944, bereits in Berkeley, unterzeichnete Kelsen das Vorwort seiner »General Theory of Law and State«, die im folgenden Jahr in der Harvard University Press erschien. Dem 388 Seiten umfassenden Kerntext schloss sich eine 56-seitige Übersetzung von Kelsens »philosophischen Grundlagen« als »Appendix« an. Dieser war nicht von Wedberg, sondern von Wolfgang Kraus – demselben Übersetzer, der auch schon »Centralisation and Decentralisation« übersetzt hatte – ins Englische übertragen worden.127 Abgesehen von diesem Anhang stellte die »General Theory«, wie Kelsen in seinem Vorwort betonte, mehr eine »Reformulierung als einen Neudruck« von Gedanken dar, die er schon zuvor in deutscher und französischer Sprache geäußert hatte.128 Und tatsächlich präsentierte Kelsen seine Reine Rechtslehre in der »General Theory« auf eine gänzlich andere Art und Weise, als in seiner Zeit in Europa. Schon dass er sein Buch mit dem Versuch einer Definition des Rechts beginnen ließ, ist auffällig, wenn man bedenkt, dass sich Kelsen 1920 in seiner »Souveränität« noch aus wissenschaftstheoretischen Gründen geweigert hatte, das Recht zu definieren.129 In der »General Theory« erklärte Kelsen, dass das Recht sich von allen anderen sozialen Regelungssystemen dadurch abhebe, dass es das »sozial erwünschte Verhalten der Menschen« herbeizuführen versuche, indem es für den Fall des gegenteiligen Verhaltens einen Zwangsakt androhe. Dieses Definitionsmerkmal sei allen Rechtsordnungen gemeinsam, sei es jenen der USA oder der Schweiz, sei es jenen des alten Babylon oder der Aschanti in Westafrika.130 Hier, wie auch an vielen anderen Stellen im Buch wurde die starke Beschäftigung Kelsens sowohl mit antiken Rechtskulturen als auch mit den Rechtsvorstellungen der von ihm so genannten »Primitiven« deutlich, womit sich die »General Theory« schon in ihrem Stil deutlich von der »Allgemeinen Staatslehre« von 1925 oder der »Reinen Rechtslehre« von 1934 abhob. Seine Arbeiten zu »Vergeltung und Kausalität« bzw. »Society and Nature« machten sich auch an vielen anderen Stellen des Buches bemerkbar, so etwa, wenn er die in vielen »primitiven« Rechtskulturen bekannte Blutrache als Beispiel dafür anführte, dass sich eine Sanktion nicht unbedingt gegen den Rechtsbrecher selbst richten muss, sondern auch z. B. seine Familienmitglieder betreffen kann; dies sei »Folge des kollektiven Denkens und Fühlens der Primitiven«.131 Auch wiederholte er seine schon 127 Kelsen,
General Theory (1945) XVIII. General Theory (1945) XIII. Er bezog sich dabei auf Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925) und Kelsen, Reine Rechtslehre (1934) sowie auch auf Kelsen, Théorie générale (1932), gab das Erscheinungsdatum der zuletzt genannten Publikation jedoch offenbar irrtümlich mit »1928« an. 129 Oben 266 f. 130 Kelsen, General Theory (1945) 18 f. Die Passage ist einem 1941 in der »Chicago Law Review« erschienenen Aufsatz entnommen: Kelsen, Social Technique (1941) 79 = WiJ 236. Schon bei Kelsen, Reine Rechtslehre (1934) 25, 28 wurde das Recht als eine »äußere Zwangsordnung« definiert, doch begründete er dies lediglich mit der »Tradition der positivistischen Rechtstheorie des 19. Jahrhunderts«; das entscheidend Neue war also der anthropologische Ansatz, über den Kelsen zu dieser Definition kam. 131 Kelsen, General Theory (1945) 56. 128 Kelsen,
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1941 geäußerte Ansicht, dass das Naturgesetz – auch wenn immer wieder das Gegenteil behauptet werde – nicht unverletztlich sei, zumal die Wirkung nicht mit absoluter Notwendigkeit, sondern – nach den Erkenntnissen der modernen Physik – nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintrete. Anders verhalte es sich mit der Rechtsnorm, die immer gelte und keine Ausnahme zulasse, insbesondere auch dann, wenn sie im Einzelfall nicht befolgt werde.132 Hier also diente seine Beschäftigung mit der Quantenphysik der Bestätigung einer jener Aussagen, die Kelsen seit jeher getätigt hatte. Aber die extrem ideologiekritischen Passagen, die den Abschluss von »Vergeltung und Kausalität« bzw. »Society and Nature« geprägt und das gesamte Wesen der Rechtswissenschaften in Zweifel gezogen hatten, fanden in der »General Theory« keinen Widerhall; in der Sekundärliteratur wird daher in diesem Buch geradezu eine Rückkehr zur »klassischen« Reinen Rechtslehre, wie sie Kelsen noch 1934 im gleichnamigen Buch vertreten hatte, gesehen.133 Gegliedert war der Stoff der »General Theory« in zwei etwa gleich lange Teile: »The Law« und »The State«. Der erste Teil zerfiel wiederum in zwei Hauptstücke: »Nomo statics [Normenstatik]« und »Nomodynamics [Normendynamik]«, eine Gliederung, die Kelsen aus seiner »Allgemeinen Staatslehre« von 1925 übernommen hatte und im wesentlichen auch später, 1960, in die Zweite Auflage der »Reinen Rechtslehre« übernahm. Behandelte »Nomostatics« die Frage nach dem Wesen des Rechts, die Sanktion, das Delikt, die Rechtspflicht, die rechtliche Verantwortlichkeit, das subjektive Recht, die Ermächtigung (Kompetenz), die Zurechnung und die Rechtsperson, so enthielt der Abschnitt über »Nomodynamics« die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung und die Lehre von der Grundnorm, aber auch eine Gegenüberstellung von normativer und soziologischer Jurisprudenz, wie sie Kelsen ja schon 1941 in der »Harvard Law Review« skizziert hatte.134 So wie in jenem Zeitschriftenaufsatz, stützte sich Kelsen auch in der »General Theory« immer wieder auf John Austin, der nicht weniger als 47mal im Text vorkam. Allerdings waren diese Zitate nicht immer zustimmender Natur: So kritisierte Kelsen u. a., dass Austin sich beim Begriff der Norm nicht vollständig vom Befehlsbegriff gelöst habe. Nach Kelsen war die Norm kein Befehl, sondern der Sinn eines Befehls. Der Befehlende könne in der Zwischenzeit seinen Befehl vergessen haben, er könne gestorben sein – die Norm sei dennoch in Geltung.135 Von der Rechtsnorm (legal norm) unterschied Kelsen – so wie schon seit seinem Aufsatz von 1941136 – den 132 Kelsen,
General Theory (1945) 46 f. Vgl. dazu schon oben 651. Das Ende der Reinen Rechtslehre? (2013) 57 ff.; Paulson, Kelsen’s Legal Theory
133 Paulson,
(1992) 267. 134 Vgl. oben 694. 135 Kelsen, General Theory (1945) 32, 59. Vgl. die Parallele zu Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) 10. Es kann also weder von einer »flüchtigen Erwähnung« Austins in der »General Theory« gesprochen werden, noch davon, dass Kelsen »im wesentlichen Neu-Austinianer« gewesen sei, vgl. zu diesen Vorwürfen Paulson, Rezeption (1988) 190. Siehe auch Cadore, »Good-bye to all that«? (2018) 263. 136 Oben 695.
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diese Norm beschreibenden Rechtssatz (den er auch hier wieder als »rule of law« bezeichnete137). Er werde nicht von der normsetzenden Autorität, sondern von der Rechtswissenschaft erzeugt und habe die Form eines hypothetischen Urteils. Damit hatte Kelsen eine ganz wesentliche Modifikation, oder eigentlich Verfeinerung der Reinen Rechtslehre vollzogen. Der zweite Teil des Buches, »The state«, war eine abgewandelte Allgemeine Staatslehre, in der sich Kelsen darum bemühte, den Stoff seines Buches von 1925 an amerikanische Verhältnisse anzupassen, u. a. indem er immer wieder die amerikanische Verfassung heranzog, um allgemeine Aussagen zu exemplifizieren.138 Dennoch blieb seine Darstellung kontinentaleuropäischen Denktraditionen verhaftet, so etwa, wenn er von der rechtsprechenden Funktion der Exekutive sprach.139 Und auch seine Darstellung, wie eine Verfassungsgerichtsbarkeit gestaltet sein könne, war nach wie vor vom österreichischen Modell geprägt, indem er seine Thesen von 1942140 zusammenfassend wiederholte. Den Abschluss des Teiles über »The State« bildete das Verhältnis von nationalem Recht und internationalem Recht. Und so wie schon seine Monographie zur »Souveränität« und seine »Reine Rechtslehre«, so schloss auch Kelsens »General Theory« mit der Gegenüberstellung der beiden Varianten der monistischen Völkerrechtstheorie und brachte den Supremat des staatlichen Rechts mit Nationalismus und Imperialismus, den des Völkerrechts mit Internationalismus und Pazifismus in Verbindung. Die Wahl zwischen diesen beiden Hypothesen sei keine der Wissenschaft; Aufgabe der Wissenschaft aber sei es, diese Verbindungen aufzuzeigen.141 Hans Kelsen hatte sich große Mühe gegeben, seine Reine Rechtslehre einem amerikanischen Publikum verständlich zu machen. Umso herber musste für ihn die Enttäuschung sein, dass seine Arbeit vorwiegend auf negative Kritik stieß. Und diese Kritik war nur selten substantiiert: Vorwürfe, wie etwa von Paul Sayre, dass die Reine Rechtslehre nicht so »rein« sei, wie sie vorgebe, da sie die Wirksamkeit als Bedingung der Geltung vorsehe, waren die Ausnahme. Die meisten amerikanischen Juristen lehnten die »General Theory« einfach deswegen ab, weil sie zu europäisch, zu theorielastig, zu kantianisch sei. So schrieb Harry W. Jones in der Columbia Law Review, dass das Buch für die in der amerikanischen Rechtstheorie diskutierten Fragen »irrelevant« sei. Wichtig sei »die Beschäftigung mit richterlichem Denken und den Einflußfaktoren auf die richterliche Entscheidung« – all dies fehlte bei Kelsen und musste von einem Vertreter des Rechtsrealismus naturgemäß vermisst werden.142 137 Kelsen, General Theory (1945) 45. Die englische Phrase findet sich bereits in Kelsens zur Übersetzung an Wedberg gegebenem Typoskript, stammt also vom Autor selbst. 138 Besonders häufig etwa Kelsen, General Theory (1945) 261–266; ebendort aber auch Hinweise zu einigen anderen Verfassungen wie etwa der WRV. 139 Kelsen, General Theory (1945) 274. 140 Oben 696. 141 Kelsen, General Theory (1945) 388. 142 Paulson, Rezeption (1988) 187 f. Vgl. dazu auch Green, Marmor’s Kelsen (2016) 44–47.
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Lon L. Fuller breitete 1948 bei einem Tischgespräch der Association of American Law Schools seine Ansichten darüber aus, inwieweit Studierende der Rechtsfakultäten auch mit »Jurisprudence« konfrontiert werden sollten. Dabei betonte er, dass das Problem der Gerechtigkeit gleich am Beginn dieses Faches stehen sollte, da alle anderen Probleme davon abhingen. Scharf kritisierte er in diesem Zusammenhang Kelsen, der die Gerechtigkeit als »irrational ideal« bezeichnet hatte. Allerdings sei Kelsens Theorie weit davon entfernt, eine bedeutsame Rolle in der amerikanischen Rechtsphilosophie zu spielen.143 Nicht nur die »General Theory« im Speziellen, sondern auch die gesamte Reine Rechtslehre konnte in den Vereinigten Staaten niemals richtig Fuß fassen, wofür es eine Reihe von Gründen gibt. Die Übersetzungsschwierigkeiten waren dabei kein peripheres Problem. In einem Land, in dem das Wort »justice« sowohl für »Gerichtsbarkeit« als auch für »Gerechtigkeit« verwendet wird, hatte eine Rechtslehre, die Recht von Gerechtigkeit zu unterscheiden suchte, von vornherein einen schweren Stand; ihr ganzes Instrumentarium basierte auf der deutschen Sprache – und auf einer Rechtskultur, die auf dem Boden des gemeineuropäischen gelehrten Rechts, dem ius commune, entstanden war (was auf das common law Englands und Angloamerikas nicht zutraf ). Wie sollte man Studierenden, die gewohnt waren, das Recht anhand von einzelnen Fällen zu lernen, den Stufenbau des Rechts erklären? Dazu kam noch, dass Kelsens Rechtslehre zwar in Auseinandersetzung mit der Begriffsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts entstanden war, aber bei angloamerikanischen Juristen den Eindruck erweckte, ebenjenem Formalismus anzuhängen, den sie so heftig bekämpfte. Und ihre offenbare Unfähigkeit, dem Nationalsozialismus zu begegnen, brachte sie in den Verdacht, einem moralischen Relativismus Vorschub zu leisten.144 Kelsen selbst stellte im Jahre 1958 fest, dass seine »General Theory« zwar in relativ kurzer Zeit (1945, 1946 und 1949) drei Auflagen erlebt hatte (eine vierte erschien 1961), dass aber »das Interesse an meiner Reinen Rechtslehre, an einer abstrakten Theorie des Rechts in Amerika nicht sehr groß […] und die Bereitwilligkeit des Anzunehmens [sic] sehr gering« sei. Er habe später, 1949, in Buenos Aires fünf Vorlesungen »über den Gegenstand der Rechtswissenschaft gehalten«, vor einem Auditorium aus mindestens 500 Advokaten und Studenten. »Wenn ich hier in den Vereinigten Staaten diese Vorlesungen halten würde, würde man mich wahrscheinlich fragen: […] ›Worüber sprechen Sie eigentlich? Über etwas, was uns eigentlich nicht besonders interessiert.‹«.145
143 Fuller, The Place and Uses of Jurisprudence (1949) 496. Herrn Assoz. Prof. Dr. Tomasz Widłak, Gdańsk, bin ich zu Dank für diesen Literaturhinweis verpflichtet. 144 Telman, A Path not Taken (2010) 359 f.; Telman, Introduction (2016) 4. 145 Hans Kelsen, Interview mit Irmgard Bach, Juni 1958. Zu den Auflagen, Nachdrucken und Übersetzungen vgl. Walter /Jabloner /Zeleny, Hans Kelsens stete Aktualität (2003) 186–188.
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4. Teil: Amerika und die Welt
4. Das zweite Jahr in Massachusetts Als Kelsen in die USA immigriert war, befanden sich diese noch im Frieden und bewahrten angesichts der Kriege in Europa und Asien formell den Zustand der Neutralität, zumal die weit überwiegende Mehrheit der US-Bürgerinnen und Bürger einen Kriegseintritt ablehnte. Präsident Roosevelt jedoch bereitete sich spätestens seit 1939 auf eine bevorstehende militärische Auseinandersetzung mit Deutschland und Japan vor. Immer offener unterstützte er Großbritannien und China und rüstete die US-Streitkräfte auf; im September 1940 wurde die allgemeine Wehrpflicht wiedereingeführt.146 All dies sowie auch der noch immer andauernde Kampf gegen die wirtschaftliche Depression zog die amerikanischen Universitäten in Mitleidenschaft: Ihre Budgets wurden gekürzt, ihre Studentenzahlen gingen massiv zurück. Während im akademischen Jahr 1939/40 noch 1.393 Studenten an der Harvard Law School inskribiert hatten, waren es im Folgejahr noch 1.249 und 1941/42 nur mehr 827.147 Unter diesen Umständen wurde es für immigrierte Wissenschaftler immer schwieriger, Anstellungen an amerikanischen Universitäten zu erhalten. Und auch wenn sie einen Lehrstuhl erlangt hatten, bedeutete dies nicht, dass sie – so wie weiland ein österreichischer Universitätsprofessor – »pragmatisiert«, d. h. unkündbar waren. So verlor etwa der aus Deutschland emigrierte Volkswirt Hans Neisser – laut Schumpeter einer der »besten ökonomischen Köpfe« seiner Generation – 1940, nach sieben Jahren Lehrtätigkeit, seine Anstellung an der University of Pennsylvania, weil diese ihn nicht mehr finanzieren konnte.148 Hans Kelsen hatte mit seiner Anstellung als Gastprofessor an der Harvard University einen fulminanten Start hingelegt, doch war diese Professur auf ein Jahr beschränkt, und die Oliver Wendell Holmes Lecture durfte statutengemäß nur alle drei Jahre gehalten werden,149 sodass eine direkte Fortsetzung im akademischen Jahr 1941/42 unmöglich war. Dies schien allerdings zunächst kein Problem für Kelsen zu sein. Denn schon am 23. Juni 1940, am selben Tag, an dem er Roscoe Pound von seiner Ankunft in den USA berichtet hatte, hatte er auch Charles E. Merriam nach Chicago geschrieben, dass er nunmehr hier sei und »eine neue Position in diesem Land« suche.150 Merriams Institutskollege Leonard D. White erkundigte sich daraufhin bei der Rockefeller Foundation, ob diese eine Anstellung Kelsens in Chicago finanziell unterstützen würde.151 Tracy Kittredge stieg in die Verhandlungen ein, und man einigte sich 146 Bierling, Amerikanische Außenpolitik (2003) 81 f.; Heideking/Mauch, Geschichte der USA (2006) 268. 147 Official Register of Harvard University: The Law School XXXVII (1940), Appendix: Student List 96; ebd. XXXVIII (1941), Appendix: Student List 37. 148 Rutkoff/Scott, New School (1986) 95. 149 Vgl. oben 679. 150 Hans Kelsen, Schreiben an Charles E. Merriam v. 23. 6. 1940, zit. n. Boyer, »We are all Islanders …« (2007) 106. 151 Leonard D. White (University of Chicago), Schreiben an Raymond Fosdick (RF) v. 4. 10. 1940, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4089.
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auf eine auf drei Jahre begrenzte Anstellung zu einem Jahresgehalt von $ 5.000,–, von dem die Rockefeller Foundation die Hälfte zahlen solle, womit sich auch Kelsen einverstanden zeigte.152 Anders als in Harvard war die Anstellung in Chicago aber nur möglich, wenn Kelsen bereit war, eine sechsstündige Hauptvorlesung aus politischer Theorie zu halten, was den – in englischer Sprache noch sehr unsicheren – Kelsen vor eine ziemliche Herausforderung stellte.153 Schon früher hatte Kelsen, in einem Schreiben an den Chicagoer Politikwissenschaftler Quincy Wright, erklärt, dass er sich »zu Beginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit in der englischen Sprache zugunsten der Qualität seiner Vorlesungen nicht überlasten dürfe.«154 Doch dies war nicht das Haupthindernis. Vielmehr tauchten nun einige Schriften auf, in denen Kelsens Reine Rechtslehre teils sehr scharf kritisiert worden war, so namentlich im 1940 erschienenen Buch »Jurisprudence« des emigrierten deutschen Naturrechtlers Edgar Bodenheimer,155 und schon davor, 1937, in einem Aufsatz, den der Politologe Henry Janzen vom Hamilton College/NY für die »American Political Science Review« direkt zu Kelsens Harvard-Vorlesung von 1936 geschrieben hatte.156 Gegen erstere verfasste ein jüngerer Mitarbeiter des Chicagoer Political Science Department, Nathan Leites, sofort eine Gegenschrift, in der er Kelsen verteidigte. Aber die Aufmerksamkeit des Präsidenten der Universität, Robert M. Hutchins, war geweckt, und er begann, selbst Erkundigungen über Kelsen einzuholen.157 Entscheidend für die weitere Entwicklung war ein Brief, den der katholische Politikwissenschaftler Waldemar Gurian, der aus Deutschland emigriert war und an der University of Notre Dame/IN lehrte, an ein anderes Mitglied des Chicagoer Political Science Department, Jerome Kerwin, richtete und der von Kerwin an den Präsidenten weitergeleitet wurde. Darin hieß es u. a.: »Ich würde es nicht verstehen, wenn Präsident Hutchins Kelsen einladen würde […].« Kelsen sei ein Positivist, der einerseits einen »abstrakten, formalistischen Normativismus«, andererseits einen »blinden Dezisionismus« lehre; er verwies auf den Aufsatz von Janzen. Gurians Kritik 152 John D. Russell (University of Chicago), Schreiben an Joseph H. Willits (RF) v. 21. 10. 1940, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4089; John D. Russell (University of Chicago), Schreiben an Tracy B. Kittredge (RF) v. 2. 1 2. 1940, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4089. 153 Aktenvermerk v. 14. 3. 1941, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4090. 154 Hans Kelsen, Schreiben an Quincy Wright v. 7. 9. 1940, zit. n. Cadore, »Good-bye to all that«? (2018) 254. 155 Bodenheimer, Jurisprudence (1962) 154 [die erste Auflage dieses Buches erschien 1940]. Bodenheimer, geb. Berlin 1908, gest. 1991, war 1933 in die USA emigriert und arbeitete zu jener Zeit im US-Arbeitsministerium; 1966 wurde er Professor an der UC in Davis; vgl. Stiefel/Mecklenburg, Deutsche Juristen (1991) 56 f. Auch später verfasste Bodenheimer gegen Kelsen gerichtete Schriften, trug aber auch mit einem Beitrag zur Festschrift zum 90. Geburtstag Kelsens bei: Bodenheimer, Philosophical Anthropology (1971). 156 Janzen, Kelsen’s Theory (1937). 157 Boyer, »We are all Islanders …« (2007) 108 f.
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betraf aber auch die Demokratietheorie Kelsens: Denn diese sei durch das »Fehlen eines Glaubens an die absolute Wahrheit« gekennzeichnet. »Ich glaube, [Kelsen] repräsentiert eine Mentalität, die […] verantwortlich ist für den erschreckenden Zusammenbruch der europäischen Zivilisation und den Sieg primitiver politischer Religionen.«158 Präsident Hutchins, ein Pädagoge, der selbst 1936 geschrieben hatte, dass das Recht, so wie die Ethik und die Politik, dem Guten dienen solle, lehnte nunmehr jedes weitere Engagement für Kelsen ab. Unter diesen Umständen gelang es Merriam und White lediglich, $ 1.500,– beim Jewish Welfare Fund aufzutreiben und, gestützt auf diese Zusage und auf die schon zuvor erhaltene Zusage der Rockefeller Foundation über $ 2.500,–, Kelsen ein ausschließlich auf Drittmitteln basierendes Angebot für ein einziges Jahr für $ 4.000,– zu machen.159 Kelsen erfuhr wohl niemals die genauen Hintergründe für diese plötzliche Wendung in seinen Verhandlungen mit der University of Chicago, aber er schrieb an White, dass er den Eindruck gewonnen habe, dass die Zurücknahme des ursprünglichen Angebotes »nicht bloß aus finanziellen Gründen« erfolgt sei. Er erklärte, das Angebot der University of Chicago ausschlagen zu wollen und sich anderswo nach einer dauerhaften Anstellung umzusehen.160 Nun aber sprang die Harvard University ein und erkundigte sich bei der Rockefeller Foundation, ob es möglich sei, die Gelder, die der University of Chicago bereits fix zugesagt worden waren, nach Harvard zu transferieren, sollte Kelsen dort für ein weiteres Jahr angestellt bleiben.161 Nachdem die Foundation ihre Zustimmung dazu signalisiert hatte, erklärte Landis ihr gegenüber, dass man Kelsen für das Jahr 1941/42 als »Research Associate in Comparative Law« in Harvard behalten wolle. Er solle außer an der Law School auch am Department of Sociology arbeiten und dort einen Kurs über Rechtssoziologie halten. Das Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars würde dies mit $ 1.000,– unterstützen.162 Diese zuletzt genannte Förderung kam jedoch niemals zustande.163 Vielmehr bekam Kelsen vom Bureau of International 158 Waldemar Gurian, Schreiben an Jerome Kerwin v. 23. 8. 1940, zit. n. Boyer, »We are all Islanders …« (2007) 110. 159 Aktenvermerk v. 27. 3. 1941, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4090. Vgl. Boyer, »We are all Islanders …« (2007) 116; Feichtinger, Transatlantische Vernetzungen (2009) 329. 160 Hans Kelsen, Schreiben an Leonard D. White v. 12. 4. 1941, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4090. 161 Aktenvermerk v. 14. 3. 1941, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4090. 162 James M. Landis (Harvard University), Schreiben an Joseph H. Willits (RF) v. 3. 6. 1941 und v. 19. 6. 1941, beide in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4090. Antwortschreiben v. 6. 6. 1941 in: HKI, Nachlass Kelsen 15o.58. 163 Aktenvermerk v. 1. 5. 1942, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4091. Das Emergency Committee hatte schon bisher alle Gesuche der University of Chicago abgelehnt, zumal das vorgeschlagene Gehalt Kelsens – trotz aller Reduzierungen – noch immer weit über dem lag, was exilierte Wissenschaftler sonst erhielten: Fleck, Etablierung (2015) 182.
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Research der Harvard University ein Gehalt von lediglich $ 1.500,–, sodass er einschließlich der Förderung der Rockefeller Foundation nur mehr $ 4.000,– für sein zweites Jahr in Harvard erhielt, also auch nicht mehr, als ihm Chicago bezahlt hätte.164 Am 9. Juni 1941 wurde Kelsen offiziell zum »Research Associate in Comparative Law«, für ein Jahr, beginnend mit 1. September, ernannt.165 Silving erzählt, dass Kelsen zwar weiter in Langdell Hall sein Arbeitszimmer hatte, nunmehr aber dem Sociology Department zugeteilt war, wo er von Pritim Sorokin, einem 1923 aus Russland emigrierten Soziologen, gefördert wurde.166 Kelsen selbst berichtet, dass er in seinem zweiten Jahr einen Kurs aus Rechtssoziologie am Department of Socicology hielt; über eine allfällige Lehrtätigkeit an der Law School ist nichts bekannt.167 Der finanzielle Verlust, den Kelsen erlitten hatte, wurde aber dadurch ausgeglichen, dass er im Sommersemester 1942 nicht nur an der Harvard University, sondern auch an dem – ebenfalls in Massachusetts, nur wenige Kilometer westlich von Harvard gelegenen – Wellesley College unterrichtete, und zwar zu einer Jahresgage von $ 2.600,–. Für ein einzelnes Semester bedeutete dies $ 1.300,–, sodass er im Jahr 1941/42 insgesamt $ 5.300,– für seine Lehrtätigkeiten verdiente, also sogar noch etwas mehr als im ersten Jahr, als er allein für seine Oliver Wendell Holmes Lecture $ 5.000,– verdient hatte.168 Das Wellesley College war eine 1870 gegründete Bildungsanstalt für Frauen, die bis heute einen ausgezeichneten Ruf besitzt.169 Der Lehrkörper bestand und besteht fast ausschließlich aus Frauen; geleitet wurde das College in den Jahren 1936–1949 von Mildred H. McAfee, die jedoch gerade zu jener Zeit, als Kelsen hier unterrichtete, zur Navy ging. Eine der Professorinnen, Margaret Ball, war für das Studienjahr 1941/42 für Forschungs‑ und Lehrzwecke beurlaubt, weshalb Hersch Lauterpacht im Wintersemester jenes akademischen Jahres an ihrer Stelle als »Whiton Calkins Visiting 164 Edmund M. Morgan (Harvard Law School), Schreiben an Roger F. Evans (RF) v. 4. 5. 1942, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4091. Die formelle Übertragung des Grants in: RA SS 4142 und RA SS 4149, beide in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4089. 165 Jerome D. Green (Secretary of the Harvard Corporation), Ernennungsschreiben, undatiert [9. 6. 1941], in: HKI, Nachlass Kelsen 15o.58. Auch im Official Register of Harvard University: The Law School XXXVIII (Cambridge/MA 1941) 5, wurde Kelsen als »Hans Kelsen, LL. D., D. R.h. c., Research Associate in Comparative Law« geführt. 166 Silving, Memoirs (1988) 263. 167 Kelsen, Autobiographie (1947) 44 = HKW I, 89 f. Die Angabe bei Métall, Kelsen (1969) 117, dass er auch 1941/42 über »Law and Peace in International Relations« vorgetragen habe, ist sehr zweifelhaft. 168 Personalakt Kelsen der UC Berkeley, Formblatt »Previous Employments«, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. 169 http://www.wellesley.edu/about/collegehistory [Zugriff: 02. 05. 2019]. Zu den Absolventinnen des Wellesley College zählen u. a. die beiden Außenministerinnen Madeleine Albright und Hillary Clinton, oder auch die Drehbuchautorin Nora Ephron, die allerdings alle erst viele Jahre nach Kelsens dortiger Lehrtätigkeit das Wellesley College besuchten. Eine möglicherweise authentische Atmosphäre des Colleges in der Mitte des 20. Jh. vermittelt der Film »Mona Lisa Smile « mit Julia Roberts von 2003, der auf dem Gelände des Colleges gedreht wurde und dessen Handlung elf Jahre nach Kelsens dortiger Lehrtätigkeit spielt.
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Professor« am Wellesley College lehrte. Offenbar stellte sich kurzfristig heraus, dass Lauterpacht bereits im Jänner 1942 zurück nach England musste, weshalb die Lehrstuhlvertretung Hans Kelsen angeboten wurde. Der Vorschlag kam vielleicht von Lauterpacht, wahrscheinlicher aber von Ball, die als Studentin in Köln eine Schülerin Kelsens gewesen war.170 Jedenfalls nahm Kelsen das Angebot an und unterrichtete im Sommersemester 1942, ebenfalls als »Whiton Calkins Visiting Professor«, internationales Recht in Wellesley.171 Die Prüfungen waren schriftlich; hier war Helen Silving für Kelsen eine wertvolle Stütze.172 Wie der offizielle Bericht des Department of Political Science des Wellesley College vermerkt, war der »intellektuelle Zugang« Kelsens zum Stoff ein etwas anderer als der von Lauterpacht, was bei einigen Studentinnen zu Verwirrung geführt habe, die meisten hätten dies jedoch als überaus anregend empfunden. Der Lehrkörper war sich der hohen Auszeichnung des Colleges bewusst, dass innerhalb eines Jahres zwei Gelehrte von Weltruf hier unterrichteten, und besonders freute es sie, dass Kelsen in mehreren seiner Publikationen, die in jener Zeit erschienen, seine Zugehörigkeit zum Wellesley College vermerkte.173 Kelsen wurde sogar eine Fortsetzung seiner Lehrtätigkeit auf Teilzeitbasis angeboten, was dieser jedoch unter Hinweis auf seine mittlerweile erfolgte Berufung an die UC Berkeley ablehnte.174 Zu dieser Berufung nach Berkeley kam es, weil Kelsens Versuche, in Harvard bleiben zu können, letztlich doch scheiterten. Vielleicht auch aufgrund der Schwierigkeiten, die er mit der Fertigstellung seines Buches »Society and Nature« hatte, blies ihm der Wind immer stärker entgegen. In seinem Büro in Langdell Hall saß Kelsen Tür an Tür mit dem berühmten Völkerrechtler Manley O. Hudson, der 1936–1946 der amerikanische Vertreter am StIGH war. Dieser machte Kelsen wenig Hoffnungen und meinte nur, er solle froh sein, nicht in einem KZ gelandet zu sein. Auch Roscoe Pound besuchte seinen Freund oft in dessen Arbeitszimmer, aber er konnte nichts für Kelsen erreichen und beklagte nur, dass er nicht mehr Dekan sei, sonst hätte er ihm sicher zu einer Professur verhelfen können.175 Im April 1942 erklärte Kelsen in einem 170 Louise Overacker, President’s Report v. 11. 6. 1942, in: Wellesley College Archives, President’s Office, Academic Departments: Political Science. Es wird dort nur erwähnt, dass Ball bei Kelsen in Köln »Vorlesungen« besucht hatte. Ball verfasste in Köln aber auch eine völkerrechtliche Dissertation: Ball, Die deutsch-österreichische Anschlußbewegung (1934), und in ihrem mit »Köln, 15. April 1933« datierten Vorwort dankt sie u. a. Hans Kelsen (dessen Zwangsbeurlaubung am Vortag bekanntgegeben worden war, vgl. oben 549); es ist davon auszugehen, dass er ihre Arbeit ursprünglich betreute, jedoch aufgrund der politischen Entwicklung nicht mehr begutachten konnte. 171 Métall, Kelsen (1969) 77. 172 Silving, Memoirs (1988) 263. 173 So etwa Kelsen, Judicial Review (1942). 174 Louise Overacker, President’s Report v. 11. 6. 1942, in: Wellesley College Archives, President’s Office, Academic Departments: Political Science. Nach einem Aktenvermerk von Roger F. Evans (RF) v. 15. 5. 1942, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4091, wurde Kelsen ein jährliches Gehalt von $ 1.200–1.500 angeboten, das also deutlich weniger gewesen wäre, als sein Gehalt für das Sommersemester 1942. 175 Silving, Memoirs (1988) 266 f.
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persönlichen Gespräch mit Roger Evans von der Rockefeller Foundation, dass Dekan Landis niemals mehr als fünf Minuten Zeit für ihn gehabt und es ständig geheißen habe, »keine Zukunft in Harvard unter den gegenwärtigen Bedingungen«.176 Mit Unterstützung und wohl auch auf Anregung von Roscoe Pound bewarb sich Kelsen Anfang 1942 um einen Grant in Höhe von $ 2.500,– beim William F. Milton Fund, einem 1924 eingerichteten Fonds der Harvard University. Mit diesem sowie mit der Unterstützung der Rockefeller Foundation wollte er sein gesamtes Einkommen für das Jahr 1942/43 bestreiten, sodass die Harvard University ihm eine Anstellung für ein drittes Jahr nicht aus finanziellen Gründen verweigern konnte.177 Als die Harvard Corporation davon erfuhr, intervenierte sie direkt bei der Rockefeller Foundation. Der Sekretär der Corporation, Jerome D. Greene, hielt fest, dass »all diese europäischen Exilanten keine Karrieremänner« (gemeint: Männer, deren Karrieren aussichtsreich seien – und in die daher investiert werden sollte) seien, und dass sie immer nur für ein Jahr angestellt werden. Wiederholte Anstellungen könnten so interpretiert werden, dass sich eine Verpflichtung der Universität für weitere Verlängerungen ergebe. Zwar sei Kelsen ein herausragender Wissenschaftler, doch gebe es keine Aussicht auf eine Dauerstelle in Harvard für ihn. Wenn die Rockefeller Foundation ihn nicht unterstütze, dann sei er auch für den Milton Fund nicht förderwürdig.178 Im Archiv der Rockefeller Foundation findet sich kein Antwortschreiben auf den Brief von Greene. Kelsen berichtet in seiner Autobiographie, dass es der Präsident der Harvard University, James B. Conant, selbst war, der Kelsens Verlängerung für ein drittes Jahr ablehnte; »seine Begruendung war, dass eine Verlaengerung eine moralische Verpflichtung der Universitaet involvieren wuerde, mich staendig zu halten und dass keine Professur frei sei, die fuer mich in Betracht kaeme. Ich bezweifle, dass dies der wahre Grund war.«179 Mangels weiterer Andeutungen muss es offen bleiben, worin Kelsen die wahren Gründe erblickte. Fest steht nur: »Dieser Misserfolg hat mich sehr gekraenkt, zumal da ich als Ehrendoktor der Harvard Universitaet eine bessere Behandlung erhofft hatte.« Bedenkt man, in welch hohen Tönen Kelsen noch 1937 über Conant geschrieben hatte,180 so wird das Maß seiner Verbitterung verständlich. Aber Kelsen musste lernen, dass die Verleihung eines Ehrendoktorates nach anderen Spielregeln erfolgte als die Gewährung einer existenzsichernden Anstellung. Dies galt im Positiven wie im Negativen: Denn obwohl Kelsen – in seinem Bemühen, 176 Roger F. Evans (RF), Aktennotiz v. 9. 4. 1942, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4091; vgl. schon oben 692. 177 Roscoe Pound, Schreiben an Jerome D. Greene v. 9. 1. 1942, in: Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7; vgl. auch das Schreiben des Sekretärs des Milton Fund Committee, Robert W. King, an Roscoe Pound v. 16. 2 . 1942, a. a. O., wonach der Antrag Kelsens vom Komitee immerhin meritorisch geprüft wurde. 178 Jerome D. Greene (Harvard University), Schreiben an Joseph H. Willits (RF) v. 17. 4. 1942, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4091. 179 Kelsen, Autobiographie (1947) 44 = HKW I, 90. 180 Vgl. oben 607, 619.
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eine Daueranstellung in Harvard zu erlangen – mit der University of Chicago recht deutlich und brüsk gebrochen hatte, trug diese es ihm nicht (sichtbar) nach: Als die University of Chicago wenig später, am 29. September 1941, ihr 50-jähriges Bestehen feierte und dabei eine Reihe von Ehrendoktoraten an international anerkannte Wissenschaftler verlieh, zählte auch Hans Kelsen dazu.181 Die Ehrendoktorwürde von Chicago war – nach Utrecht und Harvard – nun schon die dritte derartige Auszeichnung; eine Anstellung hatte er an keiner der drei Lehrstätten erhalten.
5. Vom Atlantik zum Pazifik a) Ein Angebot aus Kalifornien Im Dezember 1941, eine Woche nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor und dem Kriegseintritt der USA,182 erhielt Hans Kelsen Post aus dem fernen Kalifornien. Franz Schick, ein gebürtiger Wiener, der bei Kelsen Lehrveranstaltungen in Wien besucht hatte, 1937 in die USA emigriert war und nunmehr als »journalist, lecturer and research graduate in the Political Science Dept. of the University of California« arbeitete,183 informierte seinen ehemaligen Lehrer, dass an seinem Department demnächst »a full professorship in International Law« ausgeschrieben werde.184 Das war, gelinde gesagt, übertrieben: Etwa einen Monat zuvor hatte ein Associate Professor des Departments, Eric C. Bellquist, lediglich bekanntgegeben, dass ein Lehrbeauftragter namens (William) Lawson Reno mit Ende des akademischen Jahres 1941/42 ausscheide und man daher einen, möglicherweise zwei »instructors« benötige, um die Lücke zu schließen.185 Die University of California besaß zu jener Zeit zwar noch nicht jene herausragende Stellung, die sie heute in der Welt der Wissenschaft genießt, konnte aber schon damals auf immerhin zwei Nobelpreisträger verweisen (Harold C. Urey, Chemie 1934; Ernest O. Lawrence, Physik 1939; mittlerweile sind es über hundert). Juristisch grundgelegt in Art. IX der Verfassung des Staates Kalifornien von 1849, war ihre eigentliche Gründung am 23. März 1868 erfolgt.186 Weitere fünf Jahre später war der Vorlesungsbetrieb auf dem ersten Campus der »UC« aufgenommen worden. Dieser lag auf einem Hügel am Ostufer der San Francisco Bay und bot einen einzigartigen Ausblick auf das Golden Gate, jene Meeresenge, die die Bucht vom Pazifischen Ozean 181 Robert M. Hutchins (Präsident der University of Chicago), Schreiben an Hans Kelsen v. 14. 9. 1940, HKI, Nachlass Kelsen 15a36.57 (mit Nennung des 29. 9. 1941 als Datum der Promotion). Unrichtig daher die Datumsangabe »1943« bei Kelsen, Autobiographie (1947) 45 = HKW I, 91. 182 Siehe dazu Bierling, Amerikanische Außenpolitik (2003) 83; Müller, Weltkrieg (2004) 205. 183 Franz B. Schick, geb. 5. 8. 1901, ab 1948 Professor für Völkerrecht an der University of Utah, vgl. R athkolb, Exodus der »Jurisprudenz« (1987) 289. 184 Franz B. Schick, Brief an Hans Kelsen vom 15. 1 2. 1941, HKI, Nachlass Kelsen 15n.58. 185 Eric C. Bellquist, Brief an J. A. C. Grant v. 14. 11. 1941, HKI, Nachlass Kelsen 15n.58. 186 Stadtman, The University of California (1970) 34.
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trennt. Eine Erzählung besagt, dass einer der Gründerväter der Universität, Frederick Billings, auf diesem Hügel stand und zwei Schiffe beobachtete, die durch das Golden Gate hinaus auf den Pazifik fuhren, als er an einen Vers des englischen Philosophen George Berkeley (1685–1753) – »Westward the course of empire takes its way« – denken musste. Dies soll jedenfalls der Grund gewesen sein, weshalb der Campus und in der Folge auch die hier entstehende Stadt Berkeley genannt wurden.187 Infolge des Anwachsens der Universität wurden später auch an anderen Orten in Kalifornien, wie insbesondere 1864 in San Francisco selbst und 1881 in Los Angeles, Einrichtungen der »University of California« geschaffen, die 1958 zu einem »public university system« umorganisiert wurde, wobei aber Berkeley seine führende Stellung in diesem System bis heute beibehielt.188 Im Herbstsemester 1941 waren an den sieben Standorten der Universität (Berkeley, Los Angeles, San Francisco, Davis, Riverside, Mount Hamilton und Jolla) insgesamt 23.285 Studentinnen und Studenten eingeschrieben, davon 13.968, also mehr als die Hälfte, in Berkeley. Von diesen wiederum waren 11.564 nicht graduiert, 2.404 graduiert, besaßen also zumindest schon den akademischen Grad eines Bachelor.189 Oberstes Organ der University of California waren die »Regents«, ein Gremium mit acht ex-officio-Mitgliedern wie vor allem dem Gouverneur von Kalifornien (1939– 1943: Culbert L. Olson) und dem Präsidenten der Universität (1930–1958: Robert G. Sproul), sowie 16 weiteren, auf eine Dauer von 16 Jahren gewählten Mitgliedern. Die Regents ernannten die akademischen »Officers«, die in ihrer Gesamtheit den Akademischen Senat bildeten, welcher – vorbehaltlich der Zustimmung der Regents – u. a. die Bedingungen für die Zulassung zum Studium und für die Verleihung akademischer Grade festlegte. An der Spitze jeweils einer School, eines College oder sonstigen Einrichtung stand ein Dean.190 Das Political Science Department der UC Berkeley war 1903 auf Betreiben des Historikers und Soziologen Bernard Moses (1846–1930) geschaffen worden;191 es wurde zu jener Zeit von David P. Barrows geleitet und bestand aus zwei Abteilungen: dem »Bureau of Public Administration« unter der Leitung von Samuel C. May, sowie dem »Bureau of International Relations«, geleitet von Frank M. Russell. Letzteres war 1921, unter dem Eindruck der Errichtung des Völkerbundes, gegründet worden. Es befand sich in der South Hall, einem der ältesten, noch aus der Gründungszeit der Universität stammenden Gebäude am Campus, und beherbergte u. a. sämtliche offiziellen Veröffentlichungen des Völkerbundes und des Ständigen Internationalen Gerichtshofes sowie eine große Menge an Sekundärliteratur.192 Frequentiert wurde 187 Stadtman,
The University of California (1970) 14. Hans Kelsen in Berkeley (2016) 58 f. 189 Catalogue of Officers and Students 1941–1942, 224; vgl. auch Stadtman, The University of California (1970) 339 f. 190 General Catalogue 1941–1942, 15; ebenso General Catalogue 1942–1943, 15. 191 Van Horn/Bellquist, Political Science (1968). 192 General Catalogue 1942–1943, 408–416. 188 Olechowski,
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das Department vor allem von nicht graduierten Studierenden, die im Rahmen ihres Bachelorstudiums einen Schwerpunkt (»major«) in Internationalen Beziehungen setzen konnten, wenn sie entsprechende Lehrveranstaltungen, u. a. aus »Political Science«, absolviert hatten. Es ist also unzutreffend, »Political Science Department« einfach mit »Institut für Politikwissenschaften« ins Deutsche zu übersetzen; der Wirkungsbereich des Departments in Forschung und Lehre ging weiter über das hinaus, was im deutschen Sprachraum darunter verstanden wird, und umfasste insbesondere auch Themenfelder, die schon seit vielen Jahren zu den Schwerpunkten von Kelsens wissenschaftlicher Tätigkeit gehörten.193 Im Gegensatz dazu diente die Law School der UC Berkeley, wie praktisch alle law schools der USA, primär dem Erlernen des common law, eines case law-Systems, das vor allem anhand von einzelnen Fällen unterrichtet wurde.194 Für Rechtstheorie, jedenfalls nach der Art und Weise, wie sie Kelsen betrieb, war an solchen law schools kein Platz.195 Deutlich wird dies in einem Schreiben, das Thomas R. Powell von der Harvard Law School im Jänner 1942 an den Dean der Law School der UC Berkeley Richard G. Gettell schrieb: »Kelsen ist aus unserer amerikanischen Sicht überhaupt kein Jurist, sondern Philosoph und Soziologe. Er würde in Politischer Theorie oder internationalem Recht, oder in beidem, einen ausgezeichneten Lehrer an einem Department of Government abgeben. […] Ich selbst interessiere mich nicht für seine Rechtstheorie, weil er das ganze Problem der Entscheidung [des Richters], das meiner Ansicht nach zentral ist, herunterspielt oder ignoriert.«196 Dennoch war es für Kelsen, der immerhin bereits mehr als zwei Jahre in den USA lebte und dem das amerikanische Studiensystem eigentlich schon bekannt gewesen sein müsste, offenbar zunächst unverständlich, dass er an einer anderen Einrichtung als der juristischen Fakultät eine Anstellung erhalten würde. Er bat – anscheinend einer Anregung von Kittredge folgend – Manley Hudson, für ihn ein Empfehlungsschreiben an den Dekan der juristischen Fakultät in Berkeley zu richten, erhielt jedoch von dort – und zwar noch bevor Gettell das für Kelsen wenig vorteilhafte Schreiben Powells erhalten hatte – eine negative Antwort: Seit »Pearl Harbor« sei es unmöglich, neue Professorenernennungen zuzusichern.197 Vielleicht aber probierte Kelsen einfach nur über alle ihm zugänglichen Kanäle, eine Anstellung an der University of California zu erhalten; schon am 9. Jänner schrieb nämlich Roscoe Pound, wohl auf Bitten Kelsens, an den vorhin erwähnten Eric Bellquist und empfahl Kelsen 193 So
auch R athkolb, Exodus der »Jurisprudenz« (1987) 280. zum Rechtsunterricht jener Zeit Fisher, Legal Theory (2008) 59 f. 195 Telman, A Path Not Taken (2010) 369. Dies musste Kelsen letztlich auch selbst einsehen: Kelsen, Autobiographie (1947) 45 = HKW I, 90. 196 Thomas Reed Powell, Brief an Richard G. Gettell v. 9. 1. 1942, in: Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7; eine Abschrift mit einigen Auslassungen auch in HKI, Nachlass Kelsen 15k.58. Das Zitat ist abgedruckt bei Lepsius, Kelsen und der Nationalsozialismus (2009) 283, auszugsweise auch bei Cadore, »Good-bye to all that«? (2018) 256. 197 Hans Kelsen, Schreiben an Tracy B. Kittredge v. 8. 1. 1942, RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 2003, Box 344, Folder 409. 194 Vgl.
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für einen Lehrstuhl in »International Law and Jurisprudence«. Dabei hob Pound hervor, dass die Rockefeller Foundation bereit sei, einen Großteil von Kelsens Gehalt zu zahlen, falls er die Anstellung bekommen würde.198 Auch Schick bemühte sich, in Berkeley Stimmung für Kelsen zu machen, und sprach mehrmals mit Frank M. Russell, dem Direktor des Bureau of International Relations des Political Science Department über die Angelegenheit, worauf dieser am 13. Jänner 1942 Kelsen kontaktierte und ihm anbot, für ein Jahr jene Lehrveranstaltungen zu übernehmen, die derzeit noch der 34-jährige »Instructor« Lawson Reno hielt, der im Sommer 1942 infolge des Krieges aus der Universität ausscheiden und nach Washington D. C. gehen würde.199 Kelsen willigte ein: Zwar sei er primär an einer unbefristeten Stelle interessiert, da er aber eine Ehefrau und eine Tochter (!) zu ernähren habe, akzeptiere er jedes Angebot.200 Frank Marion Russell201 war fünf Jahre jünger als Kelsen. Nach einem Studium in Stanford und an der Columbia University sowie nach Lehrtätigkeiten an der University of Nevada und an der Washington State University war er 1920 nach Berkeley gekommen, wo er die weiteren Sprossen der akademischen Karriereleiter bis zu seiner Ernennung zum full professor 1930 erklommen hatte. 1943–1948 war er chairman des Department for Political Science. Sein besonderes Interesse galt der europäischen Politik, 1920 hatte er eine Monographie zum internationalen Saar-Statut geschrieben – und verfasste 1952 erneut ein Buch zum nach wie vor so umstrittenen Saarland. 1937 publizierte er eine Monographie über »Theories of International Relations«, die als sein Hauptwerk bezeichnet werden kann. In diesem Werk erklärte er, dass die immer stärker zunehmenden Vernetzungen der Staaten, wie sie zuletzt etwa im Weltkrieg oder in der Weltwirtschaftskrise deutlich geworden waren, die aus dem 16. Jahrhundert stammende Theorie von der Souveränität fragwürdig erscheinen lassen, auch wenn diese noch immer herrschende Lehre war, und auch wenn der Völkerbund es nicht geschafft habe, die Probleme der jüngsten Zeit zu bewältigen.202 In diesem Zusammenhang ging Russell, wenn auch nur in einer Fußnote, auf Kelsens 198 Roscoe Pound, Brief an Eric C. Bellquist v. 9. 1. 1942, Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7, in Kopie auch in HKI, Nachlass Kelsen 15k.58. Der Brief wurde von Bellquist an den Leiter des Departments for Political Science, David P. Barrows, weitergeleitet, der Pound berichtete, dass man bereits mit Kelsen in Verhandlungen stehe: David P. Barrows, Brief an Roscoe Pound v. 16. 1. 1942, a. a. O. 199 William Lawson Reno, geb. Owensboro/KY 1907 (?), gest. Washington D. C. 8. 10. 1978. Nach Studien in Princeton und Berkeley lehrte er 1930–1942 daselbst und trat dann in das von Präsident Roosevelt geschaffene War Production Board ein, später wurde er Professor an der American University. Vgl. The Washington Post v. 11. 10. 1978: https://www.washingtonpost.com/archive/ local/1978/10/11/william-reno-farm-manager-and-former-professor-at-au/13a3e52 f.-14a1-4985acaa-15b39c425dc2/?utm_term=.eb8185361b2e [Zugriff: 02. 05. 2019]. 200 Frank M. Russell, Brief an Hans Kelsen v. 13. 1. 1942 und Entwurf eines Antwortschreibens von Hans Kelsen, beide in HKI, Nachlass Kelsen 15n.58. 201 Geb. St. Louis/MO 26. 4. 1886, gest. April 1965, vgl. Aikin/Bellquist/Gulick, Frank Marion Russell (1965). 202 Russell, International Relations (1936) 540 f.
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Forderung nach weltweiter Abrüstung und Monopolisierung der Waffengewalt, ein.203 Am Political Science Department hielt Russell Lehrveranstaltungen zu den Internationalen Organisationen und internationalen Beziehungen ab, zur Außenpolitik der Vereinigten Staaten und der anderen Großmächte, aber auch zu »international barriers«. In der zuletzt genannten Lehrveranstaltung sprach Russell über jene psychologischen, rassistischen, religiösen und ökonomischen Hindernisse, die seiner Ansicht nach der Ausbreitung einer demokratischen Weltordnung entgegenstanden.204 Russell vertrat also durchaus ähnliche Ansichten wie Kelsen. Nunmehr wurde er die wichtigste Stütze in Kelsens letztem beruflichen Lebensabschnitt. Es entwickelte sich eine rege Korrespondenz zwischen Kelsen und Russell sowie anderen Universitätsfunktionären, um einerseits die Gehaltsfrage, andererseits die konkrete Lehrverpflichtung festzulegen. Reno hatte bislang vier Lehrveranstaltungen gehalten: »Origins of Legal Institutions«, »Elements of Jurisprudence«, »Principles of International Law« sowie »The Foreign Service«. Nunmehr wurde Kelsen angeboten, die drei erstgenannten Lehrveranstaltungen fortzuführen.205 In den »Elements« sollte Kelsen eine Einführung in moderne Rechtstheorien geben, die »Principles« sollten Natur und Quellen des Völkerrechts, seine Entwicklung und seine Funktion im modernen Recht erläutern.206 Beides war für Hans Kelsen höchst willkommen. Dagegen hatte Reno in seinen »Origins« bislang eine rechtsgeschichtliche Vorlesung, von der Antiken Rechtsgeschichte über die Glossatoren und Kommentatoren des Mittelalters, bis hin zur Entwicklung des Common Law, angeboten.207 Kelsen ersuchte darum, die Anzahl der Stunden für die »Origins« zu reduzieren, dafür jene für »Elements« zu erhöhen, was allerdings abgelehnt wurde.208 Heikler gestaltete sich die Frage der Finanzierung. Ende Jänner 1942 rief Kelsen bei Tracy Kittredge von der Rockefeller Foundation an, um ihn vom kalifornischen Angebot zu informieren und ihn zu fragen, ob die Foundation ihn auch in Berkeley weiter unterstützen werde. Kittredge war zunächst sehr zurückhaltend und erklärte, dass dies nur möglich sei, wenn Kelsens Anstellungsverhältnis unbefristet sei (was nicht 203 Er zitierte dabei eine 1933 erschienene englische Übersetzung von Kelsen, Rechtstechnik und Abrüstung (1932): Russell, International Relations (1936) 444 Anm. 40. Dieser Artikel Kelsens hatte in den USA offenbar für großes Aufsehen gesorgt, vgl. die ausführliche Besprechung durch Potter, Establishment of Peace (1933). – Auch sonst war Kelsen in Berkeley keineswegs ein Unbekannter. Im »Seminar in International Law«, das Reno dort am Political Science Department hielt, verfasste einer seiner Studenten, ein gewisser Roger S. Abbott, Anfang 1940 sogar eine Seminararbeit über »The Vienna School and Int. Law«, in der er die Völkerrechtstheorien von K elsen und Verdroß ausführlich darstellte: UC Berkeley, Bancroft Library, CU 548, Carton 3, volume 56. 204 General Catalogue 1942–1943, 411. 205 David P. Barrows, Schreiben an Hans Kelsen v. 1. 6. 1942, in HKI, Nachlass Kelsen 15n.58. 206 Eine Auflistung der Lehrveranstaltungen samt Erläuterung der Inhalte in: General Catalogue 1941–1942, 388 f. 207 General Catalogue 1941–1942, 387. Vgl. auch UC Berkeley, Bancroft Library, CU 548, Carton 3, volume 56: Political Science 10: Schedule and Readings. 208 David P. Barrows, Schreiben an Hans Kelsen v. 18. 6. 1942, in HKI, Nachlass Kelsen 15n.58.
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1. Kapitel: Coming to America
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zutraf ).209 Am 11. März erging ein erstes Schreiben des Präsidenten der UC, Robert Sproul, an Kelsen, in dem er ihm ein Angebot für eine »instructorship« mit einem Jahresgehalt von $ 2.600,– machte, demselben Gehalt, das zuvor Lawson Reno bezogen hatte.210 Im April sprach Kelsen persönlich bei der Rockefeller Foundation vor. Kittredge war inzwischen, wie berichtet, zur Marine gegangen, weshalb Kelsen nun mit dessen Nachfolger, Roger F. Evans, verhandelte, der sich in weiterer Folge direkt mit Präsident Sproul in Verbindung setzte.211 Es sei ausdrücklicher Wunsch der Rockefeller Foundation, so Evans, dass Kelsen dauerhaft eine Bleibe in Amerika finde und dass er nach Ablauf der Gastprofessur ein Fortsetzungsengagement an der UC Berkeley erhalte.212 Sproul zeigte sich wenig beeindruckt von diesem Wunsch und erklärte es sogar für höchst unwahrscheinlich, Kelsen über das akademische Jahr 1942/43 hinaus an der UC Berkeley zu beschäftigen.213 Angesichts dieser Situation war es geradezu erstaunlich, wie die Rockefeller Foundation plötzlich einknickte: Kelsen wurde für lediglich ein Jahr als »visiting professor« an der UC Berkeley eingestellt, und die Rockefeller Foundation erklärte sich bereit, Kelsens Gehalt von $ 2.600,– um $ 1.600,– auf $ 4.200,– aufzuwerten.214 Die Summe entsprach etwa CHF 11.130,–, also nicht einmal der Hälfte dessen, was Kelsen seinerzeit in der Schweiz erhalten hatte, doch dieser hatte es anscheinend inzwischen gelernt, sich zu bescheiden.215 Am 30. Juni 1942 erfolgte die offizielle Bestätigung der Regents, dass Kelsen vom 1. Juli 1942 bis zum 30. Juni 1943 zu einem Gehalt von $ 4.200,– als Visiting Professor of Political Science an der UC Berkeley lehren solle.216 Dies kam denkbar knapp; allerdings begannen die Vorlesungen in Berkeley erst am 12. Oktober,217 und es war schon vorher vereinbart worden, dass Kelsen erst zu diesem Zeitpunkt in Kalifornien erwartet werde. Am 1. September brachen Hans und Grete Kelsen von Cambridge/MA in Richtung Westen auf.218
209 Tracy B. Kittredge (RF), Aktenvermerk v. 29. 1. 1942, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4091. 210 Robert Sproul (UC), Schreiben an Hans Kelsen v. 11. 3. 1942, in: HKI, Nachlass Kelsen 15n.58. 211 Roger F. Evans (RF), Aktenvermerk v. 9. 4. 1942, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 200 S, Box 344, Folder 4091. 212 Roger F. Evans (RF), Schreiben an Robert G. Sproul v. 2. 4. 1942, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 205 S, Box 24, Folder 364. 213 Robert G. Sproul, Schreiben an Joseph H. Willits (RF) v. 15. 4. 1942, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 205 S, Box 24, Folder 364. 214 RA SS 4224, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 205 S, Box 24, Folder 364; Robert G. Sproul, Telegramm an Hans Kelsen v. 26. 5. 1942, HKI, Nachlass Kelsen 15n.58. 215 Die Umrechnung in CHF erfolgt mit den Werten v. 28. 7. 1942, vgl. La Liberté v. 28. 7. 1942, Nr. 173, 7. 216 Robert M. Underhill (Assistant Secretary of the Regents), Schreiben an Hans Kelsen v. s30. 6. 1942, HKI, Nachlass Kelsen 15n.58. 217 General Catalogue 1942–1943, 6 f. 218 Das Datum geht hervor aus: Edmund M. Morgan (UC), Brief an R. V. Perry (Harvard) v. 28. 8. 1942, in: HKI, Nachlass Kelsen 15n.58.
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b) Am Ende der Welt Fünf Jahre nach den Kelsens, im Jahre 1947, kam die damals 23-jährige Brigitte Stroß, die Tochter des mit Hans und Grete Kelsen befreundeten Ehepaares Walter und Lilli Stroß, nach dem Tod ihres Vaters und einer erzwungenen Emigration um die halbe Welt nach San Francisco. »Die zauberhafte Stadt, mit dem Ferry Building, das über die benachbarten Gebäude unter einem azurblauen Himmel aufragte, erstrahlte in der Sonne. Alcatraz erschien wie eine Märcheninsel und die Golden Gate Bridge wie ein Bindeglied zwischen zwei Welten. Ich fühlte, wie die Sonne nur für mich glänzte, und wusste instinktiv: Das war das Land, wo Milch und Honig fließen.«219 So wie Cambridge/MA zum Großraum von Boston gehörte, so war Berkeley Teil der San Francisco Bay Area. Doch während zwischen Cambridge und Boston nur der vergleichsweise schmale Charles River floß, so lag zwischen Berkeley und San Francisco die große Bucht von San Francisco, die – abgesehen von der eben erwähnten Golden Gate Bridge – nur von der 1936 eröffneten Bay Bridge überbrückt wurde. Mit 8,3 km war sie mehr als dreimal so lang wie ihre, ein halbes Jahr jüngere Schwester und doch weit weniger spektakulär als diese, zumal die Golden Gate Bridge die Bucht dort überspannte, wo sie in das offene Meer überging, und unter widrigsten Bedingungen sowie um den Preis von elf Menschenleben errichtet worden war. Die Bay Bridge dagegen war in der Mitte der Bay, in vergleichsweise ruhigen Gewässern, erbaut worden; sie verband die Metropole mit der Industriestadt Oakland südlich von Berkeley, sodass die Universität mit dem Auto oder auch mit der Straßenbahn (die in der unteren Ebene der Brücke führ) in etwa einer halben Stunde von San Francisco aus erreichbar war.220 Hans und Grete Kelsen, die sich in Berkeley zunächst nur ein sehr kleines, gemietetes Haus in 2529 Etna Street, in Campus-Nähe, leisten konnten, waren sofort von ihrer neuen Heimat begeistert,221 und Hans Kelsen bezeichnete die damals etwa 85.000 Einwohner zählende Stadt in einem Brief an Verdroß als »eine[n] der schoensten Plaetze, die ich kennen gelernt habe.«222 Vielleicht mag die besondere Atmosphäre des Campus und der Bay dazu beigetragen haben, dass Kelsen, auch wenn seine berufliche und materielle Zukunft noch lange nicht gesichert waren und auch wenn er sich daher immer wieder nach anderen Anstellungsmöglichkeiten umsehen musste, von nun an alle Angebote, Kalifornien wieder zu verlassen, letztlich ausschlug und hier bis zu seinem Lebensende blieb. 1945, als sich Hans Kelsens berufliche Situation besserte, 219 Stross Laky, On being Jewish (1998) 96. Beim »Ferry Building« handelt es sich um das 1898 errichtete Hafengebäude von San Francisco, welches einen markanten Turm mit Turmuhr besitzt. Alcatraz ist eine kleine, oft von Nebel bedeckte Insel in der Bucht, welche 1934–1963 ein aus der Ferne pittoresk anmutendes Hochsicherheitsgefängnis beherbergte. Was Brigitte Stroß (nachmals Bridget Stross Laky) selbst betrifft, so studierte sie später in Berkeley Business Administration; 1949 schloss sie ihr Studium erfolgreich ab. 220 General Catalogue 1941–1942, 48. 221 Kelsen Oestreicher, My Parents in the United States (1977) 2. Im Jahr 1945 wohnten Hans und Grete Kelsen für wenige Monate in 1513 Walnut Street. 222 Hans Kelsen, Brief an Alfred Verdroß v. 20. 1. 1946, HKI, Nachlass Kelsen 16b12.59.
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kaufte er – zum ersten Mal in seinem Leben – ein Haus, und zwar in 2126 Los Angeles Avenue, wo im Garten Rosen blühten und wo er von seinem Arbeitszimmer aus direkt auf die Golden Gate Bridge und den dahinterliegenden Pazifischen Ozean blicken konnte. Mit dem Heine-Zitat »Hier wird wohl ›des Wandermüden letzte Ruhestätte‹ sein« beendete er 1947 seine Autobiographie.223 Die Gewöhnung an ihre neue Heimat wurde Hans und Grete Kelsen dadurch erleichtert, dass sie auch hier wieder alte Bekannte wiedersehen konnten und von diesen mit den Schönheiten Kaliforniens vertraut gemacht wurden. Friedrich (Frederick) Unger, ein ehemaliger Mises-Schüler, der mit seiner Frau Anna (einer entfernten Verwandten224 von Grete Kelsen) 1938 in die USA emigriert war, führte Hans Kelsen gleich im September 1942 einen ganzen Nachmittag über die Hügel von Berkeley, bis sich dieser eine böse Erkältung zuzog.225 Vor allem aber gab es hier auch ein Wiedersehen mit Grete Kelsens Schwester Karoline und ihrem Mann Adolf Drucker, die 1938 aus Österreich emigriert und zunächst nach North Carolina gegangen waren, zumal Adolf Drucker an der dortigen Universität eine Anstellung erhalten hatte. Schon bald nach dem Ehepaar Kelsen zog auch das Ehepaar Drucker in die San Francisco Bay Area. Nach jahrelanger Trennung konnten sie wieder an ihre alten Bindungen anknüpfen und blieben nun bis zum Tod Karolines 1953 und Adolfs 1967 eng miteinander verbunden.226 Ein Wermutstropfen war, dass Kelsens Töchter in meilenweiter Entfernung von ihren Eltern lebten und jahrelang nur über Briefe mit ihnen kommunizieren konnten. Die ältere, die sich nunmehr Hannah nannte und die hebräische Sprache erlernt hatte, konnte in Palästina ihr in Europa begonnenes Studium der Politikwissenschaften erfolgreich fortsetzen und erhielt im Frühjahr 1942 ihr Diplom. In dieser Zeit lernte sie auch ihren späteren Ehemann, den etwa gleichaltrigen Arzt Dr. Rolf Oestreicher, kennen. Dieser stammte aus Triersch in Böhmen [Třešť/CZ] und war im Jänner 1940 nach Palästina emigriert (seine Familie kam im Holocaust ums Leben). Hier meldete er sich freiwillig zum Dienst in der British Army. Unmittelbar vor seiner Einberufung, am 30. August 1942, heiratete das Paar in Jerusalem. Während Rolf Oestreicher zunächst in Kaïro [al-Qāhira/EGY ], dann in Khartum [al-Chartūm/SUD], als Militärarzt seinen Dienst verrichtete, blieb Hannah Kelsen Oestreicher in Jerusalem und arbeitete, gleichfalls für die British Army, als Sekretärin. 1945 folgte sie ihrem Gatten für einige Monate nach Khartum, doch kehrten beide schon 1946 wieder nach Jerusalem zurück.227 223 Kelsen, Autobiographie (1947) 46 = HKW I, 91. Es handelt sich um ein Zitat aus dem um 1840 entstandenen Gedicht »Wo?« von Heinrich Heine. 224 Cousine dritten Grades. Freundlicher Hinweis von Dr. Franz Heiẞenberger. 225 Frederick Unger, Schreiben an Adolf Redlich v. 28. 9. 1942, in: LBI Archives, Unger Family Collection, Box 17, Folder 6, p. 1277–1278. 226 Kelsen Oestreicher, My Parents in the United States (1977) 3, 7. Die genauen Todesdaten anhand von http://www.geni.com/people/Dr-Adolf-Drucker/6000000002765094321 [Zugriff: 02. 05. 2019] komplettiert. 227 Kelsen Oestreicher, Times to remember (1977) 11–17.
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4. Teil: Amerika und die Welt
Abb. 44: Hans Kelsen mit seiner Enkelin Anne in Berkeley, 1946.
Und auch das Leben von Kelsens jüngerer Tochter, Maria Feder, hatte sich seit ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten grundlegend gewandelt – und offenbar genoss sie es. Die ehemalige Bibliothekarin arbeitete nun gemeinsam mit ihrem Ehemann in der Landwirtschaft; das Paar zog von Illinois zunächst weiter in den »Evergreen State« Washington, kehrte dann aber nach Illinois zurück, wo sie eine Milchwirtschaft in Monee nahe bei Chicago erwarben.228 In Chicago brachte Maria am 24. September 1944 eine Tochter zur Welt, die sie nach ihrer Schwester und nach ihrer Mutter benannte – Anne Marguerite. Hans und Grete Kelsen waren Großeltern geworden. c) Vom Gastprofessor zum Lektor Hans Kelsen nahm seine Lehrtätigkeit als Gastprofessor in Berkeley am 12. Oktober 1942 auf und hielt eine Vorlesung aus »Principles of International Law«, verbunden mit einem zugehörigen Seminar, auf zwei Semester verteilt. Dazu kam im Herbstsemester (fall term) die Vorlesung aus »Elements of Jurisprudence«, im Frühjahrssemester (spring term) jene aus »Origins of Legal Institutions«.229
228 Anne
2008.
Feder Lee, Interview v. 15. 10. 2006; Anne Feder Lee, e-mail an den Verfasser v. 27. 2 .
229 Der General Catalogue 1942–1943, 411, 415, vermerkt nur die Vorlesung aus »Principles of International Law«; aus anderen Quellen (unten 766) geht hervor, dass Kelsen auch die »Elements« bereits im Jahr 1942/43 hielt, weshalb es wenig wahrscheinlich ist, dass er ausgerechnet mit den »Origins«, die er auch später immer wieder hielt, in jenem Jahr nicht betraut wurde.
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Der Stoff seiner Vorlesung aus »Principles of International Law« entsprach im Wesentlichen wohl dem Inhalt seines gleichnamigen Buches, das 1952, im Jahre von Kelsens Emeritierung, im Druck erschien.230 In den »Elements of Jurisprudence« brachte Kelsen einen Überblick über die Reine Rechtslehre, die er beständig weiterentwickelte und schließlich, 1960, in der 2. Auflage seines zuerst 1934 erschienenen Buches, erneut zusammenfasste.231 Was schließlich die Lehrveranstaltung aus »Origins of Legal Institutions« betraf, die sein Vorgänger Reno ja als klassische rechtshistorische Vorlesung angelegt hatte, so wurde diese von Kelsen völlig neu konzipiert, indem er drei rechtliche Institutionen herausgriff, die seiner Ansicht nach grundlegend für das Recht waren: Besitz (property), Familie bzw. Ehe (family/marriage) sowie Regierung bzw. Staat (government/state). Diesen Institutionen ging Kelsen teils ideengeschichtlich, teils rechtsgeschichtlich, teils anthropologisch, durch eine Beschäftigung mit den »primitiven Völkern«, nach, wie er es ja schon in »Vergeltung und Kausalität« getan hatte. Auch wenn diese Methode aus heutiger Sicht fragwürdig erscheinen mag – zu betonen ist doch, dass Kelsen damit möglicherweise zu den allerersten amerikanischen Professoren zählte, die ihren Studierenden über Rechtsvorstellungen der Crow, der Pueblo, der Irokesen und anderer Indianerstämme berichteten, um ihnen die Grundlagen ihrer eigenen Rechtskultur verständlich zu machen.232 Wie Kelsen später berichtete, lernte er erst in Berkeley den typisch amerikanischen Universitätsbetrieb kennen, zumal er in Harvard ja nur wenige Lehrveranstaltungen gehalten hatte. Insbesondere musste sich Kelsen abgewöhnen, seine Vorlesungen in Form von Monologen zu halten; ständig wurde er unterbrochen von Fragen der Studentinnen und Studenten, die ihn baten, dies und jenes genauer zu erklären. Kelsen meinte, dass dies in Europa eigentlich »unerhört« gewesen wäre, aber es hatte doch auch viele Vorteile, weil er so viel besser erkennen konnte, »was den Studenten schwierig zu verstehen ist.«233 Kelsens Lehrveranstaltungen als Gastprofessor endeten am 13. Mai 1943. Anscheinend hatte sich Kelsen schon rasch am Political Science Department beliebt gemacht, zumal sich dessen Mitarbeiter für ein Bleiben Kelsens auch über 1942/43 230 Kelsen,
Principles (1952). Vgl. noch ausführlich unten 793. Eine 97-seitige Vorlesungsmitschrift vom Summer Term 1944 wurde dankenswerterweise von Grete Heinz dem HKI übergeben: HKI, Nachlass Kelsen, Nachträge. Kelsen behandelte demnach u. a. folgende Themen: Begriff des Rechts; Naturrecht und positives Recht (mit eingehender Beschäftigung u. a. mit Platon und Aristoteles); Zwang im Recht; Geltung und Wirksamkeit; subjektives Recht; Rechtsperson; Stufenbau der Rechtsordnung; Überprüfung von Gesetzen; Recht und Staat; öffentliches Recht und Privatrecht; Rechtspflicht und Haftung; Zentralisation und Dezentralisation; Staat und Völkerrecht; monistische und dualistische Völkerrechtstheorie; Drei-Elemente-Lehre; Grundnorm des Völkerrechts. Im Wesentlichen sind somit alle zentralen Themen von Kelsen, Reine Rechtslehre (1934), besprochen. 232 Über den Inhalt dieser Vorlesung sind wir informiert durch ein 163-seitiges Typoskript vom Spring Term 1951, das in einem Skriptenverlag namens »Fybate Lecture Notes« in Berkeley aufgelegt wurde: HKI, Nachlass Kelsen, 11a4.45. Die genannten Indianerstämme werden a. a. O., 38, 105, 107 – neben vielen anderen, angeblich »primitiven« Völkern – erwähnt. 233 Hans Kelsen, Interview mit Irmgard Bach, Juni 1958. 231
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4. Teil: Amerika und die Welt
hinaus einsetzten; realistischerweise hatte er jedoch nichts zu erhoffen, und Russell »bedeutete« ihm, »dass er sich eine andre Stellung suchen soll[e]«.234 Spätestens im Frühjahr 1943 machte sich Kelsen also wieder auf die Suche nach einer neuen Anstellung; dabei interessierte er sich nicht nur für eine Dozentenstelle an einer Universität, sondern auch für ein reines Researchstipendium (etwa ein Guggenheim-Stipendium) oder für eine politische Stellung in Washington D. C. In einem Brief an Roscoe Pound erzählte Kelsen von seiner aussichtslosen Position in Berkeley und erinnerte daran, dass er während des Ersten Weltkriegs Berater des k. u. k. Kriegsministers und später der republikanischen Regierung Österreichs gewesen war, und dass er auch in seinen Zeiten in Köln und Prag sich mit dem Verfassungsrecht der jeweiligen Länder auseinandergesetzt hätte. Ob ihn dies nicht für eine Stelle in Washington qualifizieren würde? Pound erklärte, Kelsen helfen zu wollen, konnte ihm aber nur wenig Hoffnung machen: durch den Krieg seien überall die Bedingungen schlechter geworden.235 Aber auch in der Rockefeller Foundation wurde der »Fall Kelsen« erneut besprochen. Bei einem internen Meeting im April 1943 hob Roger F. Evans hervor, dass Kelsen als einer der bedeutendsten Gelehrten der Welt angesehen werde, weshalb ihn die Rockefeller Foundation auch immer wieder unterstützt habe. Dabei müsse man sich gewahr werden, dass »Kelsens Alter, vielleicht seine Persönlichkeit, aber besonders die Irrelevanz seines philosophischen Ansatzes« ihn zu einem großen Problem gemacht haben, seit der Krieg ausgebrochen sei. Dies war jedoch nicht gegen Kelsen gerichtet, im Gegenteil: Evans betonte, dass gerade in dieser Situation Kelsen geholfen werden müsse.236 Zwei Wochen später, am 26. April, beantragte der Vize-Präsident der UC, Monroe E. Deutsch, bei der RF eine Unterstützung für Kelsens Gehalt.237 Tatsächlich gewährte die Foundation abermals einen Grant in Höhe von $ 1.600,– für das akademische Jahr 1943/44. Sie hielt bei dieser Gelegenheit fest, dass Kelsen seit Oktober 1940 bereits $ 5.600,– an Unterstützungen aus dem Refugee Scholars Program erhalten habe, dazu kämen $ 3250,– Förderungen für seine Publikationen.238 Damit wurde die ganz außerordentliche Unterstützung, die Kelsen bislang erhalten hatte, deutlich. Mit Hilfe dieser Förderung wurde Kelsen für ein weiteres Jahr an der UC Berkeley angestellt, nunmehr jedoch als ein bloßer »Lecturer in Political Science«, mit einem 234 Dies (einschließlich des Zitates von Russell) berichtete Grete Kelsen ihrer Freundin Anna Unger, welche es ihrer Tochter weitererzählte: Anna Unger, Brief an Grete Unger v. 4. 4. 1943, LBI Archives, Unger Family Collection, Box 17, Folder 9, p. 31–32. 235 Hans Kelsen, Brief an Roscoe Pound v. 15. 4. 1943 und Antwortschreiben v. 23. 4. 1943, beide in: Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7. 236 Roger F. Evans (RF), Aktenvermerk v. 12. 4. 1943, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 205 S, Box 24, Folder 364. Vgl. dazu auch Cadore, »Good-bye to all of that«? (2018) 252. 237 Monroe E. Deutsch (UC), Brief an John H. Willits (RF) v. 26. 4. 1943, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 205 S, Box 24, Folder 364. 238 RA SS 4343, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 205 S, Box 24, Folder 364.
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1. Kapitel: Coming to America
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Jahresgehalt von $ 3.300,–.239 Die Universität hatte in jenem Jahr, wohl aufgrund des Krieges, die Sommerferien auf fünf Wochen gekürzt und ein Trimester-System eingeführt, um ihre personellen und räumlichen Ressourcen besser ausnützen zu können (Summer Term: Juli–Oktober; Fall Term: November–Februar; Spring Term: März–Juni). Kelsens Lehrveranstaltungen in jenem Jahr sind schwer zu rekonstruieren. Sicher ist nur, dass er im Summer Term sowie im Fall Term erneut seine Vorlesung aus International Law hielt und auch das dazugehörende Seminar anbot.240 Im Summer Term 1943 las Kelsen darüberhinaus auch die Vorlesung aus »Elements of Jurisprudence«.241 In mehreren Briefen aus dieser Zeit schrieb Kelsen jedoch, dass er seine Verlängerung für das zweite Jahr nur erlangt hatte, weil er zusätzlich noch Kurse an einer »School of Military Government« halten müsse. Diese sei im Rahmen eines »Army Training Program« an der UC Berkeley errichtet worden und werde vom Kriegsministerium finanziert. Konkret nannte er Kurse über »Intellectual History of Germany«, »Political Organization of Germany« und »National Socialism«. Im nächsten Jahr werde es jedoch keine derartigen Kurse mehr geben, sodass er seine Weiterbestellung für 1944/45 für sehr unwahrscheinlich erachtete.242 In dieser Situation bat Kelsen erneut seinen Freund Roscoe Pound, sich für ihn zu verwenden und ein Empfehlungsschreiben an Archibald MacLeish, den »Librarian of Congress«, d. h. den Leiter der Parlamentsbibliothek in Washington D. C., zu schicken.243 MacLeish hatte am 25. März 1943, zum 75. Jahrestag der Gründung der UC Berkeley, als »Charter Day Speaker« eine Rede in Berkeley gehalten und vermutlich bei dieser Gelegenheit die Bekanntschaft mit Hans Kelsen gemacht.244 Tatsächlich fragte Pound hierauf MacLeish, ob eine Anstellung für Hans Kelsen in der Bibliothek möglich wäre, was dieser jedoch verneinte.245
239 Robert M. Underhill, Secretary and Treasurer of the UC, Schreiben an Hans Kelsen v. 2. 7. 1943, in: HKI, Nachlass Kelsen 15n.58. 240 Announcement of Courses 1943–1944, 6, 154; vgl. allgemein zur Umstellung auf das Trimester-System Stadtman, The University of California (1970) 312. 241 Siehe noch unten 766. 242 Hans Kelsen, Brief an Roger F. Evans (RF) v. 15. 7. 1943 und v. 1. 1 2. 1943, beide in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 205 S, Box 24, Folder 364. Diese »Kriegskurse« werden auch in einem Schreiben von Hans Kelsen an Roscoe Pound v. 8. 9. 1943, in: Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7, sowie in einem Brief eines unbekannten Verfassers an Grete Unger v. 15. 8. 1943, LBI Archives, Unger Family Collection, Box 17, Folder 9, p. 944–945, erwähnt; sie bereiteten Kelsen anscheinend wenig Freude. Vgl. zum Army training program allgemein Stadtman, The University of California (1970) 312 f. Der »General Catalogue« der UC enthält keinen entsprechenden Eintrag. 243 Hans Kelsen, Schreiben an Roscoe Pound v. 8. 9. 1943, Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7. 244 Stadtman, Centennial Record (1968) 122. Auch hatte Kelsen den Tipp bekommen, es bei MacLeish zu probieren; vgl. Huntington Cairns, Brief an Hans Kelsen v. 18. 8. 1943, in: LOC, Manuscript Division, Huntington Cairns Papers, Container 33. 245 Roscoe Pound, Brief an Archibald MacLeish v. 10. 9 1943 und Antwortschreiben v. 20. 9. 1943, beide in: Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7.
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4. Teil: Amerika und die Welt
Auch andere Professoren wurden für Kelsen tätig: So kontaktierte Quincy Wright den neuen Leiter des Institute for Advanced Study in Princeton, Frank Aydelotte, wo sich Kelsen ja schon einmal erfolglos beworben hatte. Dabei bezeichnete Wright Kelsen nicht nur als einen der »vier oder fünf führenden Rechtswissenschaftler der Moderne«, sondern auch als einen »Gentleman und Gelehrten«, dem man eine angemessene Möglichkeit zu leben und zu forschen geben sollte.246 Aydelotte entgegnete, dass er mit mehreren Angehörigen des Lehrkörpers gesprochen habe, und obwohl klar sei, dass Kelsen ein herausragender Wissenschaftler sei, so passen doch seine Themen so überhaupt nicht in das Forschungsprofil des Instituts.247 Trotzdem übersandte Kelsen wenig später ein Exemplar seines Buches »Society and Nature« an Aydelotte und erläuterte, dass dieses nur der erste Teil einer umfassenden Untersuchung zur Idee der Gerechtigkeit sei. Der zweite Teil werde eine »Soziologie des Seelenglaubens« sein, der dritte Teil werde der Idee der Gerechtigkeit in der antiken Philosophie, der vierte Teil der Gerechtigkeit in der jüdischen Religion und in der Lehre Jesu gewidmet sein. Leider sei sein Vorhaben aufgrund äußerer Umstände immer wieder verzögert worden; er wäre dankbar, wenn er sich ein oder zwei Jahre ausschließlich diesem Projekt widmen könnte, am besten am Institute for Advanced Study.248 Nachdem Kelsen auch noch ein halbes Jahr später keine Antwort von Aydelotte erhalten hatte, kontaktierte er einmal mehr Pound, der ebenso wie Aydelotte Mitglied der akademischen Gesellschaft Phi Beta Kappa (Φιλοσοφία Βίου Κυβερνήτης – »Liebe zum Wissen sei des Lebens Leitlinie«) war. Auf einer Veranstaltung dieser Gesellschaft Ende Oktober 1944 traf Pound auf Aydelotte, erhielt jedoch eine Absage in Hinblick auf Kelsen. Mehr Erfolg hatte Pound beim Dekan der Rechtsfakultät der New York University, Arthur T. Vanderbilt, dem er offenbar beim selben Treffen begegnete und der versprach, sich nach einer passenden Stelle für Kelsen umzusehen.249
246 Quincy
Wright, Brief an Frank Aydelotte v. 28. 4. 1943, in: Institute for Advanced Study, Princeton/NJ, The Shelby White and Leon Levy Archives Center, Records of the Office of the Director/General Files/Box 34/Ka-Kh. – Im selben Jahr hatte Kelsen eine sehr lobende, wenn auch kritische Rezension zu Wrights Buch »A Study of War« (1942) verfasst; Kelsen bezeichnete dieses Buch als eines der wichtigsten im Bereich der Rechts‑ und Staatswissenschaften [political and legal science] der letzten Jahre, auch wenn er dessen Interpretation des Briand-Kellogg-Paktes, dass ein Angriffskrieg immer rechtswidrig sei, nicht teilte: Kelsen, Quincy Wright’s A Study of War (1943). 247 Frank Aydelotte, Brief an Quincy Wright v. 14. 5. 1943, in: Institute for Advanced Study, Princeton/NJ, The Shelby White and Leon Levy Archives Center, Records of the Office of the Director/General Files/Box 34/Ka-Kh. 248 Hans Kelsen, Brief an Frank Aydelotte v. 15. 2 . 1944, in: Institute for Advanced Study, Princeton/NJ, The Shelby White and Leon Levy Archives Center, Records of the Office of the Director/ General Files/Box 34/Ka-Kh. Vgl. dazu auch Cadore, »Good-bye to all of that«? (2018) 252. 249 Hans Kelsen, Brief an Roscoe Pound v. 28. 8. 1944; Roscoe Pound, Brief an Hans Kelsen v. 31. 10. 1944, beide in: Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7.
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Zweites Kapitel
Der Zweite Weltkrieg und die Gründung der UNO 1. »Peace through Law« Hans Kelsens ältester nachweisbarer Kontakt in die USA ist die Aufnahme in die »American Academy of Arts and Sciences« als »Foreign Honorary Member« im Jahr 1933.250 Die 1780 gegründete Gelehrtengesellschaft hatte (und hat) ihren Sitz in Harvard, und als sie im April 1942 eine Tagung zu »Post War Problems« veranstaltete, nahm auch Kelsen, der damals noch an der Ostküste weilte, daran teil. Der berühmte englische Philosoph Alfred N. Whitehead, der seit 1924 in den USA lebte, präsentierte auf dieser Konferenz ein »paper«, in dem er Überlegungen zu den Aufgaben der Geistes‑ und der Naturwissenschaften beim Wiederaufbau der Zivilisation nach dem Kriege anstellte.251 Hans Kelsen war offenbar eingeladen worden, ein Co-Referat zu halten, ging aber in seiner Stellungnahme auf die Thesen Whiteheads überhaupt nicht ein.252 Vielmehr war sein Vortrag eine Analyse und Kritik der von Roosevelt und Churchill am 12. August 1941 unterzeichneten »Atlantic Charta«, in der das UK und die (damals noch nicht im Krieg befindlichen!) USA ihre gemeinsamen Ziele für eine weltweite Nachkriegsordnung definiert hatten. Unter anderem hatten sie sich vorgenommen, dass ein kommender Frieden allen Nationen die Möglichkeit bieten solle, »sich in Sicherheit innerhalb ihrer eigenen Grenzen aufzuhalten und [ihnen] die Gewissheit zu geben, dass alle Menschen in allen Ländern frei von Angst und Not leben können«.253 250 Die
mit 10. 5. 1933 datierte Ernennungsurkunde, die u. a. angibt, dass die Wahl am selben Tag stattgefunden hatte, in: HKI, Nachlass Kelsen 15a42.57. Kelsen nahm die Wahl mit Schreiben vom 3. 6. 1933 an: https://www.amacad.org/rg-i-b-3-general-records-letterbooks-bound-volume-22 [Zugriff: 2. 5. 2019]. Nominierung und Wahl erfolgten anonym, sodass keine weiteren Informationen zu diesen Vorgängen zur Verfügung stehen: Schriftliche Auskunft von Michele M. Lavoie, Director of Archives of the American Academy of Arts and Sciences, 9. 4. 2019. 251 Whitehead, Statesmanship (1942). 252 Wie aus der Publikation nur undeutlich zu entnehmen ist, wurde der Text von Whitehead offenbar bereits am 8. 10. 1941, jener von Kelsen am 12. 11. unter den Teilnehmern in Umlauf gebracht, beide wurden jedoch am 2. 4. 1942, also erst nach Kriegseintritt der USA, gemeinsam mit anderen Texten, mündlich vorgetragen. 253 http://avalon.law.yale.edu/wwii/atlantic.asp [Zugriff: 2. 5. 2019]. Wortlaut in deutscher Übersetzung bei Stern, Staatsrecht V (2000) 883 f.; vgl. zu den Hintergründen auch Köck/Fischer, Internationale Organisationen (1997) 108–110; Müller, Weltkrieg (2004) 200. Dass, wie von Eppel, Österreicher im Exil II (1995) 33, und, wohl basierend auf dieser Quelle, auch bei https://www.wien.
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4. Teil: Amerika und die Welt
Kelsen erklärte, dass eine derartige Nachkriegsordnung nur existieren könne, wenn die politischen und ökonomischen Gegebenheiten der einzelnen Staaten einander angeglichen werden. Offenbar unter dem Eindruck des Scheiterns des Völkerbundes war Kelsen der Ansicht, dass weder ein Nebeneinander von wirtschaftsliberalen Staaten und kommunistischen bzw. staatskapitalistischen Staaten noch ein Nebeneinander von demokratischen und autoritären Staaten längerfristig möglich sei.254 Insofern sei es ein gewisses Problem, dass nunmehr auch die Sowjetunion zu den Alliierten zähle; allerdings äußerte Kelsen die Hoffnung, dass die Alliierten Mächte sich in den eben genannten Beziehungen aneinander annähern – wobei ihm offenbar sowohl ein Abweichen der westlichen Staaten vom Wirtschaftsliberalismus als auch eine Umkehr der Sowjetunion zu demokratischen Strukturen vorschwebte. Ein weit größeres Problem sah Kelsen darin, dass mehr als zweihundert Millionen Europäer (Deutsche, Italiener, Spanier u. a.) schon seit vielen Jahren in faschistischen Diktaturen leben und die Jugend in diesen Ländern eine Demokratie nie kennengelernt habe. Es müsse nach dem Krieg – für eine ungewisse Zeit – eine Übergangsphase geben, in der die Siegermächte diese Staaten besetzt hielten und die Jugend zurück zu den demokratischen Idealen führen.255 Schließlich müsse die Reform des Völkerbundes oder die Schaffung einer neuen internationalen Organisation in Angriff genommen werden; und Kelsen ließ auch diese Gelegenheit nicht ungenützt, um seine Idee einer obligatorischen, internationalen Gerichtsbarkeit als »the next step« zu präsentieren, während er einen »World Federal State« für – derzeit noch – utopisch einstufte.256 Utopie hin oder her – die Idee, den Frieden durch eine neue Weltordnung zu sichern, eine Idee, die er ja schon in seiner Genfer Antrittsvorlesung und in seinen »Oliver Wendell Holmes Lectures« in Harvard ausführlich dargestellt hatte, ließ Kelsen nicht mehr los. Noch im Jänner 1941 erschien im »American Journal of Sociology« ein Aufsatz, betitelt, »International Peace – by Court or Government?«.257 Im April 1941 sprach Kelsen beim 35. Jahrestreffen der American Society of International Law über »The Essential Conditions of International Justice [Die wesentlichen Bedingungen für eine internationale Gerichtsbarkeit]«. Kelsens Thesen wurden rege und sehr kontrovers diskutiert; sowohl der Vortrag als auch die Diskussionen wurden im Tagungsband der Gesellschaft veröffentlicht.258 In November 1942 hielt er vor rund gv.at/rk/historisch/1953/februar.html [Zugriff: 20. 11. 2019] behauptet wird, Kelsen hätte Roosevelt bei der Abfassung dieser Charta beraten, kann quellenmäßig nicht belegt werden. Eine Tätigkeit für die US-Regierung zu einem derart frühen Zeitpunkt wäre auch äußerst unwahrscheinlich. 254 Kelsen, Discussion (1942) 11. 255 Kelsen, Discussion (1942) 12. Vgl. Rub, Kelsens Völkerrechtslehre (1995) 72. 256 Kelsen, Discussion (1942) 13. Vgl. dazu auch Bernstorff, Peace and Global Justice (2016) 86. 257 Kelsen, International Peace (1941). 258 Kelsen, Essential Conditions (1941). Der beim Vortrag anwesende britische Völkerrechtler Wilfred Jenks (1970–1973 Generaldirektor der ILO) bezeichnete die Thesen Kelsens als »Highly abstract and most dangerous«: Proceedings of the 35th Annual Meeting of the American Society of International Law (1941) 134.
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2. Kapitel: Der Zweite Weltkrieg und die Gründung der UNO
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achtzig Mitgliedern der Austrian Union in California einen Vortrag über »The Strategy of Peace [Die Strategie des Friedens]«, der eineinhalb Jahre später im »American Journal of Sociology« veröffentlicht wurde.259 Im Juli 1943 folgte der Aufsatz »Compulsory Adjudication of International Disputes [Verpflichtende Gerichtsentscheidung von internationalen Streitigkeiten]« im AJIL,260 auf den an anderer Stelle261 noch gesondert einzugehen ist. Noch im selben Jahr erschien zunächst in der argentinischen Zeitschrift »Revista del Colegio de Abogados de Buenos Aires« der Aufsatz »La Paz por el Derecho [Frieden durch Recht]« und im US-amerikanischen »Journal of Legal and Political Sociology« der Aufsatz »Peace through Law [Frieden durch Recht]«.262 Zuletzt ist hier noch der Aufsatz über »The Principle of Sovereign Equality of States as a Basis for International Organization [Das Prinzip der Gleichheit unter souveränen Staaten als Basis für eine Internationale Organisation]« zu nennen, der im März 1944 im »Yale Law Journal« erschien.263 Waren Kelsens Friedensvisionen noch zeitgemäß? Die Amerikaner, die bis 1941 noch mit überwältigender Mehrheit gefordert hatten, dass sich die Vereinigten Staaten aus dem Weltkrieg heraushalten sollten,264 waren seit dem Kriegseintritt der USA wie verwandelt. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich die Wirtschaft völlig auf die Bedürfnisse des großen Krieges umgestellt (tatsächlich hatten die USA schon lange vor ihrem Kriegseintritt die Gegner der Achsenmächte in großem Umfang mit Waffen beliefert), und die amerikanische Öffentlichkeit wurde wieder und wieder darauf hingewiesen, dass es Amerikas Aufgabe sei, den Faschismus endgültig zu besiegen. Kein anderes Beispiel verdeutlicht das damalige Stimmungsbild besser als die Oscar-Verleihung vom 2. März 1944: In der knapp dreißigminütigen Zeremonie wurde der AntiNazi-Film »Casablanca« als bester Film, für die beste Regie und das beste adaptierte Drehbuch ausgezeichnet; je ein Oscar ging an den Darsteller eines deutschen Widerstandskämpfers in einem Spionagefilm sowie an die Darstellerin der »Pilar« in der Verfilmung von Hemingways »Wem die Stunde schlägt«; und selbst Tom und Jerry wurden in der Kategorie »bester animierter Kurzfilm« dafür prämiert, dass sie mit Flugzeug und Raketen gegeneinander Krieg spielten und Jerry dabei zur amerikanischen Flagge salutierte.265 259 Eppel,
Österreicher im Exil II (1995) 533, 624; Kelsen, Strategy of Peace (1944). Compulsory Adjudication (1943). 261 Unten 754. 262 Kelsen, La Paz por el Derecho (1943); Kelsen, Peace through Law (1943). Der spanischsprachige Aufsatz wurde von einem Studenten Kelsens namens Constantino Ramos übersetzt: Hans Kelsen, Brief an Carlos Cossio v. 4. 6. 1943, Original im Besitz von Mane Perez del Cerro, eine Kopie wurde mir freundlicherweise von Diego Luna zur Verfügung gestellt. Aus demselben Brief geht auch hervor, dass sich die Harvard University das Recht zur Übersetzung von Kelsen, Law and Peace (1942) vorbehalten und ohne Rücksprache mit Kelsen einem mexikanischen Verlag anvertraut hatte. Dort erschien das von Florencio Acosta übersetzte Buch 1943 mit einer Einleitung von Luis Recaséns Siches. 263 Kelsen, Sovereign Equality (1944). 264 Heideking/Mauch, Geschichte der USA (2006) 267. 265 https://www.imdb.com/event/ev0000003/1944/1 [Zugriff: 02. 05. 2019]. 260 Kelsen,
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4. Teil: Amerika und die Welt
Kelsen aber veröffentlichte im Juni 1944 ein 155 Seiten starkes, Frank M. Russell gewidmetes Buch mit dem Titel »Peace through Law [Frieden durch Recht]«. Es war sozusagen die Quintessenz aus den vorhin genannten Aufsätzen, aus denen er große Teile wörtlich übernahm.266 Die Publikation erfolgte zur selben Zeit, in der die Alliierten in der Normandie landeten und unter einem ungeheuren Blutzoll Frankreich von der NS-Herrschaft befreiten.267 Und Kelsen gedachte wohl auch dieser Toten, wenn er in seinem Vorwort an den alten Brauch der Inka erinnerte, die zuweilen ihre eigenen Kinder den Göttern als Menschenopfer dargebracht hatten. »Haben wir Menschen einer christlichen Zivilisation wirklich das Recht, moralisch ruhig zu bleiben?«, fragte Kelsen angesichts der beiden Weltkriege, die das Unheil der »heidnischen Inkas bei weitem verdunkeln?« Und können wir die Inkas, deren Priester die noch schlagenden Herzen ihrer Kinder herausschneiden, wirklich moralisch verurteilen, »während wir selbst so stolz sind, die Blüte unserer eigenen Jugend auf den Altären zu opfern«?268 Den Frieden definierte Kelsen als die »Abwesenheit von Gewalt«. Einen derartigen absoluten Frieden könne es in der Realität nicht geben; in modernen Rechtsordnungen aber sei die Gewalt in der Hand des Staates monopolisiert und damit ein relativer Frieden innerhalb des Staates gewährleistet. »Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die ideale Lösung einer globalen Organisation wie auch für den Weltfrieden die Errichtung eines föderalen Weltstaates [World Federal State] wäre, der aus so vielen Nationen wie möglich bestünde. Die Realisierung dieser Idee ist aber mit schwierigen und, zumindest aus heutiger Sicht, unlösbaren Problemen konfrontiert.«269 Ein Weltstaat – Kelsen hielt vorerst noch an diesem Gedanken fest – dürfe nicht auf militärischem Wege, wie das Imperium Romanum, sondern müsse in demokratischer Art und Weise errichtet werden, er müsse aber auch ein demokratisch gewähltes Parlament besitzen. Dies würde bedeuten, dass Staaten wie China oder Indien mehr als dreimal soviele Abgeordnete in dieses Weltparlament entsenden als die USA und das UK zusammengenommen – für Kelsen ein offenbar absurder Gedanke!270 Vor allem aber hatten die Alliierten im Rahmen der Moskauer Konferenz am 1. 11. 1943 266 Ungewöhnlich
für Kelsen und wohl den amerikanischen Verhältnissen geschuldet war der Umstand, dass er die Zeitschriften, aus denen er wörtliche Zitate übernommen hatte, auflistete und ihnen für die Erlaubnis zum (partiellen) Wiederabdruck dankte: Kelsen, Peace through Law (1944) VI. Der Titel des Buches ist identisch mit dem schon oben erwähnten, 1943 veröffentlichten Aufsatz und weist auch große Ähnlichkeiten mit dem seiner Harvard-Vorlesung auf. Weshalb das Buch im Verlag der University of North Carolina erschien, ist unklar, zumal keine sonstigen Kontakte Kelsens zu dieser Universität bekannt sind; ein Zusammenhang mit Adolf Druckers dortiger Lehrtätigkeit (unten 730) ist möglich. 267 Müller, Weltkrieg (2004) 311–316. 268 Kelsen, Peace through Law (1944) VII. 269 Kelsen, Peace through Law (1944) 5. So wie schon bei seinen Harvard-Vorlesungen (oben 686), wies Kelsen auch nun wieder darauf hin, dass der Zusammenhalt der USA oder der Schweizerischen Eidgenossenschaft nicht als Argument für das Gelingen eines Weltstaates herangezogen werden könne. 270 Kelsen, Peace through Law (1944) 6, 10.
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2. Kapitel: Der Zweite Weltkrieg und die Gründung der UNO
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entschieden, dass die künftige Weltorganisation auf dem Prinzip der Gleichheit aller souveränen Staaten beruhen solle. Nicht ein Weltstaat, sondern nur eine Konföderation von Staaten sei also zu errichten.271 Primäre Aufgabe müsse es dabei sein, einen internationalen Gerichtshof mit einer obligatorischen Gerichtsbarkeit zu schaffen, dem sich so viele Staaten als möglich – sowohl Sieger als auch Verlierer des (noch andauernden!) Zweiten Weltkrieges, insbesondere aber auch die Sowjetunion – unterwerfen.272 Kelsen erläuterte auch hier wieder in aller Ausführlichkeit seine »Evolutionsthese«, wonach zuerst die Judikative, dann die Legislative und erst zuletzt die Exekutive geschaffen werden müsse. Auch verwies Kelsen erneut auf die negativen Erfahrungen, die man mit dem Völkerbund gemacht hatte.273 Vor diesem internationalen Gerichtshof sollten nicht nur Staaten als solche, sondern auch einzelne Individuen zur Verantwortung gezogen werden. Dies erläuterte er ausführlich im zweiten Teil seines Buches.274 Für die neu zu schaffende Staatenkonföderation schlug Kelsen den etwas umständlichen Titel »Permanent League for the Maintenance of Peace [Ständige Liga zur Aufrechterhaltung des Friedens]« vor und fügte seinen Ausführungen auch gleich einen Satzungsentwurf (»Covenant«) bei. Diese Liga sollte vier Organe haben: eine Versammlung, einen Gerichtshof, einen Rat und ein Sekretariat. Der Gerichtshof sollte aus 17 Mitgliedern bestehen, die in einem sehr komplizierten Verfahren zu bestellen seien, womit Kelsen möglichst hohe Akzeptanz und Unparteilichkeit der Mitglieder erreichen wollte. Im Rat sollten die USA, das UK, die UdSSR und China einen ständigen Sitz haben (Frankreich wurde in dieser Auflistung nicht genannt); darüber hinaus sollte es eine (von Kelsen nicht genannte) Zahl an nichtständigen Mitgliedern geben.275 Schließlich legte Kelsen auch Formulierungsvorschläge vor, mit denen der internationale Gerichtshof in die Lage versetzt werden sollte, Einzelpersonen zu bestrafen. Bemerkenswert ist dabei, dass Kelsen dem Gerichtshof in einer der Varianten die Kompetenz geben wollte, solche Strafen zu verhängen, die der Gerichtshof selbst für »adäquat« hielt, was ein deutliches Abweichen vom Prinzip »nulla poena sine lege« bedeutet hätte. Lediglich die Todesstrafe sollte nach diesem Entwurf unzulässig sein, wenn sie auch in jenem Staat, dem der Verurteilte angehörte, unzulässig war. In einer anderen Variante sollte sich die Strafe überhaupt nach dem Strafgesetz jenes Staates richten, dem der Verurteilte angehörte.276 271 Kelsen, Peace through Law (1944) 12; zum Teil wörtlich, jedoch ohne Hinweis auf die Moskauer Erklärung schon in Kelsen, Strategy of Peace (1944) 384. 272 Kelsen, Peace through Law (1944) 14; wörtlich schon in Kelsen, Peace through Law (1943) 53 f., teilweise auch in Kelsen, Compulsory Adjudication (1943) 397. 273 Kelsen, Peace through Law (1944) 55; wörtlich schon in Kelsen, Essential Conditions (1941) 78 und in Kelsen, Strategy of Peace (1944) 387. 274 Kelsen, Peace through Law (1944) 71–124. Dieser Teil findet keine Deckung in den vorhin erwähnten Aufsätzen, war also neu geschrieben. 275 Kelsen, Peace through Law (1944) 71–124. Vgl. dazu auch Bernstorff, Peace and Global Justice (2016) 87 f. 276 Art. 35a, Art. 35b, beide in: Kelsen, Peace through Law (1944) 144.
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4. Teil: Amerika und die Welt
Dies alles klang sehr nach utopischen Vorstellungen. Welche Chancen auf Verwirklichung hatten sie? Dies hing wesentlich davon ab, wie gut Hans Kelsens Kontakte nach Washington waren. Und erstaunlicherweise war es dem mittlerweile 63-jährigen Immigranten nicht nur gelungen, alte Bekanntschaften wieder aufleben zu lassen, sondern auch neue Bekanntschaften zu knüpfen, die ihn in direkten Kontakt zur Roosevelt-Administration brachten.
2. Im Dienst der Roosevelt-Administration a) Wichtige Bekanntschaften Schon kurz nach seiner Ankunft in Harvard hatte Kelsen für die »Iowa Law Review« ein Buch, »The Theory of Legal Science«, rezensiert und dabei in vollen Tönen gelobt. Verfolgte doch der Buchautor, Huntington Cairns, der damals einen höheren Posten (Assistant General Counsel) im US-Finanzministerium bekleidete, nach Ansicht Kelsens nicht mehr und nicht weniger als die Etablierung einer »pure science of law«, einer reinen Rechtslehre!277 Die derzeitige Rechtswissenschaft (jurisprudence) in den Vereinigten Staaten gleiche eher einer Rechtstechnik, die viele Elemente der Soziologie beinhalte; Cairns aber gehe es darum, gleich den Naturwissenschaften, allgemeine Prinzipien aus dem gegebenen Stoff herauszuarbeiten. Kelsen erklärte, dass er selbst seit etwa 30 Jahren dasselbe Ziel verfolge, auch wenn sein eigener Zugang stark von jenem Cairns’ differiere und eher jenem von John Austin ähnle. Nichtsdestoweniger sei das Buch das interessanteste und stimulierendste der letzten Zeit und der Autor offenbar nicht nur ein gelehrter Jurist, sondern auch mit den Problemen der Philosophie und Epistemologie bestens vertraut.278 Cairns schrieb Kelsen einen Brief, in dem er sich für die lobende Rezension bedankte und erklärte, dass er sich sehr freuen würde, könnte er Kelsen einmal in Washington persönlich begrüßen.279 Tatsächlich kam es am 1. Juli 1942 zu einem ersten Treffen zwischen Kelsen und Cairns,280 und offenbar war dies für beide Seiten eine positive Erfahrung; es entstand ein reger Briefwechsel, und Cairns wurde aufgrund seiner vielfältigen Kontakte zur Politik einer der wichtigsten Förderer Kelsens. Im 277 Kelsen, Buchbesprechung Cairns (1941) 175. Huntington Cairns, geb. Baltimore/MA, 1. 9. 1904, gest. Kitty Hawk/North Carolina 21. 1. 1985, wurde nach seiner Tätigkeit im Finanzministerium (wo er u. a. für Importverbote von pornographischen Werken zuständig war) Generalsekretär der National Gallery of Art; auch gehörte er der sog. Roberts Commission an, die – gemeinsam mit den (v. a. durch den gleichnamigen Hollywood-Film bekannt gewordenen) »Monuments Men« – für die Sicherung der von den Nationalsozialisten geraubten Kulturgüter zuständig war. Vgl. Los Angeles Times v. 24. 1. 1985. 278 Kelsen, Buchbesprechung Cairns (1941) 174, 179 f. 279 Huntington Cairns, Brief an Hans Kelsen v. 28. 1. 1942, in: LOC, Manuscript Division, Huntington Cairns Papers, Container 33. 280 Huntington Cairns, Brief an Hans Kelsen v. 2. 7. 1942, in: LOC, Manuscript Division, Huntington Cairns Papers, Container 33.
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2. Kapitel: Der Zweite Weltkrieg und die Gründung der UNO
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Jänner 1943 schrieb Kelsen an Cairns, dass er in Berkeley keine Aussicht auf Verlängerung habe, und fragte ihn, ob es irgendeine Möglichkeit gebe, nach Washington in die Verwaltung zu gehen, wobei er u. a. auf seine bisherigen Erfahrungen als Rechtsberater der österreichischen Regierung und als Richter am österreichischen VfGH verwies. Tatsächlich sagte Cairns zu, Kelsen helfen zu wollen.281 Über einen Freund im State Department, Carlton Savage, wurde der Kontakt zum zuständigen Mitarbeiter, Cavendish Cannon, hergestellt. Cairns konnte auch in Erfahrung bringen, dass Kelsens Name im State Department bereits wohlbekannt sei. Die mangelnde US-Staatsbürgerschaft aber stand einer Anstellung dort entgegen.282 Beachtung verdient ein Brief von Cairns an Kelsen vom Juli 1943, in dem er fragte, ob Kelsen schon versucht habe, eine Anstellung im »Office of Strategic Service« (OSS) zu bekommen, einem 1942 gegründeten Nachrichtendienst, der bereits 1945 wieder aufgelöst wurde, aber als Vorgängerinstitution der 1947 gegründeten CIA angesehen werden kann. Kelsen erwiderte, dass er dies noch nicht probiert habe, aber dankbar wäre, wenn Cairns für ihn dort vorfühlen könne.283 Im August wurde Kelsen dann von einem Mitarbeiter des OSS names Taylor Starck kontaktiert, ob er in einem Projekt mitarbeiten könne, in dem man biographische Informationen, u. a. zu österreichischen Juristen, sammle. Kelsen sagte zu, mitzuarbeiten, doch findet sich in den Unterlagen des OSS nur ein einziger Akt, der von Kelsen stammt. Dieser betrifft Adolf Merkl, der nach Einschätzung Kelsens nicht nur vor 1938 ein »anti-Nazi« war, sondern auch der einzige sei, von dem er, Kelsen, sicher sein könne, dass er nach 1938 seine Meinung nicht geändert habe. Im Übrigen enthält der Akt biographische Eckdaten Merkls, einschließlich der Angabe, dass er »Aryan; married; Catholic« und 1938 von den Nazis entlassen worden sei; »is a scholar rather than an administrator«.284 Weitere Akten aus Kelsens Feder sind nicht bekannt, was allerdings nicht ausschließt, dass Kelsen in anderen Bereichen für das OSS weiterarbeitete. b) Die Foreign Economic Administration Am 25. September 1943 rief Präsident Roosevelt die »Foreign Economic Administration (F. E. A.)« ins Leben, eine direkt dem US-Präsidenten unterstellte Behörde, mit der die Außenwirtschaftspolitik der USA zentral gelenkt werden sollte. Sie bestand aus zwei Abteilungen, dem »Bureau of Supplies« und dem »Bureau of Areas«, wobei letzteres wieder in vier Unterabteilungen für die verschiedenen geographischen 281 Hans Kelsen, Brief an Huntington Cairns v. 31. 1. 1943 und Antwortschreiben v. 8. 2 . 1943. Ein paar Monate später bat Kelsen erneut um Hilfe und erkundigte sich nach einer Anstellungsmöglichkeit in Washington: Hans Kelsen, Brief an Huntington Cairns v. 30. 6. 1943. Alle Briefe in: LOC, Manuscript Division, Huntington Cairns Papers, Container 33. 282 Huntington Cairns, Briefe an Hans Kelsen v. 5. 8. 1943 und v. 18. 8. 1943, beide in: LOC, Manuscript Division, Huntington Cairns Papers, Container 33. 283 Huntington Cairns, Brief an Hans Kelsen v. 6. 7. 1943 und Antwortschreiben v. 23. 7. 1943, beide in: LOC, Manuscript Division, Huntington Cairns Papers, Container 33. 284 R astl, Harvard und das Office of Strategic Services (2020, im Druck).
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Zielgebiete gegliedert war. Der »Liberated Areas Branch« war für die im Kriegsverlauf befreiten oder noch zu befreienden Gebiete zuständig und sollte deren Verwaltung, insbesondere deren Versorgung mit Lebensmitteln und anderem Material, organisieren.285 Darüber hinaus befasste sich die F. E. A. aber in einem großen Maße mit umfassenden Planungen für die Nachkriegsordnung der Welt, womit sie in ein gewisses Konkurrenzverhältnis zum US-Außenministerium trat.286 Unter anderem organisierte die F. E. A. im März 1945 ein »Austria Training Program«, das amerikanische Beamte umfassend mit Österreich, seinen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen, seinem Rechtswesen und seiner Kultur vertraut machen sollte. Unter den Vortragenden scheinen eine Reihe von Exilösterreichern auf, zwar nicht Hans Kelsen selbst, dafür aber sein Schwager Adolf Drucker, der zu jener Zeit an der University of North Carolina lehrte.287 Er sollte nun, zum Teil gemeinsam mit dem gleichfalls 1939 ins Exil gegangenen Wiener Universitätsdozenten Willibald M. Plöchl288, über die arbeitsrechtlichen Verhältnisse, über Schulwesen und Religion, sowie über politische Parteien in Österreich vortragen.289 Aus einer Reihe von anderen Quellen ist ersichtlich, dass auch Hans Kelsen für die F. E. A. tätig war, auch wenn Art und Ausmaß dieser Beschäftigung nur sehr ungenau rekonstruiert werden können.290 Übereinstimmend berichten Métall sowie Hannah Kelsen Oestreicher, dass Hans Kelsen im Frühjahr und Sommer 1944 als Berater für das »Bureau of Areas, Liberated Areas Branch« in Washington D. C. arbeitete; Métall ergänzt auch noch, dass Kelsen aus diesem Grund in dieser Zeit nicht in Berkeley unterrichtete.291 Das FBI hielt dagegen fest, dass Kelsen am 23. Oktober 1944 eine Anstellung als »Konsulent« [Consultant] für 60 Tage im Bureau of Areas292 erhalten hatte; diese Tätigkeit müsste somit bis 21. Dezember gedauert haben. Aus dieser Zeit stammen auch zwei Briefe Kelsens an Roscoe Pound und Frank M. Russell, die er mit Angabe einer Wohnadresse »3130 Wisconsin Ave., Apt. 509, Washington D. C.« 285
Report to Congress of the Foreign Economic Administration (1944) 41. zur Aufblähung des staatlichen Verwaltungsapparats während des Krieges auch Ernst, Law and the State (2008) 15. 287 Es erscheint naheliegend, dass Hans Kelsen und Adolf Drucker in jenen Jahren einander nach Möglichkeit unterstützten und gegenseitig halfen, Kontakte zu knüpfen, auch wenn hierfür keine Quellen existieren. Beachte, dass beide im Rahmen von Symposien, die vom »Institute on World Affairs« organisiert wurden, Vorträge zur Gestaltung der Nachkriegsordnung hielten: Kelsen, Revision (1942); Drucker, Regional Economic Principles and Problems (1944). 288 Geb. St. Pölten/Niederösterreich 7. 7. 1907, gest. Wien 27. 5. 1984. 1935 Habilitation für das Fach Kirchenrecht an der Universität Wien, 1939 Flucht aus NS-Deutschland, 1941–1948 Lehrtätigkeit in den USA, 1949–1977 o. Professor des Kirchenrechts an der Universität Wien. Vgl. Richard Potz, Plöchl Willibald, in: NDB XX (2001) 545 f. 289 John B. Mason, Memorandum v. 30. 3. 1945, in: NACP, RG 169: Records of the Foreign Economic Administration, Bureau of Areas, Records relating to Economic Activities in Germany, Austria, and Japan 1942–1945, Box 3. 290 Der Archivbestand der F. E. A. in den NACP enthält keinen Personalakt zu Hans Kelsen. 291 Kelsen Oestreicher, My Parents in the United States (1977) 4; Métall, Kelsen (1969) 79 f. 292 FBI-File Kelsen, Results of Investigation, 23. 2 . 1955, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. 286 Vgl.
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verfasste und in denen er berichtete, dass seine Arbeit für die F. E. A. zwar sehr interessant sei, ihm aber kaum Zeit für wissenschaftliche Tätigkeit lasse.293 Aber noch aus späterer Zeit, vom Jänner 1945, ist ein Bericht einer Mitarbeiterin der F. E. A., Miriam E. Oatman, vorhanden, dass »Kelsen an Fragen betreffend Österreich« in dieser Behörde arbeite.294 All dies spricht dafür, dass Kelsen sowohl vor als auch nach seiner 60-tägigen formellen Anstellung in Washington für die F. E. A. tätig war, vielleicht auf Honorarbasis, wofür es allerdings keine Belege gibt.295 Und auch auf welche Weise Kelsen hierhergekommen war, kann nur vermutet werden. So ist ein Schreiben Kelsens an Cairns vom 28. Mai 1944 erhalten, in dem er sich dafür bedankt, dass ihn dieser mit Carlton Savage in Kontakt gebracht habe. Er habe ihn getroffen, ihm ein Memorandum über »The legal status of Germany to be established after her surrender [Der Rechtsstatus Deutschlands, der nach dessen Niederlage errichtet werden sollte]« übergeben und über dieses Problem mit Savage und anderen Beamten des Außenministeriums gesprochen.296 Anlass für diese Besprechung war vermutlich die »Moskauer Erklärung« der Außenminister der UdSSR, des UK und der USA vom 30. Oktober 1943 über die Kriegsziele der verbündeten Mächte. Im Gefolge der Kapitulation Italiens (29. September 1943) waren Ende Oktober/Anfang November 1943 die Außenminister der wichtigsten Alliierten Mächte in Moskau zusammengekommen; dabei hatten sie nicht nur eine Erklärung über Italien, sondern auch eine über Österreich abgegeben. In dieser »Moskauer Erklärung« vom 1. November 1943 wurde Österreich als »das erste freie Land, das ein Opfer der Hitler’schen Aggression« geworden war, bezeichnet und seine »Befreiung« vereinbart; der »Anschluß« des Jahres 1938 wurde für »null und nichtig« erklärt; Österreich solle »frei und unabhängig« sein.297 Auch riefen die drei Außenminister eine ständige Botschafterkonferenz mit Sitz in London, die »European Advisory Commission« ins Leben, die nähere Beschlüsse in Bezug auf europäische Angelegenheiten zu treffen hatte.298 Und offenbar in diesem Zusammenhang kam es 293 Hans Kelsen, Brief an Roscoe Pound v. 13. 11. 1944, in: Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7; Hans Kelsen, Brief an Frank M. Russell v. 27. 1 2. 1944, HKI, Nachlass Kelsen 16c10.61. 294 Eppel, Österreicher im Exil II (1995) 214. 295 Der »General Catalogue« führt im Spring Term, Summer Term und Fall Term 1944, d. h. zwischen Februar 1944 und März 1945 keine Lehrveranstaltungen Kelsens in Berkeley auf. Aus der oben 719 genannten Vorlesungsmitschrift von Grete Heinz geht jedoch hervor, dass Kelsen zumindest im Summer Term 1944 durchaus in Berkeley lehrte. 296 Hans Kelsen, Brief an Huntington Cairns v. 28. 5. 1944, in: LOC, Manuscript Division, Huntington Cairns Papers, Container 33. 297 http://www.ibiblio.org/pha/policy/1943/431000a.html [Zugriff: 02. 05. 2019]; Verosta, internationale Stellung (1947) Nr. 22. Das in der Deklaration genannte Datum des »Anschlusses« ist unrichtig; die entsprechenden Gesetze waren bereits am 13. 3. 1938 zustande gekommen; auf diesen Fehler weist auch Kelsen, Österreich-Gutachten (1944) 133, Anm. *, hin. Vgl. zur Entstehung der Moskauer Erklärung ausführlich Stourzh, Um Einheit und Freiheit (1998) 10–23. 298 Kowalski, Die »European Advisory Commission« (1971).
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am 5. Mai 1944 im US-Außenministerium zu jener Besprechung, an der Hans Kelsen sowie Prof. David Harris von der Stanford University, ferner die außenpolitischen Experten Philip E. Mosely299 und Harry N. Howard300 sowie Howard M. Smyth vom Außenministerium teilnahmen.301 »Subject: Future of Austria«.302 Wohl zur Überraschung aller anderen Besprechungsteilnehmer erklärte Kelsen, dass der Moskauer Erklärung keine rechtliche Bedeutung zukomme, und führte dies in einem – mit »Berkeley, 1. Juni 1944« datierten – Gutachten näher aus. Zum Verständnis von Kelsens Stellungnahme muss auf die allgemeine Situation der Exilösterreicher in jener Zeit eingegangen werden. Sowohl bürgerliche als auch sozialdemokratische Politiker hatten sich nach dem »Anschluß« um die Bildung einer von den Alliierten anerkannten Exilregierung bemüht, doch blieben diese Anstrengungen erfolglos, nicht zuletzt, weil sich die verschiedenen politischen Lager nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen konnten.303 Eine gewisse Bedeutung hatten in diesem Zusammenhang die Ambitionen von Otto Habsburg-Lothringen (bis 1918 Kronprinz von Österreich-Ungarn). Dieser war im September 1941 maßgeblich an der Gründung eines »Free Austrian National Council« beteiligt gewesen, das jedoch wegen innerer Zerwürfnisse schon nach wenigen Monaten zerbrochen war. Brisanz gewann dieser Versuch zur Bildung einer Exilregierung vor allem dadurch, dass als ihr Präsident Hans Rott vorgesehen war, eines von nur zwei in Freiheit lebenden, ehemaligen Mitgliedern der letzten Schuschnigg-Regierung.304 Als Kanzler war Willibald M. Plöchl in Aussicht genommen; er hatte bis 1938 Kirchenrecht an der Universität Wien gelehrt und, nachdem ihm das NS-Regime seine Lehrbefugnis entzogen hatte, in Paris für Habsburg-Lothringen gearbeitet. Seit 1940 lehrte er an der Catholic University of America in Washington D. C. Am 8. Dezember 1941, einen Tag nach dem Angriff der japanischen Streitkräfte auf Pearl Harbor, hatte Plöchl einen 299 Vgl.
zu ihm Dallin, Mosely (1972). Vgl. zu ihm http://www.trumanlibrary.org/hstpaper/howardhn.htm [Zugriff: 02. 05. 2019]. 301 Vgl. zu ihm Eckert, Kampf um die Akten (2004) 426 und passim. 302 NACP, RG 59: General Records of the Department of State, Decimal File 1940–44, Box 2941, Control (Austria)/5–544, ARC# 740.00119. 303 Stourzh, Um Einheit und Freiheit (1998) 11 f. – Vgl. auch den Brief von Otto Harpner (Sohn des sozialdemokratischen Wiener Rechtsanwaltes Gustav Harpner) an Hans Kelsen v. 6. 2 . 1945, HKI, Nachlass Kelsen 16c4.60: »Austrian Emigrants are still divided into two distinct camps here.«. 304 Im November 1942 beschloss US-Kriegsminister Henry L. Stimson die Bildung eines eigenen Bataillons aus Exilösterreichern; in diesem Zusammenhang wurde ein »Military Committee for the Liberation of Austria« gebildet, das einen Aufruf an tausende in den USA lebende Österreicher schickte, diesem Bataillon beizutreten. Der Aufruf wurde von »Otto von Österreich« (!) sowie von den beiden in den USA lebenden, ehemaligen Mitgliedern der letzten Schuschnigg-Regierung, Hans Rott und Guido Zernatto (jeweils mit der Bezeichnung als »Bundesminister«), ferner von Walter von Schuschnigg (einem Cousin des Ex-Kanzlers) und Richard Schüller (vgl. zu diesem oben 583) gezeichnet; vgl. den Abdruck bei Traussnig, Militärischer Widerstand (2016) 41 f. Eine Reihe von Freunden Kelsens, so etwa Adolf Drucker, Erich Hula oder Ludwig von Mises, erklärten sich mit dem Aufruf solidarisch, vgl. Eppel, Österreicher im Exil II (1995) 84 f. Von Kelsen selbst ist keine Reaktion bekannt. Die von Silving, Memoirs (1988) 266, berichtete Anekdote, wonach Otto Habsburg-Lothringen einmal sogar persönlich Kelsen um die Ausarbeitung einer monarchischen Verfassung für Österreich nach dem Krieg ersuchte, erscheint wenig glaubwürdig. 300
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Brief an US-Außenminister Hull gerichtet, in dem er Österreich als das »erste Opfer der Aggression« Hitlers bezeichnet hatte – eine Formulierung, die sich später wörtlich in der Moskauer Erklärung fand! Plöchl wirkte schließlich auch an einem Memorandum mit, das Herbert F. Wright, Professor für Völkerrecht an der Catholic University of America »über die Haltung der USA gegenüber Österreich« dem US-Kongress überreichte.305 Wright vertrat in diesem Memorandum die Auffassung, dass die Annexion Österreichs im Jahr 1938 sowohl völkerrechtlich als auch verfassungsrechtlich nichtig gewesen sei. Daraus zog er den – durchaus plausiblen – Schluss, dass die Regierung Schuschnigg die legitime Regierung für Österreich sei (in ähnlicher Weise, wie ja auch Beneš die Ansicht vertrat, nach wie vor Präsident der ČSR zu sein). Allerdings erhob Wright nicht die Forderung, Schuschnigg (der zu jenem Zeitpunkt im KZ Sachsenhausen interniert war) wieder in sein Amt zu führen. Vielmehr solle eine herausragende Persönlichkeit, die »eine rechtliche Verbindung mit der letzten österreichischen Regierung beweisen« könne, sich an die Spitze einer neuen Exilregierung stellen.306 Im Zusammenhang mit der Bildung des »Free Austrian National Council«, an dessen Spitze ja ein Mitglied der letzten österreichischen Regierung stand, sollte das Memorandum den Weg dafür ebnen, dass Monarchisten und Anhänger des »Ständestaates« – die einander ja auch schon vor 1938 nahe gestanden hatten – die Macht in Österreich übernahmen. Kelsens mündliche Stellungnahme vom 5. Mai 1944 und sein Gutachten vom 1. Juni 1944 waren zu einem guten Teil eine Auseinandersetzung mit den Thesen und Forderungen Wrights. Mit diesem stimmte er überein, dass die »Annexion« sowohl völkerrechts-, als auch verfassungswidrig gewesen war: Sie stellte einen Bruch von Art. 80 des Versailler Vertrages und Art. 88 des Vertrags von St. Germain dar, und wenn auch das österreichische »Anschlußgesetz« vom 13. März 1938 formal gültig zustande gekommen sei,307 so war doch die nationalsozialistische österreichische Bundesregierung, die es erlassen hatte, nur aufgrund des militärischen Druckes NS-Deutschlands ins Amt gekommen. »Jedoch ist das ganze Problem der Verfassungsmäßigkeit des Anschlußgesetzes von untergeordneter Bedeutung. Selbst wenn der Anschluß Österreichs an Deutschland auf einem verfassungswidrigen Gesetz basieren sollte, so ist er effektiv geworden, und das Prinzip der Effektivität spielt eine entscheidende Rolle im Verfassungsrecht.«308 Es hätte dann eben eine Verfassungsänderung im revolutionären Weg stattgefunden, und aufgrund dieser revolutionär geschaffenen 305 Wright, The Attitude (1944). Ein kleiner Ausschnitt ist auch bei Verosta, internationale Stellung (1947) Nr. 24, abgedruckt; vgl. dazu und zum Folgenden auch Olechowski, Kelsens Gutachten (2016) 124. 306 Wright, The Attitude (1944) 25. 307 Kelsen, Österreich-Gutachten 1944, 131. Ihm war nicht bekannt, dass beim Zustandekommen dieses Gesetzes formale Fehler passiert waren, die die heute herrschende Lehre dazu veranlassen, von einer absoluten Nichtigkeit des Gesetzes auszugehen; vgl. dazu Wiederin, März 1988 (1990) 255. 308 Kelsen, Österreich-Gutachten 1944, 131 f.
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4. Teil: Amerika und die Welt
Ordnung wäre Österreich Teil des Deutschen Reiches geworden. Diese Aussage gelte auch für das Völkerrecht, wo das Prinzip der Effektivität eine nicht minder wichtige Rolle als im Verfassungsrecht spiele; der von manchen Autoren aufgestellte Satz »ex injuria jus non oritur [aus Unrecht entsteht kein Recht]« könne weder im Verfassungsrecht noch im Völkerrecht uneingeschränkte Geltung beanspruchen.309 Diese überraschenden Aussagen entsprachen nicht nur voll und ganz der Reinen Rechtslehre; sie waren auch notwendig, um den Thesen Wrights argumentativ entgegenzutreten.310 Wenn, wie die Alliierten in der Moskauer Erklärung formuliert hatten, der »Anschluß null und nichtig« sei, so wäre die Regierung Schuschnigg noch immer die rechtmäßige österreichische Regierung. Diese aber »war eine faschistische Regierung, die eine Restauration der Habsburger befürwortete. […] Es ist evident, dass die drei Mächte nicht die Absicht haben, einen faschistischen Staat zu [re‑]etablieren.«311 Es liege, so Kelsen, im Interesse der Alliierten, nicht die Fiktion eines noch immer existierenden österreichischen Staates aufrecht zu erhalten, sondern Österreich als Teil des Deutschen Reiches zu betrachten und es wie dieses zu behandeln. Damit weitete Kelsen das ihm gestellte Problem erheblich aus: Um das Schicksal Österreichs nach dem Sieg der Alliierten zu entscheiden, müsse zuvor die Frage geklärt werden, was mit Deutschland nach dessen militärischer Niederlage zu erfolgen habe. Sollte Deutschland von den Alliierten nur nach den Regeln der Haager Landkriegsordnung besetzt werden, so hätten diese nur wenige Rechte; keinesfalls dürften sie Österreich vom Rest Deutschlands abspalten.312 Es wäre denkbar, mit Deutschland einen Friedensvertrag abzuschließen, der den Alliierten alle Rechte gebe, die sie benötigen – aber wer soll diesen auf deutscher Seite unterzeichnen? Kelsen spielte auf das Schicksal von Matthias Erzberger an, des Unterzeichners des Waffenstillstandes von 1918, der 1921 von Rechtsradikalen ermordet worden war.313 Aber Kelsen war auch der Ansicht, dass ein Vertrag, der Deutschland nach dessen bedingungsloser Kapitulation aufgezwungen würde, nur eine »Farce« sein könne; die Fehler von Versailles müssten unbedingt vermieden werden. Die beste Lösung, so Kelsen, sei es, auf einen Friedensvertrag zu verzichten und auf dem Territorium von Deutschland (inklusive Österreich) ein Kondominium zu errichten. Rechtshistorische Beispiele seien hier etwa das Kondominium von Österreich und Preußen über Schleswig-Holstein und Lauenburg 1864–1866, jenes von Großbritannien und Ägypten über den Sudan seit 1898 (bis 1956), jenes von Großbritannien und Frankreich über die Neuen Hebriden seit 1906 (bis 1980) und jenes 309 Kelsen,
Österreich-Gutachten 1944, 132.
310 Vgl. Hans Kelsen, Brief an Otto Harpner v. 9. 6. 1944, HKI, Nachlass Kelsen, Nachträge: »the
non-recognition doctrine […] is not only incorrect from a scientific point of view, but also not favorable to the re-establishment of a democratic and republican Austria.« Herzlichen Dank an Prof. Dr. Ilse Reiter-Zatloukal für die Zurverfügungstellung dieser Archivalie. 311 Kelsen, Österreich-Gutachten 1944, 134. 312 Kelsen, Österreich-Gutachten 1944, 135 = Kelsen, The International Legal Status of Germany (1944) 689. 313 Siehe noch unten 738.
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2. Kapitel: Der Zweite Weltkrieg und die Gründung der UNO
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von Österreich und Ungarn über Bosnien-Herzegowina 1909–1918.314 So wie in den angeführten Fällen würden auch im Falle Deutschlands die Alliierten gemeinsam die Souveränität über das von ihnen besetzte Territorium erlangen und hätten damit volle Handlungsfreiheit. Sie könnten jedwede Verfassungsänderung, auch eine Abspaltung Österreichs, bewirken und selbst die Kriegsverbrecher bestrafen, und sie könnten in Deutschland und Österreich Regierungen einsetzen, die in keinem rechtlichen Konnex zu den Nationalsozialisten stünden.315 Was Österreich betreffe, so solle die Abspaltung von Deutschland nicht erzwungen werden, wie es 1919 im Vertrag von St. Germain erfolgt war; vielmehr sollte eine Volksabstimmung stattfinden, und Kelsen war überzeugt, dass diese zu einer Bejahung der österreichischen Unabhängigkeit führen würde, jedenfalls dann, wenn die Alliierten den Österreichern vorteilhafte Konsequenzen eines solchen Votums versprechen würden.316 Auf Basis der Besprechung vom 5. Mai und wohl auch auf Basis von Kelsens Gutachten vom 1. Juni 1944 verfasste das Komitee für Nachkriegsprobleme im US-Außenministerium am 8. Juni ein Memorandum, das Außenminister Cordell Hull übermittelt und von diesem auch an Präsident Franklin D. Roosevelt weitergeleitet wurde. Die komplizierten juristischen Erörterungen Kelsens wurden darin nicht übernommen, wohl aber teilte das Komitee dessen politischen Ziele: Österreich sollte als ein unabhängiger Staat neu entstehen und sowohl von den Resten der Nazi-Herrschaft, als auch von jenen des faschistischen Dollfuß-Schuschnigg-Regimes gesäubert werden; auch einer Restauration der Habsburger wurde eine klare Absage erteilt. Mithilfe von österreichischen Nazigegnern sollte zunächst eine provisorische Regierung gebildet werden und diese sollte allgemeine Wahlen für eine Österreichische Nationalversammlung ausschreiben. Diese Nationalversammlung sollte selbständig über die Frage einer neuen Verfassung für Österreich entscheiden; bis zum Erlass einer solchen würde es sich empfehlen, auf die Bestimmungen der österreichischen Verfassung von 1920 zurückzugreifen.317 c) Die debellatio-These Obwohl es Kelsens Hauptaufgabe gewesen war, Vorschläge für das weitere Schicksal Österreichs nach dem Krieg zu erstellen, hatte er, quasi im Vorbeigehen, auch eine Vorgangsweise der Alliierten in Bezug auf Deutschland empfohlen. Es nimmt nicht Wunder, dass diese Partien des Gutachtens auf erheblich größeres Interesse stießen als jene bezüglich Österreichs. Noch im Oktober 1944 wurden jene Teile des Gutachtens, 314 Kelsen,
Österreich-Gutachten 1944, 137 f. = Kelsen, The International Legal Status of Germany (1944) 692. 315 Kelsen, Österreich-Gutachten 1944, 138 = Kelsen, The International Legal Status of Germany (1944) 693 f. 316 Kelsen, Österreich-Gutachten 1944, 139. 317 The Treatment of Austria. Memorandum by the Committee on Post-War-Programs, 8. 6. 1944, in: Foreign Relations of the United States 1944, Vol. I (1966) 438–447.
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4. Teil: Amerika und die Welt
die Deutschland betrafen, unter dem Titel »The International Legal Status of Germany to be Established Immediately upon Termination of the War [Der internationale rechtliche Status Deutschlands, der unmittelbar nach Beendigung des Krieges zu etablieren wäre]« im AJIL veröffentlicht.318 Zu jenem Zeitpunkt hatten die Westalliierten bereits ganz Frankreich von den Nationalsozialisten befreit und auch die deutsche Grenze überschritten. Gemeinsam mit den von Osten vorstoßenden sowjetischen Truppen gelang ihnen in weiterer Folge die vollständige Niederringung NS-Deutschlands.319 Am 7. Mai 1945 unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl in Reims die bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht; die Mitglieder der letzten geschäftsführenden deutschen Reichsregierung (der sog. Regierung Dönitz) wurden am 23. Mai verhaftet.320 Am 5. Juni 1945 kamen die Oberbefehlshaber der vier alliierten Truppen – zu den Großen Drei war das wiedererstandene Frankreich hinzugetreten – in Berlin zusammen und unterzeichneten die »Berliner Erklärung«, mit der sie feststellten, dass keine deutsche Zentralregierung mehr existiere, und daher für sich die »supreme authority and powers« über Deutschland beanspruchten, womit sie jedoch keine »annexation« bewirken wollten; zugleich teilten sie Deutschland (in den Grenzen von 1937) in vier Besatzungszonen auf. Am 2. August 1945 vereinbarten Iosif W. Stalin, Harry S. Truman und Clement R. Attlee im »Potsdamer Abkommen«, dass die »supreme authority« zum Teil von den vier Oberbefehlshabern in der jeweiligen Besatzungszone getrennt, zum Teil gemeinsam durch einen »Alliierten Kontrollrat« ausgeübt werden solle. Es ist unklar, inwieweit Kelsens Gutachten vom 1. Juni 1944 oder seine sonstigen, uns nicht bekannten Arbeiten für die F. E. A. von direktem Einfluss auf die soeben genannten Entwicklungen waren. Tatsache ist, dass die Alliierten in allen wesentlichen Punkten so vorgingen, wie es Kelsen vorgeschlagen hatte: Sie schlossen keinen Friedensvertrag mit Deutschland ab, sondern übernahmen die »supreme authority« über dieses Land, was wohl nur schwer anders als mit »Souveränität« übersetzt werden kann. Dies jedenfalls war die Ansicht von Kelsen selbst, der noch im Juli 1945, nur wenige Wochen nach der »Berliner Erklärung« einen weiteren Aufsatz, betitelt »The Legal Status of Germany according to the Declaration of Berlin [Der rechtliche Status Deutschlands nach der Berliner Erklärung]« im AJIL veröffentlichte.321 Die Geschwindigkeit, in der die Publikation erfolgte, legt die Vermutung nahe, dass Kelsen von der Entwicklung nicht überrascht worden war, sondern höchstwahrscheinlich in die Vorbereitung der Berliner Erklärung eingebunden war. Sicherlich aber ging auch dieser zweite Aufsatz aus einem Gutachten hervor, auch wenn in den Akten der 318 Kelsen, The International Legal Status of Germany (1944). Die 2016 erfolgte Edition von Kelsens Österreich-Gutachten zeigt in den Fußnoten die Übereinstimmungen und Abweichungen zwischen Gutachten und Aufsatz an. 319 Müller, Weltkrieg (2004) 347–370. 320 Stern, Staatsrecht V (2000) 891: »Deutsche Staatsgewalt existierte nicht mehr.« Vgl. zum Folgenden auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV (2012) 33; Olechowski, Kelsens Debellatio-These (2013) 542 f. 321 Kelsen, The Legal Status of Germany (1945) 518 f.
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F. E. A. keine Hinweise auf ein solches gefunden werden konnten.322 Kelsen deutete jene Passage in der Berliner Erklärung, wonach die deutschen Land-, See‑ und Luftstreitkräfte vollkommen besiegt seien, als »debellatio«, als vollständige Niederringung des Kriegsgegners im juristischen Sinne. Mit der bedingungslosen Kapitulation, spätestens mit dem Ende der Regierung Dönitz, habe Deutschland aufgehört ein Staat im Sinne des Völkerrechts zu sein. Das bedeute jedoch nicht, dass Deutschland ein »no state’s land« wäre – eine solche Annahme wurde von Kelsen als »simply absurd« zurückgewiesen.323 Vielmehr sei davon auszugehen, dass die vier Alliierten Mächte ein »condominium« über Deutschland errichtet hätten und sich die Souveränität teilen würden. Ausführlich erläuterte Kelsen den aktuellen Status Deutschlands. Insbesondere sei Deutschland nicht von den Siegermächten annektiert worden; es würde weder in den Geltungsbereich der Verfassungen der Alliierten Mächte gezogen, noch würden die Deutschen nunmehr die Staatsbürgerschaft jener Mächte erhalten. Vielmehr sei ein durchaus eigenes Regime errichtet worden, ähnlich, wie dies in Kuba während dessen Besetzung durch die USA 1898–1902 der Fall war.324 Ein Friedensvertrag, sofern überhaupt ein solcher mit einer künftigen deutschen Regierung geschlossen werden sollte, hätte mehr deklaratorische als juristische Bedeutung, denn die gesamte Rechtsstellung einer solchen deutschen Regierung würde von den Alliierten abhängen. Vor allem aber hätten die Alliierten nunmehr freie Hand, Kriegsverbrecher zu bestrafen.325 Kelsens Stellungnahmen zählten zu den allerersten Analysen von Deutschlands Rechtslage und wurden schon aus diesem Grund in so gut wie allen nachfolgenden Stellungnahmen zitiert. 1950 erklärte Josef L. Kunz in einem zusammenfassenden Bericht, dass Kelsen mit seinen Ideen viele amerikanische, britische und französische, auch einige deutsche Autoren beeinflusst habe; viele von ihnen seien seinen Ideen gefolgt, wenn auch zum Teil mit Varianten.326 Eine offizielle Stellungnahme von Kelsens Auftraggebern zu dessen Thesen ist nicht bekannt. Immerhin erklärte Savage noch 1947 gegenüber Cairns, wie hilfreich Kelsen gewesen sei, und meinte, dass es gut wäre, Kelsen auch weiterhin immer wieder für Konsultationszwecke nach Washington zu holen.327 Dies sagt freilich nichts darüber aus, ob die Amerikaner Kelsens debellatio-These übernahmen. Kelsens Schriften überquerten den Atlantik und wurden dem OMGUS, dem Office of Military Government for Germany (U. S.), zur 322 Ein Typoskript zum Aufsatz mit handschriftlichen Ausbesserungen Kelsens (die später in die Druckfassung übernommen wurden) befindet sich allerdings im Nachlass des US-Chefanklägers in Nürnberg, Robert H. Jackson: LOC, Manuscript Division, Robert Jackson Papers, file Kelsen. 323 Kelsen, The Legal Status of Germany (1945) 520 f. Vgl. dazu Diestelkamp, Probleme (1980) 481 f. 324 Kelsen, The Legal Status of Germany (1945) 522. 325 Kelsen, The Legal Status of Germany (1945) 525 f. 326 Kunz, The Status of Occupied Germany (1950) 542. Er nannte hier u. a. Hersch Lauterpacht oder Quincy Wright; auch er selbst folgte in diesem Aufsatz der debellatio-These. 327 Huntington Cairns, Brief an Hans Kelsen v. 21. 10. 1947, in: LOC, Manuscript Division, Huntington Cairns Papers, Container 33.
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4. Teil: Amerika und die Welt
Kenntnis gebracht.328 Dort zeigten sich einzelne Mitglieder insbesondere von der Behauptung, dass die Haager Landkriegsordnung nicht anwendbar sei, »beeindruckt«; der amerikanische Militärgouverneur Lucius D. Clay aber erklärte ausdrücklich, dass Deutschland weiterhin als Staat existiere, und der US-Supreme Court hielt noch 1948 fest, dass sich die USA weiter im Kriegszustand mit Deutschland befinden.329 Kelsen äußerte sich später noch dreimal zur Frage der Fortexistenz Deutschlands: 1947 fasste er in der »American Political Science Review« seine Thesen zusammen und hielt auch fest, dass im Falle einer – sich abzeichnenden – Teilung Deutschlands keiner der beiden Teilstaaten eine Identität mit dem Deutschen Reich beanspruchen könne.330 Als vom 22.–24. August 1947 die Außenminister der westlichen Besatzungsmächte in London tagten und einen Wiederaufbau Westdeutschlands, auch um den Preis einer Abspaltung von der Sowjetisch Besetzten Zone, beschlossen, verfasste Kelsen am 27. August einen Leserbrief für die New York Times, in der er auf der debellatio-These beharrte und die Forderung nach Errichtung eines neuen deutschen – oder westdeutschen – Staates erhob.331 Zuletzt äußerte sich Kelsen 1948 in einer ostdeutschen Zeitschrift zur Lage Deutschlands und wies dabei auch darauf hin, dass »wesentliche Teile« Deutschlands (= die östlich von Oder und Neiße gelegenen Länder) von Polen und der Sowjetunion annektiert worden waren, weshalb das Staatsgebiet eines neuen deutschen Staates wesentlich verschieden von dem des alten wäre. Erneut riet er von einem Friedensvertrag ab. Man würde kaum »einen aufrechten deutschen Staatsmann« finden, der sich bereit erklären würde, einen solchen Vertrag zu unterzeichnen, und falls doch, würde er »bestimmt das Schicksal Erzbergers erleiden.«332 Die deutsche Staats‑ und Völkerrechtslehre – beziehungsweise, was von ihr nach 1945 noch übriggeblieben war – lehnte Kelsens debellatio-These so gut wie einheitlich ab.333 Schon bei der ersten Nachkriegstagung der deutschen Völkerrechtler 1947 vertrat Rudolf von Laun die Kelsen entgegengesetzte These von der Fortexistenz des Deutschen Reiches, und auch bei der Staatsrechtslehrertagung 1954 wurde diese Lehre von beiden Referenten, Friedrich August von der Heydte und Günter Dürig, vertreten.334 Die nahezu geschlossene Phalanx der deutschen Juristen ist zum Teil mit dem Unverständnis, auf das die Reine Rechtslehre nach wie vor in Deutschland stieß, zu erklären: Kelsen hatte, wie stets in seinen Schriften seit 1920, »Staat« mit »Rechtsordnung« 328 Hans Kelsen, Schreiben an Alwyn F. Freeman (JAG) v. 5. 10. 1945 und Antwortschreiben v. 17. 10. 1945 (mit Empfehlung, den Aufsatz direkt an General Edward C. Betts, den Judge Advocate European Theatre of Operations, zu senden), in: HKI, Nachlass Kelsen 16c3.60. 329 Olechowski, Kelsens Debellatio-These (2013) 546. 330 Kelsen, Peace Treaty (1947) 1189. 331 Kelsen, German Peace Terms (1947). Zur Londoner Außenministerkonferenz vgl. Stern, Staatsrecht V (2000) 972, 1136 f. 332 Kelsen, Friedensvertrag (1948) 196. 333 Dreier, Staatsrechtslehre (2001) 67; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV (2012) 34. 334 Olechowski, Kelsens Debellatio-These (2013) 547.
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2. Kapitel: Der Zweite Weltkrieg und die Gründung der UNO
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identifiziert; seine Behauptung, dass der deutsche Staat untergegangen sei, bedeutete nicht mehr und nicht weniger, als dass die nationalsozialistische Rechtsordnung zu gelten aufgehört hatte. Es scheint aber, dass die deutschen Staatsrechtler beim Gedanken an ein »untergegangenes Deutschland« eher an Atlantis dachten oder sonst in irgendeiner Form befürchteten, dass man ihnen ihre Heimat rauben wolle. Die These von der Fortexistenz des Deutschen Reiches war aber in jenen Jahren geradezu eines der »Basisideologeme des aus den Trümmern sich erhebenden, guten Deutschland«.335 Berücksichtigt man dazu die zu jener Zeit grassierende Angst vieler Deutscher vor den nun, nach der Niederlage der Wehrmacht, sich rächen wollenden Exilanten, so wird verständlich, weshalb den Thesen Kelsens mit einem gewissen Misstrauensvorschuss begegnet wurde, was in Summe zu jener Ablehnung geführt haben dürfte. Jedenfalls war Kelsens debellatio-These einer der Hauptgründe dafür, dass Kelsen, ungeachtet seiner Verdienste auch um die deutsche Demokratie und die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit, bis in jüngste Zeit von der Mehrzahl der deutschen Staatsrechtler abgelehnt, ja zumeist nicht einmal gelesen wurde.336
3. Der Nürnberger Kriegsverbrecherprozess a) Die Frage der individuellen Verantwortlichkeit Um die Rolle Hans Kelsens beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs ranken sich eine Reihe von Mythen und Legenden. Das in der Literatur immer wieder anzutreffende Missverständnis der Reinen Rechtslehre als einer Lehre, die zu blindem Kadavergehorsam verpflichte, führt zu der Vermutung, Kelsen habe die Idee von rückwirkenden Strafgesetzen abgelehnt; »[d]er Nürnberger Prozess widersprach diametral Kelsens Grundposition«.337 Dass geradezu das Gegenteil der Fall war, dass Kelsen gerade auf dem Boden der Reinen Rechtslehre beweisen konnte, dass Strafgesetze auch zurückwirken können, und so wesentlich dazu beitrug, dass die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg verurteilt werden konnten, zeugt nur einmal mehr von der Kompatibilität der Reinen Rechtslehre mit einer hoch entwickelten Moralphilosophie. Die Bestialität, mit der die Achsenmächte in den von ihnen besetzten Gebieten gegen Kriegsgefangene und die Zivilbevölkerung vorgingen, hatte schon bald für 335 Jestaedt, Nicht-Remigration (2017) 245. – Das deutsche Bundesverfassungsgericht erklärte (in seiner Entscheidung vom 31. 7. 1973 zum sog. Grundlagenvertrag, BVerfGE 36, 1) sogar, dass »nicht nur eine These der Völkerrechtslehre und der Staatsrechtslehre«, sondern das Grundgesetz selbst davon ausgehe, dass »das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert« habe. Angesichts der damit aufgestellten Behauptung, dass Gesetze selbst, unabhängig von den mit diesen Gesetzen arbeitenden Menschen, irgendwelche Annahmen treffen könnten, ist jede weitere Diskussion mit einem Vertreter der Reinen Rechtslehre sinnlos. 336 Olechowski, Kelsens Debellatio-These (2013) 532, 549. Vgl. dazu auch Günther, Die Nicht-Rezeption Hans Kelsens (2013). 337 Butterweck, Der Nürnberger Prozess (2005) 43.
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4. Teil: Amerika und die Welt
Empörung in der freien Welt gesorgt. Noch vor dem offiziellen Kriegseintritt der USA, im Oktober 1941, hatte Präsident F. D. Roosevelt die Erschießung von Geiseln durch die deutsche Wehrmacht öffentlich angeprangert; schon wenig später gaben sowohl der britische Premier Sir Winston Churchill als auch der sowjetische Diktator Iosif W. Stalin in die gleiche Richtung zielende Erklärungen ab. Am 13. Jänner 1942 trafen sich Vertreter von Exilregierungen der von Deutschland besetzten Staaten in London und forderten in der »Erklärung von St. James« die Bestrafung der Kriegsverbrecher durch ein ordentliches Gericht.338 Am 30. Oktober 1943 unterzeichneten Churchill, Roosevelt und Stalin gemeinsam eine »Erklärung über Grausamkeiten«, in der sie die Bestrafung gewisser Kriegsverbrechen »durch gemeinsames Urteil der Regierungen der Verbündeten« verhießen.339 Diese Erklärungen lösten in der amerikanischen Rechtswissenschaft eine rege Diskussion aus.340 George Manner von der University of Illinois erklärte, dass eine Bestrafung nur nach nationalem Recht erfolgen könne, weil Individuen keine Völkerrechtssubjekte seien und das internationale Recht auch keinerlei Straftatbestände kenne, die hier in Frage kommen könnten.341 Dagegen erklärte ein von der American Bar Association eingesetztes Komitee unter Leitung von Edwin D. Dickinson, dem Dekan der Berkeley Law School, dass das Völkerrecht alle für ein derartiges Gerichtsverfahren nötigen Voraussetzungen biete und es zulässig sei, »die von allen zivilisierten Staaten akzeptierten Prinzipien des Strafrechtes« als völkerrechtliche Grundlage für derartige Verfahren anzuwenden.342 Im Dezember 1943 veröffentlichte auch Hans Kelsen, in der California Law Review, einen Aufsatz zu dieser Problematik: »Collective and Individual Responsibility in International Law with Particular Regard to Punishment of War Criminals [Kollektive und individuelle Verantwortlichkeit im Völkerrecht mit besonderer Berücksichtigung der Bestrafung von Kriegsverbrechern]«. Hier fuhr Kelsen die Ernte aus seiner jahrelangen Beschäftigung mit den Sanktionen des Völkerrechts ein und erläuterte ausführlich die prinzipielle Möglichkeit, nicht nur Staaten, sondern auch einzelne Personen für völkerrechtliche Delikte, insbesondere auch für einen ungerechtfertigten Angriffskrieg, verantwortlich zu machen. So wie schon in seinen in Europa veröffentlichten Aufsätzen führte er auch hier wieder den gegen Kaiser Wilhelm II. gerichteten Art. 227 des Versailler Vertrags sowie das Washingtoner U-Boot-Abkommen von 1922 338 Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht? (2010) 330; Olechowski/Wedrac, Hans Kelsen und Washington (2015) 285. 339 Stern, Staatsrecht V (2000) 964 f. 340 Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht? (2010) 332 ff. 341 Manner, The legal nature (1943) 407 f.; vgl. Kelsen, Collective and Individual Responsibility (1943) 553. 342 Report of the Subcommittee on the Trial and Punishment of War Criminals, 20. 7. 1943, in: AJIL 37 (1943) 663–666, 665; vgl. Kelsen, Collective and Individual Responsibility (1943) 544; Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht? (2010) 340. Das Subkomitee nahm hier, ohne es explizit zu erwähnen, auf Art. 38 Z. 3 des StIGH bezug, wonach dieser u. a. nach den von den »zivilisierten Staaten allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen« urteilen sollte.
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2. Kapitel: Der Zweite Weltkrieg und die Gründung der UNO
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als Beispiele für internationale Verträge an, in denen Strafen für Einzelpersonen festgelegt waren.343 Neu waren Kelsens Überlegungen zum Begriff des Kriegsverbrechens: Als Kriegsverbrechen im engeren Sinn bezeichnete er Verletzungen der Haager Landkriegsordnung 1907 oder der Genfer Konvention 1929; derartige Delikte seien in der Regel – auch – Delikte nach den nationalen Strafgesetzbüchen (Mord, Plünderung, Brandstiftung etc.).344 Ein lediglich auf internationaler Ebene zu ahndendes Delikt sei es dagegen, wenn man überhaupt zum Krieg schreite (ohne dass ein Rechtfertigungsgrund vorliege) oder einen solchen provoziere (d. h. eine solche Handlung begehe, die dem Angreifer einen Rechtfertigungsgrund biete, dass er zum Krieg schreite).345 Für ein derartiges Delikt kenne aber das allgemeine Völkerrecht keine individuelle Verantwortlichkeit, denn obwohl es, wie jedes Delikt, von bestimmten Menschen (Staatsoberhäuptern, Regierungschefs) begangen worden sei, werde es nicht diesen, sondern dem Staat zugerechnet. Dieser werde kollektiv zur Verantwortung gezogen, und zwar mit den Sanktionen des Völkerrechts: Repressalie und Krieg. Wenn der verletzte Staat etwa ein fremdes Staatsoberhaupt von seinem eigenen Gericht verurteilen lasse, begehe er selbst einen Bruch des Völkerrechts.346 Wenn der verletzte Staat mit dem Verletzerstaat einen internationalen Vertrag abschließe, auf dessen Rechtsgrundlage ein internationaler Gerichtshof einzelne Personen zur Verantwortung ziehen solle (wie es etwa in Art. 227 des Versailler Vertrages für Kaiser Wilhelm II. vorgesehen war), so stehe man vor dem Problem, dass man damit ein rückwirkendes Strafgesetz schaffe – was in den meisten zivilisierten Staaten explizit verboten sei.347 Dieses Dilemma löste Kelsen mit einem überraschenden – und doch ganz auf der Linie der Reinen Rechtslehre liegenden – Kunstgriff: der Frage nach dem telos des Verbots rückwirkender Strafgesetze. Diesem Verbot liege ein moralisches Prinzip zugrunde, wonach niemand für eine Handlung bestraft werden solle, von der er geglaubt habe, sie sei moralisch. »Wenn aber die Handlung im Zeitpunkt ihrer Begehung moralisch, wenn auch nicht rechtlich, falsch war, ist ein Gesetz, das ex post facto eine Sanktion setzt, nur im rechtlichen, nicht im moralischen Sinne zurückwirkend.«348
343 Kelsen, Collective and Individual Responsibility (1943) 537, 545. Auch die beiden Exil-Tschechoslowaken Vaclav Beneš und Bohuslav Ecer traten für eine individuelle Verantwortlichkeit für das Delikt des Aggressionskriegs ein, vgl. Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht? (2010) 360. 344 Kelsen, Collective and Individual Responsibility (1943) 547. 345 Kelsen, Collective and Individual Responsibility (1943) 531. Auch hier wieder präsentierte sich Kelsen als Anhänger der »bellum iustum«-These. 346 Kelsen, Collective and Individual Responsibility (1943) 538, 540. 347 Kelsen, Collective and Individual Responsibility (1943) 543. Er trat hier dem oben erwähnten Komitee der American Bar Association entgegen, wonach man »allgemeine Strafrechtsprinzipien« als Rechtsgrundlage heranziehen könne. Vgl. zu dieser Problematik auch Sellars, Crimes against Peace (2013) 135. 348 Kelsen, Collective and Individual Responsibility (1943) 544. Vgl. Bernstorff, Peace and Global Justice (2016) 94.
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4. Teil: Amerika und die Welt
Kelsen hatte auch keine Schwierigkeiten, jene Personen zu identifizieren, die seines Erachtens die »moralische« Verantwortlichkeit für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges trugen: In Deutschland sei dies der »Führer« alleine, in Italien der »Duce« sowie auch der König, in Japan der Premierminister und der Kaiser.349 Andere Personen dürften nur dann individuell zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie eigenmächtig ein Kriegsverbrechen begangen haben; haben sie nicht eigenmächtig, sondern nur auf Weisung gehandelt, so sei ihr Verhalten nicht ihnen, sondern ihrem Staat zuzurechnen.350 Kelsen gelang es, in seinem Aufsatz – der, wie berichtet, im Dezember 1943 gedruckt vorlag – auch auf die Moskauer Erklärung vom 30. Oktober 1943351 einzugehen. Diese enthielt einen Passus, wonach Deutsche, die an Massenerschießungen oder an der Exekution von Geiseln beteiligt waren, sich vor den Völkern, an denen sie ihre Verbrechen begangen hatten, verantworten müssten. Kelsen wertete dies als eindeutigen Hinweis darauf, dass die Bestrafung von Kriegsverbrechern nicht durch ein deutsches, sondern durch ein internationales Gericht stattfinden sollte – was er auch persönlich guthieß.352 Um aber jeden Anschein von Rache von diesen Prozessen fernzuhalten, sollte das Gericht tatsächlich unabhängig und unparteiisch sein und nicht nur Kriegsverbrechen auf Seiten der Achsenmächte, sondern Verbrechen auf beiden Seiten ahnden! Kelsen schloss seinen Artikel mit einer Reihe von konkreten Vorschlägen für diesen internationalen Gerichtshof. Kelsens Aufsatz fand weite Verbreitung und wurde nachweislich auch im Rahmen der »United Nations War Crimes Commission« (UNWCC) diskutiert.353 Diese Kommission war schon 1942 von den USA, dem UK und weiteren 15 verbündeten Staaten (nicht aber von der UdSSR) gegründet worden, um vor allem Beweise für spätere Prozesse gegen die Kriegsverbrecher zu sammeln. Gerade die multinationale Zusammensetzung der UNWCC behinderte aber wesentlich ihre Arbeit, erst ein Jahr nach ihrer offiziellen Gründung, im Oktober 1943, konnte sie ihre Tätigkeit aufnehmen.354
349 Kelsen, Collective and Individual Responsibility (1943) 546. Hier machte es sich Kelsen etwas zu einfach: Indem er nur die Funktionen und nicht die Namen nannte, umging er geschickt den Umstand, dass seit 1936, als der japanisch-chinesische Krieg ausbrach, schon viele verschiedene Personen das Amt des japanischen Premierministers innegehabt hatten. 350 Kelsen, Collective and Individual Responsibility (1943) 550. 351 Siehe zu dieser schon oben 731. 352 Kelsen, Collective and Individual Responsibility (1943) 564. Er verwies auch auf den mangelnden Erfolg der sog. Leipziger Prozesse gegen Kriegsverbrecher nach dem Ersten Weltkrieg. Vgl. Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht? (2010) 341. 353 Dazu schon Olechowski/Wedrac, Hans Kelsen und Washington (2015) 288. 354 United Nations War Crimes Commission (Hg.), History of the United Nations War Crimes Commission (1948) 109–168; Kochavi, Prelude to Nuremberg (1998) 27–106; Lankevich, United Nations War Crimes Commission (1990) IX–XII; Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht? (2010) 350–361.
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b) Hans Kelsen im Dienst des J. A. G. Dabei war in der US-Regierung zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs ausdiskutiert, ob man überhaupt echte, gerichtsförmige Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher durchführen sollte. Finanzminister Henry Morgenthau trat gegen eine solche, seiner Ansicht nach unnötige Prozedur und für eine summarische Erschießung der Verantwortlichen ein.355 Anderer Ansicht war Kriegsminister Henry L. Stimson, der sich für ein alliiertes Gericht zur Bestrafung der Kriegsverbrecher einsetzte und sich mit dieser Ansicht letztlich auch durchsetzen konnte. Am 22. März 1945 wurde in der Abteilung des Rechtsberaters des Kriegsministers, dem Judge Advocate General (J. A. G.), ein War Crimes Office eingerichtet und der Stellvertreter des J. A. G., General John M. Weir, mit dessen Leitung beauftragt. Ebenso wurden bei den verschiedenen Militärhauptquartieren eigene War Crimes Branches eingerichtet. Diese sollten Meldungen über Kriegsverbrechen v. a. gegen Angehörige der US-Armee und US-Bürger sammeln und spätere Prozesse vorbereiten.356 Vielleicht hatte Kelsen Weir noch während seiner Tätigkeit in Washington für die F. E. A. kennengelernt; höchst wahrscheinlich ist es, dass der Kontakt über einen Mitarbeiter Weirs, Captain Alwyn Freeman, hergestellt wurde. Denn dieser hatte 1938 in Genf bei Kelsen eine Dissertation geschrieben und war nunmehr für das J. A. G. tätig.357 Der erste nachweisbare Kontakt zwischen Kelsen und dem War Crimes Office datiert vom 7. April 1945, als ein anderer Mitarbeiter Weirs, Melvin Purvis, ein Schreiben an den nach Kalifornien zurückgekehrten (und erneut an der UC Berkeley lehrenden) Kelsen richtete. Er bedankte sich darin im Namen seines Vorgesetzten für einen Brief Kelsens an Weir vom 29. März; der Inhalt von Kelsens Brief geht daraus nicht hervor.358 Möglicherweise handelte es sich bei diesem Brief Kelsens aber um jene »Bemerkungen« [notes], die Kelsen zu einem internen Papier des J. A. G. gemacht hatte, in dem Lt. Colonel William B. Cowles von der International Law Division das 355 Smith, The Road to Nuremberg (1981) 12–48; Olechowski/Wedrac, Hans Kelsen und Washington (2015) 286. 356 Schreiben des U. S. Army Headquarter, European Theatre, an verschiedene andere Einrichtungen der US-Streitkräfte v. 24. 2 . 1945, in: NACP, RG 153: Records of the Office of the Judge Advocate General (Army), War Crimes Branch, Set-Up Files 1944–1949, Box 258, Entry 145; The Army Lawyer (1975) 181. 357 Alwyn V. Freeman, geb. Detroit 11. 1 2. 1910, gest. 1. 3. 1983, hatte sich nach seinem Jus-Studium in Harvard im Haag und am HEI weiter fortgebildet; die Dissertation bei Kelsen verfasste er zum Thema »The international responsibility of states for denial of justice [Die internationale Verantwortlichkeit von Staaten für Rechtsverweigerung]«: Busch/Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2015) 31. Nach seiner Rückkehr in die USA arbeitete er zunächst u. a. für ein amerikanisch-mexikanisches Schiedsgericht, bevor er 1942–1946 dem J. A. G. angehörte. Später war er sowohl im diplomatischen Dienst (u. a. State Department sowie IAEA) als auch an mehreren Universitäten tätig; 1955 unterrichtete er selbst im Haag. https://prabook.com/web/alwyn_vernon. freeman/392768 [Zugriff: 02. 05. 2019]. 358 Melvin Purvis (Office of the J. A. G.), Schreiben an Hans Kelsen v. 7. 4. 1945, in: HKI, Nachlass Kelsen 16c.61.
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4. Teil: Amerika und die Welt
Abb. 45: General Myron C. Cramer (links) und General John M. Weir (rechts) bei einer Besprechung des J. A. G. zu Kriegsverbrechen, Mai 1945. © 1945 MLive / Ann Arbor News. All rights reserved. Used with permission.
Kriegsverbrechen der »Vorbereitung und Eröffnung von Feindseligkeiten ohne Vorwarnung« erörtert hatte. In diesen »Bemerkungen« setzte sich Kelsen insbesondere für eine scharfe Unterscheidung zwischen staatlicher und individueller Verantwortlichkeit ein: Der einzelne Soldat könne nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass sein Staat den Krieg ohne Vorwarnung begonnen habe.359 Obwohl Cowles in einer Stellungnahme zu Kelsens »Bemerkungen« mehrmals beteuerte, dass ihn Kelsen missverstanden habe,360 dürfte General Weir von Kelsens Scharfsinn beeindruckt gewesen sein. Am 30. Mai 1945 telegraphierte Freeman an Hans Kelsen, ob dieser als Konsulent für Kriegsverbrechen in Washington zur Verfügung stünde, und zwar für $ 25,– pro Tag. »General Weir wants you as soon as possible«. Kelsen antwortete sofort, dass er in den Ferien zwischen Spring Term und Summer Term (23. Juni–2. Juli) nach 359 Hans
Kelsen, Notes to the memorandum relating to »war crimes as related to the preparation, launching and opening of hostilities, without previous warning«, undatiert [vor 21. 6. 1945], in: NACP, RG 153: Records of the Office of the Judge Advocate General (Army), War Crimes Branch, General and Administrative Records (Set-Up Files) 1944–1949, Box 13. 360 William B. Cowles, Memorandum for General Weir, 21. 6. 1945, in: NACP, RG 153: Records of the Office of the Judge Advocate General (Army), War Crimes Branch, General and Administrative Records (Set-Up Files) 1944–1949, Box 13.
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2. Kapitel: Der Zweite Weltkrieg und die Gründung der UNO
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Washington kommen könne.361 Weir zeigte sich hocherfreut, und tatsächlich flog Kelsen, wohl am 28. Juni, mit dem Flugzeug nach Washington, wo er zunächst drei Tage blieb.362 Ein zweiter Aufenthalt in der Bundeshauptstadt fand vom 23. Juli bis 1. August statt, ein dritter etwa Mitte September; für diese musste Kelsen – da seine Anwesenheit offenbar nicht mehr so dringlich wie beim ersten Mal war – jeweils zweitägige Bahnreisen auf sich nehmen, dies, obwohl der zweite und der dritte Washington-Aufenthalt mitten in die Vorlesungszeit fielen.363 Es ist zu vermuten, dass Kelsen eine geeignete Vertretung in Berkeley gefunden hatte.364 c) Die Gutachten Die Dringlichkeit von Kelsens erstem Aufenthalt im Munitions Building, dem damaligen Amtssitz des War Crimes Office365 ergab sich daraus, dass Präsident Roosevelt den Richter am US-Supreme Court Robert H. Jackson zum »U. S. Chief of Counsel for the prosecution of Nazi war criminals« ernannt366 und dieser dem Präsidenten einen Bericht übergeben hatte, der unverzüglich analysiert werden musste. In einer sechsseitigen, mit »June 1945« datierten, Stellungnahme erklärte Kelsen, dass Jackson mit seinem Bericht nicht mehr und nicht weniger als ein neues Völkerrecht schaffe. Dies zum einen, weil er den Begriff des Kriegsverbrechens weit über den bisherigen Stand ausdehne und darunter auch einen ungerechtfertigten Angriffskrieg sowie Verstöße gegen die Prinzipien der Humanität, einschließlich Grausamkeiten an der eigenen Zivilbevölkerung aus rassistischen oder religiösen Motiven, verstehe. Was den zuerst genannten Tatbestand betreffe, so sah Kelsen darin zwar eine Völkerrechtsverletzung, aber nach bisheriger Lehre kein Kriegsverbrechen; der zweite Tatbestand war seiner 361 Alvin Freeman, Telegramm an Hans Kelsen v. 30. 5. 1945 und Antworttelegramm, beide in: HKI, Nachlass Kelsen 15p.58. Die Angaben von Ferienanfang und ‑ende nach: General Catalogue 1944–1945, 5 f.; Announcement Summer Term 1945, 3. 362 John M. Weir (Headquarters, Army Service Forces), Schreiben an Hans Kelsen v. 2. 6. 1945, Rowley Biala, Telegramm an Hans Kelsen v. 27. 6. 1945, beide in: HKI, Nachlass Kelsen 15p.58. Vgl. auch Frederick Unger, Brief an Oscar Heitler v. 15. 6. 1945, LBI Archives, Unger Family Collection, Box 17, Folder 13, p. 1261: »Wenn man nicht mit Priority reist wie Kelsen, der momentan auf ein paar Tage in Washington ist – mit von der Army angewiesener Plane Transportation. Er ist anscheinend auf dem Weg eine Rolle zu spielen.« 363 Vgl. die Korrespondenz mit der Finanzabteilung des Pentagon in: HKI, Nachlass Kelsen 15p.58. Vgl. auch das Schreiben von Lawrence Preuss an Hans Kelsen v. 17. 9. 1945, das mit »Judge Advocate General’s Department, Munitions Building, Washington D. C.« adressiert ist: HKI, Nachlass Kelsen 16c.61. 364 Kelsens Personalakt der UC Berkeley (Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches) hält fest, dass er vom 1. 7. bis 15. 9. 1945 für das War Crimes Office tätig war. Ungenau demgegenüber Kelsens Tochter Hannah, die Frühjahr und Sommer 1945 als Zeitraum nennt: Kelsen Oestreicher, My Parents in the United States (1977) 4. 365 Das 1970 abgerissene Munitions Building befand sich in der Constitution Avenue, zwischen 17. und 21. Street NW, etwa an der Stelle des heutigen Mahnmals für die Gefallenen des Vietnamkrieges. 366 The Army Lawyer (1975) 181; Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht? (2010) 384.
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Ansicht nach überhaupt kein Völkerrechtsdelikt. Jackson schaffe aber auch neues Völkerrecht, indem nicht eine kollektive Verantwortlichkeit des Staates, sondern eine individuelle Verantwortlichkeit einzelner Personen geltend gemacht werde (hier griff Kelsen naturgemäß auf seinen Aufsatz von 1943 zurück). Nun gebe es zwei Möglichkeiten, neues Völkerrecht zu schaffen: durch die rechtschöpfende Kraft der Gerichte (wie es in den USA üblich sei) oder aber durch einen internationalen Vertrag – letzteres hielt Kelsen für empfehlenswert, da es sich doch nicht um ein rein amerikanisches, sondern um ein internationales Gericht handle. Da die vier Alliierten Mächte mit der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 ein Kondominium über Deutschland errichtet hatten, seien sie auch zur Etablierung eines gemeinsamen Gerichtshofes berechtigt, und Kelsen gab auch gleich einen Formulierungsvorschlag für Teile des von ihnen zu schließenden internationalen Abkommens mit.367 Das Memorandum wurde an Jackson weitergeleitet, der zu diesem Zeitpunkt schon in London weilte, wo er an einem Statut für den Internationalen Militärgerichtshof mitarbeitete. In einer Notiz hielt Jackson fest, dass »Kelsen sich darum sorge, dass das Völkerrecht keine Regelung über die Frage der individuellen Verantwortlichkeit enthalte. Er meint, dass eine Definition notwendig sei. Ich glaube, das wäre wünschenswert.«368 Tatsächlich enthielt das Londoner Statut vom 8. August 1945 in seinem zentralen Art. 6 die ausdrückliche Bestimmung, dass Kriegsverbrecher, die als »Individuen« im Interesse der Achsenmächte gehandelt hatten, zu bestrafen seien; und dies ist offenbar dem Einfluss Kelsens zuzuschreiben. Wie aus einer internen Liste369 hervorgeht, verfasste Kelsen in der Folge – zumindest – neun weitere Gutachten, wobei jene über »The Definition of Aggression« und »Is ›Launching a War of Aggression‹ a Crime?« nachweislich noch im Juli an Jackson weitergeleitet wurden.370 (1.) In seinem 15-seitigen Gutachten »The Definition of Aggression«371 erklärte Kelsen, dass nicht jeder Angriffskrieg unrechtmäßig (und demgemäß jeder Vertei367 Hans Kelsen, Stellungnahme zum Jackson-Bericht, Juni 1945, in: NACP, RG 153: Records of the Office of the Judge Advocate General (Army), War Crimes Branch, General and Administrative Records (Set-Up Files) 1944–1949, Box 13; eine Gleichschrift auch in: LOC, Manuscript Division, Robert Jackson Papers, Box 104, Kelsen Hans. Vgl. auch Sellars, Crimes against Peace (2013) 86. 368 LOC, Manuscript Division, Robert Jackson Papers, Box 104, Kelsen Hans; vgl. Sellars, Crimes against Peace (2013) 87. 369 NACP, RG 153: Records of the Office of the Judge Advocate General (Army), War Crimes Branch, General and Administrative Records (Set-Up Files) 1944–1949, Box 11. 370 John M. Weir, Schreiben an den Chief of Counsel [Robert H. Jackson] v. 13. 7. 1945, mit zwei Gutachten Kelsens als Beilage, in: NACP, RG 238: World War II War Crimes Records, Office of the U. S. Chief of Counsel for the Prosecution of Axis Criminality, Entry# PI-21 52, Personal Files (Lindenstrasse Files) 1945–1946, Container 2. Dem Akt liegt ferner ein nicht signiertes, elfseitiges Gutachten zum Thema »Aggression« bei, das eine Reihe von Zitaten bekannter Völkerrechtler (Lauterpacht, Oppenheim, Verdroß, Wright) bringt; da der Brief nur von zwei Gutachten Kelsens spricht, ist eher nicht anzunehmen, dass auch dieses dritte Gutachten von ihm stammt. 371 NACP, RG 238: World War II War Crimes Records, Office of the U. S. Chief of Counsel for the Prosecution of Axis Criminality, Entry# PI-21 52, Personal Files (Lindenstrasse Files) 1945–1946, Container 2.
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digungskrieg rechtmäßig) sei: Die Ächtung des Krieges, wie sie insbesondere durch den Briand-Kellogg-Pakt erfolge, habe den Sinn, zwischenstaatliche Konflikte im friedlichen Wege beizulegen; daher sei jede Art der Aggression, nicht nur der förmliche Krieg, illegal, und derjenige, der dagegen mit den Mitteln des Krieges einschreite, im Recht. Kelsen erläuterte dies an einer Reihe von Beispielen und insbesondere mit den Kriegserklärungen Großbritanniens und Frankreichs an Deutschland (3. September 1939), die eine Reaktion auf den deutschen Überfall auf Polen gewesen waren. Deutschland habe damit sowohl den von ihm mitunterzeichneten Briand- Kellogg-Pakt als auch den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt vom 26. Jänner 1934 gebrochen. »Die Frage, ob Deutschland der ›Aggressor‹ war, wird sicherlich keine Schwierigkeiten bereiten.« (2.) Schwieriger könnte es allerdings sein, einzelne Personen für einen Angriffskrieg verantwortlich zu machen. Denn, so Kelsen in seinem zweiten, lediglich 2-seitigen Gutachten »Is ›Launching a War of Aggression‹ a Crime? [Ist es ein Verbrechen, einen Angriffskriegg zu führen?]«,372 das allgemeine Völkerrecht sehe für dieses Delikt nur kollektive Verantwortlichkeit (also Krieg oder Repressalien) vor; sollen Individuen bestraft werden, müsse dies auf Grundlage eines internationalen Vertrages geschehen. Die Bemessung des Strafausmaßes könne in diesem Vertrag gleich mit geregelt oder aber dem Ermessen des Gerichts anheimgestellt werden – eine, da das prinzip »nulla poena sine lege«-Prinzip nun schon einmal aufgehoben war, sicherlich richtige, aber aus rechtsstaatlicher Sicht doch bedenkliche Ansicht! Im Unterschied zu seiner in früheren Aufsätzen publizierten Ansicht hielt es Kelsen (nach dem Tod Hitlers und Mussolinis) für eine »schwierige« Frage, welche Personen konkret zu bestrafen seien.373 Auch dies müsse, so Kelsen, letztlich dem Ermessen des Gerichtshofs anheimgestellt werden, jedenfalls sollten nur solche Personen bestraft werden, die »freiwillig« (also nicht aufgrund eines Befehls) Kriegsverbrechen begangen haben. Von den anderen sieben Memoranden, die wohl zwischen Juli und September 1945 entstanden, ist nur mehr ein Teil erhalten. (3.) Nicht erhalten ist insbesondere das »Memorandum of the Draft Executive Agreement relating to the Prosecution of European Axis War Criminals [Memorandum über den Entwurf eines Exekutivabkommens zur Verfolgung von Kriegsverbrechern der europäischen Achsenmächte]« das offenbar einen Vorentwurf zum Londoner Abkommen darstellte, welches am 8. August 1945 von Jackson als Vertreter der USA sowie von Vertretern Frankreichs, des UK und der UdSSR unterzeichnet wurde.374 In einem Anhang zu diesem Abkommen375 wurde das Statut für 372 NACP, RG 238: World War II War Crimes Records, Office of the U. S. Chief of Counsel for the Prosecution of Axis Criminality, Entry# PI-21 52, Personal Files (Lindenstrasse Files) 1945–1946, Container 2. 373 Vgl. zu diesem Problem auch Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht? (2010) 388. 374 https://www.legal-tools.org/doc/844f64/pdf [Zugriff: 13. 5. 2019]. Vgl. zur Entstehung dieses Abkommens Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht? (2010) 382–390. 375 https://www.legal-tools.org/doc/64ffdd/pdf [Zugriff: 13. 5. 2019].
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einen Internationalen Militärgerichtshof beschlossen, der die europäischen Hauptkriegsverbrecher bestrafen sollte und der gemäß Art. 22 dieses Statuts in Nürnberg tätig wurde. (4.) Dieses Statut wurde von Kelsen in einem – uns in einer Entwurfversion (»draft«) erhalten gebliebenen376 – Gutachten, betitelt »Memorandum on the Agreement for the Prosecution of European Axis War Criminals«, eingehend analysiert. Dabei bemängelte er zunächst, dass das Wort »war crimes« in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet wurde: Art. 6 lit b definierte sie als »Verletzungen der Regeln und Gewohnheiten des Krieges [violations of the laws or customs of war]« und stellte sie den »Verbrechen gegen den Frieden [crimes against peace]« in Art. 6 lit a und den »Verbrechen gegen die Menschheit377 [crimes against humanity]« in Art. 6 lit c gegenüber. Im gesamten Kontext des Londoner Statuts wurden jedoch die Begriffe »war crimes« und »war criminals« für alle drei Fälle des Art. 6 verwendet, was zu Widersprüchen führe. Schwerer als dies wog, dass Kelsen bezweifelte, dass ein internationaler Gerichtshof die Kompetenz haben könne, Delikte zu ahnden, bei denen weder die Staaten der »Täter« noch der »Opfer« zu den Signatarmächten zählten. Derartiges war namentlich bei Art. 6 lit. c der Fall, zumal er ja z. B. Kriegsverbrechen von deutschen Staatsangehörigen gegen polnische Staatsangehörige unter Strafe stellte, und weder Polen noch Deutschland das Statut unterzeichnet hatte. Es wäre sinnvoll gewesen, so Kelsen, hätte man sämtliche UN-Mitglieder zu Signatarstaaten gemacht. Allerdings gab er auch zu bedenken, dass Deutschland zum Zeitpunkt der Nürnberger Prozesse als Staat nicht mehr existiere bzw. unter der gemeinsamen Souveränität der vier Siegermächte stehe.378 Diese seien mit den Signatarmächten des Londoner Statuts identisch, womit die Frage aufgeworfen sei, ob es sich beim Nürnberger Tribunal überhaupt um einen internationalen Gerichtshof im Sinne des Völkerrechts handle, oder um einen nationalen Gerichtshof, der nach nationalem Recht Verbrecher bestrafe. Letzteres würde jedenfalls völkerrechtlich problemlos möglich sein. (5.) Was das »Memorandum on the Rule against Ex post facto laws [Memorandum zum Verbot rückwirkender Gesetze]« betrifft, so ist zwar leider auch dieses nicht mehr auffindbar; es kann aber vermutet werden, dass es im Wesentlichen denselben Inhalt besaß wie der gleichnamige Aufsatz Kelsens, der noch im Jahr 1945 im »Judge Advocate Journal«, dem Organ des J. A. G., erschien. In diesem musste sich Kelsen 376 NACP, RG 153: Records of the Office of the Judge Advocate General (Army), War Crimes Branch, General and Administrative Records (Set-Up Files) 1944–1949, Box Number 11. 377 Vgl. zur Übersetzungsproblematik Arendt, Eichmann in Jerusalem (1964) 324: »Das den Nürnberger Prozessen zugrunde liegende Londoner Statut hat […] die ›Verbrechen gegen die Menschheit‹ als ›unmenschliche Handlungen‹ definiert, woraus dann in der deutschen Übersetzung die bekannten ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹ geworden sind – als hätten es die Nazis lediglich an ›Menschlichkeit‹ fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammern schickten, wahrhaftig das Understatement des Jahrhunderts.« 378 Vgl. Kelsens Überlegungen zur debellatio Deutschlands im Rahmen seiner F. E. A.-Tätigkeit, oben 736.
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mit rechtstheoretischen und rechtsdogmatischen Einwänden gegen seine These, dass rückwirkende Strafgesetze möglich seien, auseinandersetzen. Das Hauptproblem aus der Sicht der Rechtstheorie war, dass – zumindest von einem naturrechtlichen Standpunkt aus – das Recht eine Regelung des menschlichen Verhaltens darstelle, daher immer nur auf künftiges, niemals auf vergangenes Verhalten abstellen könne. Dem hielt Kelsen seine, bereits 1911 entwickelte Theorie von der »primären« und »sekundären« Norm entgegen: dass das Recht primär die Bedingungen regle, unter denen der Staat Sanktionen setzen könne; erst sekundär könne – in den meisten Fällen – auch ein bestimmtes Handeln für die Normunterworfenen (nämlich ein solches, das staatliche Sanktionen vermeidet) abgeleitet werden. »Rückwirkende Gesetze erscheinen als ungerecht, da es unser Gerechtigkeitsgefühl verletzt, eine Sanktion gegen ein Individuum zu verhängen, die es nicht vorhersehen konnte«, so Kelsen.379 So wie bereits in seinem Aufsatz von 1943 über kollektive und individuelle Verantwortlichkeit erklärte Kelsen, dass fast alle Grausamkeiten, für die Angehörige der Achsenmächte, insbesondere Deutsche, bestraft werden sollen, Verbrechen nach den nationalen Strafgesetzen waren, die zur Zeit der Begehung in Geltung standen. Eine Ausnahme bilde der Angriffskrieg, der zwar nicht nach nationalen Strafgesetzen, wohl aber nach dem Briand-Kellogg-Pakt strafbar war. Von einer Nichtvorhersehbarkeit könne daher keine Rede sein. Ja, genaugenommen handle es sich rechtstechnisch nicht um rückwirkende Strafgesetze, sondern nur um die Frage, inwieweit diese Gesetze auch vom Internationalen Militärtribunal angewendet werden dürfen.380 Die US-Verfassung enthält gleich in ihrem Artikel I, Sektion 9, ein ausdrückliches Verbot rückwirkender Gesetze. Kelsen ging auf die Entstehungsgeschichte dieses Artikels ein und erklärte, dass dieses Prinzip, wenn es wirklich so unumstößlich wäre, zu »untragbaren Konsequenzen« führen würde. Es sei daher immer schon einschränkend interpretiert worden; kein Mensch stoße sich etwa daran, dass sich die Aufhebung oder Milderung eines Strafgesetzes fast immer auch auf bereits begangene Delikte beziehe, also rückwirkend sei. Das amerikanische case-law-System setze gerade voraus, dass jenes Gericht, das einen Präzedenzfall schaffe, rückwirkendes Recht erzeuge, zumal sich ein Gericht stets auf eine bereits vergangene Handlung beziehe.381 Rechtsdogmatisch bildete aber die US-Verfassung kein Problem. Denn das Internationale Militärtribunal von Nürnberg unterstand ihr nicht; nach Auffassung Kelsens war es überhaupt kein internationales Gericht, sondern ein vom Souverän Deutschlands – den vier Alliierten Mächten – eingesetztes, nationales Gericht. Das 379 Kelsen,
The Rule Against Ex Post Facto Laws (1945) 8 f. The Rule Against Ex Post Facto Laws (1945) 10. Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet Carl Schmitt im Sommer 1945 ein Gutachten für den Großindustriellen Friedrich Flick verfasste, in dem er sich auf den »nullum crimen«-Grundsatz berief, um die Unrechtmäßigkeit einer Anklage ex post zu beweisen: Neumann, Schmitt (2015) 512. 381 Kelsen, The Rule Against Ex Post Facto Laws (1945) 8 f. 380 Kelsen,
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deutsche Strafgesetzbuch 1871 hatte in Artikel 2 ein Verbot rückwirkender Strafgesetze enthalten; dies war jedoch 1935 vom NS-Gesetzgeber dahin abgeändert worden, dass auch bestraft werden solle, wer »nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient.«382 Es waren Grundsätze wie diese, die das NS-Recht so verhasst machten; und es sei zugegebenermaßen problematisch, wenn sich die Alliierten Mächte auf denselben Grundsatz berufen. Aber können umgekehrt die Nazi-Verbrecher wirklich ein Recht für sich in Anspruch nehmen, das sie selbst anderen nicht gewährten?383 (6.–9.) Die oben genannte Liste nennt noch vier weitere Memoranden Kelsens, die er für den J. A. G. erstellte. Im Einzelnen handelt es sich um ein Memorandum zur japanischen Kapitulation vom 2. September 1945 (»Memorandum on the Instrument of Surrender signed by the Japanese Government«)384, zur Kodifikation des Kriegsrechts (»Memorandum on Codification of the Law of War«), zum Verhältnis der Bestrafung der Kriegsverbrecher zur UN-Charta (»Memorandum on the Punishment of War Criminals and the Charter of the United Nations«) sowie zum Delikt der Vorbereitung, des Starts und der Eröffnung von Feindseligkeiten ohne Vorwarnung (»Memorandum on War Criminals as related to the preparation, launching, and opening on hostilities without previous warning«). Leider konnte der Text dieser Memoranden weder in den National Archives noch an anderer Stelle gefunden werden. d) Der Prozess und seine Analyse durch Kelsen Auf Grundlage des Londoner Abkommens fand vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 in Nürnberg der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher statt. Er endete mit zwölf Todesurteilen, sieben Verurteilungen zu Haftstrafen und drei Freisprüchen.385 Am 15. Oktober 1946 erstattete der US-Chefankläger, Robert H. Jackson, seinen Bericht an US-Präsident Harry S. Truman. Dabei äußerte Jackson die Ansicht, dass das Internationale Militärtribunal juristisches Neuland betreten, einen Präzedenzfall geschaffen habe. Niemand könne »im Nachhinein bestreiten oder im Unklaren darüber sein, dass die Grundsätze, nach denen die Nazi-Machthaber zum Tode verurteilt wurden, (neues) Recht geworden seien – Recht mit einer Sanktion.«386
382 Strafgesetznovelle
v. 28. 6. 1935 dRGBl I S. 839. The Rule Against Ex Post Facto Laws (1945) 46. 384 Kelsen äußerte sich später in einem Aufsatz zu dieser Kapitulationsurkunde und verglich sie mit der deutschen Kapitulationsurkunde: Kelsen, Collective and Individual Responsibility (1949) 235, vgl. unten 781. Es ist zu vermuten, dass er ähnliche Überlegungen auch schon in seinem Gutachten von 1945 anstellte. 385 Taylor, Die Nürnberger Prozesse (1950) 26–43; Smith, Der Jahrhundertprozeß (1977) 7–12; Jung, Die Rechtsprobleme der Nürnberger Prozesse (1992) 43–88; Sellars, Crimes against Peace (2013) 113–171. 386 Jackson, zit. n. Kelsen, Judgement (1947) 153. 383 Kelsen,
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Kelsen bezweifelte die Richtigkeit dieser Aussage und formulierte seine Einwände in einem Aufsatz, der im Sommer 1947 in der neugegründeten Zeitschrift »The International Law Quarterly« erschien. Die Regeln, nach denen die Kriegsverbrecher in Nürnberg verurteilt worden waren, waren mit dem Londoner Abkommen geschaffen worden; das Internationale Militärtribunal habe nur bereits existierende Normen angewendet.387 Was das Londoner Abkommen betreffe, so habe dieses allerdings Neuland betreten, denn alle früheren Verträge – wie insbesondere der Briand-KelloggPakt – haben nur das Beginnen des Krieges selbst, nicht seine Vorbereitung oder die Teilnahme an einem Plan, einen Krieg zu beginnen, unter Sanktion gestellt. Und diese Sanktionen waren solche, die gegen den angreifenden Staat als Ganzes, nicht gegen Individuen gerichtet waren. Die Haager Konvention dagegen habe zwar Individuen bestraft, jedoch nur für Verbrechen innerhalb eines Krieges, nicht für das Verbrechen des Krieges selbst.388 Erst das Londoner Abkommen habe das Planen, Vorbereiten und Initiieren eines rechtswidrigen Krieges unter Strafe gestellt und damit neues Recht geschaffen.389 Während Kelsen hier im Wesentlichen schon früher Gesagtes wiederholte (teilweise auch Äußerungen aus seinen Gutachten, die damit erst jetzt einer breiten Öffentlichkeit zugänglich wurden), waren einige seiner Feststellungen neu und auch aus allgemein-rechtstheoretischer Sicht bemerkenswert: Wenn eine Handlung nach internationalem Recht legal sei, könne sie dennoch ein Delikt nach nationalem Recht darstellen, und umgekehrt. Es hängt einfach davon ab, ob das nationale oder das internationale Recht eine Strafbarkeit vorsehe.390 Damit bekannte sich Kelsen – im Gegensatz zu früheren Schriften – zu einer gemäßigt monistischen Völkerrechtstheorie, die Widersprüche zwischen nationalem und internationalem Recht zulässt.391 Der Titel von Kelsens Aufsatz lautete: »Will the Judgment in the Nuremberg Trail Constitute a Precedent in International Law [Wird die Entscheidung im Nürnberger Prozess einen völkerrechtlichen Präzedenzfall bilden]?« Er verneinte die von ihm selbst gestellte Frage nicht nur in Hinblick darauf, dass das neue Recht nicht vom Tribunal, sondern vom Londoner Abkommen geschaffen worden war, sondern auch durch den Hinweis darauf, dass das Völkerrecht keine Bindung durch Gerichtsurteile, so wie es im nationalen amerikanischen Recht geschehe, kenne. Nicht einmal den Entscheidungen des IGH käme Bindungswirkung zu.392 Die Nürnberger Entscheidung könnte allerdings eine »Chance« haben, dass ihr andere Gerichte in ähnlichen Fällen folgen, dann nämlich, wenn sie allgemein als »gerecht« angesehen werde. Kelsen bezweifelte aber auch das.393 Denn der Entscheidung 387 Kelsen,
Judgement (1947) 154 f. Judgement (1947) 161. Vgl. Bernstorff, Peace and Global Justice (2016) 94. 389 Kelsen, Judgement (1947) 162. 390 Kelsen, Judgement (1947) 157. 391 Vgl. dazu Öhlinger, Einheit (2005) 166. 392 Kelsen, Judgement (1947) 163 (unter Hinweis auf Art. 59 des PCIJ-Statuts). 393 Kelsen, Judgement (1947) 164. 388 Kelsen,
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hingen mehrere Mängel an, insbesondere, dass das Tribunal nur aus Vertretern der Siegerstaaten zusammengesetzt gewesen sei. »Sowohl Vertreter der Verliererstaaten, als auch – was noch bedeutsamer ist – der neutralen Staaten waren von der Richterbank ausgeschlossen.«394 Die Siegermächte hatten sich zu Richtern in eigener Sache gemacht, ungeachtet der Tatsache, dass eine von ihnen sich am deutschen Überfall auf Polen beteiligt habe und dass sie, einen Nichtangriffspakt verletztend, auch Japan angegriffen hatte.395 Kelsen sprach die Hoffnung aus, dass dies in Zukunft keinen »Präzedenzfall«, der Schule mache, bilden werde.
4. Die US-Staatsbürgerschaft Die Arbeit für das War Crimes Office hatte einen erfreulichen Nebeneffekt für Kelsen: General Weir setzte sich persönlich dafür ein, dass Hans und Grete Kelsen so rasch als möglich die US-Staatsbürgerschaft bekamen. Am 19. Juni 1945 bat er einen Mitarbeiter des Judge Advocate beim Western Defense Command in San Francisco (Presidio) um seine Mithilfe und erklärte dabei sogar, dass er beabsichtige Kelsen zu Jackson nach Nürnberg zu schicken.396 (Was niemals erfolgte.397) Die gesetzlich vorgeschriebene Frist von fünf Jahren ab Einwanderung in die Vereinigten Staaten398 lief am 21. Juni 1945 aus. Die ebenfalls vom Gesetz vorgeschriebene Unterschrift zweier US-Bürger, die bezeugen konnten, dass »Yohann Kelsen aka Hans Kelsen« (sic!) sowie Margarete Kelsen sich seit ihrer Ankunft in Kalifornien moralisch einwandfrei und verfassungstreu verhalten und sich in jeder Hinsicht für die Verleihung der Staatsbürgerschaft qualifiziert hatten, leisteten der Historiker Charles A. Gulick399 und der Sinologe und Orientalist Otto J. Mänchen.400 Am 28. Juli 1945 erwarben Hans und Grete Kelsen die US-Staatsbürgerschaft.401 394 Kelsen, Judgement (1947) 179. Vgl. Neumann, Schmitt (2015) 519; Bernstorff, Peace and Global Justice (2016) 94. 395 Kelsen, Judgement (1947) 171. Er spielte auf den sowjetischen Überfall auf Polen im September 1939 sowie auf den Bruch des sowjetisch-japanischen Neutralitätspakts im August 1945 an; vgl. Neumann, Schmitt (2015) 520. 396 John M. Weir, Schreiben an Herbert E. Wenig v. 19. 6. 1945, in: HKI, Nachlas Kelsen 16c.61. 397 Im August 1945 wurde Jackson gefragt, ob er Kelsen in seinem Team haben wollte, er lehnte dies jedoch ab: »Die meisten Angelegenheiten, bei denen er hilfreich war, sind entschieden worden – und zwar in einer anderen Art und Weise als der, die er vorgeschlagen hatte.« Zit n. Sellars, Crimes against Peace (2013) 109. 398 Sec. 307 Nationality Act 1940, 54 Stat. 1137. 399 Geb. Dallas/TX 13. 9. 1896, gest. 27. 8. 1984, 1938–1951 Professor an der UC Berkeley. Für sein Buch »Austria from Habsburg to Hitler« verfasste Kelsen einen längeren Text, in dem er seine persönlichen Erinnerungen an das Ende der Monarchie schilderte und der bei Gulick, Austria I (1948) 45–47, abgedruckt ist. Er entspricht inhaltlich, wenngleich mit einigen, nicht unwesentlichen Abweichungen, Kelsen, Autobiographie (1947) 14–17 = HKW I, 50–54. 400 Affidavit of Witnesses, Anhang zur Petition for Naturalization (of Hans and Margarete Kelsen), Originale im Besitz von Anne Feder Lee. – Otto Mänchen-Helfen, geb. Wien 26. 7. 1894, gest.
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Auch nützte Hans Kelsen seine guten Kontakte zu den Militärbehörden, um sich nach dem Schicksal seiner Mutter und seiner Schwester Gertrude sowie seines Schwagers Richard Weiss zu erkundigen, die 1938 in NS-Deutschland verblieben waren.402 Im April 1940 war auch ihnen die Ausreise geglückt, und sie emigrierten nach Bled in Jugoslawien [Bled/SLO], nur wenige Kilometer von der ehemals österreichischen Grenze entfernt, wo die Firma Weiss’ eine Zweigniederlassung besaß.403 Sie hatten ursprünglich vor, von dort weiter nach England oder Australien zu reisen, wohin ihre Kinder schon vor ihnen emigriert waren, doch erlitt Richard Weiss in Bled einen Schlaganfall und war nun ebenso pflegebedürftig wie die mittlerweile 81-jährige Auguste Kelsen. Unter diesen Umständen konnte die Familie auch nicht mehr weiter fliehen, als Hitler ein Jahr später, im April 1941, Jugoslawien überfiel. Nur mit viel Glück gelang es den Dreien, ihre jüdische Identität vor den Besatzern geheim zu halten und so verschont zu bleiben.404 Richard Weiss starb am 2. November 1944 in Bled, Auguste Kelsen, 91-jährig, am 2. Februar 1950 daselbst.405 Erst jetzt konnte Gertrude Weiss zu ihrer Tochter Karin nach England reisen. Sie starb am 30. Oktober 1951 nach kurzer Krankheit in Hertford in England.406 Hans Kelsen hat weder sie noch seine Mutter jemals wieder gesehen.
Berkeley 29. 1. 1969, hatte zunächst Sinologie studiert, aber auch eine Biographie zu Karl und Jenny Marx geschrieben; 1929 unternahm er eine Forschungsreise nach Zentralasien. Er habilitierte sich 1933 in Berlin, emigrierte im selben Jahr nach Wien, wo er sich 1938 erneut habilitierte, und musste abermals im Jahr seiner Habilitation emigrieren, diesmal in die USA. Hier war er ab 1939 am Mills College in Oakland/CA, ab 1947 an der UC Berkeley tätig. Vgl. Herbert Franke, Maenchen-Helfen, Otto, in: NDB XV (1987) 636. 401 Personalakt Kelsen der UC Berkeley, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. Die Verleihung der US-Staatsbürgerschaft wurde auch dem čs Innenministerium in Prag mitgeteilt, das Hans und Grete Kelsen hierauf die čs Staatsbürgerschaft entzog: Kreuz, Prager Wurzeln (2009) 35. Offenbar waren beide bis zuletzt in Besitz čs Pässe, weshalb der čs Gesandte in San Francisco diese nunmehr zurückforderte: Bohuš Beneš, Schreiben an Hans Kelsen v. 8. 8. 1945, HKI, Nachlass Kelsen 16c1.59. Auch österreichische Zeitungen berichteten über den Erwerb der US-Staatsbürgerschaft: Oberösterreichische Nachrichten Nr. 44 v. 1. 8. 1945, 2. 402 Hans Kelsen, Brief an Lt. Colonel Joseph V. Hodgson v. 4. 9. 1945, in: HKI, Nachlass Kelsen 16c4.60; Hans Kelsen, Brief an Colonel Sidney S. Rubenstein v. 12. 9. 1945, in: HKI, Nachlass Kelsen 16c10.61;. 403 Schriftliche Auskunft beim Wiener Stadt‑ und Landesarchiv vom 24. 5. 2006 aufgrund einer entsprechenden Anfrage von Eva Blimlinger; Kelsen Oestreicher, My Parents in the United States (1977) 3; Anne Feder Lee, Interview v. 15. 10. 2006. 404 Anne Feder Lee, Interview v. 15. 10. 2006. 405 Paul Friedrich Kelsen, der jüngste Bruder Hans Kelsens, berichtete, dass »die letzten vier Jahre ihres Erdendaseins […] fuer sie wie auch fuer uns eine unaussprechliche Qual« war: Paul Friedrich Kelsen, Brief an Josef Lande v. 26. 1 2. 1955, Original im Besitz der Enkeltochter Martha Lande. 406 Paul F. Kelsen, Brief an Josef Lande v. 31. 1 2. 1951, Original im Besitz der Enkeltochter Martha Lande. Unrichtig daher die Angaben von Métall, Kelsen (1969) 2, wonach Gertrude Weiss 1948 in Bled verstorben sei.
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5. »The World at the Golden Gate«407 Angeregt durch die Atlantic Charter und durch die Hilfsabkommen, welche die USA in den Jahren 1942/43 mit zahlreichen im Kampf gegen die Achsenmächte befindlichen oder von ihnen besetzten Staaten abschlossen, entstand unter den angloamerikanischen Völkerrechtlern während des Krieges ein reger Diskussionsprozess, wie die »Nützlichkeit« des Völkerrechts nach Kriegsende »gesteigert« werden könne. Den Beginn machte eine Konferenz, die am 24. April 1942 in Washington D. C. stattfand und der eine Reihe von weiteren Treffen in anderen US-Städten folgte, darunter eines vom 16.–17. April 1943 in San Francisco.408 Wohl zur Vorbereitung dieser zuletzt genannten Konferenz wurde ein »Post War Committee« unter Leitung von Prof. Max Radin von der Berkeley Law School gebildet, für das Kelsen ein 13-seitiges Memorandum, betitelt »A permanent league for the maintenance of Peace«, und eine Satzung für diese neue Liga verfasste.409 Radin versprach, den Bericht weiterzuleiten; ob dies auch tatsächlich erfolgte, ist ungewiss.410 Doch veröffentlichte Kelsen eine überarbeitete Form seines Textes – ohne den Entwurf im Anhang – im Juli 1943 im AJIL. Der Aufsatz trug den Titel »Compulsory Adjudication of International Disputes [Verpflichtende Gerichtsentscheidung von internationalen Streitigkeiten]«.411 Eine solche, so Kelsen, sei nötig, um den Krieg, »das schlimmste aller sozialen Übel«, als Mittel zur Lösung internationaler Konflikte zu eliminieren.412 Kelsen wiederholte hier vielfach das bereits in Europa Gesagte vor einer amerikanischen Leserschaft: dass es der Briand-Kellogg-Pakt verabsäumt habe, sein umfassendes Friedensgebot in geeigneter Weise abzusichern, dass es eine gewisse Gesetzmäßigkeit in der Rechtsgeschichte gebe, wonach zuerst die Gerichte das Recht schaffen, erst dann Parlamente kommen und erst zuletzt die Exekutivbehörden, usw. Der Artikel stieß auf großes und positives Echo; als die American Association of International Law am 13. und 14. April 1945 ihre Jahrestagung abhielt, griff George Finch, der Chefredakteur der AJIL, in seinem Festvortrag Kelsens Forderung auf und unterstützte sie nachdrücklich.413 Auch stand Hans Kelsens Name – gemeinsam mit jenen von Monroe E. Deutsch, Clyde Eagleton, Leo Gross, Manley O. Hudson, Robert H. Jackson, Philip C. Jessup, 407 So
der Titel eines Berichtes in: UNIO News Bulletin Nr. II/17 v. 26. 4. 1945, 1. International Law of the Future, in: AJIL 38 (1944) Supplement 41–139, 41. 409 Memorandum und Satzungsentwurf sind uns erhalten als Beilage zu einem Brief von Hans Kelsen an Huntington Cairns v. 7. 4. 1943, in: LOC, Manuscript Division, Huntington Cairns Papers, Container 33. Der Entwurf stimmt im Wesentlichen mit dem bei Kelsen, Peace through Law (1944) 127–140, abgedruckten Text überein; vgl. zu diesem schon oben 727. 410 Anna Unger, Brief an Grete Unger v. 4. 4. 1943, LBI Archives, Unger Family Collection, Box 17, Folder 9, p. 31–32. 411 Kelsen, Compulsory Adjudication (1943). Die Abschnitte III und IV sowie Teile von Abschnitt V dieses Aufsatzes stimmen wörtlich mit zwei Textabschnitten auf den Seiten 4–6 des vorhin genannten Memorandums überein. 412 Kelsen, Compulsory Adjudication (1943) 397 (keine Entsprechung im Memorandum). 413 Kirgis, The American Society of International Law (2006) 170. 408 The
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Josef L. Kunz, Roscoe Pound, Max Radin, Frank M. Russell, Quincy Wright und 133 weiteren Juristen aus den USA und Kanada – unter einem knapp 100 Seiten starken Dokument, »The International Law of the Future«, das am 1. Jänner 1944 verabschiedet und kurz darauf im AJIL veröffentlicht wurde.414 Es gliederte sich in sechs Thesen (Postulates), zehn Prinzipien (Principles) und 23 Vorschläge (Proposals), die auf die Gründung einer Organisation abzielten, welche alle Staaten der Welt erfassen sollte. Als Organe dieser Organisation wurde eine Vollversammlung, ein Exekutivrat, ein Generalsekretariat und ein Internationaler Gerichtshof (IGH) genannt. Die bereits bestehende ILO sollte als Agentur der neuen Gemeinschaft angeschlossen werden. Der IGH sollte kein neuer Gerichtshof sein, sondern es sollte der bereits bestehende Ständige Internationale Gerichtshof (StIGH) in Den Haag reformiert werden, und alle Staaten sollten seinem Statut beitreten. Ihm sollten alle Rechtsstreitigkeiten zugewiesen werden, die nicht dem Exekutivrat vorbehalten waren, und er sollte das Recht haben, bindende Entscheidungen zu trefen (Vorschlag Nr. 17). Erläuternd wurde dazu angemerkt, dass sich der Völkerbund noch nicht zu einer obligatorischen Gerichtsbarkeit durchringen hatte können, dass aber seit 1920 eine Reihe internationaler Abkommen geschlossen worden seien, die die Bedeutung des StIGH immer weiter gesteigert hätten, sodass die Unterzeichnenden den Zeitpunkt für gekommen sahen, eine solche Gerichtsbarkeit einzuführen.415 Kelsens Forderungen fanden unter den nordamerikanischen Völkerrechtlern also durchaus Gehör.416 Die Gründung der UNO, auf die all diese Aktivitäten hinzielten, war aber letztlich eine politische Angelegenheit, bei der juristische, gar rechtstheoretische Erwägungen nur eine untergeordnete Rolle spielten. Die entscheidenden Weichen hierzu wurden zwischen dem 21. August und 7. Oktober 1944 in Dumbarton Oaks, einem Landhaus in Georgetown (Washington D. C.), gestellt. Hier berieten Vertreter der USA, der UdSSR, des UK und Chinas eine Satzung für eine neue, weltumspannende Organisation, die den Titel »United Nations« tragen sollte.417 Die USA waren hierbei durch Leo Pasvolsky, einen engen Mitarbeiter von US-Außenminister Cordell Hull vertreten. Métall berichtet, dass Kelsen versuchte, Pasvolsky einige »Anregungen« zu geben, dieser jedoch erklärte, dass er auf »›legalistic technicalities‹ keinen großen Wert lege!«418 414 The
International Law of the Future, in: AJIL 38 (1944) Supplement 41–139. 38 (1944) Suppl., 124. 416 Demgegenüber meint Paulson, Rezeption (1988) 183 mit Blick auf die zu »Peace through Law« erschienenen Rezensionen, dass Kelsens Forderung nach einer obligatorischen, internationalen Gerichtsbarkeit bei seinen Kritikern nur auf »Hohn und Spott« stieß. 417 Köck/Fischer, Internationale Organisationen (1997) 111 f. 418 Métall, Kelsen (1969) 80; vgl. auch Cassese, Reflections (1998) 389 [Interview mit Eduardo Jiménez de Arechaga]. – Dies bedeutete nicht, dass Pasvolsky Kelsen auch als Wissenschaftler nicht schätzte: 1947 lud er ihn zu einem zweiwöchigen Seminar der »Brookings Institution«, eines angesehenen Think-Tank, das im August jenes Jahres am Dartmouth College in New Hampshire zu Themen der amerikanischen Außenpolitik stattfand, ein, und Kelsen sagte sein Kommen zu: Leo Pasvolsky, Schreiben an Hans Kelsen v. 19. 5. 1947 u. Antwortschreiben v. 26. 5. 1947, in: HKI, Nachlass Kelsen 16c9.61. 415 AJIL
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4. Teil: Amerika und die Welt
Kelsen veröffentlichte aber im Jänner 1945 einen Artikel im AJIL, in dem er die Ergebnisse der Konferenz von Dumbarton Oaks419 ausführlich kommentierte und sie insbesondere mit dem (formal noch immer in Kraft stehenden) Völkerbundpakt verglich; er betitelte diesen Aufsatz »The Old and the New League [Die alte und die neue Liga]«.420 Die Ziele dieser beiden »Ligen«, so Kelsen, waren durchaus ähnlich, und ebenso die Organe. Doch ergaben sich einige wichtige Änderungen im Detail. So sollte der Völkerbund im Prinzip alle Staaten der Welt erfassen; die UNO war dagegen von vornherein als eine »Gemeinschaft der Siegerstaaten« konzipiert. Dies könne man bereits am Namen erkennen,421 aber auch daran, dass kein Mitglied ohne die Zustimmung des Sicherheitsrates aufgenommen werden könne. Dies wurde von Kelsen heftig kritisiert; der UNO sollte jeder Staat beitreten können, der den Frieden liebe – und mit dem Beitrittswunsch würde er den Friedenswillen hinlänglich zum Ausdruck bringen.422 Auch die Möglichkeit des Ausschlusses von UN-Mitgliedern hielt Kelsen für problematisch, konstatierte aber auch, dass selbst Nichtmitglieder gewisse Verpflichtungen hätten, und dass der Sicherheitsrat Beschlüsse zulasten von Mitgliedern treffen könne, die nicht im Sicherheitsrat säßen. In beiden Fällen handle es sich also um Verpflichtungen zu Lasten Dritter423 – ein Thema, mit dem sich Kelsen ja schon wiederholt auseinandergesetzt hatte. In vielerlei Hinsicht war der UN-Sicherheitsrat gegenüber dem Völkerbundrat aufgewertet worden, und innerhalb des Sicherheitsrates sollten die ständigen Mitglieder ein Vetorecht besitzen. Kelsen sah dies als problematisch für die prinzipielle Gleichheit aller Nationen an. Am meisten aber kritisierte Kelsen – wenig überraschend –, dass der Dumbarton Oaks-Entwurf keine obligatorische Gerichtsbarkeit durch einen Internationalen Gerichtshof vorsah – oder zumindest in dieser Hinsicht nicht sehr klar war. So sollen Rechtsstreitigkeiten »normalerweise [normally]« vor einen internationalen Gerichtshof gebracht werden – aber was bedeutete dies konkret? Nach einer Lesart des Entwurfs sollte der Sicherheitsrat die Kompetenz haben, gewisse Streitigkeiten diesem Gerichtshof zuzuführen; gesichert war dies aber keineswegs.424 419 »The
United Nations Dumbarton Oaks Proposals for a General International Organization (For the Use of the Delegates)«. 22-seitige Druckschrift, in: United Nations Archives and Records Management, UNCIO, Commissions and Technical Comittees, Commission 4, Committee 1, Box 17, File 3. 420 Kelsen, The Old and the New League (1945). 421 Am 1. 1. 1942 hatten 26 Staaten, die im Krieg gegen die Achsenmächte standen, mit der »Declaration by United Nations« die Grundsätze der von Roosevelt und Churchill unterzeichneten Atlantic Charta akzeptiert; vgl. Conforti/Focarelli, The Law and Practice (2016) 1. Auch in der Folge war der der Begriff »United Nations« vielfach für gemeinsame Vorhaben und Organisationen der Alliierten verwendet worden, so z. B. für die 1943 gegründete »United Nations Relief and Rehabilitation Administration« (UNRRA). 422 Kelsen, The Old and the New League (1945) 47. 423 Kelsen, The Old and the New League (1945) 49, 53. Vgl. dazu Köck/Fischer, Internationale Organisationen (1997) 200. 424 Kelsen, The Old and the New League (1945) 56, 62.
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Höchst positiv sah Kelsen, dass der Dumbarton Oaks-Entwurf die Gewaltanwendung unter Mitgliedsstaaten vollständig verbot, während dies unter den engen Vorgaben des Art. 15 Abs. 6 und 7 Völkerbundsatzung noch zulässig gewesen war.425 Für problematisch erachtete es Kelsen dagegen, dass ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates von seinem Vetorecht auch dann Gebrauch machen können sollte, wenn es selbst in diesen Fall involviert sei: »nobody should be judge in his own case«!426 Kelsen sah aber generell den UN-Sicherheitsrat nicht als ein für Streitbeilegungen geeignetes Organ an; diese Rolle solle vielmehr dem Gerichtshof zukommen. Immerhin: Der Dumbarton Oaks-Entwurf sah einen Internationalen Gerichtshof (IGH) vor, dessen Statut einen Annex zur Charta bilden sollte – eine wesentliche Verbesserung in rechtstechnischer Hinsicht gegenüber dem bisherigen Zustand, als das Statut des StIGH von der Völkerbundsatzung völlig getrennt war. Kelsen wies aber auch darauf hin, dass der IGH nicht einfach das alte Statut des StIGH übernehmen könne, sondern eine Reihe von Änderungen vornehmen müsse; auch sei zu berücksichtigen, dass das alte Statut weder von den USA noch von der Sowjetunion ratifiziert worden war, sehr wohl dagegen u. a. von Deutschland, Japan und der Schweiz.427 Ausführlich behandelte Kelsen das Sanktionensystem der UNO – Ausschluss aus der Gemeinschaft, wirtschaftliche und militärische Sanktionen – und forderte eine möglichst präzise Formulierung jener Delikte, die solche Sanktionen nach sich ziehen könnten.428 Zuletzt bemängelte Kelsen, dass einige Fragen im Dumbarton Oaks-Entwurf ungeklärt geblieben waren: Dies wäre zum einen die Frage des Amtssitzes, in der Kelsen dafür plädierte, eine Stadt zu bestimmen, die unter unmittelbare Verwaltung der UNO gestellt werde, vergleichbar dem Vatikanstaat. Ferner sei das Verhältnis der UNO zum alten Völkerbund ungeklärt; eine gleichzeitige Mitgliedschaft widerspreche Art. 20 der Völkerbundsatzung, es müsste der alte Völkerbund aufgelöst oder zumindest ein Austritt der neuen UN-Mitglieder geregelt werden. Zuletzt vermisste Kelsen auch Bestimmungen über Rüstungsbeschränkungen und Garantien der territorialen Unversehrtheit wie auch zu Völkerbundsmandaten (Art. 8, 10, 22 Völkerbundsatzung).429 Am 25. April 1945 wurde die United Nations Conference on International Organization (UNCIO) im Herbst Theatre in San Francisco, nur 20 km von Kelsens Wohnort entfernt, feierlich eröffnet.430 Nicht weniger als fünfzig Staaten, aber auch zahlreiche 425 Kelsen, The Old and the New League (1945) 66. Vgl. zu Art. 15 Völkerbundsatzung Köck/ Fischer, Internationale Organisationen (1997) 170. 426 Kelsen, The Old and the New League (1945) 67. 427 Kelsen, The Old and the New League (1945) 70. 428 Kelsen, The Old and the New League (1945) 74. 429 Kelsen, The Old and the New League (1945) 81–83. 430 https://search.archives.un.org/united-nations-conference-on-international-organizationuncio-1945 [Zugriff: 02. 05. 2019]. Siehe zur UNCIO: Department of State (Hg.), Charter of the United Nations. Report to the President on the Results of the San Francisco Conference (1945); Department of State (Hg.), The United Nations Conference on International Organisation. Selected
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Nichtregierungsorganisationen, schickten ihre Vertreter zu dieser Konferenz; die University of California war durch den Leiter ihres Bureau of International Relations, Frank M. Russell, vertreten.431 Hans Kelsen hatte keine Möglichkeit, persönlich an der Konferenz teilzunehmen, stand aber in Kontakt mit einigen Delegierten,432 so etwa mit dem chinesischen Delegierten Chun-mai Carsun Chang,433 dem norwegischen Delegierten Edvard Hambro,434 den beiden tschechoslowakischen Delegierten Karel Červenka435 und Vladimír Vochoč,436 mit dem Vorsitzenden der niederländischen Delegation Eelco Van Kleffens437 oder mit dem belgischen Delegierten Roland Lebeau.438 Wie Métall schreibt, wandten sich diese »an Kelsen persönlich um Rat, den er auch in uneigennützigster Weise gab.«439 Auch fuhr der junge Argentinier Hugo Caminos, der damals als Journalist für die »Voice of America« tätig war und eine Reihe von Interviews mit Teilnehmern der UNCIO führte, an den Abenden regelmäßig von San Francisco nach Berkeley, um Kelsen auf dem Laufenden zu halten.440 In vier Kommissionen und zwölf technischen Komitees wurde auf Grundlage des Dumbarton Oaks-Entwurfs eine Charta für die Vereinten Nationen ausgearbeitet und am 26. Juni von den teilnehmenden Staaten – die alle zuvor im Kriegszustand mit den Documents (1946); weiters: Luard, History I (1982) 37–68; Russell, History (1958) 625–638; Köck/Fischer, Internationale Organisationen (1997) 113 f. 431 Aikin/Bellquist/Gulick, Frank Marion Russell (1965) 73. Die UC nahm, u. a. durch Dolmetschdienste und technische Unterstützung, großen Anteil an der UNCIO; am 4. 5. 1945 wurden an mehrere Konferenzteilnehmer Ehrendoktorate verliehen; vgl. Stadtman, The University of California (1970) 316. 432 Hans Kelsen, Interview mit Duclos 1957. 433 Chun-mai Carsun Chang, Schreiben an Hans Kelsen v. 10. 5. 1945, HKI, Nachlass Kelsen 16c2.59. 434 Hambro hatte 1936 in Genf bei Kelsen zum Thema »L’execution de sentences internationales [Die Vollstreckung von internationalen Entscheidungen]« dissertiert: Busch/Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2015) 31. Nach seiner Ankunft in San Francisco suchte er den Kontakt zu Kelsen, ohne dessen genaue Adresse zu kennen, Edvard Hambro, Brief an Hans Kelsen v. 5. 5. 1945, HKI, Nachlass Kelsen 16c4.60. In der Folge kam es offenbar sowohl zu persönlichen Treffen als auch zu weiterer Korrespondenz, bei der Kelsen auch mehrere Publikationen (u. a. Kelsen, The Old and the New League [1945]) an Hambro übersandte. 435 Siehe Karel Červenka, Brief an Hans Kelsen v. 1. 5. 1945, HKI, Nachlass Kelsen 16c2.59, in dem er sich für die Übersendung von Kelsens Artikel zur Dumbarton Oaks-Konferenz (Kelsen, The Old and the New League [1945]) bedankte. 436 Siehe etwa Hans Kelsen, Brief an Vladimír Vochoč v. 20. 5. 1945, HKI, Nachlass Kelsen 16c12.61, in dem er ihm, im Anschluss an ein vorheriges persönliches Treffen, seinen Aufsatz über die zukünftige Rechtsstellung Deutschlands (Kelsen, The International Legal Status of Germany [1944]) zusandte. 437 Siehe Eelco Van Kleffens, Brief an Hans Kelsen v. 31. 5. 1945, HKI, Nachlass Kelsen 16c7.60, in dem er sich für die Übersendung von Kelsens Artikel zur Dumbarton Oaks-Konferenz (Kelsen, The Old and the New League [1945]) bedankte. 438 Vgl. Métall, Kelsen (1969) 80, der auch van Kleffens und Vochoč (nicht aber Hambro oder Červenka) nennt. Eine Korrespondenz zwischen Kelsen und Lebeau ist im Nachlass Kelsen nicht erhalten. 439 Métall, Kelsen (1969) 80. 440 Hugo Caminos, Interview v. 31. 3. 2012.
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Achsenmächten gestanden hatten – unterzeichnet.441 Diese Staaten waren zugleich Gründungsmitglieder der UNO; wie Kelsen vorhergesagt hatte, war die neue Weltorganisation, jedenfalls in ihrer Gründungsphase, damit eigentlich eine Organisation der Siegermächte. Jeder Beitritt eines weiteren Staates konnte nur auf Empfehlung des Sicherheitsrates erfolgen (Art. 4 Abs. 2 UN-Charta); auf diesem Weg traten Italien und Österreich 1955, Japan 1956, die beiden deutschen Staaten 1973, die Schweiz gar erst 2002 den Vereinten Nationen bei. Auch sonst zeigte sich, dass Kelsen mit seinen Kritiken und Anregungen nur wenig ausrichten hatte können. So war die von ihm als zu vage gerügte Bestimmung, wonach juristische Streitigkeiten »normally« vor den IGH gebracht werden sollten, zwar stilistisch abgeändert worden, die nunmehr gefundene Formulierung (»as a general rule«: Art. 36 Abs. 3) war jedoch – mit Absicht – ebenso unpräzise gehalten. Der Machtschwerpunkt innerhalb der UNO lag beim Sicherheitsrat, die von Kelsen so energisch geforderte obligatorische Gerichtsbarkeit des IGH wurde nicht eingeführt.442 Zwar mussten nach Art. 93 alle UN-Mitglieder auch das Statut des IGH, das einen integrierenden Bestandteil der Charta bildete, anerkennen, dies bedeutete aber noch keine Zuständigkeit des IGH; diese musste erst gesondert begründet werden, was entweder generell (nach Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut) oder nur für Einzelfälle erfolgen konnte. Lediglich in einem Detail ist der positive Einfluss Kelsens auf die Gestaltung der UN-Charta nachweisbar: Im Nachlass Kelsens existiert die Kopie eines Briefes einer leider unbekannten Personengruppe an Tom Connally, den stellvertretenden Vorsitzenden der US-Delegation bei der UNCIO.443 Dieser Brief kritisierte, sich dabei ausdrücklich auf Hans Kelsen, die »weltweit höchste Autorität im Völkerrecht« berufend, die starke Stellung des Sicherheitsrates, der es – nach den Bestimmungen des Dumbarton Oaks-Entwurfes – alleine in der Hand haben sollte, welcher Rechtsfall vor den IGH komme. Eine derart massive Beschränkung der internationalen Gerichtsbarkeit würde dem amerikanischen Rechtsdenken widersprechen und der UNO zu sehr den Charakter eines europäischen Polizeistaates verleihen – eine etwas starke Formulierung, die aber offenbar erfolgreich war. Denn in der UN-Charta wurde die inkriminierte Bestimmung fallen gelassen, sodass nunmehr eine unmittelbare Anrufung des IGH, ohne Dazwischenschaltung des Sicherheitsrates, möglich war.444 Die UN-Charta nannte keine konkrete Stadt als Hauptsitz der Vereinten Nationen (obwohl auch dies von Kelsen kritisiert worden war). Ihre erste Generalversammlung hielt die UNO am 10. Jänner 1946 in London ab.445 Drei Monate später, am 18. April 1946, ging in Genf die 21. und letzte Völkerbundversammlung zu Ende; die lediglich 44 Staaten, die bis zum Schluss im Völkerbund ausgeharrt hatten, beschlossen die 441 Russell,
History (1958) 639–645. Peace and Global Justice (2016) 91. 443 Brief an Tom Connally v. 23. 5. 1945, in: HKI, Nachlass Kelsen 16c2.59. 444 Art. 35 Abs. 1 IGH-Statut; vgl. schon Olechowski, Kelsen als Pazifist (2014) 127. 445 Wiener Zeitung Nr. 9 v. 11. 1. 1946, 1; Luard, History I (1982) 69–86. 442 Bernstorff,
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4. Teil: Amerika und die Welt
Auflösung desselben.446 Mit dieser zeitlichen Überlappung sollte demonstriert werden, dass die UNO kein formeller Rechtsnachfolger des Völkerbundes war. Das erst wenige Jahre zuvor fertiggestellte Palais des Nations wurde ab August 1946 von der UNO benützt. Was aber den Hauptsitz der UNO betraf, so sprach der US-Congress im Dezember 1945 eine Einladung an die UNO aus, eine Stadt in den USA auszuwählen, worauf die UN-Generalversammlung ein Jahr später ihre Entscheidung für New York traf. Wieder war es der unermessliche Reichtum der Familie Rockefeller, der die Errichtung eines repräsentativen Gebäudekomplexes für die UNO an der Manhattan East Side ermöglichte. Seit 1952 werden hier die Generalversammlungen abgehalten.447 In der Zeit, in der die Entscheidung über den Amtssitz noch nicht für New York getroffen war, am 8. Oktober 1945, richtete Kelsen einen Brief an Carlton Savage, in dem er seine Hoffnung ausdrückte, dass die UNO dauerhaft in San Francisco bleiben werde. Er präsentierte ihm ein Memorandum über die Gründung eines »United Nations Institute of International Studies«. Offenbar hatten Kelsen und Savage bereits über die Idee gesprochen, ein Institut nach Vorbild des IUHEI zu errichten. Kelsen schlug vor, dass dieses Institut Lehre und Forschung auf drei Gebieten betreiben sollte: internationale Politik einschließlich Geschichte, internationale Ökonomie und internationales Recht (Völkerrecht). Das Institut sollte der UN-Generalversammlung sowie dem Wirtschafts‑ und Sozialrat der UNO direkt zuarbeiten, wenn diese gemäß Art. 13 bzw. Art. 62 UN-Charta Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Völkerrechts oder zur Zusammenarbeit in wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder anderen Belangen abgeben würden. Auch die Organisationsstruktur des geplanten Instituts erinnerte an das Genfer IUHEI: ein relativ kleiner Stab von fest angestellten Mitarbeitern sowie eine Reihe von Gastprofessoren und Gastforschern. Das Institut sollte mit der nächstgelegenen Universität (also wohl mit Berkeley) kooperieren, aber – im Gegensatz zum IUHEI – selbst das Recht haben, akademische Grade, wie eine vollberechtigte Universität, zu verleihen. Finanziert werden sollte das Institut zunächst von amerikanischen Geldgebern (Bundesregierung, Rockefeller Foundation u. a.), später auch von ausländischen Regierungen.448 Eine Antwort von Savage auf Kelsens Schreiben ist nicht erhalten; Métall schreibt, dass »Kelsens schöne Anregungen […] bedauerlicherweise im Sand verlaufen« seien.449
446 Wiener Zeitung Nr. 94 v. 20. 4. 1946, 1; Luard, History I (1982) 86–92; Köck/Fischer, Internationale Organisationen (1997) 192. 447 https://protocol.un.org/dgacm/pls/site.nsf/files/HQ%20Agreement/$FILE/ Headquarters%20Agreement.pdf [03. 05. 2019]; Eichelberger, Organizing for Peace (1977) 281– 289. 448 Hans Kelsen, Brief an Carlton Savage v. 8. 10. 1945, mit dreiseitigem maschinschriftlichen Memorandum (und handschriftlichen Vorentwürfen), in: HKI, Nachlass Kelsen 15q.58. 449 Métall, Kelsen (1969) 81.
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Drittes Kapitel
Full Professor in Berkeley 1. Die Ernennung zum Professor Am 5. Jänner 1944 richtete Frank M. Russell ein langes Schreiben an den Präsidenten der UC, Robert G. Sproul, in dem er an die Umstände erinnerte, unter denen Kelsen nach Kalifornien gekommen war. Kelsen sei ein Mann von Weltruf, Persönlichkeiten wie Hudson, Powell und Pound hätten sich für ihn eingesetzt. Er selbst habe zwar zu Anfang befürchtet, dass Kelsens beste Jahre schon vorbei seien. Nun, nach vier Semestern, seien diese Bedenken jedoch vollständig zerstreut. In einer bemerkenswerten Art und Weise habe es Kelsen geschafft, bei Studierenden aller Stufen – lower division, upper division, graduate – ein »enthusiastisches Interesse« zu wecken, und in seinen Vorlesungen seien mehr Studentinnen und Studenten inskribiert als je zuvor unter seinen Vorgängern. Auch wissenschaftlich sei er sehr produktiv, er habe erst kürzlich zwei dicke Bücher – »General Theory of Law and State« und »Society and Nature« – und auch einige Aufsätze im AJIL veröffentlicht. In Absprache mit allen Mitgliedern seines Departments stelle er, Russell, nunmehr den Antrag, Kelsen eine dauerhafte Anstellung zu geben.450 Sproul jedoch lehnte diesen Antrag ab, worauf sich Kelsen, wie es Anna Unger, die Gattin seines Freundes Frederick Unger, formulierte, ein Zugticket nach Washington, Boston und New York kaufte, »um den [Arbeits‑]Markt anzusehen.«451 Kelsen informierte Cairns, dass er am 7. März alleine, d. h. ohne seine Frau, nach Washington kommen wolle, sagte seine Reise jedoch kurz vorher ab. Professor Russell hatte Kelsen gebeten, auch nach Vorlesungsende (26. Februar) in Berkeley zu bleiben, und Kelsen wollte dieser Bitte nachkommen, zumal Russell sich immer sehr um eine dauerhafte Anstellung für Kelsen bemüht hatte.452 450 Frank M. Russell, Schreiben an Robert G. Sproul v. 5. 1. 1944, in: Personalakt Kelsen der UC Berkeley, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. Entgegen der Behauptung Russells war die »General Theory« zu diesem Zeitpunkt noch nicht publiziert. Dem Schreiben liegt eine Kopie eines Schreibens von Charles A. Gulick an Russell v. 21. 1 2. 1943 bei, in dem ebenfalls Kelsens Bedeutung und seine demokratische Gesinnung in höchsten Tönen gelobt wurden. 451 Anna Unger, Brief an ihren Gatten Frederick Unger v. 31. 1. 1944, LBI Archives, Unger Family Collection, Box 17, Folder 9, p. 1273–127. In diesem Brief wird auch von einer persönlichen Unterredung Russells mit Sproul berichtet und dass dieser eine dauerhafte Anstellung Kelsens abgelehnt hatte. 452 Hans Kelsen, Brief an Huntington Cairns v. 27. 1. 1944, v. 8. 2 . 1944 und v. 22. 2 . 1944, sowie Telegramm v. 19. 2 . 1944, alle in: LOC, Manuscript Division, Huntington Cairns Papers, Container
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4. Teil: Amerika und die Welt
Zwei Monate später jedoch, am 22. April 1944, fuhr Kelsen tatsächlich nach Washington. Anlass für diese Reise war das jährliche Treffen der American Society of International Law, das am 28./29. April in der Bundeshauptstadt stattfand, und wo diesmal u. a. Manley O. Hudson über »das Völkerrecht der Zukunft« sprach.453 Wenige Tage später, am 5. Mai 1944, fand dann im Außenministerium die bereits erwähnte454 Besprechung zum Schicksal Deutschlands und Österreichs nach dem Krieg statt, an der auch Kelsen teilnahm. Doch nützte Kelsen seinen Aufenthalt an der Ostküste auch für eine Reihe von Gesprächen über seine berufliche Zukunft.455 So traf er sich in Washington mit Cairns, und dieser arrangierte ein Treffen mit dem Vorsitzenden des US-Supreme Court, Chief Justice Harlan F. Stone, wofür sich Kelsen später bei Cairns bedankte, ohne dass erkennbar ist, worüber er konkret mit dem Richter gesprochen hatte.456 Von Washington fuhr Kelsen weiter nach New York, wo er am 10. Mai mit Roger Evans von der Rockefeller Foundation seine Situation besprach. Die Studentenzahlen seien deutlich gestiegen, Frank Russell unterstütze seine Bemühungen um eine permanente Anstellung. Dennoch sei es unwahrscheinlich, dass Kelsen eine unbefristete Anstellung erhalten würde. Der Dekan der Law School, Edwin D. Dickinson, der derzeit noch bei der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) arbeitete, einer internationalen Organisation, die sich um Kriegsflüchtlinge kümmere, käme nächstes Jahr wieder zurück nach Berkeley, weshalb kein Bedarf für einen zusätzlichen Völkerrechtler bestehe. Auf die direkte Frage von Evans, ob Kelsen beabsichtige, nach dem Krieg wieder nach Europa zurückzukehren, antwortete dieser »mit bewegten Worten«, dass er bleiben wolle. »Alle seine Verwandten und Freunde seien im Konzentrationslager oder von eigener Hand gestorben.« Dass war definitiv nicht die Wahrheit, zumal kein einziges Mitglied seiner (engeren) Verwandschaft und seines (engeren) Freundeskreises auf diese Art gestorben war. Kelsen konnte dies freilich im Mai 1944 nicht wissen, aber sicher ist es doch, dass Kelsen so dick auftrug, weil er so deutlich wie möglich betonen wollte, dass Amerika nunmehr sein Zuhause sei: Er selbst werde im nächsten Jahr die US-Staatsbürgerschaft erlangen; seine Tochter und sein Schwiegersohn haben sich nun als Farmer im mittleren Westen niedergelassen. Die Amerikaner wüssten gar nicht zu schätzen, dass sie in Freiheit leben.457 33. Vgl. demgegenüber die oben 730 zitierte Aussage von Métall, wonach Kelsen im Frühjahrs‑ und Sommertrimester 1944 keine Lehrveranstaltungen in Berkeley hielt! 453 Proceedings of the 38th Annual Meeting of the American Society of International Law (1941). 454 Oben 731 f. 455 Frederick Unger (?), Brief an Erich Hula (?) v. 20. 4. 1944, in: LBI Archives, Unger Family Collection, Box 17, Folder 9, p. 341. In Washington hatte Kelsen ein Zimmer im »Cosmos Club« reserviert, in New York stieg Kelsen im Hotel Biltmore bei der Grand Central Station ab; er residierte also weit weniger luxuriös als noch 1940. 456 Hans Kelsen, Briefe an Huntington Cairns v. 20. 4. und v. 28. 5. 1944, beide in: LOC, Manuscript Division, Huntington Cairns Papers, Container 33. 457 Roger F. Evans (RF), Aktenvermerk v. 10. 5. 1944, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 205 S, Box 24, Folder 364.
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3. Kapitel: Full Professor in Berkeley
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Möglicherweise zu dieser Zeit spielte sich jene Anekdote ab, die später der bedeutende Völkerrechtler Oscar Schachter erzählte: Er arbeitete damals bei der eben erwähnten UNRRA, als Hans Kelsen zu ihm kam, um sich um eine Stelle zu beweben. Als dieser ihm seine Visitenkarte überreichte, fragte Schachter erstaunt: »Sind Sie der Hans Kelsen?«, worauf Kelsen entgegnete: »Ich suche einen Job in Washington, und Sie sind die erste Person, die meinen Namen kennt.«458 Trotz dieses guten Einstandes gelang es Kelsen auch hier nicht, Fuß zu fassen, weil Schachters Vorgesetzter meinte, dass die Arbeiten in der UNRRA zu »profan« für einen Gelehrten wie Kelsen wären. Wenige Tage vor Kelsens Abreise an die Ostküste hatte ihn Präsident Sproul angerufen, um ihn persönlich von seiner Anstellung als Lecturer für ein drittes Jahr in Berkeley zu informieren.459 Sein Gehalt wurde sogar von $ 3300,– auf $ 3600,– angehoben.460 Die entscheidende Wende kam bald nach Kelsens Rückkehr an die Westküste im Juni 1944, als sich herausstellte, dass Dekan Dickinson zwar nach Berkeley zurückkehren, aber keine völkerrechtlichen Vorlesungen halten werde. Gegenüber Cairns erklärte Kelsen, dass er nunmehr die realistische Chance habe, in einem Jahr zum Professor ernannt zu werden, wenn er bereit sei, dieses Jahr weiter als Lektor zu unterrichten. Er wolle daher lieber in Berkeley bleiben, als das Angebot von MacLeish, der ihm letztlich doch einen Posten in der Library of Congress offeriert hatte, anzunehmen.461 Mit 1. Juli 1944 wurde Kelsen ins »State Employees’ Retirement System«, das allgemeine Pensionssystem für kalifornische Staatsbedienstete, übernommen.462 Am 26. Dezember 1944 berichtete Russell an Sproul, dass er nunmehr den offiziellen Antrag gestellt habe, Kelsen eine unbefristete Professur für Völkerrecht zu einem Jahresgehalt von $ 5.000,– zu geben. Noch einmal hob er die Bedeutung Kelsens hervor und erklärte, dass dessen internationale Reputation in seinem Fach vergleichbar sei mit der des Physik-Nobelpreisträgers Ernest Lawrence oder des nicht minder berühmten Chemikers Gilbert N. Lewis in ihren Gebieten; er nannte Kelsen somit in einer Reihe mit den beiden wohl bedeutendsten Naturwissenschaftlern, die zu 458 Cassese,
Personal Recollections (1998) 389 [Interview mit Oscar Schachter]. Unger (?), Brief an Erich Hula (?) v. 20. 4. 1944, in: LBI Archives, Unger Family Collection, Box 17, Folder 9, p. 341. 460 Robert M. Underhill, Schreiben an Hans Kelsen v. 26. 5. 1944, in: HKI, Nachlass Kelsen 15n.58. 461 Hans Kelsen, Brief an Huntington Cairns v. 4. 6. 1944, in: LOC, Manuscript Division, Huntington Cairns Papers, Container 33. 462 H. H. Benedict, Schreiben an Robert G. Sproul v. 30. 3. 1948, in: UC Berkeley, Bancroft Library, CU-5 Ser 3, Box 10. – Eine allgemeine Krankenversicherungspflicht existierte in den USA bis 2014 (»Obamacare«) nicht, was bei vielen europäischen Immigranten für böse Überraschungen sorgte. Wie Silving, Memoirs (1988) 268, später erzählte, brach sich Grete Kelsen in der Zeit, in der sie mit ihrem Gatten in Cambridge/MA lebte, einmal den Arm, worauf sich herausstellte, dass das Ehepaar Kelsen nicht krankenversichert war. Der folgende Dialog zwischen Kelsen und dem Arzt kann nur in englischer Sprache wiedergegeben werden: »The doctor laughed. ›I heard, Professor Kelsen, that you are a great lawyer, in fact, the greatest lawyer now alive. Have you never heard of insurance?‹ Kelsen replied, ›Doctor, you must understand, I am not a lawyer. I am a jurist.‹« 459 Frederick
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4. Teil: Amerika und die Welt
jener Zeit an der UC Berkeley lehrten.463 Am 12. Jänner 1945 besprachen Russell und Sproul nochmals Kelsens dienstrechtliche Stellung, und nun versprach der Präsident, so rasch als möglich eine Entscheidung zu treffen.464 Am 27. Februar sprach sich das Budgetkomitee der Universität unter der Leitung von Edwin Dickinson in wärmsten Worten für die Ernennung Kelsens zum Full Professor aus. Es könne kaum Zweifel daran bestehen, dass er eine derartige Professur verdiene, habe er doch als Professor in Wien, Köln, Genf und Prag eine Schule (die »Vienna School« bzw. die »Kelsen School«) gegründet, an der niemand vorbeigehen könne, der sich mit Rechtsphilosophie befasse. Er habe die Verfassung Österreichs entworfen, die Regierung beraten und sei Mitglied des VfGH gewesen. Dazu komme, dass Kelsen ein »gentleman of attractive personality« sei, der die englische Sprache exzellent beherrsche, als Lehrer überaus erfolgreich sei und seine wissenschaftliche Tätigkeit in seiner neuen Heimat mit ungebrochener Schaffenskraft fortsetze.465 Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt erhielt Kelsen die schon erwähnte Einladung von Arthur Vanderbilt, im akademischen Jahr 1945/46 als Gastprofessor an der New York University zu lehren, und zwar zu einem Jahresgehalt von $ 5.000,–. Kelsen zeigte sich zunächst sehr interessiert an diesem Angebot und machte auch einige konkrete Vorschläge, welche Lehrveranstaltungen er in New York halten könnte.466 Noch bevor er aber eine bindende Zusage gab, erhielt er, am 21. Juni 1945, das offizielle Schreiben der Regents, mit dem er mit Beginn des kommenden Herbstsemesters zum full professor der UC Berkeley ernannt wurde. Das Jahresgehalt betrug $ 4.500,–.467 Dies lag zwar deutlich unter dem Angebot der New York University, wurde aber in den folgenden Jahren schrittweise angehoben, sodass er fünf Jahre später bereits $ 7.800,– pro Jahr bezog.468 Kelsen blieb also in Kalifornien. Die Lehrverpflichtung änderte sich für Kelsen mit seiner Ernennung zum Professor nicht. Seine wichtigste Lehrveranstaltung blieb die Vorlesung aus »Principles of 463 Frank M. Russell, Schreiben an Robert G. Sproul v. 26. 1 2. 1944, in: Personalakt Kelsen der UC Berkeley, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. 464 Frank M. Russell, Schreiben an Hans Kelsen v. 13. 1. 1945, in: HKI, Nachlass Kelsen 16c10.61. 465 Schreiben des Budget Committee (= Edwin D. Dickinson [Chairman], J. B. Condliffe, R. G. Gettell, R. H. Lowie, R. J. Sontag, E. C. Tolman) an President Robert G. Sproul v. 27. 2 . 1945, in: Personalakt Kelsen der UC Berkeley, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. 466 Arthur Vanderbilt, Schreiben an Hans Kelsen v. 24. 3. 1945 und v. 6. 4. 1945, sowie Antwortschreiben v. 28. 3. 1945 und v. 16. 4. 1945, alle in: HKI, Nachlass Kelsen 15k.58. Siehe auch Hans Kelsen, Brief an Roscoe Pound v. 28. 3. 1945, in: Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7. 467 Schreiben der Regents an Hans Kelsen v. 21. 6. 1945, HKI, Nachlass Kelsen 15n58. Dieser berichtete sogleich der RF von seiner neuen Position: Hans Kelsen, Brief an Roger F. Evans (RF) v. 30. 6. 1945, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 205 S, Box 24, Folder 364. 468 Am 11. 9. 1946 übermittelte Frank Russell an Kelsen eine »academic salary scale« (HKI, Nachlass Kelsen 15n58), die dort genannten Beträge werden aber später valorisiert: vgl. die Übersicht der tatsächlichen Jahresgehälter im Personalakt Kelsen der UC Berkeley, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. 1950 entsprach $ 7.800 öS 233.462; vgl. La Liberté Nr. 202 v. 1. 9. 1950, 9. Laut https:// www.eurologisch.at/docroot/waehrungsrechner/#/ [Abfrage vom 27. 11. 2019] entspricht dies einer Kaufkraft von heute (2019) ca. € 186.820,96.
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3. Kapitel: Full Professor in Berkeley
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International Law«, die er, ebenso wie ein dazugehöriges Seminar, über das ganze Jahr, d. h. einen Teil A im Herbstsemester, und einen Teil B im Frühjahrssemester hielt. Dazu kamen im Frühjahrssemester die Vorlesung aus »Origins of Legal Institutions« und im Herbstsemester die Vorlesung aus »Elements of Jurisprudence«.469 Im Herbstsemester 1948 (September 1948 – Jänner 1949) legte Kelsen ein »sabbatical« ein, d. h. er hielt keine Lehrveranstaltungen, damit er sich auf seine bevorstehende Südamerika-Reise vorbereiten konnte. Die Reise selbst fand vom 15. Juli – 1. September 1949, somit in den Sommerferien, statt.470 Für das Herbstsemester 1950/51 erhielt Kelsen von der Harvard University eine Einladung, zwei Kurse aus Völkerrecht an der Graduate School zu halten. Für diesen Zeitraum (1. Juli – 31. Dezember 1950) wurde ihm an der UC Berkeley ein unbezahlter Urlaub gewährt.471 Der Institutsvorstand schlug fünf Personen vor, die Kelsen in dieser Zeitvertreten könnten, darunter Leo Gross und Josef L. Kunz.472 Letzterer erhielt dann auch den Auftrag, Kelsen im Herbstsemester 1950/51 als »Visiting Professor« an der UC Berkeley zu vertreten.473 Kunz trug die »Elements of Jurisprudence« vor und übernahm auch die Vorlesung sowie das Seminar zum Völkerrecht.474 Im Juni 1951 lehrte Kelsen als Gastprofessor für Political Science an der University of Washington in Seattle und hielt einen Kurs über Internationale Organisationen.475 Da der Vorlesungsbetrieb in Berkeley schon am 14. Juni 1951 endete,476 musste sich Kelsen nicht extra beurlauben zu lassen. Die bereits erwähnte Beliebtheit Kelsens als Lehrer schlug sich in stetig steigenden Zahlen seiner Hörerschaft nieder. Diese lassen sich leider nur teilweise rekonstruieren, doch ergeben auch die wenigen erhaltenen Daten ein eindrucksvolles Bild.477 469 Die »Principles« wurden von Kelsen im Herbstsemester 1945, im Frühjahrssemester 1946 und im Herbstsemester 1948 nicht gelesen. Die Vorlesung aus »Elements« wurde nicht im Herbstsemester 1948, dafür jedoch zusätzlich im Frühjahrssemester 1949 gelesen. General Catalogue 1945–1946, 356–358; General Catalogue 1946–1947, 386–392; General Catalogue 1947–1948, 420– 426; General Catalogue 1948–1949, 431–438 sowie Supplementary Announcements 4; General Catalogue 1949–1950, 409–415; General Catalogue 1950–1951, 405–412; General Catalogue 1951–1952, 432–440. 470 Siehe noch unten 808. 471 Schreiben der Regents an Hans Kelsen v. 28. 8. 1950, in: Personalakt Kelsen der UC Berkeley, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. 472 Peter H. Odegard, Schreiben an A. R. Davis v. 21. 4. 1950, in: UC Berkeley, Bancroft Library, CU-5 Ser 3, Box 10. 473 General Catalogue 1950–1951, 403. 474 General Catalogue 1950–1951, 406 f., 412. Vgl. Métall, Kelsen (1969) 85. 475 Personalakt Kelsen der UC Berkeley, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches; vgl. Métall, Kelsen (1969) 85, 118. 476 General Catalogue 1950–51, 2 f. 477 Die Daten für 1942/43 und 1943/44 stammen von Kelsen selbst bei einer Besprechung mit Roger F. Evans von der RF: Aktenvermerk v. 10. 5. 1944, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.1 (FA386a), Series 205 S, Box 24, Folder 364. Die Daten für 1946/47 und 1947/48 folgen der Darstellung von L. J. Livesey in einem Schreiben an Robert G. Sproul v. 24. 4. 1948, Personalakt Kelsen der UC Berkeley, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches.
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4. Teil: Amerika und die Welt
Lehrveranstaltung
1942/43 1943/44 1946/47 1947/48
Elements of Jurisprudence Principles of International Law – Teil A Seminar in International Law – Teil A
35 45 2
50 92 6
118 159 35
145 221 23
Origins of Legal Institutions Principles of International Law – Teil B Seminar in International Law – Teil B
? ? ?
? ? ?
89 175 34
170 359 21
Der deutliche »Sprung« in der Hörerinnen‑ und Hörerzahl um 1945 war natürlich in erster Linie nicht auf Kelsens Redetalent, sondern auf das Kriegsende zurückzuführen, aber auch zwischen 1942 und 1943 sowie zwischen 1946 und 1947 stiegen die Zahlen stets an. Die zuletzt sinkende Zahl bei den Seminarteilnehmern war einzig darauf zurückzuführen, dass diese Lehrveranstaltung von der Universitätsleitung limitiert wurde, weil an Seminaren sinnvollerweise nicht mehr als 15 Studierende teilnehmen sollten; Kelsen sprengte in Wirklichkeit also auch hier alle Vorgaben. Er selbst berichtete später einmal, dass eine seiner Vorlesungen (wohl die »Principles of International Law«) einmal von fast 500 Hörerinnen und Hörern besucht wurde, worauf die Lehrveranstaltung in einen der größten Hörsäle der Universität, das Observatorium, in dem normalerweise Astronomie unterrichtet wurde, verlegt werden und er »sogar mit Lautsprecher sprechen musste.«478 Ab einer Zahl von 500 hätte die Vorlesung in Sektionen geteilt und die Studierenden von Tutoren (teaching assistants) betreut werden müssen. Tatsächlich kam nach zwei oder drei Einheiten ein Student zu ihm und fragte, warum es keine Sektionen gebe, obwohl dies doch im Vorlesungsverzeichnis stehe. Kelsen ließ sich das Verzeichnis zeigen, und der Student, so Kelsen, »zeigte mit dem Finger auf folgende Stelle: ›Astronomy 1 – observatory sections. Da sagte ich zu ihm ›My dear fellow, I didn’t teach astronomy, I am teaching international law.‹ ›Oh is that so‹ sagte er. Vielleicht hatte er den Eindruck, dass ich von irgendetwas spreche, was so fern von dieser Welt ist, dass es sich nur auf den Sternen abspielen kann‹«.479 Die große Beliebtheit, die Kelsen bei den Studierenden genoss – und er genoss sie sicherlich –, darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass er darunter litt, dass er fast ausschließlich undergraduate students unterrichtete, also 18-, 19-jährige, die gerade ihren High School-Abschluss erhalten hatten. Gegenüber Silving meinte er einmal: »Ich bin gezwungen, Kinder zu unterrichten.«480 Vornehmer drückte er sich in seiner Autobiographie aus: »Was ich hier an dem Political Science Department vermisse, ist, dass unter den intelligenten, fleissigen und persoenlich meistens sehr netten Studenten verhaeltnismaessig geringes Interese an wissenschaftlicher Arbeit besteht. Sie bereiten sich wohl sehr gewissenhaft fuer ihre Pruefungen vor und machen ganz gute 478 Hans
Kelsen, Interview mit Irmgard Bach, Juni 1958. Kelsen, Interview mit Irmgard Bach, Juni 1958. 480 »I am forced to teach children«, Kelsen, zit. n. Silving, Memoirs (1988) 265. 479 Hans
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3. Kapitel: Full Professor in Berkeley
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Abb. 46: UC Berkeley, South Hall. Foto 2013.
Seminararbeiten. Aber waehrend all der Jahre habe ich keinen einzigen gefunden, der sich auf dem Gebiete der Jurisprudenz (Rechtstheorie) oder des Voelkerrechts spezialisieren moechte. Das haengt wohl damit zusammen dass diese Gegenstaende an dem Political Science Department Nebenfaecher sind und dass wer sich fuer das Lehramt entscheidet, besser andere Faecher fuer seine Doktorarbeit waehlt.«481 Tatsächlich ist keine einzige Ph. D.-Arbeit aus Harvard oder Berkeley bekannt, die von Hans Kelsen betreut wurde. Sein Dienstzimmer hatte Kelsen in South Hall, Room No. 202.482 Dieser Raum existiert infolge späterer Umbauten heute nicht mehr. Was die Mitarbeiter/innen Kelsens betrifft, so findet sich im Personalstandsverzeichnis der UC Berkeley darauf kein Hinweis; doch besaß er auch in Berkeley Hilfskräfte, die offenbar, so wie schon zuvor z. B. Helen Silving in Harvard, freiberuflich oder ehrenamtlich für Kelsen tätig waren. In Berkeley war dies zuletzt Virginia Gildersleeve (nachmalige McClam). Diese berichtet, dass die Studierenden in Kelsens Vorlesung geradezu »mesmerisiert« waren und man eine Stecknadel fallen hätte hören können, wenn er zu ihnen sprach – und dies trotz seines immer noch starken österreichischen Akzentes.483
481 Hans
Kelsen, Autobiographie (1947) 45 = HKW I, 90 f. Vgl. auch Cadore, »Good-bye to all that«? (2018) 257. 482 University of California Directory (Berkeley/Los Angeles 1948) 140. Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass die »Rauchfangkehrer-Tanzszene« aus dem Film »Mary Poppins« (1964) auf dem Dach von South Hall gedreht wurde, was jedoch nicht stimmt, vgl. https://www.berkeley.edu/map [Zugriff: 02. 05. 2019]. 483 Virginia McClam, Interview v. 6. 7. 2007.
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4. Teil: Amerika und die Welt
2. Hans Kelsen und Österreich a) Schritte der Versöhnung Im Frühjahr 1945 endete die NS-Herrschaft über Österreich; die Alliierten übernahmen – ähnlich wie in Deutschland – die »oberste Gewalt«, die »bis zur Errichtung einer frei gewählten, von den vier Mächten anerkannten österreichischen Regierung« tätig sein sollte.484 Die von Hans Kelsen empfohlene485 Volksabstimmung, mit der sich Österreich – sozusagen als contrarius actus zur Volksabstimmung von 1938 – von Deutschland lossagen und zu demokratischen Verhältnissen zurückkehren sollte, fand niemals statt. Es kehrte aber auch nicht, wie dies Kelsen befürchtet hatte, das austrofaschistische Regime zurück an die Macht, und auch eine Restauration der Habsburger unterblieb. Vielmehr bildete Karl Renner – einer der wenigen Politiker der Ersten Republik, die weder tot, noch gefangen, noch im Exil waren – mit Unterstützung der sowjetischen Besatzungsmacht noch im April 1945 eine Provisorische Staatsregierung, gebildet aus drei »antifaschistischen Parteien«: der Sozialistischen Partei Österreichs (die aus der Fusion der Sozialdemokraten mit einer sozialistischen Splitterpartei hervorgegangen war), der Österreichischen Volkspartei (einer formellen Neugründung, die aber personell und inhaltlich an die Christlichsoziale Partei anknüpfte) und der (von den Sowjets massiv geförderten) Kommunistischen Partei Österreichs.486 Gemeinsam unterzeichneten diese Parteien am 27. April eine Unabhängigkeitserklärung, in der der »Anschluß« des Jahres 1938 für »null und nichtig« erklärt wurde487 und beschlossen in weiterer Folge die Rückkehr zum Verfassungszustand vom 5. März 1933, d. h. das Wiederinkrafttreten des Bundes-Verfassungsgesetzes samt all seinen Novellen und Ergänzungen bis hin zum Tag nach der sog. Selbstausschaltung des Nationalrates.488 Die dafür nötigen Überleitungsgesetze489 wurden von Ludwig Adamovich entworfen und von der Provisorischen Staatsregierung großteils unverändert angenommen. In einem Schreiben an Hans Kelsen bat Adamovich um Nachsicht für die mangelhafte legistische Qualität jener Gesetze, die »binnen weniger Stunden verfaßt werden mußten«.490 Adamovich war 1938, so wie Merkl, von seinem 484 Sog. Erstes Alliiertes Kontrollabkommen v. 4. 7. 1945, in: Verosta, Internationale Stellung (1947) Nr. 30. 485 Vgl. oben 735. 486 Kundmachung über die Einsetzung einer provisorischen Staatsregierung v. 27. 4. 1945 StGBl 2. Vgl. Neschwara, Entwicklung (1993) 172; Stourzh, Um Einheit und Freiheit (1998) 32; Nasko, Renner (2016) 363–384. 487 Proklamation v. 27. 4. 1945 StGBl 1 = Verosta, Internationale Stellung (1947) Nr. 27. Vgl. Walter, System (1972) 22 f.; R athkolb, Die Zweite Republik (2015) 525. 488 Öhlinger, Verfassung (2017) 105 f. 489 Verfassungs-Überleitungsgesetz 1. 5. 1945 StGBl 4; Rechts-Überleitungsgesetz 1. 5. 1945 StGBl 6. Vgl. zu diesen Gesetzen Walter, System (1972) 26 ff., 32 ff. 490 Ludwig Adamovich sen., Schreiben an Hans Kelsen vom 19. 10. 1946, HKI, Nachlass Kelsen 16c1.59. Mangelhaft aus der Sicht der Reinen Rechtslehre war insbesondere § 1 Rechts-Überleitungs-
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3. Kapitel: Full Professor in Berkeley
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staatsrechtlichen Lehrstuhl verdrängt worden; 1945 wurde er wieder in alle Ämter eingesetzt und überdies zum ersten Rektor der Universität Wien nach 1945 ernannt; ab 1946 war er bis zu seinem Tod 1955 Präsident des wiedererstandenen Verfassungsgerichtshofes.491 An der rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien waren nur mehr wenige Professoren und Dozenten, die schon vor 1938 dort gelehrt hatten, noch immer tätig. Zu den Verbliebenen zählte Alfred Verdroß; er war zwar 1938 suspendiert worden, hatte allerdings ab 1939 wieder Völkerrecht lehren dürfen, während ihm Vorlesungen aus Rechtsphilosophie bis 1945 untersagt blieben.492 Schon bald nach dem Krieg nahm er den 1938 abgerissenen Kontakt mit Kelsen wieder auf und berichtete ihm von jenen Professoren, die in Freiheit, und jenen, die in Gefangenschaft gestorben waren.493 Am 4. Jänner 1947 stellte Verdroß im Professorenkollegium den Antrag, beim Ministerium die Ernennung von Hans Kelsen zum Honorarprofessor vorzuschlagen. »Diese Ehrung bedeutet zugleich eine moralische Wiedergutmachung für das von den Nazis an Kelsen begangenen [sic] Unrecht, die ihn 1933 von seinem Lehrstuhl aus Köln vertrieben haben.« – womit er geschickt die Umstände, unter denen Kelsen ja schon 1930 Wien verlassen hatte, verschleierte.494 Der Antrag wurde von der Fakultät einstimmig angenommen und auch von der Regierung genehmigt, sodass Kelsen mit Beginn des Wintersemesters 1947/48 Honorarprofessor an der Fakultät wurde, an der er fast zwanzig Jahre lang gelehrt hatte.495 Etwa zur selben Zeit, im Mai 1947, feierte die Österreichische Akademie der Wissenschaften ihr einhundertjähriges Bestehen und nahm dies zum Anlass, Hans Kelsen zu ihrem korrespondierenden Mitglied zu wählen. Den Antrag dazu hatten statutengemäß drei wirkliche Mitglieder, nämich Ludwig Adamovich, Hans Mayer gesetz v. 1. 5. 1945 StGBl 6, der die eigentliche Rechtsüberleitung des bisherigen Rechts in die neue Republik nicht aussprach, sondern gedanklich voraussetzte und nur gewisse Einschränkungen für diese Überleitung (insbesondere keine Überleitung von Gesetzen mit NS-Gedankengut) nannte. Hans Kelsen hatte Adamovich um Übermittlung dieser Gesetze anscheinend gebeten, da er im Dezember 1945 einen entsprechenden Vortrag an der American Political Science Association in Cleveland hielt: James O. Denby (Foreign Service of the U. S. A.), Schreiben an Hans Kelsen v. 28. 10. 1945, in: HKI, Nachlass Kelsen 16c2.59. 491 Huber, Rückkehr erwünscht (2016) 238; Adamovich (jun.), Adamovich (2018) 452. Vgl. zu den schwierigen materiellen Bedingungen, unter denen Adamovich die Jahre 1938–1945 überlebte, Staudigl-Ciechowicz, Von Adamovich bis Pfeifer (2012) 225. 492 Busch, Verdroẞ (2012) 158; Huber, Rückkehr erwünscht (2016) 240. 493 Alfred Verdross, Brief an Hans Kelsen v. 16. 3. 1946, HKI, Nachlass Kelsen 16b12.59. 494 Alfred Verdross, Schreiben an das Professorenkollegium v. 4. 1. 1947, UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Personalakten, J PA 331, in Abschrift auch in HKI, Nachlass Kelsen 16b12.59. Das sehr kurze Schreiben enthält nicht einmal einen Hinweis darauf, dass Kelsen bereits einmal Professor an der Wiener Fakultät war, weshalb auch die Umstände seines Wegganges 1930 nicht erwähnt werden. Vgl. dazu auch Stifter, Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration (2014) 398, sowie Jestaedt, Nicht-Remigration (2017) 251. 495 Das offizielle Schreiben des Dekans Ferdinand Degenfeld-Schonburg erfolgte am 10. 7. 1947, HKI, Nachlass Kelsen 15a34.57. Vgl. auch Alfred Verdross, Brief an Hans Kelsen v. 11. 7. 1947, HKI, Nachlass Kelsen 16b12.59.
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und Hans Planitz,496 gestellt (Verdroß war zu jener Zeit selbst nur korrespondierendes Mitglied und daher nicht aktiv wahlberechtigt). Kelsen wurde in diesem Antrag als »der bedeutendste der heute im Ausland wirkenden österreichischen Juristen« bezeichnet.497 Nichtsdestoweniger votierten in der – faktisch entscheidenden – Vorwahl durch die philosophisch-historische Klasse der ÖAW am 12. Mai 1947 lediglich acht von 15 Stimmführern für Kelsen (wogegen alle anderen ausländischen Mitglieder einstimmig oder nahezu einstimmig gewählt wurden).498 In der Gesamtsitzung am Tag darauf erfolgte Kelsens Wahl mit 27 von 35 Stimmen; anscheinend waren fast alle Mitglieder der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse dem Wahlergebnis vom Vortag beigetreten und hatten jene sieben Mitglieder der philosophisch-historischen Klasse, die schon bei der Vorwahl gegen Kelsen waren, auch nun wieder gegen ihn gestimmt.499 Kelsen wird die näheren Umstände, unter denen er Akademiemitglied geworden war, vermutlich niemals erfahren haben; er wurde vom Präsidenten der ÖAW, Heinrich Ficker, nur über den Ausgang informiert und bedankte sich für seine Wahl, welche »die geistige Verbindung mit meinem ehemaligen Vaterlande wieder herstell[e].«500 b) Keine Rückkehr Die Frage einer Rückberufung Hans Kelsens als ordentlicher Professor des Staatsrechts an die Universität Wien stellte sich niemals, zumal offenbar schon unmittelbar nach Beendigung der NS-Herrschaft beschlossen worden war, die beiden 1938 vom NS-Regime zwangspensionierten Professoren des Staatsrechtes, Adamovich und Merkl, wieder in ihre Ämter zu setzen,501 und an eine dritte Lehrkanzel des 496 Planitz, der Kelsen ja schon 1930 in Köln kennengelernt hatte, und der vermutlich (vgl. oben 555) auch der Urheber des »Kölner Fakultätsschreibens« vom 18. 4. 1933 zugunsten Kelsens war, war 1941 von Köln nach Wien berufen worden; vgl. Olechowski, Rechtsgermanistik (2012) 99. 497 Wahlantrag der wirklichen Mitglieder Adamovich, Planitz und Mayer, Z. 479/47, undatiert, in Archiv der ÖAW, Personalakt Hans Kelsen. 498 Archiv der ÖAW, Protokoll der Wahlsitzung der philosophisch-historischen Klasse am 12. 5. 1947. Die Stimmführer waren Vizepräsident Richard Meister (Pädagogik) und Generalsekretär Josef Keil (Altertumskunde) sowie die wirklichen Mitglieder Ludwig Adamovich (Staats‑ und Verwaltungsrecht), Wilhelm Czermak (Ägyptologie), Hugo Hassinger (Geographie), Wilhelm Havers (Indogermanistik), Hermann Junker (Ägyptologie), Paul Kretschmer (vergleichende Sprachwissenschaft), August Loehr (Geldgeschichte), Hans Planitz (Germanische Rechtsgeschichte), Camillo Praschniker (klassische Archäologie), Robert Reininger (Philosophie), Leo Santifaller (Geschichte des Mittelalters), Erich Schenk (Musikwissenschaft) und Adolf Wilhelm (griechische Altertumskunde). Hans Mayer, der Kelsen ja mit vorgeschlagen hatte, war für die Sitzung entschuldigt. 499 Archiv der ÖAW, Protokoll der außerordentlichen Gesamtsitzung am 13. 5. 1947. Das Wahlergebnis ist im Zusammenhang damit zu sehen, dass sich das ÖAW-Präsidium zu jener Zeit – größtenteils erfolgreich – um die »Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten« bemühte: Feichtinger /Hecht, 1945 und danach (2013) 191. 500 Heinrich Ficker, Schreiben an Hans Kelsen v. 12. 7. 1947 und Ernennungsurkunde in HKI, Nachlass Kelsen 15a35.57. Eine Kopie des Schreibens von Ficker sowie das Antwortschreiben Kelsens v. 25. 9. 1949 in: Archiv der ÖAW, Personalakt Hans Kelsen. 501 Staudigl-Ciechowicz, Von Adamovich bis Pfeifer (2012) 218.
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Staatsrechts schon aus budgetären Gründen gar nicht zu denken war. Diese Begünstigung der Rückkehr von Personen, die nicht aus rassistischen, sondern aus sonst politischen Gründen von den Nationalsozialisten verfolgt worden waren, war typisch für die damalige österreichische Universitätspolitik.502 Gemessen an der allgemeinen Ausgangslage, müssen die vorsichtigen Signale, die die Universität Wien an Kelsen aussandte, eigentlich positiv gewürdigt werden. Denn kurz nach seiner Ernennung zum Honorarprofessor wurde Kelsen auch eingeladen, Vorlesungen über »Probleme politischer Theorie« an der Universität Wien zu halten.503 Dies kam jedoch ebensowenig zustande wie eine Teilnahme Kelsens an einem Vortragszyklus an der Universität Wien im Juli 1948504 oder eine Einladung der Universität Graz für das akademische Jahr 1946/47.505 Auch einer Einladung des Herausgebers der »Juristischen Blätter«, Heinrich Klang – er hatte die Hölle von Theresienstadt überlebt –, einen Beitrag für die 1938 eingestellte und 1945 neugegründete Zeitschrift zu verfassen, leistete Kelsen keine Folge.506 In dem vermutlich ersten Brief, den Merkl nach Kriegsende an Kelsen schrieb, stellte er ihm ganz offen die Frage: »Willst Du nicht selbst wieder Künder Deiner Lehre in Europa werden? Auch bedeutende Emigranten kehren allmählich, wenn auch tropfenweise mutig der Gegenwart u. der verhangenen Zukunft Trotz bietend, wieder.«507 Der so Angesprochene hatte jedoch keineswegs vor, aufs Geratewohl nach Wien zurückzureisen. Er hatte nicht vergessen, dass es weder Dollfuß noch Hitler gewesen waren, die ihn von dieser Universität gedrängt hatten, sondern dass ihn bereits 1930 die teils offenen, teils verdeckten Feindschaften, die ihm an der Wiener Fakultät entgegengebracht worden waren, »auf das tiefste erbittert« und ihm seine »Wirksamkeit in Oesterreich verleidet« hatten.508 Gegenüber Cairns bezeichnete Kelsen die – offenbar bereits kursierenden – Gerüchte über eine Rückkehr nach Wien als »grundlos« und dass er bereits gegenüber Francis T. Williamson, einem Mitarbeiter der Abteilung für mitteleuropäische Angelegenheiten im US-Außenministerium, erklärt habe, dass er nur »in official mission« nach Österreich zurückkehren wolle, wenn dies im Interesse des Ministeriums liege.509 502
Huber, Rückkehr erwünscht (2016) 256; Erker, Die Rückkehr der »Ehemaligen« (2017). Verdross, Schreiben an Hans Kelsen v. 8. 4. 1948, in: UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Personalakten, J PA 331; Stifter, Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration (2014) 399. 504 Die Initiative zu diesem Zyklus ging von Hayek aus, der ebenfalls, wie auch Voegelin, eingeladen wurde. Alfred Verdross, Briefe an Hans Kelsen v. 8. 4. 1948 und v. 5. 6. 1948, HKI, Nachlass Kelsen 16b12.59. 505 Josef Dobretsberger, Brief an Hans Kelsen v. 1. 5. 1946, HKI, Nachlass Kelsen 16c2.59. 506 Heinrich Klang, Schreiben an Hans Kelsen v. 5. 1 2. 1945 und v. 4. 4. 1946, beide in: HKI, Nachlass Kelsen 16c7.60. Erst 1953 erschien in den JBl ein Bericht über Kelsens Vortrag in der Wiener Juristischen Gesellschaft: Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? Vortrag (1953). 507 Adolf Merkl, Brief an Hans Kelsen v. 28. 5. 1947, HKI, Nachlass Kelsen 16b7.59. 508 Kelsen, Autobiographie (1947) 35 = HKW I, 77. 509 Hans Kelsen, Brief an Huntington Cairns v. 24. 9. 1947, in: LOC, Manuscript Division, Huntington Cairns Papers, Container 33. 503 Alfred
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Wohl auf Anregung von Williamson richtete Kelsen am 9. September 1947 ein Schreiben an den »Reorientation Branch [Abteilung für Umerziehung]« im US-Kriegsministerium, in dem er von der Einladung der Wiener Universität berichtete und ebenfalls erklärte, dass er nur »in some official mission for the government for the United States« zurückkehren wolle. Selbstbewusst fügte er hinzu, dass er jene Verfassung entworfen habe, die nun in Österreich wieder in Kraft sei und auch Karl Renner (der in der Zwischenzeit, am 20. Dezember 1945, zum Bundespräsidenten gewählt worden war) persönlich kenne. Aufgrund dieser Umstände könne er zufriedenstellende Arbeit für die USA in Österreich leisten.510 Die Alliierten hatten bereits 1942 mit Überlegungen begonnen, wie das faschistische Deutschland und Österreich nach dem Krieg wieder zurück zur Demokratie »erzogen« werden können, und eine Konferenz der alliierten Erziehungsminister eingerichtet.511 Nach Errichtung des alliierten Besatzungssystems über Österreich war im sog. Zweiten Alliierten Kontrollabkommen vom 28. Juni 1946 die Alliierte Kommission mit einem »fortschrittlichen Erziehungsprogramm« beauftragt worden. Aufgabe dieses Programmes war es, »alle Spuren [des Nationalsozialismus] auszumerzen und der österreichischen Jugend demokratische Grundsätze einzuprägen«.512 Innerhalb der US-amerikanischen Militärverwaltungsbehörde USACA wurde eine »Education Division« geschaffen, die in der Folge eine Reihe von Maßnahmen zur Entnazifizierung der österreichischen Schulen und Universitäten sowie zur Einführung moderner Erziehungsmethoden setzte.513 Schon vor Kelsen hatten sich einige Exil-Österreicher angeboten, an der »reeducation« mitzuwirken, jedoch zumeist keinen Erfolg gehabt. Dennoch konnte sich Kelsen Hoffnungen machen, auf die »Visiting Experts«-Liste der USACA gesetzt zu werden, hatte doch das – Kelsen seit dessen Gutachtertätigkeit überaus wohlgesonnene – US-Kriegsministerium sein Schreiben umgehend weitergeleitet, mit dem Nachsatz: »Understand he is personal friend of president Renner.«514 Dennoch bedurfte es nochmaligen Nachfragens, bis am 19. Dezember Kelsen mitgeteilt wurde, dass es nicht möglich sei, ihm eine definitive Antwort zu geben; die amerikanische Besatzungsmacht hatte die Ansicht geäußert, sein Ansuchen sei nicht »of vital importance«. Ob es finanzielle Gründe waren oder möglicherweise 510 Stifter, Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration (2014) 400. Das Schreiben Kelsens kann verschieden gedeutet werden. Wollte er, angesichts der nicht gerade erfreulichen Hintergründe seines Wegganges aus Wien 1930, nunmehr nicht einfach als »gewöhnlicher« Gastprofessor nach Wien kommen? Oder ging es schlicht um das Problem, dass weder Kelsen noch die Universität Wien die finanziellen Mittel für die Reise hatten? Letzteres scheint Métall, Kelsen (1969) 82 und 87 anzudeuten. Wie aus einem Brief von Alfred Verdross an Hans Kelsen v. 10. 10. 1945, HKI, Nachlass Kelsen 16b12.59, hervorgeht, hatte Kelsen schon 1945 in einer Pressekonferenz vorgeschlagen, an der Universität Wien Vorlesungen über Demokratie durch amerikanische Gelehrte abzuhalten; in seinem Antwortschreiben an Verdroß v. 20. 1. 1946, a. a. O., schreibt Kelsen ebenfalls von der Schwierigkeit, Geld und einen Pass für eine Reise nach Österreich zu erhalten. 511 Dazu umfassend Stifter, Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration (2014) 138 ff. 512 Zweites Alliiertes Kontrollabkommen 28. 6. 1946, Art. 3 lit. e. 513 Stifter, Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration (2014) 265 ff. 514 Zit. n. Stifter, Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration (2014) 400.
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bestimmte Kreise in Österreich ein Interesse daran hatten, eine offizielle Mission Kelsens zu verhindern, ist unbekannt.515 Jedenfalls verliefen die Bemühungen im Sande. Viele Jahre später, 1958, erklärte Kelsen in einem Radiointerview, dass er keinen Wunsch mehr habe, nach Europa zurückzukehren. Er habe sich in Berkeley eingelebt und ein Häuschen gekauft, das Klima sei wunderbar, und auch seine »wissenschaftlichen Bedürfnisse« werden durch die ausgezeichnete Bibliothek der UC Berkeley vollauf befriedigt. Kaum einer seiner ehemaligen Freunde lebe noch in Österreich, »sodass mich eigentlich kein menschliches Band mehr mit Deutschland oder Österreich verbindet.«516 c) Kelsen, Merkl und Verdroß Adolf J. Merkl, der 1938 an der Universität Wien zwangspensioniert worden war, hatte während des Krieges, 1941, aufgrund der allgemeinen Personalknappheit, einen Lehrstuhl in Tübingen erlangt.517 Unmittelbar nach Wiedererrichtung der Republik setzte die Universität Wien erste Schritte, um seine Rückberufung zu bewirken, doch stießen seine Freunde auf unerwartete Probleme. Bundespräsident Karl Renner hatte das Ernennungsdekret für Merkl bereits unterschrieben, da tauchten – infolge einer Intrige gegen Merkl? – zwei Publikationen Merkls aus dem Jahr 1938 auf, in denen er sich zustimmend zum »Anschluss« geäußert hatte. Die Unterrichtsverwaltung weigerte sich hierauf, das bereits unterschriebene Ernennungsdekret zu »intimieren« (zuzustellen).518 Verdroß unterrichtete Kelsen von den Entwicklungen und bat ihn, in der Sache »unseres Tübinger Freundes« tätig zu werden.519 Kelsen reagierte sofort und richtete ein Antwortschreiben an Verdroß, mit der Bitte, dieses bestmöglich einzusetzen. In diesem Brief schrieb er: »Ich bin mit Merkl seit über 35 Jahren befreundet und kenne ihn so gut als ein Mensch ueberhaupt einen anderen kennen kann. Er war stets ein ueberzeugter Demokrat und jedem Politischen abhold, das, wie der Nationalsozialismus, auf nackte Gewalt gegruendet ist. Er ist einer der charaktervollsten Maenner, denen ich in meinem Leben begegnet bin und hat sicherlich in keiner Weise mit den verabscheuungswuerdigen Prinzipien des [nationalsozialistischen] Regimes sympathisiert […] Es mag sein, dass er mit dem Anschluss Oesterreichs an Deutschland einverstanden war; aber das waren viele, die weder Nationalsozialisten waren, noch diesen Verbrechern Vorschub geleistet haben. […] Ich wuerde es auf das tiefste bedauern, wenn Missverstaendnisse es verhindern sollten, dass dieser 515 Stifter, Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration (2014) 401, vermutet, dass der Sektionschef im österreichischen Unterrichtsministerium Otto Skrbensky die Sache auf die »lange Bank« schob; vgl. seine Haltung zur Rückberufung anderer vertriebener Wissenschaftler ebenda 369. 516 Hans Kelsen, Interview mit Irmgard Bach, Juni 1958. Vgl. Jestaedt, Nicht-Remigration (2017) 255 f. 517 Grussmann, Merkl (1989) 41. 518 Ausführlich Schartner, Staatsrechtslehrer (2011) 218–231. 519 Alfred Verdross, Brief an Hans Kelsen v. 30. 4. 1947, HKI, Nachlass Kelsen 16b12.59.
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hervorragende Gelehrte und ausgezeichnete Mensch die ihm gebuehrende Stellung an der Wiener Universitaet wieder erlange.«520 Das Schreiben wurde als eine Art Gutachten im »Fall Merkl« eingesetzt, und tatsächlich wurde Merkl wenig später wieder zum ordentlichen Professor des Staatsrechts an der Universität Wien ernannt, wo er sein Amt 1950 antrat.521 Aber die Jahre der NS-Herrschaft und des Tübinger Exils hatten Spuren bei Merkl hinterlassen. Nicht nur, dass er – im Gegensatz etwa zu Karl Renner522 – sich von allen großdeutschen Ideen abgewandt hatte523 – auch die Reine Rechtslehre, zu deren Aufbau er so wesentlich beigetragen hatte, vermochte er nicht mehr weiter zu verfolgen; nach 1945 erschien so gut wie kein einziger einschlägiger Aufsatz mehr aus seiner Feder.524 Dafür berichtete er Kelsen, noch aus Tübingen, begeistert von einem jüngeren Kollegen (vermutlich Arwed Blomeyer), der ein Verfechter des Naturrechts sei: »Wenn der vorerwähnte Kollege heute als unser Rechtsphilosoph mit antinazistischem Naturrecht auf religiöser Grundlage starken Anklang findet, so muss ich – unbeschadet meines theoretischen Gewissens – sagen: Recht so, denn die dringendste Aufgabe ist: Entseuchung der Gehirne von dem aktuellen deutschen Gift!«525 Es ist bezeichnend, dass der Briefkontakt zwischen Kelsen und Merkl, der 1947 neu begonnen worden war, schon nach wenigen Monaten wieder abriss. Vielleicht wollte Kelsen seinen ältesten und treuesten Schüler so in Erinnerung behalten, wie er ihn zuletzt gekannt hatte. Als Merkl am 23. März 1960 seinen 70. Geburtstag feierte, verfasste Kelsen einen kurzen Beitrag für die ZÖR, in dem er es als eine »seltene Gunst des Schicksals [bezeichnete], wenn ein Lehrer den siebzigsten Geburtstag eines ihm teuren Schülers mitfeiern und bei diesem Anlaß dankbaren Herzens bekunden kann, nicht nur, was dieser ihm persönlich, sondern vor allem, was er der Wissenschaft bedeutet.«526 Er würdigte Merkls »Stufentheorie«, die »zu einem wesentlichen Bestandteil der von mir vertretenen Reinen Rechtslehre geworden« sei, weshalb Merkl »als einer ihrer Mitbegründer angesehen werden« müsse. Auch Merkls Arbeiten in anderen Bereichen wurden von Kelsen, wenn auch kurz, gewürdigt. Aber er ermahnte Merkl, »nicht [zu] vergessen, wozu er durch seine seltene wissenschaftliche Begabung ureigentlich berufen« sei. Er möge nun doch endlich »das große rechtstheoretische 520 Hans
Kelsen, Brief an Alfred Verdroß v. 10. 6. 1947, HKI, Nachlass Kelsen 16b12.59. Staatsrechtler (2011) 232; Staudigl-Ciechowicz, Von Adamovich bis Pfeifer
521 Schartner,
(2012) 219. 522 Karl Renner hatte nicht nur 1938 öffentlich erklärt, bei der von den Nationalsozialisten durchgeführten Volksabstimmung mit »Ja« stimmen zu wollen (vgl. Neues Wiener Tagblatt Nr. 92 v. 3. 4. 1938, 3), sondern bedauerte noch 1945, dass eine staatsrechtliche Vereinigung Österreichs mit Deutschland angesichts der vergangenen Ereignisse unmöglich geworden sei. Vgl. ausführlich Nasko, Renner (2016) bes. 312, 332. 523 Adolf Merkl, Brief an Hans Kelsen v. 28. 5. 1947, HKI, Nachlass Kelsen 16b7.59. 524 In die Anthologie »Die Wiener rechtstheoretische Schule« wurden lediglich zwei Aufsätze Merkls aus der Zeit nach 1945 aufgenommen, die beide von der »politischen Freiheit« handelten; vgl. auch Grussmann, Merkl (1989) 44, bes. Anm. 246. 525 Adolf Merkl, Brief an Hans Kelsen v. 28. 5. 1947, HKI, Nachlass Kelsen 16b7.59. 526 Kelsen, Merkl (1959/60) 313.
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Werk vollenden, das seine Freunde von ihm erwarten.«527 Es bezog sich dieser Hinweis auf jene Monographie zum Stufenbau, die Merkl schon 1931 in seiner Festschrift für Hans Kelsen angekündigt,528 jedoch niemals vollendet hatte – und auch niemals vollenden sollte. Ein Jahr später, 1961, beging Kelsen seinen 80. Geburtstag, worauf Merkl den Spieß umdrehte und seinerseits einen Aufsatz für die ZÖR schrieb, der seinem Lehrer gewidmet war. Doch gerade dieser Aufsatz zeigte die große Kluft, die Kelsen und Merkl mittlerweile trennte, nur umso deutlicher auf. Betonte Merkl doch, wie sehr in der NS-Zeit »der Mißbrauch der Wertskala der Ethik für […] die Rechtfertigung aller Handlangerdienste für vermeintliche Kriegsnotwendigkeiten, […] für die begriffliche Spannung von Rechtsgebot und Moral hellsichtig gemacht hat.«529 Dabei wollte Merkl keinen Millimeter von der Reinen Rechtslehre abrücken; er vertrat nicht die »Radbruchsche Formel«, wonach Recht ab einem gewissen Grad von Ungerechtigkeit aufhöre, Recht zu sein. Vielmehr brachte Merkl viele Beispiele für »unmoralisches Recht«, bejahte also durchaus dessen theoretische Möglichkeit. Doch erklärte er, dass »die Rechtstheorie der Ergänzung durch die Rechtsethik« bedürfe,530 einer Ethik, die – was er nicht schrieb, aber wohl meinte – vom moralischen Wertesystem des Christentums und/oder der Europäischen Menschenrechtskonvention531 geprägt war. Anders als zu Merkl entwickelten sich die wissenschaftlichen Kontakte Kelsens zu seinem anderen bedeutenden Schüler, Verdroß, der ja schon lange vor dem Krieg begonnen hatte, eigene Wege zu gehen und eine »materiale« Rechtskonzeption auf Basis der christlich-abendländischen Tradition zu entwickeln.532 Dieser Umstand hatte das persönliche Verhältnis zwischen Kelsen und Verdroß niemals beeinträchtigt. Aber Verdroß war auch maßgeblich daran beteiligt gewesen, dass Kelsen 1934 die Hauptherausgeberschaft an der von ihm begründeten »Zeitschrift für Öffentliches Recht« abgeben hatte müssen. Dies konnte Kelsen Verdroß lange nicht verzeihen. Insofern kann das Bemühen von Verdroß, für Kelsen zumindest eine Honorarprofessur an der Universität Wien zu erwirken, als Versuch einer Wiedergutmachung gesehen werden. Zu einer völligen Aussöhnung kam es etwas später über Vermittlung von Kunz, der sich im März 1948 als »ehrlicher Makler […]« an Kelsen wandte und diesen bat, einen Schritt auf Verdroß zuzugehen.533 Und wirklich setzte Kelsen wenige Tage später einen Brief an Verdroß auf, in dem er zunächst erklärte, dass es ihn seinerzeit »verstimmt« hatte, auf welche Weise er aus der ZÖR ausgeschlossen worden war. »Ich war auch der Meinung, dass Du in Deinem ›Voelkerrecht‹ – dieser weitaus besten Darstellung des Gegenstandes in deutscher Sprache – mit gewissen politischen Werturteilen zu weit 527 Kelsen,
Merkl (1959/60) 315. 523. 529 Merkl, Moralordnung (1961) 295 = MGS I/1, 631. 530 Merkl, Moralordnung (1961) 313 = MGS I/1, 655. 531 Vgl. deren ausdrückliche Nennung bei Merkl, Moralordnung (1961) 302 = MGS I/1, 638. 532 Dazu Goller, Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1997) 156; Luf, Naturrechtsdenken (2010). 533 Josef L. Kunz, Brief an Hans Kelsen v. 1. 3. 1948, HKI, Nachlass Kelsen 16b1.59. 528 Oben
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gegangen bist.«534 Doch hatte er immer Verständnis für die schwierige Lage von Verdroß gehabt. »Wer, wie ich, nicht gerade ein Held ist, hat kein Recht, dies von andern zu erwarten, und ich habe es immer abgelehnt, hier, in politischer Sicherheit, den Richter über jene zu spielen, die unter dem fuerchterlichen Druck eines verbrecherischen Regimes ihr Leben fortfuehren und ihren Beruf weiter ausueben mussten. […] Meine Faehigkeit fuer Liebe und Freundschaft ist verhaeltnismaessig beschraenkt. Aber zu den wenigen Menschen, die ich wirklich und im wahrsten Sinne des Wortes in mein Herz geschlossen habe, gehoerst Du; und dort wirst Du immer bleiben.«535 Verdroß dankte es ihm, indem er Kelsen 1951 – gemeinsam mit Merkl und Kunz – (wieder) in den Kreis der Herausgeber der »Österreichischen Zeitschrift für öffentliches Recht« aufnahm, wo Kelsen nunmehr bis zu seinem Lebensende 1973 verblieb.536 Hauptherausgeber der ZÖR aber blieb Alfred Verdroß, auch er bis zu seinem Lebensende, 1980. Die Nennung Kelsens in der Titelei war nur mehr eine Ehrung, ohne dass ihm noch ein Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung der Zeitschrift zukam. Verdroß war dann auch maßgeblich daran beteiligt, dass das angesehene Institut de Droit International bei seiner Session am 22. April 1954 Hans Kelsen zu seinem Ehrenmitglied wählte.537 Als sechs Jahre später Manley O. Hudson starb, wurde Kelsen sein Nachfolger als Leiter der amerikanischen Gruppe dieses Instituts; 1963 legte er diese Funktion aus Altersgründen wieder zurück.538 Kelsen beteiligte sich auch wieder an rechtstheoretischen Debatten in Österreich, so etwa, als Verdroß 1951 in den »Juristischen Blättern« die Behauptung aufstellte, dass die Entscheidung darüber, »ob überhaupt ein rechtskräftiger Akt eines zuständigen Organes« vorliege, letztlich weder durch die Rechtsordnung selbst, noch durch die Rechtswissenschaft getroffen werden könne. Es sei dies vielmehr eine Frage, die nur durch die Soziologie beantwortet werden könne. Denn wenn z. B. eine Gruppe von Herren sich zusammensetze und so handle wie ein »Senat des Obersten Gerichtshofes«, könne nur mit Blick »auf das tatsächliche soziale Geschehen« entschieden werden, ob es sich tatsächlich um ein Gericht oder um eine strafgesetzwidrige Amtsanmaßung oder um einen harmlosen »Faschingsscherz« handle.539 Kelsen entgegnete in einem Aufsatz für die ZÖR, dass eine Rechtsordnung nicht »gedacht« werden könne, ohne die sie begründende Grundnorm mitzudenken. Indem die Grundnorm 534 Er spielte damit auf einige, den Nationalsozialismus sehr positiv, ja geradezu als friedliebend darstellende Passagen in Verdroß’ Lehrbuch an, vgl. dazu ausführlich Marboe, Verdross (2012) 184 f. 535 Hans Kelsen, Brief an Alfred Verdroß v. 10. 3. 1948, HKI, Nachlass Kelsen 16b12.59. 536 Puff, 100 Jahre ZÖR (2014) 614. Merkl hatte bereits 1928–1945 dem Herausgebergremium angehört, Kunz hatte in dieser Zeitschrift zwar oft publiziert, jedoch noch nie zu den Herausgebern gezählt. 537 Alfred Verdross, Schreiben an Hans Kelsen v. 30. 11. 1953 und v. 6. 3. 1956, HKI, Nachlass Kelsen 16b12.59; Hans Wehberg (Generalsekretär des Instituts), Schreiben an Hans Kelsen v. 22. 4. 1954, HKI, Nachlass Kelsen 15a21.57. Die Wahl zum ordentlichen Mitglied war vom Präsidium des Instituts abgelehnt worden. 538 Métall, Kelsen (1969) 90. 539 Verdross, Antinomie (1951) 169, 170 = VGS 116, 118 = WRS 1124, 1127.
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nicht jedweder Rechtsordnung Geltung verleihe, sondern nur einer solchen, die im Großen und Ganzen effektiv sei, sei gewährleistet, »daß die Rechtswissenschaft die Beziehung der Rechtsnormen zu dem, was man soziale Wirklichkeit nennt, niemals aus dem Auge verlieren kann.«540 Die kurze Debatte zwischen Kelsen und Verdroß ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Zum einen fällt auf, dass sich Verdroß bei seinem Beispiel ganz offenbar auf den österreichischen OGH bezog, während Kelsen Beispiele aus dem US-amerikanischen Verfassungsrecht heranzog.541 Bewusst oder unbewusst machte Kelsen damit dem deutschsprachigen Publikum deutlich, dass er schon längst auf dem amerikanischen Kontinent sozialisiert war und seine Diskussionen mit dem österreichischen Juristen Verdroß vom fernen Kalifornien aus führte, als ob er niemals in Österreich gewesen wäre und das österreichische Recht, das ihm so manches Fallbeispiel hätte liefern können, nicht kenne. Ein zweites Detail ist noch bedeutender: Kelsen revidierte seine eigene – etwa in der 1. Auflage der Reinen Rechtslehre geäußerte542 – Ansicht, dass die Grundnorm von der Rechtswissenschaft vorausgesetzt werde! »So wie die Rechtswissenschaft keine Norm setzen kann, kann sie auch keine Norm voraussetzen.«543 Vielmehr behauptete Kelsen nunmehr, dass sich ein revolutionärer Akt erst dann als neue Verfassung darstelle, wenn nachfolgend weitere Akte erlassen werden, die diese neue Verfassung als gültig voraussetzen. Es seien also in Wahrheit die rechtsanwendenden Organe, die die Grundnorm voraussetzen, während der Rechtswissenschaft nur die Aufgabe zukomme, diese Voraussetzung wissenschaftlich nachzuvollziehen. Damit näherte sich Kelsen deutlich wie an keiner anderen Stelle rechtsrealistischen Positionen, wie sie in Amerika üblich waren, an. 1960, in der 2. Auflage der »Reinen Rechtslehre«, änderte Kelsen seine Ansicht erneut und kehrte zu jener Lehre zurück, dass die Grundnorm eine von der Rechtswissenschaft vorausgesetzte Norm sei.544
3. Das Recht der UNO und das Allgemeine Völkerrecht a) Vorträge und Aufsätze zur UN-Charta Hans Kelsens Einfluss auf die Gestaltung der UN-Charta war in Summe eher bescheiden geblieben, und sein Plan, ein eigenes UN-Forschungsinstitut in San Francisco zu etablieren, war gescheitert. Nichtdestoweniger ging er unverzüglich nach 540 Kelsen,
Was ist ein Rechtsakt? (1951/52) 274 = WRS 1139.
541 So etwa, wenn er die Problematik anspricht, dass der US-Präsident nach der Verfassung inter-
nationale Verträge nur mit Zustimmung des Senates abschließen dürfe, in der Praxis jedoch oft ohne eine solche Zustimmung handle: Kelsen, Was ist ein Rechtsakt? (1951/52) 269 = WRS 1135. 542 Kelsen, Reine Rechtslehre (1934) 66 f. 543 Kelsen, Was ist ein Rechtsakt? (1951/52) 271 = WRS 1137. 544 Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) 209, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den zitierten Aufsatz.
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Abschluss der UNCIO daran, die von ihr beschlossene UN-Charta rechtsdogmatisch zu erschließen, und während seiner Zeit als Full Professor der UC Berkeley (1945– 1952) sollte dies sogar den mit Abstand größten Teil seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ausmachen. Eine erste Gelegenheit zu einer allgemeinen Bewertung der UN-Charta bot sich Kelsen, als das Institute for World Affairs, eine Einrichtung der New School for Social Research,545 vom 16.–19. Dezember 1945 seine 21. Jahrestagung abhielt. Diese fand im noblen Hotel »The Mission Inn« in Riverside/CA, in der Nähe von Los Angeles, statt und hatte das Thema »The San Francisco Conference and the United Nations Organization« zum Gegenstand. Dem Exekutivkomitee gehörte u. a. Frank M. Russell an, von dem wahrscheinlich die Einladung an Kelsen ergangen war, auf der Tagung über »The International Law of the Future« zu sprechen und sich auch an einer Podiumsdiskussion über »The International Court of Justice« zu beteiligen. Kelsen erklärte in seinem – später auch publizierten – Vortrag, dass es die Hauptaufgabe des Völkerrechts der Zukunft sei, den Frieden in der internationalen Gemeinschaft zu sichern. Und er konzedierte der UN-Charta, einen wichtigen Beitrag dazu zu leisten. Denn im Gegensatz zur Völkerbundsatzung verbiete die Charta nicht nur Kriege, sondern jede Form der Gewaltanwendung durch einzelne Staaten; sämtliche Sanktionen seien dem UN-Sicherheitsrat vorbehalten.546 Kritik übte Kelsen dagegen in seinem Diskussionsbeitrag an den Regelungen über den IGH, dessen Richter durchaus nicht als unabhängig anzusehen seien, da die Staaten doch weiter einen maßgeblichen Einfluss auf ihre Ernennung ausüben könnten. Der neue Gerichtshof werde, so wie der StIGH vor ihm, »ein wichtiger Gerichtshof für sehr unwichtige Fälle« sein.547 Im Mai 1946 erschien eine »kritische Analyse« der Präambel der UN-Charta von Hans Kelsen im »Journal of Politics«. Darin erklärte Kelsen die Bezeichnung »United Nations [Vereinte Nationen]«, die auf einen Wunsch F. D. Roosevelts zurückging, für unglücklich gewählt. Denn sie bezeichne sowohl die Organisation selbst als auch die in ihr versammelten Mitglieder (ein Vorwurf, der theoretisch auch dem Staatsnamen der USA gemacht hätte werden können, was Kelsen jedoch unterließ).548 Drei Monate später, im August, veröffentlichte Kelsen im »Yale Law Journal« einen Aufsatz, in dem er sich mit gewissen Beschränkungen der Tätigkeiten der UNO durch die UN-Charta befasste. Nach Art. 2 Z. 7 der Charta durften sich die Vereinten Nationen nicht in Angelegenheiten einmischen, die »ihrem Wesen nach« [essentially] zu den inneren Angelegenheiten eines Staates gehören. Kelsen hielt dem entgegen, dass im Prinzip jede Angelegenheit auch durch einen völkerrechtlichen Vertrag geregelt werden könne und es daher ein derartiges »Wesen« nicht gebe. Art. 51 gestattete 545 Rutkoff/Scott, 546 Kelsen,
New School (1986) 138 ff. Law of the Future (1946) 190 f. Vgl. Köck/Fischer, Internationale Organisationen
(1997) 197. 547 Kelsen, Diskussionsbeitrag (1946) 102. Vgl. zur Bestellung der Richter des IGH Köck/ Fischer, Internationale Organisationen (1997) 273 f. 548 Kelsen, The Preamble (1946) 136; vgl. Kelsen, Law of the United Nations (1950) 3–5.
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Abb. 47: Hans Kelsen an der Fletcher School of Law and Diplomacy in Medford/Somerville, 1950.
den Staaten das Recht auf Selbstverteidigung, ja setzte es als »naturgegeben« [inherent] voraus, ein Rückgriff auf das Naturrecht, den Kelsen scharf kritisierte.549 Zuletzt wandte sich Kelsen den Art. 53 und 107 zu, die gewisse Gewaltanwendungen gegen solche Staaten billigten, die »im Zweiten Weltkrieg ein Feind von irgendeinem der Signatarstaaten dieser Charta« gewesen waren. Diese Bestimmungen waren für Kelsen viel zu vage formuliert. Sie machten die ehemaligen Achsenmächte zu »Outlaws«, und zwar nicht auf begrenzte Zeit, sondern permanent, selbst wenn sie jemals Mitglieder der Vereinten Nationen werden sollten!550 Letzteres wurde, reichlich spät, auch von der Generalversammlung erkannt: Erst 1994 beschloss sie, »die Frage der Streichung ›Feindstaaten‹-Klauseln der Charta zu prüfen«.551 In zwei anderen Aufsätzen, die 1946 in der »Columbia Law Review« bzw. 1948 im »Western Political Quarterly« erschienen, thematisierte Kelsen die Rechte und Pflichten der Mitgliedsstaaten552 und die Frage, ob sie aus der UNO auch austreten 549 Kelsen,
Limitations (1946) 998, 1008; vgl. Kelsen, Law of the United Nations (1950) 771,
550 Kelsen,
Limitations (1946) 1012, 1015.
792.
551 GA Resolution 49/58 v. 9. 1 2. 1994, GAOR 1995, 297. Zu einer formellen Aufhebung kam es bis
heute noch nicht, nach Köck/Fischer, Internationale Organisationen (1997) 358, möglicherweise deshalb, weil diese Klausel heute vielfach als obsolet angesehen wird und eine formelle Aufhebung dahin gedeutet werden könne, dass sie doch nicht obsolet sei. 552 Kelsen, Membership (1946); wesentlich erweitert in Kelsen, Law of the United Nations (1950) 57–85.
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könnten. Kelsen stellte u. a. fest, dass die Mitglieder – mangels entsprechender Bestimmung – ein solches Austrittsrecht nicht hätten.553 In weiteren Schriften, die 1946 in der »Harvard Law Review« und 1948 im »International Law Quarterly« erschienen, befasste sich Kelsen mit dem UN-Sicherheitsrat und verglich ihn mit dem Völkerbundrat.554 Im Gegensatz zur Völkerbundsatzung begrenzte die UN-Charta die Mitglieder auf fünf ständige und sechs nichtständige. In bestimmten Fällen jedoch (Art. 31, 32, 44) konnten auch andere Staaten an den Sitzungen des Sicherheitsrates teilnehmen; Kelsen war der Ansicht, dass diesen Staaten in solchen Fällen die Stellung von nichtständigen Mitgliedern zukomme.555 Hervorhebenswert ist ferner Kelsens Stellungnahme zu den Abstimmungsquoren im Sicherheitsrat: Nach Art. 27 Abs. 3 bedurften alle Abstimmungen (außer über Verfahrensfragen) der Zustimmung von sieben Mitgliedern, einschließlich der ständigen Mitglieder (»including the concurring votes of the permanent members«), woraus Kelsen schloss, dass die Stimmenthaltung eines ständigen Mitglieds im UN-Sicherheitsrates einem negativen Votum gleichkomme.556 Diese Meinung war keineswegs selbstverständlich, wird doch z. B. bei Abstimmungen im US-Kongress sehr wohl zwischen Stimmenthaltung und negativen Stimmen unterschieden, sodass sich etwa die Zweidrittel-Erfordernisse in Art. I Sect. 7 US-Verfassung auf zwei Drittel der abgegebenen Stimmen, nicht sämtlicher Stimmen, beziehen.557 Auch die Praxis folgte – und folgt – Kelsen in dieser Hinsicht nicht, sodass nach heute herrschender Ansicht ein Beschluss des UN-Sicherheitsrates auch bei Stimmenthaltung eines ständigen Mitgliedes gefasst werden kann.558 Im März 1946 hielt Kelsen in San Francisco, im April 1946 vor der Canadian Political Science Association in Saskatchewan je einen Vortrag über Sanktionen nach der Charta der Vereinten Nationen.559 Veröffentlicht wurden sie noch im selben Jahr 553 Kelsen, Withdrawal (1948); teilweise identisch mit Kelsen, Law of the United Nations (1950) 123–135. Der bislang einzige Austritt aus der UNO erfolgte 1965, als Indonesien die Staatengemeinschaft verließ (ihr aber schon 1966 wieder beitrat); vgl. Conforti/Focarelli, The Law and Practice (2016) 48. 554 Kelsen, Organziation and Procedure (1946); Kelsen, Settlement (1948). Der Inhalt des zuletzt genannten Aufsatzes war schon bald infolge der entgegenstehenden Praxis des Sicherheitsrates überholt, vgl. dazu Kelsen, Recent Trends (Aufsatz, 1951) 911 f. 555 Kelsen, Organization and Procedure (1946) 1091; vgl. Kelsen, Law of the United Nations (1950) 231. Nach Sucharipa-Behrmann, Kelsens »Recht der Vereinten Nationen« (2004) 25, ist dieses Ergebnis allerdings in der Praxis ohne Bedeutung. 556 Kelsen, Organization and Procedure (1946) 1098; dies wird bei Kelsen, Law of the United Nations (1950) 240 und in späteren Schriften immer deutlicher abgeschwächt, siehe noch unten. 557 So die Judikatur des US-Supreme Court seit Missouri Pacific Ry. Co. v. Kansas, 248 U. S. 276 (1919); diesen Einwand machte Huntington Cairns in seinem Brief an Hans Kelsen v. 5. 11. 1946, in: HKI, Nachlass Kelsen 16c2.59, im Durchschlag auch in: LOC, Manuscript Division, Huntington Cairns Papers, Container 33. 558 Nach Köck/Fischer, Internationale Organisationen (1997) 234, kann dies aus dem »Wortlaut« der UN-Charta nicht abgeleitet werden, es handle »sich hier um eine gewohnheitsrechtliche Änderung der Satzung.« 559 Métall, Kelsen (1969) 82.
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in der »Iowa Law Review« bzw. im »Canadian Journal of Economics and Political Science«.560 Kelsen analysierte hier v. a. Art. 19 der UN-Charta, der für säumige Beitragszahler einen Ausschluss vom Stimmrecht in der Generalversammlung vorsah, und Art. 6, der bei ständigem Verstoß gegen die Prinzipien der UNO einen gänzlichen Ausschluss ermöglichte. Kelsen kritisierte die mangelnde Präzision der Bestimmungen, aber auch ganz prinzipiell, dass nur Staaten, nicht Individuen bestraft werden könnten, womit die UN-Charta noch hinter dem Londoner Abkommen 1945 zurückbleibe.561 Dieser zuletzt genannte Gedanke wurde auch in dem kurzen, aber wichtigen Aufsatz über »Collective and Individual Responsibility for Acts of State in International Law« aufgegriffen, der im »Jewish Yearbook of International Law« für das Jahr 1948 erschien. In diesem verglich Kelsen u. a. die Rechtsgrundlagen der Kriegsverbrecherprozesse von Tokyo und Nürnberg: Erstere gingen unmittelbar auf die japanische Kapitulationsurkunde vom 2. September 1945 zurück, die von Japan, den USA, China, dem UK und der UdSSR unterzeichnet worden war. Demgegenüber enthielt die am 8. Mai 1945 in Berlin unterzeichnete Kapitulationsurkunde562 lediglich militärische Bestimmungen und war auch nicht von den Alliierten gegengezeichnet worden. Rechtsgrundlage für die Nürnberger Prozesse sei einzig das Londoner Abkommen vom 8. August 1945, das aber nicht nur von den Vier Alliierten, sondern auch von weiteren alliierten Mächten unterzeichnet worden war – Kelsen rückte hier von seiner These ab, dass das Londoner Abkommen ein Gesetzgebungsakt des deutschen Souveräns sei.563 Und er äußerte Unverständnis darüber, weshalb die UN-Charta keinerlei individuelle Verantwortlichkeit für Kriegsverbrechen vorsehe, wo es doch eine der Hauptaufgaben der UNO sei, Angriffskriege zu verhindern.564 Es bedurfte erst vieler weiterer Tote, bis sich die UNO ab 1993 zur allmählichen Etablierung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit entschließen konnte.565 Am 12. August 1948 hielt Kelsen bei einem regionalen Treffen der American Society of International Law in Seattle/WA einen Vortrag zum Thema »Collective 560 Auch hier ist wieder zu beachten, dass Kelsen, Sanctions (1946) 430–431, 433–435, 438 mit Kelsen, Sanctions in International Law (1946) 506–508, 516–521, 523 nahezu wortident sind und auch diese beiden Aufsätze, streckenweise wörtlich, in Kelsen, The Law of the United Nations (1950) 706–768 aufgingen. 561 Kelsen, Sanctions (1946) 438 sowie Kelsen, Sanctions in International Law (1946) 523. Vgl. dazu Sucharipa-Behrmann, Kelsens »Recht der Vereinten Nationen« (2004) 25 f. 562 Die in Reims am 7. 5. 1945 unterzeichnete Kapitulationserklärung war am 9. 5., rückwirkend mit 8. 5., in Berlin wiederholt worden, vgl. Stern, Staatsrecht V (2000) 913. 563 Kelsen, Collective and Individual Responsibility (1949) 236. Vgl. den wesentlich kürzeren Abschnitt in Kelsen, Law of the United Nations (1950) 738 f. 564 Kelsen, Collective and Individual Responsibility (1949) 239. 565 Mit SC Resolution 827 v. 25. 5. 1993, SCOR 1994, 29, wurde ein Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, mit der SC Resolution 955 v. 8. 11. 1994, SCOR 1996, 15, ein ebensolcher Gerichtshof für Ruanda geschaffen; am 17. 7. 1998 wurde das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofes, BGBl III 2002/188, unterzeichnet. Vgl. dazu auch Bernstorff, Peace and Global Justice (2016) 96 f.
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Security and Collective Self-Defense under the Charta of the United Nations [Kollektive Sicherheit und kollektive Selbstverteidigung gemäß der Charta der Vereinten Nationen]«, der noch im selben Jahr im AJIL publiziert wurde. In diesem Vortrag resümierte Kelsen noch einmal die allgemeiene Bedeutung einer Monopolisierung von Gewalt und meinte, dass dann, wenn die Einzelstaaten vollständig auf das Recht auf Selbstverteidigung verzichten und die Wahrung der Sicherheit einer internationalen Organisation anvertrauen würden, diese zu einem Welt-Staat werde.566 Davon sei die UNO noch weit entfernt. Aber wie in seinem Vortrag in Riverside 1945,567 so hob Kelsen auch hier hervor, dass die UN-Charta wesentlich weiter gehe als die Völkerbundsatzung, indem sie das zwischenstaatliche Gewaltverbot erheblich ausgedehnt habe; bedauerlich sei allerdings, dass der UN-Sicherheitsrat nicht direkt über eine bewaffnete Macht verfüge. Kelsen konnte aber nicht umhin, auch hier wieder zu bemängeln, dass mit dem Sicherheitsrat ein politisches Organ und nicht ein Gericht über den Einsatz militärischer Maßnahmen entscheide.568 Im März 1949 publizierte Kelsen in der »University of Pittsburgh Law Review« eine Analyse des Art. 103 UN-Charta, wonach Verpflichtungen aus dieser Charta allen anderen Verpflichtungen voranzugehen hätten. Er sah insbesondere eine Vereinbarkeit zwischen dieser Bestimmung und dem Briand-Kellogg-Pakt vom 27. August 1928 gegeben.569 b) Der Nordatlantikpakt und die UNO Wenig später, am 4. April 1949, unterzeichneten die USA, Kanada und zehn europäische Staaten den Nordatlantikpakt.570 Kelsen kommentierte diesen Schritt am 4. Juni in der liberalen Zeitung »The New Leader« und erklärte, dass die durch diesen Pakt geschaffene Organisation, die NATO, ein regionales Bündnis im Sinne des Art. 52 UN-Charta sei.571 Der zentrale Art. 5 des Nordatlantikpaktes berief sich direkt auf die UN-Charta, wenn er bestimmte, dass ein Angriff auf eines oder mehrere seiner Mitgliedsstaaten wie ein Angriff gegen alle Mitgliedsstaaten gewertet werden solle, und dass man im Falle einer kollektiven Selbstverteidigung im Sinne des Art. 51 UN-Charta sofort den UN-Sicherheitsrat verständigen und entsprechende Maßnahmen sofort beenden wolle, sobald der UN-Sicherheitsrat die notwendigen Schritte zur Friedenssicherung ergriffen habe. All dies, so Kelsen, stehe im Einklang mit der Charta.572
566 Kelsen,
Collective Security (1948) 784. 778. 568 Kelsen, Collective Security (1948) 789, 795. 569 Kelsen, Conflicts (1949) 292. Wörtlich in Kelsen, Law of the United Nations (1950) 111–121. 570 Bierling, Amerikanische Außenpolitik (2003) 108. 571 Zuvor hatte der Chefredakteur des »New Leader«, der Kelsen, Theory of Bolshevism (1948) gelesen hatte, Kelsen eingeladen, für seine Zeitung zu schreiben: S. M. Levitas, Schreiben an Hans Kelsen v. 25. 10. 1948, in: HKI, Nachlass Kelsen 16c7.60. 572 Kelsen, The Atlantic Pact (1949). 567 Oben
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Eine andere Meinung vertrat Sir William Eric Beckett, der Leiter der Rechtsabteilung des britischen Außenministeriums: Er veröffentlichte 1950 ein – von Kelsen so bezeichnetes – »Pamphlet«, in dem er der NATO den Status eines regionalen Bündnisses nach Art. 52 UN-Charta absprach, zumal dieser Artikel nicht von militärischen Bündnissen wie der NATO handle, sondern von Bündnissen, die Konflikte zwischen ihren Mitgliedern selbst lösen wollen.573 Kelsen trat dieser Behauptung mit einem Aufsatz, der im Jänner 1951 im AJIL veröffentlicht wurde, entgegen. Die von Beckett hervorgehobene Tatsache, dass die UN-Charta das »naturgegebene Recht zur Selbstverteidigung« (Art. 51 UN-Charta) im VIII. Kapitel der Charta über regionale Bündnisse nicht erwähne, schließe nicht aus, dass dieses Recht zum Gegenstand eines solchen Bündnisses gemacht werden könne. Er mutmaßte, dass die Schöpfer der UN-Charta diese Frage nicht geregelt hatten, weil sie nicht vorhersehen konnten, dass das System kollektiver Sicherheit, wie es in der Charta verankert sei, nicht funktionieren würde574 – deutlich ist hier Kelsens Enttäuschung über die Entwicklung, die die UNO in der Zwischenzeit genommen hatte, zu spüren! Eine andere Problematik rund um das Verhältns von NATO und UNO thematisierte Kelsen bereits 1949 an relativ entlegener Stelle, nämlich in der »Nordisk Tidsskrift for International Ret«,575 und sodann etwas breiter in der »University of Kansas City Law Review« sowie auch in der ZÖR.576 Immerhin waren zwei NATO-Mitglieder (Italien und Portugal) keine UNO-Mitglieder, Italien sogar ein »Feindstaat« im Sinne des Art. 107 UN-Charta. Kelsen hielt diesen Umstand durchaus mit seiner Aussage für vereinbar, dass der Nordatlantikpakt eine regionale Abmachung nach Art. 52 UN-Charta sei.577 Da aber die UN-Charta gemäß ihrem Art. 103 Vorrang vor allen anderen internationalen Übereinkünften habe, so gehe sie auch dem Nordatlantikpakt vor. Wenn also ein UN-Mitglied Feindseligkeiten gegen Italien eröffne, die von Art. 107 UN-Charta gedeckt seien, könnten die übrigen NATO-Mitglieder Italien nicht beistehen, ohne ihre Pflichten aus der UN-Mitgliedschaft zu verletzen.578 »Sollte Westdeutschland oder ein politisch geeintes Deutschland eine Partei des Nordatlantikpakts werden, hätte dieser Staat ein vitales Interesse, nicht als identisch mit dem Deutschen Reich, das ein Feindstaat mit vielen Signatarstaaten der Charta war, 573 Beckett,
North Atlantic Treaty (1950) 16, 21. Kelsen, North Atlantic Treaty (AJIL 1951)]. 575 Kelsen, The North Atlantic Defense Treaty (1949). Es ist unbekannt, weshalb Kelsen dieses Publikationsorgan (das von Juristen aus allen skandinavischen Ländern herausgegeben wurde) für seinen Aufsatz wählte; vermutlich folgte er einer Einladung von Edvard Hambro oder eines anderen Herausgebers. 576 Kelsen, North Atlantic Treaty (1950/51) 1; Kelsen, North Atlantic Treaty (ZÖR 1951) 145. Der an zweiter Stelle genannte Aufsatz stimmt über weite Strecken mit dem zuerst genannten wörtlich überein, weist jedoch einige Kürzungen auf. 577 Kelsen, The North Atlantic Defense Treaty (1949) 43; Kelsen, North Atlantic Treaty (1950/51) 10; Kelsen, North Atlantic Treaty (ZÖR 1951) 153 f. 578 Kelsen, The North Atlantic Defense Treaty (1949) 45; Kelsen, North Atlantic Treaty (1950/51) 14; Kelsen, North Atlantic Treaty (ZÖR 1951) 153. 574
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sondern – in Übereinstimmung mit den Fakten und dem positiven Völkerrecht – als ein neuer Staat angesehen zu werden«, so Kelsen.579 »Westdeutschland« – die auf dem Boden der drei westalliierten Besatzungszonen gegründete Bundesrepublik Deutschland – trat am 23. Oktober 1954 der NATO bei.580 Dieser Schritt wurde von Kelsen ebensowenig kommentiert wie der Staatsvertrag mit Österreich vom 15. Mai 1955 oder die Römischen Verträge vom 25. März 1957. Es ist in der Literatur mehrfach bedauert worden, dass es von Kelsen keine einzige Äußerung zur europäischen Integration gibt, dass alles, was von Seiten des kritischen Rechtspositivismus zur europäischen Integration gesagt wird, nur die Vermutung, nicht die Gewissheit haben kann, dass dies auch die Ansicht Kelsens gewesen wäre.581 Auch weshalb Kelsen schwieg, kann nicht sicher gesagt werden; zu bedenken ist jedoch, dass er im Jahre 1957 bereits 76 Jahre alt und in Berkeley längst emeritiert war. In seinem Alterswerk befasste sich Kelsen kaum noch mit tagespolitischen Ereignissen; vielmehr kehrte er zu den Fragen zurück, die ihm persönlich am wichtigsten waren: der Rechtstheorie, der antiken Rechtsphilosophie und der Suche nach der Gerechtigkeit. c) Das opus maximum: »The Law of the United Nations« Es waren daher auch wohl mehr beruflich-praktische Gründe als ein innerer Antrieb, die Kelsen in seiner Zeit als Professor an der UC Berkeley dazu veranlassten, sich immer tiefer mit dem Recht der Vereinten Nationen zu beschäftigen. Schon sehr früh fasste er den Entschluss, nicht nur Aufsätze, sondern ein ganzes Buch darüber zu schreiben, denn aus einem Brief Kelsens an Verdroß geht hervor, dass er die erste Fassung eines entsprechenden Manuskripts bereits im Herbst 1946 abgeschlossen hatte. Allerdings fand Kelsen lange Zeit keinen Verlag, »da meine rein juristische und sehr kritische Darstellung der Charter hierzulande nicht sehr geschaetzt wird.«582 Die University of Chicago Press zeigte 1947 Interesse, ersuchte aber, das Volumen auf maximal 250.000 Wörter zu beschränken.583 Dies war für Kelsen ein Ding der Unmöglichkeit; im Gegenteil wuchs sein Manuskript immer mehr an, da »in den Verhandlungen der 579 Kelsen,
The North Atlantic Defense Treaty (1949) 46. Staatsrecht V (2000) 1420–1423. 581 Vgl. zu diesem Problemkreis etwa Öhlinger, Einheit (2005) 168–172; Busch/Ehs, EUropa als Rechtsgemeinschaft (2008). Analysen des Verhältnisses von staatlichem Recht und Gemeinschaftsrecht auf Basis der Reinen Rechtslehre unternehmen u. a. Mayer, Reine Rechtslehre und Gemeinschaftsrecht (2004), und Potacs, EU-Recht (2018). 582 Hans Kelsen, Brief an Alfred Verdroß v. 10. 3. 1948, HKI, Nachlass Kelsen 16b12.59. Wie aus einem Schreiben von Kunz nur undeutlich hervorgeht, hatte sich Kelsen zuvor offenbar erfolglos an die Harvard University Press gewendet: Josef L. Kunz, Brief an Hans Kelsen v. 20. 2 . 1948, HKI, Nachlass Kelsen 16b1.59. Auch Grete Unger berichtete ihrem Vater von den Schwierigkeiten Kelsens, einen Verleger zu finden, und seinen Befürchtungen, dass sein Manuskript durch die vielen Verzögerungen veraltern und unbrauchbar werden könne: Grete Unger, Brief an Frederick Unger v. 15. 9. 1946, LBI Archives, Unger Family Collection, Box 26, Folder 22, p. 0053. 583 Fred Wieck (University of Chicago Press), Schreiben an Hans Kelsen v. 9. 10. 1947, HKI, Nachlass Kelsen 12IIe.52. 580 Stern,
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General Assembly und des Security Council ein immenses Material zur Interpretation der Charter« anfiel, das er »natuerlich beruecksichtigen« musste.584 Ein Antrag Kelsens beim Carnegie Endowment for International Peace auf finanzielle Unterstützung wurde von diesem abgelehnt.585 Es kann den Quellen letztlich nicht entnommen werden, ob die University of Chicago Press oder Hans Kelsen selbst vom Vorhaben, sein Buch in diesem Verlag herauszubringen, zurücktrat. Aber offenbar gelang es Kelsen, alte Kontakte nach Europa zu reaktivieren und das London Institute of World Affairs für sein Projekt zu begeistern. Dieses war, wie berichtet, 1943 aus dem New Commonwealth Institute hervorgegangen und hatte sich in einem schmerzhaften Trennungsprozess von der New Commonwealth Society selbstständig gemacht (woraus sich auch der neue Name erklärte); mittlerweile kooperierte es eng mit der juristischen Fakultät des University College London.586 Unter den »Auspizien« dieser Institution konnte Kelsen 1950 sein Buch »The Law of the United Nations« – mit 920 Seiten das umfangreichste, das er jemals verfasst hatte – als Band 11 der Schriftenreihe des Instituts, »The Library of World Affairs«, im Londoner Verlag Stevens & Sons herausbringen. Es war der Initiative eines jungen Exil-Österreichers, Frederick A. Praeger, zu verdanken, der durch Zufall auf das Buch aufmerksam wurde, dass »The Law of the United Nations« bereits kurz darauf auch im eben erst gegründeten Verlag von Praeger in New York erscheinen konnte.587 Das mit »Berkeley, California, Spring 1949« datierte Vorwort nahm keinen Bezug auf die mühevolle Entstehungsgeschichte der Arbeit oder auf seine Finanzierung, ist aber von besonderem Interesse, da es nicht nur die Aufgabe des Buches erläutert, sondern auch einige allgemeine Thesen zur juristischen Interpretation enthält.588 Das Buch sollte demnach keinen »politischen«, sondern einen »juristischen« Charakter haben, es sollte den Wortlaut der Charta interpretieren, d. h. alle möglichen Bedeutungen des Textes herausarbeiten – auch wenn die traditionelle Jurisprudenz selten zugebe, dass ein Text mehrere Bedeutungen haben könne.589 Was den »Willen des Gesetzgebers« betreffe, so gab Kelsen zu bedenken, dass jene Personen, die einen Text formulieren (also z. B. Legisten, wie es Kelsen selbst 1920 gewesen war), womöglich andere Intentionen haben als jene, die ihm Rechtskraft verleihen (wie z. B. Abgeordnete oder Delegierte). Eine eindeutige Erklärung einer Rechtsnorm könne 584 Hans
Kelsen, Brief an Alfred Verdroß v. 10. 3. 1948, HKI, Nachlass Kelsen 16b12.59. George A. Finch (Carnegie Endowment), Schreiben an Hans Kelsen v. 15. 6. 1948, HKI, Nachlass Kelsen 12IIe.52. 586 Ploẞ, Die »New Commonwealth Society« (2017) 221; vgl. auch den Hinweis bei Kelsen, Law of the United Nations (1950) 907 (diese Seite ist nur in Originaldrucken vorhanden). 587 Vgl. den anonym erschienenen Artikel »Praeger’s First 10 Years«, in: Publishers Weekly, 26. 9. 1960, 22–40; Métall, Kelsen (1969) 83. 588 Nach Paulson, Rezeption (1988) 191, handelt es sich sogar um eine von Kelsens »wichtigsten Darstellungen der Auslegungsproblematik« überhaupt. 589 Kelsen, Law of the United Nations (1950) XIII. Wie Paulson, Toward a Periodization (1990) 43, zu bedenken gibt, ist es praktisch ein Ding der Unmöglichkeit, sämtliche nur denkbaren Interpretationen eines Textes zu erkennen. 585
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nur durch »authentische Interpretation« erfolgen. Dazu zählte Kelsen – über den sonst üblichen Sprachgebrauch hinaus – nicht nur Akte des Gesetzgebers (die sich zwar als »Erläuterungen« verstehen, tatsächlich aber die verbindliche Kraft von Gesetzen haben), sondern auch Gerichtsentscheidungen, zumal ihnen ebenfalls verbindliche Kraft, wenn auch nur für den Einzelfall, zukomme. Jede andere Interpretation – also auch jene, die Kelsen selbst der UN-Charta gab – sei ein Akt der Wissenschaft und habe keine »rechtliche Bedeutung«.590 Damit erteilte Kelsen der Idee, die Rechtswissenschaft könne, zumindest im Bereich des Völkerrechts, die Funktion einer Rechtsquelle haben, eine klare Absage. »The Law of the United Nations« wird in der Sekundärliteratur vielfach als »Kommentar« zur UN-Charta bezeichnet.591 Dies ist ebenso unrichtig, wie wenn man behaupten würde, Joseph Ungers Darstellung des österreichischen Privatrechts sei ein Kommentar zum ABGB. Kelsen stellte in seinem Buch die Rechtsgrundlagen der Vereinten Nationen umfassend dar, folgte aber nicht der Reihung der 111 Artikel der UN-Charta, sondern stellte sie in einem von ihm erdachten System dar, dem er die einzelnen Artikel zuordnete, zuweilen dabei auch einzelne Artikelabsätze in verschiedenen Kapiteln behandelte.592 Damit gelang es ihm vielfach – so wie seinerzeit Unger beim ABGB593 – neue Zusammenhänge zu erkennen und dem Text eine Bedeutung zu geben, die man bei einer Darstellung, die der Gliederung der Charta selbst gefolgt wäre, nicht erkannt hätte. Die Bezeichnung »Kommentar« resultiert wohl v. a. aus dem Umstand, dass Kelsen den Wortlaut der einzelnen Artikel beim jeweiligen Kapitel abdruckte und sodann erläuterte. Der gesamte Text der UN-Charta wurde, ebenso wie das Statut des IGH, im Anhang zum Buch geschlossen abgedruckt, daran schloss sich ein Referenzverzeichnis an, auf welchen Seiten diese Artikel behandelt wurden.594 Besondere Beachtung verdient der – für Kelsen ungewöhnlich umfangreiche – Anmerkungsapparat. Hier ging Kelsen ausführlich z. B. auf die Entwicklungsgeschichte der einzelnen Bestimmungen ein oder führte Fallbeispiele an und machte so deren politische Dimension deutlich, während der Haupttext – ganz im Sinne des Postulats der Methodenreinheit – von solchen Ausführungen freigehalten wurde und sich ganz auf die dogmatische Erschließung des Textes selbst konzentrierte, sodass Haupttext und Fußnoten genaugenommen zwei »Geschichten« parallel zueinander erzählen.595 Wie schon in seinem Kommentar zur Völkerbundsatzung,596 so sparte Kelsen auch in seinem »Law of the United Nations« nicht mit Kritik an mangelhaften – weil zweideutigen – Formulierungen der Charta. Er bemängelte Widersprüchlichkeiten und 590 Kelsen,
Law of the United Nations (1950) XIV–XV. etwa Sucharipa-Behrmann, Kelsens »Recht der Vereinten Nationen« (2004) 21. 592 So etwa Art. 2 Abs. 2 auf den Seiten 87 ff., Art. 2 Abs. 3 und 4 auf den Seiten 90 ff., Art. 2 Abs. 6 auf den Seiten 106 ff. und 124 ff. 593 Dazu Ogris, Die Historische Schule (1969) 362 f. 594 Kelsen, Law of the United Nations (1950) 839–879. 595 Landauer, Antinomies (2003) 782. 596 Kelsen, Legal technique (1939); vgl. oben 638. 591 So
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bezeichnete so manches als »sonderbar [strange]«.597 Dies führte auch immer wieder dazu, dass Kelsen – getreu jenen Maximen, die er im Vorwort formuliert hatte – an vielen Stellen keine eindeutige Lösung für ein Problem geben mochte. Es könnte so sein – aber eine andere Lesart des Artikels würde zu einem anderen Ergebnis kommen. Dies erschwerte die Lektüre des Textes nicht unerheblich. Gegliedert war das Werk in drei Teile: Der erste Teil behandelte die Ziele der UNO und ging insbesondere auf die Präambel, auf die Friedenssicherung und die Menschenrechte ein. Der zweite Teil analysierte die Organisation der UNO (Mitgliedschaft, Organe, regionale Bündnisse, Rechtsstatus); der dritte erläuterte die Funktionsweise der UN-Organe und des IGH (wobei er erst an dieser Stelle, systemwidrigerweise, auch die Organisation des IGH erläuterte). Fast alle der oben angeführten, zwischen 1946 und 1949 publizierten völkerrechtlichen Aufsätze fanden sich im Buch wieder, zum Teil wörtlich, zum Teil wurden ihre Gedanken weiter ausgebaut und in die Systematik des Buches eingepasst.598 »The Law of the United Nations« stieß in der Wissenschaft auf unterschiedliche Reaktionen. Alf Ross z. B. verfasste eine Rezension, in der er den großen Materialwert der Arbeit anerkannte, aber Vorbehalte gegen Kelsens Methode äußerte.599 Oscar Schachter warf Kelsen vor, dass dieser seinen eigenen Anspruch, jede nur mögliche Interpretation darzulegen, nicht einhalten könne.600 Aber es mangelte auch nicht an Zuspruch und Lob für Kelsens Arbeit. Die American Society of International Law zeichnete das Buch am 26. April 1952 als »most distinguished work in the field of International Law« mit dem »Annual Award« aus.601 Und noch Jahrzehnte später erklärte der italienische Völkerrechtler Gaetano Arangio-Ruiz, Mitglied der International Law Commission, dass Kelsens Kommentar für jeden unentbehrlich sei, der sich mit der UN-Charta beschäftige.602 In der UN-Generalversammlung, im UN-Sicherheitsrat und in diversen Ausschüssen wurde Kelsens Buch immer wieder zitiert; Métall hat in seiner Kelsen-Biographie einige Beispiele dafür aufgezählt. Diese beweisen nicht zuletzt, wie recht Kelsen mit seiner Behauptung hatte, dass die Interpretation eines Textes fast immer zu mehr als einem Ergebnis kommen könne: Stützten sich doch u. a. sowohl der Vertreter des Irak als auch der Vertreter Israels im Rahmen einer verbalen Konfrontation im November 1955 auf Kelsens Darstellung der UN-Charta, um ihre einander entgegengesetzten Thesen zu untermauern.603 597 Landauer,
Antinomies (2003) 781. den vorherigen Abschnitten wurde auf diese Übereinstimmungen in den Fußnoten hingewiesen. 599 Ross, Buchbesprechung Kelsen (1950). 600 Paulson, Rezeption (1988) 195. 601 Proceedings of the 46th Annual Meeting of the American Society of International Law (1952) 174. Eine Kopie der Urkunde in: HKI, Nachlass Kelsen 15a28.57. 602 Cassese, Personal Recollections (1998) 387 [Interview mit Gaetano Arangio-Ruiz]. 603 Métall, Kelsen (1969) 83. 598 In
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d) Das Freie Territorium von Triest 1950 veröffentlichte Kelsen im »Year Book of World Affairs« eine Untersuchung des Status des Freien Territoriums von Triest.604 Aufbau und Stil deuten darauf hin, dass der Aufsatz auf ein entsprechendes Gutachten zurückging – dachte Kelsen bei Abfassung dieser Arbeit noch an jenen Verfassungsentwurf zurück, den er knapp dreißig Jahre vorher für den Freistaat Fiume verfasst hatte?605 Triest, an dem, Fiume entgegengesetzten, westlichen Ende der istrischen Halbinsel gelegen, war bis 1918 die wichtigste Hafenstadt Österreichs gewesen und dann an das Königreich Italien gefallen. Zu Ende des Zweiten Weltkrieges hatten jugoslawische Truppen die italienischen Besitzungen an der Ostadria erobert, darunter Fiume und auch Triest, letzteres jedoch auf internationalen Druck wieder räumen müssen. Während in den an Jugoslawien gefallenen Gebieten die italienische Bevölkerung vertrieben wurde, beschloss der UN-Sicherheitsrat am 10. Jänner 1947 mit der Resolution 16, dass das multiethnisch bewohnte Triest unter direkte Kontrolle der UNO kommen sollte. Eine entsprechende Klausel wurde in den Friedensvertrag zwischen den Alliierten und Italien aufgenommen, der exakt einen Monat später in Paris unterzeichnet wurde.606 Provisorisch wurde das Territorium in eine nördliche, das eigentliche Stadtgebiet mit umfassende Hälfte unter britisch-amerikanischer Besatzung, und eine südliche Hälfte unter jugoslawischer Besatzung geteilt. Ein Ständiges Statut, das eine einheitliche Verwaltung des Freistaates durch einen vom UN-Sicherheitsrat zu ernennenden Gouverneur vorsah, wurde ausgearbeitet, doch trat dieses niemals in Kraft.607 Hans Kelsen kritisierte die getroffenen Beschlüsse hart. Nicht nur, dass die Formulierungen vielfach widersprüchlich waren: Die Aufgaben, die dem UN-Sicherheitsrat laut Friedensvertrag zukommen sollten und die er sich selbst mit seiner Resolution aufgeladen hatte, fanden in der UN-Charta nach Ansicht Kelsens keine Deckung. Denn diese sehe weder vor, dass ein Nichtmitglied der UNO von derselben beschützt werde, noch gebe sie dem Sicherheitsrat die Kompetenz, seine Aufgaben eigenmächtig zu erweitern. Nichtsdestoweniger sah Kelsen das Freie Territorium von Triest als ein »staatenähnliches Gebilde unter der Souveränität der Vereinten Nationen« an.608 Es gelang der UNO auch in der Folge nicht, eine Zivilregierung für das Freie Terriorium von Triest zu etablieren. 1954 wurde vereinbart, dass die Verwaltung der nördlichen Zone provisorisch Italien, die der südlichen Zone Jugoslawien zukommen 604 Kelsen, Trieste (1950). Das Year Book wurde vom London Institute of World Affairs herausgegeben, das im selben Jahr auch Kelsens Monographie zur UN-Charta veröffentlichte. 605 Oben 304. 606 SC Resolution 16 v. 1. 1. 1947, SCOR 1964, 1. Der Friedensvertrag in: Cialdea/ Vismara, Documenti (1947); vgl. dazu Varsori, Il trattato (2006) – freundlicher Hinweis von Dr. Karlo Ruzicic-Kessler, Bozen/Wien. 607 Bianchini, I mutevoli assetti balcanici (1995). 608 Kelsen, Trieste (1950) 183 f. Kelsen verneinte damit »implied powers« der UN-Organe, wie sie eben zu jener Zeit vom IGH in einem Gutachten bejaht worden waren; vgl. dazu Sucharipa-Behrmann, Kelsens »Recht der Vereinten Nationen« (2004) 28.
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sollte; mit dem Vertrag von Osimo vom 10. November 1975 wurde das Territorium endültig zwischen Italien und Jugoslawien aufgeteilt.609 e) Die Weiterentwicklung der Vereinten Nationen nach 1950 Hans Kelsen hatte große Hoffnungen auf die Vereinten Nationen gesetzt, das internationale Recht nachhaltig zu verändern und dazu beizutragen, dass die zwischenstaatliche Gewaltanwendung einem Gewaltmonopol der UNO weiche. Die politischen Entwicklungen der 1950er Jahre brachten jedoch herbe Enttäuschungen. Der »Kalte Krieg«610 überschattete nahezu alle Aktivitäten des UN-Sicherheitsrates, in dem vor allem die UdSSR immer wieder ihr Veto gegen Beschlüsse der Westmächte einlegte und so blockierte. Der erste Generalsekretär der Vereinten Nationen, der Norweger Trygve Lie, versuchte in alle Richtungen zu vermitteln und geriet daraufhin selbst ins Kreuzfeuer der Kritik; als 1951 seine Wiederwahl durch die Generalversammlung anstand, weigerte sich die Sowjetunion, für eine erneute Nominierung durch den Sicherheitsrat gemäß Art. 97 UN-Charta zu stimmen, woraufhin Lie von der Generalversammlung am 1. November 1950 ohne entsprechenden Vorschlag des Sicherheitsrates wiedergewählt wurde – was Kelsen, in einem Zeitungsartikel vom 27. August 1951, für rechtswidrig erachtete.611 Für ebenso problematisch hielt Kelsen aber auch das Vorgehen der UNO in Korea: Am 25. Juni 1950 hatten nordkoreanische Truppen den 38. Breitengrad, die Demarkationslinie zwischen Nord‑ und Südkorea, überschritten, woraufhin der UN-Sicherheitsrat mit mehreren Resolutionen eine internationale Truppe zu einem militärischen Eingreifen ermächtigte.612 Diese Beschlüsse waren in Abwesenheit der Sowjetunion zustande gekommen. In seinem Aufsatz »Organization and Procedure of the Security Council« von 1946 hatte Kelsen noch klar zu verstehen gegeben, dass eine solche Stimmenthaltung einem Veto gleichkomme; in seiner Monographie von 1950 und nun auch in seinem Zeitungsartikel vom August 1951 rückte er davon etwas ab, hielt aber zumindest die Interpretation des Art. 27 Abs. 3 UN-Charta, dass sämtliche ständigen Mitglieder einem Beschluss ausdrücklich zustimmen müssten, weiter für denkbar.613 Angesichts der fortwährenden Blockade des Sicherheitsrates beschloss die UN-Generalversammlung, einer Idee des US-Außenministers Dean G. Acheson (Acheson- Plan) folgend, am 3. November 1950 die Resolution Nr. 377 »Uniting for Peace«. Demnach sollte es in Fällen, in denen der Sicherheitsrat »aufgrund von Unstimmigkeiten unter seinen ständigen Mitgliedern« nicht fähig war, seinen Aufgaben nach609 Bianchini,
I mutevoli assetti balcanici (1995). zu diesem Bierling, Amerikanische Außenpolitik (2003) 96 f. 611 Kelsen, Security Council (1951) 10. Vgl. auch Kelsen, Recent Trends (Supplement, 1951) 950–952. 612 Bierling, Amerikanische Außenpolitik (2003) 110–114. 613 Kelsen, Security Council (1951) 10; Kelsen, Law of the United Nations (1950) 240 f.; Kelsen, Recent Trends (Supplement, 1951) 940 f. Vgl. Rub, Kelsens Völkerrechtslehre (1995) 247. 610 Vgl.
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4. Teil: Amerika und die Welt
zukommen, möglich sein, direkt die UN-Generalversammlung anzurufen, und diese konnte geeignete Maßnahmen, auch solche militärischer Natur, empfehlen.614 Kelsen hielt auch dies für unvereinbar mit der UN-Charta.615 Diese und andere Entwicklungen drohten, der UNO eine ganz andere Rolle in der internationalen Politik zu geben, als dies 1945 gehofft worden war. Kelsen entschloss sich, 1951 seiner Monographie einen Ergänzungsband, betitelt »Recent Trends in the Law of the United Nations«, folgen zu lassen.616 Neben den vorhin genannten Problemen befasste sich dieses Supplementum insbesondere mit der Frage, ob der UN-Sicherheitsrat korrekt zusammengesetzt sei, zumal der chinesische Vertreter von der Kuomintang entsendet werde, diese aber schon seit geraumer Zeit die effektive Kontrolle über China (mit Ausname Taiwans) verloren habe. Aus der Sicht des allgemeinen Völkerrechts, so Kelsen, sei die einzige Regierung Chinas die kommunistische Regierung (die im Chinesischen Bürgerkrieg 1927–1949 den Sieg über die Kuomintang errungen hatte). Der UN-Sicherheitsrat sei somit nicht korrekt zusammengesetzt.617 Auch hier wieder folgte Kelsen der sowjetischen Ansicht, die aber von den übrigen Mitgliedern zurückgewiesen worden war. Erst 1971 wurde die kommunistische Regierung in Peking von der UNO als die einzige legitime Regierung Chinas anerkannt – und Taiwan verlor all seine Rechte in den Vereinten Nationen.618 Es ist auffällig, wie oft Hans Kelsen bei den juristischen Analysen des Weltgeschehens Partei für die sowjetische Seite ergriff und das Handeln der westlichen UN-Mitglieder für unvereinbar mit der UN-Charta, d. h. für rechtswidrig erklärte. Es wäre eine grobe Verkennung Kelsens, wollte man ihm hier eine Sympathie für die sowjetische Außenpolitik unterstellen; seine juristischen Analysen waren vielmehr das Ergebnis einer »saubere[n] Trennung«619 von Recht und Politik. Dass Kelsen persönlich mit dem offenbaren Versagen der UNO unzufrieden, ja unglücklich war, zeigt sich an seinen rechtspolitischen Überlegungen, die er ca. 1953/54 mündlich im Rahmen eines Symposiums anstellte, und die von unbekannter Hand niedergeschrieben wurden.620 Kelsen plädierte dafür, dass die Unterscheidung in Art. 27 UN-Charta 614 GA Resolution 377 (V ) v. 3. 11. 1950 (»Uniting for Peace«), GAOR 1951, 11; vgl. Köck/Fischer, Internationale Organisationen (1997) 216. 615 Kelsen, Acheson Plan (1950); Kelsen, Recent Trends (Supplement, 1951) 953–990 (mit Wortlaut der UN-Resolution zu Beginn); Kelsen, Future (1951). 616 Kelsen, Recent Trends (Supplement, 1951). Gewissermaßen eine Zusammenfassung des Supplementum-Bandes ist der gleichnamige Aufsatz [Kelsen, Recent Trends (Aufsatz, 1951)], der in der Zeitschrift »Social Research« erschien. 617 Kelsen, Recent Trends (Supplement, 1951) 943. 618 GA Resolution 2758 (XXVI) v. 25. 10. 1971 regarding the restoration of the lawful rights of the People’s Republic China in the United Nations, GAOR 1972, 2. 619 Kelsen, Reine Rechtslehre (1934) XI. 620 Bei dieser Niederschrift handelt es sich um ein 8-seitiges Typoskript mit dem Titel »How to Make the United Nations a Workable Organzation«. Die Niederschrift war offenbar Hans Kelsen unbekannt; er erhielt sie Anfang 1958 vom argentinischen Diplomaten José Arce, der selbst nicht genau wusste, woher sie stammte, aber meinte, dass sie mit jenen Gedanken übereinstimme, die Kelsen bei einem Symposium »four or five years ago« geäußert habe: José Arce, Schreiben an Hans Kelsen v. 2. 1. und v. 15. 2 . 1958, sowie Memorandum, alles in: HKI, Nachlass Kelsen 15s.58.
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zwischen Verfahrensentscheidungen und sonstigen Entscheidungen aufgegeben und dafür eine neue Unterscheidung zwischen juristisch bindenden und nicht bindenden Entscheidungen getroffen werden sollte. Für juristisch bindende Entscheidungen sollte ein Quorum von sieben aus elf Mitgliedern, einschließlich einer Mehrheit der ständigen Mitglieder gelten, d. h. bei einer Zustimmung von drei ständigen Mitglieder wären noch die Stimmen von vier der sechs nichtständigen Mitglieder nötig. Für juristisch nicht bindende Äußerungen des Sicherheitsrates sollte die einfache Mehrheit seiner Mitglieder, d. h. sechs von elf Stimmen, ausreichen. Kelsen selbst hat diese Gedanken niemals verschriftlicht,621 und es ist unbekannt, wie er darauf reagierte, als er – vier Jahre später – erfuhr, dass sie von einem Dritten zu Papier gebracht worden waren; die Niederschrift wurde jedenfalls niemals autorisiert oder veröffentlicht. Kelsen hatte sichtlich sein Interesse an der UNO, die ihn ebenso wie der Völkerbund enttäuscht hatte, verloren. f ) Die ILC und der Entwurf über Rechte und Pflichte der Staaten Bereits 1924 hatte der Völkerbund beschlossen, ein Expertenkomitee zu schaffen, das eine Kodifizierung des Völkerrechts vorbereiten sollte. Diesen Versuchen war jedoch kein Erfolg beschieden.622 Art. 13 UN-Charta sah dann vor, dass die Generalversammlung »Studien und Empfehlungen« zur »Entwicklung des Völkerrechts und seiner Kodifikation« initiieren sollte, und bereits in ihrer zweiten Sitzung sprach sich die Generalversammlung für die Schaffung einer International Law Commission (ILC) aus, die dann mit der Resolution Nr. 174 vom 17. November 1947 auch errichtet wurde.623 Bereits wenige Tage später, am 21. November 1947, beschloss die Generalversammlung, dass diese Kommission eine »Deklaration über die Rechte und Pflichten der Staaten« erstellen solle. Die ILC nahm 1949 ihre Tätigkeit auf und beriet sehr rasch einen solchen Entwurf, der der Generalversammlung am 3. Dezember 1949 vorgelegt wurde. Der aus einer Präambel und 14 Artikeln bestehende Entwurf war eine Art Grundrechtskatalog für Staaten, offenbar in Weiterführung einer bereits 1933 in Montevideo unterzeichneten Konvention,624 die damals von den meisten amerikanischen Staaten (jedoch nur diesen) unterzeichnet worden war. Die neue Deklaration aber sollte für alle Mitgliedsstaaten der UNO gelten. Kelsen kommentierte den Entwurf für das April-Heft 1950 des AJIL. Schon die Bezeichnungals »Deklaration« fand Kelsen unglücklich, weil nicht klar sei, ob damit nur allgemeines Völker(gewohnheits)recht niedergeschrieben, oder neues Völkerrecht geschaffen werden solle. Das Wort »Deklaration« scheine auf ersteres hinzuweisen, 621 Unrichtig
daher Métall, Kelsen (1969) 84, wonach Kelsen die Studie selbst verfasst habe. [Zugriff: 29. 7. 2019]. 623 GA Resolution 174 (II) v. 21. 11. 1947 regarding the establishment of an International Law Commission, GAOR 1948, 105; vgl. Kelsen, Law of the United Nations (1950) 163; Köck/Fischer, Internationale Organisationen (1997) 218. 624 League of Nations Treaty Series No. 3803. 622 http://legal.un.org/ilc/league.shtml
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doch enthalte der Entwurf eine Reihe von Rechten, die sicherlich zuvor noch nicht allgemein anerkannt waren, wie etwa die Verpflichtung, Streitigkeiten friedlich zu regeln.625 Daran schlossen sichweitere Kritikpunkte an: So erklärte etwa Art. 1 des Entwurfes das Recht eines Staates auf »Unabhängigkeit«, worauf Kelsen meinte, dass dies kein Recht sei, sondern das Wesen eines Staates ausmache.626 Von allgemeiner, über den Entwurf hinausgehender Bedeutung ist Kelsens Kommentierung von Art. 5, wonach jeder Staat das »Recht auf rechtliche Gleichheit [right to equality in law]« besitze. Auch hier erklärte Kelsen, dass man von einem Recht auf rechtliche Gleichheit kaum sprechen könne. Er machte einen Exkurs über den Gleichheitssatz, wie man ihn in vielen Verfassungen in Bezug auf Personen des staatlichen Rechts kenne. Hier gebe es ja spezielle Diskriminierungsverbote, etwa bezüglich des Geschlechts, der Religion oder der Rasse. Aber wie weit die Ungleichbehandlungen gehen dürfen, darüber bestehe keine Einigkeit. Aus dem Gleichheitssatz selbst könne keine Lösung gewonnen werden, er besage nicht mehr und nicht weniger, als dass die Gesetze so vollzogen werden sollen, wie es das Gesetz vorsehe – was auf eine Tautologie hinauslaufe. Und dies gelte auch für das Völkerrecht: »Gleichheit« könne nur bedeuten, dass jeder Staat so behandelt werden müsse, wie es das Völkerrecht vorsehe – was »nichtssagend« sei. Eine andere Lesart würde bedeuten, dass wirklich jeder Staat gleich behandelt werden müsse, dass man also diese Pflicht verletze, wenn man in einem internationalen Vertrag einem Staat ein Recht gewähre, das man nicht allen anderen Staaten auch gewähre. Und dies könne keinesfalls gemeint sein.627 Der Entwurf der ILC wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen »zur Kenntnis genommen« und den Mitgliedsstaaten weitergeleitet, verbunden mit der Frage, ob die Generalversammlung weitere Schritte in Bezug auf diese Erklärung unternehmen solle – was nicht erfolgte. Sicherlich waren es nicht Kelsens Kritiken, sondern der mangelnde politische Wille, die es verhinderten, dass die Deklaration jemals rechtliche Verbindlichkeit erlangte. Kelsen selbst wurde – im Gegensatz etwa zu Lauterpacht oder Verdroß – niemals Mitglied der ILC. Aber er gehörte, gemeinsam mit Kunz, einem Komitee der American Association for International Law an, das sich mit Rechtsproblemen der Vereinten Nationen befasste. Dieses Komitee erstellte u. a. 1952 ein Gutachten zur Frage, ob die Regeln des Kriegsvölkerrechtes auf bewaffnete Maßnahmen der UNO anwendbar seien.628 Die Antwort des Komitees fiel differenziert aus, indem es erklärte, dass die UNO zwar nicht alle, aber doch immerhin einige Regeln des Kriegsvölkerrechtes (etwa hinsichtlich der Kriegsgefangenen) beachten solle. Ob derartige Maßnahmen 625 Kelsen, Rights and Duties of States (1950) 261. Vgl. dazu Köck/Fischer, Internationale Organisationen (1997) 219, wonach eine Unterscheidung zwischen »Kodifikation und Weiterentwicklung […] materiell gar nicht möglich« sei und daher auch sonst nicht von der ILC gemacht wurde. 626 Kelsen, Rights and Duties of States (1950) 267. 627 Kelsen, Rights and Duties of States (1950) 269. 628 Abgedruckt in: Proceedings of the 46th Annual Meeting of the American Society of International Law (1952) 216–220.
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der UNO überhaupt als Krieg bezeichnet werden können oder nicht, wurde bewusst nicht beantwortet. Insgesamt zeigte das Gutachten eine deutliche Handschrift Kelsens und seiner Schule. g) »Principles of International Law« Im Frühjahr 1952, kurz vor seiner Emeritierung an der UC Berkeley und quasi als Abschied von dieser Universität, erschien im Verlag Rinehart & Company die 461 Seiten starke Monographie »Principles of International Law« von Hans Kelsen. Es handelte sich um ein Lehrbuch, das aus seiner gleichnamigen Vorlesung hervorgegangen war; dass es in einem New Yorker Verlag und nicht in der UC Press veröffentlicht wurde, erklärt sich aus dem Umstand, dass das Buch das dritte in einer, von der Fletcher School herausgegebenen Reihe, »Fletcher School Studies in International Law«, darstellte. Wie aus der Titelei hervorgeht, hatte auch der an dieser Schule unterrichtende Leo Gross vor, in dieser Reihe zwei Bücher, nämlich ein Lehrbuch und ein Textbuch zu den Internationalen Organisationen zu veröffentlichen. Dazu kam es niemals, doch ist davon auszugehen, dass Gross seinen »Onkel« dazu überredet hatte, seine Vorlesungsunterlagen auszubauen und in dieser Reihe zu veröffentlichen. Gewidmet war Kelsens Buch jedoch nicht seinem »Neffen«, sondern Josef L. Kunz, dem er so viel zu verdanken hatte.629 Dass das Buch aus Vorlesungen am Political Science Department der UC Berkeley hervorgegangen war, wird u. a. daran deutlich, dass Kelsen im Vorwort erklärte, dass die Leserschaft seines Buches nicht nur Studenten der Rechtswissenschaften sein sollten, weshalb er der eigentlichen Darstellung einige allgemein rechtswissenschaftliche Erörterungen voranstellen wolle. Zugleich betonte er, dass er das Völkerrecht – auch wenn dies ein Pleonasmus sei – rein rechtlich behandeln wolle. Wenn andere Völkerrechtler meinen, dass ein stärker »politischer Zugang« adäquater sei, sei dies nichts anderes als ein Versuch zu rechtfertigen, weshalb in dem einen oder anderen Falle eine Norm, die eigentlich angewendet werden müsste, nicht angewendet werde.630 Kelsen behandelte in den »Principles« das Allgemeine Völkerrecht, d. h. jene Rechtsnormen, die Verbindlichkeit für die gesamte Völkergemeinschaft beanspruchten; das »partikuläre« Völkerrecht, das insbesondere durch internationale Verträge für einzelne Völkerrechtssubjekte geschaffen worden war, wollte er nur beispielhaft anführen. Dies galt insbesondere auch für das Recht der UNO, auf das er zwar zum Teil ausführlich einging,631 das aber weder vollständig, noch gar systematisch dargestellt wurde; der Inhalt von Kelsens »Principles« ist also deutlich verschieden vom »Law of the United Nations«, auch wenn viele Probleme des Buches von 1950 in der Darstellung 629 Vgl.
die Hinweise bei Kelsen, Principles (1952) II, V. Principles (1952) VII–VIII. 631 So etwa Art. 2 Abs. 7 UN-Charta, wonach sich die UNO in bestimmte innere Angelegenheiten des Staates nicht einmischen dürfe (was Kelsen schon 1946 kritisiert hatte, vgl. oben 778): Kelsen, Principles (1952) 196–201. 630 Kelsen,
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von 1952 wieder auftauchten, ja es sollten wohl die »Principles« jedem als Vorablektüre empfohlen werden, der das »Law of the United Nations« recht verstehen will, zumal es die theoretischen Grundlagen des Völkerrechts enthält, auf denen die dogmatische Darstellung der UN-Charta aufbaut. Die auf Hugo Grotius zurückgehende, in älteren Lehrbüchern übliche Zweiteilung des Völkerrechts in ein Recht des Krieges und ein Recht des Friedens übernahm Kelsen für seine Arbeit nicht; vielmehr wurde der Krieg im Rahmen des ersten Teiles seines Buches, der vom Wesen des Völkerrechtes handelte, als eine der für das Völkerrecht typischen Sanktionen dargestellt. »Krieg« war für Kelsen also kein Status und auch nicht notwendigerweise eine zweiseitige Handlung; vielmehr bezeichnete er ihn als eine (je nach Sachverhalt legale oder illegale) einseitige, militärische Aktion, die eine (je nachdem: illegale oder legale) militärische Gegenaktion, einen »counterwar«, hervorrufen könne, aber nicht müsse. Ausführlich behandelte Kelsen dieses Problem und die Bedingungen, unter denen militärische Aktionen durchgeführt werden dürften; das eigentliche Kriegsvölkerrecht, d. h. die zahlreichen Verträge und Abkommen über die Kriegsführung wie z. B. die Haager Landkriegsordnung, wurden von ihm eher uninspiriert referiert.632 Der zweite Teil von Kelsens Arbeit behandelte Fragen des Geltungsbereiches des Völkerrechts, insbesondere, ob nur Staaten Völkerrechtssubjekte sein könnten, und ob Völkerrecht in staatliches Recht transformiert werden müsse, um innerstaatlich Geltung zu haben (Kelsen verneinte bekanntlich beides).633 Die »essentielle Funktion des Völkerrechts« behandelte Kelsen im dritten Teil: die Regeln des Völkerrechts, die die Grenzen staatlichen Rechts bestimmten, also den territorialen und personellen Geltungsbereich des staatlichen Rechts, aber auch Fragen wie Entstehung und Untergang von Staaten. Kelsen erklärte zu Recht, dass eine derartige Darstellung eigentlich schon eine gewisse Rangordnung von staatlichem und Völkerrecht nahelege, dass nämlich das Völkerrecht dem staatlichen übergeordnet sei. Aber diese Frage hob er sich für den Schluss auf, zumal man auch unter Zugrundelegung eines Primats des staatlichen Rechts Normen behandeln müsse, die die oben genannten Materien regeln. Im gegenständlichen Teil des Buches ging er den einzelnen Problemen anhand einer Reihe von Fällen nach; dabei behauptete er u. a. eine völkerrechtliche Identität der Türkischen Republik mit dem Osmanischen Reich, nicht jedoch eine Identität der Republik Österreich mit der Österreichisch-Ungarischen Monarchie.634 Stärker theoretisch ausgerichtet war dann wieder der vierte Teil über »Erzeugung und Anwendung des Völkerrechtes«, in dem er auf die Quellen des Völkerrechts zu sprechen kam. Als solche nannte Kelsen das Völkergewohnheitsrecht und das Völkervertragsrecht. Zwar werden in Art. 38 des Statuts des IGH auch die »von 632 Kelsen,
Principles (1952) 28, 64–89. Principles (1952) 93–202. Vgl. dazu schon oben 529 und 597. 634 Kelsen, Principles (1952) 206, 261. 633 Kelsen,
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den zivilisierten Nationen anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze« als ein Beurteilungsmaßstab des IGH angeführt, doch sei es zweifelhaft, ob diesen Grundsätzen die Qualität einer Völkerrechtsquelle zukommen könne, schon angesichts der großen ideologischen Gegensätze zwischen den Mitgliedern der Völkerrechtsgemeinschaft, bei denen kaum ein Rechtsgrundsatz »allgemein anerkannt« sei.635 Abgesehen davon, stelle sich die Frage nach weiteren Quellen – außer den beiden zuvor genannten – nicht: Werde eine Rechtsfrage durch Völkergewohnheitsrecht oder Völkervertragsrecht eindeutig geregelt, so müsse sich das Völkerrechtssubjekt an diese Regeln halten, wenn nicht, so sei es in seinem Handeln frei. Eine »Rechtslücke« könne es hier nicht geben – oder nur in dem Sinne, dass das auf diese Weise gewonnene Ergebnis politisch unerwünschte Folgen habe.636 Das Völkervertragsrecht habe seine Grundlage im Prinzip »pacta sunt servanda«, das selbst aber Teil des Völkergewohnheitsrechts sei. Dieses stelle somit den Geltungsgrund für jenes dar; die Frage aber, weshalb das Völkergewohnheitsrecht gelte, könne nur mit einer »fundamentalen Annahme« beantwortet werden: der »Hypothese, dass die Völkergewohnheit ein rechtserzeugendes Faktum« sei.637 Auf diese Problematik kam Kelsen im fünften und letzten Teil, »International and National Law«, zurück, als er seine Thesen über Monismus und Dualismus, über Primat des nationalen und Primat des internationalen Rechtes zusammenfasste. Und wie schon in so vielen anderen Arbeiten zuvor, so ließ Kelsen auch in seinen »Principles of International Law« die Wahl zwischen den beiden monistischen Hypothesen – die »aus wissenschaftlicher Sicht irrelevant« sei – offen und erklärte sie für eine Frage »ethischer oder politischer Präferenzen«.638 Mitte der 1960er Jahre war Kelsens Buch »Principles of International Law« vergriffen, und der Verlag Rinehart (der mittlerweile mit zwei anderen Verlagen zum Verlag »Holt, Rinehart and Winston« fusioniert worden war) fragte Kelsen, ob er eine Neuauflage vorbereiten könne, doch dieser zeigte wenig Interesse. Stattdessen fragte er Robert W. Tucker, der im Frühjahrssemester 1946 Kelsens Vorlesung aus »Principles« besucht hatte und mittlerweile selbst Professor an der Johns Hopkins University war, ob dieser die Neuauflage in Angriff nehmen wolle. Tucker sagte gerne zu. Kelsen las die Änderungsentwürfe seines jüngeren Kollegen und machte da und dort Vorschläge, ließ ihm aber ansonsten weitgehend freie Hand.639 Tucker erweiterte insbesondere die Abschnitte zum Krieg; im Übrigen änderte er am ursprünglichen Text nur wenig, sodass er sich von der ersten Auflage hauptsächlich durch Zusätze und Aktualisierungen unterschied.640 635 Kelsen, Principles (1952) 393. Vgl. dazu Kammerhofer, Die allgemeinen Rechtsprinzipien (2014) 30. 636 Kelsen, Principles (1952) 305. 637 Kelsen, Principles (1952) 190, 314, 418. 638 Kelsen, Principles (1952) 447. 639 Dies teilte mir Robert W. Tucker in einem Schreiben vom 28. 7. 2018 auf eine entsprechende Anfrage hin mit; ich danke Prof. Tucker herzlich für seine Auskünfte. 640 Kelsen/Tucker, Principles (1966). Vgl. dazu auch Paulson, Rezeption (1988) 198.
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4. Die USA in der McCarthy-Ära a) Hexenjagd Am 22. Jänner 1953 wurde am Broadway ein neues Stück von Arthur Miller uraufgeführt: »The Crucible [Hexenjagd]«. Es hatte die Hexenprozesse in Salem/MA aus dem Jahr 1692 zum Gegenstand, bei denen mehr als 200 Personen der Hexerei beschuldigt und 19 von ihnen hingerichtet worden waren. Miller zeichnete die historischen Ereignisse mit dichterischer Freiheit nach; ihm ging es nicht um detailgetreue Historizität, sondern er wollte zeigen, wie angesehene Bürgerinnen und Bürger durch ein Netz aus Denunziationen, Lügen und Intrigen vernichtet werden konnten, und dass jeder, der ihnen beistehen wollte, fürchten musste, dass es ihm genauso ergehe.641 Damit hielt Miller der amerikanischen Gesellschaft einen Spiegel vor Augen angesichts der kaum noch überblickbaren Zahl von Anschuldigungen und Anzeigen, die in jener Zeit gegen unbescholtene Bürger ergingen, sie hätten »unamerikanische Umtriebe« gepflogen, hätten mit kommunistischen Kreisen verkehrt oder – was nach Meinung vieler offenbar auf dasselbe hinauslief – direkt für die Sowjetunion spioniert. Die »Red Scare«, die Angst vor dem bolschewistischen Feind, war nur kurz während des Zweiten Weltkrieges von einer Zweckpartnerschaft verdrängt worden; spätestens mit der Truman-Doktrin vom 12. März 1947, die den Antikommunismus zu einem Grundsatz der amerikanischen (Außen‑)Politik machte, hatte der »Kalte Krieg« (erneut) begonnen.642 Zehn Tage später, am 22. März, ordnete Präsident Truman an, dass sämtliche Bundesangestellten auf ihre politische Loyalität überprüft werden sollten; mehrere Millionen Untersuchungen folgten, von denen zwar nicht einmal ein Promille zu Entlassungen führten, die aber in den gesamten USA ähnliche Maßnahmen bewirkten.643 Nach dem republikanischen Senator Joseph McCarthy, der 1952–1954 in dem von ihm geleiteten Government Operations Committee mehr als 600 Personen nach angeblichen kommunistischen Umtrieben befragte, ist das gesamte Dezennium von 1947 bis 1957 als »McCarthy-Ära« in die Geschichte eingegangen.644 In diesem Zusammenhang beschlossen die Regents der University of California am 25. März 1949, allen Angestellten der Universität einen »Loyalitätseid« zur amerikanischen Verfassung abzuverlangen, der auch einen Hinweis auf die antikommunistische Maxime der Universität, wie sie schon seit 1940 festgelegt war, enthalten sollte. Anlass dafür war u. a. die Einladung der UC Los Angeles an Harold Laski zu einem Vortrag gewesen, die wegen dessen »linksextremer [far-left]« Haltung von einigen Regents, auch von Präsident Sproul, stark kritisiert worden war.645 Laski war, wie berichtet, 641 Bigsby,
Arthur Miller (2008) 411 ff., 440 ff. Amerikanische Außenpolitik (2003) 102. 643 Ernst, Law and the State (2008) 17; R athkolb, Hans Kelsen und das FBI (2009) 342. 644 Bischof, Politics of Anti-Communism (1995); Keil, McCarthyism (1995). 645 http://www.lib.berkeley.edu/uchistory/archives_exhibits/loyaltyoath/timeline1949_2.html [Zugriff 25. 5. 2019]; Stadtman, The University of California (1970) 324. 642 Bierling,
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mit Kelsen freundschaftlich verbunden; ob aber Kelsen in die Angelegenheit irgendwie involviert war, oder ob es damals überhaupt zu einem persönlichen Treffen zwischen Kelsen und Laski kam, ist unbekannt. Was den Eid betraf – über dessen genaue Formulierung in den folgenden Wochen heftig debattiert wurde646 –, so zählte Kelsen zwar nicht zu seinen Befürwortern, stand aber auch nicht in der ersten Reihe derjenigen, die ihn als Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit heftig kritisierten. Der »Harvard Crimson«, eine Studentenzeitung der Harvard University, brachte am 1. November 1950 ein Statement Kelsens, der eben zu jener Zeit Gastprofessor in Harvard war, wonach der Eid »sicherlich überflüssig«, aber auch nicht das »Ende der akademischen Freiheit in unserem Land« sei.647 Der Aufforderung Präsident Sprouls, den Eid bis 1. Oktober 1949 abzulegen, hatte Kelsen, so wie fast alle Angestellten der University of California, offenbar Folge geleistet. Dafür existieren zwar keine unmittelbaren Quellen, doch zählte Kelsen auch nicht zu jenen 150 Personen, die auch noch bei einer Versammlung im Februar 1950 erklärten, dass sie eher ihre Entlassung akzeptieren, als den Eid ablegen würden. Der Widerstand, der sich gegen den Eid formiert hatte, war unerwartet stark, und auch viele Universitätsangehörige, die den Eid abgelegt hatten, setzten sich für ihre eidverweigernden Kollegen ein. Letztlich, im August 1950, kam es aber doch zu insgesamt 31 Entlassungen, darunter zu der von Kelsens Institutskollegen Harold Winkler.648 Der erst 36-jährige Winkler hatte an der Harvard University eine Dissertation »The Way is Freedom« verfasst, weshalb es nicht Wunder nimmt, dass er ganz besonders gegen die Einschränkung der persönlichen Freiheit durch den Loyalty Oath protestierte. 1940–1942 hatte Winkler auch selbst in Harvard gelehrt, weshalb er wohl schon damals Kelsen kennengelernt hatte. Später war er zur Marine gegangen und mit der »Bronze Star Medal« dekoriert worden. Es ist bezeichnend, dass die Harvard University Winkler schon kurz nach seiner Entlassung eine Visiting Lecture anbot. Der »Harvard Crimson« berichtete am 11. Dezember 1950 ausführlich darüber und zitierte erneut Kelsen, der sein Bedauern über die Entlassung Winklers ausdrückte, zumal dieser einer der beliebtesten Professoren am Campus von Berkeley gewesen sei.649 Entlassen wurde auch der bereits 64-jährige, angesehene Psychologieprofessor Edward C. Tolman (1937/38 Präsident der American Psychological Association), der jedoch dagegen Klage erhob. Am 6. April 1951 erklärte der Court of Appeal die Entlassung Tolmans für unrechtmäßig, zumal die Regents mit dem Loyalty Oath das 646 Der
endgültige Wortlaut bei R athkolb, Hans Kelsen und das FBI (2009) 344. Kelsen, 62–90082, serial 26, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. 648 http://www.lib.berkeley.edu/uchistory/archives_exhibits/loyaltyoath/timeline1950_1.html [Zugriff 25. 5. 2019]; Stadtman, The University of California (1970) 335. Das Vorlesungsverzeichnis (General Catalogue 1949–50, 407) vermerkt bei Winkler noch »absent on leave«, im darauffolgenden Jahr scheint Winkler nicht mehr auf. Zu den Entlassenen zählte auch der aus Deutschland stammende Historiker Ernst Kantorowicz, vgl. dazu Wimmer, Kantorowicz’s Oaths (2014). 649 So nach einem Bericht des »Harvard Crimson« v. 11. 1 2. 1950, zit. n. FBI-File Kelsen, FBIAgent »SAC« an das FBI, 20. 3. 1953, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. Vgl. auch R athkolb, Hans Kelsen und das FBI (2009) 344. 647 FBI-File
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verfassungsrechtliche Gebot verletzt hätten, dass die Universität frei von allen politischen Einflüssen sein müsse. Dies wurde vom Supreme Court des Staates Kalifornien am 17. Oktober 1952 bestätigt.650 Die Universitätsleitung musste nunmehr die Entlassungen zurücknehmen bzw. Schadenersatz leisten; Tolman und auch Winkler erhielten ihre Positionen an der UC Berkeley zurück. Doch blieb Winkler ein »Problemfall« für die Universität: Im Oktober 1953 hielt er eine Rede, worauf ihm die Regents erneut mit Entlassung drohten; der Fall gelangte sogar vor die American Association of University Professors, die dies als eine Bedrohung der intellektuellen Freiheit bezeichneten.651 Später wurde Harold Winkler Präsident der »Pacifica Foundation«, einer Non-Profit-Organisation, die bis heute den progressiven Radiosender »Pacifica Radio« betreibt. Mit Kelsen blieb er freundschaftlich verbunden.652 b) »The Political Theory of Bolshevism« Vor diesem Hintergrund ist die 60-seitige Broschüre von Hans Kelsen mit dem Titel »The Political Theory of Bolshevism. A Critical Analysis« zu bewerten. Sie erschien im September 1948 als Band 2 der »University of California Publications in Political Science«, wobei unbekannt ist, ob sie Kelsen aus eigenem Antrieb oder auf Ersuchen, anderer, vielleicht gar der Universitätsleitung, verfasst hatte. Die sehr allgemein gehaltene, nicht allzuweit in die Tiefe gehende Befassung mit dem Thema, die den Eindruck erweckt, dass die Broschüre für ein breites Lesepublikum, womöglich für Studierende gedacht war, würde dafür sprechen.653 Jedenfalls passte die Schrift gut in die antikommunistischen Strömungen jener Jahre, indem sie eine scharfe Kritik des »Bolschewismus« enthielt. Kelsen verwendete dieses Wort für jene Ideologie, die den tatsächlichen Machtverhältnissen in der Sowjetunion anno 1948 zugrunde lag – in scharfer Abgrenzung vom Marxismus als der ursprünglichen, von Karl Marx und Friedrich Engels entwickelten Lehre eines wissenschaftlichen Sozialismus. »Marx und Engels sagten das Absterben des Staates als eine automatische Folge der Etablierung des Sozialismus in einem Staat voraus. Da diese Entwicklung erwiesenermaßen in Sowjetrussland nicht stattfand, waren Lenin und Stalin gezwungen, die ursprüngliche Doktrin zu modifizieren, indem sie das Absterben des Staates auf den Zeitpunkt nach hinten verlegten, wenn der Sozialismus auf der ganzen Welt realisiert sein werde.«654 Damit sei die paradoxe Situation entstanden, dass die Theorie des Bolschewismus eine Anarchie, die Realität aber eine totalitäre Diktatur sei. 650 http://www.lib.berkeley.edu/uchistory/archives_exhibits/loyaltyoath/timeline1951_1956. html; [Zugriff 25. 5. 2019]; Stadtman, The University of California (1970) 337. 651 San Francisco Chronicle v. 16. 1. 1954, Zeitungsausschnitt in UC Berkeley, Bancroft Library, MSS 73/79, Box 42. Vgl. auch Stadtman, The University of California (1970) 377. 652 So richtete Winkler Kelsen 1961 zu dessen 80. Geburtstag herzliche Glückwünsche aus und bot ihm an, eine Radiosendung mit ihm aufzuzeichnen: Harold Winkler, Brief an Hans Kelsen v. 20. 10. 1961, HKI, Nachlass Kelsen 15c4.57. 653 Der »General Catalogue« enthält allerdings keine Hinweise auf eine entsprechende Lehrtätigkeit Kelsens, vgl. Gassner, Kelsen und die sowjetische Rechtslehre (2016) 154. 654 Kelsen, Theory of Bolshevism (1948) 1.
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Die zentrale Frage Kelsens war, ob die Sowjetunion eine Demokratie, womöglich eine »bessere und perfektere Form der Demokratie« als die »kapitalistische Demokratie« sei, zumal von kommunistischer Seite behauptet werde, dass sie nicht nur »formell-politisch«, sondern auch »substantiell-ökonomisch« eine Demokratie sei.655 Die darauf folgenden Ausführungen wiederholten großteils das, was Kelsen schon 1920/1923 in den beiden Auflagen seines Buches »Sozialismus und Staat« sowie 1935 in seinem Aufsatz über »La dictature de parti« geschrieben hatte. Erweitert wurde dies insbesondere durch längere Ausführungen zu den Ansichten von Lenin und Stalin, die er auch mehrmals wörtlich zitierte und den Thesen von Marx und Engels gegenüberstellte.656 Die beiden Philosophen des 19. Jahrhunderts hatten die sozialistische Machtergreifung im demokratischen Wege propagiert, was von Lenin jedoch verworfen wurde. Die theoretischen Ausführungen Lenins korrespondierten nach Ansicht Kelsens mit der Tatsache, dass dieser die Macht in Russland tatsächlich nicht auf demokratische, sondern auf gewaltsame Art und Weise erlangt hatte.657 Während Kelsen 1920 noch durchaus positive Aspekte der sowjetischen Verfassung gewürdigt und insbeondere das Rätesystem als »echteste Demokratie« gepriesen hatte, fehlten solche Passagen in der »Political Theory of Bolshevism« gänzlich. Dies hing freilich auch damit zusammen, dass das Rätesystem mit der Verfassung der Sowjetunion von 1936 bis zur Unkenntlichkeit verändert worden war und sein basisdemokratisches Element verloren hatte. Kelsen wies auch darauf hin, dass diese Verfassung keine »Diktatur des Proletariats« mehr propagierte und dass einige Restriktionen (wie etwa jene Bestimmung, wonach bestimmte Personen, insbesondere, solche, die Lohnarbeit in Anspruch nehmen, vom Wahlrecht ausgeschlossen seien) aufgehoben waren. Allerdings verankere Artikel 126 der Sowjetverfassung 1936 den Führungsanspruch der kommunistischen Partei als der »Avantgarde der Werktätigen«, sodass Kelsen die Sowjetunion weiterhin als eine Diktatur – zwar nicht mehr als eine Diktatur des Proletariats, wohl aber als eine Diktatur einer Partei – bezeichnete.658 Ein Gedanke, den Kelsen schon zuvor öfters geäußert hatte, und der sowohl in der »Political Theory of Bolshevism« als auch in zwei weiteren Arbeiten Kelsens aus dieser Zeit wieder vorkam, war die Gegenüberstellung von philosophischem Absolutismus und Relativismus. Sowohl der philosophische Relativist wie auch der Befürworter der Demokratie erkenne nur relative Wahrheiten, nur relative Werte. Kelsen war bereits 1945 eingeladen worden, für die »Encylopaedia Britannica« einen Artikel über »Absolutism, political« zu verfassen; dieser Artikel erschien erst 1953.659 Doch 655 Kelsen,
Theory of Bolshevism (1948) 1 f.
656 So etwa Kelsen, Theory of Bolshevism (1948) 23 f., wo er Engels These, dass der Staat seinem
Wesen nach ein Zwangsapparat zur Ausbeutung der Arbeiterklasse sei, eine Schrift Stalins aus dem Jahr 1936 entgegenhält, in der dieser meint, dass der staatliche Zwangsapparat zur Verwirklichung des Sozialismus eingesetzt wurde. 657 Kelsen, Theory of Bolshevism (1948) 40–43. 658 Kelsen, Theory of Bolshevism (1948) 42. 659 Walter Yust (Encyclopaedia Britannica), Schreiben an Hans Kelsen v. 10. 9. 1945, in: HKI, Nachlass Kelsen 16c3.50; Kelsen, Absolutism (1953).
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verwendete er einzelne Passagen auch für einen kurzen Aufsatz, betitelt »Absolutism and Relativism in Philosophy and Politics«, der im Oktober 1948 in der »American Political Science Review« erschien.660 Diesen drei Schriften – der Broschüre, dem Lexikonartikel und dem Zeitschriftenaufsatz – ist gemeinsam, dass sich Kelsen in ihnen vorbehaltslos vom Kommunismus distanzierte und ihn scharf kritisierte. Nichts an diesen Schriften ist wirklich überraschend; bemerkenswert ist lediglich, was Kelsen hier, wohl mit Absicht, nicht schrieb. Seine einstige Sympathie für einen Sozialismus, wie ihn seinerzeit die Austromarxisten gelehrt hatten, wird jedenfalls an keiner Stelle deutlich. c) Die Untersuchungen des FBI gegen Hans Kelsen Im akademischen Jahr 1953/54 unterrichtete Kelsen – worauf an anderer Stelle noch ausführlich einzugehen sein wird – am Naval War College in Newport/RI. Anlässlich seiner Anstellung richtete der Präsident dieses Colleges, Richard L. Conolly, eine wohl routinemäßige Anfrage an das FBI zu Hans Kelsen, zumal dieser nunmehr Angehörige der Streitkräfte der Vereinigten Staaten ausbilden sollte.661 Das FBI hatte schon früher, wohl ebenfalls routinemäßig, einen Akt zu Kelsen angelegt, der aber bis dahin kaum Nennenswertes außer seinen biographischen Eckdaten enthielt.662 Nun jedoch, zwischen März und August 1953, wurden Ermittlungen durch FBI- Agenten in San Francisco, Boston, Washington, New York und Newark durchgeführt und ein umfangreicher Bericht erstellt. Dabei waren es vor allem drei Punkte, die offenbar Aufmerksamkeit erregten: Erstens das Interview mit Kelsen im »Harvard Crimson« vom Dezember 1950, in dem er deutlich Sympathie mit Harold Winkler gezeigt hatte. Zweitens hatte Kelsen im Jahr 1941 einen Brief an einen gewissen William M. Malisoff geschrieben, der vom FBI der Spionage verdächtigt worden war.663 Drittens aber tauchte im Zuge der Ermittlungen ein Artikel der »Oakland Tribune« 660 Kelsen, Absolutism and Relativism (1948) = WiJ 198–208. Dieser Aufsatz war zugleich die Schriftfassung eines Vortrages, den Kelsen am 12. 3. 1948 an der Stanford University hielt, vgl. Métall, Kelsen (1969) 82. Er schloss, wie so viele andere Aufsätze aus Kelsens Feder mit einem Hinweis auf das 18. Kapitel des Johannesevangeliums. Vgl. auch die einleitende Fußnote, in der er sich bei den Herausgebern der Encyclopaedia Britannica für ihr Einverständnis zur Wiederverwertung des Textes bedankt. 661 FBI-File Kelsen, Request report of loyalty data on applicants and appointees, 10. 6. 1953, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. – Dieser Akt wurde von Oliver Rathkolb im Rahmen eines Freedom of Information Request (FOIA 0946294–00) angefordert, am 28. 8. 2002 an ihn übermittelt und von diesem dankenswerterweise an das HKI weitergereicht. Der Akt wurde jedoch »geschwärzt«, sodass insbesondere nicht erkennbar ist, welche Personen konkret befragt wurden. Vgl. auch R athkolb, Hans Kelsen und das FBI (2009) 342. 662 R athkolb, Hans Kelsen und das FBI (2009) 341. 663 William Marias Malisoff (1895–1947) war in der heutigen Ukraine geboren, aber in den USA aufgewachsen, wo er 1925 einen Ph. D. erwarb und als Associate Professor für Biochemie an verschiedenen US-Universitäten unterrichtete. Malisoff war für die Unified Science-Bewegung tätig, was einen Kontakt zu Hans Kelsen erklären könnte; vgl. R athkolb, Hans Kelsen und das FBI (2009) 342; Zeleny, Hans Kelsen als politischer Mensch (2018) 21.
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vom Mai 1948 auf, wonach Kelsen, gemeinsam mit vierzehn anderen Professoren und wissenschaftlichen Mitarbeitern der University of California, die Kandidatur eines Jack Howard von der Democratic and Independent Progressive Party für die Californian State Assembly, die zweite Kammer des kalifornischen Parlaments, unterstützt hatte.664 Die 1947/48 gegründete Independent Progressive Party war der kalifornische Zweig der Progressive Party um Henry A. Wallace, welcher 1941–1945 Vizepräsident unter Roosevelt gewesen war, jedoch aufgrund seiner angeblichen Sympathie für den Kommunismus bei den Präsidentschaftswahlen 1944 nicht mehr nominiert wurde, sodass Truman an seiner Stelle Vizepräsident – und nach dem Tod Roosevelts Präsident – der Vereinigten Staaten wurde. Bei den Präsidentschaftswahlen 1948 kandidierte Wallace erfolglos gegen Amtsinhaber Truman.665 Der erwähnte Artikel in der »Oakland Tribune« hob daher auch die Nähe der Independent Progressive Party zu den Kommunisten hervor und bezeichnete letztere sogar als die »Schlagader« dieser Partei. Die Auskunft beim Strafregister [Criminal record], wonach Kelsen am 22. Mai 1942 wegen eines Verkehrsdelikts angehalten und zu einer Geldstrafe von $ 2,– verurteilt worden war,666 fiel wohl weniger ins Gewicht. Die FBI-Agenten führten aber auch zahlreiche Befragungen durch, wobei die – nicht mehr identifizierbaren667 – Befragten offenbar teils aus dem beruflichen, teils aus dem privaten Umfeld Kelsens kamen. Die Antworten dieser Personen lieferten Mosaikstücke für ein zwar differenziertes, aber in Summe äußerst positives Bild von Kelsen. Er wurde hier als »herausragender Demokrat, von unzweifelhafter Loyalität und [ebensolchem] Charakter« beschrieben, auch wurden seine Arbeiten für die demokratische österreichische Verfassung hervorgehoben und gewürdigt.668 Ein Interviewpartner erklärte, dass Kelsen »einer der stärksten und bestinformierten Gegner des Kommunismus« sei. Insbesondere sei die »Political Theory of Bolshevism« eine »meisterhafte Attacke« sowohl gegen die Theorie des Kommunismus als auch gegen die Sowjetunion.669 Behauptet wurde auch (unrichtigerweise), dass Kelsen seinerzeit in Österreich zwar Mitglied der Sozialdemokratischen Partei gewesen sei, doch sei diese Partei zur Zeit der Ersten Republik die »Erzrivalin« der Kommunistischen Partei gewesen und habe ihren Namen erst 1942 (sic) in »Sozialistische Partei Österreichs« geändert.670 Dieselbe befragte Person betonte, dass Kelsen mit ganzem 664 FBI-File
Kelsen, 121–15324, serial 20, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. [Zugriff: 19. 11. 2019]; Rosen, Henry A. Wallace (1978); Klumpjan, Die amerikanischen Parteien (1998) 356, 518–520. 666 FBI-File Kelsen, Boston-Report v. 6./8. 10. 1953, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. 667 Siehe oben Anm. 661. 668 FBI-File Kelsen, FBI-Agent »SAC« an das FBI, 21. 8. 1953, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. 669 FBI-File Kelsen, FBI-Agent »SAC« an das FBI, 20. 3. 1953, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. 670 Kurz nach dem Verbot der SdAP am 12. 2 . 1934 hatte sich eine Splittergruppe, die »Revolutionären Sozialisten«, gebildet, die sich erst 1945 wieder mit der Mutterpartei vereinigte, weshalb diese die österreichische Unabhängigkeitserklärung vom 27. 4. 1945 BGBl 1 als »Sozialistische Partei 665 http://www.joincalifornia.com/party/Independent%20Progressive
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Herzen die Regierungsform der USA bejahe und ein erbitterter Gegner aller Formen von Totalitarismus sei. Eine andere Person berichtete, wie sehr sich Kelsen über die Verleihung der US-Staatsbürgerschaft gefreut habe und wie sehr er die Regierung und das Volk der Vereinigten Staaten bewundere. Kelsen, so wurde von einer befragten Person erklärt, habe den Loyalty Oath nur deshalb kritisiert, weil er befürchtete, dass damit der Anfang gemacht werde, von Personen weitere Erklärungen zu verlangen, dass sie einer bestimmten Religion oder Gemeinschaft nicht angehören und dass somit die Freiheit des Einzelnen unterdrückt werde. Kelsen sei Institutskollege von Harold Winkler gewesen und habe daher Kontakt zu ihm gehabt, ohne aber mit ihm enger befreundet gewesen zu sein.671 Und überhaupt: Als Kelsen 1952, anlässlich seiner Emeritierung an der Universität Berkeley, eine Rede hielt, schloss er diese mit den Worten: »God bless America«. Die moralische Integrität Kelsens sei über jeden Verdacht erhaben. Kelsen konnte daher problemlos seine Lehrtätigkeit am Naval War College ausüben. Doch setzte das FBI seine Ermittlungen noch weiter fort.672 Dabei wurde – erst jetzt! – die Tätigkeit Kelsens für die F. E. A. und den J. A. G. 1944/45 unter die Lupe genommen, und es kam heraus, dass Kelsen (offenbar bereits im Oktober 1944, anlässlich seiner Tätigkeit für die F. E. A.) zu seiner politischen Einstellung befragt worden war, wobei er Sympathie für die »Sozialisten«, nicht aber für die »Kommunisten« gezeigt und schon damals auf ein von ihm verfasstes Buch (vermutlich »Sozialismus und Staat«) verwiesen hatte. Auf die direkte Frage, wie Kelsen sich persönlich einschätze, hatte dieser geantwortet: »Als ein liberaler Sozialist.«673 Eine derartige Selbsteinschätzung hätte 1953 Kelsen wohl noch in arge Bedrängnis gebracht. Doch nun, zwei Jahre später, neigte sich die McCarthy-Ära ihrem Ende zu; Kelsen war nicht mehr am Naval War College tätig, und das FBI hatte keinen Grund mehr, weiter gegen ihn zu ermitteln. Der Akt wurde im März 1955 geschlossen, ohne dass Kelsen Repressalien erleiden musste. Es ist nicht bekannt, wieviel er von den gegen ihn gerichteten Ermittlungen überhaupt mitbekommen hat.
5. Hans Kelsen, seine Töchter und Israel Am 23. Oktober 1947 wurde Hans Kelsen zum zweiten Mal Großvater: Seine ältere Tochter Hannah hatte in Jerusalem einem Sohn, Adam, das Leben geschenkt. Hannah und ihr Mann, Rolf Oestreicher, lebten zu jener Zeit in Mekor Chaim, einem kleinen Österreichs – Sozialdemokraten und Revolutionäre Sozialisten« mitunterzeichnete, der Untertitel wurde später fallen gelassen; vgl. Fritz Kaufmann, Sozialdemokratie (1978) 351 f. Erst 1991 erfolgte die Umbenennung in »Sozialdemokratische Partei Österreichs«. 671 R athkolb, Hans Kelsen und das FBI (2009) 346. 672 FBI-File Kelsen, Office Memorandum, 5. 4. 1954, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. 673 FBI-File Kelsen, Results of Investigation v. 23. 2 . 1955, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches.
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arabischen Ort in der Nähe von Jerusalem. Als die UNO am 29. November ihren Teilungsplan für Palästina veröffentlichte, brachen in Mekor Chaim sofort Straßenkämpfe aus, und die Familie Oestreicher musste fluchtartig ihre Wohnung verlassen. In Jerusalem erlebte Hannah Oestreicher mit ihrem Baby, das sehr schwach zur Welt gekommen war und besonderer Pflege bedurfte, die Kämpfe zwischen Israelis und Palästinensern aus nächster Nähe; die Nahrungsmittel, ja sogar die Trinkvorräte mussten zeitweilig rationiert werden, doch verlor sie, wie sie später berichtete, niemals ihren Optimismus – ganz im Gegensatz zu ihren Eltern in Berkeley, mit denen sie in ständigem Briefkontakt stand.674 Im März 1948 schrieb Hans Kelsen an Alfred Verdroß, wie groß seine Sorge um seine Tochter sei: »Ich habe diese [= die zionistische] Bewegung von jeher fuer aussichtslos gehalten und fuerchte heute mehr denn je, dass der Traum eines juedischen Staates in einem blutigen massacre enden wird. Du kannst Dir vorstellen, mit welchen Gefuehlen wir die immer schlechter werdenden Nachrichten ueber die Lage in Palestina verfolgen.«675 Am 14. Mai 1948 wurde der Staat Israel ausgerufen; Rolf Oestreicher trat als Militärarzt bei den neu geschaffenen israelischen Streitkräften ein. Nach Ende der Kämpfe, im September 1949, schied er aus der Armee aus und fand eine neue Anstellung in einem Spital, zunächst in Zrifin, später in Nazareth und ab 1952 wieder in Jerusalem.676 Parallel dazu hatte Kelsens anderer Schwiegersohn, Ernst Feder, begonnen, sich wissenschaftlich mit Landwirtschaft zu beschäftigen; 1949 wurde er Assistant Professor für Economics and Agricultural Economics an der Arizona State University. Seine weitere akademische Karriere führte ihn 1949 von dort an die South Dakota State University, 1954 an die University of Nebraska. Von dort ging er für einige Jahre nach Lateinamerika, während Maria Feder mit ihrer Tochter nach Berkeley übersiedelte. Dies war für Hans und Grete Kelsen ein Grund zur Freude, denn der Kontakt mit ihrer Tochter Maria und ihrer Enkeltochter Anne – die in Berkeley Politikwissenschaften studierte und hier 1966 ihren B. A. erwarb – wurde nunmehr deutlich enger, und Maria Feder konnte ihren älter werdenden Eltern jetzt öfter zur Hand gehen. Anne Feder dagegen heiratete 1967 den Ökonomen Chung Hoon Lee und zog mit ihm für zwei Jahre nach England; 1969 kehrte das Paar in die USA zurück, wo Chung Lee an der Miami University in Ohio unterrichtete, während Anne Feder Lee 1977 ihren Ph. D. in Politikwissenschaften erwarb.677 Dagegen hatten die politischen Umstände dazu geführt, dass Hannah Oestreicher fast zehn Jahre lang von ihren Eltern getrennt war. Erst im Mai 1950 reiste sie mit ihrem Sohn zu einem Besuch in die USA, wogegen Rolf Oestreicher aus beruflichen Gründen in Israel bleiben musste. »Meine Eltern begrüßten uns am Flughafen. Sie sahen gut aus, schlank und gesund, nur ihr graues Haar gab mir einen Schock, als 674 Kelsen
Oestreicher, Times to remember (1977) 18–28. Kelsen, Brief an Alfred Verdroß v. 10. 3. 1948, HKI, Nachlass Kelsen 16b12.59. 676 Kelsen Oestreicher, Times to remember (1977) 28–38. 677 Anne Feder Lee, e-mails an den Verfasser v. 27. 2 . 2008 und v. 29. 9. 2019; Kelsen Oestreicher, My Parents in the United States (1977) 7. 675 Hans
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ich sie erblickte«, erinnerte sich Hannah Oestreicher später an diese Begegnung. Sie blieb bis September in Berkeley und traf auch ihre Schwester Maria sowie Adolf und Karoline Drucker, die in San Francisco lebten.678 Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass Kelsen schon 1950 eine Einladung der Hebräischen Universität von Jerusalem erhielt, im Sommersemester 1951 als Gastprofessor nach Israel zu kommen.679 Trotz der gegenüber Verdroß geäußerten Sorgen über die Lage im Nahen Osten trat Kelsen dieser Idee näher, deren Realisierung allerdings daran scheiterte, dass die Universität nicht in der Lage war, Kelsens Reise zu bezahlen. Der (1933 von Österreich in die USA emigrierte) Ökonom Fritz Machlup, der zu jener Zeit an der Johns Hopkins University unterrichtete, hatte kurz zuvor auf Kosten des US-Außenministeriums eine Reise nach Israel unternommen; Kelsen, der ihn wohl noch aus der gemeinsamen Zeit in Österreich kannte, fragte ihn, ob eine solche Möglichkeit auch für ihn in Frage komme. Machlup bejahte dies und ermunterte Kelsen, ebenfalls einen Antrag zu stellen.680 Offenbar hatte Kelsen damit aber keinen Erfolg. Zwei Jahre später, 1953, beschloss die israelische Regierung unter David Ben-Gurion sogar, Kelsen die Stelle eines Rechtsberaters für Völkerrecht und öffentliches Recht anzubieten, was dieser jedoch erneut ausschlug. »Tatsächlich hat Kelsen Israel niemals besucht«, vermerkt Métall in seiner Kelsen-Biographie.681
6. Hans Kelsen in Lateinamerika a) Die Egologische Rechtslehre Josef Laurenz Kunz, der schon in Europa Spanisch gelernt hatte, hatte bald nach seiner Berufung an die University of Toledo in Ohio im Jahr 1934 damit begonnen, sich für lateinamerikanische Rechtsphilosophie zu interessieren. 1950 ging daraus sein umfangreiches Buch »Latin-American philosophy of Law in the twentieth century« hervor, das als Band 3 der von ihm mitbetreuten »20th Century Legal Philosophy Series« erschien.682 Die lateinamerikanische Rechtsphilosophie jener Zeit war ein buntes Gemisch verschiedenster Strömungen, zu dem insbesondere europäische Emigranten beigetragen hatten, und das von lateinamerikanischen Juristen in durchaus eigenständiger Weise weiterentwickelt wurde. Eine Reihe von Kelsen-Schülern war nach Südamerika ausgewandert, so etwa Rudolf A. Métall und Hans Klinghoffer nach Brasilien oder Otto E. Langfelder nach Argentinien, und diese trugen das Ihre zur Weiterverbreitung der Reinen Rechtslehre auf dem südamerikanischen Kontinent 678 Kelsen
Oestreicher, Times to remember (1977) 41.
679 Nathan Feinberg (Hebrew University), Schreiben an Hans Kelsen v. 19. 2 . 1950 und Antwort-
schreiben v. 10. 3. 1950, beide in: HKI, Nachlass Kelsen 21p.69. 680 Hans Kelsen, Schreiben an Fritz Machlup v. 8. 10. 1951 und Antwortschreiben v. 12. 10. 1951, in: Stanford University, Hoover Institution Archives, Fritz Machlup Papers, Box 48. 681 Métall, Kelsen (1969) 85. 682 Kunz, Latin-American philosophy (1950). Vgl. Kelsen, Kunz (1960) 326 f.
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bei.683 Zu erinnern ist aber auch daran, dass schon zuvor eine Reihe von lateinamerikanischen Juristen nach Wien gekommen war, um dort Kelsen zu hören, und dass auch einige seiner Bücher von diesen Juristen auf Spanisch und Portugiesisch übersetzt worden waren. Zu nennen sind etwa Luis Recaséns Siches und Justino de Azcárate Florez, die 1928 Kelsens »Grundriß einer allgemeinen Theorie des Staates« ins Spanische übersetzt hatten, sowie Luis Legaz y Lacambra, der 1933 dasselbe mit Kelsens Urfassung der »Reinen Rechtslehre« getan hatte. Zu den lateinamerikanischen Juristen, die, aufbauend auf der Reinen Rechtslehre aber auch auf verschiedenen anderen Strömungen, eine eigenständige lateinamerikanische Rechtstheorie zu entwickeln suchten, zählte Carlos Cossio, 1903 in San Miguel de Tucuman, im Norden Argentiniens, geboren. Er studierte in Buenos Aires die Rechtswissenschaften und arbeitete danach in der Nationalbank von Argentinien; ab 1934 lehrte er daneben an der Universidad Nacional von La Plata, der Hauptstadt des argentinischen Bundesstaates Buenos Aires.684 In seinem 1936 erschienenen Buch »El concepto puro de revolución [Das reine Konzept der Revolution]« nahm Cossio erstmals ausdrücklich auf die Reine Rechtslehre Bezug und stand ab 1937 auch in direktem Briefkontakt mit Hans Kelsen – im selben Jahr war Kunz nach Argentinien gereist, sodass anzunehmen ist, dass der Kontakt auf diese Weise zustande gekommen war.685 Die Korrespondenz, die sich über viele Jahre hinzog, gestaltete sich äußerst schwierig, zumal Cossio ebenso wenig deutsch sprach wie Kelsen spanisch; man verständigte sich (wie insbesondere beim einzigen persönlichen Zusammentreffen der beiden im Jahr 1949) entweder auf Französisch oder man bediente sich eines Dolmetschers – beides Wege, die mit mannigfaltigen Verständigungsschwierigkeiten verbunden waren, woraus sich vielleicht zum Teil erklärt, weshalb die tiefen wissenschaftlichen Gegensätze zwischen Kelsen und Cossio nicht sofort zutage traten. Zu Anfang jedenfalls waren die Beziehungen der beiden so unterschiedlichen Rechtsphilosophen sehr gute: Cossio machte Kelsen 1938 zum Ehrenmitglied des von ihm in diesem Jahr begründeten »Instituto Argentino de Filosofia Juridica y Social«686 und Kelsen Cossio 1939 zum Mitherausgeber der IZTHR.687 1941 erschien eine spanischsprachige Übersetzung der vollständigen Version der »Reinen Rechtslehre«, und Cossio verfasste ein Vorwort hierzu. Obwohl er dabei Kelsen über alle Maßen pries, so fanden sich doch auch einige Kritikpunkte darinnen, und er ließ erste Gedanken seiner eigenen, von ihm später so genannten »Egologischen Rechtslehre« anklingen.688 Vollständig ausgearbeitet wurde die Egologische Rechtslehre von Cossio dann in zwei, 1944 bzw. 1945 veröffentlichten Schriften: 683 Sarlo,
Uruguay (2010) 288; Gassner, Kelsen in Lateinamerika (2014) 68. Egologische Rechtslehre (2013) 141; Gassner, Kelsen in Lateinamerika (2014) 67. 685 Gassner /Olechowski, Egologische Rechtslehre (2013) 142. 686 Carlos Cossio, Schreiben an Hans Kelsen v. 29. 11. 1938, HKI, Nachlass Kelsen 15a37.57. Vgl. Cossio, Como ve Kelsen (1948) 1; Gassner, Kelsen in Lateinamerika (2014) 67. 687 Vgl. die Titelei des ersten (und einzigen) Bandes der »Neuen Folge« der IZTHR 1939. 688 Gassner /Olechowski, Egologische Rechtslehre (2013) 143. 684 Gassner /Olechowski,
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»La teoria egológica del derecho y el concepto juridico de libertad [Die Egologische Rechtslehre und das rechtliche Konzept der Freiheit]« und »El derecho en el derecho judicial [Das Recht im judiziellen Recht]«. Zur ersten dieser beiden Schriften hatte Otto Langfelder ein Vorwort verfasst; in einem Schreiben an Kelsen distanzierte er sich allerdings von einigen Ansichten Cossios.689 Tatsächlich hatte Cossio in seiner Egologischen Rechtslehre einige Teile von Kelsens Lehre übernommen, jedoch hauptsächlich deren formal-logische Elemente. Cossio ging dabei so weit, dass er die Reine Rechtslehre (manchmal aber auch nur die »Reine Rechtslehre im engeren Sinne«, was auch immer darunter verstanden werden mochte) als eine »formale juristische Logik« bezeichnete – eine These, die von Kelsen in seiner 1953 publizierten, vernichtenden Kritik an der Egologischen Theorie natürlich auf das Heftigste zurückgewiesen wurde.690 Dennoch ist hervorzuheben, dass Cossio seine Egologische Rechtslehre niemals als eine mit der Reinen Rechtslehre konkurrierende Theorie, sondern stets als deren Weiterführung, ja Vervollständigung ansah. Diese Vervollständigung erfolgte u. a. unter Rückgriff auf den Existenzialismus von Martin Heidegger und vor allem auf die Phänomenologie von Edmund Husserl, von der Cossio nicht zuletzt die Bezeichnung »egologisch« für seine Rechtslehre übernahm.691 Husserl hatte zu Anfang des 20. Jahrhunderts in seinen Studien über Descartes den Begriff der »Egologie« als einer absolut subjektiven Wissenschaft, die nur vom Ich ausgehe, geprägt. Cossio sah in Verfolgung dieser Gedanken das Recht als ein Stück der Kultur an; letztere stellte er der Natur gegenüber und bezeichnete sie als »Einheit« zweier »Hälften«: dem Kulturschaffen einerseits, den Erzeugnissen der Kultur andererseits; ersteres wurde von Cossio als »egologisch«, zweitere als »mundan« bezeichnet.692 Beide bestünden aus einem »wahrnehmbaren Substrat und einem geistigen Sinn«.693 Dabei behauptete Cossio nicht etwa, »die Kulturgegenstände hätten einen Sinn […] vielmehr, daß der Kulturgegenstand ein Sinn ist; sein Sein ist ein Sinn-Sein, d. h. sein Sein besteht in seinem Existieren. Es handelt sich also um existente Sinne, um die Existenz also, die das Seiendsein des Daseins überhaupt ausmacht.«694 Diese Formulierung wurde später von Kelsen als »abstruse Wortanhäufung« scharf kritisiert;695 sie war freilich wenigstens zum Teil der Husserlschen Phänomenologie, auf der die Egologische Theorie basierte, geschuldet.
689 Otto Langfelder, Schreiben an Hans Kelsen vom 6. 1 2. 1947, in: HKI, Nachlass Kelsen 16b2.59. 690 Kelsen, Egologische Theorie (1953) 451. Andere Lehren Kelsens, wie etwa seine Ausein andersetzung mit dem Problem der Gerechtigkeit, wurden von Cossio ignoriert, vgl. dazu L osano, Gerechtigkeit (2014) 77. 691 Pettoruti, La Plata (2010) 235. 692 Kelsen, Egologische Theorie (1953) 457. 693 Cossio, Egologische Theorie (1953) 34; Kelsen, Egologische Theorie (1953) 458. 694 Cossio, Egologische Theorie (1953) 35. 695 Kelsen, Egologische Theorie (1953) 459.
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Zentrale Aussage der Egologischen Theorie – und worin sie sich ganz wesentlich von der Reinen Rechtslehre unterschied – war, dass das Recht zur egologischen Hälfte der Kultur gehöre, dass es nicht aus Normen, sondern aus menschlichem Verhalten bestehe, welches zu untersuchen sei. Das Produkt des menschlichen Verhaltens, die von Menschen erzeugte Norm, wurde von Cossio eigenartiger Weise nicht als Recht angesehen. Daher ergab sich auch, dass die Egologische Theorie, im Gegensatz zur Reinen Rechtslehre, aber in (wohl eher zufälliger) Übereinstimmung mit der Rechtslehre Fritz Sanders, nur eine dynamische, nicht aber eine statische Betrachtung des Rechts zuließ. Eine statische Betrachtung würde die Normen, nicht das menschliche Verhalten in den Mittelpunkt stellen und damit einen anderen Erkenntnisgegenstand als die dynamische Betrachtung zum Inhalt haben.696 Auch hielt Cossio die von Kelsen seit 1945 so vehement propagierte Trennung von Rechtsnorm und Rechtssatz für unnötig, weil sowohl das rechtsanwendende Organ als auch der wissenschaftlich tätige Jurist »das Recht, und d. h. das Verhalten, in gleicher Weise, nämlich durch Normen denken.« Der Unterschied bestehe lediglich darin, dass die dem »Geist des Organs entspringenden Normen […] unmittelbar«, die dem »Geist des Juristen entspringenden Normen […] nur mittelbar Bezug […] auf die Positivität oder Existenz des Rechts« nehmen.697 Schlussendlich stellte sich Cossio auf den Standpunkt, dass die Rechtswissenschaft die Gerechtigkeitsidee nicht ausblenden dürfe; die Suche nach der Gerechtigkeit war sogar ein zentraler Punkt der Egologischen Theorie.698 b) Am Rio de La Plata Als zur UNCIO 1945 auch zahlreiche lateinamerikanische Juristen nach San Francisco kamen, nützten einige von ihnen die Gelegenheit, um Kelsen im benachbarten Berkeley zu besuchen. Zu ihnen zählte Luis E. Nieto Arteta aus Kolumbien, der mit Kelsen längere Gespräche u. a. zur Egologischen Rechtslehre von Carlos Cossio führte. Nieto Arteta berichtete später, dass Kelsen die Egologische Rechtslehre keineswegs als Fortführung der Reinen Rechtslehre, sondern als durchaus von ihr verschiedene Rechtslehre sah, die nur sehr oberflächliche Gemeinsamkeiten mit ihr teile.699 Seine Informationen bezog Kelsen vermutlich vor allem von Kunz, der ihm in einem Brief vom 15. Mai 1945 ausführlich über Cossios Lehre berichtet hatte.700 Darin hieß es, dass Cossio die Reine Rechtslehre »zu nackter formaler Rechtslogik [reduziere]. Das gefährlichste an Cossio ist aber, dass er Recht dem menschlichen Verhalten gleichsetzt und so in die Soziologie abdriftet.« Das Antwortschreiben Kelsens ist nicht erhalten, 696 Gassner /Olechowski,
Egologische Rechtslehre (2013) 154. Egologische Theorie (1953) 46 f.; vgl. Gassner /Olechowski, Egologische Rechtslehre (2013) 153. 698 Gassner /Olechowski, Egologische Rechtslehre (2013) 146. 699 Gassner /Olechowski, Egologische Rechtslehre (2013) 147. 700 Josef L. Kunz, Brief an Hans Kelsen vom 15. 5. 1945, HKI, Nachlass Kelsen 16b1.59. 697 Cossio,
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doch schrieb Kunz am 19. Juni in einem zweiten Brief an Kelsen: »Ihre Zeilen bestärken mich in meiner Skepsis gegenüber der Grundlage von Cossios Theorie.«701 Cossio dagegen bemühte sich in der folgenden Zeit, Kelsen von der Richtigkeit seiner eigenen Lehre zu überzeugen. Für ihn persönlich bedeuteten die Jahre nach 1945 den Höhepunkt seiner Karriere: Als Anhänger von Juan Perón, der im Juni 1946 Staatspräsident Argentiniens wurde, profitierte Cossio von dessen »politischen Säuberungen« und wurde Vorstand des Instituts für Rechtsphilosophie der Universität von Buenos Aires. Sein Mitarbeiter Ambrosio L. Gioja hingegen, der eine antiperonistische Haltung angenommen hatte, verlor schon bald darauf seine Anstellung an der Universität. Dennoch blieb er Cossio freundschaftlich verbunden, und dieser überredete Gioja, nach Berkeley zu fahren und dort den direkten Kontakt mit Kelsen zu suchen.702 Gioja kam im Herbst 1948 nach Berkeley, und obwohl er bereits promovierter Jurist war, nahm er an mehreren Lehrveranstaltungen Kelsens teil, wohl, um so Kelsens Lehrmeinungen besser kennen zu lernen. Allerdings war sein Englisch sehr schlecht, weshalb die Missverständnisse nicht weniger wurden, sondern sogar noch zunahmen: An Cossio schrieb Gioja eines Tages, dass es ihm gelungen sei, Kelsen »vollständig egologisiert zu haben«. Als dies Kelsen zu Ohren kam,703 fasste der angeblich »Egologisierte« den Entschluss, selbst nach Argentinien zu reisen, um klare Verhältnisse zu schaffen. Die Südamerika-Reise wurde von Kelsen äußerst sorgfältig geplant; für das Herbstsemester 1948/49 legte er ein »Sabbatical« ein, d. h. er hielt in diesem Semester keine Vorlesungen in Berkeley, sondern verfasste seine Manuskripte für die von ihm (in französischer Sprache) zu haltenden Vorträge. Offizielle Begründung war dabei allerdings nicht seine Reise nach Argentinien, sondern, dass er sein Buch »The Sociology of the Belief in the Immortality of the Soul [Die Soziologie des Glaubens an eine unsterbliche Seele]« endlich fertigstellen wolle, zu dem bereits 1200 getippte Seiten vorlägen.704 Cossio seinerseits erwartete das Kommen Kelsens voller Ungeduld; am 31. Dezember 1948 verfasste er für die Zeitschrift La Ley den Aufsatz »Como ve Kelsen a la Teoria Egologica del Derecho? [Wie sieht Kelsen die Egologische Rechtstheorie?]«, in der er das Kommen des Meisters nach Lateinamerika für Sommer 1949 ankündigte.705 Die geplante Reise wurde auf diese Weise rasch in der Öffentlichkeit bekannt, und mehrere südamerikanische Juristen wie Hugo Caminos 701 Josef
L. Kunz, Brief an Hans Kelsen vom 16. 6. 1945, HKI, Nachlass Kelsen 16b1.59. Kelsen in Lateinamerika (2014) 72. 703 Der Brief von Gioja an Cossio wurde von diesem an Kunz weitergeleitet, von welchem schließlich Kelsen von seiner angeblichen »Egologisierung« erfuhr: Josef L. Kunz, Brief an Hans Kelsen vom 8. 11. 1948, HKI, Nachlass Kelsen 16.b1.59. 704 Application for Sabbatical or Semi-Sabbatical Leave, ausgefüllt von Hans Kelsen für das Herbstsemester 1948/49, datiert 12. 4. 1948; die Begründung in: Memorandum for the Sabbatical Leave Application, 23. 4. 1948, beides in: Personalakt Kelsen der UC Berkeley, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. Vgl. auch Métall, Kelsen (1969) 84. Zu beachten ist, dass Kelsen für seine Vorträge in Südamerika außerordentlich gut bezahlt wurde: Virginia McClam, Interview v. 6. 7. 2007. 705 Cossio, Como ve Kelsen (1948). 702 Gassner,
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oder Ernesto Hermida rieten Kelsen ab, nach Argentinien zu reisen.706 Grund waren vor allem die politischen Verhältnisse in Argentinien: Perón, der vor dem Zweiten Weltkrieg u. a. Militärattaché in Berlin gewesen war, hatte in den Kriegsjahren weiter gute Kontakte zu Nazideutschland gepflegt und aus seinen Sympathien für den Nationalsozialismus nie ein Hehl gemacht, wie auch sein eigenes Regime in Argentinien durchaus faschistoide Züge trug. Der Besuch eines Juristen von Weltrang konnte leicht vom Perón-Regime politisch ausgenützt werden. Tatsächlich wurde am 8. Juni der bevorstehende Besuch Kelsens in der argentinischen Abgeordnetenkammer thematisiert.707 Am 15. Juli 1949 bestiegen Hans und Grete Kelsen in New York die SS Argentina und fuhren über Trinidad, Rio de Janeiro, São Paulo und Montevideo nach Buenos Aires.708 In Rio de Janeiro kam es zu einem Wiedersehen mit seinem ehemaligen Schüler Hans Klinghoffer, der sich zu jener Zeit gerade um eine Auswanderung nach Israel bemühte; am 27. Juli verfasste Kelsen von Rio aus ein Empfehlungsschreiben für Klinghoffer an den Dekan der juristischen Fakultät in Jerusalem.709 Am 1. August erreichten Herr und Frau Kelsen Montevideo, wo sie der Dekan der juristischen Fakultät der dortigen Universidad de la Republica, Eduardo J. Couture, persönlich am Hafen begrüßte und zu einem Lunch in den eleganten Golfclub von Montevideo einlud. Aber auch Caminos und Hermida, die Kelsen entgegengereist waren, standen im Hafen von Montevideo und warnten ihn noch einmal persönlich vor einer Weiterreise; beim gemeinsamen Frühstück am Schiff ließ sich Kelsen das geplante Programm zeigen und strich einige ihm als unnötig oder zu politisch erscheinende Punkte, wie den Besuch einer Rinderfarm und vor allem ein Treffen mit Perón.710 Am nächsten Tag, dem 2. August 1949, kamen Hans und Grete Kelsen im Hafen von Buenos Aires an und wurden dort von Carlos Cossio, Ambrosio Gioja und einigen anderen Juristen (u. a. Abel Aristegui und Roberto Vernengo711) empfangen. Kelsens fast vierwöchiger Aufenthalt in Argentinien war mit Veranstaltungen durchgeplant: Auf Einladung der Fakultät hielt er am 5., 10., 13. und 18. August an der Universität vier 706 Hugo Caminos, Schreiben an Hans Kelsen vom 25. 6. 1949, HKI, Nachlass Kelsen 15s.58; Hugo Caminos, Interview vom 31. 3. 2012; Gassner /Olechowski, Egologische Rechtslehre (2013) 149. 707 Métall, Kelsen (1969) 84; Hugo Caminos, Interview vom 31. 3. 2012. 708 Gassner, Kelsen in Lateinamerika (2014) 74. 709 Itzhak Klinghoffer (1926–1953: Hans Klinghoffer), geb. Kolomea in Galizien [Kolomyja/UKR] 17. 2 . 1905, gest. Jerusalem 28. 2 . 1990, hatte 1923–1930 in Wien studiert und sowohl den JDr. als auch den Dr.rer.pol. erworben, danach in der Wiener Stadtverwaltung gearbeitet. Nach dem »Anschluß« emigrierte er über Frankreich und Portugal nach Brasilien, wo er zwölf Jahre (1941–1953) lebte, ab 1949 als juristischer Berater der österreichischen Botschaft in Brasilien. 1953 wanderte er nach Israel aus und war 1959–1961 Dekan der juristischen Fakultät der Hebräischen Universität Jerusalem. Vgl. Klein, Klinghoffer (2008) 175 f.; der Brief Kelsens vom 27. 7. 1949 ist a. a. O. 177 abgedruckt. 710 Hugo Caminos, Interview vom 31. 3. 2012. 711 Roberto Vernengo, Interview vom 26. 3. 2012; Abel Javier Aristegui, Interview vom 28. 3. 2012.
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Vorträge über »Problèmes choisis de la Théorie Pure du Droit [Ausgewählte Probleme der Reinen Rechtslehre]«.712 Diese Vorlesungen waren groß angekündigt worden und wurden dementsprechend stark besucht; Kelsen selbst sprach später von einem Auditorium aus mindestens 500 Advokaten und Studenten.713 Zusätzlich hielt Kelsen aber auch, am 8. August, an dem von Cossio geleiteten Instituto de Filosofia Juridica einen Vortrag über »Die Doktrin des Naturrechtes vor dem Tribunal der Wissenschaften«,714 sprach am 19. August vor der Anwaltskammer über »internationale Verantwortung für staatliche Handlungen« und hielt am 22. August auf Einladung der oppositionellen – später von Perón verbotenen – Zeitung »La Prensa« einen Vortrag über »Die NATO und die UN-Charta«, zuletzt am 23. August einen Vortrag an der nahegelegenen Universität La Plata.715 Dazwischen, am 15. August, bestieg er in Buenos Aires ein Flugzeug und überquerte erneut den Rio de La Plata, um auch in Montevideo über »Die Doktrin des Naturrechtes vor dem Tribunal der Wissenschaften« vorzutragen. Auch dieser Vortrag wurde von einer sehr großen Zahl an Professoren, Studenten und in der Rechtspraxis tätigen Juristen besucht. Die einleitenden Worte sprach der Rechtsphilosoph Antonio M. Grompone. Unmittelbar darauf kehrte Kelsen wieder nach Buenos Aires zurück.716 Um dieses Vortragsprogramm gruppierten sich zahllose Treffen mit südamerikanischen Juristen – die vorhin erwähnte Anwaltskammer machte Kelsen kurzerhand zu ihrem Ehrenmitglied717 – und Diskussionen rund um die Reine Rechtslehre und die Egologische Theorie. Diese Fachgespräche wurden auch außerhalb der akademischen Mauern bei gemeinsamen Abendessen fortgeführt, sodass Kelsen kaum jemals zur Ruhe kam, und gingen so weit, dass Cossio schließlich erklärte, er und nicht Kelsen wüsste, wie die Reine Rechtslehre auszulegen sei. Als Kelsen hierauf entgegnete, er als Schöpfer der Reinen Rechtslehre müsste doch wohl am ehesten wissen, wie diese zu interpretieren sei, meinte Cossio: »Dr. Kelsen, Ihnen passiert dasselbe wie Kolumbus, dieser glaubte auch Indien entdeckt zu haben und war in Wirklichkeit in Amerika gelandet.«718 Es ist angesichts dieser fortwährenden Bedrängungen durch Cossio 712 Kelsen,
Egologische Theorie (19532) 449. Kelsen, Interview mit Irmgard Bach, Juni 1958. 714 Es handelte sich um dasselbe Thema, das auch einem Aufsatz zugrunde lag, den Kelsen im Dezember 1949 im »Western Political Quarterly« veröffentlichte: Kelsen, The Natural-Law Doctrine (1949) = WiJ 137–173. Er setzte sich darin mit einer Reihe bedeutender Naturrechtler, wie Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf oder John Locke, aber auch mit Auguste Comte, Herbert Spencer, G. W. F. Hegel und Karl Marx auseinander und betonte einmal mehr, dass diese Doktrin auf einer Reihe wissenschaftlicher Irrtümer beruhe, aber ein nützliches Werkzeug sei, um gewisse politische Interessen, namentlich die Rechtfertigung des Staates oder die Rechtfertigung des Eigentums, durchzusetzen. 715 Pettoruti, La Plata (2010) 233; Gassner, Kelsen in Lateinamerika (2014) 76. Der Vortrag zur NATO wird wohl einen ähnlichen Inhalt wie Kelsen, The North Atlantic Defense Treaty (1949), gehabt haben, zu diesem schon oben 783. 716 Sarlo, Uruguay (2010) 293; Gassner, Kelsen in Lateinamerika (2014) 76. 717 Die mit 18. 8. 1949 datierte Urkunde in: HKI, Nachlass Kelsen 15a32.57. 718 Abel Javier Aristegui, Interview vom 28. 3. 2012. 713 Hans
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Abb. 48: In Buenos Aires, 1949. Sitzend von links: Carlos Cossio, Hans Kelsen und Enrique Aftalión. Stehend, ganz rechts: Otto Langfelder, 2. von rechts: Ambrosio L. Gioja.
leicht nachzuvollziehen, dass der ansonsten stets freundliche und gesellige Kelsen zunehmend seine gute Laune verlor und ausfällig wurde. Als Kelsen während seines Uruguay-Aufenthaltes am 15. August von einem dort lehrenden Professor namens Eduardo Jimenéz de Arechaga nach Cossios Lehre befragt wurde, antwortete Kelsen, sichtlich genervt: »Das ist keine Egologie, sondern eine Egolatrie.«719 Und als Kelsen, nachdem er einen Vortrag des Cossio-Schülers José Villanova gehört hatte, erneut von Cossio zum Begriff der Logik befragt wurde, entfuhr ihm ein: »Eh bien, mon vieux, va faire l’amour!«720 – was hier, aus Gründen des Anstandes, unübersetzt bleiben muss. Am 25. August 1949 verließen Hans und Grete Kelsen Argentinien und reisten per Flugzeug zunächst nach Rio de Janeiro; der Abschied von Cossio war weniger herzlich als der Empfang, zumal dieser (angeblich) im Stau stecken geblieben war und es nicht rechtzeitig zum Flughafen schaffte.721 Es sollte dies für ihn die erste und die letzte Begegnung mit Hans Kelsen sein.
719 Cassese, Personal Recollections (1998) 388 [Interview mit Eduardo Jiménez de Arechaga]; Sarlo, Uruguay (2010) 293. 720 Abel Javier Aristegui, Interview vom 28. 3. 2012; Gassner, Kelsen in Lateinamerika (2014) 77. 721 Hugo Caminos, Interview vom 31. 3. 2012; Gassner, Kelsen in Lateinamerika (2014) 78.
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4. Teil: Amerika und die Welt
Der Flug nach Rio de Janeiro erwies sich als äußerst unruhig, das Ehepaar Kelsen musste auf einem anderen Flughafen als geplant landen und stundenlang in die Stadt fahren, sodass Kelsen beschloss, künftighin wieder mit dem Schiff zu reisen.722 In Rio nächtigten Hans und Grete Kelsen – wie schon bei ihrem ersten Aufenthalt am 27./28. Juli – in der Wohnung eines österreichischen Immigrantenpaares. Im Rahmen dieses zweiten Rio-Aufenthaltes, der eine knappe Woche (25. August – 1. September 1949) dauerte, hielt Kelsen an der Fundação Getúlio Vargas, wo Klinghoffer unterrichtete,723 am 29. August erneut einen Vortrag über »Die NATO und die UN-Charta« und am 31. August, auf Einladung von Olavo Bilac Pinto, einen Vortrag an der Universidad do Brasil. Diese beschloss in weiterer Folge, Kelsen eine Ehrenprofessur zu verleihen, wozu es allerdings erst drei Jahre später, am 25. Juni 1952, kam.724 Als der in São Paulo lehrende Jurist Miguel Reale erfuhr, dass Kelsen in Rio weilte, rief er ihn kurzerhand an und fragte ihn, ob er auch in seine Stadt kommen wolle, dieser aber lehnte ab: »Ich bin Südamerikas überdrüssig.«725 Mit der SS P&T Forester fuhren Hans und Grete Kelsen Anfang September zurück nach New York.726 c) Die literarische Kontroverse mit Carlos Cossio 1953 Wie Hans Kelsen später berichtete, hatte er die juristische Fakultät Buenos Aires dazu ermächtigt, seine französischen Vortragstexte gemeinsam mit einer spanischen Übersetzung zu veröffentlichen, was jedoch »aus mir unbekannten Gründen« niemals erfolgte.727 Stattdessen erschien 1952 im Verlag Guillermo Kraft, Buenos Aires, ohne Genehmigung Kelsens, ein Buch mit dem Titel »Problemas escogidos de la Teoria Pura del Derecho. Teoria Egologica y Teoria Pura [Ausgewählte Probleme der Reinen Rechtslehre. Egologische Theorie und Reine Theorie]«, das Cossio und Kelsen als zwei gleichberechtigte Autoren angab. Es enthielt einen einleitenden Aufsatz von 722 Hans Kelsen, Brief an Carlos Cossio v. 13. 10. 1949, Original im Besitz von Eduardo Mendez. Ich danke Diego Luna, Buenos Aires, für die Übermittelung einer Kopie. 723 Getúlio Vargas (zu ihm oben 593) war 1945 als Staatspräsident Brasiliens zurückgetreten und wurde erst 1950 wiedergewählt. Wie Klinghoffer schreibt, hatte die in der (ersten) Amtszeit von Vargas gegründete Fundação Getúlio Vargas ihren Namen aus organisationsrechtlichen Gründen beibehalten, wies aber zur Zeit als Kelsen dort war, »absolut keinen ideologischen, finanziellen oder sonstigen Zusammenhang mit dem […] Regime« von Vargas auf: Hans Klinghoffer, Brief an Hans Kelsen v. 4. 8. 1949, HKI, Nachlass Kelsen 15s.58. 724 Die mit 25. 8. 1952 datierte Urkunde in: HKI, Nachlass Kelsen 15a33.57. Der entsprechende Beschluss des Rates der Universität von Brasilien wurde am 30. 8. 1949 gefasst und Kelsen mit Schreiben des Präsidenten der Universität, Pedro Calmon, am 25. 11. mitgeteilt: Personalakt Kelsen der UC Berkeley, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches; vgl. dazu auch Gassner, Kelsen in Lateinamerika (2014) 78 und die dortigen Hinweise zu den unrichtigen Angaben in anderen Werken. 725 Kelsen, zit. n. Losano, Kelsens Gutachten von 1933 (2016) 69. 726 Hugo Caminos, Interview vom 31. 3. 2012; Gassner, Kelsen in Lateinamerika (2014) 78. 727 Kelsen, Egologische Theorie (1953) 450. Erst in jüngster Zeit haben Oscar Sarlo (Montevideo) und Diego Luna (Buenos Aires) mit Unterstützung des HKI, das die Originalmanuskripte verwahrt, eine derartige Edition in Angriff genommen. Sie wird hoffentlich einiges Licht in die Cossio-Kelsen-Kontroverse bringen. – In einem Schreiben an Carlos Cossio v. 13. 10. 1949, Original im Besitz von Eduardo Mendez, berichtet Kelsen, dass er die Manuskripte der Fakultät übermittelt habe.
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Cossio, in dem dieser eine Bilanz der Kelsen-Reise zog und dabei u. a. behauptete, Kelsen habe in persönlichen Gesprächen ihm, Cossio, wesentlich mehr Zugeständnisse gemacht als in den akademischen Diskussionen. Daran schlossen sich spanische Übersetzungen der vier Kelsen-Vorträge – ohne die französischen Originaltexte, jedoch mit allerhand Zusätzen von Cossio an.728 Als Kelsen von diesem Buch erfuhr, verlangte er vom Verlag sofort, das Buch auf eigene Kosten aus dem Verkehr zu ziehen, wozu sich dieser auch sofort bereit erklärte.729 Dagegen ließ es Hans Kelsen zu, dass Cossio seine Einleitung zu diesem Buch 1953 in einer deutschen Übersetzung in der ZÖR – die von vielen Juristen nach wie vor als »Kelsens Zeitschrift« angesehen wurde – veröffentlichte. Der Hauptherausgeber der ZÖR, Verdroß, hatte Kelsen extra gefragt, und dieser hatte sich nur das Recht einer Erwiderung vorbehalten, die noch im selben Jahr ebenfalls in der Zeitschrift erschien. Bei dieser beschränkte sich Kelsen, wie er gleich zu Beginn betonte, darauf, die nach den Regeln der Wissenschaft vorgebrachten Argumente Cossios zu widerlegen. Dass er, wie von Cossio behauptet, »in privaten Unterhaltungen« ihm weit öfter recht gegeben habe, »als in den akademischen Ausführungen«,730 wurde von Kelsen durchaus nicht abgestritten, ja sogar indirekt bestätigt, indem Kelsen mit deutlicher Empörung erklärte, dass es »nicht üblich« sei, »sich in der Polemik gegen einen Autor auf Äußerungen zu beziehen, die dieser in ›privaten Unterhaltungen‹ gemacht habe.« Auch kam Kelsen nicht umhin zu bemerken, dass er sich bei seinen in Buenos Aires gehaltenen Vorträgen aus Gründen der Höflichkeit sehr mit Kritik an der Egologischen Lehre zurückgehalten hatte. Nunmehr, in seinem ZÖR-Aufsatz, hatte Cossio sich darüber sogar enttäuscht gezeigt und erklärt, er hätte damals entweder eine »Bekehrung« Kelsens zur Egologischen Theorie oder aber deren Widerlegung erwartet. So werde sich Kelsen nunmehr »bemühen, seine Erwartungen nicht zu enttäuschen. Die folgenden Ausführungen werden, hoffe ich, keinen Zweifel darüber lassen, welche Wahl ich getroffen habe.«731 Tatsächlich war der Aufsatz Kelsens eine umfassende Kritik an der Egologischen Theorie. Und wie fast stets bei seinen wissenschaftlichen Kampfschriften, so gelang es Kelsen auch diesmal, seinem Gegner Inkonsequenzen und Widersprüche innerhalb seiner eigenen Arbeiten nachzuweisen. Dies betraf insbesondere Cossios Kernthese, dass das Recht nicht aus Normen bestehe, sondern menschliches Verhalten sei. Wenn schon die egologische Theorie behaupte, dass die »egologische Hälfte« und die »mundane Hälfte« der Kultur eine Einheit bilden, sei es unerklärlich, weshalb Cossio die mundane Hälfte gerade beim Recht beiseiteschiebe. »Denn das Recht, das positive Recht, das den alleinigen Gegenstand der Rechtswissenschaft bildet, ist, 728 Kelsen/Cossio,
Problemas escogidos (1952). Egologische Theorie (1953) 450 f. Anm 2. Dieses Buch gilt aus diesem Grund als antiquarische Rarität; ein Exemplar befindet sich u. a. am HKI. Vgl. dazu auch Losano, Gerechtigkeit (2014) 74. 730 Cossio, Egologische Theorie (1953) 17 f. 731 Kelsen, Egologische Theorie (1953) 450 f. 729 Kelsen,
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4. Teil: Amerika und die Welt
was wohl niemand ernstlich leugnen wird, ein Erzeugnis menschlichen Tuns, und als solches – in der Terminologie Prof. Cossios – ›objektiviertes Dasein‹ oder ein ›mundaner Gegenstand‹.«732 Kelsen verwarf Cossios Vorstellung, dass die Reine Rechtslehre mit Logik gleichzusetzen sei, und bezeichnete die egologische Freiheitslehre als Metaphysik.733 In einem einzigen Punkt musste Kelsen Cossio Recht geben: Kelsen hatte gemeint, dass es menschliches Verhalten gebe, das rechtlich ganz indifferent, weil rechtlich nicht geregelt sei. Cossio hielt dem die These entgegen, dass alles was rechtlich nicht verboten, rechtlich erlaubt sei. Dies wurde nunmehr auch von Kelsen zugegeben734 und in der Folge fixer Bestandteil der Reinen Rechtslehre.735 Aber im Ganzen war Kelsens Kritik an Cossio vernichtend und zugleich abschließend; betonte er doch in seinem Schlusswort, dass damit die »Frage nach dem Verhältnis der Reinen Rechtslehre zur Egologischen Theorie« von seiner Seite aus »ein für alle Male beantwortet« sei.736 Cossio verfasste auf Kelsens Kritik noch eine Antwort, die 1954 auf Spanisch in »La Ley« und 1956 auf Deutsch in der ZÖR erschien, auf die Kelsen aber nicht mehr antwortete.737 Was Cossio selbst betraf, so verlor dieser 1956 infolge des Militärputsches von 1955 und des Sturzes von Perón seinen Lehrstuhl an der Universität von Buenos Aires, worauf ihm Gioja in dieser Position nachfolgte. Dieser hatte sich schon 1949, noch vor Kelsens Ankunft in Argentinien, von Cossio gelöst und sich zur Reinen Rechtslehre bekannt, sodass die Egologische Theorie fortan nicht mehr an der Universität Buenos Aires vertreten war. Cossio blieb weiter wissenschaftlich aktiv, begann nun aber auch, marxistische Elemente in seine Lehre einzubauen, worauf ihm die meisten seiner noch verbliebenen Schüler den Rücken kehrten. Nach seinem Tod 1987 wurde die Egologische Theorie nur mehr von wenigen Juristen weitergeführt.738
7. Die Emeritierung a) Der Kampf um die Pensionsansprüche Am 29. Mai 1947 beschlossen die »Regents« der University of California neue Regelungen für die Pensionierung von Universitätsangehörigen. Sie hätten, wären sie so jemals zur Anwendung gekommen, fatale Auswirkungen für Kelsen gehabt. Denn da er 732 Kelsen,
Egologische Theorie (1953) 459. Egologische Rechtslehre (2013) 152. 734 Kelsen, Egologische Theorie (1953) 454. 735 Vgl. etwa Kelsen, Was ist juristischer Positivismus? (1965) 468 = WRS 780. 736 Kelsen, Egologische Theorie (1953) 482. 737 Cossio, Anti-egologische Polemik (1956). Vgl. a. a. O. den Hinweis der Zeitschriftenredaktion, dass keine Antwort Kelsens auf diesen Aufsatz erfolgen werde. 738 Gassner /Olechowski, Egologische Rechtslehre (2013) 155 f. Erst in jüngster Zeit ist wieder ein vermehrtes Interesse an dieser Lehre in Argentinien bemerkbar: Im Herbst 2019 wurde an der Universidad Nacional La Plata eine »Cátedra Libre Carlos Cossio« eingerichtet: https://unlp.edu. ar/institucional/presentacion-catedra-libre-carlos-cossio-unlp-17138 [Zugriff: 20. 1. 2020]. 733 Gassner /Olechowski,
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3. Kapitel: Full Professor in Berkeley
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erst 1945, im Alter von 64 Jahren, zum full professor ernannt worden war, war er nicht in das »Retiring Annuities System« für Universitätsprofessoren übernommen worden, sondern im »State Employees’ Retirement System«, dem allgemeinen Pensionssystem für kalifornische Staatsbedienstete verblieben, in das er ein Jahr zuvor, am 1. Juli 1944, übernommen worden war. Das bedeutete, dass Kelsen drei Jahre früher als ursprünglich gedacht, mit 30. Juni 1949, in Pension gehen würde, mit einem Ruhegenuss von lediglich $ 46 im Monat!739 Kelsen, der nach wie vor keine Entschädigung aus Deutschland erhalten hatte und der auch nicht mehr von der Rockefeller Foundation unterstützt wurde, sah sich erneut mit existenziellen Problemen konfrontiert. Als ihn wenig später Clyde Eagleton von der New York University anschrieb und zu einer Gastprofessur einlud, zeigte sich Kelsen sehr interessiert. Er berichtete Eagleton von seiner Situation und dass er für das Herbstsemester 1948/49 eigentlich ein »sabbatical term«, d. h. ein vorlesungsfreies Semester nehmen wollte (wie berichtet, wollte er sich in diesem Semester gründlich auf seine bevorstehende Lateinamerika-Reise vorbereiten). Nun überlegte er, auf sein Sabbatical zu verzichten und bis zur Pensionierung zu unterrichten. Jedenfalls sehe er keinen Grund, weshalb er nicht ein Angebot der New York University akzeptieren solle.740 Doch brachte ihm der nächste Brief Eagletons herbe Enttäuschungen: Kelsen könne in New York »einen Kurs oder so« halten, jedoch ohne irgendeine Zusage auf Verlängerung. Die New York University sei bereits von zwei ausländischen Professoren verklagt worden, die nach Auslaufen ihres Lehrauftrages eine fortdauernde Unterstützung der Universität begehrten, sodass die Universitätsleitung sehr vorsichtig geworden sei. Eagleton zeigte sich sehr enttäuscht von dieser Entwicklung, meinte aber dennoch, dass Kelsen nach New York kommen solle, vielleicht ergebe sich an der Columbia University oder in Yale eine andere Gelegenheit.741 So wie schon 1944/45, bei der Ernennung Kelsens zum Full Professor der UC Berkeley, so wandte sich Frank M. Russell auch nun an Präsident Sproul, um ihm von der Besonderheit des Falles Kelsen zu berichten, der von den neuen Pensionsregelungen unverhältnismäßig hart betroffen wäre. Die Nationalsozialisten hätten seine Ersparnisse eingezogen, seine Schriften hätten keinerlei »commercial value«. Demgegenüber stehe, dass seine Leistungen in Forschung und Lehre außerordentlich hoch seien; seit 1942 habe er immerhin sechs Bücher und 30 Aufsätze publiziert. Russell 739 H. H. Benedict, Schreiben an Robert G. Sproul v. 30. 3. 1948, in: UC Berkeley, Bancroft Library, CU-5 Ser 3, Box 10. Laut https://www.eurologisch.at/docroot/waehrungsrechner/#/ [Abfrage vom 27. 11. 2019] entsprachen $ 46 im Jahr 1949 einer Kaufkraft von heute (2019) ca. € 1.200. 740 Clyde Eagleton, Schreiben an Hans Kelsen v. 3. 3. 1948 und v. 1. 4. 1948 sowie Antwortschreiben v. 10. 3. 1948 und v. 3. 5. 1948, alle in: HKI, Nachlass Kelsen 16c3.60. Wenn das akademische Jahr 1948/49 tatsächlich das letzte aktive Jahr für Kelsen gewesen wäre, hätte er in diesem kein Sabbatical erhalten dürfen: L. J. Livesey, Schreiben an Robert G. Sproul v. 26. 5. 1948, in: UC Berkeley, Bancroft Library, CU-5 Ser 3, Box 10. 741 Clyde Eagleton, Schreiben an Hans Kelsen v. 14. 5. 1948, in: HKI, Nachlass Kelsen 16c3.60.
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4. Teil: Amerika und die Welt
schlug vor, für Kelsen eine Ausnahme, etwa in Form eines »year-to-year arrangement« zu machen.742 Präsident Sproul beauftragte einen Mitarbeiter der Abteilung für Altersvorsorge der UC, H. H. Benedict, die Rechtslage im Falle Kelsen zu klären. Benedict bestätigte, dass Kelsen mit 30. Juni 1949 und mit einem Ruhegenuss von $ 46,– pro Monat in Pension gehen würde müssen, und erwog auch die Möglichkeiten, die der Präsident hatte, den Pensionsantritt hinauszuzögern. Eine solche Möglichkeit ergab sich insbesondere nach Section VI der retirement regulations für Kriegszeiten. Letztlich aber verwarf Benedict all diese Möglichkeiten; man würde ähnlichen Gesuchen Tür und Tor öffnen, wenn man bei Kelsen einen Präzedenzfall schaffe.743 Es bedurfte eines wahren Schutzengels, der Kelsen jetzt noch helfen konnte, und dieser kam in Gestalt von Peter H. Odegard, eines bedeutenden Politikwissenschaftlers, der nach verschiedenen Lehrtätigkeiten, u. a. in Stanford, im Herbst 1947 an die UC California gekommen war, um dort die Leitung des Political Science Department zu übernehmen.744 Als Vorgesetzter von Russell und Kelsen wandte auch er sich im Mai 1948 an Präsident Sproul und berichtete, dass er eine große Zahl an Briefen von Personen erhalten habe, die sich für eine Verlängerung Kelsens ausgesprochen hatten und dass auch er diese Verlängerung begrüßen würde, zumal Kelsen sowohl in der Forschung als auch in der Lehre außerordentlich erfolgreich sei.745 Präsident Sproul zeigte sich durchaus gewogen und schlug vor, Kelsen bis zu seinem 70. Lebensjahr auf Vertragsbasis weiter anzustellen, worüber sich Odegard hoch erfreut zeigte.746 Benedict, der zuständige Beamte in der Abteilung für Altersvorsorge, erhob jedoch grundsätzliche Bedenken dagegen, Kelsens Pensionierung hinauszuschieben. Als Mitglied des State Employees’ Retirement System sei für Kelsen eine Weiterbeschäftigung nach der Pensionierung nicht möglich. Und nicht einmal die Regents könnten Standing Orders umgehen. Das einzige »Schlupfloch« (loophole) sei der bereits früher von ihm genannte Passus in Section VI der Standing Orders, wonach der Präsident »während des durch den Krieg hervorgerufenen Staatsnotstandes […] und einer angemessenen Zeit danach« eine Pensionierung hinauszögern könne, allerdings nur unter gewissen Voraussetzungen.747 742 Frank M. Russell, Schreiben an Robert G. Sproul v. 22. 3. 1948, in: UC Berkeley, Bancroft Library, CU-5 Ser 3, Box 10. – Der persönliche, wiederholte Einsatz Russells für Kelsen steht in deutlichem Gegensatz zur Aussage von Kelsens Assistentin Virginia McClam, Interview v. 6. 7. 2007, wonach Russell Kelsen dessen Erfolg geneidet hatte. Falls letzteres tatsächlich der Fall war, betraf es wohl kaum Kelsens beruflichen Erfolg in Berkeley, sondern eher jene Auszeichnungen und Ehrungen, die er im Alter erhielt. 743 H. H. Benedict, Schreiben an Robert G. Sproul v. 30. 3. 1948, in: UC Berkeley, Bancroft Librar y, CU-5 Ser 3, Box 10. 744 Geb. Montana 1901, gest. Mai 1968, vgl. Lipson/Scalapino/Seabury, Odegard (1968). 745 Peter H. Odegard, Schreiben an Robert G. Sproul v. 13. 5. 1948, in: UC Berkeley, Bancroft Library, CU-5 Ser 3, Box 10. 746 Robert G. Sproul, Schreiben an Peter H. Odegard v. 18. 5. 1948 und Antwortschreiben v. 24. 5. 1948, beide in: UC Berkeley, Bancroft Library, CU-5 Ser 3, Box 10. 747 H. H. Benedict (UC Department of Insurance and Retirement Systems), Schreiben an
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3. Kapitel: Full Professor in Berkeley
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Nun trat ein völliges Durcheinander ein: Russell informierte Kelsen, dass eine Weiterbeschäftigung möglich sei, zugleich aber wurde Kelsen (offenbar von Benedict) darüber belehrt, dass dies eben nicht möglich sei.748 Sproul beauftragte nun offenbar einen Mitarbeiter seines Büros, Robert S. Johson, die Sache zu klären, und auch dieser sprach sich für eine Verlängerung Kelsens aus. Der Krieg habe einerseits zu hohen Studentenzahlen, andererseits zu einem Mangel an Lehrern geführt, Kelsen sei nicht nur ein »außerordentlich wertvolles Mitglied unserer Fakultät«, sondern derzeit schlicht und einfach unersetzbar. Auch sei Kelsen trotz seines Alters sowohl geistig und körperlich völlig auf der Höhe, »würde man sein Alter nicht kennen, würde man ihn auf Mitte Fünfzig schätzen.« Schließlich, so Johnson, sei der Fall Kelsen, insoweit er nicht Mitglied des »Retiring Annuities System« für Universitätsprofessoren sei, einzigartig und daher nicht zu befürchten, dass damit ein Präzedenzfall geschaffen werde.749 All dies führte dazu, dass Präsident Sproul im August 1948 Odegard aufforderte, ihm einen offiziellen Antrag zu stellen, Kelsen zu verlängern, was auch erfolgte.750 Zugleich richtete Sproul ein Schreiben an Kelsen, in dem er ihn davon in Kenntnis setzte, dass er seine Verlängerung bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres wünsche, dass aber noch die Zustimmung der Regents erfolgen müsse.751 Tatsächlich ließ die Entscheidung der Regents auf sich warten. Nochmals machte Benedict rechtliche Bedenken geltend und erklärte, dass man die Standing Orders ändern müsste, um Kelsens Pensionierung hinauszuzögern.752 Als Kelsen im Mai 1949 zu einem Dinner für emeritierende Fakultätsmitglieder eingeladen wurde, bekam er Zweifel, ob die Zusage Sprouls auch tatsächlich halten würde.753 Schließlich stellte sich heraus, dass außer Kelsen noch ein zweiter Mitarbeiter der Universität von den neuen Pensionierungsregelungen betroffen war: der 1881 geborene Samuel Parker Friselle, der seit dem Jahr 1912 den Kearney Vineyard754 leiRobert G. Sproul v. 7. 7. 1948 und v. 22. 7. 1948, beide in: UC Berkeley, Bancroft Library, CU-5 Ser 3, Box 10. 748 Russell Barthell (Assistent to the UC Chancellor), Schreiben v. 12. 7. 1948, in: UC Berkeley, Bancroft Library, CU-5 Ser 3, Box 10. 749 Robert S. Johnson, Schreiben an Robert G. Sproul v. 22. 7. 1940, in: UC Berkeley, Bancroft Library, CU-5 Ser 3, Box 10. 750 Robert G. Sproul, Schreiben an Peter Odegard v. 11. 8. 1948 und Antwortschreiben v. 26. 8. 1948, beide in: UC Berkeley, Bancroft Library, CU-5 Ser 3, Box 10. 751 Robert G. Sproul, Schreiben an Hans Kelsen v. 12. 8. 1948, in: UC Berkeley, Bancroft Library, CU-5 Ser 3, Box 10. 752 H. H. Benedict, Schreiben an Robert G. Sproul v. 21. 3. 1949, in: UC Berkeley, Bancroft Library, CU-5 Ser 3, Box 10. 753 Peter Odegard, Schreiben an Robert G. Sproul v. 20. 5. 1949, in: UC Berkeley, Bancroft Library, CU-5 Ser 3, Box 10. 754 Der Großgrundbesitzer und »König der Weintrauben« [»Raisin King«] Martin Theo Kearney (1842–1906) hatte der UC ein großes Weingut vermacht, mit der Auflage, hier eine Forschungseinrichtung zu schaffen, die das bestehende College of Agriculture ergänzen sollte. Vgl.https://www. valleyhistory.org/index.php?c=71 [Zugriff: 02. 05. 2019]; Stadtman, The University of California (1970) 152.
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tete und aufgrund dieser Tätigkeit sowie auch als Mitglied der Wirtschaftskammern [Chamber of Commerce] des Staates und des County eine vielgeachtete und einflussreiche Persönlichkeit in landwirtschaftlichen Kreisen war. Es scheint, dass dieser Umstand entscheidend dazu beitrug, dass Benedict nun einlenkte und selbst eine Novellierung der Standing Orders vorschlug: Die Pensionierung eines Mitarbeiters solle dann hinausgezögert werden können, wenn dies im Interesse der Universität liege, und wenn eine der beiden folgenden Bedingungen gegeben sei: a) dass der Mitarbeiter, wenn er nicht Mitglied des State Employee’s Retirement System, sondern des Retiring Annuities System wäre, nach den bestehenden Regelungen wieder in den Dienst gestellt werden könnte (diese Regelung war für Kelsen maßgeschneidert), oder b) dass sich der Mitarbeiter in einem Angestelltenverhältnis im Verwaltungsbereich der Universität befinde, das im Zeitraum zwischen seiner normalen und seiner erzwungenen Pensionierungen zu Ende gehe oder beendet werde (diese Bestimmung sollte der Verlängerung Friselles dienen). In jedem Fall habe die Verlängerung durch den Präsidenten auf Vorschlag des zuständigen Institutsvorstands zu erfolgen und dürfe längstens bis zur Vollendung des Monats, in dem der betreffende Mitarbeiter das 70. Lebensjahr vollende, erfolgen.755 Kelsen, der gerade von einer Vortragsreise aus Washington zurück nach Berkeley gekommen war, wurde daher von Präsident Sproul offiziell verständigt, dass seine Anstellung bis zum 1. November 1951, d. h. knapp über seinen 70. Geburtstag hinaus verlängert worden war. »Dies bedeutete nicht nur eine Anerkennung seiner Leistungen, sondern enthob Kelsen auch einer lastenden Sorge um die materielle Zukunft der nächsten Jahre.«756 b) Der Kampf um das letzte Jahr Ein knappes Jahr vor Kelsens anstehender Pensionierung, im Februar 1951, wurde an der UC begonnen, darüber zu diskutieren, ob Kelsen noch ein weiteres Jahr, bis Juni 1952, unterrichten könnte.757 Benedict verwies auf die vor zwei Jahren novellierten Standing Orders, die eine Verlängerung längstens bis zum Ende des Monats, in dem der Betreffende sein 70. Lebensjahr vollende, vorsehen; dies war bei Kelsen eben am 1. November 1951 der Fall.758 Odegard wandte sich daraufhin direkt an Präsident Sproul und schlug vor, dass Kelsen das Gehalt für sein letztes Jahr ($ 7800,–) aus dem »Anonymous Fund« erhalten solle. 755 H. H. Benedict,
Schreiben an Robert G. Sproul v. 24. 5. 1949, in: UC Berkeley, Bancroft Library, CU-5 Ser 3, Box 10. 756 Métall, Kelsen (1969) 84. 757 Peter H. Odegard, Schreiben an H. H. Benedict v. 20. 2 . 1951, in: UC Berkeley, Bancroft Library, CU-5 Ser 3, Box 10. 758 H. H. Benedict, Schreiben an Peter H. Odegard v. 23. 2 . 1951, in: UC Berkeley, Bancroft Library, CU-5 Ser 3, Box 10.
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Benedict war sichtlich ungehalten über diesen Fall, der ihm und dem Präsidenten schon so viel Schwierigkeiten bereitet hatte; gegenüber Sproul gab er seiner Meinung Ausdruck, dass Kelsen versuche, einen »Fuß in die Tür« zu stellen, und wenn Sproul ihn tatsächlich noch über den 1. November hinaus behalten würde, würde Kelsen versuchen, auf ewig an der UC Berkeley zu bleiben. Im Übrigen sei es unerheblich, aus welchem Topf Kelsen bezahlt werden würde, es bliebe doch eine Bezahlung durch die University of California.759 Nun aber ging Odegard in die Offensive: Am 16. April 1951 schrieb er einen direkten Brief an einen der Regents der University of California, den (offenbar mit ihm befreundeten) Bankier Edward Heller vom Bankhaus Schwabacher & Co. in San Francisco. Heller war der Fall Kelsen bereits bekannt; Odegard berichtete ihm von den jüngsten Entwicklungen und dass Kelsen als Pension nur $ 1200,– pro Jahr erhalten würde. Es müssten daher $ 6600,– aufgetrieben werden, um sein bisheriges Jahresgehalt (zuletzt $ 7800,–) wieder zu erreichen. Odegard erinnerte Heller an dessen bisherige Generosität bezüglich des Political Science Department und schlug ihm vor, im kommenden Jahr keine Spende an den Anonymous Fund zu leisten, sondern direkt Kelsen zu finanzieren – und Heller ging sofort auf diesen Vorschlag ein!760 Präsident Sproul musste eine solche Vorgangsweise natürlich missbilligen, ließ aber erkennen, dass er angesichts der Besonderheit des Falles ein Auge zudrücken würde.761 In den folgenden Tagen wurden noch die Details geklärt, wobei sich die Finanzlast für den edlen Sponsor noch etwas reduzierte: Kelsen sollte mit 1. Juli erneut zum Professor ernannt und in den Monaten Juli, August, September und Oktober sein (sogar leicht erhöhtes) Gehalt – $ 682,50 pro Monat – beziehen, danach, also ab 1. November, nur mehr seine Pension in Höhe von $ 100,– pro Monat,762 somit insgesamt $ 3530,– für das gesamte akademische Jahr 1951/52. Zusätzlich aber wurden Kelsen $ 4600,– direkt vom Bankhaus Schwabacher & Co. bezahlt.763 So wurde es letztlich möglich, dass Kelsen auch noch im Herbstsemester 1951/52 und im Frühlingssemester 1952 seine Lehrveranstaltungen aus »International Law«, »Origins of Legal Institutions« und aus »Elements of Jurisprudence«, wie gewohnt halten konnte.764 759 H. H. Benedict,
Schreiben an Robert G. Sproul v. 23. 2 . 1951 und v. 21. 3. 1951, beide in: UC Berkeley, Bancroft Library, CU-5 Ser 3, Box 10. 760 Peter H. Odegard, Schreiben an Edward H. Heller v. 16. 4. 1951 und Antwortschreiben v. 18. 4. 1951, beide in: UC Berkeley, Bancroft Library, CU-5 Ser 3, Box 10. Die Hilfestellung Hellers wird auch erwähnt in: Grete Unger, Brief an Frederick und Anna Unger v. 28. 5. 1951, in: LBI Archives, Unger Family Collection, Box 26, Folder 27, p. 884–886. 761 Aktennotiz v. 18. 4. 1951, in: UC Berkeley, Bancroft Library, CU-5 Ser 3, Box 10. 762 $ 100 entsprach 1952 laut https://www.eurologisch.at/docroot/waehrungsrechner/#/ [Abfrage vom 27. 11. 2019] einer Kaufkraft von heute (2019) ca. € 1.588,78. 763 Peter H. Odegard, Schreiben an Robert G. Sproul v. 12. 5. 1951 und Antwortschreiben v. 14. 5. 1951; Peter H. Odegard, Schreiben an Edward H. Heller v. 10. 8. 1951, alle in: UC Berkeley, Bancroft Library, CU-5 Ser 3, Box 10. Die Gehaltszahlung an Kelsen für die Monate Juli–Oktober wurde mit Schreiben der Regents an Hans Kelsen v. 14. 6. 1951 angekündigt: Personalakt Kelsen der UC Berkeley, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. 764 General Catalogue 1951–1952, 432–440.
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c) Die Bollingen Foundation Mit diesen Regelungen hatte Kelsen seine Existenz vorläufig abgesichert. Die Pension, die er ab Juli 1952 erhalten sollte, war jedoch mit $ 1.200,– im Jahr nach wie vor äußerst bescheiden. Im Mai 1951 richtete er – wohl auf Empfehlung von Peter H. Odegard – ein Schreiben an das American Council of Learned Societes, eine 1919 gegründeten Gelehrtengesellschaft, deren Hauptaufgabe es ist, die USA in der Union Académique Internationale zu vertreten. Geschäftsführer dieser Gesellschaft war Charles E. Odegaard, der so wie Peter H. Odegard ein Nachkomme norwegischer Einwanderer war; trotz der unterschiedlichen Schreibweise ihrer Namen ist eine engere Verwandtschaft durchaus wahrscheinlich. Kelsen berichtete Charles Odegaard von seinen Forschungen über »The idea of justice«, und dass sein Buch in zwei Teile zerfalle: der erste befasse sich mit den alten Ägyptern, Babyloniern, Israeliten und Griechen; der zweite mit den »Prae-Platonikern« und der Aristotelischen Philosophie, mit Thomas v. Aquin, dem Naturrecht und zuletzt mit Kant. Kelsen gab an, dass er noch zwei Jahre für sein Buch benötigen würde, jedoch demnächst in Pension gehe und dann lediglich $ 100,– beziehen werde, weshalb er sich nach einer Lehrtätigkeit umsehen müsse, was ihn aber von der wissenschaftlichen Arbeit abhalten werde. Aus diesem Grund erkundigte er sich nach einer fellowship oder nach einem grant-in-aid vom American Council of Learned Societies. Dem Schreiben war ein Empfehlungsschreiben von Peter H. Odegard beigefügt.765 Charles Odegaard musste ihm antworten, dass das Council seit 1948 nicht mehr über Mittel für derartige Projekte verfüge.766 Doch beriet sich Charles Odegaard mit Huntington Cairns, ob sich Kelsen mit seinem Anliegen nicht an die Bollingen Foundation wenden könne. Die 1945 gegründete Bollingen Foundation – so benannt nach dem Wohnturm von C. G. Jung im schweizerischen Bollingen – unterstützte wissenschaftliche Projekte im Bereich der Anthropologie, Archäologie, Mythologie, Philosophie, Psychologie, Religion, Soziologie und Kunst. Cairns antwortete ihm wenig später, dass er sich bei der Bollingen Foundation erkundigt habe und sich Kelsen um ein dreijähriges Stipendium bewerben könne.767 Kelsen richtete in weiterer Folge ein Bewerbungsschreiben an die Foundation, erläuterte darin nochmals sein Vorhaben, an der »Idea of Justice« zu arbeiten, beantragte in diesem Bewerbungsschreiben $ 3.600,– pro Jahr, den
765 Hans Kelsen, Schreiben an Charles E. Odegaard v. 3. 5. 1951; Peter H. Odegard, Schreiben an Charles E. Odegaard v. 3. 5. 1951, beide in: LOC, Manuscript Division, Bollingen Foundation Records, 470.090 Kelsen Hans, eine Kopie des zuerst genannten Schreibens auch in Personalakt Kelsen der UC Berkeley, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. Peter H. Odegard schreibt seinen eigenen Namen in diesem Brief wohl mit Absicht »Odegaard«. 766 Charles E. Odegaard, Schreiben an Hans Kelsen v. 8. 5. 1951, in: LOC, Manuscript Division, Bollingen Foundation Records, 470.090 Kelsen Hans. 767 Charles E. Odegaard, Schreiben an Huntington Cairns v. 9. 5. 1951 und Antwortschreiben v. 28. 5. 1951, beide in: LOC, Manuscript Division, Bollingen Foundation Records, 470.090 Kelsen Hans.
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Höchstbetrag, den die Bollingen Foundation vergeben konnte.768 Als Referenzen gab er Roscoe Pound, Peter Odegard und Huntington Cairns an, die alle drei auch in der Folge von der Foundation um Stellungnahmen gebeten wurden und sich wärmstens für Kelsen aussprachen. Auf dieser Grundlage beschloss die Bollingen Foundation im August 1951 eine fellowship in der vollen beantragten Höhe: Kelsen sollte von Jänner 1952 bis Dezember 1954 monatlich $ 300,– beziehen, um sein Werk über die »Idea of Justice« vollenden zu können.769 Am 4. Jänner 1952 berichtete Kelsen der Bollingen Foundation, dass er mit 31. Oktober 1951 in den Ruhestand getreten sei, jedoch gebeten worden war, noch ein weiteres Jahr zu lehren und in dieser Zeit auch die Differenz zwischen seiner Pension ($ 102,–) und seinem bisherigen Gehalt beziehe. Er erkundigte sich, ob dies dem Bezug seiner fellowship entgegenstehe. Die Bollingen Foundation hatte jedoch keine Einwände.770 Insgesamt bezog Kelsen noch bis Ende 1957 ein Stipendium von der Bollingen Foundation.771 d) Ehrendoktorat und Abschiedsvorlesung Am 17. März 1952 wurde Kelsen, gemeinsam mit den beiden Amerikanern Arthur Lehman Goodhart und Farnham Pond Griffiths, das Ehrendoktorat der University of California verliehen.772 Kelsen wurde dem Auditorium von Baldwin M. Woods, dem Vizepräsidenten der university extension, vorgestellt. Präsident Sproul bezeichnete Kelsen als einen »originellen Denker im Bereich der Rechtsphilosophie und des Völkerrechts, Ko-Autor der österreichischen Verfassung, geehrt von Universitäten dreier Kontinente aber vor allem auch durch die erbitterte Feindschaft Adolf Hitlers.«773 Zwei Monate später, am 27. Mai 1952, hielt Kelsen seine Abschiedsvorlesung an der University of California, und zwar im Rahmen der »Bernard Moses Memorial 768 Hans Kelsen, Bewerbungsschreiben v. 5. 6. 1951, in: LOC, Manuscript Division, Bollingen Foundation Records, 470.090 Kelsen Hans. 769 Ernest Brooks (Bollingen Foundation), Schreiben an Hans Kelsen v. 21. 8. 1951, in: LOC, Manuscript Division, Bollingen Foundation Records, 470.090 Kelsen Hans; Hans Kelsen, Brief an Huntington Cairns v. 7. 11. 1951 und Antwortschreiben v. 14. 11. 1951, in: LOC, Manuscript Division, Huntington Cairns Papers, Container 33. 770 Hans Kelsen, Schreiben an Ernest Brooks (Bollingen Foundation) v. 4. 1. 1952 und Antwortschreiben v. 18. 1. 1952, beide in: LOC, Manuscript Division, Bollingen Foundation Records, 470.090 Kelsen Hans; der zuerst genannte Brief auch in Kopie in: Personalakt Kelsen der UC Berkeley, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. 771 Hans Kelsen, Schreiben an Ernest Brooks (Bollingen Foundation) v. 11. 10. 1954 und Antwortschreiben v. 2. 1 2. 1954, beide in: LOC, Manuscript Division, Bollingen Foundation Records, 470.090 Kelsen Hans; Hans Kelsen, Brief an Huntington Cairns v. 8. 1 2. 1954, in: LOC, Manuscript Division, Huntington Cairns Papers, Container 33. 772 Robert G. Sproul, Schreiben an Hans Kelsen v. 28. 1. 1952 und Antwortschreiben v. 18. 2 . 1952, beide in: HKI, Nachlass Kelsen 15a27.57. 773 Oakland Tribune Nr. 77 v. 17. 3. 1952, 1; die vom Präsidenten gesprochenen Worte finden sich auch auf der – vom kalifornischen Gouverneur Earl Warren und Präsident Sproul gemeinsam unterfertigten – Promotionsurkunde, HKI, Nachlass Kelsen 15a27.57.
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Lectures«, einer Vortragsreihe, die 1937 zu Ehren des Gründers des Political Science Department eingerichtet worden war und die bis heute fortgeführt wird.774 Als Thema hatte sich Kelsen die Behandlung der Frage »What is Justice? [Was ist Gerechtigkeit?]« vorgenommen, und bereits die Art und Weise, wie er diesen einstündigen Vortrag775 begann, zeigte, dass er sich vorgenommen hatte, sein Lebenswerk zu krönen: Setzte er doch unmittelbar mit dem Dialog zwischen Pilatus und Jesus aus dem 18. Kapitel des Johannesevangeliums ein, mit dem er so viele andere Vorträge, wie insbesondere jenen über »Wesen und Wert der Demokratie« beendet hatte. Nicht der End-, sondern der Anfangspunkt seiner Überlegungen war ihm hier die Behauptung Jesu, dass er in die Welt gekommen sei, um Zeugnis zu geben für die Wahrheit, und er korrigierte den Gottessohn sogleich, dass dies eigentlich doch nicht der Hauptzweck seiner »Sendung als Messianischer König [war]. Er war geboren, Zeugnis zu geben für die Gerechtigkeit, jene Gerechtigkeit, die er in dem Königreich Gottes verwirklichen wollte.«776 Wenn der Mensch nach Gerechtigkeit strebe, so stecke dahinter die Sehnsucht nach dem Glück. Doch auch die gerechteste Ordnung könne nicht jedem sein individuelles Glück garantieren. Wenn zwei Menschen um dieselbe Sache – oder auch um die Liebe zur selben Frau – konkurrieren, sei es unmöglich, beide glücklich zu machen: des einen Glück sei des anderen Unglück. Wenn in der Gerechtigkeitsdebatte von Glück gesprochen werde, so sei damit nur jenes Glück gemeint, welches der »Befriedigung gesellschaftlich anerkannter Bedürfnisse« diene; es mache eine radikale Metamorphose durch, nicht unähnlich jener Metamorphose, die die Freiheit in Kelsens Demokratielehre durchwandere.777 Aber was sind diese »gesellschaftlich anerkannten Bedürfnisse«? Kelsen erklärte – und dies war eigentlich auch die Kernaussage seines Vortrages –, dass die Antwort auf diese Frage »stets ein Urteil [sei], das in letzter Linie von emotionalen Faktoren bestimmt [werde] und daher einen höchst subjektiven Charakter« habe.778 Ob Leben, ob Freiheit, ob Sicherheit der höchste Wert sei – darauf gebe es keine objektive Antwort. Ob es Fälle gebe, in denen der Selbstmord sittlich gerechtfertigt sei, ob ein Arzt einem unheilbar Kranken die Wahrheit über seinen baldigen Tod sagen solle – dies kann allein auf Grund »rational-wissenschaftlicher Erwägungen« nicht gesagt werden. 774 http://gradlectures.berkeley.edu/series/moses-lectures
[Zugriff: 02. 05. 2019]. Tonaufzeichnung des Vortrages ist online auf http://www.language.berkeley.edu/SA_ MP3files/SA0361/001_1.mp3 [Zugriff: 02. 05. 2019] sowie – ohne die vermutlich von Peter Odegard gesprochenen, einleitenden Worte – auch auf https://www.youtube.com/watch?v=akh1Xci1HY0 [Erstellt: 28. 1. 2016/Zugriff: 02. 05. 2019] abrufbar. 776 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1953) 1. Die »Umdeutung« des Wortes Jesu von »Wahrheit« in »Gerechtigkeit« wurde u. a. von Eric Voegelin in einem Brief an Hans Kelsen v. 7. 3. 1954 kritisiert: HKI, Nachlass Kelsen 21ac.70, in Kopie auch in: Stanford University, Hoover Institution Archives, Eric Voegelin Papers, Box 20. 777 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1953) 5. Vgl. Kelsen, Demokratie (1929) 6 = VdD 156 sowie auch Kelsen, Metamorphoses (1947). 778 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1953) 6. 775 Eine
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Abb. 49: Verleihung der Ehrendoktorwürde der UC Berkeley, 17. März 1952.
Und doch habe der Mensch das tiefe Bedürfnis, für sein Verhalten eine absolute Rechtfertigung zu finden. Die zahlreichen Gerechtigkeitstheorien, die »seit den ältesten Zeiten bis auf den heutigen Tag vorgebracht wurden«, reduzierte Kelsen auf zwei »Grundtypen«. Der erste Grundtypus sei der metaphysisch-religiöse, wie er von Platon oder auch von Jesus gelehrt werde. Gerechtigkeit sei hier ein »Geheimnis«, welches nur von wenigen erkannt werden könne.779 Dem stellte Kelsen »einen rationalistischen oder, richtiger gesagt, einen pseudo-rationalistischen« Ansatz gegenüber.780 Dieser versuche, Formeln zu finden, mit denen die Gerechtigkeit gefunden werden könne, etwa: »Jedem das Seine«,781 »Was du nicht willst, daß man dir tue, das tue auch einem anderen nicht«782 oder »Handle nur nach der Maxime, von der du zugleich wünschen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.«783 Kelsen legte überzeugend 779 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1953) 20. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang seine – vom Kern seines Themas abweichenden – Erörterungen über die von Jesus gelehrte Liebe, die »nicht die Liebe des Menschen« sei: Er lehre, Feinde zu lieben (Mt 5, 44), aber zugleich, um des Reiches Gottes willen seine Familie zu verlassen (Lk 14, 26). Und Kelsen staunt über die Liebe, die vereint werden muss mit der Furcht vor der ewigen Verdammnis, in die Sünder von Gott geschickt werden. 780 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1953) 18, 23 ff. 781 So schon Platon, Politeia IV, 433a. Der Spruch wurde auch danach immer wieder verwendet; er befand sich u. a. auf dem Haupttor des KZ Buchenwald, weshalb er später – aus Gründen, die nichts mit der Lehre Platons zu tun haben – in Verruf geriet. 782 Diese sog. Goldene Regel wurde seit der Antike immer wieder diskutiert, sie findet sich u. a. bei Mt 7,12. 783 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) AA IV, 421.
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dar, dass es sich in all diesen Fällen nur um Leerformeln handelte, die keinen echten Erkenntnisgewinn brachten. Denn was ist »das Seine«? Und wie sollen sich alle verhalten, sodass dies ein Maßstab für das Verhalten des Einzelnen sein könne? Gleiches mit Gleichem zu vergelten, sei nur dann möglich, wenn man bereits wisse, was gleich, was ungleich sei. Damit werde aber das zu Suchende bereits als gegeben vorausgesetzt, und das Gleichheitsgebot erweise sich als tautologische Leerformel.784 Ebenso verhalte es sich z. B. mit der sog. Mesotes-Lehre des Aristoteles, wonach die Tugend die Mitte zwischen zwei Extremen bilde: Sie gebe nur dann einen Sinn, wenn man schon wisse, worin die Extremitäten liegen. So kam Kelsen zu der Erkenntnis: »Absolute Gerechtigkeit ist ein irrationales Ideal.«785 In nicht zu überbietender Deutlichkeit bekannte sich Kelsen damit zu einem Wertrelativismus. Und es ist seinen Worten anzumerken, wie unbefriedigend für ihn selbst dieses Ergebnis war. Denn könne ein Wertrelativist überhaupt eine Moral haben, oder sei er notwendigerweise amoralisch oder unmoralisch? Kelsen war anderer Meinung: Er erklärte, dass der relativistischen Wertlehre das moralische Prinzip der Toleranz zugrunde liege. Hier freilich beging Kelsen einen Denkfehler, und nicht nur das: er widersprach sich selbst. Hatte Kelsen doch nur wenige Sätze zuvor erklärt, dass »auch die Gerechtigkeit des Friedens […] nur eine relative, keine absolute Gerechtigkeit« sei.786 Damit hätte ihm klar sein müssen, dass die Verbindung zwischen Wertrelativismus und Toleranz keine zwingend notwendige sei, dass Toleranz nur eines von vielen moralischen Prinzipien sei, die einem Wertrelativismus zugrunde liegen können.787 Immerhin bekannte Kelsen am Ende seines Vortrages ein, dass auch er nicht die Frage, was Gerechtigkeit sei, diese Frage, die von den größten Denkern der Geschichte unbeantwortet geblieben ist, beantworten habe können. »Ich muß mich mit einer relativen Gerechtigkeit begnügen und kann nur sagen, was Gerechtigkeit für mich ist. Da Wissenschaft mein Beruf ist und sohin das Wichtigste in meinem Leben, ist es jene Gerechtigkeit, unter deren Schutz Wissenschaft, und mit Wissenschaft Wahrheit und Aufrichtigkeit gedeihen können. Es ist die Gerechtigkeit des Friedens, die Gerechtigkeit der Demokratie, die Gerechtigkeit der Toleranz.«788 Vor allem diese Schlussworte zeigen, wie sehr Kelsen in diesem Vortrag die Summe aus seinen jahrzehntelangen Forschungen zog.789 Der Wertrelativismus, seit Kelsens 784 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1953) 26, führt in diesem Zusammenhang aus, dass die »Gleichheit vor dem Gesetz« im Grunde nur bedeute, »daß die rechtsanwendenden Organe keine Unterschiede machen sollen, die das anzuwendende Recht nicht selbst macht.« Es sei also nur eine spezifische Ausprägung des allgemeinen Legalitätsgebots; eine darüber hinausgehende Bedeutung vermag Kelsen nicht zu erkennen. Vgl. dazu schon Kelsen, Rights and Duties of States (1950) 269. 785 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1953) 40. 786 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1953) 40. 787 Kondylis, Jurisprudenz (1995) 343. 788 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1953) 43. Vgl. Ladavac, Philosophy of Law (2016) 237. 789 Dreier, Der Preis der Moderne (2017) 17, hebt hervor, wie sehr Kelsen »alteuropäischen Fragestellungen nach Recht und Gerechtigkeit […] verhaftet« geblieben war.
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Habilitationsschrift von 1911 eine der beiden Säulen seiner Rechtstheorie wie auch seit 1919 seiner Demokratietheorie, war geradezu das zentrale Thema dieses Vortrages; bemerkenswerterweise allerdings nicht die andere Säule der Reinen Rechtslehre: die Sein-Sollen-Dichotomie. Ja, es wurde die Reine Rechtslehre selbst überhaupt nicht thematisiert; nur indirekt war auch sie mit betroffen, indem Kelsen mit der Fundierung des Wertrelativismus auch einem der traditionellen Haupteinwände gegen seine Rechtslehre wirksam begegnete. Kelsen, der nach seiner Emeritierung in Berkeley auf eine ausgedehnte Europareise ging, hielt diesen Vortrag wieder und wieder; Schriftfassungen desselben erschienen 1953 auf Deutsch, auf Dänisch und auf Finnisch, 1954 auf Niederländisch und auf Norwegisch, 1955 auf Italienisch, 1956 auf Spanisch, erst 1957 auch auf Englisch, danach auch noch auf Serbisch, Ungarisch, Japanisch, Chinesisch und Koreanisch.790 e) Festschriften Für Kelsens 70. Geburtstag wurde von zwei Seiten an einer Festschrift gearbeitet: Einer Gruppe um Hans Morgenthau und Peter Odegard stand eine andere um Salo Engel791 und Rudolf Métall gegenüber. Morgenthau schaltete sogar Kelsen selbst ein, um ihn zu fragen, ob er nicht Engel dazu bringen könne, sich mit seinem Projekt dem anderen anzuschließen.792 Kelsen erklärte sich zu so einer Vermittlung bereit,793 was jedoch nichts fruchtete. Die zuerst genannte Gruppe war deutlich schneller; mit »nur« zwei Jahren Verspätung erschien 1953 in der University of California Press das Buch »Law and Politics in the World Community«.794 Als Herausgeber fungierten jedoch weder Morgenthau noch Odegard, sondern der junge und vergleichsweise unbekannte Assistenzprofessor der UC Berkeley George A. Lipsky.795 Siebzehn Autoren aus Europa und den USA hatten hier mitgewirkt. Von der alten »Wiener Schule« waren Leo Gross, Erich Hula, 790 Walter /Jabloner /Zeleny,
Hans Kelsens stete Aktualität (2003) 203 f. Salo Engel, geb. 1908, war 1935 in Genf aufgrund einer von Kelsen betreuten Arbeit zu »Art. 5 und Art. 14 Satz 3 der Völkerbundsatzung« promoviert worden: Busch/Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2015) 31. Laut Buchumschlag von Engel/Métall, Law, State and International Order (1964) war er nunmehr Professor für Political Science an der University of Tennessee. 792 Hans J. Morgenthau, Brief an Hans Kelsen v. 10. 1. 1950, in: LOC, Manuscript Division, Hans Morgenthau Papers, Box 33, Folder 6. 793 Hans Kelsen, Brief an Hans J. Morgenthau v. 23. 1. 1950, in: LOC, Manuscript Division, Hans Morgenthau Papers, Box 33, Folder 6. 794 Lipsky, Law and Poltics (1953). Die UC Press hatte auch die Finanzierung des Bandes übernommen: George A. Lipsky, Brief an Hans J. Morgenthau v. 4. 5. 1950, in: LOC, Manuscript Division, Hans Morgenthau Papers, Box 33, Folder 6. Wie aus dem Vorwort hervorgeht, hatte Edward H. Heller, der Kelsen ja schon bei seiner Pensionierung geholfen hatte, auch daran mitgewirkt, dass das Buch erscheinen konnte, wohl v. a. durch finanzielle Unterstützung. 795 George A. Lipsky, geb. Seattle/WA 3. 4. 1912, gest. München 22. 8. 1972. Assistenzprofessor am Political Science Department der UC Berkeley 1946–1953, an der American University in Washington D. C. 1956–1961, am Wabash College in Indiana ab 1963. Vgl. https://www.cambridge. org/core/services/aop-cambridge-core/content/view/FBE3E598472A624FCCB5B63A05EEF874/ S1049096500005400a.pdf/george_a_lipsky.pdf [Zugriff: 31. 7. 2019]. 791
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Josef Kunz und Alfred Verdroß sowie der in dieser Tradition arbeitende Grazer Professor Heinrich Brandweiner dabei; noch in seiner Schweizer Zeit hatte Kelsen die Autoren Alwyn V. Freeman, Paul Guggenheim, Hersch Lauterpacht, Hans J. Morgenthau und Georges Scelle kennengelernt; aus Norwegen trug Edvard Hambro zur Festgabe für seinen Freund bei. Die übrigen Autoren – Clyde Eagleton, Arthur Nußbaum, Covey T. Oliver, Joseph G. Starke, Robert W. Tucker und Quincy Wright – hatte Kelsen erst in Amerika kennengelernt. Und obwohl der Untertitel der Festgabe lautete »Essays on Hans Kelsen’s Pure Theory and Related Problems in International Law«, waren die Beiträge doch durchwegs dem Völkerrecht gewidmet, mal mit mehr theoretischem, mal mit mehr praktischem Zugang. Immerhin schrieb Lipsky selbst eine ausführliche Würdigung Kelsens, in der er die Grundzüge der Reinen Rechtslehre skizzierte, Kelsen als einen Lehrer beschrieb, »zu dessen Füßen« bedeutende Wissenschaftler gesessen seien, und ausführlich über das Echo berichtete, das Kelsens Versuch, das Recht der Vereinten Nationen von einem rein wissenschaftlichen Standpunkt aus zu betrachten, hervorgerufen hatte.796 Möglicherweise hatte diese Publikation dem parallelen Buchprojekt von Engel und Métall den Wind aus den Segeln genommen. Jedenfalls erschien ihr Sammelband – betitelt »Law, State, and International Legal Order. Essays in Honor of Hans Kelsen« – erst elf Jahre später, 1964 in der University of Tennessee Press.797 Als Anlass für die Festgabe wurde nunmehr der 30. Jahrestag des Erscheinens von Kelsens »Reiner Rechtslehre« bezeichnet; zur Finanzierung hatte außer der University of Tennessee auch die österreichische Bundesregierung beigetragen, wie auch überhaupt der österreichische Beitrag zu dieser Festgabe deutlich größer als bei der vorhin genannten war. Aus Kelsens einstiger Heimat hatten Walter Antoniolli, Norbert Leser, René Marcic und Stephan Verosta Aufsätze geliefert; auch war es – vermutlich Métall – gelungen, einige ins Exil gegangene Schüler, namentlich Hans Aufricht, Otto Bondy, John H. Herz, Hans Klinghoffer und Helen Silving, zu kontaktieren und auch von ihnen je einen Beitrag für die Kelsen-Festschrift zu erhalten. Die dritte Gruppe bildeten internationale Größen: Benjamin Akzin aus Jerusalem, Cayetano Betancur aus Bogotá, Charles Eisenmann aus Paris, Ossip K. Flechtheim von der FU Berlin, Ambrosio Gioja aus Buenos Aires, Ervin P. Hexner aus Pennsylvania, Ulrich Klug aus Köln, Luis Legaz y Lacambra aus Madrid, Chaïm Perelman aus Brüssel, Luis Recaséns Siches aus Mexiko, Oscar Schachter aus New York, Georg Schwarzenberger aus London, Henri Thévenaz aus Neuchâtel, Ernst Topitsch aus Heidelberg, Roberto J. Vernengo aus Buenos Aires, sowie – der am 17. Juli 1964, kurz vor Erscheinen der Festschrift, verstorbene – Roscoe Pound. Drei Autoren der Festschrift von 1953 – Hambro, Morgenthau und Starke – waren auch in der Festgabe von 1964 mit einem Beitrag vertreten. Umso mehr fällt es auf, dass weder Alfred Verdroß noch Adolf
796 Lipsky,
Law and Poltics (1953). Law, State and International Order (1964).
797 Engel/Métall,
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J. Merkl zum Werk beigetragen hatten, sie waren, Verdroß zufolge, auch nicht um Mitarbeit gebeten worden.798 So zeigen die beiden Festschriften und ihre Entstehungsgeschichten nicht nur, wie weltumspannend das Netzwerk der Freunde und Schüler Kelsens mittlerweile geworden war, sondern leider auch, wie viele Unstimmigkeiten in diesem Kreis bereits herrschten.
798 Alfred Verdross, Brief an Hans Kelsen v. 15. 2 . 1965, HKI, Nachlass Kelsen 16b12.59. Zum 70. Geburtstag Kelsens hatte Merkl einen Artikel in der »Wiener Zeitung« verfasst: Merkl, Ein kultureller Vorposten (1951).
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Viertes Kapitel
Die letzten akademischen Stationen 1. Die Europareise 1952/53 a) Die Rückkehr nach Genf Zwei Wochen nach Kelsens offizieller Abschiedsvorlesung gingen auch seine regulären Vorlesungen zu Ende. Mit den Abschlussprüfungen, die zwischen dem 9. und 19. Juni 1952 stattfanden, endete Kelsens zehnjährige Lehrtätigkeit an der UC Berkeley.799 An Ruhestand dachte Kelsen aber noch nicht: Schon lange vorher hatte er mit William Rappard vereinbart, dass er für das akademische Jahr 1952/53 zurück nach Genf kommen und am IUHEI lehren werde. Dieser Aufenthalt wurde von der Rockefeller Foundation – die ihre Grundfinanzierung des IUHEI schon im Jahr 1948 eingestellt hatte – großzügig unterstützt, sodass Kelsen $ 7.700,–, also das gleiche Gehalt erhielt, das er bisher an der UC Berkeley bekommen hatte, zusätzlich aber noch $ 1.100,– für die Reisekosten.800 Mitte Juli brachen Hans und Grete von Berkeley auf und fuhren nach New York, wo sie etwa fünf Tage blieben und sich am 25. Juli nach Le Havre einschifften. Ihre Reise führte sie zunächst nach Österreich, das sie seit 14 Jahren nicht mehr besucht hatten, und wo sie nunmehr, in Bad Gastein, ihren Sommerurlaub verbrachten.801 Im September ging es weiter nach Genf, wo sie sich eine Wohnung in 9 Av. Bertrand nahmen.802 Dort trafen sie auch wieder das Ehepaar Frederick und Anna Unger, die zu jener Zeit ebenfalls in der Schweiz weilten, feierten mit ihnen am 11. Oktober Kelsens 71. Geburtstag und unternahmen gemeinsam eine Ausflugsfahrt um den Genfer See herum. »Beide, er und sie, sind unerhoert frisch und munter. Er hat uns gegen 200 km
799 General
Catalogue 1951–1952, 2 f. H. Willits (RF), Aktenvermerk v. 31. 1 2. 1951; Hans Kelsen, Schreiben an William Rappard v. 15. 10. 1953, beide in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.2 (FA387a), Series 100 S, Box 58, Folder 453. 801 Frederick Unger, Brief an einen unbekannten Empfänger v. 21. 2 . 1952, LBI Archives, Unger Family Collection, Box 19, Folder 8, p. 1227. 802 Busch/Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2015) 25. Vgl. auch Dekan Hans Carl Nipperdey an das Kuratorium der Universität Köln, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 229; Hans Kelsen, Schreiben an William Rappard v. 15. 10. 1953, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.2 (FA387a), Series 100 S, Box 58, Folder 453; Request report of loyalty data on applicants and appointees, 10. 6. 1953, FBI-File Kelsen, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. 800 Joseph
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chauffiert, ohne dass man ihm etwas angemerkt haette, laeuft und bueckt sich wie ein zwanzig Jahre Juengerer«, berichtete Frederick Unger seiner Tochter.803 Ab 15. Oktober 1952 unterrichtete Kelsen wieder am IUHEI und betreute auch wieder Dissertanten, von denen immerhin drei promoviert wurden.804 Er arbeitete hier mit zwei argentinischen Bekannten, Ambrosio Gioja und Roberto Vernengo, zusammen und veranstaltete mit ihnen ein Seminar, das die deontische Logik von Georg Henrik von Wright zum Thema hatte.805 Auch fiel in Kelsens dritte Genfer Zeit die Abfassung seines gegen Carlos Cossio gerichteten Aufsatzes in der ZÖR,806 sodass es wahrscheinlich ist, dass ihm Gioja und Vernengo auch hier behilflich waren. In Genf gelang es Kelsen darüberhinaus, ein Projekt zu Ende zu bringen, das eine lange Vorgeschichte hatte. 1938 hatte bei ihm der spätere Professor an der Université de Neuchâtel, Henri Thévenaz, eine Dissertation über »Les compromis d’arbitrage devant la cour permanente de justice internationale [Der schiedsgerichtliche Vergleich vor dem StIGH]« verfasst,807 und 1940 hatte Thévenaz Kelsen um Erlaubnis gebeten, dessen 1934 in deutscher Sprache erschienene »Reine Rechtslehre« ins Französische zu übersetzen.808 Schon damals hatte Kelsen den Wunsch geäußert, den Text bei dieser Gelegenheit »nach verschiedenen Richtungen hin [zu] ergänzen«, und zwar um einige Punkte, die er bereits in seinen Genfer Vorlesungen vorgetragen hatte.809 Der Krieg und die Emigration Kelsens in die USA hatten dieses Projekt jedoch für zehn Jahre auf Eis gelegt, bis Thévenaz 1950 die Arbeiten wiederaufnahm und erneut Kelsen kontaktierte. In der Zwischenzeit hatte Kelsen bereits seine »General Theory of Law and State« publiziert und schlug daher vor, doch besser gleich dieses Buch ins Französische zu übertragen. Da Thévenaz aber schon große Teile der »Reinen Rechtslehre« übersetzt hatte und auch die »General Theory« erheblich umfangreicher als die »Reine Rechtslehre« war, wurde am ursprünglichen Plan festgehalten, jedoch der Text von 1934 teils recht tiefgreifend novelliert.810 »Der vorliegende Text ist daher nicht die französische Uebersetzung eines schon erschienenen Buches, sondern ein neues Buch, das zum ersten Mal in franzoesischer Sprache erscheint«, hielt Kelsen fest.811 Kelsens Schweizer Aufenthalt 1952/53 begünstigte dann eine rege Korrespondenz und auch persönliche Treffen zwischen ihm und seinem Übersetzer, sodass die Arbeiten zügig zum Abschluss gebracht werden konnten. Die 1953 erschienene »Théorie Pure du Droit«812 stellt einen wichtigen Zwischenschritt in der Entwicklung 803 Frederick Unger, Brief an Grete Unger v. 12. 10. 1952, LBI Archives, Unger Family Collection, Box 26, Folder 19, p. 1073. 804 Siehe die Aufstellung bei Busch/Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2015) 31. 805 Gassner, Kelsen in Lateinamerika (2014) 79. 806 Der Aufsatz [Kelsen, Egologische Theorie (1953)] ist mit »Hans Kelsen, Genf« signiert. 807 Busch/Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2015) 31. 808 Henri Thévenaz, Schreiben an Hans Kelsen v. 14. 2 . 1940, HKI, Nachlass Thévenaz. 809 Hans Kelsen, Schreiben an Henri Thévenaz v. 18. 2 . 1940, HKI, Nachlass Thévenaz. 810 Hans Kelsen, Schreiben an Henri Thévenaz v. 15. 10. 1950 und Antwortschreiben v. 25. 10. 1950, beide in HKI, Nachlass Thévenaz. 811 Hans Kelsen, Schreiben an Henri Thévenaz v. 4. 6. 1951, HKI, Nachlass Thévenaz. 812 Kelsen, Théorie Pure du Droit (1953).
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der Reinen Rechtslehre dar, da sie sozusagen in der zeitlichen Mitte zwischen der »General Theory« aus 1945 und der Zweiten Auflage der »Reinen Rechtslehre« aus 1960 liegt. b) Vortragsreisen Kelsen nützte seinen Europa-Aufenthalt für mehrere Vortragsreisen, die ihn in eine Reihe west‑ und nordeuropäischer Länder, insbesondere auch wieder nach Österreich führten.813 Noch bevor er in die Schweiz fuhr, unmittelbar nach seinem Urlaub in Bad Gastein, nahm er an den »Achten Internationalen Hochschulwochen« in Alpbach teil. Die seit 1945 in einem idyllischen Tiroler Dorf alljährlich stattfindenden Veranstaltungen hatten schon rasch einen internationalen Ruf erworben, sodass bedeutende Philosophen wie Karl Popper oder Theodor W. Adorno hierher kamen.814 Kelsen hielt am 6. September 1952 in Alpbach einen Vortrag zur Frage »Was ist Gerechtigkeit?«, somit zum selben Thema, das schon den Gegenstand seiner Abschiedsvorlesung in Berkeley gebildet hatte.815 Zu seinen Zuhörern zählte u. a. der damals 23-jährige Günther Winkler,816 der später, 1961–1997, Professor des Staatsrechtes an der Universität Wien und einer der schärfsten Kritiker Kelsens in Österreich wurde.817 Für den 20. November 1952 war ein Gastvortrag Kelsens an der Wiener rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät geplant, und zwar zum Thema »Kausalität und Zurechnung«. Da aber Kelsen erkrankte, musste dieser Vortrag abgesagt werden.818 So kehrte Kelsen erst im Februar 1953 erstmals seit 1938 wieder nach Wien zurück. Wie aus einem Schreiben des damaligen österreichischen Vizekanzlers Adolf Schärf an Hans Kelsen hervorgeht, stieg dieser im noblen Hotel »Sacher« ab, blieb aber nur drei Tage in der Bundeshauptstadt.819 Schärf wollte sich mit ihm treffen; ob es zu diesem Treffen kam, ist ungewiss. Am 11. Februar 1953, hielt Kelsen in der Wiener Juristischen Gesellschaft einen Vortrag zum Thema »Was ist Gerechtigkeit?«.820 Den 813 Am 6. 6. 1952 ließ sich Kelsen einen Reisepass ausstellen, der für Frankreich, die Schweiz, Österreich, Schweden, Finnland, die Niederlande, Italien und auch für Israel galt: FBI-File Kelsen, Results of Investigation, 12. 11. 1953, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er all diese Länder auch besuchte; nach Métall, Kelsen (1969) 85, hat Kelsen niemals Israel besucht. 814 Schorner, Rückkehr der Wissenschaftstheorie (2010) 201 f. 815 Europäisches Forum Alpbach (Hg.), Achte Internationale Hochschulwochen Alpbach des Österreichischen College. 22. August bis 11. September 1952 (o. O., o. J. [1952]) 11. Ich danke Frau Dr. Maria Wirth für die Übermittlung einer Kopie des Berichts des Europäischen Forums Alpbach vom Oktober 1952 aus dem Archiv des Forums. 816 Günther Winkler, Interview v. 25. 9. 2008. 817 Vgl. etwa Winkler, Rechtstheorie (1990) und dazu Walter, Rechtstheorie (1990). 818 Miteilungen der Fakultät an das BMU vom 10. 11. und vom 29. 11. 1952, in ÖStA AdR BMU Karton 530. 819 Adolf Schärf, Schreiben an Hans Kelsen v. 10. 2 . 1953, Kopie in: Archiv des Vereins für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung, Lade 21, Mappe 46. 820 Jestaedt in HKW IV, 706. Der Vortrag wurde, so wie auch jener von 1929, in den »Juristischen Blättern« veröffentlicht: Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? Vortrag (1953). Im selben Jahr
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letzten Vortrag in dieser Gesellschaft hatte er mehr als 23 Jahre zuvor gehalten. Was ging in Kelsen vor, als er nach so langer Zeit wieder nach Wien zurückkehrte? Der mit ihm noch aus alten Zeiten befreundete Hermann Reitzer, der ihn 1953 offenbar zum ersten Mal nach vielen Jahren wiedersah, berichtete an Frederick Unger, dass Kelsens Besuch »glänzend verlaufen« sei. »Wir sind sehr glücklich darüber, denn es ist ein Zeichen dafür, dass sich die Verhältnisse doch wesentlich geändert haben, und zwar zum Besseren. Besonders erfreulich ist es, dass auch die akademische Jugend Kelsen in stürmischer Weise begeistert gefeiert hat.«821 Am nächsten Tag, dem 12. Februar, wurde Kelsen förmlich vom Wiener Bürgermeister Franz Jonas empfangen. Bei diesem Treffen soll Kelsen auch gesagt haben: »In meinem Herzen bin ich noch immer ein Wiener geblieben.«822 Ob dies stimmte, mag dahingestellt bleiben, aber es war das, was die Wienerinnen und Wiener hören wollten. Von der – von allen vier Alliierten gemeinsam besetzten – österreichischen Bundeshauptstadt ging es über das sowjetisch besetzte Land Niederösterreich weiter nach Graz, das in der britischen Besatzungszone lag, weshalb die kurze Reise sich sehr mühevoll gestaltete. Kelsen hielt dort am 14. Februar einen Vortrag an der von Benedikt Kautsky geleiteten Otto-Möbes-Akademie.823 Eine weitere Reise führte Kelsen Anfang 1953 an das College of Europe im belgischen Brügge, wo er drei Vorträge halten sollte. Der italienische Völkerrechtler Gaetano Arangio-Ruiz, der die Einladung ausgesprochen hatte und Kelsen am Bahnhof abholte, erinnerte sich später, dass er verblüfft von Kelsens jugendlichem Aussehen und von der Vitalität des 72-jährigen gewesen war. Allerdings erzählte er auch, dass Kelsens Vorträge sehr abstrakt waren und beim hauptsächlich nichtjuristischen Publikum nicht gut ankamen.824 Als die beiden einmal in einem Park spazieren gingen, versuchte Arangio-Ruiz, ein überzeugter Anhänger des Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht, eine Diskussion hierüber zu entfachen. Kelsen schnitt jedoch die Diskussion mit den Worten ab, dass seine Theorie einen Fehler habe, er jedoch der einzige sei, der diesen Fehler kenne, und es keinen Sinn habe, ihn umzustimmen.825 Da sich Kelsen hierzu nicht näher äußern wollte, bleibt offen, worin der Fehler lag und ob sich Kelsen dabei überhaupt auf einen Fehler in seiner monistischen Theorie oder auf einen tieferliegenden Fehler in seiner Reinen Rechtslehre bezog. Im März 1953 reiste Kelsen nach Skandinavien und hielt zunächst, am 16. März, in Kopenhagen, am 21. März auch in Helsinki, seinen Vortrag über den Begriff der Gerechtigkeit; der Vortragstext wurde später auch in dänischer und finnischer Sprache erschien eine wesentlich erweiterte Fassung als selbständige Publikation im Verlag Franz Deuticke: Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1953). 821 Hermann Reitzer, Brief an Frederick Unger v. 17. 2 . 1953, in: LBI Archives, Unger Family Collection, Box 19, Folder 13, p. 771. 822 https://www.wien.gv.at/rk/historisch/1953/februar.html [Zugriff: 20. 11. 2019]. 823 Vgl. den Briefwechsel zwischen Hans Kelsen und Benedikt Kautsky in: International Institute of Social Science History, Amsterdam, Benedikt Kautsky Papers, Mappe 4G: Hans Kelsen. 824 Cassese, Personal Recollections (1998) 386 [Interview mit Gaetano Arangio-Ruiz]. 825 Cassese, Personal Recollections (1998) 387 [Interview mit Gaetano Arangio-Ruiz].
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publiziert. Auch hier konnte Kelsen wieder eine Reihe neuer Kontakte knüpfen, u. a. traf er in Helsinki mit Otto Brusiin, dem Begründer der modernen finnischen Rechtsphilosophie, zusammen, der ihn auch gleich zum Ehrenmitglied eines von ihm begründeten Kreises für Rechtstheorie machte.826 Hier kam es auch zu einem persönlichen Treffen mit Georg Henrik von Wright, zu dessen Thesen zur Logik er ja im selben Jahr ein Seminar in Genf veranstaltete.827 Am 28. Mai 1953 hielt Kelsen einen Vortrag in Zürich zum Thema »Was ist die Reine Rechtslehre?« Die Schriftfassung dieses Vortrages wurde noch im selben Jahr in einer Festschrift zu Ehren des schweizerischen, demokratischen Staatsrechtlers Zaccaria Giacometti veröffentlicht.828 c) Wiedergutmachung in Köln Kelsen nützte seinen Europaaufenthalt aber noch für eine weitere Angelegenheit: die Klärung der noch immer offenen Pensionsansprüche aus seiner jahrzehntelangen Tätigkeit für Österreich und Deutschland. Bereits im Oktober 1946 hatte er sich, mithilfe seines treuen Freundes Weyr, bezüglich seiner Ansprüche gegen die ČSR an den dortigen Schulminister Jaroslav Stránský gewendet. Weyr war optimistisch, zumal Stránský ein ehemaliger Schüler von ihm war.829 Doch ist keine Reaktion von Seiten der ČSR bekannt, und der dortige politische Umschwung im Frühjahr 1948 stand dann wohl jedenfalls einer Wiedergutmachung entgegen. Dagegen beschloss der deutsche Bundestag am 11. Mai 1951 ein »Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes« (BWGöD).830 Dieses ermöglichte Beamten, die in der NS-Zeit aus politischen Gründen in den Ruhestand versetzt worden waren, wieder in den Dienst gestellt zu werden. Hatte der Geschädigte in der Zwischenzeit die gesetzliche Altersgrenze erreicht, so sollte er das Ruhegehalt bekommen, das ihm zugstanden wäre, hätte er bis zu dieser Altersgrenze gearbeitet (§ 11 BWGöD). Zur Wiedergutmachung verpflichtet war der jeweilige »Dienstherr«, im Falle der Universität Köln war dies – in Nachfolge des 1947 untergegangenen Freistaates Preußen – das Land Nordrhein-Westfalen. Anfang 1953 meldete Kelsen von Genf aus seine Wiedergutmachungsansprüche gemäß § 24 BWGöD beim deutschen Konsulat in Zürich an. Zunächst jedoch erfolgte keine Reaktion, weshalb er Hans Carl Nipperdey, der nach wie vor in Köln 826 Schreiben des Vereins »Theoria iuris« an Hans Kelsen v. 30. 3. 1953, HKI, Nachlass Kelsen 15a26.57; Bindreiter, Schweden und Finnland (2016) 102. 827 Günther Winkler, Interview v. 25. 9. 2008; Bindreiter, Schweden und Finnland (2016) 104. 828 Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre? (1953) = WRS 499–514. Dass es sich hierbei um die Schriftfassung von Kelsens Zürcher Vortrag handelte, geht aus dem Briefwechsel zwischen Kelsen und Voegelin in: HKI, Nachlass Kelsen 21ac.70, hervor. Zur Datierung vgl. Frederick Unger, Brief an unbekannte Empfänger v. 21. 5. 1953, LBI Archives, Unger Family Collection, Box 19, Folder 13, p. 513. 829 Franz Weyr, Schreiben an Hans Kelsen v. 20. 10. 1946, HKI, Nachlass Kelsen 16b14.59. 830 Vgl. zur Entstehungsgeschichte Ludyga, Wiedergutmachung (2008) 583.
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lehrte, um Hilfe bat und ihm auf dessen Ersuchen eine Vollmacht erteilte, um ihn im Wiedergutmachungsverfahren zu vertreten.831 Nipperdey schritt erfolgreich ein, und am 3. November 1953 erging ein »Wiedergutmachungsbescheid« des nordrhein-westfälischen Kultusministers an Hans Kelsen.832 Darin wurde Kelsen ausdrücklich als »entpflichteter«, d. h. emeritierter »Hochschullehrer« anerkannt. Dies bedeutete die vollständige Rehabilitierung Kelsens, und die Kölner Fakultät beschloss in weiterer Folge, dass er als Emeritus auch wieder in das Vorlesungsverzeichnis aufzunehmen sei.833 Nicht alle finanziellen Schäden Kelsens wurden abgedeckt: Während er in seiner Kölner Zeit ein Jahresgehalt von RM 15.000,– (und zusätzlich eine Kolleggeldgarantie von RM 12.000,–) erhalten hatte, wurde ihm nunmehr der gesetzliche Höchstsatz von DM 13.600,– (was etwa $ 3.238,– entsprach834) pro Jahr ausbezahlt. Dabei entspann sich noch eine längere Diskussion, ob Kelsens kalifornische Pension von monatlich $ 102,– (ca. DM 400,–) auf die Pension angerechnet werden solle, doch letztlich konnte er die deutschen Behörden davon überzeugen, dass es sich hier ja um keine »Versorgungsbezüge« im Sinne des BWGöD handeln könne, da mit diesem Terminus ja wohl nur Leistungen von deutscher Seite gemeint sein können.835 Vor allem aber bestimmte § 19 BWGöD, dass die Rückwirkung der Entschädigungspflicht mit 1. April 1950 begrenzt war, d. h. Kelsen bekam zwar für die Zukunft und für die Jahre 1950–1954 seine Kölner Pension ausbezahlt, jedoch keine Entschädigung für die Jahre 1936–1950. Doch riet ihm Nipperdey, einen weiteren Antrag aufgrund des zwischenzeitlich ergangenen Bundesergänzungsgesetzes zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung zu stellen, zumal dessen § 38 genau diese Differenz, also alle Schäden vor dem 1. April 1950, abdeckte.836 Ob Kelsen diesen Rat befolgte, ist unbekannt, jedoch wahrscheinlich. Was die Zeit vor 1936 betraf, so hatte Kelsens seinerzeitiger Dienstgeber, wie berichtet, nach zähem Widerstand Kelsens Pension auf ein Sperrkonto bei der Dresdner Bank eingezahlt. Diese Bank war in der Zwischenzeit von den Alliierten Mächten zerschlagen worden, und in Nordrhein-Westfalen war die Rhein-Ruhr-Bank an ihre Stelle getreten.837 Kelsen bemühte sich in weiterer Folge, sein Geld wieder zu 831 Hans Kelsen, Schreiben an Hans Carl Nipperdey v. 28. 7. 1953 und Antwortschreiben Nipperdeys, UA Köln, Zug 598/143; Vollmachtserteilung vom 10. 8. 1953, UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 231. 832 Wiedergutmachungsbescheid v. 3. 11. 1953 U2 41–10/0 Nr. 9895/54, UA Köln Zug 17/III, 1869a, 235. 833 UA Köln, Zug 598/143; UA Köln, Zug 571/105. 834 Kurswert berechnet mit https://www.oenb.at/dam/jcr:54fd2b24-7d61-4403-9aeb-03d0932b e145/ historische_schilling_wechselkurse.xlsx [Abfrage vom 27. 11. 2019]. Laut https://www.eurologi sch.at/docroot/waehrungsrechner/#/ [Abfrage vom 27. 11. 2019] entspricht dies einer Kaufkraft von heute (2019) ca. € 46.875,31. 835 Hans Kelsen, Schreiben an Hans Carl Nipperdey v. 30. 11. 1953, UA Köln, Zug 598/143. 836 Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung v. 18. 9. 1953 BGBl I S. 1387. Vgl. Hans Carl Nipperdey, Schreiben an Hans Kelsen v. 13. 11. 1953, UA Köln, Zug 598/143. 837 Ahrens, Die Dresdner Bank (2007) 196 f.
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erlangen, wobei ihm nunmehr auch Armin Spitaler, Professor für Steuerrecht an der Universität Köln half.838 1938 hatte ja das Finanzamt behauptet, dass Kelsens gesamtes Bankguthaben wegen einer angeblich nicht bezahlten Reichsfluchtsteuer eingezogen werden müsse, ohne ihm ein förmliches Beschlagnahme-Dekret zuzusenden. Nunmehr wandte er sich erneut an das für Köln zuständige Finanzamt, doch blieben seine Anfragen unbeantwortet. Auch die Rhein-Ruhr-Bank besaß kaum noch Unterlagen aus jener Zeit, immerhin konnte festgestellt werden, dass seine Wertpapiere seinerzeit um RM 1.856,50 verkauft worden waren und der Erlös an eine unbekannte Person – vermutlich das Finanzamt – überwiesen worden war. Die Suche nach Beweisstücken zog sich noch über Jahre hin, ob Kelsen sein Geld jemals bekam, ist unbekannt. Hinzuweisen ist zuletzt darauf, dass Kelsen aufgrund von Valutabestimmungen zunächst nur DM 300,– in die USA transferieren durfte. Auch hier schritt Nipperdey ein, und die Genehmigung wurde auf DM 500,– erhöht. Trotz aller dieser Einschränkungen kommt Lepsius, unter Hinweis auf das Schicksal des Romanisten Ernst Levy, der einen jahrelangen Rechtsstreit mit den Ländern Baden bzw. Baden-Württemberg führte, zum Schluss: »Nordrhein-Westfalen verhielt sich fair – anders als andere Bundesländer«.839 d) Kelsens dritte Vorlesung im Haag Formell war Kelsen noch bis 15. Juli 1953 für das IUHEI tätig; tatsächlich verließ er aber schon im Juni Genf und reiste weiter nach Den Haag, wo er – 21 Jahre nach seinem letzten Auftritt im Haager Friedenspalast – erneut den »Cours général« im Rahmen der Sommerkurse der Académie de Droit International hielt – eine Auszeichnung, die bis dahin keinem zweiten Völkerrechtler zuteil geworden war.840 Die Vorlesung unterschied sich in vielen Punkten von seiner 1932 abgehaltenen Veranstaltung; Kelsen selbst begründete dies mit den Veränderungen des positiven Rechts selbst. Insbesondere betonte er wieder die theoretische Gleichwertigkeit der beiden Hypothesen vom Primat des staatlichen oder des Völkerrechts. Beiden Hypothesen zufolge sei es eine Aufgabe des Völkerrechts, die staatliche Souveränität zu begrenzen, und würde der »Mythos« von einer absoluten Souveränität der Staaten in sich zusammenfallen.841 Fest hielt Kelsen an seiner Überzeugung, dass einzelne Menschen sowohl Rechte als auch Pflichten aus dem Völkerrecht ableiten könnten, 838 Vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung von Hans Kelsen, »Schilderung des Verfolgungsvorganges«, datiert Genf, 11. 7. 1955, in: UA Köln, Zug 598/136, ferner das Schreiben von Armin Spitaler an die Quästur der Universität Köln v. 27. 6. 1955 und Antwortschreiben v. 2. 7. 1955, beide in: UA Köln, Zug 17/III, 1869a, 280. – Beachte, dass Kelsen etwa zur selben Zeit, am 21. 6. 1955, auch persönlich in Köln war, vgl. unten 865. 839 Lepsius, Kelsen und der Nationalsozialismus (2008) 280. 840 Hoss, Kelsen in Den Haag (2008) 149; Busch/Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2015) 25. 841 Kelsen, Théorie du droit international public (1953); Hoss, Kelsen in Den Haag (2008) 154.
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4. Teil: Amerika und die Welt
Abb. 50 und Abb. 51: Am Vierwaldstätter See, 15. Juli 1953. Von links: Anna Unger, Grete Kelsen, Hans Kelsen.
was er nunmehr aber weniger auf einzelne Beispiele des positiven Rechts (wie etwa dem Art. 227 des Versailler Vertrages), als auf die allgemeine rechtstheoretische Einsicht stützte, dass die Adressaten von Rechtsnormen immer nur Menschen sein können.842 Kelsens Ausführungen zum »Welt-Staat« waren weit zurückhaltender als noch bei seinem ersten Auftritt 1926 im Haag. Von einem solchen, einer »civitas maxima«, könne angesichts der praktischen Schwierigkeiten, die seine Errichtung mit sich bringen würde, nicht gesprochen werden; anzustreben wäre aber immerhin ein »système juridique international«, das die Macht der Einzelstaaten zurückdränge. Vielleicht auch aufgrund der Kritik, die nach 1945 an seiner Reinen Rechtslehre geübt wurde, betonte Kelsen in dieser Vorlesung, dass seine rechtstheoretische Forderung nach Trennung von Recht und Moral nicht bedeute, dass der Mensch aus seiner persönlichen Verantwortung entlassen werde. Es sei der Mensch, der die Gesetze schaffe, und insoweit er selbst moralisch sei, seien es auch die Gesetze.843 Kelsen hatte ursprünglich vorgehabt, länger in Europa zu bleiben und im Jahr 1953/54 an der London School of Economics zu unterrichten. Die Finanzierung dieses Jahres sollte über ein Fulbright Stipendium erfolgen, was jedoch abgelehnt wurde.844 Die London School of Economics selbst war nur zur Zahlung eines Teils von Kelsens Lehrgehalt bereit, worauf dieser überlegte, abwechselnd in London und an einer zweiten Universität zu unterrichten. Als sich auch diese Pläne zerschlugen, hatte 842 Hoss,
Kelsen in Den Haag (2008) 158. Kelsen in Den Haag (2008) 161 f. 844 Hans Kelsen, Schreiben an die Bollingen Foundation v. 9. 9. 1952 und v. 5. 1. 1954, beide in: LOC, Manuscript Division, Bollingen Foundation Records, 470.090 Kelsen Hans. 843 Hoss,
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4. Kapitel: Die letzten akademischen Stationen
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er noch die Wahl zwischen einer Lehrtätigkeit in Stockholm und einer am Naval War College in Rhode Island. Die bessere Bezahlung durch die US-Marine dürfte dann den Ausschlag dafür gegeben haben, dass sich Kelsen 1954 anschickte, wieder nach Amerika zurückzukehren.845 Nachdem er noch mit seiner Frau einen Sommerurlaub im Hotel Bürgenstock am Vierwaldstättersee in der Schweiz genossen hatte,846 reisten beide über Paris nach Le Havre, wo sie sich am 25. August einschifften, und kamen am 1. September in New York an. Von dort fuhren sie in das knapp 300 km nördlich vom »Big Apple« gelegene Newport, wo sich das Naval War College befand.847
2. Am Naval War College (1953/54) Das Naval War College war 1884 gegründet worden und – neben dem National War College und dem Industrial College of the Armed Forces (beide in Washington D. C.) – eine der drei akademischen Ausbildungsstätten der US-Streitkräfte.848 Zu den Unterrichtsgegenständen hatte seit jeher auch das Völkerrecht gehört, doch wurde dieses bis 1953 von Professoren gelesen, die an anderen Universitäten angestellt waren und in Newport nur einen Lehrauftrag erhielten. Zuletzt war dies Manley O. Hudson von der Harvard Law School. Erst 1951 wurde ein eigener Lehrstuhl für internationales Recht eingerichtet und zunächst Hudson angeboten, der aber ablehnte und stattdessen Hans Kelsen vorschlug.849 Kelsen nahm an und unterrichtete im akademischen Jahr 1953/54 international law für »career military officers« aus allen vier Teilstreitkräften (Marine, Marineinfanterie, Armee, Luftwaffe) der Vereinigten Staaten. Es ist davon auszugehen, dass er ähnliche Inhalte behandelte, wie sie in seinen »Principles of International Law« dargestellt sind. Zusätzlich zu seiner Lehrtätigkeit hatte Kelsen auch das »blue book« zu verfassen, ein nach der Farbe seines Umschlages bezeichnetes Buch, das vom Naval War College seit 1894 jährlich herausgegeben wird. Kelsen sollte für den Jahrgang 1954 ein aktuelles Thema des internationalen Rechts behandeln und wählte dazu »Collective Security under international law [Kollektive Sicherheit im Völkerrecht]«. Kelsen gab zwar ein erstes Manuskript zum vereinbarten Zeitpunkt ab, machte dann aber bei der Satzkorrektur noch so viele Ergänzungen, dass das »blue book« erst drei Jahre später,
845 Frederick Unger, Brief an Fred Schuetz v. 27. 6. 1953, in: LBI Archives, Unger Family Collection, Box 19, Folder 13. 846 Hier kam es auch zu einem erneuten Treffen mit Frederick, Anna und Grete Unger: Grete Heinz, e-mail an Thomas Olechowski v. 15. 9. 2018; vgl. auch die von Grete Heinz, geb. Unger, bei dieser Gelegeneheit »geschossenen« Fotos, Abb. 50 und 51 in diesem Buch. 847 Hans Kelsen, Brief an Hans Carl Nipperdey, UA Köln, Zug 598/143; Hans Kelsen, Schreiben an William Rappard v. 15. 10. 1953, in: RAC, Collection RF, Subgroup 1.2 (FA387a), Series 100 S, Box 58, Folder 453. 848 Hattendorf/Simpson/Wadleigh, Sailors and Scholars (1984) 200. 849 Hattendorf/Simpson/Wadleigh, Sailors and Scholars (1984) 204.
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1957, erschien.850 Commander Mitchell P. Strohl notierte dazu später, dass Kelsen ein Mann von »akribischen Standards der Gelehrsamkeit« sei.851 Und das war nicht als Kompliment zu verstehen. Inhaltlich war die immerhin 275 Seiten starke Monographie eine deutliche Ausweitung jener Gedanken, die Kelsen schon beim Treffen der American Society of International Law in Seattle am 12. August 1948 zum selben Thema vorgetragen hatte.852 Er versuchte in seinem »blauen Buch«, eine »Theorie der kollektiven Sicherheit von einem juristischen Standpunkt aus« darzulegen, und zwar zunächst auf Basis des Allgemeinen Völkerrechts, woran sich eine Untersuchung spezieller völkerrechtlicher Vereinbarungen, allen voran der UN-Charta, knüpfte. Hervorhebenswert ist dabei Kelsens Behauptung, es sei eine »essentielle Funktion jeder Rechtsordnung, den ihr unterworfenen Personen Sicherheit zu gewährleisten.«853 Auch die Völkerrechtsordnung diene diesem Ziel, und nach Ansicht Kelsens gebe es mehrere Stufen hin zur Verwirklichung einer kollektiven Sicherheit: die Zentralisierung des Verfahrens, nach dem überhaupt festgestellt werde, dass ein Delikt verübt worden sei und wer dafür verantwortlich sei, die Zentralisierung der friedlichen Streitbeilegung, sowie die Zentralisierung der Entscheidung über den Einsatz militärischer Mittel.854 Damit sprach er die Kapitel VI und VII der UN-Charta an. Die immerwährende Neutralität eines Staates sei nach Kelsen mit dem Prinzip der kollektiven Sicherheit nur bedingt vereinbar. Gehöre der neutrale Staat einer Organisation an, die eine kollektive Sicherheitsmaßnahme setze, so müssten ja keine Truppen dieses Staates verwendet werden; gleichwohl seien die Maßnahmen der Organisation allen ihren Mitgliedern, mithin auch dem neutralen Staat, zuzurechnen.855 Regionale Sicherheitsbündnisse seien dann gerechtfertigt, wenn die universale Organisation ihren Aufgaben nicht zufriedenstellend nachkommen könne. Doch können solche Bündnisse unter Umständen selbst zu einer Bedrohung werden; anzustreben sei daher eine Monopolisierung der Sicherheitsmaßnahmen auf globaler Basis.856 Im Rahmen seines Aufenthaltes am Naval War College hielt Kelsen am 7. Dezember 1953 auch einen wissenschaftlichen Vortrag über individuelle strafrechtliche 850 Kelsen, Collective Security (1957). Vgl. allgemein zum »blue book« das Vorwort von Konter-
admiral Thomas H. Robbins, Jr., a. a. O. III., sowie Hattendorf/Simpson/Wadleigh, Sailors and Scholars (1984) 204. 851 Mitchell P. Strohl, Memorandum v. 13. 1. 1958, in: Naval War College Newport (RI), Naval Historical Collection, Dean of Academics Record Group. 852 Vgl. oben 781. 853 Kelsen, Collective Security (1957) 34. 854 Kelsen, Collective Security (1957) 12–26. Auch hier wieder kam Kelsen auf seine »Evolutionstheorie« zurück, wonach zuerst die Judikative, dann die Legislative zentralisiert werden müsse. 855 Kelsen, Collective Security (1957) 154–171. Er hob hervor, dass die Schweiz aufgrund ihrer Neutralität nicht der UNO beigetreten sei. Dass Österreich trotz Neutralitätserklärung (Bundesverfassungsgesetz v. 26. 10. 1955 BGBl 211) der UNO beigetreten war (BGBl 1956/120), wurde von Kelsen nicht thematisiert. Vgl. auch schon Kelsen, Law of the United Nations (1950) 108 und dazu Köck/Fischer, Internationale Organisationen (1997) 115. 856 Kelsen, Collective Security (1957) 259–261.
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Verantwortlichkeit für Staatsakte im Völkerrecht mit besonderer Berücksichtigung der Prozesse von Nürnberg und Tokyo.857 Er fasste hier einige wesentliche Punkte seiner Völkerrechtstheorie zusammen und behandelte nach einem kurzen Rückblick auf die Verantwortlichkeit Wilhelms II. gemäß Art. 227 des Vertrags von Versailles relativ ausführlich das Londoner Protokoll vom 8. August 1945 und die Nürnberger Prozesse. Das Protokoll von Tokyo und die dort durchgeführten Prozesse streifte Kelsen nur kurz. Erneut betonte er, dass es problematisch sei, Personen für Handlungen zur Verantwortung zu ziehen, die auf Befehl eines Vorgesetzten gehandelt haben. Es sollten die Befehlsempfänger im Interesse der militärischen Disziplin nicht das Recht haben, selbständig zu entscheiden, ob sie diesen Befehl befolgen oder zurückweisen. In Newport wohnten Hans und Grete Kelsen in einem kleinen Häuschen in 35 Powell Avenue, etwa drei Kilometer vom Naval War College entfernt.858 Die Lehrtätigkeit Hans Kelsens am College endete vermutlich Mitte April 1954, zumal er am 16. April gemeinsam mit seiner Frau nach New York und von dort weiter nach Chicago reiste, wo er die »Walgreen Lectures« halten sollte.859 William Rappard hatte, als Kelsen im September 1953 aus Genf zurück nach Amerika gereist war, vermutet, dass dieser die intellektuell wenig ansprechende Lehrtätigkeit am Naval War College wohl nur wegen der guten Bezahlung angenommen habe.860 Wenn dies der Fall war, so hatte sich Kelsens Einstellung gegenüber dieser Lehranstalt in dem Jahr, in dem er dort unterrichtete, nicht gebessert. Vier Jahre später, im Jänner 1958, wurde er von Commander Strohl angerufen und gefragt, ob er für das akademische Jahr 1958/59 nochmals am Naval War College unterrichten wollte. Kelsen stellte zwei Bedingungen: eine deutliche Erhöhung seines Gehaltes (bisher $ 12.000,– für ein Jahr) und dass er nicht wieder das »blue book« verfassen müsse.861 Das College fand jedoch schon einen Tag später einen weiteren potentiellen Vortragenden, weshalb es auf die Forderungen Kelsens nicht mehr einging.862
857 »Individual
criminal responsibility for violation of international law performed by acts of state with special regard to Nuremberg and Tokyo trials«. Das 27seitige Vortragsmanuskript befindet sich in: Naval War College Newport (RI), Naval Historical Collection, Dean of Academics Record Group. 858 Hans Kelsen, Brief an Hans Carl Nipperdey v. 16. 1 2. 1953, UA Köln, Zug 598/143; Hans Kelsen, Brief an Hans J. Morgenthau v. 20. 6. 1954, in: LOC, Manuscript Division, Hans Morgenthau Papers, Box 33, Folder 6. 859 Margarete Kelsen, Schreiben an Frederick Unger v. 13. 4. 1954, in: LBI Archives, Unger Family Collection, Box 20, Folder 3, p. 577. 860 William R appard, Schreiben an Joseph H. Willits (RF) v. 18. 9. 1953, in: AHEI, Ordner Rockefeller Foundation 1938–1954; vgl. Busch/Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2015) 27. 861 Mitchell P. Strohl, Memorandum v. 13. 1. 1958, in: Naval War College Newport (RI), Naval Historical Collection, Dean of Academics Record Group. 862 A. B. Coxe, Memorandum v. 14. 1. 1958, in: Naval War College Newport (RI), Naval Historical Collection, Dean of Academics Record Group.
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4. Teil: Amerika und die Welt
3. Die Grundlagen von Demokratie und Marxismus sowie die Frage nach dem Wesen der Religion a) Die Walgreen Lectures Charles R. Walgreen Sr. (1873–1939), der Begründer von »Walgreens«, der größten Apothekenkette in den USA, hatte eine Nichte namens Lucille Norton, die im Jahre 1935 an der University of Chicago Sozialwissenschaften studierte. In einem der Kurse, die sie belegte, hatte sie u. a. das »Kommunistische Manifest« von Marx und Engels zu lesen und bekundete etwa zur selben Zeit, in Gesprächen mit ihrem vermögenden Onkel, ihre deutliche Sympathie für den Marxismus. Am 10. April 1935 richtete Walgreen einen Brief an die Universitätsleitung, fragte empört, wie es möglich sei, dass an einer der führenden Bildungsstätten der USA kommunistische Propaganda verbreitet werde, und kündigte an, seine Nichte von der Universität zu nehmen.863 Die Anschuldigungen Walgreens wurden rasch in der Öffentlichkeit bekannt und drohten, die Reputation der Universität zu schädigen, ein gerichtliches Verfahren stand unmittelbar bevor. Als Walgreen endlich davon überzeugt werden konnte, dass sein Standpunkt vor Gericht keine Chance hätte, beschloß er, auch unter dem Einfluss von Charles Merriam, nicht nur auf den Rechtsweg zu verzichten, sondern auch der Universität über eine halbe Million Dollar »für ein besseres Verständnis der amerikanischen Lebensweise unter Studenten der University of Chicago« zu schenken.864 Auf diese Stiftung gingen insbesondere die »Walgreen Lectures« zurück, eine Vortragsreihe, in der namhafte Gastprofessoren zu politikwissenschaftlichen und verwandten Themen referierten. So hielt insbesondere Eric Voegelin Ende 1951 im Rahmen der »Walgreen Lectures« eine sechsteilige Vorlesungsreihe zum Thema »Truth and Representation [Wahrheit und Repräsentation]«, die er im folgenden Jahr unter dem Titel »The New Science of Politics [Die neue Wissenschaft der Politik]« publizierte.865 Voegelin, der bis 1930 Assistent Hans Kelsens an der Universität Wien gewesen war, jedoch nur schwerlich als sein »Schüler« bezeichnet werden kann,866 hatte sich noch kurz vor Kelsens Weggang, 1929, für Gesellschaftslehre, 1931 auch für Allgemeine Staatslehre habilitiert. Sein 1936 erschienenes Buch »Der Autoritäre Staat« war der Versuch einer theoretischen Fundierung des 1934–1938 in Österreich herrschenden Regimes, zugleich aber auch eine Fundamentalkritik an der Reinen Rechtslehre. Insbesondere zog er deren Grundstreben nach Einheit des Erkenntnisgegenstandes, damit aber auch die Notwendigkeit einer Grundnorm in Zweifel.867 1938 emigrierte 863 Boyer,
The University of Chicago (2015) 268. Die Ordnung der Ordnung (2002) 245 f.; https://www.lib.uchicago.edu/e/scrc/ findingaids/view.php?eadid=ICU.SPCL.WALGREEN#idp146685896 [Zugriff: 07. 05. 2019]. 865 Voegelin, The New Science (1952). 866 Vgl. Neisser, Voegelin (2003) 22: »Beeindruckend für Voegelin war Kelsens Persönlichkeit, nicht dessen Lehre.« 867 Voegelin, Der Autoritäre Staat (1936) 110 f., 120. Vgl. Neisser, Voegelin (2003) 23 f.; A rnold, Voegelin (2008) 528; Jabloner, In Defense of Modern Times (2016) 335. 864 Bluhm,
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4. Kapitel: Die letzten akademischen Stationen
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Voegelin in die USA, wo er rund 20 Jahre blieb und ab 1952 an der Louisiana State University lehrte. Seine »New Science of Politics« lässt gewisse Parallelen zum »Autoritären Staat« erkennen; auch hier ging es Voegelin um eine Kritik des Positivismus als solchen. Nunmehr erklärte er auch das Bemühen Max Webers, eine wertfreie Wissenschaft zu betreiben, für fragwürdig; vielmehr habe gerade Weber das Bemühen um eine wertfreie Wissenschaft »ad absurdum« geführt.868 Etwa ein Jahr später, im Dezember 1952, erhielt der damals in Genf lehrende Hans Kelsen einen Brief seines alten Freundes Hans J. Morgenthau.869 Dieser war seit 1949 Professor für Political Science an der University of Chicago und lud Kelsen nunmehr ein, ebenfalls im Rahmen der »Walgreen Lectures« zu unterrichten. Für insgesamt sechs Vorlesungen wurde Kelsen ein Honorar von $ 1000,– plus Bahnkosten innerhalb der USA versprochen.870 Mit über einem Jahr Verspätung, im Jänner 1954, schrieb Kelsen von Newport/RI, wo er mittlerweile unterrichtete, an Morgenthau, dass er das Angebot annehme und über »The Foundations of Democracy [Die Grundlagen der Demokratie]« sprechen wolle. Auch erklärte er sogleich, dass er die Gelegenheit benützen werde, um einige kritische Bemerkungen zu Voegelins Buch »The New Science of Politics« zu machen.871 Kelsen hielt seine »Walgreen Lectures« in der zweiten Hälfte des Monats April 1954.872 Die Publikation erfolgte unter dem Titel »Foundations of Democracy« im Oktober 1955 in der Zeitschrift »Ethics«.873 »Foundations of Democracy« ist fast doppelt so umfangreich wie die 2. Auflage des Buches »Vom Wesen und Wert der Demokratie« von 1929 und damit die bei weitem ausführlichste, zudem die letzte bedeutende Schrift Hans Kelsens zur Demokratietheorie.874 Und wenn auch Kelsen in 868 Voegelin,
The New Science (1952) 20. und Kelsen standen zu jener Zeit miteinander in regelmäßigem Briefkonktakt. Über Vermittlung Kelsens hatte Morgenthau 1949 in Berkeley als Gastprofessor lehren können: Hans J. Morgenthau, Brief an Hans Kelsen v. 13. 1 2. 1948, in: LOC, Manuscript Division, Hans Morgenthau Papers, Box 33, Folder 6. 870 Hans J. Morgenthau, Brief an Hans Kelsen v. 23. 1 2. 1952, in: LOC, Manuscript Division, Hans Morgenthau Papers, Box 33, Folder 6. 871 Hans Kelsen, Brief an Hans J. Morgenthau v. 9. 1. 1954, in: LOC, Manuscript Division, Hans Morgenthau Papers, Box 33, Folder 6. 872 Am 16. 4. 1954 traf Kelsen, wohl direkt aus Newport kommend, in New York ein, von wo er am nächsten Tag nach Chicago fuhr: Margarete Kelsen, Schreiben an Frederick Unger v. 13. 4. 1954, in: LBI Archives, Unger Family Collection, Box 20, Folder 3, p. 577. In Chicago traf Kelsen auch wieder Hans Morgenthau. Dieser wollte im Sommer 1954 nach Europa reisen, weshalb ihn Kelsen bei Rappard als Vortragenden vorschlug: Hans Kelsen, Brief an William Rappard v. 26. 1. 1954, in Kopie in: LOC, Manuscript Division, Hans Morgenthau Papers, Box 33, Folder 6; Hans Kelsen, Brief an Hans J. Morgenthau v. 20. 6. 1954, a. a. O. 873 Kelsen, Foundations of Democracy (1955) = VdD 248–385. Etwa zur selben Zeit, in der die »Walgreen Lectures« stattfanden, am 30. April 1954, nahm Kelsen in Chicago auch an einer Konferenz über »Jurisprudence and Politics« statt. Die Schriftfassung seines Vortrages (Kelsen, Democracy and Socialism [1955]) ist wortident mit Abschnitten aus Kelsen, Foundations of Democracy (1955) 77–94 = VdD 360–385. 874 Siehe den 2006 erfolgten Wiederabdruck beider Schriften im Sammelband »Verteidigung der Demokratie« (VdD), wo diese 137 Seiten, jene aber 79 Seiten umfasst. 869 Morgenthau
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4. Teil: Amerika und die Welt
dieser Arbeit vieles aus älteren Schriften sinngemäß oder wörtlich wiederholte (so waren etwa die einleitenden Absätze eine wortgetreue englische Übersetzung der einleitenden Absätze von »Demokratie und Weltanschauung« von 1933, und natürlich durfte auch in »Foundations of Democracy« das 18. Kapitel des Johannesevangeliums nicht fehlen), so brachte er doch eine Reihe von neuen, zum Teil erstaunlichen Thesen vor. Diese waren teils seiner intensiven Beschäftigung mit Voegelin und anderen Autoren, insbesondere auch Theologen, teils seinen Erfahrungen mit der US-amerikanischen Demokratie zu verdanken. Inhaltlich gliederte sich der Aufsatz in drei, unterschiedlich lange Abschnitte, sodass nicht genau gesagt werden kann, wie Kelsen den Stoff auf sechs Vorlesungseinheiten aufteilte. Der erste und längste Abschnitt war mit »Democracy and Philosophy« betitelt; er war zu einem großen Teil eine Kompilation seiner bis 1933 verfassten, einschlägigen Schriften. Bereits in seinen einleitenden Abschnitten wurde Kelsens Wertrelativismus deutlich; er negierte die Möglichkeit, »das Gute« rational zu erkennen, denn in der Demokratie könne im Prinzip über jede Wertentscheidung abgestimmt werden. Die Demokratie sei ein politisches Verfahren, das unabhängig von bestimmten materiellen Werten sei. Scharf kritisierte er daher die sowjetische Dok trin, die der westlichen »formalen« Demokratie eine »echte« Demokratie gegenüberstelle, die tatsächliche Gleichheit verwirklichen solle. Hatten nicht die Nazis in ganz ähnlicher Weise gegen die Demokratie argumentiert?875 Aber nicht nur Nationalsozialisten und Kommunisten hätten den Gedanken der Demokratie »pervertiert«. Kelsen nannte in diesem nicht sehr schmeichelhaften Zusammenhang auch die kürzlich präsentierte »New Science of Politics« von Eric Voegelin und kritisierte insbesondere dessen Repräsentationstheorie, die deutliche Parallelen zu den genannten Ideologien aufweise. Voegelin zufolge sei jene Form der Repräsentation, die darin bestehe, dass z. B. Abgeordnete als Repräsentanten des Volkes gewählt werden, eine »elementare« Repräsentation; sie »löse« aber das eigentliche Repräsentationsproblem nicht.876 Eine echte, »existenzielle« Repräsentation, sei nur dann gegeben, wenn der Repräsentant effektiv repräsentiere, d. h. wenn er seine Befehle durchsetzen könne. Damit verschleierte Voegelin nach Ansicht Kelsens die Unterscheidung zwischen einer Repräsentation des Staats und Repräsentation des Volkes. Dies war mehr als ein terminologischer Streit: Voegelin befürchtete, dass der Mehrparteienstaat eine Gefahr für eine »existenzielle Repräsentation« sein könne, dann nämlich, wenn sich die Parteien nicht auf eine gemeinsame Linie einigen können. Dies erinnerte nach Ansicht Kelsens sowohl an die Argumentationen von Faschisten und Nationalsozialisten als auch an jene von Kommunisten, die ja alle einen Einparteienstaat bevorzugt hatten.877 875 Kelsen,
Foundations of Democracy (1955) 6 = VdD 258. The New Science (1952) 35; Kelsen, Foundations of Democracy (1955) 7 = VdD
876 Voegelin,
259.
877 Kelsen,
Foundations of Democracy (1955) 8, 10 = VdD 260 f., 263.
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4. Kapitel: Die letzten akademischen Stationen
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Wie schon in einigen anderen Schriften, so konstatierte Kelsen auch in »Foundations of Democracy« eine gewisse Parallelität von philosophischem Absolutismus und politischem Absolutismus einerseits, von philosophischem Relativismus und Befürwortung der Demokratie andererseits. Neu war, dass er eine Reihe von bedeutenden Philosophen diesen beiden Strömungen zuordnete. Zu den »Demokraten« zählte Kelsen die Sophisten, Nicolaus Cusanus, Baruch de Spinoza, John Locke und David Hume, zu den »Antidemokraten« Platon, Thomas von Aquin, Gottfried Wilhelm Leibniz und – mit Einschränkungen – auch Aristoteles.878 Mit dem schon vielfach von ihm verwendeten Verweis auf das Gespräch zwischen Jesus und Pilatus leitete Kelsen über zum zweiten großen Abschnitt seiner Überlegungen, den er mit »Democracy and Religion« betitelte. Sein Gedankengang war dabei ähnlich wie bei seiner Abschiedsvorlesung 1952: Es gebe keinen Beweis dafür, dass im demokratischen Weg immer die besten Entscheidungen getroffen werden. Das Bedürfnis nach absoluter Gewissheit habe immer für Widerstand gegen eine relativistische Philosophie gesorgt und wesentlich zu einer Hinwendung zu Religion, Metaphysik und Naturrecht beigetragen.879 Dies führte ihn zu einer ausgiebigen Auseinandersetzung mit drei bedeutenden, zeitgenössischen Theologen: Dem Schweizer Emil Brunner (1889–1966) von der evangelisch-reformierten Kirche, dem US-Amerikaner Reinhold Niebuhr (1892–1971), der den Unierten Kirchen zuzurechnen war, und dem zum Katholizismus übergetretenen Franzosen Jacques Maritain (1882–1973).880 In diesem Zusammenhang wandte sich Kelsen – deutlich wie in keiner seiner anderen Schriften – gegen den (u. a. von Brunner erhobenen) Vorwurf, der relativistische Positivismus hätte die Entstehung totalitärer Regime wie insbesondere der NS-Diktatur unterstützt. Kelsen wies die Vorstellung, dass ein relativistischer Positivist notwendigerweise den Glauben an das Gute ablehnen müsse, zurück: »Der relativistische Positivismus betrachtet das positive Gesetz nur deshalb als relativ, weil er annimmt, dass eine absolute Gerechtigkeit nicht erkennbar ist, dass man religiös an das Absolute und das heißt an Gott glauben, es aber nicht [wissenschaftlich] erfassen kann«.881 Ob dies aber bedeutete, dass auch ein religiöser Mensch Anhänger eines relativistischen Positivismus sein konnte, blieb fraglich: Denn Kelsen bezweifelte die Ansicht Niebuhrs, dass man allein aus religiöser Demut heraus tolerant sein könne und müsse.882 878 Kelsen,
Foundations of Democracy (1955) 34–38 = VdD 296–302.
879 Kelsen, Foundations of Democracy (1955) 39 f. = VdD 306–308. Vgl. auch Dreier, Der Preis
der Moderne (2017) 18. 880 Brunner hatte 1943 ein Buch zum Thema »Gerechtigkeit« veröffentlicht. Mit diesem hatte sich Kelsen schon früher auseinandergesetzt, vgl. Kelsen, Gerechtigkeit (1953). 881 Kelsen, Foundations of Democracy (1955) 43 = VdD 312. 882 Niebuhr, Die Kinder des Lichts (1947) 90: »[E]ine religiöse Lösung des Problems […] verlangt, daß jede Religion oder jede Version eines besonderen Glaubens ihre höchsten Erkenntnisse zu verkünden bestrebt ist, dabei aber doch eine demütige und bußfertige Erkenntnis der Tatsache bewahrt, daß jeder konkrete Ausdruck religiösen Glaubens geschichtlicher Bedingtheit und Relativität unterworfen ist. Diese Erkenntnis schafft einen Geist der Toleranz und läßt jede religiöse oder kulturelle Bewegung zögern, offizielle Gültigkeit für ihre religiöse Eigenart zu beanspruchen oder ein offizielles Monopol für ihren Kult zu fordern.«
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Wahre Toleranz, so Kelsen, könne nur derjenige haben, der die historische Bedingtheit und Relativität des eigenen Glaubens erkenne.883 Im Ganzen war Kelsens Befund der, dass weder die christliche Lehre noch das Evangelium selbst eine Rechtfertigung der Demokratie liefern. Christus selbst habe keine Regierungsform favorisiert.884 Paulus habe die Behauptung aufgestellt, dass jede Regierung von Gott eingesetzt sei, und damit nach Ansicht Kelsens die Herrschaft vieler Tyrannen legitimiert.885 Und selbst die Botschaft im Römerbrief, dass vor Gott alle Menschen gleich seien, war für Kelsen mehr ein Hinweis auf eine Autokratie als auf eine Demokratie.886 Damit kam Kelsen zum dritten Teil seiner »Foundations of Democracy«: dem Verhältnis zwischen Demokratie und einer bestimmten Wirtschaftsform, sei es der freien Marktwirtschaft, sei es der sozialistischen Planwirtschaft. Könne die Demokratie, könne die Autokratie, jeweils einer dieser beiden Wirtschaftsformen zugeordnet werden, oder seien sie indifferent gegenüber diesen Systemen? Die diesbezüglichen Ausführungen Kelsens sind erstaunlich kühn, wenn man bedenkt, dass sich die USA am Höhepunkt der McCarthy-Ära befanden und sich die meisten Professoren hüteten, irgendetwas Positives über den Sozialismus zu sagen. Kelsen dagegen kritisierte, wie stets, beide Seiten und wog Argumente für und wider ab, ohne sich durch eine persönliche Präferenz beeinflussen zu lassen. Um es vorwegzunehmen: Kelsen war der Ansicht, dass sich Demokratie und Sozialismus nicht prinzipiell ausschließen. Damit widersprach er insbesondere der These von Friedrich August v. Hayek, wonach der Sozialismus (aber auch der Faschismus) zur »Knechtschaft« führe und die persönliche Freiheit nur Hand in Hand mit einer freien Marktwirtschaft einhergehen könne.887 Immerhin: Auch Kelsen musste zugeben, dass die historische Erfahrung Hayek recht zu geben schien. Denn in Russland sei der Wandel von einer kapitalistischen zu einer sozialistischen Gesellschaft unter massivem Einsatz von Gewalt erfolgt.888 Ob aus diesem einen Fall eine allgemeine Gesetzmäßigkeit abgeleitet werden könne, sei jedoch fraglich. Auch wies Kelsen sozialistische Behauptungen zurück, wonach Demokratie und Kapitalismus nicht kompatibel seien, und dass dort, wo das frei gewählte Parlament eine kapitalistische Wirtschaftsordnung zulasse, keine echte 883 Kelsen, Foundations of Democracy (1955) 60 f. = VdD 337 f. Vgl. dazu Rice, Kelsen and Niebuhr (2016) 146–149. Der Wertrelativismus als Basis der Demokratie, der zu Kelsens innerster Überzeugung gehört, hat v. a. in katholischen Kreisen immer wieder zu entschiedenem Widerspruch geführt, nicht zuletzt bei Joseph Ratzinger, nachmaligem Papst Benedikt XVI.: R atzinger, Werte (2005) 52 f., 57 f.; vgl. dazu Dreier, Joh 18 (2009) 16 f. Einer breiten Öffentlichkeit wurde diese Kontroverse bekannt, als der Papst am 22. 9. 2011 in einer Rede vor dem deutschen Bundestag seine Kritik an Kelsen wiederholte, ohne allerdings inhaltlich Neues zu bringen; vgl. Voigt, Religion (2017) 149. 884 Kelsen, Foundations of Democracy (1955) 65 = VdD 344, belegt dies u. a. mit Mt 22,21: »So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!« 885 Röm 13,1; Kelsen, Foundations of Democracy (1955) 43 = VdD 312. 886 Röm 2,11; Kelsen, Foundations of Democracy (1955) 66 = VdD 345. 887 Hayek, The Road to Serfdom (1944) 72 ff. 888 Kelsen, Foundations of Democracy (1955) 69 = VdD 349.
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Demokratie existiere. Aber ebensowenig könne das Gegenteil behauptet werden; insbesondere sei eine sozialistische Planwirtschaft nicht per se undemokratisch. Hervorhebenswert sind Kelsens Ausführungen zur »rule of law« (womit er das angloamerikanische Äquivalent zum kontinentaleuropäischen Rechtsstaatsprinzip meinte889). Nach herrschender Lehre sei die »rule of law« »essentiell für eine Demokratie, denn sie garantiere die Freiheit«. Kelsen widersprach dieser Ansicht: die »rule of law« mache lediglich das Handeln staatlicher Organe berechenbar, diene also ausschließlich der Rechtssicherheit. Die Legislative werde durch die »rule of law« in keiner Weise beschränkt und daher auch nicht die Entscheidung des Gesetzgebers für eine bestimmte Wirtschaftsform. Man könne sogar sagen, dass die »rule of law« in einem Staat mit Planwirtschaft stärker zum Tragen komme als in einem Staat mit Marktwirtschaft, da letztere eine rechtlose (anarchische) Produktionsweise vorsehe.890 Schließlich wies er darauf hin, dass das von Richtern geschaffene case law kein demokratisch erzeugtes Recht sei891 – wahrhaft starker Tobak für Kelsens amerikanische Hörerschaft! Am Ende seiner Überlegungen zum Verhältnis von Demokratie und Wirtschaft kehrte Kelsen erneut zur Philosophie und zur Theologie zurück. Ausführlich befasste er sich mit John Locke (1632–1704), der fast dreihundert Jahre zuvor erkannt hatte, dass Gott die Erde der gesamten Menschheit, nicht einzelnen Menschen, geschenkt habe und dass das Privateigentum nicht aus der Bibel ableitbar sei.892 Étienne-Gabriel Morelly (1717–1778) habe den Kommunismus als das natürlichste Wirtschaftssystem angesehen. Und dennoch haben katholische wie evangelische Theologen das Privateigentum als »Basis der Freiheit« bezeichnet und seine Legitimität theologisch untermauert.893 Noch einmal kam Kelsen auf den Schweizer Theologen Emil Brunner zurück und erklärte, dass die Freiheit, die Brunner meine, eine ganz spezifische, nämlich die des Kapitalismus sei. Kelsen dagegen war der Ansicht, dass es in beiden Systemen immer nur eine relative Freiheit geben könne, »und die Frage, welches von ihnen die Freiheit in größerem Maße garantiere, kann auf der Grundlage ausreichender Erfahrung noch nicht beantwortet werden.«894 Und selbst wenn dies in der einen oder anderen Richtung geklärt sei, sei damit nicht die Frage beantwortet, ob das eine oder das andere System besser mit der Demokratie vereinbar sei. 889 Vgl. demgegenüber Kelsens erste Arbeiten in englischer Sprache, als er den im angloamerikanischen Sprachraum zentralen Terminus »rule of law« irrtümlich als englische Übersetzung von »Rechtsnorm« auffasste, oben 606. 890 Kelsen, Foundations of Democracy (1955) 77 f. = VdD 361; ebenso Kelsen, Democracy and Socialism (1955) 63 f. 891 Kelsen, Foundations of Democracy (1955) 79 = VdD 363; ebenso Kelsen, Democracy and Socialism (1955) 66. 892 Kelsen, Foundations of Democracy (1955) 86 = VdD 373; ebenso Kelsen, Democracy and Socialism (1955) 76. 893 Emil Brunner, zit. n. Kelsen, Foundations of Democracy (1955) 92 = VdD 382 und Kelsen, Democracy and Socialism (1955) 85. 894 Kelsen, Foundations of Democracy (1955) 94 = VdD 384 f.; ebenso Kelsen, Democracy and Socialism (1955) 87. Vgl. dazu Voigt, Religion (2017) 159.
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b) »The Communist Theory of Law« Es ist eine auffällige und wohl nicht zufällige Parallele zu 1920, dass sich Kelsen auch 1954/55, als er erneut das Wesen der Demokratie zu ergründen suchte, abermals intensiv mit dem Marxismus beschäftigte und daraus eine ganze Monographie erwuchs. Nur ein halbes Jahr, nachdem Kelsen in Chicago seine Vorlesungen über »Foundations of Democracy« gehalten hatte, unterzeichnete er im September 1954 das Vorwort für das Buch »The Communist Theory of Law [Kommunistische Rechtstheorie]«, das im folgenden Jahr in der Schriftenreihe des London Institute of World Affairs – derselben Schriftenreihe, in der er auch schon sein »Law of the United Nations« herausgebracht hatte – publiziert wurde. Anstoß zu diesem Werk war eine Sammlung von Texten sowjetischer Autoren, die 1951 in englischer Übersetzung im Rahmen der »Twentieth Century Legal Philosophy Series« unter dem Titel »Soviet Legal Philosophy« erschienen war.895 In diesen Texten war auch Hans Kelsen wiederholt genannt und kritisiert worden: So hieß es etwa bei Evgenij Pašukanis, dass der »extreme Formalismus der normativen Schule (Kelsen) zweifellos die allgemeinen dekadenten Erscheinungen des rezenten wissenschaftlichen Denkens der Bourgeoisie« widerspiegle. Denn eine Theorie, in der das »Sollen« vollständig vom »Sein« getrennt sei, die also nach ihren eigenen Zielsetzungen nichts über die Realität aussagen könne, könne nur dann als wissenschaftliche Theorie bezeichnet werden, wenn man auch eine Theorie des Schachspiels so bezeichne.896 Insbesondere der zweite Teil von Kelsens Monographie war im Wesentlichen eine Antwort auf diese Kritiken.897 Der erste Teil ist als Hinführung zu diesen Polemiken zu verstehen und enthält eine Auseinandersetzung mit der ursprünglichen, von Marx und Engels entwickelten Theorie von Staat und Recht. Wesentlich stärker als in früheren vergleichbaren Werken, aber in Parallelität zu »Foundations of Democracy«, ging Kelsen dabei auch auf ökonomische Aspekte der politischen Theorie ein. Insbesondere nahm er zur zentralen Aussage von Marx Stellung, wonach die »Produktionsverhältnisse« die »reale Basis« der Gesellschaft darstellen, auf der »sich ein juristischer und politischer Überbau« erhebe.898 Kelsen erklärte, dass Marx im Recht nur die offizielle Anerkennung von wirtschaftlichen Verhältnissen, somit von realen Tatsachen, sehe. Dann aber sei unerklärlich, wie das Recht auf diese Verhältnisse einwirken könne. Auch bestritt Kelsen den ideologischen Charakter des Rechts: Eine Ideologie könne nur eine Funktion des Denkens, nicht des Wollens sein. Ähnlich hatte Kelsen ja schon 1931 in seiner »Allgemeinen Rechtslehre im Lichte 895 Siehe
zu dieser Schriftenreihe schon oben 698. General Theory (1924) 115, 129. 897 John N. Hazard sowie auch H. L. A. Hart, die beide das Buch Kelsens rezensierten, meinten daher, dass dieses gemeinsam mit dem Sammelband »Soviet Legal Philosophy« gelesen werden müsse, um es zu verstehen: Gassner, Kelsen und die sowjetische Rechtslehre (2016) 161. 898 Marx, Zur Kritik der politischen Oekonomie (1959) 8. 896 Pashukanis,
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materialistischer Geschichtsauffassung« argumentiert: Marx verwechselte nach Ansicht Kelsens das Recht mit der Rechtswissenschaft.899 Der Hauptwiderspruch innerhalb der marxistischen Staatslehre bestand für Kelsen darin, dass der Staat sowohl als Mittel zur Ausbeutung der Arbeiterschaft als auch als Mittel zur Beendigung dieser Ausbeutung gesehen werde. Aber auch dies, und auch, dass Marx Wissenschaft mit Politik vermenge,900 waren Thesen, die Kelsen bereits 1920 (in deutscher Sprache) veröffentlicht hatte. Sieht man also einmal davon ab, dass Kelsens »Communist Theory« von 1955 diese Thesen erstmals einem amerikanischen Publikum nahebrachte und so von einer ganz anderen Reichweite als das Buch »Sozialismus und Staat« von 1920 war, dann war das eigentlich Neue an Kelsens Buch hauptsächlich seine Auseinandersetzung mit jenen sowjetischen Rechtsgelehrten, die ihrerseits Kelsens »Sozialismus und Staat« kritisiert hatten. Diese Auseinandersetzung mit Vladimir Iľič Lenin (1870–1924), Pëtr Stučka (1865– 1932), Michail A. Reissner (1868–1928), Evgenij Pašukanis (1891–1937), Iosif W. Stalin (1878–1953), Pavel F. Judin (1899–1968), Andrei Vyshinskij (1883–1954), Sergei A. Golunskij (1895–1962), Mikhail Strogovich (geb. 1895) und Iľja Pavlovič Trainin (1887– 1949) erfolgte im Wesentlichen in derselben Reihenfolge, in der die Genannten auch im Buch »Soviet Legal Philosophy« vorkamen, wenn auch in sehr unterschiedlicher Intensität. Stalin, der nur Politiker und kein Wissenschaftler war (im Gegensatz etwa zu Lenin, der beides war), hatte es in die erwähnte Sammlung nur mit zwei ganz kurzen Texten geschafft, und auch dies wohl nur deshalb, weil er 1951 noch an der Macht war. Er wurde von Kelsen mit keinem eigenen Kapitel bedacht, sondern nur en passant erwähnt. Kurz konnten auch die Bemerkungen zu Trainin ausfallen, der ganz offensichtlich die Ziele der Reinen Rechtslehre gründlich missverstanden hatte.901 Ausführlich waren dagegen u. a. die Kapitel zu Lenin, zu Stučka und zu Pašukanis. Dabei stellte er insbesondere fest, dass Lenin die Marx’sche These vom Absterben des Staates ganz entscheidend modifiziert habe; er verkünde mehrere Phasen, innerhalben deren der Kommunismus verwirklicht werden solle, aber auch die letzte Phase bringe kein vollständiges Absterben des Staates. Im übrigen sei Lenins Staatstheorie durchwegs politisiert; wenn er die Frage nach dem Wesen des Staates stelle, vermenge er dies sofort mit der Frage, was die kommunistische Partei mit dem Staat vorhabe.902 Stučka habe Lenins These vom »Übergangsstaat«, in dem kapitalistisches und sozialistisches Recht nebeneinander existieren, aufgegriffen; er sah das Recht als ein System von sozialen Beziehungen – mit Ausnahme offenbar des Strafrechts, dessen Normencharakter in einem offiziellen Text des (1923–1932 von Stučka geleiteten) Justizkommissariats bestätigt wurde. Für Kelsen war eine derartige Differenzierung unerklärlich.903 899 Kelsen,
The Communist Theory (1955) 8, 11, 13. The Communist Theory (1955) 29, 46. 901 Kelsen, The Communist Theory (1955) 145. 902 Kelsen, The Communist Theory (1955) 56, 60. 903 Gassner, Kelsen und die sowjetische Rechtslehre (2016) 163. 900 Kelsen,
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Die rechtstheoretisch wohl interessanteste Auseinandersetzung war jene mit Pašukanis, der wieder ganz zu Marx zurückging und erklärte, dass alle Rechtsverhältnisse aus wirtschaftlichen Verhältnissen erwachsen. Dies führte ihn zu einem rein privatrechtlichen Verständnis von Recht; öffentliches Recht war für ihn kein »echtes Recht«.904 Kelsen stellte auch hier wieder die Frage nach dem Wesen des Strafrechtes, dessen Rechtsqualität ja nicht gut verneint werden könne; vor allem aber hielt er Pašukanis vor, den (von der Reinen Rechtslehre schon längst als ideologisch fundiert erklärten) Dualismus von öffentlichem und Privatrecht, nun mit umgekehrten Vorzeichen, einfach fortzusetzen.905 Doch dieser Vorwurf ging ins Leere: Denn Pašukanis’ Buch war 1924 geschrieben worden, und er hatte viele seiner Ansichten in späteren Schriften revidiert – in Schriften, die Kelsen mangels Übersetzung niemals kennenlernte.906 Pašukanis selbst war im Jahr 1954 seit 17 Jahren, Stučka seit 22 Jahren, Lenin seit 30 Jahren tot. Kelsens »Erwiderung« kam also viel zu spät und rief dementsprechend auch in der Sowjetunion kaum noch Reaktionen hervor.907 Hatte Kelsens »Allgemeine Staatslehre« 1925 noch eine, zwar kritische, aber in Summe positive Rezension in der sowjetischen Zeitschrift »Zhizň i Pravo [Leben und Recht]« erhalten, so fand in der Sowjetunion der 1950-er Jahre generell keine substantiierte Auseinandersetzung mit westlichen Rechtstheoretikern mehr statt (und die genannte Zeitschrift hatte schon 1927 ihr Erscheinen einstellen müssen).908 In den USA erhielt Kelsens Buch zwar einige Rezensionen, u. a. durch H. L. A. Hart in der »Harvard Law Review«. Wirklich aufregen konnte das bewusst theoretisch und möglichst unpolitisch gehaltene Buch909 kaum jemand: Das FBI, das just im Jahr 1955 seine Ermittlungen gegen Hans Kelsen ergebnislos eingestellt hatte, erfuhr entweder niemals von diesem Buch oder aber hielt es nicht für wert, deswegen die Ermittlungen wiederaufzunehmen. c) »Secular Religion« Eric Voegelin war von Kelsen in dessen »Communist Theory of Law« nicht mehr erwähnt worden, und in »Foundations of Democracy« hatte Kelsen zwar auf einige von Voegelins Thesen Bezug genommen, aber keineswegs den Kern von dessen Theorie getroffen. Dieser Kern bestand darin, dass Voegelin behauptete, dass der Totalitarismus eine Folge der säkularisierten Gesellschaft sei, die keineswegs ein Absterben von Religion, sondern vielmehr neue religiöse Formen – von Voegelin pauschal als 904 Kelsen,
The Communist Theory (1955) 93 f. The Communist Theory (1955) 97, 99. Vgl. Reich, Hans Kelsen und Evgenij Paschukanis (1978) 25–27. 906 Reich, Hans Kelsen und Evgenij Paschukanis (1978) 31 f. 907 Gassner, Kelsen und die sowjetische Rechtslehre (2016) 165. 908 Gassner, Kelsen und die sowjetische Rechtslehre (2016) 158. 909 Vgl. den Schlussabsatz im Vorwort: Kelsen, The Communist Theory (1955) VIII. 905 Kelsen,
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»Gnosis« bezeichnet – hervorgebracht habe.910 So bezeichnete er sowohl das Schlagwort vom »Dritten Reich« als auch jenes von Moskau als dem »Dritten Rom« als eine »Vermischung der Eschatologie des spiritualen Reiches«, wie es in theologischen Werken, insbesondere bei Joachim von Floris (Gioacchino da Fiore, ca. 1145–1202), behandelt wurde, »mit ihrer Verwirklichung durch eine politische Gesellschaft«.911 Was genau Voegelin unter »Gnosis« verstand, wurde an keiner Stelle erklärt; gleichwohl hielt er den »Gnostizismus« geradezu für das »Wesen der Modernität«. Schon seit dem Hochmittelalter, so Voegelin, sei eine Abkehr vom Glauben festzustellen, doch traten andere Vorstellungen an seine Stelle, mit denen das »Mysterium der Schöpfung« durchdrungen wurde. Diese gnostischen Weltdeutungen waren alle von der christlichen Religion geprägt, setzten aber »Teilhabe an der Göttlichkeit an die Stelle des Glaubens im christlichen Sinne«.912 So sah Voegelin insbesondere im Säkularismus eine »Vergottung des Menschen«, wofür er Karl Marx und Ludwig Feuerbach (»der Mensch schuf […] Gott nach seinem Bilde«913) als Belege anführte. Kelsen musste sich daher fragen, ob auch er selbst ein »Gnostiker« im Sinne Voegelins sei,914 was dieser aber in einem Brief an seinen ehemaligen Lehrer ausdrücklich verneinte: »Was ich am meisten an Ihnen bewundere, ist die intellektuelle Sauberkeit, mit der Sie Ihr Prinzip der Methodenreinheit im persönlichen Verhalten ernst nehmen. Sie haben, soviel ich weiss, nie auch nur den leisesten Versuch gemacht, das Vakuum der Transzendenz, das Ihre Agnosie schafft, durch eine immanente Gnosis zu füllen. Sehr zum Unterschied von Denkern wie Cassirer oder Husserl […] Sie sind ganz gewiss kein ›Gnostiker‹«.915 Dennoch kündigte Kelsen im Februar 1954 Voegelin an, ihm ein »ziemlich umfangreiche[s] Manuskript« zusenden zu wollen, in dem er dessen »New Science of Politics« umfassend kritisieren werde. Typisch für Kelsen sind die Schlussworte dieses Briefes: »Ich brauche Ihnen nicht besonders zu versichern, dass Sie fuer mich himmelhoch ueber all dem stehen, was sich hierzulande als political scientist gebaerdet. Umso tragischer muss ich es empfinden, dass ich zu Ihnen wissenschaftlich nur als Gegner sprechen kann, was aber, wie ich aufrichtig hoffe, unsere menschlichen Beziehungen nicht trueben wird.«916
910 Arnold, Nachwort (2004) 110. Vgl. zur Einordnung der Schrift Voegelins in die damalige Totalitarismusforschung van Ooyen, Totalitarismustheorie (2002) 58. 911 Voegelin, The New Science (1952) 114. 912 Voegelin, The New Science (1952) 107. 913 Feuerbach, Vorlesungen (1851) 241. 914 Hans Kelsen, Brief an Eric Voegelin v. 26. 1. 1954, in: Stanford University, Hoover Institution Archives, Eric Voegelin Papers, Box 20, in Kopie auch in: HKI, Nachlass Kelsen 21ac.70. 915 Eric Voegelin, Schreiben an Hans Kelsen v. 10. 2 . 1954, in: Stanford University, Hoover Institution Archives, Eric Voegelin Papers, Box 20. 916 Hans Kelsen, Brief an Eric Voegelin v. 27. 2 . 1954, in: Stanford University, Hoover Institution Archives, Eric Voegelin Papers, Box 20, in Kopie auch in: HKI Nachlass Kelsen 21ac.70.
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Das versprochene Manuskript – eigentlich ein Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen – umfasste 125 Seiten.917 In ihm bezeichnete Kelsen das Buch Voegelins als einen »Kreuzzug gegen den Positivismus« und kritisierte außer Voegelins Repräsentationstheorie918 vor allem auch dessen Lehre von der Gnosis. Dabei gelang es ihm sowohl nachzuweisen, dass z. B. die Lehre vom »Dritten Reich« keineswegs auf Joachim von Floris zurückzuführen sei, als auch generell die hermeneutisch unsaubere Methode Voegelins zu entlarven.919 Vor allem aber erklärte Kelsen, dass Voegelin den aus der Kirchengeschichte stammenden Begriff der Gnosis völlig überspannt habe und dieser ungeeignet sei, die Geschichte der Moderne zu analysieren.920 Kelsen beschäftigte sich gerade in jener Zeit intensiv mit theologischen Fragen. Davon zeugen nicht nur die entsprechenden Abschnitte in »Was ist Gerechtigkeit?« und in »Foundations of Democracy«, sondern auch ein Aufsatz über »The Idea of Justice in the Holy Scriptures [Die Idee der Gerechtigkeit in den Heiligen Schriften]«, der 1953 in der »Rivista Juridica de la Universidad de Puerto Rico« erschienen war.921 Dabei erwies es sich, dass Kelsen über profunde Bibelkenntnisse verfügte, dass er aber, wenn er von »Religion« und »Heiligen Schriften« sprach, ausschließlich die christliche Religion und die christliche Bibel meinte. Nur durch die Brille des Christentums befasste er sich auch mit der Lehre des Moses. Der Talmud wurde von ihm niemals für wissenschaftliche Arbeiten herangezogen, und ebensowenig der Koran oder gar die Veden des Hinduismus oder der Pali-Kanon des Buddhismus. Für ihn gehörte eine transzendente Gottheit ebenso wie die Eschatologie ganz selbstverständlich zum Wesen einer Religion, und nur mit dem einen könne das andere erklärt werden.922 Daher wehrte sich Kelsen ganz energisch gegen die Vorstellung, dass man Strömungen wie den Marxismus oder den Faschismus als »säkulare Religion« ansehen könne.923 Im August 1954 richtete Voegelin ein Schreiben an Hans Kelsen, das in ebenso respektvollem Ton gehalten war wie die Briefe von Kelsen an Voegelin zuvor, und empfahl Kelsen in dessen eigenem Interesse, das Manuskript nicht zu veröffentlichen. Es seien Kelsen einige Fehler bei der Bearbeitung des »historischen Materials« unterlaufen. »Und ich weiss auch nicht, ob es für Ihr Ansehen gut ist, wenn Sie 917 Eine Publikation erfolgte erst 2004 durch Eckhart Arnold: Kelsen, A New Science of Politics (2004). 918 Dieser Abschnitt enthält zwar einige wörtliche Übereinstimmungen mit den entsprechenden Passagen der Walgreen Lectures, vgl. etwa Kelsen, Foundations of Democracy (1955) 10–14 = VdD 262–268, einerseits, Kelsen, A New Science of Politics (2004) 40–45, andererseits. Doch ist die Auseinandersetzung in »A New Science« wesentlich ausführlicher. 919 Arnold, Nachwort (2004) 128 f. 920 Kelsen, A New Science of Politics (2004) 106. 921 Kelsen, Holy Scriptures (1952/53) = WiJ, 25–81. Ob der Aufsatz auf einen entsprechenden, womöglich auf Puerto Rico gehaltenen Vortrag zurückging, ließ sich nicht verifizieren. Helen Silving wurde erst später, 1956, Professorin an der Universität von Puerto Rico. 922 Vgl. dazu Voigt, Religion (2017) 163. 923 Vgl. vor allem Kelsen, Secular Religion (2012) 25, und dazu Potacs, Marxismus (2014) 89; Jabloner, In Defense of Modern Times (2016) 335 f.
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sich bei mehr als einer Gelegenheit in politischen Insinuationen und sonstigen Verdächtigungen der Motive ergehen.«924 Und wirklich sah Kelsen von einer Veröffentlichung ab; über die Gründe dafür wird bis zum heutigen Tag spekuliert, denn das Manuskript war so gut wie druckreif. Die Länge übertraf zwar normale Rezensionen bei weitem, doch hätte dies sicher kein unüberwindliches Hindernis dargestellt. Auch wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass der Marxismus in Kelsens Arbeit in einer Weise dargestellt wurde, dass ihn dies in der McCarthy-Ära in Bedrängnis hätte bringen können.925 Dies ist nicht nur unrichtig;926 es ist auch darauf hinzuweisen, dass Kelsen in »Foundations of Democracy« und in der »Communist Theory of Law« weit mehr veröffentlicht hatte, was Anstoß hätte erregen können – und dass die McCarthy-Ära, nach dem Sturz des Namensgebers Joseph McCarthy 1955, ihrem Ende entgegen ging.927 Voegelin selbst behauptete später, er hätte Kelsen davon überzeugen können, dass er sich selbst am meisten schade, wenn er die Schrift veröffentliche. Auch dies mag zweifelhaft sein,928 aber wir haben ja schon in vielen anderen Fällen, wie etwa bei seiner »Soziologie des Seelenglaubens«, erlebt, dass Kelsen Manuskripte noch in letzter Sekunde zurückzog, um sie inhaltlich gründlich zu überarbeiten. So auch diesmal: 1955 akzeptierte der Verlag Routledge and Kegan Ltd. in London ein Manuskript mit dem Titel »Defense of Modern Times [Verteidigung der modernen Zeit]«, doch Kelsen machte einen Rückzieher. 1958 akzeptierte die UC Press das – wieder überarbeitete – Manuskript, doch auch nun konnte sich Kelsen selbst nicht zu einer Veröffentlichung entschließen. 1962 reichte Kelsen bei der Zeitschrift »Social Research« einen Aufsatz ein, in dem er in einer Fußnote bemerkte, dass der Text seinem bald erscheinenden Buch »Theology without God [Theologie ohne Gott]« entnommen sei. Bei der UC Press war etwa zur selben Zeit ein Manuskript mit dem Titel »Religion without God? [Religion ohne Gott?]« im Satz. Im weiteren Verlauf erhielt das Buch, das durch immer neue Zusätze und Umstellungen immer umfangreicher geworden war, auch noch einmal eine neue Überschrift: »Secular Religion [Säkulare Religion]«. Doch wieder verlor Kelsen den Mut zur Publikation. Er entschloss sich, den Text überhaupt nicht zu veröffentlichen und erstattete 1964 der UC Press die nicht geringen Unkosten, die dem Verlag bereits entstanden waren.929 924 Eric
Voegelin, Brief an Hans Kelsen v. 11. 8. 1954, HKI Nachlass Kelsen 21ac.70. So etwa Stewart, Kelsen (2012) 185. 926 Potacs, Marxismus (2014) 89. 927 Keil, McCarthyism (1995). 928 Zweifelnd auch Arnold, Nachwort (2004) 117. 929 Métall, Kelsen (1969) 91; Jabloner /Zeleny/Donhauser, Editorial Remarks (2011) XII– XIII. – Es ist in der Sekundärliteratur erstaunlicherweise noch nie der zeitliche Zusammenhang mit dem am 11. 10. 1962 eröffneten Zweiten Vatikanischen Konzil hervorgehoben worden. Im Verlauf dieses Konzils änderte die Katholische Kirche auf radikale Weise ihre bisherige Haltung gegenüber anderen Religionen, siehe v. a. die Erklärung »Nostra aetate« vom 26. 10. 1965. Es ist nach dem Gesagten zumindest gut denkbar, dass Kelsen angesichts dieser grundstürzend neuen Entwicklungen zum Schluss kam, dass er vieles in seinem bisherigen Manuskript ändern müsste und deshalb von einer Veröffentlichung Abstand nahm. 925
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Nach Kelsens Tod 1973 herrschte lange Zeit Unklarheit, was mit den druckreifen Manuskripten geschehen solle; Kelsens Tochter Maria Feder sprach sich gegen eine Veröffentlichung aus, zumal ihr Vater wohl mit guten Gründen gegen eine Publikation gewesen war. Letztlich überwog jedoch das Interesse der scientific community an Kelsens so zentralen Arbeiten, dass 2004 zunächst Kelsens Replik auf Voegelin von 1954, dann, 2012, schließlich auch das Typoskript »Secular Religion« von 1964 mit Genehmigung des Hans Kelsen-Instituts bzw. von diesem selbst publiziert wurde.930
4. Kelsen als internationaler Gutachter Noch in seiner Zeit als Professor an der UC Berkeley, vor allem aber in den Jahren seines Ruhestandes, wurde Kelsen immer wieder um völkerrechtliche Gutachten von zum Teil hochpolitischer Bedeutung ersucht. a) Uruguay vs. Italien – Das Schiff »Fausto« An erster Stelle ist hier der Rechtsstreit um das ehemalige italienische Schiff »Fausto« zu nennen. Uruguay hatte im Zweiten Weltkrieg den Krieg an Deutschland und an Japan, nicht jedoch an Italien erklärt. Allerdings brach es auch mit dieser Achsenmacht die diplomatischen Beziehungen ab und beschlagnahmte 1942 mehrere italienische Schiffe, darunter den Frachter »Fausto«, der in weiterer Folge in »Maldonado« umbenannt wurde und unter uruguayischer Flagge lief. Am 1. August 1942 wurde die »Maldonado« vom deutschen U-Boot U 510 in karibischen Gewässern versenkt.931 Nach dem Krieg erhoben die ehemaligen italienischen Eigentümer eine Schadenersatzklage gegen den Staat Uruguay. Die beklagte Partei wurde in diesem Rechtsstreit vom Völkerrechtler Eduardo Jiménez de Arechaga (nachmalig Mitglied der ILC) vertreten. Als dieser, wie oben erwähnt, am 15. August 1949 in Montevideo mit Hans Kelsen zusammentraf, ergriff er die Gelegenheit, Kelsen um ein Gutachten zu ersuchen. Kelsen sagte zu und erstellte ein etwa 20-seitiges (im Druck 15-seitiges) Gutachten, für das er ein Honorar von US-$ 1000,– erbat – eine, laut Jiménez de Arechaga, nicht hohe, ja sogar für andere Völkerrechtler »geschäftsschädigende« Summe.932 In seinem Gutachten konzentrierte sich Kelsen gleich zu Beginn auf den Friedensvertrag, den die »Alliierten und Assoziierten Mächte« (worunter sich u. a. die USA, die UdSSR und auch Brasilien, nicht jedoch Uruguay befanden) am 10. Februar 1947 mit Italien unterzeichnet hatten.933 In Art. 76 Abs. 1 verzichtete Italien für sich und 930 Kelsen,
A New Science of Politics (2004); Kelsen, Secular Religion (2012). Vgl. Jabloner / Zeleny/Donhauser, Editorial Remarks (2011) XIII–XIV; Stewart, Kelsen (2012) 187. 931 Jiménez de Arechaga, Treaty Stipulations (1956) 339; http://ericwiberg.com/2013/07/s s-maldonado-uruguayan-ship-ex-italian-sunk-by-u-510-under-karl-nietzel-aug-1st-1942 [Zugriff: 02. 05. 2019]. 932 Cassese, Reflections (1998) 388 [Interview mit Eduardo Jimenéz de Arechaga]. 933 Abgedruckt in: Cialdea/ Vismara, Documenti (1947); vgl. dazu Varsori, Il trattato (2006).
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seine Staatsangehörigen auf alle Rechtsansprüche gegen die Alliierten und Assoziierten Mächte, die direkt aus dem Krieg entsprangen. Absatz 3 dehnte diese Bestimmung auf »alle Vereinten Nationen, die die diplomatischen Beziehungen zu Italien abgebrochen hatten und in Zusammenarbeit mit den Alliierten und Assoziierten Mächten vorgingen« aus. Nach Kelsen lag hier ein Vertrag zugunsten Dritter vor.934 Zwar gebe es im Allgemeinen Völkerrecht den Grundsatz, dass Dritte aus einem Vertrag weder berechtigt noch verpflichtet werden können (pacta tertiis nec nocent nec prosunt), doch konnte Kelsen eine Reihe von Beispielen aus dem 20. Jahrhundert aufzählen, in denen dieser Grundsatz bereits durchbrochen worden war (u. a. im Versailler Vertrag, der Bestimmungen zugunsten von Dänemark, Russland und der Schweiz enthielt), während das Lehrbuchbeispiel für den oben genannten Grundsatz aus dem Jahr 1809 stammte.935 Wesentlich heikler als diese Frage war das Problem, dass Uruguay nicht nur kein Vertragspartner des Friedensvertrages mit Italien war, sondern auch diesen Vertrag niemals in nationales Recht transformiert hatte. Kelsen tat dies mit wenigen Bemerkungen ab, er erklärte, dass eine Ansicht, wonach eine Transformation notwendig sei, zu »paradoxen Ergebnissen« führen würde, und verwies auf Art. 212 der Verfassung von Uruguay von 1942, wonach der Oberste Gerichtshof über Fragen in Bezug auf völkerrechtliche Verträge entscheiden solle, ohne dass hier von einer Transformation die Rede sei.936 Mit dieser etwas dünnen Argumentation bejahte Kelsen die unmittelbare Anwendbarkeit des Friedensvertrages durch uruguayische Gerichte und verneinte somit die Rechtsansprüche der italienischen Kläger. Kelsens Ansicht konnte sich vor der uruguayischen Justiz durchsetzen; das Begehren der Kläger wurde abgewiesen.937 b) United States vs. Texas Ein Gutachten von hoher politischer und wirtschaftlicher Bedeutung verfasste Hans Kelsen 1950 zur Frage der Eigentumsrechte am texanischen Kontinentalsockel, also dem Meeresgrund unter den texanischen Küstengewässern. Seitdem hier bedeutende Erdölvorkommen gefunden worden waren, behauptete die Union das Eigentum an den bis dahin unstrittig vom Staate Texas besessenen Gebieten. Ähnlich war die Lage in Kalifornien, und hier hatte die Union 1947 mit Erfolg ihre Eigentumsrechte am kalifornischen Kontinentalsockel vor dem US-Supreme Court durchsetzen können.938 934 Kelsen,
Uruguay-Gutachten 1950, 2. handelte sich um den sog. Jonge Josias-Case, vgl. Kelsen, Uruguay-Gutachten 1950, 6. Obwohl eigentlich nicht unbedingt nötig, ging Kelsen in seinem Gutachten recht ausführlich auf das Problem der Verträge zulasten Dritter ein, mit dem er sich ja schon in seiner Genfer Zeit beschäftigt hatte. 936 Kelsen, Uruguay-Gutachten 1950, 13. Vgl. ausführlich Jimenez de Arechaga, Treaty Stipulations (1956). 937 Cassese, Reflections (1998) 388 [Interview mit Eduardo Jimenéz de Arechaga]. 938 United States vs. California, 332 U. S. 19 (1947) https://supreme.justia.com/cases/federal/ us/332/19 [Zugriff: 02. 05. 2019]. 935 Es
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Wenig später, 1948, erhob der Attorney General939 der Vereinigten Staaten, J. Howard McGrath, Klage auch gegen Texas. Der Attorney General des Staates Texas, Price Daniel, bat insgesamt elf namhafte Juristen, neben Kelsen auch z. B. Charles C. Hyde von der Columbia University oder C. John Columbos aus London, die texanische Rechtsansicht zu unterstützen.940 Kelsen sagte zu und erstattete am 13. März 1950 ein ausführliches Gutachten.941 In diesem erklärte Kelsen, dass zwischen der Souveränität über ein Land und privatrechtlichem Eigentum an diesem unterschieden werden müsse. Das Vorliegen des Einen beweise nicht das Andere. Als Texas 1836 seine Unabhängigkeit erlangte, wurde es gemäß spanischem Recht auch Eigentümer des Kontinentalsockels.942 Der Beitritt Texas zu den Vereinigten Staaten erfolgte durch eine gemeinsame Erklärung des US-Kongresses vom 1. März 1845 und des Kongresses von Texas vom 23. Juni 1845 sowie eine Verordnung vom 4. Juli 1845. Die Erklärung vom 1. März enthielt eine Aufzählung, welche Sachen der Union übertragen werden müssten, u. a. sämtliche Häfen und Docks in Texas.943 »Es kann keinen Zweifel darüber geben, dass das Eigentum am Kontinentalsockel, an den Minen und Mineralien nicht zu jenem Eigentum gehörte, das nach der gemeinsamen Erklärung vom 1. März 1845 von Texas an die Vereinigten Staaten abgetreten werden musste, und dass es auch nicht abgetreten wurde«, so Kelsen in seinem Gutachten.944 Was aber die Ansicht des US-Supreme Court im Fall United States vs. California betreffe, so erklärte Kelsen rundheraus, dass diese weder vom nationalen noch vom internationalen Recht gedeckt sei.945 Es gelang weder Kelsen noch den übrigen zehn Juristen, die für Texas argumentierten, den Supreme Court zu einer Richtungsänderung zu bewegen. In seinem Urteil vom 5. Juni 1950 erklärte er, dass »dominium« und »imperium« in diesem Fall untrennbar miteinander verwoben seien und der Staat Texas, als er 1845 gleichberechtigtes Mitglied der Union wurde, so wie auch die übrigen Bundesstaaten alle in Frage stehenden Rechte an die Union abgetreten hatte.946 939 Die Funktion des Attorney General ist dem kontinentaleuropäischen Recht unbekannt, er übt teilweise die Funktionen eines Justizministers aus, vertritt aber auch – so wie in diesem Fall – seinen Staat vor Gericht (was z. B. in Österreich nicht Aufgabe des Justizministers, sondern Aufgabe der Finanzprokuratur wäre). 940 Price Daniel, Attorney General of Texas, Schreiben an Hans Kelsen v. 21. 1 2. 1949, in HKI, Nachlass Kelsen 15t.58. Vgl. zu den Hintergründen San Antonio Express Nr. 69 v. 10. 3. 1950, 1; https://tshaonline.org/handbook/online/articles/mgt02 [Zugriff: 02. 05. 2019]. 941 Hans Kelsen, Schreiben an J. Chrys Duagherty, Special Assistant to the Attorney General of Texas, v. 13. 3. 1950, HKI, Nachlass Kelsen 15t.58. 942 Kelsen, Texas-Gutachten 1950, 83. 943 http://avalon.law.yale.edu/19th_century/texan03.asp [Zugriff: 02. 05. 2019]. 944 Kelsen, Texas-Gutachten 1950, 84. 945 Kelsen, Texas-Gutachten 1950, 89. 946 United States v. Texas, 339 U. S. 707 (1950), https://supreme.justia.com/cases/federal/us/339 /707 [Zugriff: 02. 05. 2019]. Hingewiesen sei darauf, dass sich Texas zwar 1861 den Konföderierten Staaten von Amerika anschloss (bis 1865), jedoch zufolge der Entscheidung des US-Supreme Court im Fall Texas v. White, 74 U. S. 700 (1868); https://supreme.justia.com/cases/federal/us/339/707 [Zugriff: 02. 05. 2019], ununterbrochen Teil der USA war.
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c) Australien vs. Japan 1953 erstellte die UN-Völkerrechtskommission einen Entwurf für ein internationales Abkommen über den Festlandssockel, das 1958 in Genf unterzeichnet wurde. Ob diese Arbeiten von den amerikanischen oder anderen Rechtsstreitigkeiten beeinflusst worden waren, wurde im Text nicht erwähnt; die Kommission sprach allgemein vom »aktiven Interesse« einiger Staaten, den Meeresboden und den Meeresuntergrund zu erkunden und auszubeuten.947 Denn der technische Fortschritt des 20. Jahrhunderts hatte die Möglichkeiten, die natürlichen Ressourcen des Meeresbodens zu nützen, erheblich vergrößert. Dies betraf auch die Perlentaucherei, die von verschiedenen Völkern, wie etwa den Japanern oder den australischen Aborigines, schon seit Jahrhunderten, aber wegen ihrer ex trem hohen Gefährlichkeit nur in einem – aus heutiger Sicht – verschwindend geringem Maße ausgeübt worden war. Das änderte sich, als die Europäer nach Australien kamen und mit Hilfe von japanischen Tauchern, die für diese Arbeit eigens ins Land geholt wurden, den Muschelreichtum insbesondere an der Westküste des Kontinents ausbeuteten, sodass Perlentaucherei ein bedeutender Wirtschaftsfaktor in Australien wurde. Als jedoch japanische Unternehmen begannen, auf eigene Rechnung vor der australischen Küste nach Perlmuscheln zu tauchen und schließlich das Sechsfache der Ernte australischer Unternehmer einbrachten, erklärte der australische Generalgouverneur mit einer Verordnung vom 10. September 1953 den Festlandssockel von Australien und Neu-Guinea zu australischem Herrschaftsgebiet. In weiterer Folge wurden mehrere japanische Fischerboote von Australien versenkt und japanische Staatsbürger verhaftet.948 Es ist möglich, dass Hans Kelsens Mitwirkung am texanischen Rechtsstreit die japanische Regierung dazu bewog, den berühmten Gelehrten auch im australisch-japanischen Disput um ein Gutachten zu bitten. Am 6. April 1954 fand – vermutlich in Newport/NJ, wo Hans Kelsen zu jener Zeit lehrte949 – ein persönliches Gespräch zwischen Kelsen und einem Mitarbeiter der ständigen Vertretung Japans bei den Vereinten Nationen namens Umeo Kagei statt; im Anschluss daran, am 15. April, richtete Kageis Vorgesetzter, Botschafter Renzo Sawada, einen offiziellen Brief an Kelsen, in dem er ihn um ein Gutachten ersuchte.950 Kelsen kam diesem Auftrag nach, indem er am 31. Dezember 1954 ein Gutachten mit dem Titel »The legal Status of the Continental Shelf under Positive International Law« an den japanischen Generalkonsul 947 Zit. n. Kelsen, Japan-Gutachten 1954, 42. – Zum Verlauf der Konferenz vgl. ausführlich Whiteman, Conference (1958). 948 O’Connell, Sedentary Fisheries (1955) 186 f.; Rix, The Australia-Japan political alignment (1999) 44 ff.; https://web.archive.org/web/20100430175228/http://www.fish.wa.gov.au/wf/articles/ PearlingHistory.php?0301 [Zugriff: 03. 05. 2019]. 949 Siehe oben 837. 950 Renzo Sawada, Schreiben an Hans Kelsen v. 15. 4. 1954, in: HKI, Nachlass Kelsen 1i3.4. Japan hatte zu jener Zeit lediglich Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen und wurde erst 1956 UN-Mitglied.
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in San Francisco, Yasusuke Katsuno, schickte.951 Auffällig an diesem Gutachten war, dass es völlig auf theoretischer Ebene blieb und auf den zugrunde liegenden Sachverhalt überhaupt nicht Bezug nahm. Der Name »Australien« wurde lediglich einmal namentlich genannt, Japan nur als »a leading maritime power« umschrieben.952 Dies könnte daran liegen, dass Kelsen in seinem Gutachten zwar den australischen Standpunkt kritisierte, sich aber nicht dazu durchringen konnte, Japan uneingeschränkt Recht zu geben – und der japanische Botschafter ihm auch in seinem Schreiben die Möglichkeit offen gelassen hatte, sich mit seiner eigenen Meinung zurückzuhalten.953 So enthält das Gutachten Kelsens eine umfangreiche Kritik der damals gängigen Theorien über die Okkupation des Meeresbodens, ohne aber eindeutig erkennen zu lassen, welcher Theorie Kelsen selbst folgte. Bemerkenswert war in diesem Zusammenhang die Parallele, die Kelsen zwischen den Theorien zum Festlandssockel und der »Großraumtheorie« Carl Schmitts954 zog: Beide Theorien seien letztlich antipositivistische Theorien, die bestimmte außerhalb des eigenen Staatsgebietes befindliche Gebiete in eine rechtliche Nahebeziehung zum Staat bzw. zum Reich zögen und so eine rechtlich fragwürdige (und imperialistische) Staatspolitik als geltendes Recht darstellen würden.955 Eine echte Lösung müsse auf Grundlage des positiven Völkergewohnheitsrechtes erfolgen, doch sei die Staatenpraxis nicht einheitlich und die wenigen existierenden Präzedenzfälle956 seien nicht ausreichend für die Etablierung eines solchen Gewohnheitsrechtes. Was letztlich die einseitige Erklärung Australiens vom Herbst 1953 betreffe, so sei noch zu wenig Zeit vergangen, als dass dadurch neues Recht etabliert hätte werden können.957 Praktische Folgen hatte Kelsens Gutachten nicht. Bereits am 24. Mai 1954, also nur wenige Wochen, nachdem der Auftrag zur Gutachtenerstellung erteilt worden war, hatte die japanische Regierung eine provisorische Vereinbarung mit Australien getroffen, mit der die Japaner eine genau definierte Lizenz zum Perlenfischen erhielten, 951 Hans Kelsen, Schreiben an Yasusuke Katsuno v. 31. 1 2. 1954, in: HKI, Nachlass Kelsen 1i3.4. Große Partien des Gutachtens (Kelsen, Japan-Gutachten 1954, 24–34) sind wortident mit einem Aufsatz, den Kelsen 1956 in einer Festschrift für Hans Wehberg, mit dem er in Genf zusammengearbeitet hatte, veröffentlichte: Kelsen, Contiguity (1956) 201–210. 952 Kelsen, Japan-Gutachten 1954, 35. 953 Umso bemerkenswerter ist es, dass Kelsen für sein Gutachten das Doppelte des ursprünglich vereinbarten Honorars – $ 2000 statt $ 1000 – erhielt: Yasusuke Katsuno, Schreiben an Hans Kelsen v. 15. 2 . 1955, in: HKI, Nachlass Kelsen 1i3.4. 954 Dazu Neumann, Schmitt (2015) 459–461, 467–471. 955 Kelsen, Japan-Gutachten 1954, 28. Wörtlich in Kelsen, Contiguity (1956) 205. 956 Kelsen nannte hier den sog. Ostgrönland-Fall (PCJI A/B 53 [1933], bei Kelsen irrtümlich als Nr. 51 bezeichnet) sowie den Clipperton-Insel-Fall (vgl.zu diesem AJIL 26 [1932] 390–394. 957 Diese Ansicht wurde auch in einem Schiedsspruch vom 28. Mai 1951, betreffend den Schelf von Abu Dhabi geteilt, vgl. Verdross, Völkerrecht (1964) 280. Dagegen erklärte der neuseeländische, damals in Australien lehrende Völkerrechtler Daniel Patrick O’Connell (1924–1979) in einem Aufsatz (dem möglicherweise ein entsprechendes Gutachten für die australische Regierung zugrunde lag), dass das Völkerrecht sehr wohl den Küstenstaaten das Recht gebe, von ihrem Festlandssockel Besitz zu ergreifen: O’Connell, Sedentary Fisheries (1955) 209.
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4. Kapitel: Die letzten akademischen Stationen
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was sich letztlich als tragfähige Lösung erwies.958 Das oben erwähnte internationale Abkommen von 1958 entzog dann dem Streit auch seine theoretische Grundlage,959 auch wenn es von Japan niemals unterzeichnet wurde. d) Das Zypern-Gutachten Das Gutachten Hans Kelsens vom 12. Mai 1959 »über die Berechtigung der künftigen Republik Zypern, als Mitglied in die Vereinten Nationen aufgenommen zu werden« ist uns nur in auszugsweisen Abschriften bekannt. Es kam vermutlich im Auftrag der griechischen Regierung zustande.960 Das mehrheitlich von ethnischen Griechen, aber auch von einer starken türkischen Minderheit bewohnte Zypern, das seit 1571 zum Osmanischen Reich gezählt hatte, war 1878 vom UK okkupiert, 1914 auch annektiert worden. Im Zuge der Auflösung des Britischen Weltreiches einigten sich die Regierungschefs von Griechenland und der Türkei bei einer Zusammenkunft in Zürich am 11. Februar 1959 darauf, dass Zypern keinem der beiden Länder angeschlossen, sondern einen selbständigen Staat bilden sollte. Eine Woche später, am 19. Februar, wurde in London eine Reihe von Abkommen zwischen Griechenland, dem UK und der Türkei abgeschlossen, die auch von den nationalen Führern der Griechen und der Türken in Zypern, Erzbischof Makarios III. und Dr. Fazıl Küçük (nachmals Präsident bzw. Vizepräsident Zyperns), paraphiert wurden.961 Eines dieser Abkommen, der sog. Garantievertrag, beinhaltete eine Garantie der Unabhängigkeit, territorialen Integrität und Sicherheit Zyperns. Im Falle eines Verstoßes gegen diesen Vertrag verpflichteten sich die drei Mächte in Artikel 3 (in der Endfassung vom 16. August 1960: Artikel 4) zur gegenseitigen Konsultation, »um die Einhaltung dieser Bestimmungen zu gewährleisten. Soweit sich ein gemeinsames oder konzertiertes Vorgehen als unmöglich herausstellt, behält sich jede der drei Garantiemächte das Recht vor, nur mit dem Ziel zu handeln, die durch den gegenständlichen Vertrag geschaffene Sachlage wiederherzustellen.«962 Kelsen bezeichnete diese Bestimmung in seinem – noch vor dem 16. August 1960 verfassten – Gutachten als »obskur«. Gültigkeit könne sie nur in den Grenzen des Art. 103 UN-Charta haben, der der Charta selbst Vorrang vor allen anderen Verträgen – auch solchen, die erst nachträglich abgeschlossen wurden – garantiere.963 Im Lichte dieser prinzipiellen Feststellungen untersuchte Kelsen zwei Konstellationen: 958 Rix,
The Australia-Japan political alignment (1999) 50. ist, dass der ursprüngliche Entwurf dieses Abkommens von »mineral resources« sprach, also v. a. die Erdölvorkommen im Kontinentalsockel zum Gegenstand hatte, was aber im Laufe der weiteren Beratungen in »natural resources« abgeändert wurde, sodass auch u. a. Perlenfischerei darunter fiel. Dies wurde von Kunz, Continental Shelf (1956) 831, als völliger Bruch mit den bisherigen Gewohnheiten scharf kritisiert. 960 Constantinides, Kelsen’s Opinion (2016) 169. 961 Constantinides, Kelsen’s Opinion (2016) 170. 962 http://www.kypros.org/Constitution/treaty.htm [Zugriff: 03. 05. 2019]. 963 Kelsen, Zypern-Gutachten 1959, 192, 193 f.; Constantinides, Kelsen’s Opinion (2016) 172. 959 Beachtenswert
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4. Teil: Amerika und die Welt
(a) Sollte eine fremde Macht Zypern angreifen, so seien die Garantiemächte – Griechenland, das UK und die Türkei – berechtigt, Zypern zu Hilfe zu eilen; dies stehe auch in Einklang mit Art. 51 UN-Charta, das den Staaten ein Recht auf Selbstverteidigung gebe.964 (b) Die Entstehungsgeschichte wie auch der Wortlaut des Art. 3 des Garantievertrages deuteten jedoch darauf hin, dass er primär für den Fall konzipiert wurde, dass die innere Ordnung Zyperns durch eine revolutionäre Erhebung, von Innen heraus, bedroht würde. Soweit dabei nicht Einrichtungen der Garantiemächte selbst angegriffen würden, käme eine Selbstverteidigung nach Art. 51 UN-Charta nicht in Frage. Es wäre lediglich denkbar, den gesamten Garantievertrag als »regionales Abkommen« nach Art. 53 UN-Charta anzusehen.965 Dann aber dürften Militäraktionen nur in Absprache mit dem UN-Sicherheitsrat gestartet werden – oder auf ausdrückliches Ersuchen der zypriotischen Regierung. Die Tatsache, dass die Vertreter Zyperns den Garantievertrag mitunterschrieben hatten, könne nicht als ein solches Ersuchen im Voraus gewertet werden.966 Der Rest von Kelsens Gutachten ist nicht bekannt, insbesondere nicht, wie er die ihm primär gestellte Frage – ob nämlich Zypern in die UNO als Mitglied aufgenommen werden könne – beantwortete. Jedenfalls wurde Zypern am 16. August 1960 auf Grundlage der Verträge von Zürich und London in die Unabhängigkeit entlassen und am 20. September auch UN-Mitglied.967 In den folgenden Jahren kam es immer wieder zu Spannungen im Dreieck Zypern – Griechenland – Türkei. Das folgenschwerste Ereignis fiel in das Jahr 1974, als die zypriotische Nationalgarde, mit Unterstützung der damaligen griechischen Militärdiktatur, einen Putsch gegen die Regierung von Erzbischof Makarios III. unternahm, worauf die Türkei, unter Berufung auf Art. 4 des Garantievertrages, Truppen auf die Insel entsandte und in weiterer Folge den ganzen Norden besetzte – und bis zum heutigen Tag besetzt hält.968 Die Rechtmäßigkeit dieser Militäraktion ist bis heute umstritten. Folgt man der Rechtsansicht Kelsens in seinem Gutachten von 1959, so war die Vorgehensweise der Türkei nicht rechtmäßig.969
964 Kelsen,
Zypern-Gutachten 1959, 195.
965 Kelsen wies darauf hin, dass die UNO bis dahin noch nie ein regionales Bündnis nach Art. 53
UN-Charta anerkannt hätten, was aber die prinzipielle Anwendbarkeit dieses Artikels nicht unmöglich mache: Kelsen, Zypern-Gutachten 1959, 196. 966 Kelsen, Zypern-Gutachten 1959, 199. 967 GA Resolution 1489 (XV ) v. 20. 9. 1960, GAOR 1961, 55. 968 Constantinides, Kelsen’s Opinion (2016) 175. 969 So auch Constantinides, Kelsen’s Opinion (2016) 189.
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Fünftes Kapitel
Das Alterswerk 1. Ruhestand – Unruhestand »In den Supermarkets von Berkeley kann man häufig einen kleinen freundlichen Mann mit einem hier recht ungewöhnlichen dunkelblauen Baskenkäppchen sehen, der mit Kennerblick sowohl die einladenden Aufschriften der Konservenbüchsen wie die Kurven der Verkäuferinnen studiert. Niemand würde in dem jugendlich aussehenden, bescheidenen Mann einen Menschen vermuten, der eben seinen 75. Geburtstag gefeiert hat, oder einen, der der führende Rechtsgelehrte unseres Zeitalters genannt wurde.«970 – Hans Kelsen, über den sein Freund Max Knight971 hier erzählte, genoss seinen Ruhestand sichtlich; die Anekdote erscheint auch ziemlich glaubwürdig, zumal andere Zeitzeugen berichten, dass sich in Kelsens Arbeitszimmer (neben einem Gemälde von Immanuel Kant und einem Bildnis seines Vaters bei der Arbeit) auch eine Fotografie von Liz Taylor – vielleicht ein persönliches Geschenk der Schauspielerin? – befand.972 Mindestens einmal die Woche ging Kelsen ins Kino, um sich zu entspannen; je anspruchsloser der Film war, desto besser. Die Verfilmung von Williams’ »A Streetcar Named Desire« war da schon das Höchste der Gefühle (Kelsen über das Filmende, als Blanche DuBois [Vivien Leigh] in die psychiatrische Klinik gebracht wird: »Wenn die Männer im weißen Mantel zwei Stunden früher gekommen wären, hätten wir uns alle viel d’erspart.«)973 Aber Kelsen blieb auch nach seiner Emeritierung ein Mann der Wissenschaft. Einem Reporter gegenüber erklärte er 1957, dass ihm der Ruhestand »ausgezeichnet« bekomme, »denn jetzt kann mich ich ganz wissenschaftlicher Arbeit widmen.« – »Also mit anderen Worten, Sie haben keinen Ruhestand.« – »Wenn Sie wollen, ist das ein Unruhestand, aber einer der mir sehr bekommt.«974 Immer wieder fuhr er 970 Max Knight, Der Vater der Österreichischen Verfassung (1994) 109. Der Artikel erschien ursprünglich unter dem Pseudonym »Peter Fabrizius« und mit dem Titel »Die Geschichte eines Verfassungsschöpfers« in der Zeitung »Aufbau« No. 5 v. 1. 2 . 1957, 7. 971 Max Knight (geb. Wien 8. 6. 1909 als Max Eugen Kühnel, gest. Berkeley 31. 8. 1993) hatte in Wien gemeinsam mit Joseph Peter Fabry unter dem Pseudonym Peter Fabrizius Kurzgeschichten veröffentlicht, emigrierte später nach London und von dort nach Berkeley, wo er Chefredakteur der University of Berkeley Press wurde; er übersetzte u. a. die 2. Auflage der »Reinen Rechtslehre« ins Englische. Vgl. Bruckmüller, Personenlexikon Österreich (2001) 252; Wimmer, Knight und Fabry (1997). 972 Roberto Vernengo, Interview v. 26. 3. 2012. 973 Alexander Hoffmann, Interview v. 5. 7. 2007. 974 Hans Kelsen, Interview mit Duclos 1957.
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4. Teil: Amerika und die Welt
mit seinem Auto die Oxford Street hinunter zum Universitätscampus. Dort lieh er sich Unmengen Bücher aus und nahm sie nach Hause mit.975 Gegenüber Klecatsky schwärmte Kelsen später einmal von der Bibliothek von Berkeley, die nicht nur eine der besten der Welt sei, sondern auch den Wissenschaftlern unmittelbaren Zugang zu den Bücherregalen gewähre. Zudem seien die Bücher nicht nach der Größe, sondern nach dem Inhalt geordnet: »Ich suche ein bestimmtes Buch und finde auf demselben Regal andere Bücher, die denselben Gegenstand oder ähnliche Gegenstände betreffen, die ich bisher noch gar nicht gekannt habe. Der Besuch der Bibliothek ist ein Abenteuer!«976
2. Auf der Suche nach der Gerechtigkeit a) »What is Justice?« 1957 veröffentlichte Kelsen in der University of California Press einen Sammelband, der denselben Titel wie seine Abschiedsvorlesung – »What is Justice? [Was ist Gerechtigkeit?]« – trug und seine wichtigsten rechtsphilosophischen Arbeiten der letzten Jahre zum Wiederabdruck brachte. Der Bogen spannte sich dabei von einer englischen Übersetzung seiner Kölner Antrittsvorlesung über »Die platonische Gerechtigkeit« (1933)977 und eine gekürzte Fassung seines Aufsatzes über »Die Entstehung des Kausalgesetzes aus dem Vergeltungsprinzip« (1939)978 sowie einige der allerersten Aufsätze, die Kelsen in den USA verfasst hatte,979 und solche, die er bereits als Professor der UC Berkeley geschrieben hatte,980 bis hin zu seiner Abschiedsvorlesung von ebendieser Universität.981
975 Die Oxford Street führt vom Haupteingang des Campus fast direkt bis zu Kelsens Haus in der Los Angeles Avenue 2126. Gegenüber seinem Fakultätskollegen Richard Buxbaum erklärte Kelsen einmal, dass er nur aufgrund der einfachen Strecke noch imstande sei, selbst mit dem Auto zur Universität zu fahren. »Wenn es jemals Bauarbeiten auf dem Weg [und daher Umleitungen] gäbe, würde die Polizei Wochen brauchen, um mich zu finden.« Richard Buxbaum, Interview v. 3. 7. 2007. 976 Hans Kelsen, Interview mit Hans Klecatsky v. 2. 5. 1968. 977 Die englische Übersetzung von Kelsen, Die platonische Gerechtigkeit (1933) = WRS 289–312 war bereits 1938 in der Zeitschrift »Ethics« erschienen und wurde nun in WiJ 82–109 abgedruckt. 978 Kelsen, Entstehung (1939); die englische Übersetzung war 1941 in der Zeitschrift »Philosophy of Science« erschienen und wurde nun in WiJ 303–323 abgedruckt. 979 Kelsen, Social Technique (1941) 75–97 = WiJ 231–256; Kelsen, Analytical Jurisprudence (1941) = WiJ 266–287; Kelsen, Value judgments (1942) = WiJ 209–230. 980 Kelsen, Absolutism and Relativism (1948) = WiJ 198–207; Kelsen, Law, State and Justice (1948) = WiJ 288–302; Kelsen, The Natural Law Doctrine (1949) = WiJ 137–173; Kelsen, Causality and Imputation (1950) = WiJ 324–349; Kelsen, Science and Politics (1951) = WiJ 350–375. 981 Wie berichtet, hatte Kelsen den Text seiner Abschiedsvorlesung bereits in einer Reihe anderer Sprachen, u. a. auf Deutsch (Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? [1953]) veröffentlicht; für »What is Justice?« (WiJ 1–24) erfolgte die erstmalige Veröffentlichung in der englischen Originalsprache.
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Auch zwei Aufsätze, die Kelsen nach seiner Emeritierung verfasst hatte, befanden sich im Sammelband,982 und zwei andere Beiträge waren bislang noch nie veröffentlicht worden; dass es sich um Vortragstexte handelte, ist nicht erkennbar, aber möglich. Der erste dieser beiden erstmals veröffentlichten Aufsätze trug die Überschrift »Aristotle’s Doctrine of Justice [Die Gerechtigkeitslehre des Aristoteles]« und bestand aus zwei, nur lose miteinander zusammenhängenden Teilen, denen einleitende Worte zu Aristoteles’ Metaphysik vorangestellt waren.983 Im ersten Hauptteil befasste sich Kelsen mit der Mesotes-Lehre des Aristoteles, wonach gerecht dasjenige sei, das sich in der Mitte zwischen zwei Extremen befinde. So wie schon in seiner Abschiedsvorlesung 1952, so erklärte Kelsen auch hier, dass es sich bei dieser Lehre um eine Leerformel handle, da sie bereits voraussetze, wo die Mitte zwischen zwei Extremen liege. Auch gebe es im Reich der Moral keine messbaren Quantitäten, sondern nur Qualitäten.984 Daran anschließend, widmete sich Kelsen der Aristotelischen Lehre von der austeilenden und der ausgleichenden Gerechtigkeit. Und wieder warf er dem Philosophen vor, am eigentlichen Problem vorbeizugehen: »Wenn die Individuen A und B gleich sind, müssen die ihnen zukommenden Rechte auch gleich sein. Aber in der Natur gibt es niemals zwei Individuen, die wirklich gleich sind, zumal es immer Unterschiede in Alter, Geschlecht, Rasse, Gesundheit, Reichtum usw. gibt.« Die Gleichheit im Recht bedeute nur, dass bestimmte, tatsächlich vorhandene Ungleichheiten, rechtlich nicht relevant sein sollen. Aber für welche Ungleichheiten dies gelte, dafür habe die Lehre des Aristoteles keine Antwort bereit.985 Der zweite, in »What is Justice?« erstmals veröffentlichte Aufsatz trug den Titel »Why should the Law be Obeyed? [Warum soll das Recht befolgt werden?]«. Einmal mehr stellte Kelsen die Naturrechtslehre dem Rechtspositivismus gegenüber und erläuterte, weshalb eine Naturrechtslehre nur vom Standpunkt einer positiven Religion aus akzeptiert werden könne. Er erläuterte das Konzept der Grundnorm, gab eine recht deutliche Präferenz für den Primat des Völkerrechts ab und kam somit zur Grundnorm des Völkerrechts, die er – wie schon 1952 in seinen »Principles« als jene Norm bezeichnete, die die Völkergewohnheit als rechtserzeugenden Tatbestand
982 Einer dieser Aufsätze enthielt eine sehr eingehende Beschäftigung mit Gerechtigkeitsvorstellungen in der Bibel, ein Thema, das Kelsen bis dahin vermieden hatte: Kelsen, Holy Scriptures (1952/53) = WiJ 25–81; vgl. dazu schon oben 850. Der andere Ausatz enthielt eine Auseinandersetzung mit dem in Harvard lehrenden Philosophen und Platon-Spezialisten John D. Wild, der eine eigene Naturrechtslehre entwickelt hatte. Kelsen gelang es auch in diesem Fall, auf Tautologien und Widersprüchlichkeiten in der Argumentation des Gegners hinzuweisen, sodass dessen Lehre in sich zusammenstürzen musste: Kelsen, A »Dynamic« Theory (1956) = WiJ 174–197. 983 Kelsen hob dabei hervor, dass diese Metaphysik eigentlich – wie auch von Aristoteles selbst betont – eine Theologie sei und konstatierte, wie schon in seinem Aristoteles-Aufsatz von 1933 (oben 495), dass Aristoteles einen Monotheismus lehrte: Kelsen, Aristotle’s Doctrine (1957) 113. 984 Kelsen, Aristotle’s Doctrine (1957) 118 . 985 Kelsen, Aristotle’s Doctrine (1957) 127.
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4. Teil: Amerika und die Welt
einsetze. Diese Norm sei keine Norm des positiven Völkergewohnheitsrechts, sondern eine vorauszusetzende Hypothese.986 Die insgesamt 15 Aufsätze, die in »What is Justice?« veröffentlicht waren, wurden nicht in der Reihenfolge ihrer Entstehung, sondern nach einem bestimmten System angeordnet, sodass das gesamte Buch ein erstaunlich geschlossenes Gesamtwerk ergab, zumal die Aufsätze von sehr unterschiedlichem Inhalt waren und nur relativ wenige Überschneidungen enthielten. Programmatisch hatte Kelsen seine kalifornische Abschiedsvorlesung mit der provokanten Frage »Was ist Gerechtigkeit?« (die ja auch dem ganzen Sammelband ihren Titel gegeben hatte) an den Anfang gestellt, woran sich Untersuchungen zur Bibel, zu Platon und zu Aristoteles, zu den Naturrechtslehrern des 17., 18., 19. und 20. Jahrhunderts (und zwar in dieser Reihenfolge) anschlossen. Erst danach fanden sich Aufsätze, mit denen Kelsen seinen Lesern die Prinzipien der Reinen Rechtslehre – Wertrelativismus, wertfreie Wissenschaft, das Wesen des Rechts und die Grundnorm – nahebringen wollte. Den Abschluss von Kelsens Sammelband bildete ein erstmals 1951 in der »American Political Science Review« veröffentlichter Aufsatz »Science and Politics [Wissenschaft und Politik]«, in dem Kelsen ein Bekenntnis zu einer wertungsfreien Wissenschaft ablegte. In einer Art Aufriss des Problems betonte Kelsen zunächst, dass es Konflikte zwischen Wissenschaft und Politik sowohl in den Sozial‑ wie auch in den Naturwissenschaften geben könne (wie etwa des Beispiel der kopernikanischen Wende in der Astronomie beweise), und dass sich viele politische Strömungen, wie etwa der Marxismus, als wissenschaftlich ausgeben. Dennoch dürfe der Wissenschaftler, wolle er Erkenntnis gewinnen, keine subjektiven Werturteile abgeben, auch dann nicht, wenn der Gegenstand seiner Wissenschaft Normen sind, die bestimmte Werte konstituieren. Daher dürfe der Rechtswissenschaftler nur positive Normen untersuchen, da nur deren Existenz sinnlich wahrnehmbar sei. Ausgenommen sei davon die Grundnorm, was Kelsen damit zu rechtfertigen suchte, dass die Grundnorm keine Werte setze.987 Das Vermeiden einer Vermengung von Rechtswissenschaft und Politik sei essentiell, um den Charakter der Rechtswissenschaft als »Wissenschaft« (science) zu wahren.988 Kelsen bezeichnete eine solche Rechtswissenschaft – unter bewusster Vermeidung des Wortes »jurisprudence« als eine »science of law«.989 Es musste Kelsen, der nun schon seit fast zwanzig Jahren in Amerika lebte, bewusst sein, dass eine derartige Wortschöpfung bei einem English Native Speaker nur Verwunderung auslösen konnte, zumal das Wort science im englischen Sprachgebrauch eher dem deutschen Wort Naturwissenschaft entspricht und die Beschäftigung mit dem Recht als »Jurisprudence«, als »Rechtsklugheit« bezeichnet wird. Aber gerade 986 Kelsen, Why should the Law be Obeyed? (1957). Der Aufsatz weist ähnliche Gedanken wie ein 1963 in der deutschen Zeitschrift »universitas« veröffentlichter Beitrag auf: Kelsen, Selbstbestimmung (1963) = WRS 1181–1188. 987 Kelsen, Science and Politics (1951) 646 f., 653 = WiJ 356 f., 364. 988 Kelsen, Science and Politics (1951) 661 = WiJ 375. 989 Kelsen, Science and Politics (1951) 652 = WiJ 363.
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5. Kapitel: Das Alterswerk
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dies war ja – seit jeher – das Hauptanliegen Kelsens: die »Jurisprudenz […] auf die Höhe einer echten Wissenschaft, einer Geistes-Wissenschaft zu heben.«990 »Gerechtigkeit, Recht und Politik im Spiegel der Wissenschaft« lautete denn auch der Untertitel von Kelsens beeindruckendem Sammelband.991 b) »Die Illusion der Gerechtigkeit« Im bereits erwähnten Interview von 1957 sprach Kelsen auch wieder von seinem Buch über die »Idee der Gerechtigkeit in Religion und Philosophie«, und dass er hoffe, es in einem Jahr fertigzustellen, »aber ich bin nicht ganz sicher.«992 Wie oft hatte sich Kelsen mit diesem Thema beschäftigt, und wie oft hatte er sein Vorhaben, eine Monographie zu schreiben, wegen dringenderer Arbeiten verschieben müssen!993 Nun aber machte sich Kelsen erneut mit Energie ans Werk. Bereits 1953, während seines Genf-Aufenthalts, erschien ein Aufsatz über die »Idee der Gerechtigkeit nach den Lehren der christlichen Theologie« in den »Studia Philosophica«, einer schweizerischen philosophischen Zeitschrift, in dem sich Kelsen mit der Monographie »Gerechtigkeit« des schon oben erwähnten Schweizer Theologen Emil Brunner auseinandersetzte. Die sehr substantiierte Kritik Kelsens an Brunner (sie wurde im Wesentlichen schon oben im Rahmen von »Foundations of Democracy« referiert994) stand freilich unter einem allgemein theologiekritischen Vorzeichen: Warf Kelsen doch Brunner vor, »nicht auf die Antwort warten« zu wollen, die die Wissenschaft auf die Frage nach der Gerechtigkeit gebe, sondern »die Frage theologisch, auf Grund des christlichen Glaubens« zu beantworten995 – womit er der Theologie den Charakter einer Wissenschaft absprach. Vier Jahre später, 1957, erschien ein Aufsatz über »Platon und die Naturrechtslehre« in der ZÖR – es fällt auf, dass Kelsen wieder öfter auf europäische Zeitschriften zurückgriff und in deutscher Sprache publizierte! In diesem beschäftigte er sich aber weniger mit Platon selbst, als vielmehr mit zwei amerikanischen Philosophen, Joseph P. Maguire und John Wild, die über Platons Naturrechtslehre geschrieben hatten, und die Kelsen nun zu widerlegen suchte.996 Als Hauptthese des Naturrechts nannte Kelsen dabei die Vorstellung, »daß das Gute naturgemäß, das Böse naturwidrig« sei. Er 990 Kelsen,
Reine Rechtslehre (1934) IX. Paulson, Rezeption (1988) 199–201, zusammenfasst, waren die Reaktionen auf Kelsens Buch gemischt; Paul Sayre etwa schrieb, dass das Buch »durch und durch Kelsen« sei – was allerdings nicht als Kompliment gemeint war. Bedeutender war die Besprechung durch Alf Ross, der deutliche Einflüsse der amerikanischen Rechtsrealisten auf das Denken Kelsens verortete. 992 Hans Kelsen, Interview mit Duclos 1957. 993 In vielen, zwischen 1940 und 1952 erschienenen Schriften wurden Platon und Aristoteles wenigstens kurz behandelt, außer den oben erwähnten ist hier noch auf Kelsens Aufsatz über »The Metamorphoses of the Idea of Justice« hinzuweisen, der 1947 in einer Festgabe für Roscoe Pound erschien: Kelsen, Metamorphoses (1947) 399–411 (Aristoteles) und 412–418 (Platon). 994 Oben 843. 995 Kelsen, Gerechtigkeit (1953) 161. 996 Kelsen, Platon (1957). Zu Wild hatte Kelsen bereits ein Jahr zuvor ausführlich geschrieben [Kelsen, A »Dynamic« Theory (1956) = WiJ 174–197], was er nun nochmals zusammenfasste. 991 Wie
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wies erneut auf die Problematik hin, dass die Naturrechtslehre die Wirklichkeit (ein Sein) für einen Wert (ein Sollen) ausgebe. Konkret zu Wild, der behauptete, dass seine Naturrechtslehre »empirisch« sei, weil er sie direkt aus Beobachtung der Natur gewonnen habe, meinte Kelsen, dass Wild lediglich die von ihm »für ideal gehaltene normative Ordnung in die Wirklichkeit projizier[e]«, weshalb sie »eine idealistische und keine realistische Theorie des Rechts« sei.997 Was Platon selbst betraf, so charakterisierte Kelsen, das »von ihm errichtete geistige System […] weit mehr [als] Theologie als wissenschaftliche Philosophie.«998 Das werde u. a. daran deutlich, dass Platon die Vergeltung des Guten und des Bösen im Jenseits sehe; Gerechtigkeit werde also nicht durch die »empirische Wirklichkeit, sondern die transzendente Gottheit« verwirklicht.999 Kelsen hörte nicht auf, über Platon, den »göttlichen«, der »so wie der göttliche Heiland, wie Jesus von Nazareth […] um Gerechtigkeit gerungen« habe, nachzudenken und zu schreiben.1000 Aber vielleicht konnte er sich gerade aufgrund der Bedeutung, die dieses Thema für ihn hatte, niemals entschließen, das große Manuskript, an dem er jahrzehntelang gearbeitet hatte,1001 abzuschließen. Die »Idee der Gerechtigkeit in Religion und Philosophie« blieb ebenso unvollendet wie die »Soziologie des Seelenglaubens«. Erst 1985 gab das Hans Kelsen-Institut aus Kelsen Nachlass eine Monographie, betitelt »Die Illusion der Gerechtigkeit. Eine kritische Untersuchung der Sozialphilosophie Platons« heraus. Sie zeugt von dem lebenslangen Bemühen Kelsens, Gerechtigkeit zu finden – und davon, dass er sie niemals fand: »Auch in den Gesetzen des besten Gesetzgebers kann das Geheimnis der Gerechtigkeit nicht preisgegeben werden. Denn dies ist der platonischen Weisheit letzter Schluß, dies die Antwort auf die immer wieder gestellte, durch alle Dialoge gehende Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit: Sie ist das letzte Geheimnis. Und weil es auf die Frage keine Antwort gibt, so muß schließlich die Frage selbst als unzulässig abgewiesen werden.«1002
3. Europareisen 1955–1959 Unterbrochen wurden diese Tätigkeiten durch die vielen Vortragsreisen, zu denen Kelsen – mehr als je zuvor – von verschiedensten Universitäten, Akademien und sonstigen Institutionen eingeladen wurde und die ihn jedes Jahr zumindest einmal, wenn 997 Kelsen,
Platon (1957) 2, 6. Platon (1957) 1. 999 Kelsen, Platon (1957) 40. 1000 Kelsen, Die Illusion der Gerechtigkeit (1985) 1. 1001 Im Nachlass Kelsens am HKI befinden sich in den Kartons 18–20 mehrere Entwürfe, die zumindest bis in die 1940er Jahre zurückreichen. Nach Jabloner /Zeleny, Kelsen und die griechischen Philosophen (2006) 7, war das Manuskript zu »Die Illusion der Gerechtigkeit« um 1950 schon weitgehend fertig, danach folgten nur mehr kleinere Ergänzungen. 1002 Kelsen, Die Illusion der Gerechtigkeit (1985) 365. 998 Kelsen,
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Abb. 52: Hans Kelsen als Redner bei der Emeritierungsfeier für William Rappard in Genf, 9. Juli 1955.
nicht öfter, nach Europa zurückbrachten. Zumeist reiste er in diesen Fällen zunächst nach Genf, von wo er weiter zu den verschiedenen Vortragsorten fuhr.1003 Dahinter steckten nicht nur praktische Erwägungen. Genf war ihm anstelle von Wien zur Heimat geworden. Als William Rappard im Sommer 1955 als Direktor des IUHEI in den Ruhestand trat, nahm Kelsen, am 9. Juli, an einem Dinner zu Ehren seines Freundes teil. Er brachte einen Toast aus und dankte Rappard für all die Hilfe, die ihm dieser in den vergangenen 25 Jahren zuteilwerden hatte lassen. Im Anschluss daran verbrachten Hans und Grete Kelsen ihren Urlaub in St. Moritz.1004 Schon kurz zuvor, am 21. Juni 1955, hatte Kelsen einen Vortrag in Köln gehalten;1005 es war dies vermutlich sein erster Aufenthalt in Deutschland seit 22 Jahren. Keine Folge leistete Kelsen der Einladung der Universität von Salamanca, als diese im Mai 1954 ihr 700-Jahr-Jubiläum feierte und ihm sowie auch Verdroß eine Ehrendoktorwürde verleihen wollte, zu welchem Anlass auch beide nach Spanien kommen sollten. Da allerdings auch der Generalissimus Franco mit dieser Würde ausgezeichnet werden sollte, beschlossen Kelsen und Verdroß, der Zeremonie fern zu bleiben. Zwei Jahre später weilte Kelsen an der Universität von Granada und erkundigte sich bei dieser Gelegenheit auch nach seiner Ehrendoktorwürde aus 1003 Kelsen
Oestreicher, My Parents in the United States (1977) 5. kurze Ansprache wurde wenig später publiziert: Kelsen, Toast (1956). Rappard bedankte sich in einem Schreiben an Hans Kelsen v. 18. 7. 1955, in: HKI, Nachlass Kelsen 16c10.61. 1005 Gerhard Kegel (Dekan der juristischen Fakultät zu Köln), Schreiben an Hans Kelsen v. 11. 5. 1955, in: HKI, Nachlass Kelsen 16c7.60. 1004 Kelsens
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4. Teil: Amerika und die Welt
Salamanca, da ihm die Universität das Doktordiplom nicht zugesandt hatte. Die Universität Salamanca versprach, ihm das Diplom an seine Adresse in Berkeley zuzustellen. Kelsen, der zu diesem Zeitpunkt, im Juli 1956, im schweizerischen Basel bei seiner ehemaligen Assistentin Virginia McClam weilte, teilte der Universität seine Adresse in Berkeley mit, doch scheint es, dass die Urkunde niemals den Weg über den großen Teich fand.1006 Zu einem bemerkenswerten Wiedersehen kam es in jener Zeit auch in Kelsens Haus in der Los Angeles Avenue in Berkeley. Friedrich August Freiherr von der Heydte, der von Jänner bis April 1933 Kelsens Privatassistent in Köln gewesen war, und seit 1954 einen Lehrstuhl für Völkerrecht in Würzburg innehatte, kam im Zuge einer längeren USA-Reise auf Besuch nach Kalifornien.1007 Heydte selbst berichtet von diesem Treffen eine geradezu unglaubliche Anekdote, die hier nur wörtlich wiedergegeben werden kann: »Wir unterhielten uns auf der Terrasse seines hübschen Hauses über alles Mögliche, als allmählich die Sonne – die Bucht vergoldend – unterging. Kelsen machte mich auf dieses Schauspiel aufmerksam und meinte dann plötzlich mit dem feinen Lächeln, das ihm eigen war: ›Heydte, jetzt stehen wir beide auf, heben die Hand zum deutschen Gruß und rufen laut: Heil Hitler!‹ Ich war einigermaßen entsetzt und glaubte zunächst, Kelsen habe den Verstand verloren; er erklärte jedoch gleich seine Äußerungen mit den Worten: ›Glauben Sie, daß wir uns jemals hier an diesem wunderschönen Ort getroffen hätten, wenn nicht Hitler mich aus Deutschland vertrieben hätte?‹ Ein typisches Bonmot von Hans Kelsen …«1008 – Soweit der Bericht Heydtes, der naturgemäß weder verifiziert noch falsifiziert werden kann. Seine letzte Lehrtätigkeit am IUHEI absolvierte Kelsen 1956, allerdings nicht für ein ganzes Semester, sondern nur im Juni für einen Spezialkurs über »Collective Security« im Ausmaß von zehn Stunden.1009 Er wohnte zu jener Zeit gemeinsam mit seiner Frau in einem Appartment-Hotel, dem »Atlantic House«, 5, rue du Vieux-College. Sie trafen alte Freunde und brachen auch zu weiteren Reisen auf.1010 Auch Hannah Kelsen Oestreicher und ihr Sohn Adam kamen damals nach Genf und blieben für drei Wochen bei den Großeltern. Kelsens Schwiegersohn Rolf Oestreicher lebte zu jener Zeit 1006 HKI,
Nachlass Kelsen 21n.69 und 15a19.57. Die Vermutung, dass die Ablehnung der Einladung nach Salamanca mit der Auszeichnung Francos zusammenhängen könnte, wurde schon 2006 in einem Schreiben von José Antonia Sendín Mateos an Klaus Zeleny vom 20. 11. 2006 geäußert und auch in einem Schreiben von Jesús Vega an den Verfasser vom 3. 3. 2015 bestätigt; Vega bezweifelt, dass Kelsen die Urkunde jemals erhielt; am HKI ist keine Urkunde vorhanden. 1007 Heydte, Ein Zeitzeuge erinnert sich (1987) 198 f.; vgl. zu seinem Werdegang nach 1945 auch Busch, Verdross (2012) 143. Bereits unmittelbar nach Kriegsende hatte von der Heydte wieder Kontakte zu Kelsen geknüpft und sich dabei tief beschämt über seine seinerzeitige Begeisterung für den Nationalsozialismus gezeigt: Friedrich August von der Heydte, Brief an Hans Kelsen v. 4. 9. 1945, in: HKI, Nachlass Kelsen 16c4.60. 1008 Heydte, Ein Zeitzeuge erinnert sich (1987) 40. 1009 Busch/Bersier Ladavac, Kelsens Genfer Jahre (2015) 26. 1010 Richard Anderson (Bollingen Foundation), Schreiben an Hans Kelsen v. 1. 7. 1957, in: LOC, Manuscript Division, Bollingen Foundation Records, 470.090 Kelsen Hans; Kelsen Oestreicher, My Parents in the United States (1977) 5.
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5. Kapitel: Das Alterswerk
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schon seit vier Jahren in Denver/Colorado; im Oktober 1957 folgten ihm Hannah und Adam in die USA, wo Rolf und Hannah Oestreicher bis zu ihrem Tod 1980 bzw. 2001 lebten und Adam Oestreicher noch heute lebt.1011 Den 10. Jahrestag der Unterzeichnung der UN-Charta nahm die »Nederlandse Studentenvereiniging voor Wereldrechtsorde (Dutch United Nations Students Association)« zum Anlass, mehrere prominente Wissenschaftler, wie etwa Hans Kelsen, Ulrich Scheuner oder Edvard Hambro, um je einen wissenschaftlichen Aufsatz zu bitten. Diese wurden 1956, mit Unterstützung dreier Universitätsprofessoren, in einem Sammelband, betitelt »The United Nations. Ten Years’ Legal Progress« publiziert. Kelsen widmete sich in seinem Beitrag dem Verhältnis des UN-Rechts zum Allgemeinen Völkerrecht. Denn der UNO gehörten zwar die »überwältigende Mehrheit«, aber eben nicht alle Staaten der Welt an,1012 und die UN-Charta sah an mehreren Stellen Rechte, aber sogar auch Pflichten für Nichtmitglieder vor, so insbesondere Art. 2 Abs. 6, wonach auch Nichtmitglieder bis zu einem gewissen Grade die Grundsätze der UN-Charta achten müssten. Kelsen kehrte hier zu seiner schon 1934 veröffentlichten These zurück, dass das Völkerrecht auch Verträge zu Lasten Dritter kenne.1013 Im Frühjahr 1957 reiste Kelsen zum 9. Kongress der »Association of Attendees and Alumni of The Hague Academy of International Law« nach Athen, wo er am 6. Mai über »Problems of Collective Security« sprach.1014 Gleich im Anschluss daran reiste Kelsen weiter nach Rom, wo er am 22. Mai vor der Accademia Nazionale dei Lincei, der Akademie der Wissenschaften der italienischen Republik, zu deren auswärtigem Mitglied er zwei Jahre zuvor gewählt worden war,1015 einen Vortrag zum Thema »Quel est le fondement de la validité du droit? [Was ist die Grundlage für die Geltung des Rechts?]« hielt.1016 Im selben Jahr organisierte das Institut International de Philosophie Politique in Paris eine Tagung zum Thema »Naturrecht«, an der auch Hans Kelsen teilnahm. 1011 Kelsen Oestreicher, Times to remember (1977) 42–47; Anne Feder Lee, e-mail an den Verfasser vom 27. 2 . 2008. 1012 Im Gegensatz zu früher (Kelsen, Withdrawal [1948]) räumte Kelsen auch die Möglichkeit ein, dass ein Mitgliedsstaat aus der UNO austreten könne: Kelsen, General International Law (1956) 6. 1013 Oben 595. 1014 Die Schriftfassung wurde im Annual of the Association of Attenders and Alumni of the Hague Academy of International Law veröffentlicht: Kelsen, Problems of Collective Security (1958). 1015 Vincenzo Arangio-Ruiz (Präsident der Akademie), Schreiben an Hans Kelsen v. 29. 7. 1955, HKI, Nachlass Kelsen 15a17.57. 1016 Raffaello Morghen, Schreiben an Hans Kelsen vom 16. 5. 1957, HKI, Nachlass Kelsen 16c1.59. Unrichtig Métall, Kelsen (1969) 89, der die Reise nach Rom vor jene nach Athen reiht. Vgl. auch Kelsen Oestreicher, My Parents in the United States (1977) 5. Kelsen sprach in Rom (in französischer Sprache) zum selben Thema, zu dem er bereits 1956 einen Aufsatz in der »Revue internationale de criminologie et police technique« publiziert hatte: Kelsen, Quel est le fondement (1956). Dieser Aufsatz wurde später von Gaetano Arangio-Ruiz ins Italienische übersetzt und in der »Rivista di diritto internazionale« publiziert.
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4. Teil: Amerika und die Welt
Bei dieser Gelegenheit kam es auch zur einzigen persönlichen Begegnung mit dem italienischen Rechtsphilosophen Noberto Bobbio, der später entscheidend zur Verbreitung der Reinen Rechtslehre in Italien beitrug.1017 Aus Kelsens bei dieser Tagung gehaltenem Vortrag ging ein umfangreicher Aufsatz, »Justice et droit Naturel« [Gerechtigkeit und Naturrecht] hervor, der 1959 gemeinsam mit weiteren Beiträgen der Konferenz in den »Annales de Philosophie Politique« erschien.1018 Die deutsche Urfassung verwendete Kelsen ein Jahr später für den Anhang zur 2. Auflage seines Buches »Reine Rechtslehre«. Schließlich nahm Kelsen vom 18.–27. September 1957 auch an der Tagung des Institut de droit international in Amsterdam teil. Auf der Rückkehr nach New York erkrankte er schwer an einer Lungen‑ und Rippenfellentzündung.1019 Aber schon im folgenden Jahr kehrte Kelsen nach Europa zurück und nahm vom 5. bis 9. September 1958 an einem »Colloque International de Logique« teil, das in Löwen [Leuven/BE] stattfand; am letzten Tag des Kolloquiums hielt er ein Referat zum »Begriff der Rechtsordnung«.1020 Kelsen erläuterte hier Grundbegriffe der Reinen Rechtslehre, insbesondere das Konzept der Grundnorm, den Stufenbau der Rechtsordnung und das Problem verfassungswidriger Gesetze. Die Wahl zwischen Primat des staatlichen Rechts und Primat des Völkerrechts verglich Kelsen mit der Wahl zwischen heliozentrischem und geozentrischem Weltbild und zitierte hier Max Planck, um zu betonen, dass es sich nur um eine Frage des Standpunktes handle.1021 Und auch 1959 kam Kelsen nach Europa, blieb für »längere Zeit« in Genf, wo er an der 2. Auflage seiner »Reinen Rechtslehre« arbeitete, und nahm auch an der Tagung des Institut de droit international im schweizerischen Neuchâtel (3.–12. September) teil.1022
4. Der Versuch einer Kompromissformel, zwei Kontroversen und eine redaktionelle Panne (1958–1965) a) Sind Naturrecht und Reine Rechtslehre miteinander vereinbar? 1958 veröffentlichte Verdroß sein Buch »Abendländische Rechtsphilosophie«, das auf seinen entsprechenden Vorlesungen, die er seit 1924 (mit Unterbrechung 1938–1945) 1017 Bobbio/Zolo,
Hans Kelsen (1998) 355.
1018 Kelsen, Justice et Droit Naturel (1959). Der Text wurde von Kelsen auf Deutsch verfasst und
von Étienne Mazingue ins Französische übersetzt. 1019 Hans Kelsen, Brief an Alfred Verdroß v. 18. 1 2. 1957, HKI, Nachlass Kelsen 16b12.59; vgl. auch Métall, Kelsen (1969) 89. 1020 Loreau, Colloque de logique (1959) 41. 1021 Kelsen, Begriff (1958) = WRS 1141–1158. Die letzten vier Seiten, die auch das Max Planck- Zitat enthalten (Kelsen, Begriff [1958] 164–167 = WRS 1155–1158) wurden später wörtlich in K elsen, Reine Rechtslehre (1960) 339–340 und 344–345 übernommen. 1022 Métall, Kelsen (1969) 90, ebenda auch der Hinweis auf die Tagung in Neuchâtel/CH, die er irrtümlich auf das Jahr 1961 datiert.
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5. Kapitel: Das Alterswerk
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an der Universität Wien hielt, beruhte.1023 In ihm stellte er die Entwicklung der Rechtsphilosophie von den Alten Griechen bis zur Gegenwart dar und würdigte dabei auch ausführlich die Reine Rechtslehre. Verdroß war dabei sehr bemüht, eine Vereinbarkeit von Reiner Rechtslehre und Naturrechtslehre zu behaupten, und fragte sogar Kelsen selbst um Rat für eine gute Formulierung.1024 Tatsächlich lieferte Kelsen die gewünschte Passage, die Verdroß wörtlich in sein Buch übernahm. Demnach seien beide Lehren insofern vereinbar, als die zentrale Frage der Naturrechtslehre nach »Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit […] ausserhalb der von K. vertretenen Rechtslehre liegt. Auch in bezug auf die Frage des Geltungsgrundes des positiven Rechts sind beide Theorien mit einander nicht unvereinbar. Denn K. beantwortet diese Frage nur bedingt [und] betont nachdruecklichst, dass man diese Grundnorm voraussetzen kann, aber nicht voraussetzen muss. Daher ist mit seiner Rechtslehre eine Doktrin nicht unvereinbar, die diese Grundnorm nicht voraussetzt, sondern den Geltungsgrund des positiven Rechts in seiner Uebereinstimmung mit einem Gerechtigkeitsideal und insbesondere mit dem Gerechtigkeitsideal des Naturrechts erblickt.«1025 Es ist dies ein beeindruckendes Zeichen, wie sehr sich sowohl Kelsen als auch Verdroß um eine »Kompromissformel« bemühten, anstatt die unübersehbaren Gegensätze zwischen ihren Lehren zu betonen. Als Verdroß zwei Jahre später, 1960, zu seinem 70. Geburtstag eine Festschrift erhielt, trug Kelsen mit einem Aufsatz »Vom Geltungsgrund des Rechts« zu diesem Werk bei. Der kurze Text erläuterte insbesondere das Konzept der Grundnorm, zu dem Verdroß ja Wesentliches beigetragen hatte, doch lehnte es Kelsen ausdrücklich ab, zur Frage, ob die Grundnorm im Völkerrecht oder im staatlichen Recht zu suchen sei, Stellung zu nehmen.1026 Vielleicht wollte Kelsen auch hier kein neues Konfliktfeld mit Verdroß eröffnen. In Hinblick auf die weitere Entwicklung der Reinen Rechtslehre ist es jedenfalls hervorhebenswert, dass Kelsen in diesem Aufsatz ausdrücklich erklärte, dass es außer gesetzten auch bloß gedachte Normen – wie etwa die Grundnorm – geben könnte und dass ein Normensystem »sinnvoll« sein müsse.1027 1964 wurde Kelsen in dem – ansonsten rechtstheoretisch eher unbedeutenden – Buch »Ethos und Naturrecht« des pensionierten österreichischen Senatsrates Adolf Rašovský sehr heftig angegriffen;1028 u. a. wurde er als »Atheist« bezeichnet, der das 1023 Verdross,
Abendländische Rechtsphilosophie (1958) V. Alfred Verdross, Briefe an Hans Kelsen v. 4. 3. 1957 und v. 11. 1 2. 1957, beide in: HKI, Nachlass Kelsen 16b12.59. 1025 Hans Kelsen, Brief an Alfred Verdroß v. 18. 1 2. 1957, HKI, Nachlass Kelsen 16b12.59. Wörtlich wiedergegeben in Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie (1958) 253 (ohne Hinweis, dass die Formulierung von Kelsen selbst stammt!). 1026 Kelsen, Geltungsgrund (1960) 162 = WRS 1164, 1165; vgl. auch Verdross, Grundnorm (1956) = WRS 1811–1818. 1027 Kelsen, Geltungsgrund (1960) 159 = WRS 1161. 1028 R ašovský, zit. n. Kelsen, In eigener Sache (1965) 106 f. Ein Adolf Rasovsky (sic) wird im Österreichischen Amtskalender (1950) 470 als Mitarbeiter des Magistratischen Bezirksamtes für den XII. Wiener Gemeindebezirk genannt. 1024
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4. Teil: Amerika und die Welt
Naturrecht »ad absurdum« führe, indem er dessen Grundlage, die katholische Moraltheologie, aus den Angeln heben wolle. Kelsen wies diese Anschuldigungen in einem kurzen, »In eigener Sache« betitelten Beitrag für die ZÖR zurück und wurde dabei auch merkwürdig persönlich: Wenn unter einem »Atheisten« jemand zu verstehen sei, »der die Existenz Gottes leugnet, und das heißt, auf die Frage nach der Existenz Gottes eine negative Antwort gibt, trifft diese Bezeichnung auf mich nicht zu.«1029 Unter seinen »besten Freunden und nächsten Verwandten« – er bezog sich hier wohl vor allem auf seinen Bruder Paul Friedrich, der dem Dritten Orden der Franziskaner angehörte – seien »gläubige Christen«, und er selbst bezeichne Jesus Christus als »Heiligen […] um dadurch meine tiefe Verehrung für die Person des Stifters der christlichen Religion auszudrücken.«1030 Es ist merkwürdig, wie tief Kelsen von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen eines international so gut wie unbekannten Autors getroffen war. Möglicherweise war dies mit ursächlich dafür, dass er wenig später, als der praktizierende Katholik und Salzburger Universitätsprofessor René Marcic sein Buch »Verfassung und Verfassungsgericht« veröffentlichte, dieses überaus lobend für die ZÖR rezensierte. Auffällig ist etwa, dass Marcic behauptete, dass die Philosophie der Reinen Rechtslehre ihr »Fundament« in der Philosophie des Thomas v. Aquin habe, und Kelsen dies zwar verneinte, aber das Vorhandensein »gewisser Übereinstimmungen« bejahte, deren Feststellung durch Marcic »ein wertvoller Beitrag zu dem Verständnis beider« sei.1031 Beachtung verdient aber jedenfalls Marcics Theorie, wonach es innerhalb des Verfassungsrechts verschiedene Stufen geben könne und damit verfassungswidrige Verfassungsnormen möglich seien. Es ist dies eine sehr frühe Überlegung zur rechtlichen Bedeutung des Art. 44 Abs. 2 (heute Abs. 3) B-VG, wonach (nur) eine »Gesamtänderung« der österreichischen Bundesverfassung zwingend einer Volksabstimmung zu unterziehen sei. Ein Verfassungsgesetz, das gesamtändernd wirke (etwa durch eine wesentliche Einschränkung des rechtsstaatlichen Bauprinzips der Verfassung), aber ohne Volksabstimmung zustande komme, sei daher verfassungswidrig und könne vom VfGH aufgehoben werden.1032 Kelsen nahm dazu nicht eindeutig Stellung, hielt die diesbezüglichen Überlegungen von Marcics aber immerhin für »sehr erwägenswert«.1033
1029 Kelsen,
In eigener Sache (1965) 106. In eigener Sache (1965) 107. Zu Paul Friedrich Kelsen vgl. oben 228 Anm. 95. 1031 Kelsen, Professor Marcics Theorie (1965) 270. – Im selben Heft der ZÖR (!) erschien eine Rezension desselben Buches durch Ulrich Scheuner, in der dieser bemerkte, dass in Marcic’ Buch »Grundgedanken der Wiener Schule von der Einheit und vom Stufenbau des Rechts […] durch eine Verknüpfung mit naturrechtlichen Gedanken weitergeführt und überhöht« würden: Scheuner, Rezension (1965) 304. 1032 Vgl. aus der zeitgenössischen Literatur etwa Walter, System (1972) 744. Der VfGH hat diese Kompetenz bisher erst ein einziges Mal – wohl nur zufällig exakt an Kelsens 130. Geburtstag – in Anspruch genommen: VfGH 11. 10. 2001 G 12/00 VfSlg 16.327. 1033 Kelsen, Professor Marcics Theorie (1965) 271. 1030 Kelsen,
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b) Die Kontroversen mit Alf Ross und Eugenio Bulygin Kurz nach dem Krieg, 1946, hatte der dänische Rechtsphilosoph Alf Ross, der schon in den 1920er Jahren das Privatseminar Kelsens besucht hatte,1034 eine Monographie mit dem Titel »Towards a Realistic Jurisprudence« veröffentlicht. Als exponierter Vertreter eines Rechtsrealismus sah er im Recht eine »soziale Realität« und verurteilte Kelsens Trennung von Sein und Sollen scharf. Eine solche Trennung sei überhaupt nicht möglich, und wenn sie es wäre, wären Normen uninteressant, weil sie dann nicht die soziale Realität erklären können.1035 Es war aber nicht diese Monographie, sondern erst das zwölf Jahre später, 1948, erscheinende Lehrbuch von Ross, »On Law and Justice«, in dem er seine Thesen prägnant zusammenfasste, das Kelsen dazu veranlasste, 1959 in der ZÖR eine Kritik an dieser Rechtslehre zu verfassen. Dabei erklärte er gleich zu Beginn, »daß diese Kritik in keiner Weise der aufrichtigen Wertschätzung Abbruch tut, die ich für Alf Ross als einen hervorragenden Gelehrten und liebenswerten Menschen empfinde.«1036 In diesem Aufsatz stellte Kelsen die Möglichkeit einer »realistischen Rechtswissenschaft« generell in Abrede, denn das Recht bestehe nun einmal aus Normen und nicht aus Seinstatsachen. Als Kern des Problems sah Kelsen »das Verhältnis von Geltung und Wirksamkeit des Rechts«.1037 Eine positivistische Rechtstheorie, wie er selbst sie vertrat, müsse den Mittelweg zwischen zwei Extremen finden: der Auffassung, dass zwischen Geltung und Wirksamkeit überhaupt kein Zusammenhang bestünde, und jener, dass nur jenes Recht Geltung beanspruchen könne, welches auch tatsächlich wirksam sei. Dass die erste falsch sei, stellte Kelsen apodiktisch fest. Aber auch die zweite Position sei falsch, denn ein Gesetz trete regelmäßig in Kraft, noch bevor es angewendet werden könne und sich damit die Frage der Wirksamkeit überhaupt erst stelle. Die Wirksamkeit sah Kelsen mithin als eine »Bedingung«, nicht als einen »Grund« der Geltung an.1038 1962 unternahm Ross eine Vortragsreise nach Buenos Aires. Einer seiner Hörer war der damals 31-jährige, aus der Ukraine eingewanderte Jurist Eugenio Bulygin.1039 Dieser beschloss, selbst einen Aufsatz zum »Begriff der Wirksamkeit« zu verfassen, in dem er sich kritisch mit den Lehren von Ross – damit aber auch von Kelsen – auseinandersetzte und der 1964 in einem deutschsprachigen Sammelwerk mit lateinamerikanischen Studien zur Rechtsphilosophie veröffentlicht wurde.1040 Kelsen 1034 Siehe
schon oben 391. Realistic Jurisprudence (1946) 42 f. 1036 Kelsen, Eine »Realistische« und die Reine Rechtslehre (1959) 1. 1037 Kelsen, Eine »Realistische« und die Reine Rechtslehre (1959) 2, 9. 1038 Kelsen, Eine »Realistische« und die Reine Rechtslehre (1959) 10. Die Passage ist weitgehend identisch mit Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) 215–219, wo Kelsen in einer langen Fußnote nochmals auf Ross zu sprechen kommt. Vgl. zur hier nur angedeuteten Kontroverse ausführlich Bindreiter, The Realist Hans Kelsen (2013). 1039 Eugenio Bulygin, Interview v. 26. 3. 2012. 1040 Bulygin, Der Begriff der Wirksamkeit (1965). 1035 Ross,
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verfasste zu diesem Aufsatz – wohl 1965 – eine Kritik, veröffentlichte sie jedoch nicht. Erst 2003 publizierte das Hans Kelsen-Institut diesen Aufsatz aus Kelsens Nachlass und gab zugleich Bulygin, der mittlerweile Professor der Universität Buenos Aires gewesen war, die Gelegenheit zu einer Gegenkritik.1041 c) Die Panne mit O’Connell Zu einer scheinbaren Kontroverse zwischen Kelsen und dem – damals an der Georgetown University lehrenden – neuseeländischen Völkerrechtler Daniel P. O’Connell1042 kam es 1960 im »Georgetown Law Journal«: Kelsen und O’Connell reichten fast gleichzeitig je einen Aufsatz über das Verhältnis zwischen staatlichem Recht und Völkerrecht bei der Redaktion ein, und diese brachte den Aufsatz O’Connells im Frühjahrsheft 1960, jenen Kelsens im Sommerheft 1960, wies aber bei letzterem in einer Fußnote darauf hin, dass die beiden Autoren den jeweils anderen Artikel vor dessen Veröffentlichung nicht gekannt hätten.1043 O’Connell unterschied – im Gegensatz zu Kelsen – vier Völkerrechtstheorien: den Dualismus, den Monismus (was er mit dem Primat des Völkerrechts gleichsetzte), den »monism in reverse« (was Kelsens Lehre vom Monismus mit Primat des staatlichen entsprach), sowie eine Theorie, wonach beide Rechte miteinander harmonisiert werden sollten, jedoch ein Gericht im Konfliktfall jenes Recht heranziehen müsse, wozu es nach seiner eigenen Verfassung verpflichtet sei.1044 Auch wenn nicht leicht nachvollziehbar ist, inwiefern es sich bei diesem vierten Punkt um eine Theorie, vergleichbar den drei anderen, handeln könne, gab er doch dieser im Verlauf seines Aufsatzes den Vorzug; Kelsen wurde von ihm als jener Jurist bezeichnet, dessen Doktrin man mit dem Monismus assoziiere. Seine Grundnorm des Völkerrechts sei der Satz »pacta sunt servanda«, aus dem man aber wenig gewinnen könne, und seine ganze Konzeption des Völkerrechts passe zwar auf eine organisierte Völkergemeinschaft des 20. Jahrhunderts, nicht aber auf frühere Epochen.1045 Kelsens Beitrag enthielt keine Polemiken und schon aus diesem Grund auch keine Auseinandersetzung mit O’Connell; er fasste hier nur zusammen, was er schon früher so oft geschrieben hatte: Unvermeidbarkeit einer monistischen Konstruktion und rechtstheoretische Gleichwertigkeit der beiden Theorien vom Primat des staatlichen Rechts bzw. des Völkerrechts. Große Partien dieses in englischer Sprache verfassten Aufsatzes sollten sich – in deutscher Sprache – in der 2. Auflage der »Reinen Rechtslehre« wiederfinden, die fast gleichzeitig mit diesem Aufsatz im Druck erschien1046 1041 Kelsen,
Geltung und Wirksamkeit (2003); Bulygin, Bemerkungen (2003). zu ihm schon oben 856. 1043 Kelsen, Sovereignity (1960) 627, Fußnote der Redaktion *. 1044 O’Connell, Relationship (1960) 432. 1045 O’Connell, Relationship (1960) 434 f. 1046 Vgl. insbesondere die letzten Seiten des Aufsatzes: Kelsen, Sovereignty (1960) 634–640, die inhaltlich Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) 341–345 entsprechen. Die englische Übersetzung der Reinen Rechtslehre durch Max Knight (Kelsen, Pure Theory [1967] 342–347) weist allerdings 1042 Siehe
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und in die auch viele andere Aufsätze Kelsens ganz oder teilweise wörtlich übernommen wurden.1047
5. »Reine Rechtslehre« – die 2. Auflage a) Die Mexiko-Reise 1960 Wie berichtet, hatte Kelsen schon 1943 geplant, nach Mexiko City zu reisen, damals jedoch keine Ausreisegenehmigung erhalten.1048 Neuerlich war eine Reise für Februar 1947 geplant gewesen, doch musste Kelsen diese aus gesundheitlichen Gründen kurzfristig absagen.1049 Nichtsdestoweniger hatte die Universidad de México, vermutlich auf Antrag ihrer Professoren Emilio O. Rabasa und Guillermo Hector Rodriguez, im August 1951 entschieden, Kelsen ein Ehrendoktorat zu verleihen.1050 Auch zu dieser Zeremonie war Kelsen nicht persönlich erschienen. Erst neun Jahre später war es soweit, dass Hans Kelsen gemeinsam mit seiner Gattin am 29. März 1960 auf dem Flughafen von Mexico City landete. Kelsens Kommen war in den Zeitungen angekündigt worden, und das Interesse war gewaltig. »Am 30. März 1960, exakt um 7 Uhr abends, betrat ein kleiner Mann den Campus der Universität von Mexiko«, berichtete Rabasa vom Auftritt Kelsens an der Universität. »An der Juristischen Fakultät erwartete ihn eine unruhige und aufgeregte Menge von mehr als dreitausend Menschen, wo doch die Erwartung und der Respekt sonst nur großen Männern vorbehalten waren. Und tatsächlich war er ein großer [= ein großartiger] Mann.«1051 In einem Interview, das vermutlich während dieser Reise geführt wurde, erklärte Kelsen, dass seine Rechtslehre in keinem Teil der Welt auf so großes Interesse stoße wie in Lateinamerika, und führte dieses »Interesse am Denken« [die φιλοσοφία] auf die theologische Tradition der lateinamerikanischen Staaten zurück1052 – folgte Kelsen hier den Gedanken Schmitts in dessen »Politischer Theologie«? eine Reihe von unterschiedlichen Formulierungen auf, was dafür spricht, dass Kelsen den »Sovereignty«-Aufsatz selbst auf Englisch verfasste oder übersetzte und Knight diesen für seine Übersetzung nicht benutzte. 1047 So insbesondere: Kelsen, Causality and Imputation (1950) = WiJ 324–349; Kelsen, Kausalität und Zurechnung (1954) = WRS 541–566; Kelsen, Einheit (1958) = WRS 1819–1832; Kelsen, Begriff (1958) = WRS 1141–1167; Kelsen, Recht und Moral (1960) = WRS 651–661. Nachträglich wurden noch die Abschnitte über Norm und Wert sowie über das Wesen des Völkerrechts als eigene Aufsätze publiziert: Kelsen, Norm and Value (1966); Kelsen, Essence (1968). 1048 Vgl. oben 687. Die Texte seiner Vorträge wurden jedoch von Eduardo Garcia Máynez ins Spanische übersetzt und, versehen mit einer Einleitung von Alfonso Noriega, veröffentlicht: Kelsen, El Contrato y el Tratado (1943); vgl. auch Hans Kelsen, Brief an Roscoe Pound v. 22. 11. 1943, in: Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7. 1049 Gassner, Kelsen in Lateinamerika (2014) 69. 1050 Die mit 21. 9. 1951 datierte Promotionsurkunde befindet sich in: HKI, Nachlass Kelsen 15a30.57. 1051 Emilio O. R abasa, Prologo, in: Kelsen, Introducción (1960) 7. 1052 Das Interview in HKI, Nachlass Kelsen 15r.58. Zur Datierung vgl. García-Salmones Rovira, Not Just Pure Theory (im Druck).
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Am 2. April wurde Kelsen vom mexikanischen Staatspräsidenten Adolfo López Mateos empfangen. Er wurde zum korrespondierenen Mitglied des Instituts für Rechtsvergleichung der Universität Mexiko sowie zum Ehrenmitglied der Sociedad Mexicana de Filosofia gewählt und vom Vorsitzenden dieser Gesellschaft, José Luis Curiel, sogar für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.1053 Was das wissenschaftliche Programm von Kelsens Mexiko-Reise betrifft, so waren eigentlich vier Vorträge zur Reinen Rechtslehre geplant, doch konnte er nur zwei davon halten, weil er danach an der »Rache des Montezuma« erkrankte und vorzeitig heimreisen musste.1054 Der Inhalt dieser Vorträge wurde jedoch noch im selben Jahr in einem 114 Seiten starken Buch, betitelt »Introducción a la Teoria pura del derecho [Einführung in die Reine Rechtslehre]« veröffentlicht. Die Übersetzung hatte Rabasa besorgt. In zwölf Kapiteln erläuterte Kelsen den Unterschied zwischen Sein und Sollen, das Wesen des Rechts als einer Zwangsordnung, Kausalität und Zurechnung, die Unterscheidung von Rechtsnorm und Rechtssatz, die Derogationsproblematik, Geltung und Effektivität des Rechts, das Verhältnis des Rechts zum Staat sowie zu Moral und Gerechtigkeit, Rechtspositivismus und Naturrechtsdoktrin, die Begründung des Rechts auf rechtspositivistischer Grundlage, das Verhältnis zwischen staatlichem und internationalem Recht sowie das Verhältnis zwischen Rechtswissenschaft und Weltanschauung.1055 Im Ganzen besehen, handelt es sich bei der »Introducción« um ein völlig eigenständiges Werk, das weder als Weiterentwicklung der 1. Auflage der »Reinen Rechtslehre« noch als Vorstufe der 2. Auflage desselben Buches bezeichnet werden kann.1056 b) Eine »erhebliche Erweiterung« der Reinen Rechtslehre Diese, die 2. Auflage, war zur Zeit der Mexiko-Reise bereits fast fertig; wenige Tage nach seiner Rückkehr und wohl auch nach seiner Genesung, noch im April 1960, verfasste Kelsen das Vorwort zu ihr. In der Titelei wird dieses Buch als »vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage« bezeichnet, und auch im Vorwort schreibt der Autor von »eine[r] völlige[n] Neubearbeitung der in den ersten [Auflage] behandelten Gegenstände und eine[r] erhebliche[n] Erweiterung ihres Gegenstandsbereiches.«1057 Dies war nicht übertrieben: war die Zweite Auflage doch (einschließlich ihres Anhanges über »Das Problem der Gerechtigkeit«) etwa fünfmal so umfangreich wie ihre 1053 Die beiden Urkunden in HKI, Nachlass Kelsen 15a10.57 und 15a11.57. Gassner, Kelsen in Lateinamerika (2014) 80. 1054 Schmill Ordóñez, Interview v. 8. 1 2. 2012. 1055 Kelsen, Introducción (1960). 1056 Hinzuweisen ist an dieser Stelle auch auf den nur acht Seiten starken Aufsatz von Kelsen, What is the Pure Theory (1960), der bereits im Februar 1960 in der »Tulane Law Review«, einer von der Tulane Law School in New Orleans herausgegebenen Zeitschrift erschien. In einfachsten Worten erläuterte Kelsen dabei die Grundbegriffe der Reinen Rechtslehre; der Aufsatz ging vermutlich auf einen Vortrag zurück, den Kelsen vor einem studentischen oder nichtjuristischen, Publikum gehalten hatte. 1057 Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) VII.
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Vorläuferin.1058 Hatte sich Kelsen damals damit begnügt, »die besonders charakteristischen Ergebnisse einer reinen Rechtslehre zu formulieren«, versuchte er »nunmehr, die wesentlichsten Probleme einer allgemeinen Rechtslehre nach den Grundsätzen der Methodenreinheit rechtswissenschaftlicher Erkenntnis zu lösen«.1059 Mario Losano urteilte später einmal, dass die 1. Auflage ein Text sei, »bei dem nichts weggelassen werden« könne, während zur 2. Auflage »nichts hinzugefügt werden könne«.1060 Trotz des deutlich erweiterten Umfanges waren die Bücher von 1934 und von 1960 in Hinblick auf Gedankenführung und Gliederung im Wesentlichen gleich. Die Erweiterungen waren vielfach Präzisierungen und Richtigstellungen, nur in wenigen Punkten Korrekturen der Erstauflage.1061 Dabei waren zwar einige Punkte inkludiert, die schon 1945 in die »General Theory« eingeflossen waren. Doch wurde deren Aufbau und Stil nicht übernommen; Hinweise auf John Austin fehlten in der 2. Auflage ebenso wie solche auf die US-Verfassung. Kelsen schrieb, zwanzig Jahre nach seiner Emigration in die USA, ein in deutscher Sprache gehaltenes Buch, das in einem österreichischen Verlag (Franz Deuticke) erschien, ganz offensichtlich für ein kontinentaleuropäisches Publikum. Gleichgeblieben waren insbesondere die Überschriften der ersten beiden Kapitel, »Recht und Natur« sowie »Recht und Moral«, in denen Kelsen den Begriff der Rechtsnorm erläuterte und von der zweiten großen Normenart, der Moral, abgrenzte. So wie in der »General Theory« kannte Kelsen nunmehr auch »erlaubende Normen«. Er verstand diese Normengattung allerdings im Sinne von »ermächtigenden« Normen.1062 Dafür fehlte die – 1911 mit den »Hauptproblemen« eingeführte und auch noch 1945 in der »General Theory« beibehaltene – Unterscheidung von »primären« und »sekundären« Normen; vielmehr wurde die Regelung menschlichen Verhaltens als bloßer Reflex der zu Zwang ermächtigenden Norm angesehen.1063 Normen konstituierten Werte, und das Urteil, dass ein bestimmtes Verhalten einer objektiv gültigen Norm entspreche, sei ein positives Werturteil. Dieses sei wesentlich verschieden von einem Wirklichkeitsurteil, welches ein bestimmtes Verhalten nur zu einem subjektiven Wollen in Beziehung setze.1064 Die in der »General Theory« noch positiv hervorgehobene Friedensfunktion des Rechts wurde von Kelsen deutlich pessimistischer gesehen: die Entwicklung des Rechts habe lediglich die »Tendenz« zu einer solchen Friedensstiftung, tatsächlich sei das Recht aber noch weit davon entfernt.1065 Dies ist 1058
Jestaedt, Ein Klassiker (2017) XXIX. Reine Rechtslehre (1960) VII. 1060 Losano, Il testo fondamentale (2003) 5, 21. 1061 Jestaedt, Ein Klassiker (2017) XXXIV. 1062 Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) 16; Jestaedt, Ein Klassiker (2017) XL. Heute werden »erlaubende Normen« von den Vertreterinnen und Vertretern der Reinen Rechtslehre als überflüssig angesehen, vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff (1992) 32. 1063 Jestaedt, Ein Klassiker (2017) XLV; Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff (1992) 25. 1064 Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) 16–24. Dieser Abschnitt wurde später – in Fassung der Übersetzung durch Max Knight (Kelsen, Pure Theory [1967] 17–23), allerdings ohne Fußnoten – auch als eigener Aufsatz veröffentlicht: Kelsen, Norm and Value (1966). 1065 Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) 40. 1059 Kelsen,
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4. Teil: Amerika und die Welt
insofern bemerkenswert, als Blutrache, Tötung von Sklaven oder Krieg – das waren die Beispiele, die er nannte – im Jahr 1960 in den USA wie in Europa längst nicht mehr erlaubt waren. Beachtung verdient Kelsens Bemerkung, dass die Bedingung, unter der ein Zwangsakt gesetzt werden kann, nicht notwendigerweise menschliches Verhalten sein müsse: Es sei u. a. auch denkbar, dass eine »zwangsweise Internierung von Individuen« aufgrund von deren »Rasse« erfolgt!1066 Mit diesem – zwischen anderen Beispielen versteckten – Exempel betont Kelsen auch nach den Erfahrungen des NS-Terrors deutlich wie an keiner anderen Stelle, dass es keine moralischen Grenzen für den Rechtsinhalt gebe. Das Kapitel »Recht und Moral« war deutlich erweitert worden.1067 Während die Erste Auflage das Problem der Moral nur im Rahmen einer Abgrenzung von Recht und Gerechtigkeit behandelt hatte, anerkannte Kelsen in der Zweiten Auflage sowohl die Möglichkeit einer positiven Moralordnung als auch die wissenschaftliche Behandlung derselben.1068 Damit bahnte sich eine allgemeine Normentheorie, die über die Rechtswissenschaften hinausgriff, an.1069 Ein neuer Abschnitt gegenüber der Erstauflage war das 3. Kapitel, »Recht und Wissenschaft«. Hier unterschied Kelsen – so wie in allen seinen Schriften seit 1941 – nunmehr konsequent zwischen Rechtsnormen und Rechtssätzen.1070 Rechtsnormen seien der Gegenstand der Rechtswissenschaft und werden von dieser mittels Rechtssätzen beschrieben; Rechtsnormen haben also einen imperativen, Rechtssätze einen deskriptiven Charakter. Kelsen erklärte, dass er diesen Umstand bereits 1911 in seinen »Hauptproblemen« im Prinzip vertreten, aber »nicht klar genug« zum Ausdruck gebracht habe; auch die Erstauflage von 1934 habe den Unterschied zwar gekannt, doch sei die Terminologie »nicht konsequent« beibehalten worden. Es mag sein, dass ihm das Bewusstsein für das dahinterliegende Problem bei Abfassung seiner beiden Schrift »Vergeltung und Kausalität« sowie »Society and Nature« gekommen war, als er immer wieder Rechtsgesetz mit Naturgesetz verglichen hatte und dabei bemerken musste, dass die Auffassung der modernen Naturwissenschaften vom Naturgesetz in keiner Weise normativen Charakter hatte. Das genannte Buch machte sich jedenfalls noch in einem eigenen Abschnitt über »Das Problem der Zurechnung im Denken der Primitiven« und einem über »Die Entstehung des Kausalprinzips aus 1066 Kelsen,
Reine Rechtslehre (1960) 114.
1067 Das Kapitel war – mit minimalen Abweichungen – wortgleich mit einem Aufsatz, den Kelsen
etwa zur selben Zeit in einer Festschrift für Luiz Legaz y Lacambra veröffentlichte: Kelsen, Recht und Moral (1960) = WRS 651–661. 1068 Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) 60, 64; wortgleich mit Kelsen, Recht und Moral (1960) 153, 157 = WRS 651, 655. Vgl. dazu auch Jestaedt, Ein Klassiker (2017) XLVI. 1069 Kelsen begann vermutlich schon bald nach 1960, ein entsprechendes Manuskript abzufassen; dieses wurde aber erst nach seinem Tod vom HKI herausgegeben: Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen (1979). Vgl. zu dieser »Erweiterung des Erklärungsanspruches« Wiederin, Spätwerk (2009) 357 f. 1070 Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) 73–77.
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dem Vergeltungsprinzip« bemerkbar,1071 vor allem aber in Kelsens Überlegungen zur ideologischen Funktion des Rechts, mit denen er »Vergeltung und Kausalität« abgeschlossen hatte. Auch in der Zweitauflage der Reinen Rechtslehre räumte Kelsen ein, dass die normative Wissenschaft eine ideologische Funktion haben könne – allerdings, und hier machte Kelsen eine wesentliche Einschränkung gegenüber 1941, nur dann, »wenn mit rechtlichem Sollen ein moralisch absoluter Wert behauptet wird«, nicht aber, wenn das Sollen bloß einen »spezifisch funktionellen Zusammenhang« beschreibt.1072 Dies bedeutete, dass Kelsen das Sollen immer nur als eine relative Größe betrachtete. Seiner Vorstellung zufolge ermöglichte es die Grundnorm, eine im Großen und Ganzen wirksame Zwangsordnung als Rechtsordnung zu beschreiben, ohne damit etwas über ihre Verbindlichkeit auszusagen. Als die zentralen Teile der Zweitauflage der Reinen Rechtslehre können die beiden Kapitel »Rechtsstatik« und »Rechtsdynamik« angesehen werden. Diese Gliederung war, wie erwähnt, zwar nicht in der Erstauflage, wohl aber in der »Allgemeienn Staatslehre« 1925 und in der »General Theory« 1945 verwendet worden und wurde auch hier beibehalten. Im Kapitel »Rechtsstatik« war insbesondere der Abschnitt »Der Dualismus der Rechtslehre und seine Überwindung« aufgegangen, in dem Kelsen u. a. gegen den Dualismus von subjektivem und objektivem Recht und gegen den Begriff der Person aufgetreten war. Schon die neue Überschrift zeigt, dass sich der alte Kelsen nicht so kämpferisch gab, wie er es noch ein Vierteljahrhundert zuvor getan hatte, und tatsächlich war das Kapitel »Rechtsstatik« in der Zweitauflage weniger polemisch als sein Vorgängerkapitel in der Erstauflage. Beachtung verdient eine weitere terminologische Verbesserung: Kelsen rückte von seiner 1932 eingeführten Unterscheidung zwischen »zentraler Zurechnung« (der Zurechnung einer Funktion zu einer Gemeinschaft) und »peripherer Zurechnung« (der normativen Verknüpfung zweier Tatbestände) wieder ab. Nur die letztere wurde von ihm noch als »Zurechnung« bezeichnet, während er hinsichtlich der Organschaft davon schrieb, dass das Handeln eines Organs der Gemeinschaft »zugeschrieben« werde.1073 Dem Kapitel über »Rechtsstatik« folgte eines über »Rechtsdynamik«, in das vor allem die Aussagen Kelsens über den rechtlichen Stufenbau aus der Ersten Auflage übernommen, jedoch ausgebaut und umgestellt wurden. So stellte er die Ausführungen über die Grundnorm, die sich in der Ersten Auflage noch im dritten und vierten Abschnitt »versteckt« hatte, in der Zweiten Auflage an den Beginn dieses Kapitels, womit deren zentrale Bedeutung für das Phänomen der Rechtsentstehung noch besonders betont wurde. Kelsen bezeichnete jene Norm, die die Geltung einer anderen Norm ermögliche, als »conditio per quam« jener untergeordneten Norm; die Seins-Tatsache ihrer Setzung sei demgegenüber nur eine »conditio sine qua non«.1074 1071 Kelsen,
Reine Rechtslehre (1960) 83, 86–89. Reine Rechtslehre (1960) 109. Vgl. Jabloner, Bemerkungen (1982) 52. 1073 Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) 154; vgl. Heidemann, Zurechnung (2005) 25–31. 1074 Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) 197. 1072 Kelsen,
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4. Teil: Amerika und die Welt
Insoweit, als die Grundnorm die Deutung eines bestimmten Tatbestandes als Recht überhaupt erst ermögliche, könne sie – »wenn ein Begriff der Kant’schen Erkenntnistheorie per analogiam angewendet werden darf – als die transzendental-logische Bedingung dieser Deutung bezeichnet werden.«1075 Dies war ein vorsichtiges, aber doch deutliches Abrücken von der direkten Bezugnahme auf die »Kantische Philosophie«, wie sie Kelsen noch in seiner Ersten Auflage vorgenommen hatte.1076 In langen Fußnoten verteidigte Kelsen seine Lehre von der Grundnorm u. a. gegen Einwände von Karl Engisch und Ilmar Tammelo, die die Grundnorm im Bereich des positiven Rechts gesucht hatten, und betonte ihren Charakter als »vorausgesetzte« Norm. Diese Charakterisierung erlaubte es ihm auch zu bejahen, dass die Rechtswissenschaft diese Grundnorm »voraussetze« – wogegen er ja in seinem Aufsatz »Was ist ein Rechtsakt?« 1952 noch Bedenken gehegt hatte. Die Grundnorm konstituiere die Einheit einer Rechtsordnung. Kelsen hielt auch in der Zweiten Auflage daran fest, »daß eine Rechtsordnung in Rechtssätzen beschrieben werden [könne], die sich nicht widersprechen.«1077 Dies, obwohl die einzelnen Normen einander sehr wohl widersprechen können: Normen seien keine Aussagen, die Prinzipien der Logik auf sie nicht anwendbar. Normwidersprüche müssten jedoch im Wege der Interpretation aufgelöst werden (z. B. mit dem Satz von der lex posterior), weshalb die Beschreibung der Rechtsordnung widerspruchsfrei erfolgen könne.1078 Besondere Beachtung verdient die Auseinandersetzung Kelsens mit dem Problem der Willensfreiheit, die in der Ersten Auflage noch fehlte; er fasste hier v. a. Gedanken zusammen, die er erstmals 1950 in der Zeitschrift »Ethics« und 1954 noch ausführlich in der ZÖR geäußert hatte.1079 Das Sprichwort »Alles verstehen heißt alles verzeihen« beruhe nach Kelsen »auf dem Irrtum, daß Kausalität Zurechnung ausschließt.« Kelsen, der ganz offensichtlich ein Determinist war, behauptete, dass es sich in Wirklichkeit gerade umgekehrt verhalte: Gerade, weil der Willen des Menschen kausal bestimmbar sei, könne ihm eine Handlung zugerechnet werden. Dies brachte er auf die Formel: »Dem Menschen wird nicht darum zugerechnet, weil er frei ist, sondern der Mensch ist frei, weil ihm zugerechnet wird.«1080 1075 Kelsen,
Reine Rechtslehre (1960) 205. Kelsen, Reine Rechtslehre (1934) 24. Vgl. dazu Walter, Grundnorm (1992) 55; Paulson, Das Ende der Reinen Rechtslehre? (2013) 67. 1077 Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) 208, 209. 1078 Es ist bemerkenswert, dass Kelsen noch kurz vor Abschluss des Manuskripts der 2. Auflage, im Mai 1959, begann, das Verhältnis von Recht und Logik völlig neu zu überdenken, vgl. dazu noch unten 892. Diese Gedanken flossen letztlich in das vorhin erwähnte, erst postum veröffentlichte Manuskript einer allgemeinen Normentheorie ein: Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen (1979) bes. 99 ff., 166 ff. Die in der 2. Auflage gefundene Lösung ist aus dieser Sicht noch ein letzter Versuch, die These von der Anwendbarkeit der Regeln der Logik auf Normen zu »retten«, den er letztlich aufgeben musste. Vgl. Walter, Entwicklung (1992) 17. 1079 Kelsen, Causality and Imputation (1950) = WiJ 324–349; Kelsen, Kausalität und Zurechnung (1954) = WRS 541–566. 1080 Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) 102. Vgl. schon Kelsen, Causality and Imputation (1950) 7 f. = WiJ 334; Kelsen, Kausalität und Zurechnung (1954) 137 = WRS 552. Vgl. dazu auch 1076
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5. Kapitel: Das Alterswerk
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Weitgehend in den Bahnen der Erstauflage bewegte sich das Kapitel »Recht und Staat« der Zweitauflage. Es enthielt nun auch einen eigenen Abschnitt über das Problem der Repräsentation, in dem Kelsen seine Polemik gegen Voegelin – ohne ihn namentlich zu nennen – noch einmal zusammenfasste.1081 Und auch das Kapitel »Staat und Völkerrecht« entsprach weitgehend dem gleichnamigen Kapitel aus der Ersten Auflage.1082 Kelsen lehnte erneut das dualistische Konzept von Völkerrecht und staatlichem Recht ab und erklärte innerhalb des monistischen Konzepts beide Varianten – den Primat des staatlichen und den Primat des Völkerrechts – nicht nur für »gleich korrekt«, sondern auch für »gleich berechtigt.«1083 Politische, über den Bereich der Rechtstheorie hinausreichende Aussagen zugunsten eines Primats des Völkerrechts, wie sie noch in der Ersten Auflage enthalten waren, fehlten in der Zweiten Auflage. Ja, es wäre sogar ein »Mißbrauch der einen oder der anderen Konstruktion, wenn […] aus ihnen Entscheidungen deduziert werden, die nur aufgrund des positiven [Rechts] getroffen werden können.«1084 Mit Jestaedt kann in diesen Sätzen eine »konsequentere Durchführung« des methodischen Ansatzes, aber auch eine desillusionierte Haltung gegenüber dem Völkerrecht gesehen werden.1085 Bemerkenswert ist insbesondere Kelsens Aussage, dass auch dann, wenn man die Souveränität der einzelnen Staaten zum Ausgangspunkt nehme, diese Staaten durch Verträge ihre eigene Souveränität zugunsten einer internationalen Organisation so einschränken können, dass diese »selbst Staatscharakter« erhält und »die vertragsschließenden Staaten, die ihr eingegliedert sind, ihren Charakter als Staaten verlieren.«1086 Auch wenn diese Sätze den modernen Leser/die moderne Leserin sofort an die Europäische Union denken lasen: ein Hinweis auf die 1957 abgeschlossenen Römischen Verträge oder auf sonst einen konkreten Vertrag fehlt, sodass nicht anzunehmen ist, dass Kelsen ein bestimmtes Beispiel im Auge hatte. Das Schlusskapitel bildete in der Zweitauflage jenes über die »Interpretation«, welches in der Erstauflage noch weiter vorne gestanden war; inhaltlich folgte es Hruschka, Zurechnungslehre (2005) 9 f., wonach Kelsen offenbar zu unrecht in dieser Frage auf Kant verweist – was aber an der Stichhaltigkeit von Kelsens Argumentation nichts ändert. 1081 Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) 301–304; vgl. zu Voegelins Repräsentations-Theorie oben 842. 1082 Der das Kapitel einleitende Abschnitt über das Wesen des Völkerrechts wurde später – in Form der Übersetzung durch Max Knight (Kelsen, Pure Theory [1967] 320–328), mit minimalen textlichen Abweichungen – in einer Festschrift für Leo Gross als eigener Aufsatz veröffentlicht: Kelsen, Essence (1968). 1083 Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) 345. Die Seiten 332–345 waren praktisch identisch mit einem Beitrag, den Kelsen schon 1958 in einer Festgabe für den russischstämmigen, 1925 nach Deutschland emigrierten Völkerrechtler Alexander N. Makarow (1888–1973) veröffentlicht hatte: Kelsen, Einheit (1958) = WRS 1819–1832, das Zitat auf Seite 247 = WRS 1831. 1084 Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) 341; wörtlich schon in Kelsen, Einheit (1958) 244 = WRS 1828. 1085 Jestaedt, Ein Klassiker (2017) LXII–LXIII. 1086 Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) 343; wörtlich schon in Kelsen, Einheit (1958) 245 = WRS 1829. Vgl. dazu Öhlinger, Einheit (2005) 167.
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4. Teil: Amerika und die Welt
weitgehend der Erstauflage. Der Abschnitt über Gesetzeslücken war allerdings in das Kapitel »Rechtsdynamik« verschoben worden, weil Kelsen erkannt hatte, dass die Lückenfüllung keine Aufgabe der Interpretation, sondern eine gesetzgebende Tätigkeit sei.1087 Auch unterschied Kelsen nunmehr zwischen authentischer und nichtauthentischer Interpretation; erstere erfolge durch ein zur Rechtssetzung befugtes Organ, letztere durch die Rechtswissenschaft. In all diesen Punkten folgte er im Wesentlichen jenen Gedanken, die er schon im Vorwort seiner Monographie »The Law of the United Nations« geäußert hatte. c) Der Anhang: »Das Problem der Gerechtigkeit« Kelsen enthielt sich im Haupttext der »Reinen Rechtslehre« von 1960 weitgehend einer Polemik gegen die Naturrechtslehre. Doch ließ er dem 354 Seiten langen Haupttext einen 87 Seiten langen »Anhang« mit der Überschrift »Das Problem der Gerechtigkeit« folgen. Es handelte sich um das deutschsprachige Original jenes Textes, den Kelsen schon 1959 in französischer Sprache unter dem Titel »Justice et Droit naturel [Gerechtigkeit und Naturrecht]« in den »Annales de philosophie politique« veröffentlicht hatte. Der französischsprachige Titel war passender als der deutschsprachige: Denn der Text gliederte sich in etwa zwei gleich lange Abschnitte über die »Normen der Gerechtigkeit« und über die »Naturrechtslehre«. Weshalb sich Kelsen zu einem derartigen Anhang zu seiner rechtstheoretischen Abhandlung entschlossen hatte, begründete er im (gemeinsamen) Vorwort damit, dass das »Problem der Gerechtigkeit als Wertproblem außerhalb einer Rechtstheorie liegt, die sich auf eine Analyse des positiven Rechts als der Rechtswirklichkeit beschränkt«, dass es aber »für die Rechtspolitik von entscheidender Bedeutung« sei.1088 Zu erinnern ist daran, dass ja auch Kelsens »General Theory« einen Anhang über »Naturrechtslehre und Rechtspositivismus« enthalten hatte; diese Vorgangsweise war damals wohl v. a. praktischen Überlegungen geschuldet, da der Anhang, im Gegensatz zum Haupttext von 1945, die Übersetzung einer bereits publizierten Schrift, durch einen anderen Übersetzer als jenem des Haupttextes, darstellte. Vielleicht aber hatte Kelsen diese Lösung so gut gefallen, vielleicht hatte er auch Zuspruch von Kollegen erfahren, dass er dieses Modell 1960 erneut wählte. Dass »Das Problem der Gerechtigkeit« ein selbständiger, abgeschlossener Text ist, der in keinem systematischen Zusammenhang mit dem Aufbauch des Buches »Reine Rechtslehre« steht, wird nicht zuletzt darin deutlich, dass Kelsen hier – sozusagen von einer anderen Perspektive – noch einmal auf seine eigene Lehre von der Grundnorm zu sprechen kam. Er ging hier auf die Frage ein, ob diese Lehre nicht auch als eine Naturrechtslehre angesehen werden könne. Die einzige Gemeinsamkeit erblickte er darin, dass es sich auch bei der Grundnorm nicht um eine positive Norm handle. 1087 Kelsen, 1088 Kelsen,
Reine Rechtslehre (1960) 251. Reine Rechtslehre (1960) VIII. Vgl. dazu auch Losano, Gerechtigkeit (2014) 68.
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Aber der Hauptunterschied bestehe darin, dass das Naturrecht auf die Frage nach der Geltung des positiven Rechts eine kategorische, die Grundnorm dagegen nur eine hypothetische Antwort gebe: »Wenn man das positive Recht als gültig betrachtet, so setzt man die Norm voraus, daß man sich so verhalten soll, wie [es} die historisch erste Verfassung […] vorschreibt.«1089 Dies war kein Widerspruch zu jenen Sätzen, die Kelsen zwei Jahre zuvor, 1958, Verdroß »in die Feder gelegt« hatte, um die Vereinbarkeit von Reiner Rechtslehre und Naturrecht zu ermöglichen; allein, die Tendenz wurde doch deutlich, dass Kelsen wieder auf deutliche Distanz zum Naturrecht gehen wollte. d) Übersetzungen und Rezeption der 2. Auflage Die Zweite Auflage der Reinen Rechtslehre wurde von deren Anhängern begeistert aufgenommen; Josef L. Kunz bezeichnete sie in einem Rezensionsaufsatz für die ZÖR – etwas voreilig – als »die definitive Formulierung der Reinen Rechtslehre«.1090 Schon zwei Jahre später erschienen eine portugiesische und eine französische Ausgabe; der Übersetzer der letzteren war Charles Eisenmann, der ja schon 1926 den »Grundriß« übersetzt hatte. Für die italienische Übersetzung der »Reinen Rechtslehre«, die 1966 erschien, hatte Noberto Bobbio 1961 den damals 22-jährigen Juristen Mario Losano (1969–2004 Professor für Rechtstheorie an der Universität Mailand) vorgeschlagen. Zwischen Losano und Kelsen entspann sich in der Folge ein reger Briefwechsel, in dem deutlich wurde, dass Kelsen sein Werk keineswegs als abgeschlossen sah; vielmehr regte er an, dass Losano noch an einigen Stellen Änderungen des Textes vornahm und u. a. in einer Fußnote auf Kelsens 1962 und 1965 publizierte Arbeiten zum Verhältnis von Logik und Recht hinwies.1091 Merkwürdigerweise enthalten die sonstigen Übersetzungen, wie insbesondere die englische durch Max Knight, die 1967 in der California University Press erschien, diese Änderungen nicht.1092 Zu Lebzeiten Kelsens erschienen außerdem noch Übersetzungen der Zweiten Auflage ins Spanische (1966) und ins Finnische (1968), postum auch ins Russische (1987), Koreanische (1999), Rumänische (2000), Serbische (2000), Schwedische (2008) und Japanische (2014).1093 1089 Kelsen,
Reine Rechtslehre (1960) 443. Formulierung (1961) 375. 1091 Jestaedt, Ein Klassiker (2017) LXXX–LXXXIV. Die von Jestaedt herausgegebene Studienausgabe der Reinen Rechtslehre enthält in Form von editorischen Fußnoten auch die Abweichungen vom deutschen Originaltext, die Kelsen für die italienische Ausgabe haben wollte. 1092 Vgl. aber Métall, Kelsen (1969) 93, wonach Kelsen 1966 noch persönlich die Druckfahnen zur englischen Übersetzung korrigierte. 1093 Die spanische und die russische Übersetzung wurden später durch neue Fassungen ersetzt; ferner erschienen zahlreiche Nachdrucke. Vgl. im Einzelnen die Übersichten bei Walter / Jabloner /Zeleny, Hans Kelsens stete Aktualität (2003) 215–217, sowie bei Jestaedt, Ein Klassiker (2017) LXIX–LXXI, dort auch zur Problematik des vielfach unterlassenen Wiederabdrucks des Anhangs zum »Problem der Gerechtigkeit«, der aber selbst vielfach eigene Übersetzungen und Nachdrucke erfuhr. 1090 Kunz,
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6. Die Europareise 1960 a) Der Feltrinelli-Preis Kurz nach Vollendung der 2. Auflage der Reinen Rechtslehre, am 14. Mai 1960, erhielt Kelsen ein Schreiben des Vizepräsidenten der Accademia Nazionale dei Lincei, deren Mitglied er seit fünf Jahren war. Die Akademie hatte beschlossen, Kelsen den »Premio Internazionale della Fondazione Antonio Feltrinelli« zu verleihen. Diese höchste Auszeichnung, die die italienische Nationalakademie vergeben konnte, war nicht nur in ideeller Hinsicht eine besondere Ehrung für Kelsen; sie war auch mit 20 Millionen italienischer Lire dotiert – was etwa $ 32.000 oder öS 830.720 entsprach.1094 Damit waren Kelsen und seine Frau – nach vielen Jahren materieller Entbehrungen – für den Rest ihrer beider Leben von materiellen Sorgen befreit. Obwohl die Preisverleihung schon in wenigen Wochen erfolgen sollte, beschlossen Hans und Grete Kelsen unverzüglich, zu diesem Anlass nach Italien zu reisen. Am 5. Juni kamen sie in Rom an und nächtigten hier zehn Tage im Grand Hotel.1095 Aufgrund der Bedeutung des Preises war die US-Botschaft vom Kommen des Gelehrten informiert worden1096 und schickte ihm einen Mitarbeiter, Edmund Schechter, als persönlichen Betreuer ins Hotel. Kelsen staunte nicht schlecht, als sich dieser im besten Wienerisch als ehemaliger Schüler zu erkennen gab. »Professor Kelsen hatte Tränen in den Augen und umarmte mich spontan«, erzählte Schechter später. »Er rief seine Frau und sagte aufgeregt: ›Schau her, dieser amerikanische Diplomat ist ein Student von mir aus Wien.‹«.1097 Die – von einem dichten wissenschaftlichen Programm begleitete – feierliche Zeremonie fand am 9. Juni 1960 am Sitz der Akademie, im Palazzo Corsini, in Gegenwart der versammelten Mitglieder und zahlreicher Ehrengäste, darunter des italienischen Staatspräsidenten Giovanni Gronchi, statt. Statutengemäß wurde der Feltrinelli-Preis in zwei Kategorien vergeben: Während Kelsen den für Ausländer vorbehaltenen Preis alleine erhielt, mussten sich den »inländischen« Feltrinelli-Preis gleich drei Italiener, der Anglist Mario Praz, der Altertumswissenschaftler Arnaldo Momigliano und der Philosoph Guido Calogero, teilen. Kelsen hielt eine Dankesrede (in englischer
1094 Vincenzo Arangio-Ruiz (Vizepräsident der Akademie), Schreiben an Hans Kelsen v. 14. 5. 1960, HKI, Nachlass Kelsen 15a13.57. Vgl. auch University Bulletin [of the University of California], Nr. 9/2 v. 18. 7. 1960, 12; San Francisco Chronicle v. 29. 6. 1960, Kopie in: HKI, Bestand Kelsen Persönliches. Kurswert berechnet mit https://www.oenb.at/dam/jcr:54fd2b24-7d61-4403-9aeb03d0932be145/historische_schilling_wechselkurse.xlsx [Abfrage vom 27. 11. 2019]. Laut https://www. eurologisch.at/docroot/waehrungsrechner/#/ [Abfrage vom 27. 11. 2019] entspricht dies einer Kaufkraft von heute (2019) € 394.550,46. 1095 Hans Kelsen, Schreiben an Vincenzo Arangio-Ruiz v. 20. 5. 1960, HKI, Nachlass Kelsen 15a13.57. 1096 Hamilton A. Mathes (US Information Agency), Schreiben an Hans Kelsen v. 27. 5. 1950, HKI, Nachlass Kelsen 15a13.57. 1097 Schechter, Viennese Vignettes (1983) 192.
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Sprache), in der er »darauf hinwies, daß die Akademie mit dieser Preisverleihung der Rechtswissenschaft Gleichberechtigung mit anderen Wissenschaften eingeräumt hat, während sein eigenes Verdienst nur darin bestanden habe, daß er vom Anfang seiner Tätigkeit auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft sich bemüht habe, eine exakte, wahrhaft wissenschaftliche Methode für die Erkenntnis des Rechts zu entwickeln; den Dank an die ›Accademia Nazionale dei Lincei‹ spreche er daher als ein Vertreter der Rechtswissenschaft im Namen dieser Wissenschaft aus.«1098 b) Der Mainzer Vortrag und das Fernsehinterview Etwa einen Monat später, am 5. Juli 1960, hielt Kelsen, auf Einladung des Mainzer Professors Ulrich Klug, mit dem er schon seit einiger Zeit in regem Briefkontakt stand,1099 im Auditorium Maximum der Mainzer Universität einen Vortrag über »Kausalität und Zurechnung«.1100 Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« berichtete ausführlich über den Vortrag: »Aber nicht nur die Frische und das leidenschaftliche Beteiligtsein des 79jährigen, auch die klare, virtuose Brillanz seiner Gedanken nötigen selbst dem Zuhörer, der seinen Glauben an den reinen Rechtspositivismus und seine Feindschaft gegen alle Metaphysik durchaus nicht zu teilen vermag, Bewunderung ab.«1101 Der spätere Münchener Rechtsphilosoph Lothar Philipps erinnerte sich an die an den Vortrag anschließende Diskussion wie folgt: »Ein Student fragte Kelsen in deutlich kritischer Weise, ob der von ihm vertretene Positivismus nicht wieder zu einer Diktatur wie der vergangenen führen könne. Kelsen antwortete: ›Ob eine solche Diktatur wieder eintritt, das hängt von keiner Rechtstheorie ab, sei sie nun positivistisch oder nicht. Das hängt nur davon ab, ob Menschen, jetzt die Menschen Ihrer Generation, rechtzeitig ›Halt!‹ sagen‹«.1102 Am 19. Dezember hielten Nationalrat und Bundesrat der Republik Österreich eine feierliche Sitzung aus Anlass des 15. Jahrestages des Wiederbeginnes parlamentarischer Tätigkeit ab. Nationalratspräsident Leopold Figl hielt eine Ansprache, in der er auch Kelsens und dessen Mitwirkung am B-VG »gedachte«.1103 Der Klub sozialistischer Abgeordneter und Bundesräte hatte Kelsen auch eingeladen, persönlich zu dieser Festsitzung zu kommen, was dieser jedoch aus gesundheitlichen Gründen
1098 Métall, Kelsen (1969) 100. Der damit nahezu wörtlich wiedergegebene Redetext in: HKI, Nachlass Kelsen 15a13.57. 1099 Ulrich Klug, Brief an Hans Kelsen v. 17. 7. 1959, in: HKI, Nachlass Kelsen 9f4.38. Der Brief ist (allerdings nur auszugsweise und ohne die erwähnte Einladung) abgedruckt bei Kelsen/Klug, Rechtsnormen (1981) 30–35. Zur Kelsen-Klug-Debatte siehe noch ausführlich unten 892 ff. 1100 Der Vortrag wurde noch im selben Jahr im »Archiv für Rechts‑ und Sozialphilosophie« publiziert: Kelsen, Kausalität und Zurechnung (1960). 1101 FAZ v. Juli 1960 (Zeitungsausschnitt in Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, RW 265–19440). 1102 Philipps, Von Puppen aus Russland (2007) 196. Dieselbe Episode wird auch bei Esser, Bewußtwerden (1968) 102, mit leicht abgewandeltem Wortlaut wiedergegeben. 1103 Leopold Figl, in: Fünfzehn Jahre Parlament (1960) 4.
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ablehnen musste.1104 Doch gab Kelsen ein Fernsehinterview für den Österreichischen Rundfunk, in dem er seine Rolle beim Zustandekommen des B-VG schilderte, und das am 9. November 1960 ausgestrahlt wurde.1105 Es ist dies die einzige bekannte audiovisuelle Aufzeichnung einer Rede Kelsens.
7. Der 80. Geburtstag a) Vorträge, Ehrungen und Auszeichnungen Es wird Kelsen seltsam berührt haben, als er im Mai 1956 ein Schreiben des Dekans der Wiener rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät, Theodor Pütz, bekam, in dem er an seine exakt 50 Jahre zurückliegende Promotion erinnert wurde und mit dem er ein »erneuertes Doktordiplom« zugeschickt bekam.1106 Derartige »Goldene Doktordiplome« wurden und werden zwar nicht an jeden Promovenden, aber doch an eine relativ große Zahl von Alumni verliehen; Urkunde und Begleitschreiben war anzusehen, dass sie Massenfertigungen waren; auf die besonderen Leistungen Kelsens wurde nicht eingegangen. Zu seinem Geburtstag, der sich im Oktober desselben Jahres zum 75. Mal jährte, gratulierten ihm immerhin der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer, der österreichische Bundespräsident Theodor Körner, der Wiener Bürgermeister Franz Jonas, die ÖAW und der VfGH.1107 Erst der 80. Geburtstag Kelsens am 11. Oktober 1961 wurde von der rechts‑ und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien zum Anlass genommen, Kelsen ein Ehrendoktorat zu verleihen. Da Kelsen an derselben Fakultät schon 1906 zum JDr. promoviert worden war, war eine Wiederholung dieses Vorganges unmöglich, sodass die Fakultät beschloss, Kelsen ein Ehrendoktorat der Staatswissenschaften (Dr.rer.pol. h. c.) zuzuerkennen. Der entsprechende Antrag wurde von Verdroß gestellt und von Merkl nachdrücklich unterstützt. Dennoch fasste die Fakultät ihren Beschluss nicht einstimmig, sondern mit einer Gegenstimme.1108 Noch bevor Kelsen aber nach Österreich kam, bereiste er zunächst Deutschland und die Schweiz. Am 18. Juli 1961 – vier Wochen vor dem Bau der Berliner Mauer – kam Kelsen nach West-Berlin, wo er an der juristischen Fakultät der Freien Universität Berlin einen Vortrag zum Thema »Was ist die Reine Rechtslehre?« hielt 1104 Bruno Pittermann, Robert Uhlir und Franz Olah (Klub der sozialistischen Abgeordneten und Bundesräte), Schreiben an Hans Kelsen v. 16. 10. 1960 und Antwortschreiben v. 24. 10. 1960, in: HKI, Nachlass Kelsen 15c62.57. Nationalratspräsident Figl hatte Kelsen am 30. 9. 1960 ein Telegramm geschickt, in dem er ihm für die »hervorragenden Verdienste und [sic! wohl: um] das Zustandekommen dieses Gesetzgebungswerkes« dankte, vgl. a. a. O. 1105 Im Internet abrufbar: https://tvthek.orf.at/profile/Archiv/7648449/Hans-Kelsen-und-der -Entw urf-der-Bundesverfassung/13396741/Hans-Kelsen-und-der-Entwurf-der-Bundesverfassung /13488648 [Zugriff: 5. 9. 2019]. 1106 Theodor Pütz, Schreiben an Hans Kelsen v. 15. 5. 1956, HKI, Nachlass Kelsen 15a16.57. 1107 Métall, Kelsen (1969) 87. 1108 UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Personalakten, J PA 331.
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und am 20. Juli von der philosophischen Fakultät ein Ehrendoktorat empfing.1109 Im Sender RIAS (Radio im amerikanischen Sektor) trug Kelsen zum Thema »Rechtspositivismus und Naturrechtslehre« vor.1110 Am 25. Juli reiste Kelsen weiter nach Köln, wo er am folgenden Tag eine Gastvorlesung zum Thema »Vergeltung und Kausalität« hielt.1111 Im August weilten Hans und Grete Kelsen im Hotel »Reber« im schweizerischen Locarno und reisten Anfang September von dort nach Salzburg, wo sie im Hotel »Mirabell« abstiegen und wo Hans Kelsen an der Sitzung des Institut de Droit International (4.–13. September) teilnahm. Erst danach kamen beide nach Wien.1112 (Hans) Christian Broda, den Kelsen einst aus der Taufe gehoben hatte und der mittlerweile (1960–1966 und 1970 –1983) österreichischer Justizminister war, holte das Ehepaar am Westbahnhof ab und begleitete es am Freitagabend in die Staatsoper, wo man »Don Giovanni« gab.1113 Erst nach seiner Ankunft in Wien erklärte Kelsen, dass er nicht lange bleiben könne, weshalb die akademische Feier auf Montagvormittag, den 18. September, vorverlegt werden musste. Dies sorgte für einige organisatorische Schwierigkeiten.1114 Als Laudator war zunächst der Präsident des Verfassungsgerichtshofes und Ordinarius des Verfassungsrechts Walter Antoniolli vorgesehen, der jedoch absagen musste, weshalb Günther Winkler diesen Part übernahm.1115 Die Einladungen waren zu spät verschickt worden, sodass nur wenige Gäste zu der schlichten Zeremonie im Kleinen Festsaal kamen; nicht einmal die Promotionsurkunde war rechtzeitig fertiggestellt worden, sondern musste ihm Ende Oktober nach Berkeley nachgeschickt werden.1116 Diese hielt fest, dass Kelsen »mit großem Scharfsinn (summo ingenio) eine in viele Sprachen übersetzte Theorie des reinen Rechts (theoriam iuris sinceri) entwickelt, die Verfassungsgerichtsbarkeit (iuris dictionem constitutionalem) in die österreichische 1109 Wilhelm Wenger (Prodekan der juristischen Fakultät der FU Berlin), Schreiben an Hans Kelsen v. 22. 6. 1961, HKI Nachlass Kelsen 15c41.57; Ernst Fraenkel (Dekan der philosophischen Fakultät der FU Berlin), Schreiben an Hans Kelsen v. 15. 5. 1961, HKI Nachlass Kelsen 15c50.57. 1110 Der Vortrag wurde am 16. 10. 1961 um 22.00 Uhr auf RIAS I ausgestrahlt: Robert H. Lochner und Otmar Wass (RIAS), Schreiben an Hans Kelsen v. 10. 10. 1961, in: HKI, Nachlass Kelsen 15c13.57; vgl. Métall, Kelsen (1969) 90, 98. 1111 Einladungsschreiben des Dekans und Nachweis von zwei Übernachtungen im Kölner Hotel Hermes, UA Köln, Zug 598/143. Vgl. auch Aktennotiz UA Köln, Zug 571/105. 1112 Hans Kelsen, Schreiben an den Wiener Dekan Roland Grassberger v. 6. 7. 1961, in: UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Personalakten, J PA 331; Alfred Verdross, Korrespondenzkarte an Richard Meister vom 18. 8. 1961, in: Archiv der ÖAW, Personalakt Hans Kelsen. 1113 Christian Broda, Schreiben an Hans Kelsen v. 8. 9. 1961, in: HKI Nachlass Kelsen 15c32.57. Er erwähnt in dem Schreiben auch, dass er seine Mutter verständigen werde; ob es zu einem Wiedersehen zwischen Viola Broda und dem Ehepaar Kelsen kam, ist ungewiss. 1114 Nicht unterschriebener, möglicherweise von Alfred Verdroß stammender Aktenvermerk v. 18. 9. 1961, in: UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Personalakten, J PA 331. 1115 Roland Grassberger (Dekan), Schreiben an Walter Antoniolli v. 14. 7. 9161, in: UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Personalakten, J PA 331; Günther Winkler, Interview v. 25. 9. 2008. 1116 Franz Arnold (Rektor der Universität Wien), Schreiben an Hans Kelsen v. 30. 10. 1961, HKI, Nachlass Kelsen 15c3.57.
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Verfassung eingeführt und so den Ruhm der österreichischen Wissenschaft vermehrt« habe.1117 Kelsen zeigte sich von der Ehrung seiner Alma Mater gerührt und erklärte: »In dieser Stunde wurde vieles wieder gutgemacht, was mich lange Zeit überaus geschmerzt hat.«1118 Noch am selben Tag flog Kelsen wieder heim. Daher konnte er weder das »Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst«, die höchste Auszeichnung für Wissenschaftler in Österreich, die ihm Bundespräsident Schärf verlieh,1119 noch das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland, das ihm gleichfalls zuerkannt wurde,1120 persönlich entgegennehmen. Und höchstwahrscheinlich musste er sich auch in New York vertreten lassen, wo er am 27. September ein Ehrendoktorat der New School erhielt.1121 Seinen Geburtstag am 11. Oktober feierte Hans Kelsen »still in seinem Häuschen in Berkeley«.1122 b) Vier Festgaben für Hans Kelsen Nicht weniger als vier Zeitschriften nahmen den 80. Geburtstag Kelsens zum Anlass, ihm ein Heft oder Doppelheft zu widmen.1123 Das »Archiv für Rechts‑ und Sozialphilosophie« brachte vier Beiträge zu Ehren des Jubilars, darunter einen von Karel Engliš über Kelsens Gerechtigkeitslehre,1124 was insofern bemerkenswert ist, als Engliš, einer der letzten Vertreter von Weyrs »Brünner Schule«, kurz vor Veröffentlichung des Aufsatzes, am 15. Juni 1961, gestorben war. Sein Beitrag war sozusagen ein letzter Gruß der durch Faschismus und Kommunismus mundtot gemachten Brünner Schule an Hans Kelsen.1125 In der österreichischen Zeitschrift »Forum« veröffentlichten Ernst Topitsch, René Marcic und Norbert Leser je einen Aufsatz; in der kolumbianischen Zeitschrift »Estudios de Derecho« hatten sich sechs südamerikanische Autoren, darunter Luis Recaséns Siches1126 versammelt, um Kelsen zu feiern. 1117 Ein Probedruck der Urkunde sowie eine deutsche Übersetzung in: UA Wien, Senatsakten, S 226.26. 1118 Kelsen, zit. n. Topitsch, Ideologien (1961) 358. 1119 Alfred Verdross, Brief an Hans Kelsen v. 14. 3. 1961, HKI, Nachlass Kelsen 16b12.59. Die mit 28. 9. 1961 datierte Urkunde in HKI, Nachlass Kelsen 15a9.57. Die Würdigung, die dieser hohen Auszeichnung zugrunde lag, wurde von Verdroß formuliert: Richard Meister, Schreiben an Alfred Verdroß v. 7. 8. 1951, in: Archiv der ÖAW, Personalakt Hans Kelsen; die Würdigung ebenda. Vgl. auch Métall, Kelsen (1969) 100. 1120 Der Verleihungsakt im Bundesarchiv Koblenz, B 122/38740. Vgl. Métall, Kelsen (1969) 100. 1121 Métall, Kelsen (1969) 98. 1122 Métall, Kelsen (1969) 91. Von dort bedankte er sich u. a. für ein Glückwunschschreiben der Wiener Fakultät: Hans Kelsen, Schreiben an Dekan Heinrich Demelius v. 4. 10. 1961, in: UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Personalakten, J PA 331. 1123 Métall, Kelsen (1969) 95. 1124 Engliš, Kelsens Gerechtigkeitslehre (1961). 1125 Einer der letzten Aufsätze, die Kelsen noch zu seinen Lebzeiten publizierte, war eine Polemik gegen seinen bereits verstorbenen Freund Engliš, der 1964 behauptet hatte, dass es keinen logischen Widerspruch zwischen zwei Normen geben könne: Kelsen, Nochmals: Recht und Logik (1967). 1126 Recaséns Siches, Balance (1961).
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Den umfangreichsten Blumenstrauß überreichte die ZÖR mit 18 Beiträgen, geschrieben sowohl von Vertreter der »alten Garde«, als auch von der »neue[n] Gelehrtengeneration« der Reinen Rechtslehre in Österreich, wie es Verdroß in einem Begleitschreiben, mit dem er das Buch nach Berkeley schickte, formulierte.1127 Merkl schrieb einen Aufsatz über »Reine Rechtslehre und Moralordnung«,1128 Verdroß einen über »Recht, Staat und Reich in der Dichtung Grillparzers«, und auch Heydte, Kunz, Marcic, Pitamic und viele andere Kollegen verfassten Beiträge mit mehr oder minder starkem Bezug zu Kelsen. Aus heutiger Sicht am bedeutsamsten ist wohl der Aufsatz des damals erst 30-jährigen Merkl-Schülers Robert Walter über »Wirksamkeit und Geltung«. Er sah darin die Behauptung Kelsens, eine Rechtsordnung verliere ihre Geltung, wenn sie aufhöre, wirksam zu sein »nicht als wissenschaftliches, sondern als denkökonomisches« Argument an.1129 Es sei zwar zweckmäßig, aber nicht unbedingt notwendig, dass sich Juristen mit Rechtsordnungen beschäftigen, die im Großen und Ganzen wirksam seien. Damit gelang es ihm, Geltung und Wirksamkeit vollkommen voneinander zu trennen und diese methodische Unschärfe, die die Reine Rechtslehre noch immer aus dem älteren Rechtspositivismus mitgeschleppt hatte, zu bereinigen.1130 Zu den Autoren, die Beiträge für die ZÖR eingereicht hatten, zählte auch der Soziologe August Maria Knoll mit einem Aufsatz über »Scholastisches Naturrecht in der Frage der Freiheit«. Doch lehnte Verdroß den Abdruck dieses Aufsatzes ab, weil dieser in einem »auffallend polemischen Tone« verfasst sei, ja sogar derart beleidigend, »daß ich mich durch die Veröffentlichung einer strafbaren Handlung mitschuldig machen würde.«1131 Ernst Topitsch, dem Knoll das Manuskript zu lesen gegeben hatte, berichtete später, dass weder er noch der Autor wussten, was Verdroß gemeint haben könnte; möglicherweise hatte Verdroß Anstoß an jenen Passagen genommen, in denen Knoll die wenig rühmliche Rolle der Katholischen Kirche bei den Ereignissen der Jahre 1933/34 und 1938 dargestellt hatte. Knoll entschloss sich, das Manuskript noch weiter auszubauen und – unter dem Titel »Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht« – 1962 selbständig zu publizieren. Das Werk trug ihm von katholischer Seite viel Kritik ein; im gegebenen Zusammenhang hervorhebenswert ist vor allem jene Passage, in der Knoll von einem »katholische[n] Flügel der Hans-Kelsen-Schule« sprach und dabei Ernst Karl Winter, Josef Dobretsberger und Ernst Topitsch namentlich nannte; auch er selbst betonte, dass Kelsen sein Lehrer gewesen sei.1132 1127 Alfred
Verdross, Brief an Hans Kelsen v. 3. 10. 1961, HKI, Nachlass Kelsen 15c2.57. zu diesem Aufsatz schon oben 775. 1129 Kelsen, Reine Rechtslehre (1960) 215 f.; Walter, Wirksamkeit und Geltung (1961) 534. 1130 Walter kehrte damit gewissermaßen zu einem Ansatz zurück, den Pitamic schon 1917 vertreten hatte; vgl. oben 189 und Walter, Wirksamkeit und Geltung (1961) 537 Anm. 31, wo er allerdings auch ausführte, dass Pitamic später von dieser Ansicht und überhaupt von der Reinen Rechtslehre wieder abrückte. 1131 Alfred Verdross, Brief an August Maria Knoll v. 29. 6. 1961, abgedruckt bei Topitsch, Einleitung (1968) 11 f. 1132 Knoll, Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht (1962) 26, 113. 1128 Siehe
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4. Teil: Amerika und die Welt
Abb. 53: Gedenktafel für Hans Kelsen im Eingangsbereich zu Stephens Hall, Berkeley. Foto 2013.
c) Die »Hans Kelsen Graduate Social Sciences Library« In seiner neuen Heimat Kalifornien wurde Hans Kelsen zwar nicht an seinem 80. Geburtstag, sondern mit fast dreijähriger Verspätung, dafür aber auf eine ganz besondere Art und Weise ausgezeichnet: Die Regents hatten 1959 ein Gebäude am Campus, die 1923 nach Plänen von John C. Howard errichtete Stephens Hall, von der Campus Student Union, einer Studentenverbindung, gekauft und zu einer Bibliothek umgestaltet.1133 Am 17. März 1964 erhielt Kelsen einen Brief des Präsidenten der UC Berkeley, Clark Kerr, in dem ihm der Beschluss der Regents mitgeteilt wurde, dass diese Bibliothek den Namen »Hans Kelsen Graduate Social Sciences Library of the University of California« tragen werde.1134 Kelsen ließ es sich nicht nehmen, die Bibliothek noch vor der Einweihungsfeier zu besichtigen – und musste feststellen, dass sich kein einziges seiner Bücher darin befand! Nun kramte er in seiner Wohnung einige seiner Werke, die er entbehren konnte hervor, verleibte sie der Bibliothek ein und quittierte den unverzeihlichen Lapsus, der der Universitätsleitung passiert war, mit einigen launigen Worten.1135 1133
Stadtman, Centennial Record (1968) 67, 132. Clark Kerr, Schreiben an Hans Kelsen v. 17. 3. 1964 und Antwortschreiben v. 18. 3. 1964, beide in HKI, Nachlass Kelsen 15a4.57; vgl. Métall, Kelsen (1969) 101. 1135 So nach der Erzählung von Gerold Herrmann, übermittelt durch Heinz Mayer. – Métall, Kelsen (1969) 101, beendet seine Biographie mit dem Hinweis auf diese Bibliothek und dem Horaz-Zitat »exegi monumentum aere perennius« (»Ich habe ein Denkmal errichtet, dauerhafter als 1134
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8. Die Diskussion mit H. L. A. Hart Aus der österreichischen Juristenwelt vor 1938 war die Familie Ehrenzweig nicht wegzudenken. Schon der Großvater, Adolf (Aaron) Ehrenzweig (1837–1900), hatte sich als Versicherungsrechtler einen Namen gemacht; seine beiden Söhne Armin (1864–1935) und Albert sr. (1875–1955) habilitierten sich an der Universität Wien für Zivilrecht bzw. Zivilprozessrecht, und ihnen tat es der Enkelsohn, Albert jr. (1906–1974), im Juni 1937 mit einer Schrift über »Die Schuldhaftung im Schadenersatzrecht« gleich.1136 Hans Kelsen wird diesen »Ehrenzweig der dritten Generation« vermutlich schon gekannt haben, als dieser 1924–1928 an der Universität Wien studiert hatte, aber es gibt keine Hinweise auf nähere Kontakte Kelsens zu ihm oder sonst zu irgendeinem Sproß der weitverzweigten Familie vor 1938. Dies änderte sich, als Albert Ehrenzweig jr. im Gefolge des »Anschlusses« aus Österreich emigrieren und im Alter von 32 Jahren noch einmal ganz von vorne anfangen musste. 1941 erwarb er in Chicago einen LL. D., 1948 wurde er Professor an der Berkeley Law School, wo er sich v. a. mit rechtsvergleichenden Arbeiten einen Namen machte.1137 Mit dem 25 Jahre älteren Rechtsphilosophen verband Ehrenzweig bald eine enge Freundschaft, und im Rahmen seiner Vorlesung aus »Comparative Jurisprudence« lud er Kelsen jedes Semester zu einem Gastvortrag ein, in dem Kelsen bis in die 1960er Jahre hinein Gelegenheit hatte, vor Studenten der Rechtswissenschaften über seine Reine Rechtslehre zu sprechen.1138 Ehrenzweig war es auch, der am 17. November 1961 eine außergewöhnliche Podiumsdiskussion an der Berkeley Law School initiierte und organisierte. Etwa ein Jahr, nachdem Kelsen die Zweite Auflage der »Reinen Rechtslehre« herausgebracht hatte, 1961, erschien in einem englischen Verlag »The Concept of Law« von H. L. A. (Herbert Lionel Adolphus) Hart. Der 53-jährige Brite, der seit neun Jahren den Lehrstuhl für Jurisprudence der University of Oxford innehatte, hatte auf 273 Seiten das zuwege gebracht, worum sich Kelsen bis dahin vergeblich bemüht hatte: die Idee des Rechtspositivismus so darzustellen, dass dieser für Juristinnen und Juristen des angloamerikanischen Rechtskreises leicht verständlich war. Gänzlich verschieden Erz«: Ode 3,30). Wie recht er damit hatte, zeigte sich, als die Kelsen-Bibliothek bereits 1994 wieder aufgelöst und ihre Bestände verschiedenen anderen Bibliotheken einverleibt wurden. In Stephens Hall wurde zunächst die Asian American Studies Library untergebracht, die 1997 in der Ethnic Studies Library aufging. An Hans Kelsen und die ehemalige Hans Kelsen Graduate Social Sciences Library erinnert aber bis heute eine Gedenktafel im Eingangsbereich, vgl. die Abbildung derselben bei Pils, Terminologiewörterbuch (2016) II. 1136 Olechowski/Ehs/Staudigl, Fakultät (2014) 369 f. 1137 Stiefel/Mecklenburg, Deutsche Juristen (1991) 58. Auch sein Vater, Albert Ehrenzweig sr., musste mit 64 Jahren noch emigrieren und folgte seinem Sohn in die USA, kehrte von dort aber nach dem Krieg wieder nach Österreich zurück: Olechowski/Ehs/Staudigl, Fakultät (2014) 394. 1138 Richard Buxbaum, Interview v. 3. 7. 2007; Gerold Herrmann, Interview v. 21. 10. 2008. Nach Ehrenzweigs Tod gab Max Knight ein Buch mit allgemeinen Betrachtungen Ehrenzweigs über das Recht heraus, in dem sich dieser auch ausführlich mit Kelsens Rechtslehre beschäftigte: Ehrenzweig, Law: A personal View (1977). Vgl. zu den wissenschaftlichen Positionen Ehrenzweigs im Vergleich zu jenen Kelsens Rentsch, Kelsen’s Psychoanalytic Heritage (2016).
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Abb. 54: Hans Kelsen in Berkeley, 1965.
waren daher Kelsens »Reine Rechtslehre« und Harts »Concept of Law«, soweit es den Zugang und den Schreibstil betraf; gleich oder zumindest sehr ähnlich dagegen waren ihre Hauptanliegen.1139 Beide grenzten das positive Recht sowohl vom Naturrecht als auch von faktischen Machtverhältnissen ab und bemühten sich um eine, der Eigengesetzlichkeit des Rechts gemäße Rechtstheorie. Natürlich gab es auch in einigen Sachfragen Unterschiede: Das, was Kelsen (in seinen Schriften vor 1960) als »sekundäre Norm« bezeichnet hatte, d. h. das Gebot oder Verbot an den Rechtsunterworfenen, wurde von Hart als »Primärnorm« bezeichnet und umgekehrt Kelsens »primäre Normen« (die Ermächtigung an den Staat zur Setzung einer Sanktion) als »Sekundärnorm«.1140 Und während Kelsen mit der Grundnorm eine philosophisch höchst anspruchsvolle – freilich vielfach Kritik anregende – Geltungsbegründung des Rechts vorgelegt hatte, nahm Hart einfach die Existenz des positiven Rechts als gegeben – als positiv – hin.1141 Als Ehrenzweig erfuhr, dass Hart im Herbstsemester 1961/62 als Gastprofessor an der UC Los Angeles weilte, lud er ihn kurzerhand nach Berkeley ein, nicht etwa zu einem Vortrag, sondern zu einer Podiumsdiskussion mit Hans Kelsen. Hart willigte ein und schlug drei Themenfelder vor, über die diskutiert werden sollte, womit 1139 In der Sekundärliteratur herrscht erstaunlicher Dissens bezüglich der Frage, inwieweit die Lehren Kelsens und Harts einander ähneln oder nicht, vgl. dazu Kletzer, United Kingdom (2010) 145. 1140 Hart, Concept (1961) 35. 1141 Lacey, Hart (2004) 249; Jestaedt, Ein Klassiker (2017) XC.
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sich Kelsen einverstanden erklärte. Für die Veranstaltung wurde der größte Hörsaal von Boalt Hall, des Gebäudes der Juristenfakultät, ausgewählt, und dennoch war der Raum bis auf den letzten Platz besetzt. Etwa 250 Personen, Juristen und Philosophen, darunter Ronald Dworkin (Harts späterer Nachfolger auf dem Oxforder Lehrstuhl), waren gekommen um das Aufeinandertreffen des 80-jährigen, kleinen Österreichers mit dem fast dreißig Jahre jüngeren und zwei Köpfe größeren Briten mitzuverfolgen.1142 Der erste der drei von Kelsen und Hart miteinander vereinbarten Diskussionspunkte zielte auf den Ausdruck »Rules of law in a descriptive sense«, den Kelsen in seiner »General Theory«1143 wiederholt verwendet hatte, also die Unterscheidung von »Rechtsnormen« und »Rechtssätzen«. Kelsen empfahl Hart, die Schriften des deutschen Logikers Hermann Lotze (1817–1881) zu lesen, was sich Hart weigerte zu tun.1144 Die zweite, von Hart an Kelsen gestellte Frage betraf die Definition des Delikts: Kelsen hatte in seiner »General Theory« erklärt, dass dieser Begriff fast immer in einem moralisch-wertenden Sinne, etwa dass eine Handlung »sozial unerwünscht« sei, verwendet werde, aber dass es praktisch unmöglich sei, ihn rein juristisch zu definieren. Auch Hart war der Ansicht, dass sich ein Delikt von anderen, unter Sanktion stehenden Verhaltensweisen dadurch unterscheide, dass es »in some way condemned« [in gewisser Weise verwerflich] sei, musste aber auch hier einsehen, dass es schwierig sei, eine derartige »condemnation« nachzuweisen. Zuletzt wurde über das Verhältnis von Recht und Moral diskutiert, was Kelsen Gelegenheit gab, seine neuesten Erkenntnisse über den Normenkonflikt zu präsentieren.1145 Wie Hart später berichtete, zeigte sich Kelsen (der einen Monat zuvor sein 80. Lebensjahr vollendet hatte) in der Diskussion überraschend vital; er hob seine Stimme, schrie fast, und als er mit Stentorstimme ausrief »norm is norm«, erschrak Hart so sehr, dass er mitsamt seinem Rollsessel nach hinten kippte.1146 Auch wenn diese Slapstick-Einlage nicht gewesen wäre: Allgemein wurde Kelsen als der Gewinner in der Diskussion angesehen. Aber auch Hart hatte sich nicht schlecht geschlagen, und 1142 Hart, Kelsen Visited (1963) 709; Lacey, Hart (2004) 251; Richard Buxbaum, Interview v. 3. 7. 2007. – 50 Jahre nach dieser Begegnung, im September 2010, verantaltete John Gardner, Harts Nach-Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Jurisprudence in Oxford, die Tagung »Kelsen Revisited«, vgl. Duarte d’Almeida/Gardner /Green, Kelsen Revisited (2013). Vgl. auch Vinx, The Kelsen-Hart Debate (2016). 1143 Bei Hart, Kelsen Visited (1963), war dies das einzige Werk von Kelsen, das von Hart zitiert wurde; auch in seinem »Concept of Law« stützte er sich hauptsächlich auf diese Monographie (bei Hart, Concept [1961] 255 f. wurde auch Kelsen, Sanctions in International Law [1946] und Kelsen, Principles [1952] zitiert); die »Reine Rechtslehre« (1960) blieb unberücksichtigt. Dies korrespondiert mit Harts bei anderer Gelegenheit geäußerter Meinung, es sei nicht nötig, Deutsch zu können, um Kelsen zu verstehen: Lacey, Hart (2004) 161. Dies mag füglich bezweifelt werden, allein, es verdeutlicht doch die immense Bedeutung der »General Theory« für die weltweite Verbreitung der Reinen Rechtslehre. 1144 Hart, Kelsen Visited (1963) 715. 1145 Hart, Kelsen Visited (1963) 722, 727. 1146 Hart, Kelsen Visited (1963) 710; Lacey, Hart (2004) 251; Richard Buxbaum, Interview v. 3. 7. 2007.
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es scheint, dass beide Sympathien für den jeweils anderen entwickelten. Zwei Tage später, am Sonntagnachmittag, besuchte Hart Kelsen zu einem Tee in dessen Heim in der Los Angeles Avenue.1147 Langfristig allerdings stellte sich Hart als der eigentliche Sieger in der Auseinandersetzung mit Kelsen heraus: Sein rechtstheoretisches Werk wurde in der angloamerikanischen Welt breit rezipiert, während dasjenige Kelsens bis in jüngste Zeit nahezu unbekannt blieb. In einer 1998 erschienenen Monographie über Rechtspositivismus in der amerikanischen Rechtstheorie wurde Kelsen nicht einmal erwähnt.1148
9. Recht und Logik a) Die Debatte mit Ulrich Klug In seinem 78. Lebensjahr, in einem Alter also, in dem viele Wissenschaftler zu schreiben aufgehört haben, begann für Kelsen ein neuer Abschnitt in der Entwicklung seiner »Reinen Rechtslehre«, und er scheute sich nicht, ihre Fundamente in denkbar radikalster Art und Weise zu überdenken. Den Anlass dazu bot das Buch »Juristische Logik« des Mainzer Professors Ulrich Klug. Unter »juristischer Logik« verstand dieser »die Lehre von den im Rahmen der Rechtsfindung zur Anwendung gelangenden Regeln der formalen Logik«.1149 Das Wort »Rechtsfindung« war für Kelsen derart unklar, dass er im März 1959 beschloss, einen Brief an Klug zu schreiben und ihn direkt zu fragen, ob seiner Ansicht nach »die Regeln der Logik auf das Recht, als auf Normen, oder auf die Rechtswissenschaft, als auf die Erkenntnis dieses Gegenstandes, oder auf beides Anwendung« fänden.1150 Klug antwortete ihm, dass die Regeln der Logik auf beides zuträfen, was Kelsen jedoch nicht befriedigte. Er schickte ihm den Entwurf eines Aufsatzes »Zur Logik der Normen«, in dem er sich ausführlich mit Klug auseinandersetzte, und erklärte, den Text nicht publizieren zu wollen, ohne dessen Stellungnahme dazu erhalten zu haben.1151 In diesem – als solchem niemals veröffentlichten – Manuskript erklärte Kelsen, dass logische Prinzipien nicht direkt auf Normen anwendbar seien, da logische Prinzipien »nach traditioneller Anschauung – nur auf Aussagen anwendbar sind, die wahr oder unwahr sein können«. Allerdings 1147 Lacey,
Hart (2004) 251. A Path not taken (2010) 355. Auch in der »Cambridge History of Law in America« werden im Kapitel zur Rechtstheorie im 20. Jahrhundert zwar H. L. A. Hart und sein Schüler John Rawls, nicht jedoch Kelsen erwähnt: Fisher, Legal Theory (2008) 47. 1149 Klug, Juristische Logik (1951) 6. Wie aus dem nachfolgenden Schriftwechsel zwischen Kelsen und Klug hervorgeht, war Kelsen die 1958 erschienene 2. Auflage dieses Buches zunächst noch nicht bekannt. 1150 Hans Kelsen, Brief an Ulrich Klug v. 6. 3. 1959, in: Kelsen/Klug, Rechtsnormen (1981) 9. Vgl. dazu auch Wiederin, Spätwerk (2009) 351. 1151 Ulrich Klug, Brief an Hans Kelsen v. 27. 4. 1959 und Antwortschreiben Kelsens v. 15. 5. 1959 mit Manuskript, alle in: Kelsen/Klug, Rechtsnormen (1981) 10–29. 1148 Telman,
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sei eine indirekte Anwendbarkeit möglich, denn die logischen Prinzipien seien auf die – die Rechtsnormen beschreibenden – Rechtssätze anwendbar.1152 Diese Aussage findet sich auch in der 2. Auflage von Kelsens »Reiner Rechtslehre«, die etwa zur selben Zeit entstand.1153 Kelsen und Klug setzten ihren Briefwechsel jedoch noch weiter – bis 1965 – fort. Dabei wurden allerdings die Differenzen zwischen den beiden Gesprächspartnern immer größer statt kleiner. Während Kelsen noch ganz von der klassischen Logik, wie sie in seiner Studienzeit gelehrt worden war, ausging, baute Klug auch auf nachklassischen Logikern auf, denen es nur mehr »um Folgerichtigkeit und nicht um Wahrheit im klassischen Sinne« gegangen war, weshalb Klug an einer Anwendbarkeit dieser Logik auch auf Normen festhalten zu können glaubte.1154 Ein aus heutiger Sicht interessantes Detail aus dieser Diskussion ist etwa der Hinweis von Klug, dass schon damals im deutschen Steuer‑ und Versicherungsrecht individuelle Normen (wie etwa ein Steuerbescheid) z. T. mit Hilfe von Computern erstellt wurden, worauf Kelsen erwiderte, dass der Computer in diesem Falle keine Norm erzeuge, sondern lediglich dem normsetzenden Organ mitteile, »welche individuelle Norm der anzuwendenden generellen Norm« entspreche.1155 Insgesamt führte die Debatte mit Klug zu einem völligen Umdenken Kelsens hinsichtlich der Frage, welcher Stellenwert der Logik für die Rechtstheorie zukomme. Während Kelsen früher wie selbstverständlich davon ausgegangen war, dass die Logik, wie jeder Wissenschaft, so auch der Rechtswissenschaft, zugrunde liegen müsse, rückte er nunmehr davon ab. Dies hatte immense Auswirkungen auf das Gesamtkonzept der Reinen Rechtslehre; fixe Bestandteile derselben drohten in sich zusammenzufallen. So rückte Kelsen sogar – wenn auch sehr vorsichtig – von seiner seit 1920 konsequent beibehaltenen These ab, dass Völkerrecht und staatliches Recht eine Einheit bilden müssen. Ja, eine »dualistische Konstruktion des Verhältnisses zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht […] wäre […] dann unvermeidlich, wenn es zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht Normenkonflikte gäbe, die von der Rechtswissenschaft […] nur in Aussagen beschrieben werden könnten, die in einem logischen Widerspruch stehen.« Doch schwächte Kelsen gleich ab: es könne gezeigt werden, dass staatliches und Völkerrecht ohne derartige Widersprüche gemeinsam dargestellt werden können.1156 In einem Sammelband zu Ehren von Roscoe Pound, der 1962 (als Pound 92 Jahre alt war) erschien, veröffentlichte Kelsen einen Artikel zum Thema »Derogation«. Zentrales Problem war auch hier das Problem des Normenkonflikts; dieser könne zwar manchmal, aber nicht immer durch Derogation gelöst werden. Er hielt an 1152 Hans
Kelsen, Manuskript v. 15. 5. 1959, in: Kelsen/Klug, Rechtsnormen (1981) 16. Reine Rechtslehre (1960) 77. 1154 Ulrich Klug, Nachwort, in: Kelsen/Klug, Rechtsnormen (1981) 101. 1155 Ulrich Klug, Brief an Hans Kelsen v. 20. 7. 1965 und Antwortschreiben Kelsens v. 28. 7. 1965, alle in: Kelsen/Klug, Rechtsnormen (1981) 84–91. 1156 Kelsen, Souveränität (1962) 279 = WRS 1865. 1153 Kelsen,
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Merkls Lehre fest, wonach das Prinzip »lex posterior derogat priori« kein rechtslogisches Prinzip, sondern eine Norm des positiven Rechts sei – und zwar eine besondere Norm, die nicht schon in der derogierenden Norm enthalten sei.1157 Existiere keine derartige Norm, könne das Problem nicht gelöst werden, insbesondere sei die Rechtswissenschaft selbst nicht in der Lage, das Problem zu lösen.1158 b) Die Europareise 1962 und die Salzburger Naturrechtsdebatte Vom 20.–30. Mai 1962 fand im Hotel »Post« im oberösterreichischen Weißenbach am Attersee die »Österreichische Richterwoche« stand. Etwa einhundert Richter und Staatsanwälte waren zu einem bunten Reigen von Vorträgen gekommen. Die meisten von ihnen hatten arbeitsrechtliche Themen zum Gegenstand; sozusagen als Höhepunkt dieser Veranstaltung sprach jedoch auch Hans Kelsen, am 28. Mai, über »Der Richter und die Verfassung«.1159 Ausgehend von Merkls Stufenbautheorie postulierte er dabei, dass eine »moderne Rechtsordnung« in der Regel »drei bis vier Stufen von Rechtsnormen« (Verfassung – Gesetze – Durchführungsverordnungen – Urteile und Bescheide) aufweise und definierte den »materielle[n] Begriff der Verfassung« als »Normen, die die Organe bestimmen, durch die, und das Verfahren, indem andere Normen erzeugt und angewendet werden sollen.«1160 Aber auch das gerichtliche Urteil sei eine Norm – und keineswegs ein »Urteil« im Sinne der Logik. Zum Beweis dieser Behauptung drang Kelsen tief in die Erkenntnistheorie ein und erklärte, dass es überhaupt keine »Dinge oder Vorgänge an sich« gebe, die ein Richter in einem »Urteil« (im Sinne der Logik) bloß festzustellen brauche; die »Dinge oder Vorgänge« existierten vielmehr immer nur in einem menschlichen Bewusstsein, und es sei in Wirklichkeit der Richter, der den »die Sanktion bedingenden Tatbestand« setze, wenn er im Rahmen eines Gerichtsverfahrens die »Tatbestandsfeststellung« treffe.1161 Der Vortrag wurde auch von Robert Walter besucht, der damals kurz vor seiner Berufung nach Graz stand, und im Rahmen der Richterwoche kam es zum einzigen fachlichen Gespräch zwischen Kelsen und Walter. Für den Jüngeren war es ein prägendes Erlebnis.1162 Kelsen fuhr wohl schon am nächsten Tag nach Wien, wo er am 5. Juni in der Urania zum Thema »Was ist Gerechtigkeit?« sprach.1163 Und wieder einen Tag später, am 1157 Kelsen,
Derogation (1962) 1442 = WRS 1179. Derogation (1962) 361 = WRS 1180. 1159 Die Einladung dazu war von Justizminister Christian Broda ausgegangen: Robert Walter, Interview v. 12. 6. 2007. 1160 Kelsen, Der Richter und die Verfassung (1962) 290. 1161 Kelsen, Der Richter und die Verfassung (1962) 291. Beachte, dass auch das Wort »Tatbestand« hier von Kelsen in zwei verschiedenen Wortbedeutungen verwendet wird und dass, was er hier »Tatbestandsfeststellung« nennt, heute als »Sachverhaltsfeststellung« bezeichnet wird. 1162 Robert Walter, Interview v. 12. 6. 2007. Das Gespräch drehte sich v. a. um den Schweizer Rechtsphilosophen Walther Burckhardt. 1163 Adolf Kozlik (Urania), Schreiben an Hans Kelsen v. 14. 3., v. 26. 3., v. 17. 4. und v. 7. 6. 1962, alle in: HKI, Nachlass Kelsen 16c7.60. Ein Originalplakat (aus dem Volkshochschulen-Archiv) mit 1158 Kelsen,
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6. Juni, hielt Kelsen zum sechsten und letzten Mal in seinem Leben einen Vortrag vor der Wiener Juristischen Gesellschaft; sein Thema lautete: »Naturrechtslehre und Rechtspositivismus«.1164 Seinen bedeutendsten Vortrag im Rahmen dieser Europareise hielt Kelsen aber am 1. August 1962 in Salzburg. Die Salzburger Erzdiözese hatte 1961 ein »Internationales Forschungszentrum für Grundfragen der Wissenschaften« gegründet (heute: Internationales Forschungszentrum für soziale und ethische Fragen). Seine erste Veranstaltung widmete dieses Forschungszentrum dem Thema »Das Naturrecht in der politischen Theorie«. Und ausgerechnet zu dieser Veranstaltung wurde Kelsen eingeladen, um als erster Redner über »Die Grundlage der Naturrechtslehre« zu sprechen, während nach ihm Redner wie Eric Voegelin,1165 Alfred Verdroß und René Marcic sowie die beiden Ordensgeistlichen Albert Auer OSB und Franz-Martin Schmölz OP (Professoren an der theologischen Fakultät Salzburg) auf dem Programm standen. Kelsen machte in seinem Vortrag auch sofort klar, dass er nicht vorhabe, sein Auditorium, das ganz offensichtlich aus »Anhängern der Naturrechtslehre« bestehe, zu »bekehren«. Die Grundlage der Naturrechtslehre, das sei der »Glaube an eine gerechte Gottheit«, und ebenso, wie er »diese Voraussetzung nicht annehmen« könne, könne er »auch ihre Konsequenz«, d. h. die »Geltung eines ewigen, unveränderlichen, der Natur immanenten Rechts […] nicht annehmen. […] Über die Wahrheit dieses Glaubens zu diskutieren, ist völlig aussichtslos.«1166 Damit begab sich Kelsen, wie er selbst zugab, in die eigentümliche Situation, dass er, der Nichtgläubige, seinen gläubigen Hörern beweisen musste, dass ein Naturrecht ohne Gott unmöglich sei. Das Naturrecht, so Kelsen, bestehe wie jedes Rechtssystem aus Normen. Normen aber seien der Sinn von Willensakten, wenn auch nicht unbedingt von menschlichen Willensakten. »Ein Wille in der Natur ist entweder ein animistischer Aberglaube oder aber es ist der Wille Gottes in der von ihm geschaffenen Natur«. Die bloße Vernunft, d. h. das »Denk‑ oder Erkenntnisvermögen«, könne keine Normen erzeugen.1167 Demgegenüber habe Aristoteles die Lehre von der Entelechie begründet, wonach allen Dingen ein Zweck immanent sei.1168 Dies führte Kelsen zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Philosophen, wobei es ihm gelang, die innere Widersprüchlichkeit der aristotelischen Lehre aufzuzeigen. der Ankündigung von Kelsens Vortrag war in der Hans Kelsen-Ausstellung 2010 zu sehen. – Kelsen erhielt auch eine Einladung vom Gründer der SOS-Kinderdörfer, bei Gelegenheit seines Österreich-Aufenthaltes ein solches Kinderdorf in der Hinterbrühl zu besuchen: Hermann Gmeiner, Brief an Hans Kelsen v. 6. 6. 1962, HKI, Nachlass Kelsen 16c4.60. Ob Kelsen der Einladung Folge leistete, ist unbekannt. 1164 Kelsen, Naturrechtslehre (1963) = WRS 667–679; vgl. Jestaedt in HKW IV, 706. 1165 Im Rahmen dieser Veranstaltung erlebte auch die Kelsen-Voegelin-Kontroverse eine gewisse Fortsetzung, vgl. Weiss, Repräsentative Menschlichkeit (2010) 209–212. 1166 Kelsen, Die Grundlagen der Naturrechtslehre (1963) 1 = WRS 711. Vgl. dazu auch die Bemerkungen bei: Kelsen, in eigener Sache (1965) 107. 1167 Kelsen, Die Grundlage der Naturrechtslehre (1963) 5 = WRS 715. Vgl. dazu ausführlich Langmaier, Ordnung in der Polis (2018) 188 ff. 1168 Kelsen, Die Grundlage der Naturrechtslehre (1963) 6 = WRS 716.
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Auch Aristoteles sei, wie so vielen anderen, der Fehler unterlaufen, eine normenbeschreibende Wissenschaft wie die Ethik mit dem Gegenstand dieser Wissenschaft gleichzusetzen. Erst Thomas von Aquin habe, zwar aufbauend auf Aristoteles aber doch ihn korrigierend, erkannt, dass nur eine »wollende Vernunft (ratio vel voluntas)«, die sog. praktische Vernunft,1169 Befehle erteilen könne. Damit kam Thomas notwendigerweise zu einer theologisch fundierten Naturrechtslehre.1170 Zwar habe es in späterer Zeit immer wieder Versuche gegeben, das Naturrecht von der Religion zu lösen. Aber auf die eine oder andere Art und Weise seine doch alle Autoren, von Hugo Grotius über Immanuel Kant bis zu Victor Cathrein, zur Notwendigkeit der Religion für die Annahme eines Naturrechts zurückgekehrt.1171 An den Vortrag schloss sich eine lebhafte Diskussion an, bei der ganz prinzipielle Auffassungsunterschiede vom Wesen des Naturrechts deutlich wurden. Als Schmölz den Normencharakter des Naturrechts in Zweifel zog, entgegnete Kelsen, dass man naturrechtliche Prinzipien nicht anders als in Soll-Sätzen ausdrücken könne, fügte aber auch hinzu, dass hinter jedem Sollen ein Wollen stehen müsse: »Kein Imperativ ohne einen Imperator, kein Befehl ohne einen Befehlenden. Wie man das leugnen kann, ist mir unverständlich.«1172 Auf diese Behauptung entgegnete ihm Marcic, dass doch gerade er, Kelsen, in seinen früheren Arbeiten »das Normative vom Volitiven« getrennt habe. Worauf Kelsen antwortete: »Ich habe in meinen früheren Schriften von Normen gesprochen, die nicht der Sinn von Willensakten sind. Meine ganze Lehre von der Grundnorm habe ich dargestellt als eine Norm, die nicht der Sinn eines Willensaktes ist, sondern die im Denken vorausgesetzt wird. Nun muß ich Ihnen leider gestehen, meine Herren, daß ich diese Lehre nicht mehr aufrechterhalten kann, daß ich diese Lehre aufgeben mußte.«1173 Damit hatte Kelsen – nur zwei Jahre nach Erscheinen der 2. Auflage seiner »Reinen Rechtslehre« – einen radikalen Bruch (zwar nicht mit, doch sicherlich) innerhalb dieser Lehre vollzogen.1174 Was dies für die Lehre von der Grundnorm bedeutete, zeigte sich, als Kelsen eingeladen wurde, am »Zweiten Österreichischen Juristentag«, der vom 17.–20. Juni 1964 an der Universität Wien stattfand, den Hauptvortrag zu halten. Aufgrund einer Virusinfektion musste Kelsen zwar sein Kommen absagen, sein
1169 Dieser Begriff wurde von Kelsen als »in sich widerspruchsvoll« kritisiert: »Wenn ich erkenne, will ich nicht! Wenn ich will, erkenne ich nicht!« Kelsen, Die Grundlage der Naturrechtslehre (1962) 121. Vgl. auch Weiss, Repräsentative Menschlichkeit (2010) 207. 1170 Kelsen, Die Grundlage der Naturrechtslehre (1963) 29 = WRS 737. 1171 Kelsen, Die Grundlage der Naturrechtslehre (1963) 33 (Grotius), 34 u. 121 (Kant), 37 ( Cathrein). 1172 Kelsen, Die Grundlage der Naturrechtslehre (1963) 119. Ausführlich dazu Jabloner, Kein Imperativ ohne Imperator (1988); vgl. auch Weiss, Repräsentative Menschlichkeit (2010) 208. 1173 Kelsen, Die Grundlage der Naturrechtslehre (1963) 119. 1174 In der »Phasentheorie« Paulsons zur Reinen Rechtslehre beginnt hier eine völlig neue, die letzte Phase von Kelsens Rechtslehre: Paulson, Das Ende der Reinen Rechtslehre? (2013) 63.
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Manuskript wurde allerdings von Robert Walter verlesen.1175 Der Titel von Kelsens Vortrag lautete »Die Funktion der Verfassung«;1176 doch Kelsen ging weit darüber hinaus und präsentierte auch seine neuesten Überlegungen zur Grundnorm, die, wie er nunmehr der Ansicht war, nicht unbedingt vorausgesetzt werden müsse. Aber nur wenn sie vorausgesetzt werde, »kann der subjektive Sinn der auf das Verhalten anderer gerichteten Willensakte auch als ihr objektiver Sinn […] gedeutet werden.«1177 Auch erläuterte Kelsen, dass eine Norm nicht im Wege der Logik aus einer anderen Norm abgeleitet werden könne (etwa nach dem klassischen Vorbild: Alle Menschen sind sterblich – Sokrates ist ein Mensch – also ist Sokrates sterblich). Die Anwendung einer allgemeinen Norm auf einen Einzelfall könne nur durch eine individuelle, positive Norm erfolgen. Überhaupt können die Regeln der Logik »wenn überhaupt, so nur per analogiam« auf Normen angewendet werden.1178 Was aber bedeute dies für die Grundnorm? Wenn jede Norm nur der Sinn eines Willensaktes sein könne, so Kelsen, müsse man »mit der gedachten Grundnorm auch eine imaginäre Autorität« dazu denken. Damit gelangte Kelsen zur Vaihingerschen »Philosophie des Als Ob« und erklärte die Grundnorm zu einer »Fiktion« im Sinne Vaihingers. Dies bedeutete aber nicht, dass die Grundnorm »das Produkt freier Erfindung« sei. Vielmehr sei sie jene Norm, die den Geltungsgrund für die tatsächlich wirksamen, positiven Normen darstelle und sei somit auf »in der natürlichen Wirklichkeit existente Tatsachen« bezogen.1179 c) Letzte rechtstheoretische Arbeiten Bereits 1919 hatte sich Kelsen in einem Aufsatz für die »Annalen der Philosophie« mit Vaihingers »Philosophie des Als Ob« beschäftigt.1180 Dessen gleichnamiges Buch war 1911, im selben Jahr wie Kelsens »Hauptprobleme« erschienen, und während Kelsen in seiner Habilitationsschrift Fiktionen als eine »verwerfliche Notlüge« gebrandmarkt hatte,1181 hatte Vaihinger erklärt, dass es sein könne, »dass wir mit bewusst falschen Vorstellungen doch Richtiges erreichen«.1182 Dies erfolge, so Vaihinger weiter, durch Fiktionen, wie etwa juristische Fiktionen,1183 besonders aber durch heuristische 1175 Hans
Kelsen, Schreiben an den Präsidenten des Juristentages, Wilhelm Malaniuk v. 21. 5. 1964, HKI, Nachlass Kelsen 16c8.60. Aus diesem Grund konnte Kelsen auch nicht, wie geplant, am Österreichischen Richtertag 1964 teilnehmen, vgl. Métall, Kelsen (1969) 92. 1176 Kelsen, Funktion (1964a). Große Ausschnitte dieses Vortrages wurden noch im selben Jahr in der Zeitschrift »Forum« veröffentlicht: Kelsen, Funktion (1964b) = WRS 1615–1622. 1177 Kelsen, Funktion (1964a) 70, ebenso Kelsen, Funktion (1964b) 585 = WRS 1620. 1178 Kelsen, Funktion (1964a) 74 [nicht in Kelsen, Funktion (1964b) enthalten]. 1179 Kelsen, Funktion (1964a) 69–71, ebenso Kelsen, Funktion (1964b) 585 = WRS 1619 f. Vgl. Walter, Grundnorm (1992) 56; Wiederin, Spätwerk (2009) 360. 1180 Kelsen, Theorie (1919) = HKW IV, 209–234 = WRS 993–1014. 1181 Kelsen, Hauptprobleme (1911) VII f. = HKW II, 55 f. 1182 Vaihinger, Philosophie des Als Ob (1911) XII. 1183 Besonders diese Fiktionen waren Gegenstand des seinerzeitigen Aufsatzes von Kelsen gewesen, wobei er betont hatte, dass die meisten der von Vaihinger dargestellten juristischen Fiktionen keine seien: Kelsen, Theorie (1919) 630, 632 = HKW IV, 210, 212 = WRS 993, 995.
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Fiktionen, welche etwas »Unwirkliches« darstellen, die aber »[z]ur Erklärung eines Wirklichkeitskomplexes« benützt werden können.1184 Kelsen hatte damals Vaihingers Theorie als »hochverdienstlich« bezeichnet, zumal sie der »Erkenntnis der Wirklichkeit« dienen solle1185 – während jene Fiktionen, die Kelsen in seiner Lehre kritisierte, genau das Gegenteil, nämlich die Verschleierung der Wirklichkeit, bewirkten. In der Vorrede zur 1923 erschienenen 2. Auflage seiner »Hauptprobleme« erklärte Kelsen, dass ihm die Philosophie Vaihingers »manche Aufklärung« gebracht habe;1186 direkte Bezugnahmen auf den neukantianischen Philosophen sind aber in späteren Arbeiten Kelsens kaum zu finden. Erst ein knappes halbes Jahrhundert später nahm er diese Lehre zur Grundlage für seine ganze Theorie.1187 Seine Arbeiten zur Normenlogik brachten Kelsen auch wieder in Kontakt mit dem Wissenschaftstheoretiker Sir Karl Popper, den er schon in Europa kennengelernt hatte, zu dem die Verbindungen aber nie besonders eng gewesen waren.1188 Popper sandte ihm ein Exemplar seiner Schriften »Conjectures and Refutations« sowie »Die Logik der Sozialwissenschaften«, für die sich Kelsen sehr bedankte: »Da ich derzeit mit dem Problem der Anwendung logischer Prinzipien auf Normen sehr beschäftigt bin, sind mir Ihre in dem Referat [Die Logik der Sozialwissenschaften] geäußerten Anschauungen von größter Bedeutung.«1189 Am 7. November 1963 hatte Kelsen in einer sehr würdevollen Zeremonie das Ehrendoktorat der Sorbonne erhalten.1190 Unmittelbar darauf reiste er erneut nach Wien, wo er vom 12.–14. November am Institut für Höhere Studien und Wissenschaftliche Forschung drei Vorträge zum Thema »Recht und Logik« hielt.1191 1964 erschien das Buch »Méthode Phénoménologique et Théorie du Droit [Phänomenologische Methode und Rechtstheorie]« des damals 28jährigen französischen Juristen Paul Amselek, das sich sehr eingehend mit der Reinen Rechtslehre beschäftigte, worauf Kelsen auf Ersuchen von Verdroß einen über 50-seitigen Besprechungsaufsatz für die ZÖR verfasste.1192 Wer allerdings hier Polemiken nach Art 1184 Vaihinger,
Philosophie des Als Ob (1911) 55. Theorie (1919) 631 = HKW IV, 211 = WRS 994. 1186 Kelsen, Hauptprobleme (1923) XVII. 1187 Siehe dazu insbesondere auch Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen (1979) 206. 1188 In einem 1991 geführten Interview erklärte Popper, dass er über Julius Kraft Kelsen kennengelernt habe und dieser ihm ein Empfehlungsschreiben für Hayek mitgab, als Popper 1935 nach England fuhr; er selbst habe ihn »in Amerika wieder getroffen«. Seine Rechtslehre habe Popper »nicht akzeptieren« können, da sie »auf alles anwendbar« sei (womit er offenbar auf die Trennung von Recht und Moral anspielte): Stadler, Der Wiener Kreis (2015) 281 f. 1189 Hans Kelsen, Brief an Karl R. Popper v. 15. 2 . 1967, in: Stanford University, Hoover Institution Archives, Karl R. Popper Papers, Box 59. Vgl. die Bezugnahme auf Popper bei Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen (1979) 153. 1190 Annales de l’Université de Paris 33 (1963) 541–570. 1191 Einladungsschreiben des Instituts für Höhere Studien, in: UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Personalakten, J PA 331. 1192 Alfred Verdross, Brief an Hans Kelsen v. 16. 10. 1964, HKI, Nachlass Kelsen 16b12.59; K elsen, Eine phänomenologische Rechtstheorie (1965). 1185 Kelsen,
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und Weise der Auseinandersetzungen Kelsens mit Eugen Ehrlich, Ernst Schwind oder Rudolf Smend erwartete, der wurde enttäuscht: Kelsen beschränkte sich weitgehend darauf, offensichtliche Irrtümer Amseleks über die Reine Rechtslehre aufzudecken oder missverständliche Formulierungen zu korrigieren. Am 21. Jänner 1965 feierte Hans Carl Nipperdey seinen 70. Geburtstag, aus welchem Anlass er mit einer Festschrift geehrt wurde. Auch Kelsen trug zu dieser Festschrift bei, und zwar mit einem Aufsatz »Zum Begriff der Norm«. Dieser enthielt eine einleitende Fußnote, wonach es sich bei der Abhandlung um »das 1. Kapitel einer größeren Studie: ›Allgemeine Theorie der Normen‹« handle, die Kelsen »in absehbarer Zeit abschließen zu können hofft.«1193 Kelsens Wunsch sollte sich nicht erfüllen; das Manuskript zu dieser Monographie blieb, obwohl praktisch druckreif, bis zu seinem Tod unveröffentlicht und wurde erst postum, 1979, vom Hans Kelsen-Institut herausgegeben.1194 Umso interessanter ist es, anhand der Nipperdey-Festschrift, einen ersten Einblick in Kelsens großes Spätwerk zu gewinnen. Was an diesem zunächst auffällt, ist der schnelle Einstieg in das Thema, bei dem Kelsen – nach einer ganz kurzen Etymologie des Wortes Norm – schon auf der allerersten Seite das Problem anspricht, dass der Begriff der »Logik« sowohl eine Wissenschaft als auch einen bestimmten Normenkomplex, die »Normen der Logik« bezeichne, was den Eindruck erwecke, als sei es die Wissenschaft, die diese Logik erzeuge – so wie ja auch die Tendenz bestehe, anzunehmen, dass die Ethik die Normen der Moral, die Rechtswissenschaft die Normen des Rechts erzeugen.1195 Im Übrigen ging Kelsen in dieser Arbeit vor allem auf das Problem »Kein Imperativ ohne Imperator« ein. Er hatte dieses Schlagwort, das er ja schon bei der Salzburger Tagung gebraucht hatte, vom deutschen Wissenschaftstheoretiker Walter Dubislav übernommen und verwendete es nun, um zu betonen, dass der Ursprung eines Sollens stets ein Wollen sein müsse. Daher müsse auch hinter den Normen des Naturrechts – dessen Existenz von Kelsen hier nicht in Zweifel gezogen wurde – ein »Imperator« stecken; im Falle eines religiös fundierten Naturrechtes sei dies Gott. Wie aber verhalte es sich mit dem säkularen Naturrecht, von dem traditionell angenommen wurde, dass es seine Quelle in der Vernunft habe? Kelsen widersprach energisch dieser Vorstellung und betonte, dass die Vernunft nur Normen erkennen, nicht aber Normen erzeugen könne. Die Vernunft, die etwa von Kant als Quelle des Naturrechts angesehen werde, sei »zugleich Denken und Wollen, und ist, sieht man näher zu, die göttliche Vernunft im Menschen. […] Auch der in der Lehre vom Vernunftrecht unternommene Versuch, die Norm nicht als Sinn eines Willens –, sondern 1193 Kelsen,
Zum Begriff der Norm (1965) 57 = WRS 1189. Tatsächlich entspricht der Aufsatz im Wesentlichen dem 1. Kapitel »Die Norm« aus Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen (1979) 1–7, wenn auch mit einigen Abweichungen. 1194 Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen (1979), vgl. a. a. O. III–V die Einleitung der beiden Herausgeber Kurt Ringhofer und Robert Walter. 1195 Kelsen, Zum Begriff der Norm (1965) 57 f. = WRS 1189; ebenso Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen (1979) 1.
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eines Denkaktes zu begreifen, beruht auf metaphysisch-theologischen Spekulationen, und steht und fällt mit diese[n]«.1196 Im August 1965 erschien in der deutschen »Juristenzeitung« Kelsens Aufsatz »Was ist juristischer Positivismus?« Er erläuterte dabei Grundbegriffe der Reinen Rechtslehre, wie sie auch in der 2. Auflage seines gleichnamigen Buches zu finden waren, ging aber auf einige Punkte noch ausführlicher ein. So erklärte er, dass die Geltung des Rechtes durch zwei Tatsachen bedingt und insofern »positiv« sei, als nämlich das Recht durch bestimmte menschliche Akte gesetzt worden sein müsse, und dass es auch »in gewissem Grade wirksam« sein müsse.1197 Aus der ersten Bedingung ergebe sich, dass das Naturrecht kein »Recht« im Sinne des Rechtspositivismus sei, aber ebenso wenig ein – nach Ansicht einer bestimmten Religion – von einer göttlichen Autorität gesetztes Recht. Er rechtfertigte letzteres damit, dass ein Wissenschaftler nicht beobachten und erkennen könne, was denn nun der göttliche Wille sei, und dass auch die verschiedenen Religionen darüber ganz unterschiedlicher Ansicht seien.1198 Dagegen werde das Recht sehr wohl gesetzt, auch wenn es nicht bewusst gesetzt werde, sondern durch Rechtsgewohnheit entstehe. Was die zweite Bedingung, die Wirksamkeit des Rechts, betreffe, so berief sich Kelsen auf John Austin und Gustav Radbruch, um zu betonen, dass als Recht nur das angesehen werden könne, welches zumindest im Prinzip wirksam werden könne, wenn auch nicht jede einzelne Norm befolgt oder angewendet werden müsse.1199 – An Folgen dieser rechtsphilosophischen Grundhaltung nannte Kelsen vor allem zwei: erstens die Trennung des Rechtes von der Moral, zweitens die Tatsache, dass das Recht in diesem Sinne lückenlos sei und es nicht passieren könne, dass der Richter kein Urteil finden könne: Gebe es eine Norm, nach der ein Mensch zu bestrafen ist, so sei er zu bestrafen, gebe es keine, so sei er freizusprechen.1200 Das Bemerkenswerte an Kelsens Aufsatz ist gerade sein Abstraktionsniveau. Ausgerechnet Radbruch wird als Kronzeuge des Rechtspositivismus angeführt, wo er doch zu diesem Zeitpunkt schon längst seine »Radbruchsche Formel« postuliert hatte, nach der nicht jedweder Zusammenhang zwischen Recht und Gerechtigkeit geleugnet werden könne. Radbruch hatte hier seine Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus verarbeitet – für Kelsen dagegen schienen die Schrecken der NS-Herrschaft nicht die geringste Erwähnung wert zu sein, und dies, obwohl – oder vielleicht gerade weil – er seinen Aufsatz in einer deutschen Zeitschrift veröffentlichte. 1196 Kelsen, Zum Begriff der Norm (1965) 65 f. = WRS 1192; ebenso Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen (1979) 6. Vgl. Wiederin, Spätwerk (2009) 358. 1197 Kelsen, Was ist juristischer Positivismus? (1965) 465 = WRS 772. 1198 Kelsen, Was ist juristischer Positivismus? (1965) 466 = WRS 773. Beachte seinen begriffsgeschichtlichen Exkurs, in dem er zugibt, dass der Begriff des positiven Rechts ursprünglich – d. h. im 12. Jh. n. Chr. – sehr wohl auch das göttliche Recht miteinschloss. 1199 Kelsen, Was ist juristischer Positivismus? (1965) 467 = WRS 777. 1200 Es machte sich in diesem Detail nochmals die Kelsen-Cossio-Kontroverse bemerkbar, vgl. oben 814.
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Am 10. Mai 1965 hielt Kelsen – im Rahmen seiner letzten Wien-Reise – einen Vortrag zum Thema »Recht und Logik«;1201 eine erweiterte Schriftfassung erschien noch im selben Jahr in der österreichischen Zeitschrift »Forum«. Es handelte sich um jenen Aufsatz, von dem er eine Vorversion Klug zu lesen gegeben und mit ihm debattiert hatte. In diesem setzte er sich insbesondere mit dem dänischen Philosophen Jørgen Jørgensen auseinander, der versucht hatte, Normen in einen vorschreibenden und einen beschreibenden Teil zu zerlegen – was Kelsen vehement ablehnte. Nunmehr kam Kelsen zum Schluss, dass die Regeln der Logik auch nicht indirekt – über die die Normen beschreibenden Rechtssätze – auf das Recht anwendbar seien.1202 Derartiges hatte er ja noch in der Zweiten Auflage der »Reinen Rechtslehre« behauptet, aber schon bei der Salzburger Tagung in Zweifel gezogen.1203 Eine indirekte Anwendbarkeit, so erklärte Kelsen nunmehr, wäre nur möglich, wenn »zwischen der Wahrheit einer Aussage und der Geltung einer Norm eine Analogie bestünde« – was aber nicht zutreffe. Denn »Wahrheit« sei eine Eigenschaft einer Aussage, »Geltung« dagegen nicht bloß eine Eigenschaft einer Norm. Eine Aussage könne existieren, auch wenn sie unwahr ist, eine Norm, die nicht gilt, existiere nicht.1204 Kelsen wiederholte seine, bereits in der Festschrift für Pound geäußerten Gedanken, dass eine Derogation das Problem des Normenkonflikts zwar manchmal, aber nicht immer lösen könne, dass der Satz von der lex posterior kein rechtslogisches Prinzip, sondern ein Satz des positiven Rechts sei, und dass es keinen Imperativ ohne dahinterstehenden Imperator gebe. Die Logik, so Kelsen, sei auch nicht auf Aussagen, sondern auf den Sinn dieser Aussagen anwendbar: der Sinn einer Aussage könne wahr sein, auch wenn diese Aussage niemals getätigt worden ist. Auch dies unterscheide den Bereich der Aussagen vom Bereich der Normen: eine Norm könne niemals gelten, wenn sie nicht gesetzt worden ist. Auch wenn das Gesetz sage, dass alle Diebe ins Gefängnis gebracht werden sollen, könne daraus nicht logisch abgeleitet werden, dass der Dieb Schulze ins Gefängnis muss, weil der Gesetzgeber nichts vom Dieb Schulze wusste. Das führte ihn zu einer wesentlichen Modifikation der Struktur des Rechtssatzes, wie er ihn 1911 analysiert hatte: »Die in der generellen Norm statuierte Bedingung ist nicht ein Unrechtstatbestand an sich, sondern die Feststellung eines Tatbestandes durch ein zuständiges Gericht«, mit anderen Worten: die Sanktion solle nicht erfolgen, wenn Schulze gestohlen habe, sondern wenn ein Gericht feststelle, dass Schulze gestohlen habe.1205 1201 Hans Kelsen, Brief an Ulrich Klug v. 9. 6. 1965, in: Kelsen/Klug, Rechtsnormen (1981) 60; zur weitgehenden Übereinstimmung des Vortrags mit dem späteren Aufsatz vgl. Kelsen/Klug, a. a. O. 92. 1202 Kelsen beharrte, wie schon seit seinen »Hauptproblemen« von 1911, darauf, dass Wollen und Denken zwei grundverschiedene Funktionen seien. Bemerkenswerterweise beschränkte er dies aber auf den Bereich der menschlichen Sphäre und anerkannte, dass bei Gott Wollen und Wissen ineinander übergehe: Kelsen, Recht und Logik (1965) 423 = WRS 1206. 1203 Kelsen, Die Grundlage der Naturrechtslehre (1963) 2. 1204 Kelsen, Recht und Logik (1965) 422 = WRS 1204. Vgl. auch Wiederin, Spätwerk (2009) 357. 1205 Kelsen, Recht und Logik (1965) 496 f. = WRS 1215 f., vgl. Schmidt, Normenlogik (1992) 92.
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Kelsens Aufsatz über »Recht und Logik« sollte 1966 auch ins Italienische übersetzt werden; er zog seinen Beitrag jedoch zuvor zurück, da er seine Darstellung »einigermaßen modifizieren« wollte; in einem Schreiben an Mario Losano wies er darauf hin, dass er »schon seit längerer Zeit« an einer »Allgemeinen Theorie der Normen« arbeite, wo dieses Thema ausführlich behandelt werden würde.1206 Tatsächlich wurde der Aufsatz, der wohl zu den bedeutendsten aus Kelsens Spätwerk zählt, zu Lebzeiten des Meisters niemals, dagegen nach seinem Tod ins Italienische und ebenso ins Englische, Spanische und Koreanische übersetzt.1207 d) Die Kontroverse mit Julius Stone Als Roscoe Pound im Februar 1934 im »Yale Law Journal« einen Überblick über die Hauptströmungen der modernen Rechtstheorie gegeben und dabei Kelsen als den »führenden Juristen unserer Zeit« bezeichnet hatte,1208 hatte er sich vielleicht von einem seiner Schüler, dem Briten Julius Stone, leiten lassen, der 1931–1935 in Harvard tätig war und exakt zur selben Zeit, im Februar 1934, in der »Harvard Law Review« ebenfalls moderne Rechtstheorien besprach und dabei auch auf Kelsen zu sprechen kam, wenn auch lange nicht in so enthusiastischer Weise wie Pound.1209 Stone gelang es ebensowenig wie später Kelsen, in Harvard dauerhaft Fuß zu fassen; er ging nach Neuseeland und Australien, wo er 1942 in Sydney eine Professur erhielt und dort bis 1972 lehrte. In Sydney erschien auch 1946 sein Hauptwerk, »The Province and Function of Law [Aufgabe und Funktion des Rechts]«, in dem er der Reinen Rechtslehre ein 21-seitiges Kapitel widmete, und zwar im Teil über »Recht und Logik«, in dem er auch die Rechtslehren von John Austin und Ernest Roguin besprach. Dem Konzept dieser Darstellung folgend, betonte Stone die Bedeutung der Logik im Rahmen von Kelsens Lehre, kritisierte aber, dass dessen Lehrgebäude, sobald es auf eine konkrete Rechtsordnung angewendet werde, seine »Reinheit« nicht mehr bewahren könne.1210 Auch in späteren Arbeiten kam Stone immer wieder auf die Reine Rechtslehre zurück; im Jänner 1963 behauptete er u. a., dass das Problem der Grundnorm bereits 1902 von Sir John Salmond »entdeckt« worden sei, und rügte Kelsen, dass er diesen »bahnbrechenden Denker« offenbar nicht gekannt hatte, als er 1920 sein eigenes Konzept der Grundnorm erstmals präsentierte.1211 Der so Kritisierte schien es Stone nicht übel zu nehmen. Als Stone im Herbst desselben Jahres als Gastprofessor in Stanford und Berkeley unterrichtete,1212 besuchte er gemeinsam mit seiner Frau Reca auch das Ehepaar Kelsen in deren Heim zum Abendessen. Reca Stone beschrieb später Grete Kelsen als eine Frau mit »außerordentlich 1206 Hans
Kelsen, Schreiben an Mario G. Losano v. 24. 5. 1966, HKI, Nachlass Kelsen 16b4.59. Hans Kelsens stete Aktualität (2003) 223. 1208 Siehe oben 604. 1209 Stone, Modern Theories (1934). 1210 Stone, Province (1946) 110. 1211 Stone, Mystery (1963) 34. 1212 Star, Julius Stone (1992) 129. 1207 Walter /Jabloner /Zeleny,
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intelligenten Augen in einem sensiblen Gesicht, das das Leiden kennengelernt hatte«, während Hans Kelsen »wie ein guter, reifer Apfel, der sich gut erhalten hatte«, wirkte.1213 Das fachliche Gespräch zwischen Stone und Kelsen schien gut verlaufen zu sein, denn Stone ergriff sogar Kelsens Hand, um ihm mitzuteilen, wie glücklich er sei, dass Kelsen nunmehr seine, Stones, Ansichten teile, und Kelsen seinerseits erklärte, dass er nunmehr erkannt habe, sich geirrt zu haben. »Aber es ist nicht einfach für einen alten Mann, ›erravi‹ [ich habe mich geirrt] zu sagen.«1214 Worin diese gemeinsam geteilten Ansichten bestanden, ist den Erinnerungen von Reca Stone nicht zu entnehmen, doch könnte es sich um das Verhältnis von Recht und Logik gehandelt haben, das Kelsen zu jener Zeit so sehr beschäftigte. Nur ein Jahr später war es mit diesem Austausch von Freundlichkeiten vorbei. Stone hatte in seinem neuen, 1964 erschienenen Buch »Legal System and Lawyer’s Reasonings [Das Rechtssystem und die Argumentationen der Juristen]« Kelsen heftiger denn je angegriffen – was den allzeit toleranten Kelsen wohl kaum bekümmert hätte. Doch war es nicht bei dieser Fachkritik geblieben. Stone hatte auch geschrieben, dass Kelsen seine Theorie in »nomostatic and nomodynamic aspects« teile, und dass diese Terminologie dem Werk von Henry Wigmore (1863–1943) entnommen worden sei – und zwar »without acknowledgement [ohne Zitierung]«.1215 Es war bemerkenswerter Weise nicht Kelsen, sondern Albert Ehrenzweig, der Stone einen scharfen Brief schrieb und die Behauptung, Kelsen habe ein Plagiat begangen, zurückwies, aber auch um eine genaue Referenz für Wigmores Arbeit ersuchte. Stone schrieb sofort zurück und beteuerte, dass er keinen Plagiatsvorwurf erhoben hatte, sondern einfach auf diese erstaunliche Parallele in der Terminologie hatte hinweisen wollen.1216 Blickt man zurück auf den Vorwurf, den Stone Kelsen im Vorjahr in Bezug auf die Grundnorm gemacht hatte, könnte es durchaus sein, dass Stone in seinem Brief an Ehrenzweig die Wahrheit schrieb. Aber so, wie seine Zeilen in »Legal System« formuliert waren, stand der Vorwurf des Plagiats nun einmal im Raum und musste daher auch in aller Öffentlichkeit zurückgewiesen werden. Im Juli 1965 erschien in der »Stanford Law Review« ein Aufsatz von Kelsen, »Professor Stone and the Pure Theory of Law«, dem ein Vorwort von Ehrenzweig vorangestellt war. In diesem wurde Stone als ein herausragender Rechtstheoretiker bezeichnet; gerade deshalb aber seien die unqualifizierten Angriffe auf Kelsen seiner nicht würdig. Ehrenzweigs Vorwort zu Kelsens Aufsatz enthielt – welch merkwürdige Schachtelung – einen längeren wörtlichen Text von Kelsen, in dem dieser beteuerte, die Unterscheidung von »Statik« und »Dynamik« bereits in seiner »Allgemeinen Staatslehre« von 1925 vollzogen zu haben, noch lange, bevor ihm irgendwelche Arbeiten von Wigmore bekannt waren. Die Parallelität war erst später durch die Übersetzung der von ihm zuerst in deutscher 1213 Reca
Stone, zit. n. Star, Julius Stone (1992) 172. Kelsen, zit. n. Star, Julius Stone (1992) 173; vgl. Stewart, Australasia (2010) 321. 1215 Stone, Legal System (1964) 102. 1216 Star, Julius Stone (1992) 174; Stewart, Australasia (2010) 322. 1214 Hans
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Sprache geprägten Begriffe entstanden.1217 Im eigentlichen Aufsatz erklärte Kelsen, dass Stones Kritik auf einer sehr verzerrten Darstellung seiner Theorie basiere, und beschränkte sich auf Richtigstellungen derselben. Er hoffte, damit zeigen zu können, dass das Urteil von Julius Stone, die Reine Rechtslehre sei »leer und unanwendbar für irgendein juristisches Problem«, nicht gerechtfertigt sei.1218 Stone antwortete auf diesen Aufsatz erst sechs Jahre später, und nur auf indirekte Art und Weise, als ihn Ehrenzweig (!) einlud, zur Sondernummer der »California Law Review« zu Kelsens 90. Geburtstag etwas beizutragen. Stone beschränkte sich auf einige persönliche Bemerkungen, erinnerte an das Urteil, das Pound im Jahre 1934 über Kelsen abgegeben hatte und schloss sich diesem nunmehr vorbehaltlos an.1219
10. Die letzte Europareise »Die wiederaufgenommene Verbindung mit der alten österreichischen Heimat riß nicht mehr ab«, berichtet Métall in seiner Kelsen-Biographie.1220 Nicht nur, dass Kelsen seit 1952 fast jedes Jahr nach Österreich kam, um hier Vorträge zu halten; wiederholt wurde der »Architekt« der bis heute (wieder) geltenden österreichischen Bundesverfassung auch um Rat bezüglich deren Auslegung gebeten. Allerdings konnte oder wollte Kelsen, Jahrzehnte nach seinem Abschied von der Universität Wien, diesen Bitten in den meisten Fällen nicht mehr nachkommen. So erhielt er im Jänner 1962 ein Schreiben vom Leiter des Verfassungsdienstes des österreichischen Bundeskanzleramtes, Edwin Loebenstein, in dem er »als wohl berufenste[r] Fachmann und als Verfasser der einschlägigen Bestimmungen der österreichischen Bundesverfassung« darum ersucht wurde, sich zur Bedeutung des Art. 50 B-VG – er behandelte u. a. die Mitwirkung des Nationalrates beim Abschluss von Staatsverträgen – zu äußern.1221 Der österreichische VfGH hatte in einem Erkenntnis festgestellt, dass die EMRK, der Österreich 1958 mit einem Verfahren nach Art. 50 B-VG beigetreten war, in Österreich keinen Verfassungsrang besitze.1222 Loebenstein erklärte, dass dieses Erkenntnis »eine vollständige Abkehr von der bisherigen Auslegung des Art. 50 B.-VG. durch den Gesetzgeber und die Organe der Vollziehung« bedeute. Im Nachlass Hans Kelsens befindet sich das Konzept für eine ausführliche Stellungnahme auf die Anfrage, doch wurde diese niemals abgeschickt. Vielmehr erklärte Kelsen gegenüber Loebenstein, dass er sich nicht mehr als kompetent ansehe, 1217 Kelsen,
Professor Stone (1965) 1128 f. Professor Stone (1965) 1157. 1219 Stone, Message from Julius Stone (1971) 612. 1220 Métall, Kelsen (1969) 91. 1221 Edwin Loebenstein (Bundeskanzleramt), Schreiben an Hans Kelsen v. 23. 1. 1962, HKI, Nachlass Kelsen 21ag.71. 1222 VfGH 14. 10. 1961 G 2/61 VfSlg 4049. Der Beitritt erfolgte mit BGBl 1958/210. 1218 Kelsen,
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Abb. 55: Im österreichischen Bundeskanzleramt, um 1965. Von links: Adolf Merkl, Alfred Verdroß, Robert Walter, Edwin Loebenstein, Hans Kelsen, Josef Klaus.
über derartige Details der österreichischen Bundesverfassung zu schreiben.1223 Ohne Zutun Kelsens beschloss der österreichische Nationalrat zwei Jahre später ein Bundesverfassungsgesetz, mit dem Art. 50 B-VG novelliert und zugleich der EMRK ausdrücklich Verfassungsrang zuerkannt wurde.1224 Auch als der österreichische Fußpflegerverband, der durch eine Novellierung der Gewerbeordnung berufliche Nachteile für seine Mitglieder befürchtete, Kelsen um Hilfe bat, antwortete dieser lediglich, dass er sich nicht mehr mit Fragen des positiven österreichischen Rechts beschäftige.1225 Nur einmal noch durchbrach Kelsen diese selbst auferlegte Beschränkung: Am 22. Mai 1965 fragte ihn der österreichische Nationalratspräsident Alfred Maleta, ob er eine Neuformulierung für Art. 64 B-VG entwerfen könne, worauf Kelsen am 14. Juli 1965 tatsächlich einen solchen Vorschlag übermittelte. Der genannte Artikel hatte die Vertretung des Bundespräsidenten im Falle von zeitweiliger Verhinderung oder dauernder Erledigung zum Gegenstand und berief in erster Linie den Bundeskanzler zur Vertretung. Ob ein Vertretungsfall vorliege, hatte der Bundeskanzler in Eigenverantwortung zu entscheiden, was politisch problematisch war.1226 Kelsen 1223 Dieses Schreiben ging später durch einen Wassereinbruch im Bundeskanzleramt verloren, wurde aber noch von dem 1978–1991 dort tätigen, nachmaligen Vizekanzler Clemens Jabloner eingesehen: Jabloner, Entwicklung (2020, im Druck). 1224 Bundesverfassungsgesetz v. 4. 3. 1964 BGBl 59. Vgl. dazu, allerdings von einem rein völkerrechtlichen Standpunkt aus, auch Verdross, Stellung (1966) = VGS 2407–2416 = WRS 1623–1631. 1225 Jabloner, Entwicklung (2020, im Druck). 1226 Walter, Vertretung (1991) 166. Am 28. 2 . 1965 war Bundespräsident Adolf Schärf gestorben, weshalb Bundeskanzler Josef Klaus bis zum Amtsantritt des Nachfolgers am 9. 6. 1965 gemäß Art. 64 B-VG die Geschäfte führte.
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schlug vor, dass zur Vertretung der Nationalratspräsident (im Falle von dessen Verhinderung dessen Stellvertreter) berufen sein solle, dass der Vertretungsfall aber von der Bundesregierung förmlich festzustellen sei; eine derartige Teilung der Funktionen sollte einem Machtmissbrauch entgegenwirken. Maleta bedankte sich für den Vorschlag, verfolgte ihn aber nicht weiter.1227 Warum Kelsen hier doch noch einmal in das österreichische Verfassungsrecht eintauchte, ist unklar; vielleicht hatte es ihn einfach gereizt, noch einmal an der Gestaltung des Bundes-Verfassungsgesetzes, an dessen Entstehung er so wesentlichen Anteil gehabt hatte, mitwirken zu können. Dies ist auch insofern bemerkenswert, als Kelsen kurz zuvor von einer Österreich-Reise zurückgekehrt war, bei der das nach wie vor zwiespältige Verhältnis seiner ehemaligen Heimat zu ihm besonders deutlich geworden war. Anlass für diese Reise war der 600. Jahrestag der Gründung der Universität Wien (12. März 1365) gewesen, der im Mai 1965 gefeiert werden sollte, wozu auch Hans Kelsen eingeladen worden war.1228 Doch wurde das Jubiläum überschattet von der »Affäre Borodajkewycz«: Das ehemalige NSDAP-Mitglied Taras Borodajkewycz, das seit 1955 an der Wiener Hochschule für Welthandel Wirtschaftsgeschichte unterrichtete, hatte in seinen Lehrveranstaltungen immer wieder antisemitische und faschistische Äußerungen getätigt. Neben abfälligen Bemerkungen zur österreichischen Nation, begeisterten Erinnerungen an den »Anschluß« 1938 sowie einer Reihe von Anspielungen, in denen seine politische Gesinnung recht deutlich wurde, wies er auch darauf hin, dass die WRV vom »jüdischen Staatsrechtslehrer Hugo Preuß« stamme – und das B-VG »vom Juden Kelsen, der früher Kohn geheißen habe[n soll]«.1229 Einer der im Hörsaal sitzenden Studenten, Ferdinand Lacina,1230 reichte seine Mitschriften an den damaligen Klubsekretär der sozialistischen Nationalratsabgeordneten und ehemaligen Studentenvertreter Heinz Fischer1231 weiter. Im April und Juni 1962 veröffentlichte Fischer in der Zeitschrift »Die Zukunft« sowie in der AZ zwei Artikel mit schweren Anschuldigungen gegen Borodajkewycz, der darauf Anklage wegen öffentlicher Schmähung gegen Fischer erhob. Da Lacina sein Studium noch nicht abgeschlossen hatte und mit negativen Konsequenzen für sich im Falle seiner Aussage vor Gericht fürchten musste, gab Fischer seine Quelle nicht preis und verlor darauf den Prozess.1232 1227 Walter, Vertretung (1991) 168 f. Erst mit der Novelle des B-VG vom 2. 6. 1977 BGBl 323 kam es zu einer Änderung der Vertretungsregelung, jedoch in anderer Weise als von Kelsen vorgeschlagen. Vielmehr sind nunmehr der Nationalratspräsident und seine beiden Stellvertreter als Kollegium zur Vertretung befugt; der Vertretungsfall ist von ihnen mit Stimmenmehrheit festzustellen. 1228 Hans Kelsen, Schreiben an Christian Broda v. 17. 4. 1965, in: Fischer, Einer im Vordergrund (1966) 133. Vgl. zu den Feierlichkeiten Kniefacz/Posch, Selbstdarstellung mit Geschichte (2015) 401; siehe auch Métall, Kelsen (1969) 92. 1229 Zit. n. Fischer, Einer im Vordergrund (1966) 57. Vgl. auch Lacina, Borodajkewycz (2019) 59 f. 1230 Geb. Wien 31. 1 2. 1942; 1984–1986 Bundesminister für Verkehr, 1986–1995 für Finanzen. 1231 Geb. Graz 9. 10. 1938; 1983–1987 Bundesminister für Wissenschaft und Forschung, 1990–2002 Nationalratspräsident, 2004–2016 Bundespräsident. 1232 Siehe das Urteil des Strafbezirksgerichts Wien vom 25. 11. 1963, in: Fischer, Einer im Vordergrund (1966) 77–86. Die Berufungsverhandlung endete mit einem Vergleich. Siehe zu diesen Entwicklungen auch Kropiunigg, Eine österreichische Affäre (2015) 17 ff.
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Lacinas Material geriet aber auch an den österreichischen Kabarettisten Gerhard Bronner, der daraus ein fiktives Interview mit Borodajkewycz, mit Originalzitaten von diesem, gestaltete, welches am 18. März 1965 im österreichischen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Auf die Frage eines Reporters, ob sich Borodajkewycz zur österreichischen Verfassung bekenne, antwortete der Schauspieler in der Rolle des Borodajkewycz: »Die sogenannte österreichische Verfassung stammt von einem Juden, der sich Kelsen nannte. In Wirklichkeit hieß er Kohn. Und dazu soll ich mich bekennen?«1233 Der »echte« Borodajkewycz hielt am 23. März eine Pressekonferenz ab, in der er seine Haltung verteidigte, Personen jüdischer Herkunft in seiner Vorlesung stets als »Jude« zu bezeichnen, ja er setzte noch eines drauf: »ich kann nicht sagen, daß Herr Kelsen Israeli war, weil damals der Staat Israel [Gelächter unter den Anwesenden] noch nicht existiert hat.«1234 Nun eskalierte die Situation: Am 26. März wurden Borodajkewycz und sein Sohn von Unbekannten überfallen, der Sohn dabei leicht verletzt; in den folgenden Tagen kam es zu mehreren Demonstrationen und zu Straßenkämpfen mit Verletzten auf beiden Seiten. Am 31. März fand eine Demonstration für und eine Gegendemonstration gegen den Hochschulprofessor mit jeweils mehreren tausend Teilnehmern statt. Vor dem Hotel »Sacher« trafen die beiden Demonstrationen aufeinander; bei der nun folgenden Auseinandersetzung wurde der ehemalige KZ-Häftling Ernst Kirchweger so schwer verletzt, dass er zwei Tage später starb. Kirchweger wurde als »erster politischer Toter der Zweiten Republik« bezeichnet; 25.000 Menschen versammelten sich am 8. April zu einer Trauerkundgebung auf dem Wiener Heldenplatz.1235 Als Hans Kelsen von diesen Ereignissen erfuhr, schrieb er am 17. April an Justizminister Broda und sagte seine Reise nach Wien ab, »um mir und der Universität Unannehmlichkeiten zu ersparen.«1236 Die österreichische Bundesregierung beschloss hierauf, Kelsen »als Ehrengast der Bundesregierung zur Teilnahme an der 1233 Das Original-Interview ist verschollen, wurde aber später, mit einer Einleitung durch Gerhard Bronner und dem Originalschauspieler Kurt Sobotka in der Rolle des Hochschulprofessors nachgestellt: https://tvthek.orf.at/profile/Archiv/7648449/Fiktives-Inter view-mit-Taras-Borodajk ewycz /9462767/Fiktives-Inter view-mit-Taras-Borodajkewycz/9462768 [Zugriff: 03. 05. 2019]. Vgl. Kropiunigg, Eine österreichische Affäre (2015) 44 ff.; Lacina, Borodajkewycz (2019) 60. 1234 Taras Borodajkewycz in der Pressekonferenz v. 23. 3. 1965, abgedruckt in Fischer, Einer im Vordergrund (1966) 98; die zitierte Passage mit minimalen Abweichungen auch bei Kropiunigg, Eine österreichische Affäre (2015) 48. 1235 Wirth, Broda (2011) 275; Kropiunigg, Eine österreichische Affäre (2015) 63 ff. 1236 Hans Kelsen, Schreiben an Christian Broda v. 17. 4. 1965, in: Fischer, Einer im Vordergrund (1966) 133. Bereits am 15. 4. hatte Kelsen an Verdroß geschrieben und ihn offenbar um Hintergrundinformationen gebeten (dieser Brief ist nicht erhalten); in seinem Antwortschreiben versuchte Verdroß, den »Zwischenfall an der Welthandelshochschule« als eine »isolierte Erscheinung« herunterzuspielen, betonte, dass es ansonsten seit 1945 keine einzige antisemitische Demonstration an der Universität Wien gegeben hatte und erinnerte auch daran, »wie viele rassische [sic] Demonstrationen es in den USA gibt. […] Abgesehen von einigen Narren und Hinterwäldlern gibt es in Österreich seit 1945 keinen Antisemitismus mehr, auch nicht an der Universität.« Alfred Verdross, Brief an Hans Kelsen v. 20. 4. 1965, HKI, Nachlass Kelsen 16b12.59.
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600-Jahr-Feier der Wiener Universität einzuladen.«1237 Broda setzte Kelsen telefonisch vom Ministerratsbeschluss in Kenntnis, und dieser erklärte daraufhin, wie ursprünglich geplant, zu den Feierlichkeiten kommen zu wollen. Am 8. Mai 1965 landete Hans Kelsen am Wiener Flughafen und wurde dort von Broda, Fischer sowie auch vom Leiter des Verfassungsdienstes im Bundeskanzleramt, Sektionschef Edwin Loebenstein, abgeholt.1238 Die eigentlichen akademischen Feierlichkeiten zum 600-Jahr-Jubiläum waren prächtig, spiegelten aber zugleich die damalige Unfähigkeit der Universität Wien wider, sich mit ihrer Geschichte in der NS-Zeit in angemessener Art und Weise auseinanderzusetzen.1239 Die Rechts‑ und Staatswissenschaftliche Fakultät hatte beschlossen, im Rahmen der Feiern sieben Gelehrten das Ehrendoktorat zu verleihen, darunter dem ehemaligen Nationalsozialisten Ernst Forsthoff, der 1942/43 hier gelehrt hatte.1240 Dies sorgte in der Öffentlichkeit für Erstaunen und führte zu mehreren parlamentarischen Anfragen an den Unterrichtsminister. Die Fakultät beharrte energisch auf ihrem Standpunkt; Antoniolli schrieb dem Rektor, dass alle Professoren des Verfassungsrechts hinter Forsthoff stünden, so wie sie vier Jahre zuvor hinter Kelsen gestanden seien. Dekan Fritz Schwind – der Sohn von Ernst Schwind – erklärte gegenüber Forsthoff, zurücktreten zu wollen, falls dieser die Ehrung nicht bekomme, konnte ihn aber auch dazu bewegen, nicht persönlich beim Festakt in Wien zu erscheinen. Vielmehr wurde Forsthoff die Promotionsurkunde vier Jahre später in seiner Heimatstadt Heidelberg überreicht.1241 Kelsen dagegen beteiligte sich, gemeinsam mit 17 anderen, ehemals in Österreich und nunmehr im Ausland lehrenden Wissenschaftlern, an einer »Tabula gratulatoria« zum 600. Geburtstag der Alma Mater Rudolphina. Auf zwei Seiten der Wochenendausgabe der Zeitung »Die Presse« vom 8./9. Mai erinnerten sich Friedrich August v. Hayek, Konrad Lorenz, Robert Kann, Oskar Morgenstern und andere berühmte Persönlichkeiten an ihre Zeit an der Universität Wien und übersandten ihrer Alma Mater Glückwünsche. Hans Kelsen verfasste einen kurzen Text, »Frei von politischem Zwang«, in dem er erklärte, dass es gerade seine Zugehörigkeit zur Universität Wien gewesen war, die ihn zur Einsicht geführt hatte, »daß Wissenschaft von Politik 1237 Wiener Zeitung v. 22. 4. 1965, in: Fischer, Einer im Vordergrund (1966) 295; vgl. auch Métall, Kelsen (1969) 93. 1238 Heinz Fischer, Brief an Roland Koberg v. 18. 9. 2018 (im Besitz v. Roland Koberg). Die innenpolitische Situation ist auch im Zusammenhang mit der Bundespräsidentenwahl vom 23. 5. 1965 zu sehen; vgl. Kniefacz/Erker, Verleihung (2019) 286 f. 1239 Es sei hier die Bemerkung gestattet, dass sich in diesem Bereich in der Zwischenzeit erfreulicherweise viel verändert hat und dass die 650-Jahr-Feiern der Universität Wien 2015 auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Universität Wien in der NS-Zeit ermöglichten, nicht nur, aber insbesondere mit der Plakatausstellung »bedrohte Intelligenz«, die von Prof. Franz Stefan Meissel und mir kuratiert wurde. 1240 Vgl. zu Forsthoffs Berufung nach und Wirken in Wien: Schartner, Staatsrechtler (2011) 29–36. 1241 Kniefacz/Erker, Verleihung (2019) 290 f., 297, 301.
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getrennt sein muß.« Und dies war nicht nur als Zusammenfassung der Reinen Rechtslehre auf kürzest mögliche Form, sondern durchaus auch als ein Seitenhieb auf die Politisierung der Universität zu verstehen.1242 Etwas länger war der Text, den Kelsen für das Jahrbuch der Sommerhochschule der Universität Wien (die seit 1956 in Strobl am Wolfgangsee abgehalten wird) verfasste und in dem er von seiner Zeit an der Universität Wien berichtete. Dieses Jahrbuch kann durchaus als eine Art »Gegenfestschrift« angesehen werden, enthielt es doch 15 Autobiographien von emigrierten Wissenschaftlern (außer Kelsen auch noch Albert Ehrenzweig, Josef L. Kunz u. a.) mit nicht immer nur positiven Erinnerungen an die Universität Wien.1243 Am 13. Mai begleitete Heinz Fischer Kelsen wieder zum Flughafen. Kelsen, der von der Hilfsbereitschaft Fischers offenbar sehr angetan war, fragte ihn halb im Scherz, halb im Ernst, ob er nicht als sein Privatsekretär mit nach Berkeley kommen wolle, worüber sich dieser freute, jedoch ablehnte.1244 Kelsen flog zunächst nach Genf, wo er aber nur kurz blieb, und dann wieder nach Berkeley zurück.1245 Es war das letzte Mal, dass Kelsen europäischen Boden betreten hatte. Was Ferdinand Lacina betraf, so hatte dieser in der Zwischenzeit sein Studium an der Hochschule für Welthandel erfolgreich abgeschlossen und war nun bereit, als Zeuge gegen Borodajkewycz auszusagen. Das Verfahren gegen Fischer wurde wiederaufgenommen, und Borodajkewycz rückte nun auch von seiner Behauptung ab, Kelsen habe früher Kohn geheißen, vielmehr habe er bereits vor vier oder fünf Jahren davon erfahren, »daß Kelsen früher Littmann geheißen haben soll.«1246 Das neue Verfahren endete mit einem Freispruch für Fischer; einer Berufung wurde nicht stattgegeben.1247 Nun erst wurde an der Hochschule für Welthandel – der Nachfolgerin der Exportakademie, an der Kelsen selbst 1909–1918 unterrichtet hatte – ein Disziplinarverfahren gegen Borodajkewycz durchgeführt; aber erst 1971 wurde er, unter Wahrung seiner Bezüge, in den vorzeitigen Ruhestand versetzt.
1242 Kelsen,
Frei von politischem Zwang (1965). Kelsen, Encounters and Problems (1965). Vgl. Kniefacz/Posch, Selbstdarstellung mit Geschichte (2015) 401. 1244 Heinz Fischer, Brief an Roland Koberg v. 18. 9. 2018 (im Besitz v. Roland Koberg). 1245 Métall, Kelsen (1969) 93. 1246 Taras Borodajkewycz in der Vernehmung vom 27. 4. 1965, zit. n. Fischer, Einer im Vordergrund (1966) 138. Diese – ebenso wie die vorige – unrichtige Behauptung beruhte wahrscheinlich auf einer Missdeutung des Eintrages von Hans Kelsen im Prager Geburtenbuch (oben 40), bei der Kelsens Vater mit seinen beiden Vornamen als »Abraham Littmann Kelsen« eingetragen worden war; vgl. dazu schon Olechowski, Herkunft (2008) 851. Trotz allem ist das Gerücht um einen angeblichen Namenswechsel Kelsens bis heute nicht verstummt: Im Juni 2016 hielt ein österreichischer Nationalratsabgeordneter in einer rechtsextremen Vereinigung einen Vortrag, in dem er behauptete, Kelsen habe eigentlich Kohn geheißen, »aber er hat sich Kelsen genannt«: Der Standard v. 19. 7. 2017, 7. 1247 Urteil des Straflandesgerichts Wien vom 30. 11. 1965, in: Fischer, Einer im Vordergrund (1966) 202–218. 1243
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4. Teil: Amerika und die Welt
11. »Ich habe mich entschlossen, nichts mehr zu publizieren« Anlässe, wieder nach Europa zu reisen, hätte es für Kelsen auch nach 1965 noch viele gegeben: Am 25. Oktober 1966 verlieh ihm der Wiener Bürgermeister Bruno Marek den »Ehrenring der Stadt Wien«;1248 am 1. Juni 1967 wurde ihm, sowie auch Merkl und Verdroß das Ehrendoktorat der Universität Salzburg zuerkannt;1249 am 12. Juli 1967 wählte die British Academy Kelsen zu ihrem »Corresponding Fellow«;1250 am 20. Juni 1972 erhielt er das Ehrendoktorat der Université Strasbourg.1251 Kelsen sagte in den meisten Fällen zu, persönlich zu kommen, aber stets musste er seine Teilnahme wieder absagen und sich vertreten lassen; die lange Reise war für ihn zu beschwerlich geworden. Dabei zeigte er sich noch bis ins hohe Alter reiselustig, so etwa als ihm der Dekan der juristischen Fakultät zu Köln 1971 zu seinem 90. Geburtstag gratulierte und ihn einlud, wieder einmal nach Deutschland zu kommen. Kelsen zeigte sich durchaus interessiert, fügte jedoch hinzu: »Aber bei meinem hohen Alter kann diese meine Absicht auf Schwierigkeiten stossen; ich kann daher ein festes Versprechen nicht machen.«1252 Tatsächlich kam auch diese Reise niemals zustande. Trotz der sich mehrenden Zeichen, dass die Kräfte Kelsens allmählich nachließen, kam das Ende seiner wissenschaftlichen Tätigkeit für Viele überraschend plötzlich. Als ihn Mario Losano im Herbst 1966 um einen Aufsatz für die Zeitschrift »Il Politico« bat, lehnte Kelsen diesen Wunsch mit folgenden Worten ab: »Ich habe das 85. Lebensjahr überschritten und mich daher entschlossen, mit Ausnahme dessen, was schon zur Presse gegangen ist, nichts mehr zu publizieren, es wäre denn, dass ich dazu durch einen Angriff gezwungen bin und zu einer Erwiderung noch im Stande bin. Vor kurzem habe ich den Antrag, eine deutsche Übersetzung meiner Abhandlung ›The Communist Theory of Law‹ zu publizieren, abgelehnt.«1253 Tatsächlich kam es immerhin noch zweimal zu – von Kelsen anscheinend vorhergesehenen – »Angriffen«, die ihn dazu veranlassten, das von ihm selbst gesetzte Ende zumindest noch ein klein wenig hinauszuzögern: So veröffentlichte 1967 der damals 28jährige deutsche Philosoph 1248 Métall, Kelsen (1969) 100 f.; Jestaedt, Nicht-Remigration (2017) 252. Ein Einladungskärtchen zum Festakt befindet sich im Archiv der ÖAW, Personalakt Hans Kelsen. 1249 Der Festakt, zu dem Kelsen noch kommen wollte, jedoch buchstäblich in letzter Minute, am Flughafen, absagte, ist umfassend dokumentiert bei Schaup-Weinberg, Philosophie huldigt dem Recht (1968). Dass die Reine Rechtslehre von der erst fünf Jahre zuvor (wieder‑)errichteten Universität Salzburg derart stark geehrt werden sollte, war innerhalb der Fakultät nicht unumstritten und letztlich auf René Marcic, der 1966/67 als Rektor amtierte, persönlich zurückzuführen; vgl. Pinwinkler, Zwischen Kelsen und Karajan (2019) 219. 1250 Mortimer Wheeler (Sekretär der British Academy), Schreiben an Hans Kelsen v. 12. 7. 1967, HKI, Nachlass Kelsen 15a3.57. 1251 Die Promotionsurkunde befindet sich in: HKI, Nachlass Kelsen 19r (Ablage 3). 1252 Hans Kelsen, Brief an Klaus Stern (Dekan der juristischen Fakultät zu Köln) v. 26. 7. 1971, UA Köln, Zug 598/143. 1253 Hans Kelsen, Brief an Mario G. Losano v. 26. 11. 1966, HKI, Nachlass Kelsen 16b4.59. Bis heute wurde »The Communist Theory of Law« in zahlreiche Sprachen, darunter ins Arabische und ins Chinesische, nicht jedoch ins Deutsche übersetzt.
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5. Kapitel: Das Alterswerk
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Rupert Hofmann seine Dissertation »Logisches und metaphysisches Rechtsverständnis. Zum Rechtsbegriff Hans Kelsens«, in der der nachmalige Regensburger Professor zum Schluss kam, dass Kelsens »Versuch, einen Rechtsbegriff auf der Grundlage des durch die moderne Naturwissenschaft inaugurierten Seinsbegriffs zu errichten, […] dank der unerbittlichen Konsequenz von Kelsens eigener Gedankenführung in sich zusammen[bricht]. […] Die Reine Rechtslehre stellt uns somit vor die Wahl, entweder an der politischen Wirklichkeit zu verzweifeln, oder aber im Begriff des Rechts doch mehr zu sehen als nur einen fiktiven Denkbehelf.«1254 Hans Kelsen konnte diesen Frontalangriff auf seine Lehre nicht unbeantwortet lassen; in einer ausführlichen Erwiderung in der ZÖR stellte er fest, dass die Kritik Hofmanns »auf einer in vielen Beziehungen unrichtigen Darstellung meiner Lehre« beruhe, und versuchte »die Richtigstellung ihrer wesentlichsten Behauptungen.«1255 Aber schon ein halbes Jahr später musste sich Kelsen mit einer nicht minder heftigen Kritik an seiner Lehre auseinandersetzen. Diesmal wurde sie von dem Wiener Rechtsanwalt Karl Leiminger in dessen Schrift »Die Problematik der Reinen Rechtslehre« erhoben.1256 Auch auf sie entgegnete Kelsen in der ZÖR und bemerkte, dass dieser von einem »bisher unbekannten Autor« geführte Angriff »an sich keiner so ausführlichen Erwiderung wert [wäre], wenn er nicht in der von dem Professor der Universität Wien: Dr. Günther Winkler, herausgegebenen und von diesem Gelehrten eingeleiteten Sammlung: Forschungen aus Staat und Recht, als Band 3 in dem sehr angesehenen Springer-Verlag« – demselben Verlag, in dem auch die ZÖR erschien – »publiziert wäre«.1257 Die Schriftleitung der ZÖR vermerkte zu Hans Kelsens Erwiderungen auf Hofmann und Leiminger, dass die Manuskripte am 20. August 1967 bzw. am 8. Jänner 1968 eingegangen seien.1258 Es waren dies die letzten beiden Originalarbeiten Kelsens, die er selbst zur Publikation eingereicht hatte. Der mittlerweile 87jährige hatte in ihnen noch einmal glanzvoll die Schärfe seines Verstandes unter Beweis gestellt. Doch schon bald nach diesen Auseinandersetzungen alterte er rapide. Rudolf Métall meinte später gegenüber Kelsens Tochter Maria Feder, er habe schon bei seinem letzten Zusammentreffen mit Kelsen 1967 »mit Sorge beobachtet, wie sehr Dein Vater sich von Familie und Freunden (und wie Du richtig schreibst: bewusst) abgeschlossen hat.«1259 1254 Hofmann, Rechtsbegriff Hans Kelsens (1967) 122. Schon 1964 hatte sich Hofmann, noch als Dissertant, an Kelsen gewendet, um ihn zu fragen, ob es wahr sei, dass dieser vorhabe, seine Lehre »in entscheidenden Punkten zu revidieren«, worauf Kelsen ihm ausführlich seine Ansicht, dass »die logischen Prinzipien« auf Normen nicht anwendbar seien, erläuterte, wofür sich Hofmann bedankte, zugleich aber eine Kritik dieser Lehre in seiner Dissertation ankündigte: Rupert Hofmann, Briefe an Hans Kelsen v. 3. 1 2. 1964 und v. 29. 1 2. 1964 sowie Antwortschreiben v. 9. 1 2. 1964, alle in: HKI, Nachlass Kelsen 16c4.60. 1255 Kelsen, Logisches und metaphysisches Rechtsverständnis (1968) 1–35, hier 1. 1256 Leiminger, Problematik (1967). 1257 Kelsen, Problematik (1968). 1258 Anmerkungen bei Kelsen, Logisches und metaphysisches Rechtsverständnis (1968) 1 und Kelsen, Problematik (1968) 143. 1259 Rudolf A. Métall, Brief an Maria Feder v. 13. 4. 1973, Original im Besitz von Anne Feder Lee.
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4. Teil: Amerika und die Welt
Noch gab es Höhepunkte in Kelsens Leben, bei denen er sich frisch und vital zeigte. Als der österreichische Justizminister Hans R. Klecatsky im Zuge einer Amerika-Reise am 2. Mai 1968 auch Kelsen in dessen Haus in Berkeley besuchte, erklärte der Gastgeber, dass es ihm »gesundheitlich im allgemeinen recht gut« gehe. Er arbeite »schon seit längerer Zeit an einer allgemeinen Normentheorie«, die nicht nur die Normen des Rechts erfassen, sondern auch eine »Theorie der Moralnormen, der Ethik, und der Theorie der logischen Normen« sein solle. »Und das Hauptkapitel in dieser allgemeinen Normentheorie ist gewidmet dem Problem der Anwendbarkeit logischer Prinzipien auf Normen.«1260 Das klang ganz so, als ob Kelsen vorhatte, dieses Buch auch abzuschließen und zu veröffentlichen, wie er es schon mit so vielen anderen Büchern getan hatte, und Klecatsky gratulierte dem 87-jährigen zu dessen Schaffenskraft. Ein weiteres, deutliches Signal, dass er weiterhin an Fragen der Rechtstheorie interessiert war, gab Kelsen, als er, ebenfalls 1968, eingeladen wurde, gemeinsam mit Karl Engisch, H. L. A. Hart, Ulrich Klug und Sir Karl Popper eine neue Zeitschrift herauszubringen: »Rechtstheorie« sollte sie heißen; sie erschien ab 1970 im West-Berliner Verlag Duncker & Humblot. Die Prominenz der übrigen Mitherausgeber dürfte den Ausschlag dafür gegeben haben, dass auch Kelsen zusagte, dass sein Name auf der Titelei stehen sollte. Aber zugleich schrieb Kelsen der Redaktion, dass er selber nichts in dieser Zeitschrift publizieren wolle.1261 Selbst als Kelsen gefragt wurde, ob er einen Beitrag zu einer Festschrift für Adolf Merkl zu dessen herannahendem 80. Geburtstag verfassen wolle, lehnte Kelsen ab und richtete stattdessen am 15. Februar 1969 einen Brief an den Jubilar:1262 Lieber, hochverehrter Freund! Da ich glaube wegen meiner durch hohes Alter verursachter Gedächtnisschwäche – mit Ausnahme von Erwiderung auf Angriffe – nicht mehr publizieren zu sollen, konnte ich zu meinem größten Bedauern dieser zu Deinen Ehren veranstalteten Festschrift keine Abhandlung als Beitrag zur Verfügung stellen. Ich muss mich darauf beschränken, auch bei diesem Anlass dankbarst die große Bedeutung anzuerkennen, die Dein wissenschaftliches Werk für die Reine Rechtslehre hat. Hans Kelsen
Es war ein Abschied für immer. Einige Wochen später erlitt Merkl einen Oberschenkelhalsbruch und wurde in das Wiener Sanatorium Liebhartstal gebracht. Ans Bett gefesselt, erlebte er noch einen Neudruck seines »Allgemeinen Verwaltungsrechts«, aber nicht mehr das Erscheinen der Festschrift: Nach monatelangem Leiden starb Adolf Julius Merkl am frühen Morgen des 22. August 1970 in Wien-Liebhartstal.1263 Der Schüler war seinem Lehrer vorangegangen. 1260 Hans
Kelsen, Interview mit Hans Klecatsky v. 2. 5. 1968. Kelsen, Schreiben an die Redaktion der Zeitschrift »Rechtstheorie« v. 20. 9. 1968, zit. n. Adomeit, Kelsen (1973) 129. Vgl. zur Zeitschriftengründung auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts IV (2012) 388. 1262 Als Faksimile abgedruckt in: Imboden, Festschrift (1970) 11. 1263 Schambeck, Merkl (1971); Grussmann, Merkl (1989) 48. 1261 Hans
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5. Kapitel: Das Alterswerk
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Die UC Berkeley war in jener Zeit zum Mittelpunkt der Hippie-Bewegung und der Vietnamkriegs-Gegner geworden. Kelsen nahm kaum Notiz von den Vorgängen in und um Berkeley, wie etwa dem Human Be-In im Golden Gate Park am 14. Jänner 1967, das den »Summer of Love« einleitete, oder den People’s Park-Protesten, die am 15. Mai 1969 in blutigen Schlägereien mit der Polizei endeten.1264 Sie gehörten einer anderen Welt an als der, in der der fast 90-jährige Wissenschaftler lebte. Kontakte mit einzelnen Studenten pflegte Kelsen auch weiterhin: So führte er im Juli 1968 ein langes Gespräch mit dem jungen Juristen (und späteren Professor für Handelsrecht an der Universität Linz) Heinz Keinert, der im Anschluss an seine Promotion in Österreich nach Berkeley gekommen war, um dort seinen LL. M. zu machen. Teile dieses Gesprächs wurden von Keinert mit Tonband aufgezeichnet.1265 Beim gemeinsamen Kaffee (Kelsen: »Zucker ist der bessere und der größere Teil des Kaffees«) erläuterte Kelsen nochmals die Bedeutung der Grundnorm (»Wenn wir eine objektiv gültige Rechtsordnung annehmen, so setzen wir diese Grundnorm voraus […] Diese Annahme ist möglich, aber sie ist nicht notwendig. Man kann die menschlichen Verhältnisse als reine Machtverhältnisse deuten. Man muss sie nicht als Rechtsverhältnisse deuten.«). Aber auch bei diesem Interview wird klar, dass Kelsen am Ende seines Lebens angekommen ist: Er klagt über Erinnerungslücken (»Das macht mich sehr nervös diese Schwächung des Gedächtnisses«) und macht sich viele Gedanken über das, was nach seinem Tod sein wird. Kelsen hat eine Reihe von Gedichten geschrieben und liest dem 25jährigen, den er kaum kennt, einige davon vor: »Es freut mich nicht, wenn man mich ehrt. Denn wenn, was jung man heiß begehrt, Im Alter einem erst beschert, Ist solche Gabe nichts mehr wert. Doch wenn man mir nicht Ehre tut, Verlier’ ich allen Lebensmut.« »Fürchte Dich nicht vor Leiden, Trag tapfer jede Pein. Lerne Dich endlich bescheiden. Mit allem was da muß sein. Es kann ja nicht lange mehr dauern, Bis alles zu Ende ist Und du hinter Friedhofsmauern Ein Häufchen Asche bist.« »Wozu Hab viele Jahre gelebt Und viel Papier beschrieben, Hab’ ehrlich nach Wahrheit gestrebt Und bin im Irrtum geblieben. 1264 Über diese berichtete Gerold Herrmann, der Kelsen noch am 19. 7. 1969 besuchte, im Interview mit dem Verfasser, 21. 10. 2008. 1265 Hans Kelsen, Interview mit Heinz Keinert, Anfang Juli 1968.
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4. Teil: Amerika und die Welt
Nun alles zu Ende geht Quält mich die ewige Frage: Wozu mein täglich Gebet um Gnade, wozu die Plage? Die Antwort: Es gibt kein Wozu, Kein Weg führt zu einem Ziele; Nur zu der ewigen Ruh’ Gibt es der Wege gar viele.«1266
Dieses letzte Gedicht dürfte Kelsen besonders am Herzen gelegen sein, denn einige Worte daraus sah er für seinen eigenen Grabspruch vor: »Nach Wahrheit gerungen In Irrtum gefallen Das Lied ist verklungen Und der es gesungen Vergessen von Allen.«
Die nicht einmal fünf Jahre, die Kelsen noch blieben, waren gezeichnet vom körperlichen und – was für die Menschen, die ihn seit langem kannten und auch in jener Zeit begleiteten, noch schlimmer erscheinen mochte – geistigen Verfall des Gelehrten. Dieser kam nicht plötzlich und auch nicht fortschreitend, sondern in Schüben, zwischen denen es Kelsen immer wieder etwas besser ging und er scheinbar noch ganz der Alte war. So etwa, als Ehrenzweig für Kelsens 90. Geburtstag einen Lunch mit Professoren der Universität Berkeley organisierte und der Geehrte eine Tischrede hielt, bei der er meinte, es sei ja keine Tugend, neunzig zu werden, aber trotzdem könne man es ja genießen.1267 Doch tauchten die Konzentrationsschwächen und Phasen geistiger Verwirrung nun immer öfter auf; im September 1970 erhielt er Besuch von Helene Hoffmann und bat sie bei der Verabschiedung, doch auch ihrem Mann schöne Grüße zu übermitteln – nicht realisierend, dass dieser schon zwei Jahre zuvor gestorben war!1268 Sichtbares Zeichen für die Veränderung, die mit Hans Kelsen vorging, war, dass er sich eines Tages nicht mehr rasierte. Eines der letzten Fotos von ihm zeigt ihn mit einem langen, weißen Bart und sehr abgemagert, neben seiner Frau sitzend und etwas verloren in das Objektiv blickend.1269 Für Grete Kelsen wurden die letzten Jahre besonders schwierig. Hatte sie schon bisher Ehefrau und Mutter, Sekretärin und Gefährtin zugleich sein müssen, wurde nun 1266 Ein Autograph dieses Gedichts, mit Datierung 7. 4. 1968 und einer Widmung »Für Virginia«, wurde mir von Kelsens letzter Assistentin, Virginia McClam, bei unserem Interview am 5. 7. 2007 geschenkt. 1267 So der beim Lunch anwesende Richard Buxbaum, Interview v. 3. 7. 2007. 1268 Alexander Hoffmann, Interview v. 5. 7. 2007. 1269 Vgl. in diesem Buch Abb. 56 sowie in HKW I, 132 die Abb. 54. Die Datierung »1971« ist unsicher, da Richard Buxbaum, Interview v. 3. 7. 2007, meinte, dass Kelsen bei seinem 90. Geburtstag im Oktober 1971 noch keinen Bart getragen habe; der auf dem Foto zu sehende Bart aber schon mehrere Monate alt sein musste.
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5. Kapitel: Das Alterswerk
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Abb. 56: Hans und Grete Kelsen in Berkeley, 1971.
der über 80-jährigen Frau zugemutet, die Pflege eines alten, zunehmend unter geistiger Verwirrung leidenden Mannes zu übernehmen. Dabei war während der mehr als sechzig Jahre ihrer Ehe eher sie diejenige gewesen, die für Krankheiten anfällig gewesen war, während Hans Kelsen nur selten ans Bett gefesselt war. Schon seit längerem litt sie an einer Erkrankung der Herzkranzgefäße.1270 Einer der letzten Briefe von Grete Kelsen datiert vom 15. Dezember 1972 und ist an Robert Walter gerichtet, der ihr von der Tätigkeitsaufnahme des Hans Kelsen-Instituts berichtet hatte.1271 Grete antwortete, dass sich ihr Mann »über die Aufnahme der Stiftungstätigkeit aufrichtig gefreut« habe, »was jetzt in seinem leidenden Zustand sehr selten vorkommt. Er hat mich beauftragt, Ihnen für alle Ihre Bemühungen auf das Wärmste zu danken.«1272 Wenige Tage später, um die Jahreswende 1972/73, begab sich Grete Kelsen in das Alta Bates Hospital in Berkeley und starb dort am 5. Jänner 1973 an einem Herzinfarkt.1273 1270 Der Totenschein (Certificate of Death of Margaret Kelsen, 2007 angefertigtes Duplikat im Besitz von Anne Feder Lee) gab als Krankheit, die zum Tod geführt hatte, »ASHD« (atherosclerotic heart disease) an. Bereits 1961 schreibt Kelsen an Verdroß, dass seine Frau wegen einer Sklerose in ständiger Behandlung sei: UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Personalakten, J PA 331. 1271 Dazu oben Seite 6. 1272 Margarete Kelsen, Brief an Robert Walter v. 15. 1 2. 1972, Original im HKI, Korrespondenzmappen. 1273 Certificate of Death of Margaret Kelsen, 2007 angefertigtes Duplikat im Besitz von Anne Feder Lee.
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4. Teil: Amerika und die Welt
Die Enkeltochter Anne Feder Lee glaubt, dass ihre Großmutter den eigenen Tod vorausgesehen, ja sogar mit Absicht einen Zeitpunkt gewählt hat, zu dem Maria Feder auf Urlaub war, um ihre Tochter, zu der sie ein besonders enges Verhältnis hatte, zu schonen. Nun aber musste Maria die Pflege Hans Kelsens übernehmen. Es ist ungewiss, wie viel er von den Geschehnissen rund um ihn noch mitbekam. Der Tod seiner Frau wurde ihm nicht mitgeteilt, aber er stellte auch keine Fragen. Es war nur klar: Etwas war anders geworden.1274 Am 16. März schrieb Frederick Mayer an Robert Walter: »Glücklicherweise ist der geistige Zustand von Herrn Professor Kelsen so, dass er gar nicht weiss, dass seine wunderbare Lebensgefährtin nicht mehr am Leben ist. Als meine Frau und ich Herrn und Frau Professor in Berkeley im Juli 1972 besuchten, erkannte er uns nicht mehr. Es ist hart – und das war vielleicht teilweise die Todesursache von Frau Professor – den meines Erachtens grössten Rechtsphilosophen dieses Jahrhunderts so dahin siechen zu sehen.«1275 Nach mehreren Wochen, in denen sich Maria Feder vergeblich bemüht hatte, eine geeignete Pflegerin zu finden, die Hans Kelsen zu Hause betreuen könnte, entschloss sie sich, ihren Vater in ein Pflegeheim zu geben. Aus den Briefen Rudolf Métalls an Maria Feder ist die Verzweiflung der Tochter zu erahnen; Métall musste ihr mehrmals versichern, dass die Entscheidung »unvermeidlich und vernünftig« war, auch wenn es klar sei, »dass eine ›Rückkehr‹ bei einem 92jährigen ausgeschlossen sein dürfte. Wenn also, wie Du schreibst, das Heim gut und die Pflege zufriedenstellend sind, so ist es, so traurig es ist und so schwer Dir der Entschluss gefallen sein mag, aus menschlichen und finanziellen Gründen am besten und richtigsten, zumal Du ihn ja doch regelmässig besuchen und im Heim nach dem rechten sehen kannst.«1276 Anfang April wurde Hans Kelsen in das Orinda Convalescent Hospital in der kleinen Stadt Orinda im County of Contra Costa, rund acht Kilometer östlich von Berkeley, gebracht. Er scheint spätestens zu diesem Zeitpunkt jeden Lebenswillen aufgegeben zu haben und verweigerte im Heim die Nahrungsaufnahme. Das Pflegepersonal erklärte, diesen Willen respektieren und ihn nicht zum Essen zwingen zu wollen.1277 Knapp drei Wochen später, am Gründonnerstag, dem 19. April 1973, um 11 Uhr Vormittag pazifischer Zeit, starb Hans Kelsen im Orinda Convalescent Hospital.1278
1274 Anne
Feder Lee, Interview v. 15. 10. 2006. Mayer, Brief an Robert Walter v. 16. 3. 1973, Original im HKI, Korrespondenz-
1275 Frederick
mappen. 1276 Rudolf A. Métall, Brief an Maria Feder, 13. 4. 1973, Original im Besitz von Anne Feder Lee. 1277 Anne Feder Lee, Interview v. 15. 10. 2006. 1278 Certificate of Death of Hans Kelsen, 2007 angefertigtes Duplikat im Besitz von Anne Feder Lee. Als Todesursache wurde Herzstillstand (»cardiac arrest«) infolge einer allgemeinen Verkalkung der Blutgefäße, insbesondere jener des Gehirns und der Herzkranzgefäße (»generalized, coronary and cerebro-vascular atherosclerosis«) festgestellt. Damit war etwas umständlich umschrieben, dass Hans Kelsen an Altersschwäche gestorben war. Eine Autopsie wurde nicht durchgeführt.
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5. Kapitel: Das Alterswerk
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Abb. 57: Geoffrey Lee neben der Büste seines Urgroßvaters im Arkadenhof der Universität Wien, 1984.
Hans und Grete Kelsen hatten um eine Feuerbestattung gebeten. Die Kremationen fanden am 9. Jänner bzw. 20. April 1973 im nahe gelegenen Fairmont Memorial Park statt. Die Aschen wurden im Pazifischen Ozean verstreut. Maria Feder starb am 15. Juli 1994 in Kensington/CA, ihre Schwester Hanna Kelsen Oestreicher am 2. Juni 2001 in New York.
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Ergebnisse 1. Hans Kelsen entstammte einer kleinbürgerlichen, jüdischen Familie, wie sie für das Wien des späten 19. Jahrhunderts typisch war. Der Vater, Adolf Kelsen, aus Galizien, die Mutter, Auguste Löwy, aus Böhmen stammend, hatte sich die Familie zuerst in Prag, dann in Wien niedergelassen und rasch assimiliert. Mit wechselndem Geschick versuchte sie den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg. Dem Wunsch der Eltern entsprechend sollte der Zweitgeborene, Ernst Kelsen, den väterlichen Betrieb fortführen, der Erstgeborene jedoch, Hans Kelsen, eine akademische Bildung erhalten. An diesem Ziel hielt die gesamte Familie auch angesichts wirtschaftlicher Schwierigkeiten stets fest und ermöglichte Hans Kelsen so eine Universitätskarriere. 2. Es ist unwahrscheinlich, dass Hans Kelsen von seinen Eltern religiös erzogen wurde, zumal sein Vater Freimaurer war (für Hans Kelsen selbst ist eine Logenzugehörigkeit nicht belegt und erscheint nach den zur Verfügung stehenden Quellen unwahrscheinlich). Auch der Religionsunterricht in der Schule übte keinen nachweisbaren Einfluss auf Hans Kelsen aus. Als Erster in seiner Familie trat er formal aus der Israelitischen Kultusgemeinde aus und ließ sich 1905, kurz vor Ende seines Studiums, katholisch taufen, womit er einer weit verbreiteten Tradition jüdischer Studenten folgte und zugleich die Assimilationsbestrebungen seiner Familie fortsetzte. Ihm folgend, traten auch seine Geschwister nach und nach zum Christentum über, während seine Eltern, wohl aus Traditionsgründen, bis zu ihrem Tod (Adolf ) bzw. bis zur NS-Machtergreifung (Auguste) in der Israelitischen Kultusgemeinde verblieben. 3. Auch der zweite und letzte Konfessionswechsel Hans Kelsens – der Übertritt zur evangelischen Kirche A. B. im Jahre seiner Eheschließung 1912 – hatte kaum religiöse, sondern praktische Gründe. Insbesondere ist hier auf die Nichtscheidbarkeit von Katholikenehen hinzuweisen. Vielleicht entsprach Kelsen mit dem zweiten Konfessionswechsel auch einem Wunsch seiner Braut, Margarete Bondi, die zeitgleich von der jüdischen zur evangelischen Konfession übertrat. Da die Familie Bondi dem Großbürgertum zugehörte, bedeutete die Hochzeit einen gesellschaftlichen Aufstieg für Hans Kelsen; sie erfolgte erst, nachdem er eine feste Anstellung am k. k. Handelsmuseum erlangt und sich zusätzlich, 1911, an der Universität Wien habilitiert hatte. Margarete (Grete) Kelsen hatte zuvor u. a. die (nach Eugenie Schwarzwald benannte) »Schwarzwald-Schule« besucht; sie erwies sich als unentbehrliche Stütze für ihren Gatten auch bei dessen wissenschaftlicher Arbeit, z. B. bei Schreib‑ und Übersetzungsarbeiten. Hans Kelsen selbst unterrichtete in der Schwarzwald-Schule, insbesondere im Rahmen der dort eingerichteten »Rechtsakademie für Frauen«, womit er die emanzipatorischen Bestrebungen von Eugenie Schwarzwald aktiv unterstützte.
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4. In seinen wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigte sich Kelsen zwar immer wieder mit Religion, jedoch abgesehen von den antik-heidnischen Religionen nur mit dem Christentum und nur über diesen Umweg und nur sporadisch auch mit der jüdischen Bibel bzw. dem Alten Testament. In seinen frühen Arbeiten, wie z. B. »Gott und Staat« (1922), ging Kelsen pantheistischen Residuen in der Staatslehre nach. In zahlreichen Schriften, wie v. a. »Vom Wesen und Wert der Demokratie« (1920/29) bezeichnete er Jesus Christus als den »Sohn Gottes«; dennoch war er kein religiöser Mensch. Seiner innersten Überzeugung entsprach vielmehr ein Wertrelativismus, der sein gesamtes wissenschaftliches Werk durchzog. So erklärte er noch 1955, dass eine auf religiösem Wertabsolutismus und religiöser Demut basierende Toleranz gegenüber Andersdenkenden keine ausreichende Grundlage für die Demokratie darstelle. 5. In seiner Zeit als Schüler sowie als Student erbrachte Hans Kelsen mittelmäßige Leistungen und fiel in keiner Hinsicht besonders auf. Keiner seiner Lehrer oder Professoren, auch nicht Georg Jellinek in Heidelberg, zu dem er zweimal (1907 und 1908) eine Seminarreise unternahm, hatte einen bestimmenden Einfluss auf den jungen Kelsen. Dieser muss vielmehr als Autodidakt bezeichnet werden. Während seiner Schulzeit war Kelsen mit dem späteren Philosophen Otto Weininger befreundet; dieser Kontakt könnte seinen Ehrgeiz, wissenschaftlich tätig zu sein, entfacht haben, eine inhaltliche Einflussnahme Weiningers auf das Werk Kelsens ist aber kaum wahrnehmbar. 6. Die (erst ab 1920 so bezeichnete) Reine Rechtslehre wurde mit Kelsens Habilitationsschrift »Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze« (1911) begründet. Es existieren zu diesem Buch weder textliche Vorstufen noch vorausgehende kleinere Publikationen, sodass die neue Lehre in sehr unmittelbarer und geschlossener Weise auftritt. Kelsen hat an ihr bis zu seinem Lebensende, somit noch mehr als sechzig Jahre, weitergearbeitet und hat sie in Bezug auf viele, auch wichtige, Detailfragen fortentwickelt. Doch hat er stets an den beiden Grundpfeilern seiner Lehre festgehalten: der Nichterkennbarkeit oberster Werte und der Trennung von Sein und Sollen. In den »Hauptproblemen« unternahm Kelsen eine Strukturanalyse des Rechts, die eine Reihe von etablierten Lehrmeinungen, wie etwa zur Frage der juristischen Person oder dem subjektiven Recht, widerlegte. Der große Umfang und die sperrige Darstellung verzögerte die Wirkung der »Hauptprobleme« auf die Rechtswissenschaft. Erst die Fortführung der dort entwickelten Gedanken in weiteren Aufsätzen brachte ihr volles Potential zur Geltung. 7. Die Verbreitung der Reinen Rechtslehre wurde wesentlich durch die Privatseminare befördert, die Kelsen schon bald nach seiner Habilitation in seiner Wohnung veranstaltete. Nachdem er selbst 1918 außerordentlicher, 1919 ordentlicher Professor an der Universität Wien geworden war, konnte er sieben seiner Schüler habilitieren, die ersten fünf davon innerhalb von lediglich vier Jahren (1919–1922). Kein anderer Schüler wurde dabei so stark gefördert wie Fritz Sander, der es seinem Lehrer später mit dem Vorwurf des Plagiats »dankte«. Wie in derartigen Fällen üblich, leitete Kelsen im Frühjahr 1923 ein förmliches Disziplinarverfahren gegen sich selbst ein; die
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Vorwürfe Sanders gegen ihn erwiesen sich in diesem Verfahren als haltlos. Der Konflikt zwischen Kelsen und Sander ging weit über die wissenschaftliche Ebene hinaus. Die enge persönliche Freundschaft wich einer erbitterten – jedoch von Kelsen nicht erwiderten – Feindschaft Sanders gegenüber Kelsen, was sich u. a. darin äußerte, dass Sander 1933 ohne Erfolg eine Berufung Kelsens nach Prag zu verhindern versuchte. 8. In der »Affäre Sander«, aber auch in zahlreichen anderen Fällen zeigte es sich, dass Kelsen zwischen persönlicher Feindschaft und wissenschaftlicher Gegnerschaft unterscheiden konnte und dass er Personen förderte, auch wenn sie wissenschaftliche Standpunkte vertraten, die Kelsens eigenen Positionen diametral entgegenstanden. Diese – wohl in seinem Wertrelativismus basierende – Grundhaltung korrespondiert mit der Tatsache, dass Kelsen auch mit Professoren von entgegengesetzter Weltanschauung freundschaftliche Beziehungen pflegte (Othmar Spann) bzw. versuchte, persönliche Kontakte zu knüpfen (Carl Schmitt). 9. Die bedeutendsten Schüler Kelsens im vorhin angesprochenen Sinne waren Alfred Verdroß und Adolf J. Merkl. Sie zählten zu den ersten Teilnehmern von Kelsens Privatseminar und trugen in bedeutendem Maße zur Weiterentwicklung der Reinen Rechtslehre bei, auch wenn Verdroß schon bald eigene Wege ging und Merkl nach 1938 kaum noch rechtstheoretisch publizierte. Die Stufenbaulehre, die heute als einer der wichtigsten und bekanntesten Teile der Reinen Rechtslehre gilt, wurde zuerst, 1918, von Merkl formuliert. Kelsen hat sie in vereinfachter Form in seine Lehre integriert (er bezog sich stets nur auf den Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit, nicht auf den Stufenbau nach der derogatorischen Kraft), dabei jedoch stets die ursprüngliche Urheberschaft Merkls betont. In gewissem Maße eine Anwendung der Stufenbaulehre durch Kelsen stellt dessen – erstmals 1934 präsentierte – Interpretationslehre dar, wonach der Rechtswissenschaftler im Wege der Interpretation stets nur einen Rahmen ermitteln könne, innerhalb dessen mehrere »richtige« Lösungen existieren. 10. Für Kelsens wissenschaftliche Arbeiten war der dialektische, oft polemische Stil typisch: Erst in Auseinandersetzung mit anderen Lehren kam Kelsen zu seinen eigenen Thesen. In diesem Sinne wurde in Kelsens »Hauptproblemen« ein Großteil der damaligen deutschsprachigen Staatsrechtslehre kritisch analysiert. Mit keinem anderen Autor beschäftigte sich Kelsen dabei so intensiv wie mit Georg Jellinek. Und wenn er auch vielfach Jellinek kritisierte und dessen Thesen ablehnte, so übernahm er doch wohl vor allem über diesen Weg die neukantianischen Denkweisen seines Lehrers. Aus diesem Grund war es zunächst v. a. die sog. Südwestdeutsche Schule des Neukantianismus, deren Einflüsse Kelsen – mehr unbewusst als bewusst – verarbeitete. Insbesondere die Auseinandersetzung mit Fritz Sander führte Kelsen zu einer näheren Beschäftigung auch mit der Marburger Schule. Diese und einige andere Faktoren waren ursächlich für Kelsens Lehre von der sog. Grundnorm, die ansatzweise schon 1914 Erwähnung fand, aber erst 1920 in seiner Monographie »Das Problem der Souveränität« vollständig ausformuliert wurde. Mit ihr wagte sich Kelsen an die Grenzen des Positivismus. Kaum ein anderes Element der Reinen Rechtslehre hat so viel Aufmerksamkeit erregt, wurde so oft von Kelsen umformuliert wie die Lehre
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von der Grundnorm, was mitursächlich für die vielen Missverständnisse sein dürfte, die bis heute zu diesem Punkt in der Literatur bestehen. Mit dem Buch »Das Problem der Souveränität« sprengte Kelsen die Grenzen zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht. Auf die Frage, welchem dieser beiden Bereiche der Primat vor dem anderen zukomme, gab Kelsen niemals eine rechtstheoretische Antwort. Allerdings war seine persönliche Präferenz für einen Primat des Völkerrechts stets erkennbar, zumal eine solche Sichtweise mit seiner pazifistischen Grundhaltung besser korrespondierte. 11. In den Gutachten und Urteilsvorschlägen, die Kelsen als praktisch tätiger Jurist verfasste, hat er die von ihm selbst aufgestellten Interpretationsgrundsätze kaum beachtet und vielmehr ganz im Sinne der traditionellen Jurisprudenz eindeutige Lösungen für die ihm gestellten Probleme formuliert. Gerade die hier einschlägigen Texte zeichnen sich durch eine klare Sprache und in der Regel auch durch einen Verzicht auf langatmige theoretische Erörterungen aus, sodass ihre Ergebnisse auch von Personen geteilt werden konnten, die keine Anhänger der Reinen Rechtslehre waren. Dies erhöhte ihre Durchschlagskraft und somit auch den persönlichen Erfolg Kelsens. 12. In der Zeit des Ersten Weltkrieges war Kelsen in verschiedenen Einrichtungen der k. u. k. Armee und Heeresverwaltung tätig, in der Zeit des Zweiten Weltkrieges arbeitete er für die Roosevelt-Administration und die US-Army. Diese Tätigkeiten erwiesen sich jedes Mal als Karrieremotoren für Hans Kelsen. So vermochte es erst die Protektion durch den k. u. k. Kriegsminister, den antisemitischen Sperrwall der Universität Wien zu durchbrechen und Kelsen 1918 eine Anstellung als ao. Universitätsprofessor zu verschaffen. In ähnlicher Weise demonstrierte Kelsens Tätigkeit für die US-Behörden 1944/45 der University of California dessen »usefulness« und erleichterte ihm 1945 die Erlangung einer Professur. Trotz dieses mehrfachen Engagements im Militär war Kelsen Pazifist und setzte große Energien in Bemühungen, internationale Konflikte im gewaltfreien Wege zu lösen, wie v. a. seine Schrift »Peace through Law« (1944) zeigt. 13. Das Bemühen um gewaltfreie Konfliktlösungen ist auch der Hauptgrund, weshalb Kelsen aus tiefer Überzeugung Anhänger der Demokratie war, und zwar jener Art von Demokratie, wie sie im Wesentlichen auch durch das von ihm mitgestaltete österreichische Bundes-Verfassungsgesetz 1920 verwirklicht wurde. Seine theoretischen Überlegungen waren dabei anfangs stark von Jean-Jacques Rousseau geprägt, doch ließ er sich in seinen Ansichten auch von praktischen Erfahrungen leiten, woraus sich manche Unterschiede zwischen der 1920 erschienenen Erstauflage und der 1929 erschienenen Zweitauflage seiner Schrift »Vom Wesen und Wert der Demokratie« erklären. Kelsen erkannte das Spannungsverhältnis zwischen Parlamentarismus und Demokratie, bejahte aber dennoch den Parlamentarismus, weil dieser für ihn »die einzig mögliche reale Form« darstellte, »in der die Idee der Demokratie innerhalb der sozialen Wirklichkeit von heute erfüllt werden kann.« Aus Kelsens Bejahung der parlamentarischen Demokratie erklären sich insbesondere sein Engagement in der Volksbildung sowie sein Eintreten für ein Wahlrechtssystem, welches die Vorteile von Proporzsystem und Persönlichkeitswahlrecht zu verbinden suchte.
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14. Kelsens Demokratielehre ist das Pendant zu seiner Rechtslehre, beide können nur im Zusammenhang miteinander begriffen werden. Trotz strikter Trennung von Rechtswissenschaft und Politik(wissenschaft) entwickelte Kelsen eine Reihe von Thesen, wie etwa zum Problem der Repräsentation, die für beide Bereiche von Bedeutung waren. Der von ihm stets vertretene Wertrelativismus erfuhr in seiner Demokratielehre seine schärfste Ausprägung, indem er erklärte, dass die Demokratie sich nicht gegen antidemokratische Kräfte wehren könne und eine Demokratie weichen müsse, wenn sie von der Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr getragen werde. 15. Kelsen sympathisierte stets mit den Anliegen der österreichischen Sozialdemokratie und besaß in dieser eine Reihe persönlicher Freundinnen und Freunde, trat aber der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (oder sonst einer Partei) niemals bei. Der »orthodoxe«, von hegelianischem Denken geprägte Marxismus wurde von Kelsen auf wissenschaftlicher Ebene heftig bekämpft; insbesondere warf er ihm vor, Werte für Wirklichkeiten auszugeben und damit die Sein-Sollen-Dichotomie zu missachten. Das ab 1905/17 in Russland errichtete Rätesystem wurde von Kelsen als demokratisch gelobt, aber als praktisch undurchführbar kritisiert. Je mehr die basisdemokratischen Elemente in Russland einer Diktatur wichen, desto schärfer kritisierte Kelsen die Sowjetunion. Das 1948 publizierte Buch »The Political Theory of Bolshevism« wies ihn dann sogar als strikten Antikommunisten aus. Nicht zuletzt auf Grund dieses Buches wurden die Untersuchungen, die das FBI wenige Jahre später gegen Kelsen (wie gegen viele Intellektuelle in jener Zeit) in Bezug auf »antiamerikanische Umtriebe« durchführte, ergebnislos eingestellt. 16. Zwischen Mai und Juli 1919 verfasste Kelsen im Auftrag des österreichischen Staatskanzlers Karl Renner einen Entwurf für die künftige Bundesverfassung, den er bis September mehrfach abänderte, sodass heute sechs Entwürfe bekannt sind. Alle diese Entwürfe, vor allem der sog. Entwurf II, können als Grundlage für die spätere Verfassung angesehen werden. Kelsen nahm auch an zahlreichen Beratungen der Politiker als parteiunabhängiger Fachmann teil, so insbesondere zwischen Juli und September 1920 an den Sitzungen des Verfassungsunterausschusses der Konstituierenden Nationalversammlung, aus denen schließlich jener Text hervorging, der am 1. Oktober 1920 vom Plenum der Konstituierenden Nationalversammlung zum »Bundes-Verfassungsgesetz« erhoben wurde. Kelsen war damit die einzige Person, die die Verfassungswerdung in all ihren Stadien begleitete, und er hatte insbesondere an der rechtstechnischen Gestaltung derselben maßgeblichen Anteil, weshalb er als »Architekt der Bundesverfassung« bezeichnet werden kann. 17. Geringer, jedoch nicht zu unterschätzen, ist Kelsens Anteil am materiellen Gehalt der Bundesverfassung. Dabei ist nicht nur Kelsens beratende Tätigkeit in diversen Gremien, sondern sind auch seine einflussreichen Vorträge und Publikationen jener Zeit zu berücksichtigen. Am bedeutsamsten war Kelsens inhaltlicher Einfluss auf die Verfassungsgerichtsbarkeit und deren zentraler Kompetenz, jener zur Gesetzesprüfung. Eine Reihe anderer Personen, namentlich Georg Jellinek, Edmund Bernatzik, Karl Renner und Stephan Falser, hatten hier schon zuvor Überlegungen
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angestellt oder konkrete Vorschläge gemacht, und Kelsens eigene Vorschläge wurden im Laufe der Verfassungsdiskussion mehrfach abgeändert. Es ist daher unrichtig, Kelsen als den alleinigen »Vater der Verfassungsgerichtsbarkeit« zu bezeichnen. Unmittelbar auf Kelsen geht aber zumindest die heute praktisch bedeutsamste Variante der Gesetzesprüfung, die sog. konkrete Normenkontrolle, zurück. Bei dieser initiiert der Verfassungsgerichtshof selbst ein Gesetzesprüfungsverfahren, wenn er in einem anderen Verfahren Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines von ihm anzuwendenden Gesetzes hat. Kelsen hat auch – insbesondere in seinem (1928 gehaltenen und 1929 publizierten) Vortrag über »Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit« – das österreichische System der Verfassungsgerichtsbarkeit theoretisch untermauert und so wesentlich dazu beigetragen, dass dieses Modell von vielen anderen europäischen und außereuropäischen Staaten übernommen wurde. 18. Von Mai 1919 bis Februar 1930 war Kelsen – aufgrund eines einvernehmlichen Beschlusses aller im Parlament vertretenen Parteien – Mitglied des deutschösterreichischen Verfassungsgerichtshofs bzw. des Verfassungsgerichtshofs der Republik Österreich. Insbesondere als ständiger Referent desselben prägte er die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung in jenen Jahren maßgeblich. Das hohe persönliche Ansehen, das Kelsen als Universitätsprofessor, als »Verfassungsmacher« und als Verfassungsrichter genoss, warf er in die Waagschale, um in einem aus seiner Sicht unhaltbaren Konflikt zwischen Gerichten und Verwaltungsbehörden, dem sog. Dispensehenkonflikt, zu intervenieren. Wegen der politischen Brisanz dieses Konflikts wurde Kelsen für sein Engagement in extremem Maße, auch in Tageszeitungen und durch ein Plakat in seinem Wohnhaus, angefeindet. Der Dispensehenkonflikt war mitursächlich dafür, dass Kelsen, so wie auch alle anderen Mitglieder des VfGH, mit 15. Februar 1930 seines Amtes enthoben wurde. Nur zwei der vierzehn Mitglieder wurden wiederbestellt; Kelsen erhielt ein entsprechendes Angebot der Sozialdemokraten, das er jedoch ausschlug, weil er seine parteipolitische Neutralität bewahren wollte. Er nahm diese persönliche Kränkung zum Anlass, mitsamt seiner Familie Wien und Österreich zu verlassen und einen Ruf der Universität Köln anzunehmen. 19. Kelsens Abschied war allerdings auch eine Reaktion auf das immer stärker antisemitisch werdende Klima, das insbesondere an der Universität Wien herrschte. Kelsen hat in mehreren, antisemitisch konnotierten Disziplinarverfahren gegen Personen jüdischer Abstammung diese unterstützt, geriet aber zunehmend selbst unter Kritik. Namentlich die beiden antisemitischen Professoren Alexander Hold-Ferneck und Ernst Schwind waren erbitterte, auch persönliche Feinde Kelsens, während ihre rechtstheoretischen Streitschriften gegen ihn von untergeordneter wissenschaftlicher Bedeutung sind. Kelsens Weggang erfolgte 1930, also noch vor dem Ende der Demokratie in Österreich. Er war aufgrund der Umstände verständlich, jedoch nicht förmlich von der Universität oder dem Ministerium erzwungen, sondern erfolgte in diesem Sinne »freiwillig«. Der Freistaat Preußen übernahm alle Pensionsforderungen Kelsens. Daher kam es auch nach 1945 weder zu einer Rückberufung noch zu einem Wiedergutmachungsverfahren in Österreich.
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20. Der Weggang Kelsens aus Österreich war für ihn ein Bruch in mehrfacher Hinsicht. Es begann eine, durch die politischen Ereignisse jener Zeit bedingte, Odyssee, die ihn von Köln (1930–1933) über Genf (1933–1940), Prag (1936–1938) und Harvard (1940–1942) nach Berkeley führte. Zwar war Kelsen niemals ohne Lehrtätigkeit, doch waren die meisten dieser Engagements befristet und/oder ohne pensionsberechtigende Stellung, sodass er immer wieder mit Existenzsorgen zu kämpfen hatte; auch musste Kelsen bei seinen Gehaltsverhandlungen Einbußen hinnehmen, sodass er auch beträchtlichen wirtschaftlichen Schaden erlitt – es ihm allerdings noch immer besser erging als den allermeisten anderen vertriebenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern jener Zeit. Von zentraler Bedeutung war für ihn hierbei die Rockefeller Foundation, die ihn indirekt schon 1933–1940 über das Genfer Institut universitaire de hautes études internationales, 1940–1945 auch direkt finanziell unterstützte, bis er 1945 eine Anstellung als full professor an der University of California in Berkeley erhielt. Aber auch danach blieb seine finanzielle Lage problematisch; 1953 wurde er vom Land Nordrhein-Westfalen (als Rechtsnachfolger Preußens) für einen großen Teil der vom NS-Regime zugefügten Vermögensnachteile entschädigt. Vollkommen von materiellen Sorgen entbunden wurde Kelsen aber erst 1960, d. h. im Alter von knapp 80 Jahren, durch die Zuerkennung des mit 20 Millionen italienischen Lire dotierten Feltrinelli-Preises. 21. Auch in wissenschaftlicher Hinsicht bedeutete der Weggang aus Wien einen Bruch, da er sich nun kaum mehr mit österreichischem Verfassungsrecht (oder dem Verfassungsrecht jener Länder, in denen er nunmehr lehrte) befasste, sondern sich zunehmend dem Völkerrecht zuwandte. Charakteristisch ist dabei, dass Kelsen das Völkerrecht als eine echte (wenn auch »primitive«) Rechtsordnung auffasste und völkerrechtliche Texte nicht anders als Texte nationaler Rechtsordnung interpretierte, d. h. den Sinngehalt der Texte von ihrer politischen Intention trennte. Besonders hervorzuheben ist seine Kritik an der Völkerbundsatzung, die nahtlos zunächst in seine Vorschläge für eine neue »Liga« und schließlich in eine intensive Beschäftigung mit der 1945 beschlossenen Charta der Vereinten Nationen überging. Sein Hauptanliegen, eine Stärkung der internationalen Gerichtsbarkeit, wurde dabei nicht verwirklicht. 22. Die in der Literatur immer wieder anzutreffende Meinung, Kelsen habe in den USA keine Anerkennung gefunden, ist zu relativieren. Kelsen wurde mehrfach ausgezeichnet (u. a. Ehrendoktorate in Harvard, Chicago, Berkeley und New York) und war Ehrenmitglied der American Society of International Law, Leiter der »amerikanischen Gruppe« im Institut de Droit International etc. Richtig ist, dass er ab 1930 keine einzige Habilitation und in Amerika keine einzige Dissertation mehr betreute und generell seine Reine Rechtslehre in den USA wenig Anklang fand. Dieser Umstand ist Produkt mehrerer Faktoren: der Sprach‑ und Verständnisschwierigkeiten, der anders gearteten Rechtskultur in den USA, aber auch der Konkurrenz von H. L. A. Hart mit seinem inhaltlich ganz ähnlichen, aber stilistisch besser auf angloamerikanische Rechtsgelehrte zugeschnittenen »Concept of Law«.
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23. Die Ablehnung der Reinen Rechtslehre durch viele US-amerikanische Rechtsgelehrte steht in denkwürdigem Gegensatz zu der Begeisterung, die Kelsen in den lateinamerikanischen Ländern zuteilwurde, und zu dem hohen Einfluss, den die Reine Rechtslehre dort bis heute ausübt. Die größere Ähnlichkeit der lateinamerikanischen mit der kontinentaleuropäischen Rechtskultur mag hier ihren Teil dazu beigetragen haben. Zu beachten ist, dass viele lateinamerikanische Rechtswissenschaftler, wie v. a. Carlos Cossio, die Reine Rechtslehre – oder auch nur Teile von ihr – durchaus eigenständig weiterentwickelten und Kelsens Lehre nur über diesen Umweg einem breiten Publikum bekannt wurde. 24. Die ablehnende Haltung, die Kelsen bis vor relativ kurzer Zeit noch von großen Teilen der bundesdeutschen Staatsrechtslehre entgegengebracht wurde, ist vor allem dem Umstand zuzuschreiben, dass viele wissenschaftliche Gegner Kelsens aus dessen Weimarer Zeit, wie etwa Rudolf Smend oder Carl Schmitt, die Staatsrechtslehre der frühen Bundesrepublik prägten. Lebhafte Entrüstung löste dann aber auch Kelsens 1945 geäußerte Behauptung aus, das Deutsche Reich sei »untergegangen«. Kelsen formulierte diese – nur im Zusammenhang mit seiner Staatslehre verständliche – These im Rahmen seiner beratenden Tätigkeit für die Foreign Economic Administration, einer 1943 gegründeten, direkt dem US-Präsidenten unterstellten Behörde, in der Kelsen konstruktive Vorschläge für das rechtliche Schicksal Deutschlands und Österreichs nach dem Krieg machte. Die »Berliner Erklärung« der Alliierten vom 5. Juni 1945, von der die gesamte staatliche Entwicklung in Deutschland nach Ende der NS-Herrschaft ihren Ausgang nahm, kann als vollständige Entsprechung der Vorschläge Kelsens gesehen werden, auch wenn eine direkte Einflussnahme Kelsens auf diese Erklärung nicht nachgewiesen ist. 25. Als juristischer Berater des US-Kriegsministeriums wirkte Kelsen an der Vorbereitung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse mit. Von besonderer Bedeutung war hier seine Rechtfertigung rückwirkender Strafgesetze, wie sie mit dem Londoner Statut für den Internationalen Militärstrafgerichtshof vom 8. August 1945 erlassen wurden. Andererseits sparte Kelsen nicht mit Kritik an der »Siegerjustiz«, die die Kriegsverbrechen der Alliierten ungesühnt ließ. 26. Kelsen hat sich stets für andere Wissenschaftsdisziplinen, wie etwa die Psychoanalyse, interessiert und entsprechende Überlegungen in seine Lehren einfließen lassen. Im Rahmen der »Unity of Science«-Bewegung verfasste er eine umfangreiche Studie mit anthropologischen, religions‑ und geschichtswissenschaftlichen Forschungsergebnissen (»Vergeltung und Kausalität«, 1941/46). Kern seiner Überlegungen war, dass der Mensch am Anfang seiner Geschichte seine Umgebung nicht kausal, sondern normativ deutete (gute Ernte nicht als Resultat günstiger klimatischer Bedingungen, sondern als Lohn für gottgefälliges Tun) und erst allmählich zum Kausalitätsprinzip überging. Dabei beschäftigte sich Kelsen auch kritisch mit den Resten normativen Denkens in den Naturwissenschaften. Diese Überlegungen waren vielfach verwoben mit seiner Auseinandersetzung mit dem Problem der Gerechtigkeit und dem Entstehen eines Glaubens an eine unsterbliche Seele. Nur ein geringer Teil von
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Kelsens einschlägigen Forschungen wurde noch zu Lebzeiten publiziert; 1985 veröffentlichte das Hans Kelsen-Institut aus seinem Nachlass »Die Illusion der Gerechtigkeit«, in der er sich insbesondere mit der Sozialphilosophie Platons auseinandersetzte. 27. Kelsen veröffentlichte in jedem Jahrzehnt eine zusammenfassende Darstellung seiner Rechtstheorie. Den Anfang machten dabei seine »Hauptprobleme« von 1911; es folgte die als Lehrbuch für Studierende konzipierte »Allgemeine Staatslehre« von 1925. Bereits diese erhielt sofort eine Reihe von Übersetzungen in andere Sprachen und trug so wesentlich zur Internationalisierung seiner Lehre bei. Ebenso verhielt es sich mit dem 1934 in deutscher Sprache erschienenen Buch »Reine Rechtslehre«, dem bis heute wohl bekanntesten Werk Kelsens, welches in relativ knapper Form alle wesentlichen Elemente dieser Lehre darstellte. Mit dieser Arbeit gelangte der neukantianische Einfluss auf die Reine Rechtslehre, u. a. durch mehrere direkte Bezugnahmen auf Kant, zu seinem Höhepunkt. Deutlich davon verschieden ist die »General Theory of Law and State« von 1945, in der sich Kelsen darum bemühte, seine Lehre einem amerikanischen Publikum verständlich zu machen, und in die bereits einige Erkenntnisse aus »Vergeltung und Kausalität« einflossen. 1953 erschien die »Theorie pure du Droit«, die ursprünglich als französische Übersetzung der »Reinen Rechtslehre« von 1934 konzipiert war, jedoch durch so viele Korrekturen und Ergänzungen modifiziert wurde, dass sie von Kelsen als eigenständiges Werk aufgefasst wurde. 1960 publizierte Kelsen, wieder in deutscher Sprache, die 2. Auflage der »Reinen Rechtslehre«, die zwar fast dieselbe Struktur wie die Erstauflage, jedoch den vierfachen Umfang derselben hatte und ebenfalls als neues Buch angesehen werden muss. Sie wurde, etwas voreilig, von Kelsens Schüler Josef Kunz als die »definitive Formulierung der Reinen Rechtslehre« bezeichnet. 28. Seine letzten Lebensjahre widmete Kelsen vor allem dem Verhältnis von Recht und Logik. Die Erkenntnis, dass logische Prinzipien nur auf Aussagen, nicht auch auf Normen anwendbar seien, hatte für ihn grundstürzende Bedeutung. Er begann, zentrale Aussagen zu revidieren, hielt eine dualistische Konstruktion von staatlichem Recht und Völkerrecht für zumindest denkmöglich und fasste die Grundnorm nunmehr als eine »Fiktion« im Sinne Hans Vaihingers auf. Kelsens Manuskript einer »Allgemeinen Theorie der Normen«, in der diese Überlegungen ihren Niederschlag fanden, wurde postum, 1979, veröffentlicht. 29. Kelsen zeigte vor allem in jungen Jahren ein großes Interesse für Belletristik, in späterer Zeit auch für das Kino; es sind auch einige wenige, künstlerisch nicht allzu wertvolle Gedichte von ihm erhalten. Ein besonderes Interesse für Musik oder bildende Kunst ist nicht bekannt. Er genoss Mehlspeisen und Zigarren und war ein humorvoller, kontaktfreudiger Mensch, der einen großen Freundeskreis hatte. Große Bedeutung hatte für ihn seine Familie; sowohl im April 1933 als auch im September 1939 nahm er große Risiken auf sich, um wieder zu seiner Frau und seinen Töchtern zurückkehren zu können, obwohl er sich persönlich in Sicherheit befand. 30. Das stupende, fachübergreifende Wissen Hans Kelsens, die Klarheit seiner Gedankenführung sowie das ehrliche Bemühen, gegnerische Meinungen zu respektieren
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und sich ernsthaft mit ihnen auseinanderzusetzen, machen ihn zu einem vorbildlichen Wissenschaftler, auch für solche Menschen, die nicht alle Grundannahmen Kelsens übernehmen oder nicht alle seine Ergebnisse akzeptieren wollen. Zu Recht wird er vielfach als einer der bedeutendsten, wenn nicht der bedeutendste Rechtswissenschaftler des 20. Jahrhunderts angesehen. Viele seiner Bücher und Aufsätze haben mehrere Nachdrucke und Übersetzungen in mehr als 30 Sprachen erfahren. Dies zeigt, dass große Teile seines Werks überzeitliche Bedeutung erlangt haben; niemand, der sich mit Rechtstheorie, Rechtsphilosophie oder politischer Philosophie beschäftigt, kann an ihnen vorbeigehen. Wer Kelsen wirklich verstehen will, der muss sich aber auch mit den stärker zeitgebundenen (und heute daher vielfach in Vergessenheit geratenen) Arbeiten beschäftigen, mit den geistigen und materiellen Bedingungen, unter denen er sein opus verfasste, schließlich auch mit der Person Kelsens selbst, mit seinem Weltbild und seinem Menschenbild. Diesem Zweck dient die vorliegende Arbeit.
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Abkürzungsverzeichnis 1. Allgemeine Abkürzungen a. a. O. am angegebenen Ort Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch 1811 ABGB ah.; au. allerhöchst; alleruntertänigst Anm. Anmerkung AZ Arbeiter-Zeitung bes. besonders BBG Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums 1933 B-VG Bundes-Verfassungsgesetz 1920 BWGöD Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes CHF Schweizer Franken CIA Central Intelligence Agency čs. tschechoslowakisch ČSR; Č-SR Tschechoslowakische Republik, Tschecho-Slowakische Republik Dipl. Arb. Diplomarbeit DNVP Deutschnationale Volkspartei EMRK Europäische Menschenrechtskonvention 1950 FBI Federal Bureau of Investigation fl Gulden FWF Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung galiz galizisch GP Gesetzgebungsperiode HKI Hans Kelsen-Institut IGH Internationaler Gerichtshof ILC International Law Commission ILO International Labour Organization IUHEI Institut universitaire de hautes études internationales Kčs tschechoslowakische Krone (Währung) k. k.; k. u. k. kaiserlich-königlich; kaiserlich und königlich KNV Konstituierende Nationalversammlung KPD; KPO Kommunistische Partei Deutschlands; Kommunistische Partei – Opposition KPÖ Kommunistische Partei Österreichs KRGÖ Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs ks. kaiserlich NATO North Atlantic Treaty Organisation NFP Neue Freie Presse nö niederösterreichisch NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
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Abkürzungsverzeichnis
NSDStB Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund OGH Oberster Gerichtshof ÖAW Österreichische Akademie der Wissenschaften öS österreichischer Schilling OSS Office of Strategic Service PSD Political Science Department RF Rockefeller Foundation RM Reichsmark SdAP Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschösterreichs SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SS Sommersemester StG Strafgesetz StGG-ARStB Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, 1867 StGG-RiG Staatsgrundgesetz über die richterliche Gewalt, 1867 StGG-RV Staatsgrundgesetz über die Reichsvertretung, 1867 StIGH Ständiger Internationaler Gerichtshof UC University of California UNCIO United Nations Conference on International Organization UNESCO United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization Univ. Universität UNO United Nations Organization UNRRA United Nations Relief and Rehabilitation Administration USACA United States Allied Commission for Austria VfGG Verfassungsgerichtshofgesetz VfGH Verfassungsgerichtshof vgl. vergleiche vs. versus VwGH Verwaltungsgerichtshof WRV Weimarer Reichsverfassung WS Wintersemester Z Ziffer, Zahl ZPO Zivilprozessordnung 1895
2. Siglen AcP AJIL AöR ARSP Blg BRGÖ BVerfG GAOR GrünhutsZ GStA PK
Archiv für die civilistische Praxis American Journal of International Law Archiv des öffentlichen Rechts Archiv für Rechts‑ und Sozialphilosophie Beilagen [zu den Stenographischen Protokollen …] Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs Entscheidungen des [deutschen] Bundesverfassungsgerichts General Assembly Official Records Zeitschrift für das Privat‑ und öffentliche Recht der Gegenwart, begründet von Carl Samuel Grünhut Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz
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HdV HKW IZTHR
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Hüter der Verfassung (siehe bei Werken Hans Kelsens) Hans Kelsen Werke (siehe bei Werken Hans Kelsens) Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts/Revue internationale de la théorie du droit J. O. Journal Officiel de la Société des Nations JBl Juristische Blätter JGS Justizgesetzsammlung JosGS Josephinische Gesetzessammlung LGBl Landesgesetzblatt LOC Library of Congress MGS Adolf Julius Merkl, Gesammelte Schriften (siehe im Literaturverzeichnis) MRP Ministerratsprotokolle MThGS Kaiserlich Königliches Theresianisches Gesetzbuch NACP National Archives at College Park NDB Neue Deutsche Biographie (siehe im Literaturverzeichnis) ÖBL Österreichisches Biographisches Lexikon (siehe im Literaturverzeichnis) ÖJZ Österreichische Juristen-Zeitung ÖStA Österreichisches Staatsarchiv ÖZÖR Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht PGS Politische Gesetzessammlung ProvNV Provisorische Nationalversammlung SCOR Security Council Official Records StGBl Staatsgesetzblatt StP Stenographische Protokolle SZ Sammlung des österreichischen Obersten Gerichtshofes in Zivil‑ und Justizverwaltungssachen UA Universitätsarchiv VdD Verteidigung der Demokratie (siehe bei Werken Hans Kelsens) VfSlg Sammlung der Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes. Neue Folge VGS Alfred Verdross, Gesammelte Schriften (siehe im Literaturverzeichnis) VVDStRL Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer VwSlg A/F Sammlung der Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes. Administrativrechtlicher Teil/Finanzrechtlicher Teil WRS Die Wiener Rechtstheoretische Schule (siehe bei Werken Hans Kelsens) ZÖR Zeitschrift für Öffentliches Recht ZRG GA/RA Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung/Romanistische Abteilung
3. Länderkürzel ARG Argentinien BE Belgien CH Schweiz CZ Tschechien D Deutschland EGY Ägypten
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F Frankreich H Ungarn HR Kroatien IT Italien PL Polen RO Rumänien RU Russland SK Slowakei SLO Slowenien SRB Serbien SUD Sudan UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken UK Vereinigtes Königreich von Großbritannien und (Nord‑)Irland UKR Ukraine USA Vereinigte Staaten von Amerika CA Kalifornien D. C. District of Columbia IL Illinois IN Indiana KY Kentucky LA Louisiana MA Massachusetts MD Maryland MO Missouri NJ New Jersey NY New York OH Ohio OR Oregon RI Rhode Island VT Vermont WA Washington
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Quellen‑ und Literaturverzeichnis 1. Werke Hans Kelsens Eine sowohl chronologisch als auch thematisch geordnete, nahezu vollständige Bibliographie aller bis 2003 publizierten Werke Kelsens, einschließlich aller bis dahin erfolgten Nachdrucke und Übersetzungen, befindet sich in: Robert Walter /Clemens Jabloner /Klaus Zeleny (Hgg.), Hans Kelsens stete Aktualität (= Schriftenreihe des HKI 25, Wien 2003) 77–253. Die nachstehende Auflistung enthält demgegenüber nur die für diese Arbeit herangezogenen Werke Hans Kelsens, wobei in der Regel die Originalpublikation verwendet und zitiert wurde. Nur in Ausnahmefällen wurde in diesem Buch auch auf Nachdrucke und Übersetzungen zurückgegriffen, in diesem Fall erfolgt die Zitation derselben als eigenständiges Werk. Sofern ein Werk Kelsens in einer der nachstehenden Werkeditionen wiederabgedruckt wurde, wird auch diese parallele Fundstelle (mit einem »=«) angegeben. HdV = Hans Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, hg. v. Robert Chr. van Ooyen (Tübingen 22019). HKW = Hans Kelsen, Werke, hg. v. Matthias Jestaedt, Bd. I (Tübingen 2007), Bd. II (Tübingen 2008), Bd. III (Tübingen 2010), Bd. IV (Tübingen 2013), Bd. V (Tübingen 2011). VdD = Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie, hg. v. Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius (Tübingen 2006). WiJ = Hans Kelsen, What is Justice? Justice, Law and Politics in the Mirror of Science. Collected Essays (Berkeley 1957). WRS = Die Wiener rechtstheoretische Schule. Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, hgg. v. Hans R. Klecatsky/René Marcic/Herbert Schambeck (2 Halbbände, Wien 22010).
a) Egodokumente Hans Kelsen, Selbstdarstellung (Typoskript, Wien 1927), in: HKW I, 19–27. Hans Kelsen, Autobiographie (Typoskript, Berkeley 1947), in: HKW I, 29–91.
b) Publizierte Schriften Publikationen 1905–1920 Hans Kelsen, Die Staatslehre des Dante Alighieri (= Wiener Staatswissenschaftliche Studien VI/3, Wien–Leipzig 1905) = HKW I, 134–300. –, Wählerlisten und Reklamationsrecht, in: JBl 35 (1906) 289–290, 301–304, 316–318, 327–329 = HKW I, 301–331. –, Kommentar zur österreichischen Reichsratswahlordnung (Gesetz vom 26. Jänner 1907, RGBl. Nr. 17) (Wien 1907) = HKW I, 332–544.
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Quellen‑ und Literaturverzeichnis
–, Naturalisation und Heimatberechtigung nach österreichischem Rechte, in: Österreichisches Verwaltungsarchiv 4 (1907) 195–204 = HKW I, 545–560. –, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze (Tübingen 1911) = HKW II, 21–878. –, Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode (Tübingen 1911) = HKW III, 22–55 = WRS 3–30. –, Industrieförderung in Rumänien, in: Das Handelsmuseum 27 (1912) 87–88 = HKW III, 65–72. –, [Buchbesprechung:] Krasny, A., Die Aufgaben der Elektrizitätsgesetzgebung, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung 21 (1912) 151–153 = HKW III, 73–75. –, Zur Soziologie des Rechtes. Kritische Betrachtungen, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 34 (1912) 601–614 = HKW III, 77–92. –, Der Buchforderungseskont und die inakzeptable deckungsberechtigende Tratte, in: Das Handelsmuseum 28 (1913) 289–292 = HKW III, 93–103. –, Politische Weltanschauung und Erziehung, in: Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung 2 (1913) 1–26 = HKW III, 112–145 = WRS 1227–1245. –, Rechtsstaat und Staatsrecht, in: Österreichische Rundschau 36 (1913) 88–94 = HKW III, 147–155 = WRS 1247–1253. –, Über Staatsunrecht. Zugleich ein Beitrag zur Frage der Deliktsfähigkeit juristischer Personen und zur Lehre vom fehlerhaften Staatsakt, in: GrünhutsZ 40 (1914), 1–114 = HKW III, 439–531 = WRS 785–865. –, Zur Lehre vom Gesetz im formellen und materiellen Sinn, mit besonderer Berücksichtigung der österreichischen Verfassung, in: JBl 42 (1913) 229–232 = HKW III, 235–246 = WRS 1255– 1263. –, Zur Lehre vom öffentlichen Rechtsgeschäft, in: AöR 31 (1913) 53–98 = HKW III, 247–316. – (anonym), Die böhmische Verwaltungskommission vor dem Verwaltungsgerichtshof, in: NFP Nr. 17673 v. 5. 11. 1913, 3 = HKW III, 105–111. –, Sociologická a právnická idea státni [Die soziologische und die juristische Staatsidee], Sbornki věd právnich a státnich 14 (1913/14) 69–101 = HKW III, 171–199, dt. Übers. in: HKW III, 201–234. –, [Buchbesprechung:] Spiegel, L.: Gesetz und Recht, in: ÖZÖR 1 (1914) 766–772 = HKW III, 427–438 –, Reichsgesetz und Landesgesetz nach österreichischer Verfassung, in: AöR 32 (1914) 202–245, 390–438 = HKW III, 359–425. –, [Buchbesprechung:] Pitamic, L., Die parlamentarische Mitwirkung bei Staatsverträgen in Österreich, in: ÖZÖR 2 (1915/16) 256–259 = HKW III, 543–550. –, Eine Grundlegung der Rechtssoziologie, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 39 (1914/15) 839–876, = HKW III, 317–358. –, Die Rechtswissenschaft als Norm‑ oder als Kulturwissenschaft. Eine methodenkritische Untersuchung, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 40 (1916) 1181–1239 = HKW III, 551–605 = WRS 31–76. –, Replik [zu: Eugen Ehrlich, Entgegnung (1916)], in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 41 (1916) 850–853 = HKW III, 607–612. –, Schlusswort [zu: Eugen Ehrlich, Replik (1916/17)], in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 42 (1916/17) 611 = HKW III, 613–614. –, Zur Reform der verfassungsrechtlichen Grundlagen der Wehrmacht Österreich-Ungarns, in: Zeitschrift für Militärrecht 1 (1917) 8–23 = HKW III, 615–629. – (anonym), Die Stellung der Kronländer im Gefüge der österreichschen Verfassung. Eine Rundfrage, in: ÖZÖR 3 (1917/18) 1–2.
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Werke Hans Kelsens
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–, [Buchbesprechung:] Wurmbrand, N., Die rechtliche Stellung Bosniens und der Herzegowina, in: ÖZÖR 3 (1918) 580–585 = HKW IV, 87–96. –, [Buchbesprechung:] Laun, R., Zur Nationalitätenfrage, in: ÖZÖR 3 (1918) 585–586 = HKW IV, 83–85. –, Ein einfaches Proportionalwahlsystem, in: AZ Nr. 321 v. 24. 11. 1918, 2–3 = HKW IV, 74–82. –, Der Proporz im Wahlordnungsentwurf, in: NFP Nr. 19494 v. 1. 12. 1918, 3–4 = HKW IV, 51–58. –, Die Verfassungsnovelle, in: NFP Nr. 19513 v. 20. 12. 1918, 3–4 = HKW IV, 59–67. –, Die verfassungsrechtliche Stellung des Staatskanzlers, AZ Nr. 354 v. 28. 12. 1918, 2 = HKW IV, 69–74. – (anonym), Edmund Bernatzik, in: ZÖR 1 (1919/20) VII–IX = HKW IV, 149–152. –, Zur Theorie der juristischen Fiktionen. Mit besonderer Berücksichtigung von Vaihingers Philosophie des Als Ob, in: Annalen der Philosophie 1 (1919) 630–658 = HKW IV, 209–234 = WRS 993–1014. –, Das Proportionalsystem, in: Der oesterreichische Volkswirt 11 (1918/19) 115–118, 133–136, 147–151 = HKW IV, 25–50. –, Verhältniswahlrecht. Vortrag vor der Wiener Juristischen Gesellschaft am 4. Dezember 1918, in: Gerichtshalle 63 (1919) 27–28 = HKW IV, 169–174. – (Hg.), Die Verfassungsgesetze der Republik Deutschösterreich I. Mit einer historischen Übersicht und kritischen Erläuterungen, unter fördernder Mitwirkung des Mitglieds des Staatsrats Dr. Stefan von Licht und einem Geleitwort des Staatskanzlers Dr. Karl Renner (Wien–Leipzig 1919) = HKW V, 24–129. –, Der Anschluß, in: Neues Wiener Tagblatt Nr. 13 v. 14. 1. 1919, 2 = HKW IV, 97–100. –, Die Organisation der vollziehenden Gewalt Deutschösterreichs nach der Gesetzgebung der konstituierenden Nationalversammlung, in: ZÖR 1 (1919/20) 48–60 = HKW IV, 101–114. –, Die Stellung der Länder in der künftigen Verfassung Deutschösterreichs, in: ZÖR 1 (1919/20) 98–122 = HKW IV, 115–146. –, Vom Wesen und Werte der Demokratie, in: Gerichtshalle 63 (1919) 292–294 u. 304–308 = HKW IV, 175–198. – (Hg.), Die Verfassungsgesetze der Republik Deutschösterreich. Mit einer historischen Übersicht und kritischen Erläuterungen II (Wien–Leipzig 1919) = HKW V, 130–255. –, (Hg.), Die Verfassungsgesetze der Republik Deutschösterreich. Mit einer historischen Übersicht und kritischen Erläuterungen III (Wien–Leipzig 1919) = HKW V, 256–437. – (anonym), Zum Bundesverfassungsentwurf des Tiroler Landtages, in: NFP Nr. 19889 v. 10. 1. 1920, Morgenblatt 2, Nr. 19892 v. 13. 1. 1920, Morgenblatt 2. –, Die ökonomische und die politische Theorie des Marxismus. Eine Selbstanzeige, in: Der oesterreichische Volkswirt 12 (1920) 560–562. –, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts. Beitrag zu einer reinen Rechtslehre (Tübingen 1920) = HKW IV, 263–572. –, Sozialismus und Staat. Eine Untersuchung der politischen Theorie des Marxismus, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung 9 (1920) 1–129 (auch separat erschienen; Leipzig 1920). – (Hg.), Die Verfassungsgesetze der Republik Österreich. Mit einer historischen Übersicht und kritischen Erläuterungen IV (Wien–Leipzig 1920) = HKW V, 438–608. –, Vom Wesen und Wert der Demokratie (Tübingen 1920) = VdD 1–33.
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Quellen‑ und Literaturverzeichnis
Publikationen 1921–1930 Hans Kelsen, Demokratisierung der Verwaltung, in: [österreichische] Zeitschrift für Verwaltung 54 (1921) 5–15 = WRS 1295–1303. –, Die Not der Universität, in: NFP Nr. 20409 v. 24. 6. 1921, 1. –, Der Verfall der Wiener Universität, in: Neues Wiener Tagblatt Nr. 173 v. 26. 6. 1921, 2. –, Der Staatsbegriff der »verstehenden Soziologie«, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik NF 1 (1921) 104–119. –, Das Verhältnis von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik, in: ZÖR 2 (1920/21) 453–510 = WRS 77–119. –, Zu Professor Friedrich Wiesers 70. Geburtstag, in: NFP Nr. 204256 v. 10. 7. 1921, 5. –, Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie. Mit besonderer Berücksichtigung von Freuds Theorie der Masse, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften 8 (1923) 97–141. –, Rechtswissenschaft und Recht. Erledigung eines Versuchs zur Überwindung der »Rechtsdogmatik«, in: ZÖR 3 (1921/22) 103–235. –, In eigener Sache, in: ZÖR 3 (1922/23) 499–502 u. 699–700. –, Österreich als Bundesstaat, in: Österreichische Rundschau 18 (1922) 421–430. –, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff. Kritische Untersuchung des Verhältnisses von Staat und Recht (Tübingen 1922). –, Staat und Recht. Zum Problem der soziologischen oder juristischen Erkenntnis des Staates, in: Kölner Vierteljahreshefte für Sozialwissenschaften 2 (1922) 18–37 = WRS 121–137. –/Georg Froehlich/Adolf Merkl, Die Verfassungsgesetze der Republik Österreich V: Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 (Wien–Leipzig 1922) –, Zur Besetzung der nationalökonomischen Lehrkanzel an der Wiener juridischen Fakultät, in: NFP Nr. 20923 v. 7. 12. 1922, 7. –, Gott und Staat, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur 11 (1922/23) 261–284 = WRS 139–157. –, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze (Tübingen 21923). –, Josef Schey, in: Frankfurter Zeitung Nr. 207 v. 19. 3. 1923. –, Julius Ofners Rechtsphilosophie, in: NFP Nr. 21251 v. 7. 11. 1923, 17. –, Österreichisches Staatsrecht. Ein Grundriß entwicklungsgeschichtlich dargestellt (Tübingen 1923). –, Die politische Theorie des Sozialismus, in: Österreichische Rundschau 19 (1923) 113–135. –, Der Proporz in der neuen Wahlordnung für den Nationalrat, in: NFP Nr. 21184 v. 31. 8. 1923, 2–3. –, Sozialismus und Staat. Eine Untersuchung der politischen Theorie des Marxismus (Leipzig 2 1923). –, Das Verhältnis von Gesetz und Verordnung nach der čechoslovakischen Verfassungsurkunde, in: Parlament 1923, 392–396. –, Franz Oppenheimer. Zu seinem sechzigsten Geburtstag, in: NFP Nr. 21391 v. 30. 3. 1924, Morgenblatt 4–5. –, Für die Vollendung der Verfassung, in: NFP Nr. 21487 v. 6. 7. 1924, 2. –, Der Bund und die Länder, in: NFP Nr. 21620 v. 20. 11. 1924, 1–2. –, Die Lehre von den drei Gewalten oder Funktionen des Staates, in: Friedrich v. Wieser /Leopold Wenger /Peter Klein (Hgg.), Kant-Festschrift zu Kants 200. Geburtstag am 22. April 1924 (Berlin 1924) 214–248 = WRS 1331–1359.
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Werke Hans Kelsens
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–, Marx oder Lassalle. Wandlungen in der politischen Theorie des Marxismus, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung 11 (1924) 261–298 (auch separat erschienen; Leipzig 1924). –, Otto Bauers politische Theorien, in: Der Kampf 17 (1924) 50–56. –, Die politische Theorie Lassalles, in: NFP Nr. 21405 v. 13. 4. 1924, 4. –, Allgemeine Staatslehre (= Enzyklopädie der Rechts‑ und Staatswissenschaft XXIII, Berlin 1925). –, Ferdinand Lassalle, in: NFP Nr. 21759 v. 11. 4. 1925, 4. –, Friedrich Tezner, in: Neues Wiener Tagblatt Nr. 162 v. 14. 6. 1925, 3–4. –, Das Kompromiß in der Verfassungsfrage. Der Inhalt der endgültigen Vorlagen, in: NFP Nr. 21800 v. 23. 5. 1925, 2–3. –, Die Änderungen der Kompetenzbestimmungen in der Verfassungsreform, in: NFP Nr. 21804 v. 27. 5. 1925, 2–3. –, Das Problem des Parlamentarismus (= Soziologie und Sozialphilosophie 3, Wien ‑Leipzig 1925) = WRS 1361–1382. –, Souveränität, völkerrechtliche, in: Karl Strupp (Hg.), Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie II (Berlin–Leipzig 1925) 554–559. –, Staat und Völkerrecht, in: ZÖR 4 (1925) 207–222. –, Die Vollendung der Bundesverfassung, in: NFP Nr. 21734 v. 17. 3. 1925, 3; Nr. 21736 v. 19. 3. 1925, 2; Nr. 21738 v. 21. 3. 1925, 2; Nr. 21744 v. 27. 3. 1925, 2–3; Nr. 21756 v. 8. 4. 1925, 2; Nr. 21792 v. 15. 5. 1925, 2–3. –, Bemerkungen zur Chilenischen Verfassung, in: ZÖR 5 (1926) 616–619. –, Demokratie, in: Der Deutsche Volkswirt 1 (1926) 238–240, 269–272. –, [Diskussionsrede], in: Stenographische Verhandlungsschrift über die Mittwoch, den 12. Mai 1926 im Prälatensaale des n. ö. Landhauses, Wien, I., Herrengasse 13, unter dem Vorsitze des Herrn Landtagsabgeordneten Dr. Czermak stattgefundenen Sitzung des Wahlreform-Ausschusses des n. ö. Landtages betreffend die Reform des bestehenden Wahlrechtes für den Landtag und die Gemeinden (Wien 1926), 6–8, 9–10, 13–14. –, Die räumliche Gliederung des Staates. Theorie der Zentralisation und Dezentralisation und zugleich der Staaten-Verbindungen/Impărțirea teritorială a statului. Teorie asupra centralizărei și Descentralizărei și a legăturilor dintre State, in: Revista de drept public 1 (1926) 375–395. –, Die proportionale Einerwahl, in: NFP Nr. 22090 v. 14. 3. 1926, 6–7. –, Robert Neumann-Ettenreich, in: Neues Wiener Tagblatt Nr. 86 v. 27. 3. 1926, 7. –, Der Staat als Übermensch. Eine Erwiderung (Wien 1926). –, Die Unzufriedenheit mit dem Wahlrecht, in: NFP Nr. 22088 v. 12. 3. 1926, 1–2. Léon Duguit/Hans Kelsen/František Weyr (anonym), Préface – Vorwort, in: IZTHR 1 (1926/27) 1–4. Hans Kelsen, Les rapports de système entre le droit interne et le droit international public, Académie de droit international, Recueil des cours XIV (Paris 1927) 227–331. –, Die Bundesexekution. Ein Beitrag zur Theorie und Praxis des Bundesstaates, unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Reichs‑ und der österreichischen Bundes-Verfassung, in: Zaccaria Giacometti (Hg.), Festgabe für Fritz Fleiner zum 60. Geburtstag. 24. Januar 1927 (Tübingen 1927) 127–187. –, Demokratie, in: Verhandlungen des Fünften Deutschen Soziologentages vom 26. bis 29. September 1926 in Wien (Tübingen 1927) 37–68, 113–118 = VdD 115–148 = WRS 1429–1456. –, Der Staatsbegriff und die Psychoanalyse, in: Almanach [des Internationalen Psychoanalytischen Verlages] für das Jahr 1927 (Wien 1927) 135–141 = WRS 171–175.
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Quellen‑ und Literaturverzeichnis
–, Die staatsrechtliche Durchführung des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich, in: ZÖR 6 (1927) 329–352. –, Die Verfassung Österreichs (Fortsetzung), in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts 15 (1927) 51–103. – (anonym), Soll der Dispensehewirrwarr noch gesteigert werden?, in: NFP Nr. 22698 v. 25. 11. 1927, 2–3. –, Die Idee des Naturrechtes, in: ZÖR 7 (1928) 221–250 = WRS 201–229. –, Naturrecht und positives Recht. Eine Untersuchung ihres gegenseitigen Verhältnisses, in: IZTHR 2 (1928) 71–94 = WRS 177–200. –, Zum Begriff des Kompetenzkonfliktes, in: ZÖR 7 (1928) 583–599. –, Der Begriff des Kompetenzkonfliktes nach geltendem österreichischen Recht, in: JBl 57 (1928) 105–110. –, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus (= Philosophische Vorträge 31, Charlottenburg 1928) = WRS 231–287. –, Der Bundespräsident hat genug Rechte!, in: Wiener Sonn‑ und Montagszeitung Nr. 47 v. 19. 11. 1928, 4. –, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff2 (Tübingen 1928). –, Die Entscheidung über die Straßenpolizei, in: NFP Nr. 23057 v. 22. 11. 1928, 3. –, Rechtsgeschichte gegen Rechtsphilosophie? Eine Erwiderung (Wien 1928). –, Die Entwicklung des Staatsrechts in Oesterreich seit dem Jahre 1918, in: Gerhard Anschütz/ Richard Thoma (Hgg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts (Tübingen 1929) 147–165. –, La garantie juridictionelle de la Constitution (La Justice constitutionelle), in: Annuaire de l’Institut International de Droit Public (Paris 1929) 52–143; Discussion, ebenda 194–195, 198–200, 207, 209–210. –, Geschworenengericht und Demokratie, in: NFP Nr. 23128 v. 3. 2. 1929, 2. –, Fort mit den Schwurgerichten!, in: Neues Wiener Journal Nr. 12665 v. 24. 2. 1929, 3 f. –, Justiz und Verwaltung (Wien 1929) = WRS 1459–1483. –, Karl Brockhausen. Zu seinem siebzigsten Geburtstag, in: NFP Nr. 23222 v. 9. 5. 1929, 3. –, Die österreichische Verfassungsreform, in: Der oesterreichische Volkswirt 22 (1929) 99–102. –, Souveränität, in: Die neue Rundschau 40 (1929) 433–446. –, Der Drang zur Verfassungsreform. Eine Folge der politischen Machtverschiebung, in: NFP Nr. 23370 v. 6. 10. 1929, 6–7. –, Die Verfassungskrisis in Oesterreich, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt Nr. 910 v. 6. 10. 1929. –, Das Notverordnungsrecht und der Diktaturparagraph der deutschen Verfassung, in: Der Tag Nr. 2425 v. 23. 10. 1929, 1–2. –, Die Grundzüge der Verfassungsreform, in: NFP Nr. 23384 v. 20. 10. 1929, 6 u. Nr. 23394 v. 30. 10. 1929, 2–3. –, Die Reform der Wiener Verfassung. Ein Landes-Verwaltungsgerichtshof als zweite Instanz, in: Die Stunde Nr. 1989 v. 26. 10. 1929, 1–2. –, Wien und die Länder im Regierungsentwurf, in: Der Morgen v. 28. 10. 1929, 5. –, Betrachtungen zur Verfassungsreform in Oesterreich, in: St. Galler Tagblatt Nr. 510 v. 30. 10. 1929, 1 u. Nr. 511 v. 31. 10. 1929, 1–2. –, Das ideale Wahlrecht, in: Prager Tagblatt Nr. 274 v. 23. 11. 1929, 1. –, Der Verfassungsfriede in Oesterreich, in: Frankfurter Zeitung Nr. 910 v. 6. 12. 1929, 1. –, Die Verfassungsreform, in: JBl 58 (1929) 445–457. –, Verfassungsreform in Österreich, in: Die Justiz 5 (1929) 130–136. –, Vom Wesen und Wert der Demokratie (Tübingen 21929) = VdD 149–228.
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Werke Hans Kelsens
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–, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: VVdStRL 5 (Berlin–Leipzig 1929) 30–88 = WRS 1485–1531 = HdV 1–57. –, Wechselrede über die Verfassungsreform, in: JBl 58 (1929) 503–504. –, Die proportionale Einerwahl, in: Neue Leipziger Zeitung Nr. 12 v. 12. 1. 1930, 1–2 u. Nr. 14 v. 14. 1. 1930, 12. –, Ein freiheitliches Wahlverfahren. Deutschland vor neuen Aufgaben, in: Frankfurter Zeitung. Reichsausgabe Nr. 526–528 v. 18. 7. 1930, 4. –, Die Verfassung Österreichs, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts 18 (1930) 130–185. –, Der Staat als Integration. Eine prinzipielle Auseinandersetzung (Wien 1930). –, Wahlreform, in: Das Tagebuch 11 (1930) 1414–1420.
Publikationen 1931–1940 Hans Kelsen, Allgemeine Rechtslehre im Lichte der materialistischen Geschichtsauffassung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 66 (1931) 449–521. –, [Buchbesprechung:] Kunz, J. L.: Die Staatenverbindungen, in: ZÖR 11 (1931) 313–316. –, Ist eine Zollunion zwischen Deutschland und Österreich völkerrechtlich zulässig?, in: Kölnische Zeitung Nr. 166 v. 25. 3. 1931, 1. –, Der Wandel des Souveränitätsbegriffes, in: Studi Filosofico-Giuridici dedicati a Giorgio Del Vecchio, Bd. 2 (Modena 1931) 1–11. –, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, in: Die Justiz 6 (1930/31) 576–628 = HdV 58–105 = WRS 1533–1573. –, Zollunion und Völkerrecht, in: Der deutsche Volkswirt 5 (1931) 995–998. –, Fritz Stier-Somlo †. Worte des Abschieds, in: Kölner Universitäts-Zeitung Nr. 1 v. 16. 4. 1932, 3 f. –, Gegen die Todesstrafe, in: Wiener Allgemeine Zeitung Nr. 16117 v. 21. 2. 1932, 3. –, Rechtstechnik und Abrüstung, in: Der deutsche Volkswirt 6 (1932) 877–881. –, La technique du droit et l’organisation de la paix. La théorie du droit devant le problème du désarmement, in: Journal des Nations Nr. 135 v. 3. 2. 1932, 1 u. 6. –, Unrecht und Unrechtsfolge im Völkerrecht, in: ZÖR 12 (1932) 481–608. –, Das Urteil des Staatsgerichtshofs vom 25. Oktober 1932, in: Die Justiz 8 (1932) 65–91. –, Verteidigung der Demokratie, in: Blätter der Staatspartei 2 (1932) 90–98 = VdD 229–237. –, Die hellenisch-makedonische Politik und die »Politik« des Aristoteles, in: ZÖR 13 (1933) 625–678. –, Die Kriegsschuldfrage im Lichte der Rechtswissenschaft, in: Die Friedens-Warte 33 (1933) 1–6. –, Methode und Grundbegriff der reinen Rechtslehre, in: Annalen der critische philosophie 3 (1933) 69–90. –, Die platonische Gerechtigkeit, in: Kant-Studien 38 (1933) 91–117 = WRS 289–312. –, Die platonische Liebe, in: Imago 19 (1933) 34–98 u. 225–255. –, Den rena rättsläran. Dess metod och grundbegrepp, in: Statsvetenskaplig Tidskrift för Politik, Statistik, Ekonomi 36 (1933) 193–244. –, Théorie générale du droit international public. Problèmes choisis (Paris 1933). –, Staatsform und Weltanschauung (Tübingen 1933) = WRS 1575–1590. –, El Método y los Conceptos Fundamentales de la Teoria Pura del Derecho (Madrid 1933). –, The Legal Process and International Order, in: The New Commonwealth 2 (1934) 104–105, 122–123 [wird zitiert: Kelsen, The Legal Process (Zeitungsartikel, 1934)].
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940
Quellen‑ und Literaturverzeichnis
–, The Legal Process and International Order (= The New Commonwealth Research Bureau Publications A/1, o. O. [London] 1934) [wird zitiert: Kelsen, The Legal Process (Broschüre, 1934)]. –, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik (Leipzig–Wien 1934). –, Die Technik des Völkerrechts und die Organisation des Friedens, in: ZÖR 14 (1934) 240–255. –, Völkerrechtliche Verträge zu Lasten Dritter, in: Prager Juristische Zeitschrift 14 (1934) 419– 431. –, Zur Theorie der Interpretation, in: IZTHR 8 (1934) 9–17 = WRS 1113–1121. –, La Dictature de Parti, in: Annuaire de l’Institut International de Droit Public (1935) 23–40, mit Diskussion: 222–225, 236–237, 240. –, L’âme et le droit, in : IIᵉ Annuaire de l’Institut International de Philosophie du Droit et de Sociologie Juridique (1935–1936) 60–80, 82. –, Contribution à la théorie du traité international, in: IZTHR 10 (1936) 253–292. –, Sanktionen sind Sache des Gerichtes!, in: Geneva Press Service. L’agence quotidienne d’informations concernant les questions et les événements de la Société des Nations, v. 10. 7. 1936, 1–3. –, La transformation du droit international en droit interne, in: Revue Générale de Droit International Public 43 (1936) 5–49. –, Die Ziele der Reinen Rechtslehre, in: Ervin Hexner (Hg.), Pocta k šesdesiatým narodeninám Dr. Karla Laštovku (Bratislava 1936) 203–212. –, Zur Diskussion über die allgemeinen Rechtsgrundsätze im Völkerrecht, in: IZTHR 10 (1936) 3–12. –, Centralization and Decentralization, in: Harvard Tercentenary Publications. Authority and Individual (Cambridge/MA 1937) 210–239. –, Die Parteidiktatur, in: Festschrift für Dolenc, Krek, Kušej und Škerlj 2 (Ljubliana 1937) 421– 430. –, Wissenschaft und Demokratie, in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 321 v. 23. 2. 1937, 1–2; Nr. 327 v. 24. 2. 1937, 1–2 = VdD 238–247. –, Zur rechtstechnischen Revision des Völkerbundstatutes, in: ZÖR 17 (1937) 1–2. –, De la séparation du Pacte de la Société des Nations et des traités de paix, in: La Crise Mondiale (Zurich–Paris 1938) 143–173. –, The Separation of the Covenant of the League of Nations from the Peace Treaties, in: The World Crisis (London–New York–Toronto 1938) 133–159. –, Zur Lehre vom Primat des Völkerrechts, in: IZTHR 12 (1938) 211–216. –, Zur Reform des Völkerbundes (Prag 1938). –, Causality and Retribution, in: The Journal of Unified Science 9 (1939) 234–240. –, Die Entstehung des Kausalgesetzes aus dem Vergeltungsprinzip, in: The Journal of Unified Science 8 (1939) 69–130. –, Legal Technique in International Law. A textual critique of the League Covenant (= Geneva Studies X /6, Geneva 1939). –, Les résolutions de la S. d. N. concernant la séparation du Pacte et des Traités de Paix, in : Revue de droit international et de législation comparée 66 (1939) 101–113. –, [Vorwort], in: Sborník Prací k poctě šedesátých narozenin Františka Weyra, Bd. II (Praha 1939 [von Bd. II wurde nur ein einziges Exemplar gedruckt]) 7–9. –, Theorie du droit international coutumier, in: Sborník Prací k poctě šedesátých narozenin Františka Weyra, Bd. II (Praha 1939 [von Bd. II wurde nur ein einziges Exemplar gedruckt]) 85–108.
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Werke Hans Kelsens
941
Publikationen 1941–1950 Hans Kelsen, Vergeltung und Kausalität. Eine soziologische Untersuchung (The Hague–Chicago 1941). –, [Buchbesprechung:] Cairns, H.: Theory of Legal Science. Chapel Hill 1941, in: Iowa Law Review 27 (1941) 174–180. –, [Buchbesprechung:] Pound, R.: Contemporary Juristic Theory. Los Angeles 1940, in: Harvard Law Review 54 (1941) 1261–1262. –, The Essential Conditions of International Justice, in: Proceedings of the Thirty-fifth Annual Meeting of the American Society of International Law, 24.–26. April 1941 (1941) 70–86. –, International Peace – by Court or Government, in: The American Journal of Sociology 46 (1941) 571–581. –, The Law as a Specific Social Technique, in: The University of Chicago Law Review 9 (1941) 75–97 = WiJ 231–256. –, The Pure Theory of Law and Analytical Jurisprudence, in: Harvard Law Review 55 (1941) 44–70 = WiJ 266–287. –, Recognition in international law. Theoretical observations, in: AJIL 35 (1941) 605–617. –, Discussion of Professor Whitehead’s Paper, in: Proceedings of the American Academy of Arts and Sciences 75 (1942) 11–13. –, Judicial review of legislation. A comparative study of the Austrian and the American Constitution, in: The Journal of Politics 4 (1942) 183–200. –, Law and Peace in international relations (= The Oliver Wendell Holmes Lectures 1940–41, Cambridge/MA 1942). –, Revision of the Covenant of the League of Nations, in: A Symposium of the Institute on World Organization (Washington 1942) 392–412. –, Value judgments in the science of law, in: Journal of Social Philosophy and Jurisprudence 7 (1942) 312–333 = WiJ 209–230. –, [Buchbesprechung:] Schiffer, W.: Repertoire of Questions of General International Law before the League of Nations, in: AJIL 37 (1943) 352–353. –, Collective and individual responsability in international law with particular regard to punishment of war criminals, in: California Law Review 31 (1943) 530–571. –, Compulsory Adjudication of International Disputes, in: AJIL 37 (1943) 397–406. –, El contrato y el tratado. Analizado desde el punto de vista de la Teoría Pura del Derecho (México 1943). –, La Paz por el Derecho. Una Liga Permanente para el Mantenimiento de la Paz, in: Revista del Colegio de Abogados de Buenos Aires 21 (1943) 125–161. –, Peace through Law, in: Journal of Legal and Political Sociology 2 (1943) 52–67. –, Quincy Wright’s A Study of War and the Bellum Justum Theory, in: Ethics 53 (1943) 208–211. –, Society and Nature. A Sociological Inquiry (Chicago 1943). –, The International Legal Status of Germany to be Established Immediately upon Termination of the War, in: AJIL 38 (1944) 689–694. –, Peace through Law (Chapel Hill 1944). –, The Principle of Sovereign Equality of States as a basis for international organization, in: The Yale Law Journal 53 (1944) 207–220. –, The Strategy of Peace, in: The American Journal of Sociology 49 (1944) 381–389. –, General Theory of Law and State (= 20th Century Legal Philosophy Series I, Cambridge/MA 1945).
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Quellen‑ und Literaturverzeichnis
–, The Legal Status of Germany according to the Declaration of Berlin, in: AJIL 39 (1945) 518– 526. – The Old and the New League: The Covenant and the Dumbarton Oaks Proposals, in: AJIL 39 (1945) 45–83. – The Rule against Ex Post Facto Laws and the Prosecution of Axis War Criminals, in: The Judge Advocate Journal 2 (1945) 8–12, 46. –, [Diskussionsbeitrag], in: The San Francisco Conference and the United Nations Organization. Proceedings of the Institute of World Affairs 21st session 1945 (Los Angeles 1946) 102, 110, 111. –, The International Law of the Future, in: The San Francisco Conference and the United Nations Organization. Proceedings of the Institute of World Affairs 21st session 1945 (Los Angeles 1946) 190–203. –, Limitations on the Functions of the United Nations, in: The Yale Law Journal 55 (1946) 997– 1015. –, Membership in the United Nations, in: Columbia Law Review 46 (1946) 391–411. –, Organization and Procedure of the Security Council of the United Nations, in: Harvard Law Review 59 (1946) 1087–1121. –, The Preamble of the Charter. A Critical Analysis, in: The Journal of Politics 8 (1946) 134–159. –, Roscoe Pound’s Outstanding Contribution to American Jurisprudence, in: Harvard Law School Year Book VI (1945/1946) 12–13. –, Sanctions in International Law under the Charter of the United Nations, in: Iowa Law Review 31 (1946) 499–543. –, Sanctions under the Charter of the United Nations, in: Canadian Journal of Economics and Political Science 12 (1946) 429–438. –, Zur Grundlegung der Völkerrechtslehre. Eine Auseinandersetzung mit Heinrich Drost, in: ZÖR NF 1 (1946/47) 20–83. –, Is a Peace Treaty with Germany Legally Possible and Politically Desirable?, in: The American Political Science Review 41 (1947) 1188–1193. –, German Peace Terms, in: The New York Times, v. 7. 9. 1947, 10 E. –, The Metamorphoses of the Idea of Justice, in: Paul Sayre (Hg.), Interpretations of Modern Legal Philosophies. Essays in Honor of Roscoe Pound (New York 1947) 390–418. –, Will the Judgment in the Nuremberg Trial Constitute a Precedent in International Law?, in: The International Law Quarterly 1 (1947) 153–171. –, Absolutism and Relativism in Philosophy and Politics, in: The American Political Science Review 42 (1948) 906–914 = WiJ 198–207. –, Collective Security and Collective Self-Defense under the Charter of the United Nations, in: AJIL 42 (1948) 783–796. –, Ein Friedensvertrag oder ein neues Deutschland?, in: Berliner Hefte für geistiges Leben 3 (1948) 193–199. –, Law, State and Justice in the Pure Theory of Law, in: The Yale Law Journal 57 (1948) 377–390 = WiJ 288–302. –, The Political Theory of Bolshevism. A Critical Analysis (Berkeley–Los Angeles 1948). –, The Settlement of Disputes by the Security Council, in: The International Law Quarterly 2 (1948) 173–213. –, Withdrawal from the United Nations, in: The Western Political Quarterly 1 (1948) 29–43. –, The Atlantic Pact and the UN Charter, in: The New Leader 32 Nr. 23 v. 4. 6. 1949, 10. –, Collective and Individual Responsibility for Acts of State in International Law, in: The Jewish Yearbook of International Law 1948 (Jerusalem 1949) 226–239.
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Werke Hans Kelsens
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–, Conflicts between Obligations under the Charter of the United Nations and other International Agreements, in: University of Pittsburgh Law Review 10 (1949) 284–294. –, Hundredth Birthday of Josef Kohler, in: AJIL 43 (1949) 346–347. –, The Natural Law Doctrine before the Tribunal of Science, in: The Western Political Quarterly 2 (1949) 481–513 = WiJ 137–173. –, The North Atlantic Defense Treaty and the Charter of the United Nations, in: Acta Scandinavica Juris Gentium 19 (1949) 42–48. –, Causality and Imputation, in: Ethics 61 (1950) 1–11 = WiJ 324–349. –, The Draft Declaration on Rights and Duties of States, in: AJIL 44 (1950) 259–276. –, Is the Acheson Plan Constitutional?, in: The Western Political Quarterly 3 (1950) 512–527. –, The Law of the United Nations. A Critical Analysis of Its Fundamental Problems (London– New York 1950). –, The Free Territory of Trieste under The United Nations, in: The Year Book of World Affairs 4 (1950) 174–190. –, Is the North Atlantic Treaty in Conformity with the Charter of the United Nations?, in: University of Kansas City Law Review 19 (1950/1951) 1–15.
Publikationen 1951–1960 Hans Kelsen, Future of Collective Security, in: Revista Juridica de la Universidad de Puerto Rico 21 (1951) 83–96. –, Is the North Atlantic Treaty a Regional Arrangement?, in: AJIL 45 (1951) 162–166 [wird zitiert: Kelsen, North Atlantic Treaty (AJIL 1951)]. –, Is the North Atlantic Treaty in Conformity with the Charter of the United Nations?, in: ZÖR NF 3 (1951) 145–155 [wird zitiert: Kelsen, North Atlantic Treaty (ZÖR 1951)]. –, Recent Trends in the Law of the United Nations. A Supplement to »The Law of the United Nations« (London–New York 1951) [wird zitiert: Kelsen, Recent Trends (Supplement, 1951)]. –, Recent Trends in the Law of the United Nations in: Social Research 18 (1951) 135–151 [wird zitiert: Kelsen, Recent Trends (Aufsatz, 1951)]. –, Science and Politics, in: The American Political Science Review 45 (1951) 641–661 = WiJ 350–375. –, What Happened to the Security Council? in: The New Leader Nr. 35 v. 27. 8. 1951, 10–12, 31. –, Principles of International Law (New York 1952). –/ Carlos Cossio, Problemas escogidos de la Teoria Pura del Derecho (Buenos Aires 1952 [Es handelt sich um ein ohne Genehmigung Kelsens gedrucktes Buch, welches auf sein eigenes Ansuchen schon kurz nach der Veröffentlichung wieder vom Markt genommen wurde; eines der wenigen erhaltenen Exemplare befindet sich am HKI]). –, Was ist ein Rechtsakt?, in: ZÖR NF 4 (1951/52) 263–274 = WRS 1129–1139. –, The Idea of Justice in the Holy Scriptures, in: Revista Juridica de la Universidad de Puerto Rico 22 (1952/1953) 1–63. –, Absolutism, Political, in: Encyclopaedia Britannica 1 (1953) 65–66. –, Die Idee der Gerechtigkeit nach den Lehren der christlichen Theologie, in: Studia Philosophica 13 (1953) 157– 200. –, Was ist Gerechtigkeit? Vortrag, gehalten bei der Sitzung der Wiener Juristischen Gesellschaft vom 11. Februar 1953, in: JBl 75 (1953) 180–183. –, Reine Rechtslehre und Egologische Theorie, in: ZÖR NF 5 (1953) 449–482. –, Théorie Pure du Droit. Introduction à la science du droit (Neuchâtel 1953). –, Was ist Gerechtigkeit? (Wien 1953).
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Quellen‑ und Literaturverzeichnis
–, Was ist die Reine Rechtslehre?, in: Max Imboden u. a. (Hgg.) Festschrift zum 60. Geburtstag von Prof. Dr. Zaccaria Giacometti (Zürich 1953) 143–161 = WRS 499–514. –, Kausalität und Zurechnung, in: ZÖR NF 6 (1954) 125–151 = WRS 541–566. –, The Communist Theory of Law (London 1955). –, Democracy and Socialism, in: The University of Chicago Conference on Jurisprudence and Politics, April 30, 1954. Conference series 15 (1955) 63–87. –, Foundations of Democracy, in: Ethics 66 (1955) 1–101 = VdD 248–385. –, Théorie du droit international public, in: Académie de droit international, Recueil des cours LXXXIV (1955) 1–203. –, [Toast auf William Rappard], in: Hommage à William E. Rappard (o. O. 1956) 72 f. –, Contiguity as a title to territorial sovereignty, in: Walter Schätzel (Hg.), Rechtsfragen der internationalen Organisation. Festschrift für Hans Wehberg zu seinem 70. Geburtstag (Frankfurt a. M. 1956) 200–210. –, A »Dynamic« Theory of Natural Law, in: Louisiana Law Review 16 (1956) 597–620 = WiJ 174–197. –, General international law and the law of the United Nations, in: Gesina van der Molen/ Willem Pompe/Jan H. W. Verzijl (Hgg.), The United Nations. Ten Years’ Legal Progress (1956) 1–16. –, Quel est le fondement de la validité du droit?, in: Revue internationale de criminologie et police technique 10 (1956) 161–169. –, Collective Security under International Law (= Naval War College, International Law Studies XLIX, Washington 1957). –, Platon und die Naturrechtslehre, in: ZÖR NF 8 (1957) 1–43. –, Aristotle’s Doctrine of Justice, in: WiJ 110–136 [Erstveröffentlichung, 1957]. –, Why should the Law be Obeyed?, in: WiJ 257–265 [Erstveröffentlichung, 1957]. –, Der Begriff der Rechtsordnung, in: Logique et Analyses. Nouvelle Série, le année, août 1958 (= Publication trimestrielle du Centre National Belge de Recherche de Logique. Rapport du Colloque de Logique, Septembre 1958) 155–167 = WRS 1141–1167. –, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht 19 (1958) 234–248 = WRS 1819–1832. –, Problems of Collective Security, in: Annuaire de l’Association des Auditeurs et Anciens Auditeurs de l’Académie de droit international de La Haye No. 28 (1958) 200–211. –, Justice et Droit Naturel, in: Annales de Philosophie Politique III: Le Droit Naturel (Paris 1959) 1–123. –, Eine »Realistische« und die Reine Rechtslehre. Bemerkungen zu Alf Ross: On Law and Justice, in: ZÖR NF 10 (1959/60) 1–25. –, Adolf Merkl zu seinem siebzigsten Geburtstag am 23. März 1960, in: ZÖR NF 10 (1959/60) 313–315. –, Introducción a la Teoria pura del derecho (México 1960). –, Josef L. Kunz zu seinem siebzigsten Geburtstag am 7. April 1960, in: ZÖR NF 10 (1959/60) 321–333. –, Kausalität und Zurechnung, in: Archiv für Rechts‑ und Sozialphilosophie 46 (1960) 321–333. –, Recht und Moral, in: Estudios juridico-sociales. Homenaje al profesor Luis Legaz y Lacambra 1 (Santiago de Compostela 1960) 153–164 = WRS 651–661. –, Reine Rechtslehre. Mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit (Wien 21960). –, Sovereignty and International Law, in: The Georgetown Law Journal 48 (1960) 627–640.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Max-Planck-Institut zur Erforschung, 25.07.2020
Werke Hans Kelsens
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–, Vom Geltungsgrund des Rechts, in: Friedrich August von der Heydte (Hg.), Völkerrecht und rechtliches Weltbild. Festschrift für Alfred Verdroß (Wien 1960) 627–640 = WRS 1159– 1168. –, What is the Pure Theory of Law?, in: Tulane Law Review 34 (1960) 269–276.
Publikationen 1961–1973 Hans Kelsen, Hersch Lauterpacht, in: The International and Comparative Law Quarterly 10 (1961) 2–3. –, Derogation, in: Ralph A. Newman (Hg.), Essays in Jurisprudence in Honor of Roscoe Pound (Indianapolis–New York 1962) 339–395 = WRS 1169–1180. –, Der Richter und die Verfassung, in: Das Recht der Arbeit 12 (1962) 289–294. –, Souveränität, in: Hans-Jürgen Schlochauer (Hg.), Wörterbuch des Völkerrechts III (Berlin 1962) 278–285 = WRS 1863–1874. –, Naturrechtslehre und Rechtspositivismus, in: JBl 85 (1963) 31–33 = WRS 667–679. –, Glückwunsch [zum 80. Geburtstag von Egbert Mannlicher], in: Salzburger Nachrichten Nr. 43 v. 21. 2. 1963, 2. –, Die Grundlage der Naturrechtslehre, in: Franz-Martin Schmölz (Hg.), Das Naturrecht in der politischen Theorie (Wien 1963 [Separatabdruck aus ZÖR NF 13]) 1–37, mit Diskussion 117–127 = WRS 711–745. –, Die Selbstbestimmung des Rechts, in: Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Literatur 18 Heft 10 (1963) 1087–1095 = WRS 1181–1188. –, Die Funktion der Verfassung, in: Verhandlungen des Zweiten Österreichischen Juristentages II/7 (1964) 65–76 [wird zitiert: Kelsen, Funktion (1964a)]. –, Die Funktion der Verfassung, in: Forum 11 (1964) 65–76 [wird zitiert: Kelsen, Funktion (1964b)] = WRS 1615–1622. –, Encounters and Problems, in: Yearbook of the Summer School of the University of Vienna 1965 (o. O. [Wien] 1965) 106–107. –, Frei von politischem Zwang, in: Spectrum. Wochenendbeilage der Zeitung »Die Presse« v. 8./9. Mai 1965, II. –, In eigener Sache, in: ZÖR NF 15 (1965) 106–107. –, Eine phänomenologische Rechtstheorie, in: ZÖR NF 15 (1965) 353–409. –, Professor Marcics Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: ZÖR NF 16 (1965) 270–273. –, Professor Stone and the Pure Theory of Law, in: Stanford Law Review 17 (1965) 1128–1157. –, Recht und Logik, in: Forum 12 (1965) 421–425, 495–500 = WRS 1201–1224. –, Was ist juristischer Positivismus?, in: [deutsche] Juristenzeitung 15/16 (1965) 465–469 = WRS 771–781. –, Zum Begriff der Norm, in: Rolf Dietz (Hg.), Festschrift für Hans Carl Nipperdey, Bd. I (München 1965) 57–70 = WRS 1189–1199. –, Norm and Value, in: California Law Review 54 (1966) 1624–1629. –/ gem. mit Robert W. Tucker, Principles of International Law (New York–Chicago–San Francisco–Toronto–London 21966). –, Nochmals: Recht und Logik. Zur Frage der Anwendbarkeit logischer Prinzipien auf Rechtsnormen, in: Neues Forum 14 Heft 157 (1967) 39–40. –, Pure Theory of Law. Translation from the Second (Revised and Enlarged) German Edition by Max Knight (Berkeley–Los Angeles 1967). –, Logisches und metaphysisches Rechtsverständnis. Eine Erwiderung, in: ZÖR NF 18 (1968) 1–35.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Max-Planck-Institut zur Erforschung, 25.07.2020
946
Quellen‑ und Literaturverzeichnis
–, Die Problematik der Reinen Rechtslehre, in: ZÖR NF 18 (1968) 143–184. –, The Essence of International Law, in: Karl W. Deutsch/Stanley Hoffmann (Hgg.), The Relevance of International Law. Essays in Honour of Leo Gross (Cambridge/MA 1968) 85–92.
c) Aus dem Nachlass herausgegebene Schriften Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen. Im Auftrag des Hans Kelsen-Instituts aus dem Nachlaß hgg. v. Kurt Ringhofer und Robert Walter (Wien 1979). – /Ulrich Klug, Rechtsnormen und logische Analyse. Ein Briefwechsel 1959 bis 1965 (Wien 1981). –, Die Illusion der Gerechtigkeit. Eine kritische Untersuchung der Sozialphilosophie Platons. Im Auftrag des Hans Kelsen-Instituts aus dem Nachlaß hgg. v. Kurt Ringhofer und Robert Walter (Wien 1985). –, Recht und Kompetenz. Kritische Bemerkungen zur Völkerrechtstheorie Georges Scelles, in: ZÖR NF Supplementum 9 (1987) 1–108. –, Geltung und Wirksamkeit des Rechts, in: Walter /Jabloner /Zeleny, Hans Kelsens stete Aktualität (2003) 5–21. –, A New Science of Politics. Hans Kelsen’s Reply to Eric Voegelin’s »New Science of Politics«. A Contribution to the Critique of Ideology, hg. v. Eckhart Arnold (= Practical Philosophy 6, Frankfurt a. M.–Lancaster 2004) 11–108. –, Secular Religion. A Polemic against the Misinterpretation of Modern Social Philosophy, Science, and Politics as »New Religions«. Edited from the estate of Hans Kelsen by Robert Walter /Clemens Jabloner /Klaus Zeleny (Wien–New York 2012).
d) Gutachten und Memoranden Hans Kelsen, Die rechtliche Stellung der Export-A kademie als Handelshochschule. Gutachten erstattet im Auftrage des Professorenkollegiums der Export-A kademie, undatiert (Anfang 1913) (Exportakademie-Gutachten 1913), in: Busch, Kelsen an der Exportakademie (2010) 99–108. –, [Entwurf für ein neues Militärgesetz] (Ende 1917) (Militärgesetz-Entwurf 1917), in: Schmetterer, Kelsens Vorschläge (2016) 136–151. –, Bemerkungen zur politischen Situation in Österreich, undatiert (November/Dezember 1917) (Memorandum 1917), in: Schmetterer, Kelsens Überlegungen (2016) 11–15. –, Die Aufgaben der Heeresverwaltung bei einer Verfassungsreform (1918) (Heeresverwaltungs- Gutachten 1918), in: Schmetterer, Kelsens Vorschläge (2016) 151–154. –, Verfassungs Reform, Gutachten, undatiert (Juni/Juli 1918) (Gutachten Verfassungsreform 1918), in: Schmetterer, Kelsens Überlegungen (2016) 16–24. –, Gutachten über die völkerrechtliche Stellung Deutschösterreichs, 29. 11. 1918 (Deutschösterreich-Gutachten 1918), in: Staatsratsprotokolle I (Wien 2008) Nr. 21, 220–223. –, Gutachten zur Frage der österreichischen Staatsbürgerschaft des Fürsten Thurn und Taxis, 1924 (Thurn und Taxis-Gutachten 1924) (Zagreb 1924). –, Gutachten über die Frage der Entstehung des Čechoslovakischen Staates und der čechoslo wakischen Staatsbürgerschaft, 1. 11. 1927 (Tschechoslowakei-Gutachten 1927), in: PCIJ, Series C, No. 68 (1933) 71–102. –, Gutachten [zur Legislaturperiode des liechtensteinischen Landtages], 10. 9. 1929 (Liechtenstein-Gutachten 1929), in: Bussjäger, Liechtenstein (2016) 50–64.
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Archivalische Quellen
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–, Über die Kompetenz der Konstituierenden Nationalversammlung, 14. 10. 1933 (Brasilien-Gutachten 1933), in: Losano, Kelsens Gutachten von 1933 (2016) 73–76. –, Bemerkungen zu Campagnolos Doktor-These »Nations et droit«, 28. 12. 1937 (Campagnolo- Gutachten 1937), in: Mario Losano (Hg.), Hans Kelsen – Umberto Campagnolo. Diritto internazionale e Stato sovrano (Milano 1999) 273–317. –, Memorandum [über die Zerschlagung der Tschechoslowakei], undatiert (August 1939) (Tschechoslowakei-Gutachten 1939), in: Kuklik/Němeček, Memorandum (2016) 115–119. –, Austria: Her Actual Status and Re-Establishing as an Independent State, 1. 6. 1944 (Österreich- Gutachten 1944), in: Olechowski, Kelsens Gutachten (2016) 130–140. –, The Legal Status of the Soil Beneath the Water of the Maritime Belt of the State of Texas, 13. 3. 1950 (Texas-Gutachten 1950), in: ZÖR NF Supplementum 8 (1986) 49–91. –, Opinion. Concerning the Claims of the Italian Owners of the Ship »Fausto«, 5. 6. 1950 (Uruguay-Gutachten 1950), in: ZÖR NF 37 (1986) 1–15. –, The Legal Status of the Continental Shelf Under Positive International Law, 31. 12. 1954 (Japan- Gutachten 1954), in: ZÖR NF Supplementum 8 (1986) 1–4. –, Opinion [on the Eligibility of the future Republic of Cyprus as a Member of the United Nations], 12. 5. 1959 (Zypern-Gutachten 1959), in: Constantinides, Kelsen’s Opinion (2016) 192–199.
2. Archivalische Quellen a) Archive in Österreich Hans Kelsen-Institut, Wien HKI, Bestand Kelsen Persönliches. HKI, Korrespondenzmappen. HKI, Nachlass Kelsen. HKI, Nachlass Merkl. HKI, Nachlass Thévenaz.
Österreichisches Staatsarchiv, Wien ÖStA, AdR, Höchstgerichte 1. Rep., VfGH, Kartons 71, 72, 74, 81. ÖStA, AdR, NPA, Karton 106, Fasz 1, 262–267. ÖStA, AdR, Staatskanzlei, Karton 1, Karton 48. ÖStA, AdR, Büro Seitz, Karton 7. ÖStA, AVA, MdI STEF RPG 18.23 ÖStA, AVA, Unterricht Allg., Univ. Wien, Kartons 607, 609–614, 796. ÖStA, HHStA HA OMeA, Karton 1741, 1907, 4421, 4431. ÖStA, KA, Kriegsministerium, Kartons 426, 492, 2000. ÖStA, KA, Militärgerichtsarchiv, Personalakten Feldgerichtsarchiv. ÖStA, KA, Qualifikationslisten, Kartons 283, 1343. ÖStA, KA, Grundbuchblatt Wien, Karton 1629.
Universitätsarchiv Wien UA Wien, Akademischer Senat, Senatsakten. UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Disziplinarakten.
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Quellen‑ und Literaturverzeichnis
UA Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe Personalblätter. UA Wien, Nationale Juristen. UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Juristische Rigorosenprotokolle. UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Personalakten. UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Promotionsprotokolle. UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Rechtshistorische Staatsprüfungsprotokolle. UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Rigorosenakten für das Studium der Rechts‑ und Staatswissenschaften. UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Rigorosenakten für das Studium der Staatswissenschaften. UA Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Staatswissenschaftliche Staatsprüfungsprotokolle. UA Wien, Rektoratsarchiv, Stipendien-Protokolle.
Wiener Stadt‑ und Landesarchiv WrStLA 1.4.6.A9.6.-K-K art. 15/16628/05/16628/05. WrStLA 1.4.3.A9.6.-K-K art. 28/11916/1910. WrStLA 1.4.3.A9.6.-K-K art. 32/31485/1912.
Sonstige Archive in Österreich Akademisches Gymnasium Wien, Haupt-K ataloge für die Klassen I.a, 1892/3; II.a. 1893–94; III.a 1894–95; IV.a 1895–96; V.A 1896–97; VI.A 1897–98; VII.A 1898–99; VIII. 1899–1900. Akademisches Gymnasium Wien, Protokoll der am k. k. akadem. Gymnasium zu Wien im Monate Juli 1900 abgehaltenen Maturitätsprüfung. Akademisches Gymnasium Wien, Protokoll der am k. k. akadem. Gymnasium zu Wien im Monate Juli 1903 abgehaltenen Maturitätsprüfung. Archiv der ÖAW, Personalakten Layer Max; Hans Kelsen. Archiv der ÖAW, Protokoll der Wahlsitzung der philosophisch-historischen Klasse am 12. 5. 1947. Archiv der ÖAW, Protokoll der außerordentlichen Gesamtsitzung am 13. 5. 1947. Archiv des Vereins für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung, Lade 21, Mappe 46: Kelsen, Hans. Diözesanarchiv Wien, Selekte/Seipelforschungen Rennhofer, Karton 2: Seipelbriefe. Diözesanarchiv Wien, Nachlässe/Seipel, Ignaz, Karton 2: 4. Tagebuch. Evangelische Pfarrgemeinde A. B. Wien, Trauungsbuch 1912 Nr. 91. Gewerbe-Archiv der Wirtschaftskammer Österreich, Gewerbeakt der Firma Adolf Kelsen, Eintrag vom 12. 7. 1901 Nr. 56. Israelitische Kultusgemeinde in Wien (Leopoldstadt), Trauungsbuch Nr. 191/1880. Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB) Cod. Ser. n 54575. Rechtsanwaltskammer Wien, Rechtsanwaltsanwärter-Liste V/326. Röm.-kath. Pfarre Sta. Maria Rotunda, Wien I., Geburts‑ und Taufbuch Nr. XII (1905–1941, Konvertiten), fol 9 f.; Taufregister VI B (Copie VI) fol. 233. Röm.-kath. Pfarre St. Rochus a. d. Landstrasse, Wien III., Geburts‑ und Taufbuch 1912, Tom. 84, nach Nr. 36. UA Graz, Jur. Fak. Z. 304 ex 1195/16.
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Archivalische Quellen
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b) Archive in Deutschland Bundesarchiv Koblenz Bundesarchiv Koblenz, B 122/38740 (Verleihung des Großen Verdienstkreuzes an Hans Kelsen).
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin GStA PK, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 10, Tit. IV, Nr. 3 Bd. I.
Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Nachlass Carl Schmitt (RW 265).
Universitätsarchiv Frankfurt am Main UA Frankfurt, Akten der WiSoFak, Zug 4/1987, Sign Neu Abt 150 Nr. 231/237. UA Frankfurt, Akten der WiSoFak, Zug 4/1987, Sign Neu Abt 150 Nr. 388. UA Frankfurt, Akten des Kurators (Personalhauptakten), Personalakt Mannheim Karl.
Niedersächsische Staats‑ und Universitätsbibliothek Göttingen UB Göttingen, Nachlass Smend, Cod. Ms. R. Smend A 432. UB Göttingen, Nachlass Smend, Cod. Ms. R. Smend C 2. UB Göttingen, Nachlass Smend, Cod. Ms. R. Smend C 10.
Universitätsarchiv Heidelberg UA Heidelberg, Studien‑ und Sittenzeugnis von Hans Kelsen. UA Heidelberg, Anmeldung von Hans Kelsen für das Wintersemester 1907, datiert 15. 10. 1907. UA Heidelberg, Rep. 27–653, Teilnehmerliste des Seminars von Georg Jellinek.
Universitätsarchiv Köln UA Köln, Zug 9/235. UA Köln, Zug 17/III 1869a (Personalakt Hans Kelsen). UA Köln, Zug 28/9. UA Köln, Zug 42/3946. UA Köln, Zug 42/3973 I. UA Köln, Zug 571/105. UA Köln, Zug 598/143.
c) Archive in der Tschechischen Republik Tschechisches Nationalarchiv Prag Národní archiv, Geburtsmatrikel der jüdischen Kultusgemeinde in Prag 1881. Národní archiv, MZV-VA I, Karton 3407, Sign. Kelsen Hans. Národní archiv, PMR, Karton 863, Sign. 20 č.j. 15510/1935 Kelsen Hans. Národní archiv, PZU, Karton 444, Sign. Kelsen Hans č.j. 5340/1935. Národní archiv, PZU, Karton 28, Sign. Kelsen Hans.
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Quellen‑ und Literaturverzeichnis
Archiv der Prager Burg Archiv Pražského hradu, Fond Kancelář prezidenta republiky, T 689/33.
Archiv der Karlsuniversität Prag UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Hans Kelsen. UA Prag, NU, Juristische Fakultät, Personalakt Franz X. Weiß.
Archiv der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, Prag AAV ČR, Fond Německá akademie, Karton 22, Kelsen Hans.
d) Sonstige Archive in Europa Archive de l’Institut universitaire de hautes études internationales et du développement, Genève AHEI, Ordner Administration 1937–1939 AHEI, Ordner Hans Kelsen correspondance en désordre AHEI, Ordner Correspondance W. E. Rappard avec G. Ferrero, F. A. von Hayek, H. Kelsen AHEI, Ordner Rockefeller Foundation 1938–1954
Bodleian Library, University of Oxford Bodleian Library, MS. SPSL 267/9
International Institute of Social Science History, Amsterdam International Institute of Social Science History, Amsterdam, Benedikt Kautsky Papers, Mappe 4G: Hans Kelsen.
e) Archive in den USA Library of Congress, Washington D. C. LOC, Manuscript Division, Bollingen Foundation Records, 470.090 Kelsen Hans. LOC, Manuscript Division, Hans Morgenthau Papers, Box 33, Folder 6. LOC, Manuscript Division, Huntington Cairns Papers, Container 33. LOC, Manuscript Division, Robert Jackson Papers, Box 104, Kelsen Hans.
National Archives at College Park/MD NACP, RG 59: General Records of the Department of State, Decimal File 1940–44, Box 2941. NACP, RG 153: Records of the Office of the Judge Advocate General (Army), War Crimes Branch, General and Administrative Records (Set-Up Files) 1944–1949, Box 11. NACP, RG 153: Records of the Office of the Judge Advocate General (Army), War Crimes Branch, General and Administrative Records (Set-Up Files) 1944–1949, Box 13. NACP, RG 153: Records of the Office of the Judge Advocate General (Army), War Crimes Branch, Set-Up Files 1944–1949, Box 258. NACP, RG 169: Records of the Foreign Economic Administration, Bureau of Areas, Records relating to Economic Activities in Germany, Austria, and Japan 1942–1945, Box 3.
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Archivalische Quellen
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NACP, RG 238: World War II War Crimes Records, Office of the U. S. Chief of Counsel for the Prosecution of Axis Criminality, Entry # PI–21 52, Personal Files (Lindenstrasse Files) 1945–1946, Container 2.
Rockefeller Archive Center, Sleepy Hollow/NY RAC, Collection RF, Record Group 1.1., Series 200 S, Box 344, Folder 4089. RAC, Collection RF, Record Group 1.1., Series 200 S, Box 344, Folder 4090. RAC, Collection RF, Record Group 1.1., Series 200 S, Box 344, Folder 4091. RAC, Collection RF, Record Group 1.1., Series 205 S, Box 24, Folder 364. RAC, Collection RF, Record Group 1.2., Series 100 S, Box 58, Folder 453. RAC, Collection RF, Record Group 1.2., Series 100 S, Box 565, Folder 4843.
Leo Baeck Institute, New York City/NY LBI Archives, Unger Family Collection, Box 17, Folder 6. LBI Archives, Unger Family Collection, Box 17, Folder 9. LBI Archives, Unger Family Collection, Box 17, Folder 13. LBI Archives, Unger Family Collection, Box 19, Folder 8. LBI Archives, Unger Family Collection, Box 19, Folder 13. LBI Archives, Unger Family Collection, Box 20, Folder 3. LBI Archives, Unger Family Collection, Box 26, Folder 19. LBI Archives, Unger Family Collection, Box 26, Folder 27.
Harvard Law School Library, Cambridge/MA Harvard Law School Library, Elman Papers, Box 1, Folder 30. Harvard Law School Library, Pound Papers, Box 140, Folder 7. Harvard Pusey Library, UA V 827.10.19. Harvard Pusey Library, UA V 827.114, Box 11, Folder: General. Harvard Pusey Library, UA V 827.216.12 pf
University of California, Berkeley/CA UC Berkeley, Bancroft Library, CU 548, Carton 3. UC Berkeley, Bancroft Library, CU-5 Ser 3, Box 10. UC Berkeley, Bancroft Library, MSS 73/79, Box 42.
Stanford University, CA Stanford University, Hoover Institution Archives, Eric Voegelin Papers, Box 20. Stanford University, Hoover Institution Archives, Fritz Machlup Papers, Box 48. Stanford University, Hoover Institution Archives, Karl R. Popper Papers, Box 59.
Sonstige Archive in den USA Institute for Advanced Study [Princeton/NJ], The Shelby White and Leon Levy Archives Center, Director’s Office Records/General Files/Box 34/Ka-K h University of Illinois at Urbana, Champaign Archives, RS 15/18/1, Box 4, Folder Kelsen, Hans, 1938–1939. University of Chicago Library, Merriam, Charles E. Papers, Box 51, Folder 7.
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f ) Privatbesitz Anne Feder Lee, Honolulu Hanna Kelsen Oestreicher, Times to remember (48-seitiges Typoskript, datiert New York, October 30, 1977). Hannah Kelsen Oestreicher, My Parents in the United States 1940–1973 (7-seitiges Typoskript, undatiert, vermutlich New York 1977). List or Manifest of Alien Passengers for the United States Immigrant Inspector at Port of Arrival, Port of New York, 21. 4. 1940. Declarations of Intention [of becoming an American citizen] of Hans Kelsen and Margarete Kelsen, 24. 5. 1941. Certificates of Arrival of Hans and Margarete Kelsen, 21. 6. 1945. Petitions for Naturalization of Hans and Margarete Kelsen, 28. 7. 1945. Certificate of Death of Margarete Kelsen, 5. 1. 1973, Certificate of Death of Hans Kelsen, 19. 4. 1973 (Duplicate 2007). Rudolf A. Métall, Brief an Maria Feder v. 13. 4. 1973.
Carole Angier, Oxford Geburts‑ und Tauf-Schein von Lilli Kann. Trauungs-Schein von Ernst Kelsen und Lilli Kann.
Sonstige Hans Kelsen, Brief an Carlos Cossio v. 13. 10. 1949, Original im Besitz von Eduardo Mendez, Buenos Aires. Hans Kelsen, Brief an Carlos Cossio v. 4. 6. 1943, Original im Besitz von Mane Perez del Cerro, Buenos Aires. Karl Renner, Brief an die Redakt ion der „Wiener Zeitung“ v. 5. 7. 1920, Original im Besitz von Ewald Nowotny, Wien.
3. Interviews a) Interviews von Hans Kelsen Hans Kelsen, Interview mit Suzanne Bernfeld v. 13. 10. 1951, in: LOC, Manuscript Division, Siegfried Bernfeld Papers; Kopie in: HKI, Nachlass Kelsen 21aj.72. Hans Kelsen, Interview mit Kurt Eissler v. 19. 12. 1953, in: LOC, Manuscript Division, Sigmund Freud Collection, Box ZR 12; Kopie in: HKI, Nachlass Kelsen 21aj.72. Hans Kelsen, Interview mit Mr. Duclos, 1957, in: HKI, Nachlass Kelsen 21aj.72.
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Gedruckte Quellen
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Hans Kelsen, Interview mit Irmgard Bach (Radio Bremen), Juni 1958, Abschrift in HKI, Bestand Kelsen Persönliches; auszugsweise veröffentlicht in: Auszug des Geistes. Bericht über eine Sendereihe (Bremen 1962) 83–85. Hans Kelsen, Interview mit Hans Klecatsky v. 2. 5. 1968, auszugsweise ausgestrahlt im Hörfunkprogramm Ö1 bei der Gedenksendung für Hans Kelsen am 8. 5. 1973; vollständig abgedruckt in: JBl 95 (1973) 306–306. Hans Kelsen, Interview mit Heinz Keinert, Anfang Juli 1968, Tonband und Abschrift in: HKI, Nachlass Kelsen 21aj.72.
b) Für dieses Buch durchgeführte Interviews Ludwig Adamovich jun., Interview mit Th. O. und Kamila Staudigl-Ciechowicz, 3. 11. 2009, Wien. Carole Angier, Interview mit Th. O. und Jürgen Busch, 8. 9. 2010, Oxford/UK. Abel Javier Aristegui, Interview mit Th. O. und Miriam Gassner, 28. 3. 2012, La Plata/ARG. Eugenio Bulygin, Interview mit Th. O. und Miriam Gassner, 26. 3. 2012, Buenos Aires/ARG. Richard Buxbaum, Interview mit Th. O. und Jürgen Busch, 3. 7. 2007, Berkeley/CA. Hugo Caminos, Interview mit Th. O. und Miriam Gassner, 31. 3. 2012, Buenos Aires/ARG. Gerhard Casper, Interview mit Th. O., 16. 9. 2013, Stanford/CA. Anne Feder Lee, Interview mit Th. O. und Jürgen Busch, 15. 10. 2006, Wien. Gerold Herrmann, Interview mit Th. O., 21. 10. 2008, Wien. Alexander Hoffmann, Interview mit Th. O. und Jürgen Busch, 5. 7. 2007, Oakland/CA. Frederick Mayer, Interview mit Th. O. und Jürgen Busch, 1. 7. 2007, Batavia/IL. Virginia McClam, Interview mit Th. O. und Jürgen Busch, 6. 7. 2007, Foster City/CA. Marilyn Rinzler, Interview mit Th. O., 15. 9. 2013, Berkeley/CA. Herbert Schambeck, Interview mit Th. O. und Jürgen Busch, 21. 2. u. 28. 2. 2007, Wien. Ulises Schmill Ordóñez, Interview mit Th. O. und Miriam Gassner, 8. 12. 2012, Mexico City. Roberto Vernengo, Interview mit Th. O. und Miriam Gassner, 26. 3. 2012, Buenos Aires/ARG. Robert Walter, Interview mit Th. O. und Jürgen Busch, 12. 6. 2007, Wien. Günther Winkler, Interview mit Th. O., 25. 9. 2008, Wien.
c) Sonstige Interviews Friedrich Lothar Brassloff, Interview mit Konstantin Kaiser v. 12. 10. 1984 [http://access.cjh. org/429549] (1984/19. 4. 2015).
4. Gedruckte Quellen a) Normen‑ und Judikatursammlungen Kaiserl[ich] Königl[ich] Theresianisches Gesetzbuch (MThGS, Wien 31789). Vollständige Sammlung der seit dem glorreichen Regierungsantritt Joseph des Zweyten für die k. k. Erbländer ergangenen höchsten Verordnungen und Gesetze, durch privaten Fleiß gesammelt und in chronologische Ordnung gebracht (JosGS, Wien 1788–1790). Seiner Majestät [Name] Gesetze und Verfassungen (Verordnungen) im Justizfache für die Deutschen Länder der Österreichischen Monarchie (Justizgesetzessammlung, JGS, Wien 1817–1854).
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Quellen‑ und Literaturverzeichnis
Seiner Majestät [Name] politische Gesetze und Verordnungen für die Oesterreichischen, Böhmischen und Galizischen Erbländer (ab 1827: für sämmtliche Provinzen des Oesterreichischen Kaiserstaates, mit Ausnahme von Ungarn und Siebenbürgen) (Politische Gesetzessammlung, PGS, Wien 1793–1851). Allgemeines Reichs-Gesetz‑ und Regierungsblatt (ab 1853: Reichsgesetzblatt) für das Kaiserthum Oesterreich (ab 1870: für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder) (RGBl, Wien 1849–1918). Landes-Gesetz-Blatt für das Königreich Böhmen (böhm LGBl; teilw. variierende Titel, Prag 1848–1918). Landes-Gesetz‑ und Verordnungsblatt für das Königreich Galizien und Lodomerien sammt dem Großherzogthume Krakau (galiz LGBl; teilw. variierende Titel, Lemberg 1849–1918). Landes-Gesetz‑ und Verordnungsblatt [ab 1918: Landesgesetzblatt] für das Erzherzogtum Österreich unter der Enns [ab 1918: für Niederösterreich] (nö LGBl; teilw. variierende Titel, Wien 1848–1938, 1945 ff.). Landesgesetzblatt für Wien (Wr LGBl; Wien 1920–1934, 1946 ff.). Staatsgesetzblatt für den Staat [1945: für die Republik] Deutschösterreich [ab 1919: Österreich] (StGBl, Wien 1918–1920, 1945). Bundesgesetzblatt für die Republik [1934–1938: für den Bundesstaat] Österreich (BGBl, Wien 1920–1938, 1945 ff.). [deutsches] Reichsgesetzblatt (dRGBl, Berlin 1871–1945). Sammlung der Gesetze und Verordnungen des čechoslovakischen Staates [1939: der čecho-slovakischen Republik] (čsSlg, Prag 1918–1939). Schweizerisches Bundesblatt (BBl, Bern 1849 ff.). Sammlung der Erkenntnisse des durch das Gesetz vom 25. Jänner 1919, St. G. Bl. Nr. 48 geschaffenen österreichischen Verfassungsgerichtshofes (»Alte Folge«, VfSlgAF, Wien 1920– 1922). Sammlung der Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes. Neue Folge (VfSlg, Wien 1923–1936, 1948 ff.). Sammlung der Erkenntnisse des [bis 1918: k. k.] Verwaltungsgerichtshofes (VwSlg, Wien 1901– 1935, NF 1948 ff.). Sammlung des österr. Obersten Gerichtshofes in Zivil‑ und Justizverwaltungssachen (SZ, Wien 1922–1938, 1948 ff.). Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE, Tübingen 1953 ff.). League of Nations Treaty Series (London 1920–1948) [https://treaties.un.org]. Publications of the Permanent Court of International Justice (PCIJ, Leyden 1923–1946) [https:// www.icj-cij.org/en/pcij]. United Nations General Assembly Official Records (GAOR, London–New York 1947 ff.) [https://digitallibrary.un.org]. United Nations Security Council Official Records (SCOR, New York 1964 ff.) [https://digita ll ibrar y.un.org].
b) Parlamentaria und andere Beratungsprotokolle Stenographische Protokolle des Abgeordnetenhauses (StPAH, Wien 1861–1918). Stenographische Protokolle der Provisorischen Nationalversammlung und Beilagen dazu (StPPovNV, BlgProvNV, Wien 1918–1919). Stenographische Protokolle der Konstituierenden Nationalversammlung und Beilagen dazu (StPKNV, BlgKNV, Wien 1919–1920).
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Abbildungsnachweise Archiv der Universität Wien: Abb. 10. Archiv Robert Streibel, Wien: Abb. 29. Baureferat des Bezirksamts Prag 1: Abb. 3. Feder Lee, Anne, Honolulu: Umschlagbild, Abb. 2, Abb. 4–7, Abb. 9, Abb. 12, Abb. 15, Abb. 18, Abb. 20, Abb. 24, Abb. 28, Abb. 30, Abb. 37–39, Abb. 41–42, Abb. 44, Abb. 47, Abb. 49, Abb. 54, Abb. 56–57. Forschungsarchiv für Antike Plastik, Köln: Abb. 34. Foto Fayer, Wien: Abb. 16, Abb. 25. Hans Kelsen Institut Wien: Abb. 52. Heinz, Grete, Carmel: Abb. 50–51. Institut für Staats‑ und Verwaltungsrecht der Universität Wien: Abb. 11. Oestreicher, Adam, New York: Abb. 8, Abb. 17. Olechowski, Thomas: Abb. 46, Abb. 53. Österreichische Nationalbibliothek: Abb. 13, Abb. 21–23, Abb. 31–33, Abb. 35–36, Abb. 40. Österreichische Post AG: Abb. 1. Perez del Cerro, Mane, Buenos Aires: Abb. 48. Rinzler, Marilyn, Berkeley: Abb. 47. Smend, Friedrich, Göttingen: Abb. 26. The Ann Arbor News: Abb. 45. Universitätsarchiv Heidelberg: Abb. 14 Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0. Verein für die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung, Wien: Abb. 19, Abb. 27. Walter, Ulrich, Wien: Abb. 55. Wikimedia Commons: Abb. 43.
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Werksregister Die Reihung der Werke Hans Kelsens folgt jener des Quellen‑ und Literaturverzeichnisses. Die römischen Zahlen bezeichnen die Teile des Buches, die arabischen Zahlen die Fußnoten innerhalb dieser Teile.
1. Egodokumente Selbstdarstellung (1927) I: 365, 392, 408, 509, 578, 674, 802; II: 881 f. Autobiographie (1947) I: 32, 44, 52, 59, 117 f., 130, 133, 145, 147 f., 156, 181 f., 207, 221 f., 226, 246, 270, 272, 296, 328, 340, 366, 369, 371 f., 378, 379, 382, 394, 417, 419, 424 f., 429, 432, 434, 441, 442, 444, 445, 450, 451, 453, 497, 499, 502, 509, 582, 583, 588, 590, 605, 621, 645, 675, 708, 720, 728, 801, 816, 834, 836, 839, 853, 862, 869, 874, 881, 883, 887; II: 6, 29, 30, 37, 40, 44, 48, 56 f., 65 f., 68, 73, 228,
233 f., 240, 243, 252, 254, 305, 327, 354, 393, 408, 423, 471, 526, 530, 545, 559, 567, 645, 648, 678, 707, 983, 986, 1099, 1131, 1133, 1135, 1137, 1139, 1144, 1156 f., 1159, 1170, 1211, 1238, 1315, 1321, 1332 f.; III: 86, 107, 219, 271, 275, 361, 376, 384, 393 f., 429, 443, 447, 558, 569, 614, 627, 634, 682 f., 692, 696 f., 699 f., 707, 711, 716, 718, 720–723, 727, 740, 748, 759, 792, 795, 797, 875, 881, 885; IV: 98, 167, 179, 181, 195, 223, 399, 481, 508
2. Publizierte Schriften Die Staatslehre des Dante Alighieri (1905) I: 271, 284, 286, 287–291, 294, 299, 301 Wählerlisten und Reklamationsrecht (1906) I: 342, 361 Reichsratswahlordnung (1907) I: 343–346, 348, 352–355, 357, 362 Naturalisation und Heimatberechtigung (1907) I: 338, 339 Hauptprobleme (1911) I: 152, 153, 270, 367, 407, 409, 427, 440, 535, 538–540, 543–551, 553–555, 557, 559, 560, 562–569, 572–574, 576, 577, 579, 635, 651, 679, 941, 993; III: 876; IV: 1181 Über Grenzen (1911) I: 466, 686 Industrieförderung (1912) I: 713 Buchbesprechung Krasny (1912) I: 715 Zur Soziologie des Rechts (1912) I: 690 Buchforderungseskont (1913) I: 716, 717 Politische Weltanschauung (1913) I: 520, 525 Rechtsstaat und Staatsrecht (1913) I: 649 Über Staatsunrecht (1914) I: 650–652; II: 548, 1190
Gesetz (1913) I: 595–598 Zur Lehre vom öffentlichen Rechtsgeschäft (1913) I: 648 Verwaltungskommission (1913) I: 664, 668 Sociologická a právnická idea státni (1913/14) I: 687, 688 Buchbesprechung Spiegel (1914) I: 677 Reichsgesetz und Landesgesetz (1914) I: 565, 654–657, 659 f. Buchbesprechung Pitamic (1915/16) I: 677 Rechtssoziologie (1914/15) I: 694, 696 f., 705 Rechtswissenschaft (1916) I: 402–405 Replik (1916) I: 701 f., 705 Schlusswort (1916/17) I: 705 Wehrmacht (1917) I: 726, 842–844, 849, 850 Rundfrage (1917/18) II: 14 Buchbesprechung Wurmbrand (1918) I: 677 Buchbesprechung Laun (1918) I: 677 Ein einfaches Proportionalwahlsystem (1918) II: 133 Der Proporz im Wahlordnungsentwurf (1918) II: 136
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Werksregister
Verfassungsnovelle (1918) II: 158 Staatskanzler (1918) II: 159 Bernatzik (1919) I: 218; II: 228, 264 Theorie (1919) IV: 1180, 1183, 1185 Das Proportionalsystem (1918/19) II: 139, 140–142 Verhältniswahlrecht (1919) II: 143, 145 f. Verfassungsgesetze I (1919) II: 49–51, 53, 84, 86 f., 108, 111, 115, 117, 119, 126, 153, 165, 169, 187, 194, 217 Anschluß (1919) II: 163 Die Organisation der vollziehenden Gewalt (1919/20) II: 226 f., 267 Die Stellung der Länder (1919/20) II: 207–212, 214, 220–223, 267 Demokratie (1919) II: 426 Verfassungsgesetze II (1919) II: 52, 149, 157, 166 Verfassungsgesetze III (1919) II: 124, 170, 181 f., 188 f., 213, 219, 220, 226, 230 Bundesverfassungsentwurf (1920) II: 349 f. Marxismus (1920) II: 444 f., 448 Souveränität (1920) I: 302, 514, 803; II: 215, 220, 271, 273, 277–285, 287–291, 293–298, 332, 404, 631, 665, 668, 670, 672, 980, 993; III: 325 Sozialismus und Staat (1920) II: 435, 439, 441–445, 447, 450 f., 453 Verfassungsgesetze IV (1920) II: 114, 334, 639 Demokratie (1920) I: 300, 526; II: 139, 426 f., 430, 432 f., 435 f., 438 f., 441 f., 449, 454 f., 456, 1253 Demokratisierung der Verwaltung (1921) II: 751, 753 Die Not der Universität (1921) II: 487 Der Verfall der Wiener Universität (1921) II: 487 Staatsbegriff (1921) Einl. 103; I: 711 Das Verhältnis von Staat und Recht (1921) II: 550 f., 561 f., 564, 814, 1002 Wieser (1921) II: 491 Der Begriff des Staates (1923) II: 800 f., 804– 806, 808, 816; III: 577 Rechtswissenschaft und Recht (1921/22) II: 569, 571 f., 592–597 In eigener Sache (1923) II: 608– 610, 637 Österreich als Bundesstaat (1922) II: 758 Staatsbegriff (1922) I: 410; II: 550 f., 588–591, 668, 671, 673–676, 969, 1002 Staat und Recht (1922) II: 674, 680 Verfassungsgesetze V (1922) I: 600; II: 300, 303, 326, 338, 352 f., 366, 368, 373, 376, 383, 387, 460, 1071 Besetzung (1922) II: 495, 499 Gott und Staat (1922/23) II: 999, 1001 f.
Hauptprobleme (1923) I: 397, 645, 680, 812, 654–658; IV: 1186 Schey (1923) II: 858 Ofner (1923) II: 1106 f. Österreichisches Staatsrecht (1923) I: 36; II: 28, 43, 49, 52, 84, 86 f., 111, 124 f., 157, 169, 170 f., 173, 213, 305, 308, 335, 352, 355, 368, 373, 378 f., 383, 396 f., 504, 766; III: 399 Die politische Theorie des Sozialismus (1923) II: 999 f. Proporz (1923) II: 908 Sozialismus und Staat (1923) II: 709, 711, 714, 716–719, 721, 773 III: 399 Das Verhältnis von Gesetz und Verordnung (1923) II: 1132 Franz Oppenheimer (1924) II: 1270 Für die Vollendung der Verfassung (1924) II: 745 Der Bund und die Länder (1924) II: 745 Die Lehre von den drei Gewalten (1924) II: 1033 Marx oder Lassalle (1924) II: 723, 741 f. Otto Bauer (1924) II: 728 f., 742 Lassalle (1924) II: 720, 722, 974 Allgemeine Staatslehre (1925) II: 505 f., 774, 860, 862 f., 865–870, 873–877, 879, 1063; III: 171, 241; IV: 128 Kompetenzbestimmungen (1925) II: 748 Lassalle (1925) II: 722 Tezner (1925) I: 628, 631, 641 Der Kompromiß (1925) II: 765 Parlamentarismus (1925) II: 731–734, 736– 739, 1078, 1255 f. Souveränität (1925) III: 105 Staat und Völkerrecht (1925) III: 105 Die Vollendung der Bundesverfassung (1925) II: 745 Bemerkungen zur Chilenischen Verfassung (1926) II: 921 Demokratie (1926) II: 1008 [Diskussionsrede] (1926) II: 909 Die räumliche Gliederung / Impǎrtirea teritorialǎ (1926) II: 774 Die proportionale Einerwahl (1926) II: 910 Neumann-Ettenreich (1926) II: 231 Übermensch (1926) II: 975–981 Unzufriedenheit (1926) II: 910 Les rapports (1927) II: 1005, 1007; III: 105 Bundesexekution (1927) II: 776 f., 779 f. Demokratie (1927) II: 1008–1013 Staatsbegriff (1927) II: 812, 815 Durchführung des Anschlusses (1927) II: 759, 767–770; III: 399
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Werksregister Die Verfassung Österreichs (1927) II: 746 Dispensehewirrwarr (1927) II: 1183 Idee des Naturrechts (1928) II: 1027, 1029 Naturrecht (1928) I: 193, 929; II: 1027–1029, 1031 Der Begriff des Kompetenzkonfliktes (1928) II: 1189 f., 1199 Zum Begriff des Kompetenzkonfliktes (1928) II: 1175, 1203, 1205 Naturrechtslehre (1928) II: 1026, 1028–1033, 1036–1038; IV: 121 Der Bundespräsident hat genug Rechte! (1928) II: 1243 Staatsbegriff (1928) II: 878, 1017 Straßenpolizei (1928) II: 1216 Rechtsgeschichte gegen Rechtsphilosophie? (1928) I: 155; II: 986, 990–992, 995 Staatsgerichtsbarkeit (1929) II: 1049, 1051, 1055, 1057–1060; III: 171 La garantie juridictionelle; Discussion (1929) II: 1212 Geschworenengericht und Demokratie (1929) II: 1261 f. Fort mit den Schwurgerichten! (1929) II: 1262 Justiz und Verwaltung (1929) II: 1018 Brockhausen (1929) I: 329 Die Österreichische Verfassungsreform (1929) II: 1248 Souveränität (1929) III: 105 Drang zur Verfassungsreform (1929) II: 385, 1240 Verfassungskrisis (1929) II: 1244 Notverordnungsrecht (1929) III: 167 Die Grundzüge der Verfassungsreform (1929) II: 1240 Wiener Verfassung (1929) II: 1241 Wien und die Länder (1929) II: 1242 Betrachtungen (1929) II: 1245 Das ideale Wahlrecht (1929) II: 910 Verfassungsfriede in Oesterreich (1929) II: 1317 Verfassungsreform (1929) II:1246, 1283, 1288, 1293, 1295, 1297, 1299, 1302–1305, 1308, 1310 f. Verfassungsreform in Österreich (1929) II: 1247 Demokratie (1929) II: 140, 437, 731–734, 736 f., 1251, 1253–1259, 1263–1269; III: 292, 327; IV: 777 Staatsgerichtsbarkeit (1929) III: 160 Wechselrede (1929) II: 1291, 1312 Die proportionale Einerwahl (1930) III: 139 Ein freiheitliches Wahlverfahren (1930) III: 140 Verfassung (1930) II: 1321
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Integration (1930) III: 116, 119, 121, 124, 126, 128 Wahlreform (1930) III: 144 Allgemeine Rechtslehre (1931) III: 232–234, 399 Kunz (1931) II: 923 Zollunion zwischen Deutschland und Österreich (1931) III: 190, 399 Wandel des Souveränitätsbegriffes (1931) III: 198 Wer soll der Hüter der Verfassung sein? (1930/31) III: 167, 173–183 Zollunion und Völkerrecht (1931) III: 191–193, 399 Fritz Stier-Somlo † (1932) III: 275 Gegen die Todesstrafe (1932) III: 250 Rechtstechnik und Abrüstung (1932) III: 216 f., 489; IV: 203 La technique du droit (1932) III: 482 Unrecht und Unrechtsfolge (1932) III: 199– 208, 210–212, 214 Das Urteil des Staatsgerichtshofs (1932) III: 134, 291 f., 296, 298 f., 301 f., 304 Verteidigung der Demokratie (1932) III: 315 f., 317–320, 322 Die hellenisch-makedonische Politik (1933) III: 78–80, 431 Kriegsschuldfrage (1933) III: 214, 399 Methode und Grundbegriff (1933) III: 572– 574 Die platonische Gerechtigkeit (1933) III: 71, 73, 75 f.; IV: 977 Die platonische Liebe (1933) III: 74 Den rena rättsläran (1933) III: 345 Théorie générale (1933) III: 266–268; IV: 128 Staatsform und Weltanschauung (1933) III: 324–328 El Método (1933) III: 580 The Legal Process (Zeitungsartikel, 1934) III: 854 The Legal Process (Broschüre, 1934) III: 855 Reine Rechtslehre (1934) Einl. 110; I: 364, 575; III: 241, 572–574, 582 f., 585 f., 588 f., 765; IV: 128, 130, 231, 542, 619, 990 Die Technik des Völkerrechts (1934) III: 431, 482, 484,486, 488 f., 490, 492–497 Völkerrechtliche Verträge (1934) III: 598 f. Zur Theorie der Interpretation (1934) II: 929; III: 584 La Dictature de Parti (1935) III: 610 L’âme et le droit (1935/1936) III: 659, 888; IV: 96 Contribution (1936) III: 600–603 Sanktionen (1936) III: 842
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La transformation (1936) III: 604–609 Ziele (1936) III: 765 Die allgemeinen Rechtsgrundsätze (1936) II: 928; III: 238 Centralization and Decentralization (1937) III: 660–663 Parteidiktatur (1937) III: 610, 612 f. Wissenschaft und Demokratie (1937) III: 666, 728–731 Revision des Völkerbundstatutes (1937) III: 431 De la séparation (1938) III: 831, 833–835 The Separation (1938) III: 831, 833–835 Primat des Völkerrechts (1938) II: 929 Zur Reform des Völkerbundes (1938) III: 844, 846, 848 Causality and Retribution (1939) III: 872, 879, 896, 899, 903 Entstehung (1939) III: 871, 879, 895, 897–904; IV: 978 Legal Technique (1939) III: 837–840; IV: 596 Les résolution (1939) III: 836 [Vorwort] (1939) III: 829 Théorie du droit international coutumier (1939) III: 829 Vergeltung und Kausalität (1941) III: 232, 873, 877, 880–884, 889–904; IV: 72, 91 f. Buchbesprechung Cairns (1941) IV: 277 f. Buchbesprechung Pound (1941) III: 656 Essential Conditions (1941) IV: 258, 273 International Peace (1941) IV: 257 Social Technique (1941) IV: 130, 979 Analytical Jurisprudence (1941) I: 435; IV: 99–102, 979 Recognition (1941) IV: 108–110 Discussion (1942) IV: 254–256 Judicial review (1942) II: 420; IV: 111, 113–116, 173 Law and Peace (1942) IV: 23, 57–65, 262 Revision (1942) IV: 287 Value judgments (1942) IV: 104 f., 979 Buchbesprechung Schiffer (1943) IV: 108 Collective and individual responsability (1943) IV: 341–350, 352 Compulsory Adjudication (1943) IV: 108, 260, 272, 411 f. El contrato y e el tratado (1943) IV: 1048 La Paz por el Derecho (1943) IV: 262 Peace through Law (1943) IV: 262 Quincy Wright’s A Study of War (1943) IV: 246 Society and Nature (1943) IV: 90 f., 94 The International Legal Status of Germany (1944) IV: 108, 312, 314f, 318, 436
Peace trough Law (1944) IV: 266, 268–275, 409 Sovereign Equality (1944) IV: 263 Strategy of Peace (1944) IV: 259, 271, 273 General Theory (1945) I: 435; IV: 118, 127 f., 130–132, 135, 137–139, 141 The Legal Status of Germany (1945) IV: 108, 321, 323–325 The Old and the New League (1945) IV: 108, 420, 422–429, 434 f., 437 The Rule against Ex Post Facto Laws (1945) IV: 379–381, 383 [Diskussionsbeitrag] (1946) IV: 547. Law of the Future (1946) IV: 546. Limitations (1946) IV: 549 f. Membership (1946) IV: 552 Organization and Procedure (1946) IV: 554– 556 The Preamble (1946) IV: 548 Pound (1945/1946) III: 650 Sanctions in International Law (1946) IV: 560 f., 1143 Sanctions (1946) IV: 560 f. Grundlegung der Völkerrechtslehre (1946/47) III: 432; IV: 72 Peace Treaty (1947) IV: 330 German Peace Terms (1947) IV: 331 Metamorphoses (1947) IV: 777, 993 Judgment (1947) IV: 386–390, 392–395 Absolutism and Relativism (1948) IV: 660, 980 Collective Security (1948) IV: 108, 566, 568 Friedensvertrag (1948) III: 72 IV: 332 Law, State and Justice (1948) IV: 990 Theory of Bolshevism (1948) IV: 654–658 Settlement (1948) IV: 554 Withdrawal (1948) IV: 553, 1012 The Atlantic Pact (1949) IV: 572 Collective and Individual Responsibility (1949) IV: 384, 563 f. Conflicts (1949) IV: 569 Kohler (1949) IV: 108 The Natural Law Doctrine (1949) IV: 712, 980 The North Atlantic Defense Treaty (1949) IV: 575, 577–579, 715 Causality and Imputation (1950) IV: 980, 1047, 1079 f. Rights and Duties of States (1950) IV: 108, 625–627, 784 Acheson Plan (1950) IV: 615 The Law of the United Nations (1950) II: 425; III: 865; IV: 548 f., 552 f., 555 f., 560, 563, 569, 586, 589 f., 594, 613, 623, 855
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Werksregister Trieste (1950) IV: 604, 608 North Atlantic Treaty (1950/51) IV: 108, 576–578 Future (1951) IV: 615 North Atlantic Treaty (AJIL,1951) IV: 574 North Atlantic Treaty (ZÖR,1951) IV: 576–578 Recent Trends (Supplement, 1951) IV: 611, 613, 615–617 Recent Trends (Aufsatz, 1951) IV: 554, 616 Science and Politics (1951) IV: 980, 887–889 Security Council? (1951) IV: 611, 613 Principles (1952) II: 113; IV: 230, 629–638, 1143 Problemas escogidos (1952) IV: 728 Was ist ein Rechtsakt? (1951/52) IV: 540 f., 543 Holy Scriptures (1952/1953) IV: 921, 982 Absolutism (1953) IV: 659 Gerechtigkeit (1953) IV: 880, 995 Was ist Gerechtigkeit? Vortrag (1953) IV: 506, 820 Egologische Theorie (1953) IV: 690, 692 f., 695, 712, 727, 729, 731 f., 734, 736, 806 Théorie Pure du Droit (1953) IV: 812 Was ist Gerechtigkeit (1953) IV: 776–778, 779 f., 784–786, 788, 820, 981 Was ist die Reine Rechtslehre? (1953) IV: 826 Kausalität und Zurechnung (1954) IV: 1047, 1079 f. The Communist Theory (1955) IV: 899–902, 904 f., 909 Democracy and Socialism (1955) IV: 873, 890–894 Foundations of Democracy (1955) II: 494; IV: 873, 875–879, 881, 883–886, 888, 890– 894, 918 Théorie du droit international public (1955) IV: 841 Toast (1956) IV: 1004 Contiguity (1956) IV: 951, 955 A „Dynamic“ Theory (1956) IV: 982, 996 General international law (1956) IV: 1012 Quel est le fondement (1956) IV: 1016 Collective Security (1957) IV: 850, 853–856 Platon (1957) IV: 996–999 Aristotle’s Doctrine (1957) IV: 983–985 Why should the Law be Obeyed (1957) IV: 986 Begriff (1958) II: 292; IV: 1021, 1047 Einheit (1958) IV: 1047, 1083 f., 1086 Problems of Collective Security (1958) IV: 1014
1013
Justice et Droit Naturel (1959) IV: 1018 Eine „Realistische“ und die Reine Rechtslehre (1959/60): IV: 1036–1038 Merkl (1959/60) I: 607; IV: 526 f. Introducción (1960) IV: 1051, 1055 Kunz (1959/60) II: 538, 951; IV: 682 Kausalität und Zurechnung (1960) IV: 1100 Recht und Moral (1960) IV: 1047, 1067 f. Reine Rechtslehre (1960) Einl. 4; II: 292, 459, 925; III: 200, 571; IV: 135, 544, 1021, 1038, 1046, 1057, 1059, 1062, 1064–1066, 1068, 1070–1077, 1080 f., 1083 f., 1086–1089, 1129, 1143, 1153 Sovereignty (1960) IV: 1043, 1046 Geltungsgrund (1960) IV: 1026 f. What ist the Pure Theory (1960) IV: 1056 Lauterpacht (1961) III: 550 Derogation (1962) IV: 1157 f. Der Richter und die Verfassung (1962) IV: 1160 f. Souveränität (1962) IV: 1156 Naturrechtslehre (1963) IV: 1164 Mannlicher (1963) II: 304 Die Grundlage der Naturrechtslehre (1963) IV: 1166–1173, 1203 Selbstbestimmung (1963) IV: 986 Funktion (1964a) IV: 1176–1179 Funktion (1964b) IV: 1176–1179 Encounters and Problems (1965) I: 340, 511; IV: 1243 Frei von politischem Zwang (1965) IV: 1242 In eigener Sache (1965) IV: 1028–1030, 1166 Eine phänomenologische Rechtstheorie (1965) IV: 1192 Professor Marcics Theorie (1965) IV: 1031, 1033 Professor Stone (1965) IV: 1217 f. Recht und Logik (1965) IV: 1202, 1204 f. Was ist juristischer Positivismus? (1965) I: 935; IV: 735, 1197–1199 Zum Begriff der Norm (1965) IV: 1193, 1195 f. Norm and Value (1966) IV: 1047 Principles (1966) IV: 640 Nochmals: Recht und Logik (1967) IV: 1125 Pure Theory (1967) Einl. 4; IV: 1046, 1064, 1082 Logisches und metaphysisches Rechtsverständnis (1968) IV: 1255, 1258 Problematik (1968) IV: 1257 f. Essence (1968) IV: 1047, 1082
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1014
Werksregister
3. Aus dem Nachlass herausgegebene Schriften Allgemeine Theorie der Normen (1979) I: 437; IV: 1069, 1078, 1187, 1189, 1193–1196 Die Illusion der Gerechtigkeit (1985) III: 75; IV: 1000, 1002 Recht und Kompetenz (1987) III: 458
Geltung und Wirksamkeit (2003) IV: 1041 A New Science of Politics (2004) IV: 917 f., 920, 930 Secular Religion (2012) III: 903; IV: 923, 930
4. Gutachten und Memoranden Exportakademie-Gutachten 1913 I: 486, 718 Militärgesetz-Entwurf 1917 I: 863, 866 Memorandum 1917 II: 16, 23 Heeresverwaltungs-Gutachten 1918 I: 870, 871 Gutachten Verfassungsreform 1918 II: 16–18, 20, 22, 27 Deutschösterreich-Gutachten 1918 II: 108 Thurn und Taxis-Gutachten 1924 II: 1082 Tschechoslowakei-Gutachten 1927 II: 1088, 1090 f.
Liechtenstein-Gutachten 1929 II: 1086 Brasilien-Gutachten 1933 III: 594 f. Campagnolo-Gutachten 1937 III: 564–566 Tschechoslowakei-Gutachten 1939 III: 823 f. Österreich-Gutachten 1944 IV: 297, 307–309, 311 f., 314–316 Texas-Gutachten 1950 IV: 942, 944 f. Uruguay-Gutachten 1954 IV: 934–936 Japan-Gutachten 1954 IV: 947, 951 f., 955 Zypern-Gutachten 1959 IV: 963–966
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Personenregister Es werden nur namentliche Nennungen im Haupttext sowie Abbildungen berücksichtigt.
Abraham (Bibel) 40, 375 Abraham, Hans Fritz 689 Achelis, Johann Daniel 567, 576 f. Achille(u)s (Mythologie) 165 Adamovich, Ludwig (sen.) 73 f., 467 f., 471, 474 f., 561, 625, 768 f., 770 Adenauer, Konrad 481, 484, 491, 531 f., 543, 884 Adler, Alfred 456 Adler, Friedrich 257 Adler, Max 164, 180, 182, 184, 194, 353, 354 (Bild), 355 f., 381, 400, 403, 412, 580 Adler, Sigmund 67–69, 90 Adler, Viktor 183, 233 Adorno, Theodor W. 831 Aftalión, Enrique 811 (Bild) Agamemnon (Mythologie) 649 Aischylos 649 Akzin, Benjamin 393, 826 Albert, Hans 15 Alexander III. der Große, König von Makedonien 496 Aliprantis, Nikitas 18 Allen, Eleanor W. 685 Amos, Hans Egon 498 Amselek, Paul 898 f. Andrássy, Gyula d. J. 226 Angier, Carole 15 Anschütz, Gerhard 12, 108 f., 140, 143, 349 (Bild), 350 f., 369, 395, 534, 558 Antoniolli, Walter 8, 826, 885, 908 Anzilotti, Dionisio 411, 597 Apollo (Mythologie) 375 Arangio-Ruiz, Gaetano 787, 832 Aristegui, Abel Javier 17, 809 Aristoteles 54, 388, 495 f., 586, 824, 843, 861 f., 895 f. Arndt, Paul 464 Arndts, Carl Ludwig 138 Arz v. Straußenburg, Artur 202 Aschaffenburg, Gustav 529 Atreus (Mythologie) 649 Attlee, Clement R. 736
Auer, Albert 895 Aufricht, Hans 392, 684, 826 Austerlitz, Friedrich 256, 431, 446, 458 Austin, John 110, 694, 701, 728, 875, 900, 902 Aydelotte, Frank 722 Azcárate Florez, Justino de 389, 805 Bachrach, Joseph 39 Bacon, Francis 650 Badeni, Kasimir v. 95 Ball, Margaret 707 f. Barabbas (Bibel) 302 Baron, Sally 356 Barrows, David P. 711 Bartók, Béla 39 Bartsch, Robert 489 Bauer, Otto 12, 39, 180, 181 (Bild), 182, 184, 194, 241 (Bild), 288, 291, 295, 303, 356–358, 360, 381, 459, 466, 471, 485, 580 Bechynĕ, Rudolf 612 Beck, Max Wladimir 95 Becke, Friedrich Johann 258 Becker, Carl Heinrich 483 Beckett, William Eric 783 Bekes, Aladár 395 Bellmond v. Adlerhorst, Anton 175 Bellquist, Eric C. 710, 712 Benedict, H. H. 816–819 Benedikt, Heinrich 217 Beneš, Edvard 569, 600, 609, 610 f., 618, 622, 629 f., 633 f. Ben-Gurion, David 804 Berghold, Karl 328 f., 337 Berkeley, George 711 Bernatzik, Edmund 69–72, 73 (Bild), 74 f., 80 f., 89, 99, 107 f., 120, 122, 125, 138, 140, 142, 148, 151, 161, 178, 186 f., 189, 204, 214, 230, 245, 255–263, 313, 328 Bernatzik, Marie 187 Bernfeld, Lilli → Stroß, Lilli Bernfeld, Siegmund 382 Bernstein, Eduard 183 Betancur, Cayetano 826
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Personenregister
Beth, Josef 112, 122 Bettauer, Hugo 120, 402 Beveridge, William 550, 658 Bierling, Rudolf 140 Bilfinger, Karl 350 Billings, Frederick 711 Billroth, Theodor 86 Binding, Karl 124 Bismarck, Otto v. 157, 418 Bittner, Julius 59 Bloch, Alfred 256 Blomeyer, Arwed 774 Blum, Ernst 341 Bobbio, Noberto 868, 881 Bodenheimer, Edgar 705 Bodin, Jean 265 Böhm von Bawerk, Eugen 148, 184, 190, 311 Bohne, Gotthold 554 Bombiero, Julius 123 Bondi, Anna → Fried, Anna Bondi, Bertha, geb. Prager 114, 377 Bondi, Ferdinand 114 Bondi, Herz 114 Bondi, Karoline → Drucker, Karoline Bondi, Margarete → Kelsen, Margarete Bondy, Otto 394, 684, 826 Bonitz, Hermann 47 Borodajkewycz, Taras 906 f., 909 Borotha, Livius 200 Bosch, Hieronymus 626 Bourquin, Maurice 637, 584 Boyer, John 12 Brandweiner, Heinrich 826 Brassloff, Stephan 401 f. Braun, Adolf 483 Braun, Ernst 123 Braun, Otto 485, 524, 532, 534, 577 Brockhausen, Karl 91, 214, 489 Broda, Engelbert 180 f., 380 Broda, Ernst 180 f., 382 Broda, Hans Christian 180 f., 885, 907 f. Broda, Paul 180 Broda, Viola, geb. Pabst 179 f., 382 Bronner, Gerhard 907 Bronstein, Lev → Trotzki Brügel, Ludwig 278 Brüning, Heinrich 506 f., 510, 524 Brunner, Emil 843, 845, 863 Brusiin, Otto 833 Büchner, Ludwig 55, 104 Bühler, Karl 456, 489 Büllingen, Marie-Clara 15 Bulygin, Eugenio 17, 871 f. Burckhardt, Carl Jacob 583
Burger, Michael 82 Burián, István 212, 226 Busch, Jürgen 14 f., 19 Bustamente y Montoro, Antonio Sanchez de 688 Buxbaum, Richard 14, 18 Caesar, Gaius Iulius 51 Caetano, Marcelo 669 Cairns, Huntington 728 f., 731, 737, 761–763, 771, 820 f. Calogero, Guido 882 Calvin, Jean 579 Caminos, Hugo 17, 758, 808 f. Campagnolo, Umberto 586 f., 624 Cannon, Cavendish 729 Cardozo, Benjamin N. 659 Carnap, Rudolf 607, 645 Carsun Chang, Chun-mai 758 Cassirer, Ernst 849 Casper, Gerhard 18 Cathrein, Victor 896 Černý, Jan 599 Červenka, Karel 758 Chamberlain, Arthur Neville 630 Chamberlain, Houston Stewart 84 Chaplin, Charlie 490 Churchill, Winston 637, 642, 723, 740 Chvalkovský, František 633 Chytil, Václav 590 Cicero, Marcus Tullius 51 Clam-Martinic, Heinrich 193, 200 Clay, Lucius D. 738 Clemenceau, Georges 526 Coenders, Albert 555 Cohen, Hermann 104, 106 f., 153, 177, 264, 327, 332–334, 337, 339, 343 f. Columbos, C. John 854 Conant, James Bryant 607, 619, 660, 709 Connally, Tom 759 Conolly, Richard L. 800 Conrad v. Hötzendorf, Franz 439 Constant, Benjamin 509 Cossio, Carlos 17, 805–810, 811 (Bild), 812–814 Coudenhove-K alergi, Richard 381 Couture, Eduardo J. 809 Cowles, William B. 743 f. Cramer, Myron 744 (Bild) Cunow, Heinrich 355 f. Curiel, José Luis 874 Curtius, Julius 513 Cusanus, Nicolaus 843 Ćwikliński, Ludwik 203, 206 f.
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Personenregister Czapp, Karl 207 Czyhlarz, Karl 67, 69 Daladier, Édouard 630 Daniel, Price 854 Danneberg, Robert 286, 289 f., 303 D‘Annunzio, Gabriele 304 Dante Alighieri 70, 80–84, 87, 93, 98 f., 101, 131, 268, 328, 411, 669 Darwin, Charles 53, 86, 373 Davies, David 641–644 Demokritos 650 Demosthenes 51 Denk, August 112 Dérer, Ivan 561 f., 569 Descartes, René 56, 806 Deuticke, Franz 262 Deutsch, Julius 227, 458 Deutsch, Monroe E. 720, 754 Dickinson, Edwin D. 664, 740, 762–764 Dickinson, John 657 Dinghofer, Franz 221, 233, 239, 364, 421 Dionysios II., Tyrann von Syrakus 494 Djuvara, M. 623 Dnistriańskyj, Stanislaw 214 Dobretsberger, Josef 315, 498, 523, 887 Dollfuß, Engelbert 403, 550, 580 f., 771 Domin, Karel 611 Dopsch, Alfons 310 Dreier, Horst 10, 302 Drost, Heinrich 559 Drucker, Adolph (Adolf ) 113 f., 119, 120–122, 377, 717, 730, 804 Drucker, Karoline, geb. Bondi 113 f., 117, 121, 377, 717, 804 Drucker, Peter 114, 228, 380 Drummond, Felipe 16 Drury, Betty 665 Duguit, Léon 396, 411, 604 Dungern, Otto 190 f. Durig, Ernst 474 Dürig, Günter 738 Durkheim, Émile 331 Dürrenmatt, Friedrich 535 Dworkin, Ronald 891 Eagleton, Clyde 754, 815, 826 Ebers, Godehard Josef 349 (Bild), 482 f., 499 f., 529 f., 545 f., 548, 555 f. Ebert, Friedrich 250, 272 Eckert, Christian 481 f., 484, 486, 531, 545 Ehrenhaft, Felix 401 Ehrenzweig, Adolf (Aaron) 889 Ehrenzweig, Albert jun. 889 f., 903 f., 909, 914
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Ehrenzweig, Albert sen. 889 Ehrenzweig, Armin 206, 400, 889 Ehrlich, Eugen 165–168, 403, 568, 899 Ehs, Tamara 11, 16, 19 Eichhoff, Johann Andreas 230 Einstein, Albert 611, 657 Eisenmann, Charles 389 f., 826, 881 Eisler, Arnold 256, 446 Eisner, Kurt 405 Elman, Philip 607 Engel, Friedrich 256, 428, 444–446, 473, 475, 488 f. Engel, Salo 825 f. Engels, Friedrich 299 f., 356, 798 f., 840, 846 Engisch, Karl 878, 912 Engländer, Oskar 563 Engliš, Karel 164, 635, 886 Erler, Eduard 256 Ermacora, Felix 11 Erzberger, Matthias 734 Esser, Hermann 256 Ettmayer, Karl 70 Euripides 649 Evans, Roger F. 691, 709, 715, 720, 762 Ewald, Oscar → Friedländer, Oscar Ewald Exner, Adolf 102 Exner, Franz 47 Exner, Wilhelm Franz 489 Eybeschütz, Jonathan 113 Fairlie, John A. 661–664 Falck, Carl 536 Falser, Stephan 160, 256, 282, 293 f., 303, 446, 923 Feder Lee, Anne Marguerite 14, 38, 100, 718 (Bild), 803, 916 Feder, Ernst 667, 670, 803 Feder, Maria Beate, geb. Kelsen 179 (Bild), 180, 308 (Bild), 370, 376 (Bild), 380, 560, 566, 582, 602, 625, 666 f., 718, 803 f., 852, 911, 916 f. Feder, Rosa 670 Feder, Sali 670 Ferdinand III., röm.-dt. Kaiser 62, 611 Ferrero, Guglielmo 584 Ferstel, Heinrich 67 Feuerbach, Anselm von 558 Feuerbach, Ludwig von 849 Fichte, Johann Gottlieb 392 Ficker, Heinrich 770 Figl, Leopold 883 Finch, George 754 Fink, Jodok 221, 239, 287 Firnberg, Hertha 5, 8
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Personenregister
Fischer, Heinz 906, 908 f. Fischer von Erlach, Joseph Emanuel 128 Flechtheim, Ossip K. 826 Fleiner, Fritz 367, 369, 387, 561 Fleischer, Georg 393 f., 656, 682 Flexner, Abraham 657, 659 Floris, Joachim 849 f. Foltin, Edgar 613, 618, 633 Forsthoff, Ernst 908 Fournier, August 70 Förster, Ludwig 36 Franke, Emil 615, 618 Frankfurter, Felix 607, 659, 678, 697 Franz I., Kaiser v. Österreich 63 Franz Ferdinand, Erzherzog v. Österreich 171 Franz Joseph I., Kaiser v. Österreich u. König v. Ungarn 33, 63, 95, 112, 189, 199 Freeman, Alwyn 743 f., 826 Freud, Anna 370 Freud, Sigmund 36, 57, 77–79, 370–374, 456, 463 Frick, Wilhelm 542 Fried, Anna, geb. Bondi 114, 117, 557 Fried, Berthold 114, 119 Fried, Gerda → Gross, Gerda Friedländer, Oscar Ewald (Pseudonym: Oscar Ewald) 152 f., 343 Friedrich Wilhelm III., König v. Preußen 481 Frisch, Hans 214 Frisselle, Samuel Parker 817 Fritsch, Benno 71 Froehlich, Georg 271, 291, 303, 474 Fuchs, Ernst 165 Fuchs, Hans 545 Fuchs, Margit → Kraft-Fuchs, Margit Fuchs, Viktor 256 Fuller, Lon L. 683, 698, 703 Furtmüller, Aline, geb. Klačko 179 f. Furtmüller, Carl 179 Furtwängler, Wilhelm 377 Galilei, Galileo 650 Gardiol, Ariel Alvarez 17 Garner, James W. 661 Gärtner, Friedrich 251 Gassner, Miriam 16–19 Gasperi, Alcide de 39 Gautsch, Paul 102 Gény, François 604 Gerber, Artur 77 Gerber, Carl 140 Giacometti, Zaccaria 833 Gierke, Otto v. 71, 133, 140, 167 Gildersleeve, Virginia → McClam, Virginia
Gioja, Ambrosio 17, 808 f., 811 (Bild), 814, 826, 830 Girardi, Alexander 234 Gisela, Erzherzogin v. Österreich 49 Gleispach, Wenzeslaus (Wenzel) 200, 307, 337 f. Glöckel, Otto 180, 241 (Bild), 257 f., 260 f., 398 Gmelin, Hans 342 Gmoser, Susanne 18 Goble, George W. 663 Goebbels, Joseph 542 Goldscheid, Rudolf 381 Goldschmidt, Hans Walter 545 Golunskij, Sergei A. 847 Gontscharowa, Natalija 39 Goodhart, Arthur Lehman 623, 821 Grab, Alice 382 Grab, Emmanuel 381 Grant, J. A. C. 664 Grau, Sami 123 Greene, Jerome D. 709 Griffiths, Farnham Pond 821 Grompone, Antonio M. 810 Gronchi, Giovanni 882 Groh, Kathrin 12 Gross, Gerda, geb. Fried 557 Gross, Leo 391, 394, 458, 498 f., 557, 682, 754, 765, 793, 825 Grosser, Otto 611 Groß, Karl 69 Grotius, Hugo 794, 896 Gruber, Karl 176 Gruener, Franz 256 Grünbaum, Fritz 456 Grünberg, Carl 71, 258–261, 583 Grünhut, Carl Samuel 70, 88, 102, 108, 154 Gruscha, Joseph Anton 59 Guggenheim, Paul 587, 643 f., 666, 826 Gulick, Charles Adams 224, 752 Gurian, Waldemar 705 Gürke, Norbert 608 Gürtler, Alfred 191 Haberler, Gottfried v. 582 Habsburg-L othringen, Otto 732 Hácha, Emil 630, 633f Hagerström, Axel 544 Hainisch, Marianne 489 Hainisch, Michael 421, 489 Halle, Hiram 655 Hambro, Edvard 758, 826, 867 Hamsun, Knut 52, 76, 80, 377 f. Harmat, Ulrike 12 Harno, Albert J. 662
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Personenregister Harpner, Gustav 256 Harris, David 732 Hart, H. L. A. (Herbert Lionel Adolphus) 13, 848, 889–892, 912, 925 Hartl, Karl 446 Hartmann, Ludo Moritz 125f, 164 Harvard, John 680 Hauke, Franz 190 Hauptmann, Gerhart 121 Hauriou, Maurice 698 Havliček, Franz 149, 177, 337 Hawelka, Fritz 161, 189, 230 Hayek, Friedrich August v. 316, 392, 583, 844, 908 Haymann, Franz 491 Hecht, Robert 474 Heck, Philipp 698 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 65, 344, 348, 354 f., 521 Hegele, Max 355 Heidegger, Martin 806 Heilmann, Ernst 485 Heimann, Eduard 521 Heinz, Grete (geb. Unger) 19 Helena (Mythologie) 649 Hellauer, Josef 466 Heller, Edward 819 Heller, Hermann 12, 348, 349 (Bild), 351–353, 420, 532, 608 Hellpach, Willy 600 Hemingway, Ernest 725 Henlein, Konrad 601, 629, 631 Henrich, Gustav 149 Henrich, Walter 149, 320–322, 336, 340, 524, 622, Herbart, Johann Friedrich 54 Herdan-Zuckmayer, Alice 121, 187, Heraklit 650 Hermann, Rudolf 281 Hermida, Ernesto 809 Herrfahrdt, Heinrich 420 Herrnritt, Rudolf Hermann (v.) 189, 214, 489 Herz, Hans (John) 519 f., 584, 586, 683, 826 Herzl, Theodor 86 Hexner, Ervin P. 826 Heydte, Friedrich August v. d. 541 f., 556 f., 738, 866, 887 Heymann, Joseph Alexander 43 Highley, Albert E. 639 Hilferding, Rudolf 184 Hilgenreiner, Karl 603 Hilsner, Leopold 86 Himmler, Heinrich 584 Hindenburg, Paul v. 509, 512, 542, 546, 616
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Hippel, Ernst v. 349 (Bild), 450 Hitler, Adolf 79, 225, 491, 524, 537, 541–543, 545f, 558, 572, 601, 609, 625 f., 628–631, 633, 652, 665, 675, 733, 747, 753, 771, 821, 866 Hobbes, Thomas 404 Höfer v. Feldsturm, Franz 217 Hoffmann, Alexander 14, 682 Hoffmann, Helene 681, 914 Hoffmann, Richard 681 Hoffmann, Ruth 682 Höfler, Alois 55–57 Hofmann, Rupert 911 Hofmannsthal, Hugo v. 174, 376, 381, 397 Hold (v.) Ferneck, Alexander 12, 135, 140, 161, 218, 260, 310, 320, 399–401, 403–409, 487, 568, 924 Holdhaus, Anton 123 Holmes, Deborah 378 Holmes, Oliver Wendell (jun.) 678 f. Holstein, Günther 350 f. Homer 51, 693 Horák, Ondřej 397 Horbačevśkyj, Ivan 226 Horkheimer, Max 583 Horner, Henry 664 Horovitz, Karl 401 Howard, Harry N. 732 Howard, Jack 801 Howard, John C. 888 Hoyer, Ernst 620, 632 f. Hudson, Manley O. 708, 712, 754, 761 f., 776, 837 Hugelmann, Karl 256 Hugenberg, Alfred 524 Hughes, Charles E. 696 Hula, Erich 394, 498–500, 548, 552, 557, 628, 656, 825 Hull, Cordell 696, 733, 735, 755 Hülsmann, Jörg Guido 22 Hume, David 56, 110 f., 651, 693, 695, 843 Hummer, Gustav 238f Hupka, Josef 307, 402 Hussarek (v.) Heinlein, Max 69, 161, 201, 212, 214, 218, 222–224, 262, 395 Husserl, Edmund 319, 343, 400, 806, 849 Hutchins, Robert M. 660, 705 f. Inama-Sternegg, Theodor v. 70 Innitzer, Theodor 403 Jabloner, Clemens 8, 13, 16, 648 Jackson, Robert H. 745–747, 750, 752, 754 Jacobi, Erwin 341 Jan II., König v. Polen 63
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Personenregister
Janzen, Henry 705 Jarcke, Karl Ernst 64–66 Jäckh, Ernst 642 Jellinek, Adolf (Aaron) 36, 101 Jellinek, Georg 36, 75, 101 f., 103 (Bild), 104, 106–109, 122, 132 f., 138, 140, 143, 152, 190, 245, 331, 343, 348, 386 f., 920 f., 923 Jellinek, Walter 349 (Bild), 385, 420, 505, 530 Jerusalem, Wilhelm 187 Jessup, Philip C. 754 Jestaedt, Matthias 9, 879 Jesus Christus 302, 822 f., 843, 864, 870, 920 Jéze, Gaston 396, 623 Jhering, Rudolph v. 132, 140, 604, 698 Jiménez de Aréchaga, Eduardo 811, 852 Jöckel, Wilhelm 342 Jodl, Alfred 736 Jodl, Friedrich 69, 78, 125, 489 Jodl, Margarete 489 Johann II., Fürst v.u.z. Liechtenstein 425 Johnson, Alvin S. 655 f., 665, 668, 677 Johnson, Robert S. 817 Jonas, Franz 832, 884 Jones, Harry W. 702 Joseph II., röm.-dt. Kaiser 27 f. Jørgensen, Jørgen 901 Judin, Pavel F. 847 Jung, C. G. (Carl Gustav) 607, 820 Jung, Erich 608 Kafka, Franz 38, 79, 599, 616 Kagei, Umeo 855 Kann, Lilli → Kelsen, Elisabeth Kann, Robert 908 Kant, Immanuel 55–57, 106, 183 f., 266, 316, 332, 392, 415, 589, 859, 896, 899, 927 Kantorowicz, Hermann 105 f., 165 Karl IV., röm.-dt. Kaiser 62 Karl I. (IV.), Kaiser v. Österreich u. König v. Ungarn 199, 207, 215, 219, 233, 652 Kaskel, Walter 385 Katsuno, Yasusuke 856 Kaufmann, Erich 12, 344–347, 349 (Bild), 350 f., 353 f., 403, 405, 501, 557 f. Kaufmann, Felix 319 f., 336, 342 f., 345, 398, 524, 600, 656 Kautsky, Benedikt 832 Kautsky, Karl 183, 301, 355 f. Kazimierz III., König v. Polen 63 Keinert, Heinz 913 Kelsen, Abraham Littman d. Ä. 30 Kelsen, Adolf (Abraham Littman d. J.) 30, 32 f., 35 f., 37 (Bild), 38 f., 41 f., 43 (Bild), 44 f., 47, 99, 919,
Kelsen, Angela (Gelle) 33 Kelsen, Anna Renata → Kelsen Oestreicher, Hannah Kelsen, Auguste, geb. Löwy 37 (Bild), 38–40, 42, 45, 100, 626, 753, Kelsen, Chana 30 Kelsen, David 30 Kelsen, Elisabeth (Lilli), geb. Kann 118, 626 Kelsen, Elkana 30 Kelsen, Ernst 41 f., 45, 99, 111, 119, 228, 382, 584, 626, 919 Kelsen, Paul Fritz (Friedrich) 41, 43, 100, 111, 118, 228 f., 870 Kelsen, Gertrude → Weiss, Gertrude Kelsen, Henriette (Hinda) 33 Kelsen, Isaak 30 Kelsen, Liesl 626 Kelsen, Margarete (Grete), geb. Bondi 19, 113 f., 115 (Bild), 116–118, 122, 178, 179 (Bild), 370, 376 (Bild), 552, 557, 560, 581 (Bild), 602, 663, 669–671, 675 f., 682, 715–718, 752, 803, 809, 811 f., 829, 836 (Bild), 839, 865, 882, 885, 902, 914, 915 (Bild), 917, 919 Kelsen, Maria Beate → Feder, Maria Kelsen, Osias 30–33, 41 Kelsen, Regina (Rebecca) 33 Kelsen, Samuel 33, 36 f., 39, 42 Kelsen, Sophie (Sara) 33 Kelsen Oestreicher, Hannah, geb. Kelsen, Anna Renata 178, 179 (Bild), 308 (Bild), 370, 376 (Bild), 377, 380, 497, 543, 547, 560, 566, 602, 625 f., 653, 666 f., 717, 866 f., 675, 676, 730, 802 – 804, 917 Kemal, Mustafa (Atatürk) 39 Kepler, Johannes 650 Kerr, Clark 888 Kerwin, Jerome 705 Kessler, Friedrich 661 Kienböck, Viktor 256 Killian, Josef 176 Kirchert, Friedrich 202 Kirchweger, Ernst 907 Kittredge, Tracy B. 645, 670, 688, 690 f., 704, 712, 714 f. Kitz, Arnold 111 Kiyoumiya, Shiro 393 Klačko, Samuel 179 Klahr, Alfred 315 Klang, Heinrich 771 Klastersky, Wilhelm 383 Klaus, Josef 905 (Bild) Klecatsky, Hans R. 4, 14, 860, 912 Klee, Alois 446 Klein, Franz 69, 91, 237
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Personenregister Klestil, Thomas 8 Kliimann, Artur-Tõeleid 392 Klimt, Gustav 234 Klinghoffer, Hans (Itzhak) 393, 804, 809, 812, 826 Klug, Ulrich 826, 883, 892 f., 901, 912 Knight, Max (Kühnel, Max Eugen) 859, 881 Knoll, August Maria 342, 887 Koellreutter, Otto 349, 558 Koerber, Robert 401 f. Kohler, Joseph 698 Kohlrausch, Eduard 385 Kokoschka, Oskar 187, 376 Kolisko, August 256 Kolumbus, Christoph 810 Korb, Axel-Johannes 12 Korshunov, Yuri 17 König, Rudolf 176 Kopecký, Jaromir 634 Körner, Theodor 884 Korošec, Anton 213, 222, 226 Köster, Adolph 153 Köstler, Rudolf 161 Krabbe, Hugo 331 Kraft, Julius 391 f., 397, 401, 465, 524, 600, 604, 684 Kraft-Fuchs, Margit 392, 566, 604, 684, Kramář, Karel 222 f., 225 Krauel, Wolfgang 578 Kraus, Herbert 485 Kraus, Karl 79, 120, 381 Kraus, Wolfgang 606, 700 Krčmář, Jan 601 Kreisky, Bruno 316 Kreß, Wilhelm 476 Kroll, Josef 494, 525 Krones, Anton 119 Küçük, Fazıl 857 Kudrnáč, František 159 Kühnel, Max Eugen → Knight, Max Kulisch, Max 190 f., 291, 426 Kunz, Josef Laurenz 44 f., 320, 390, 394, 396 f., 400 f., 525, 528, 606, 659, 698, 737, 755, 765, 775 f., 792, 793, 804 f., 807 f., 826, 881, 887, 909, 927 Kuroda, Saturo 393 Laband, Paul 71, 132, 140, 143, 154 f., 190 Lachenal, Paul 527, 564 Lacina, Ferdinand 906, 909 Lammasch, Heinrich 70, 90, 161, 201, 214, 217 f., 222–226, 248, 262 f., 429 Lamp, Karl 214, 291 Landis, James M. 678, 690–692, 706, 709
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Landmann, Ludwig 466, 543 Landsteiner, Karl 607 Lang, Anna → Plischke, Anna Lang, Robert 382 Langfelder, Otto E. 804, 806, 811(Bild) Lask, Emil 105 f., 153, 192, 344 Laski, Harold 584, 658, 662, 796, 797 Lassalle, Ferdinand 355 f., 367, 405 Laštovka, Karel 624 Laufke, Franz 618 Laun, Rudolf 129, 137 f., 161, 191, 214, 218, 230, 259–261, 349 (Bild), 351, 420, 450, 738 Lauterpacht, Hersch 584, 658 f., 707 f., 792, 826 Lawrence, Ernest O. 710, 763 Layer, Max 38, 90, 190 f., 214, 260, 263, 291, 395, 416, 431, 449–451, 487, 489, 560 Lebeau, Roland 758 Le Bon, Gustave 372 Lederer, Emil 110, 184, 466, 552 Lee, Chung Hoon 803 Lee, Geoffrey 917 (Bild) Le Fur, Louis 623 Legaz y Lacambra, Luis 590, 805, 826 Leibniz, Gottfried Wilhelm 843 Leifert, Karl 88 Leigh, Vivien 859 Leiminger, Karl 911 Leisching, Eduard 489 Leites, Nathan 705 Lenhoff, Arthur 473 Lenin, Vladimir Iľič 193 f., 298–301, 355, 652, 677, 798 f., 847 f. Leonard, Lotte 377 Leopold I., röm.-dt. Kaiser 63 Lepsius, Oliver 835 Leser, Norbert 826, 886 Lessing, Ada 616 Lessing, Gotthold Ephraim 52 Lessing, Theodor 521, 616 Leukippos 650 Leupold, Ernst 546, 548, 553, 555 Leuthner, Karl 294 f. Levy, Ernst 835 Lévy-Bruhl, Lucien 648 Lewis, Gilbert N. 763 Licht, Stephan (v.) 230, 242 Lie, Trygve 789 Liebknecht, Karl 250 Lindner, Gustav Adolf 57 Lippowitz, Jakob 381 Lipsky, George A. 825 f. Litt, Theodor 348 f. Locke, John 56, 843, 845
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1022
Personenregister
Loebenstein, Edwin 904, 905 (Bild), 908 Loening, Edgar 331 Loos, Adolf 121, 128, 187, 376 Lorenz, Konrad 908 Losano, Mario 875, 881, 902, 910 Lotze, Hermann 891 Lourie, Leopold 36 Löbl, Johann 174 f. Löffler, Alexander 337 f., 340 Löwy, Aaron 38 Löwy, Alois 93, 100, 112 Löwy, Amalia, geb. Schidloff 38 Löwy, Auguste → Kelsen, Auguste Löwy, Julie 38 Lueger, Karl 108 Luna (Mythologie) 375 Lutz, Alois 234 MacDonald, Malcolm 666 Mach, Ernst 76, 125 Machlup, Fritz 804 MacLeish, Archibald 721, 763 Maguire, Joseph P. 863 Mahler(‑Werfel), Alma 456 Majer, Alfred 488 Makarios III., Erzbischof von Zypern 857 f. Maleta, Alfred 905 f. Malisoff, William M. 800 Mänchen, Otto J. 752 Manner, George 740 Mannheim, Karl 466, 521 Mannheimer, Noah 36 Mannlicher, Egbert 271, 291 Mantoux, Paul 526 f., 584 Marcic, René 4 f., 826, 870, 886 f., 895 f. Marek, Bruno 910 Maria Theresia, röm.-dt. Kaiserin 27 f., 63 Maritain, Jacques 843 Martins, Daniel Hugo 16 Marx, Karl 183, 299 f., 355–357, 367, 474, 521, 573, 798 f., 840, 846–849 Masaryk, Tomáš Garrigue 59, 562, 601, 609 Mateos, Adolfo López 874 May, Samuel C. 711 Mayer, Frederick 14, 916, Mayer, Hans (Literaturwissenschaftler) 493, 506, 519–521, 583, 586, 654 Mayer, Hans (Wirtschaftswissenschaftler) 50 f., 58 f., 88, 110, 169, 205, 312 f., 403, 417, 769 Mayer, Otto 71 Mayr, Michael 183, 284–289, 291, 303, 308, 428 Mayr-Harting, Robert 569, 633 McAfee, Mildred H. 707
McCarthy, Joseph 796, 851 McClam, Virginia (geb. Gildersleeve) 15, 767, 866 McGrath, J. Howard 854 Mehring, Reinhold 21 f. Meingast, Adalbert 51 Meinl, Julius II. 217 f., 222, 489 Meinong, Alexius 57 Meixner, Karl 258 Mendelssohn Bartholdy, Albrecht 484 Menelaos (Mythologie) 649 Menger, Carl 311 Menzel, Adolf 70 f., 73 (Bild), 74 f., 89, 93 f., 122 f., 142, 161, 204, 214, 245, 256, 259 f., 262, 310, 313, 337–339, 391 f., 395, 416, 428, 446, 473, 475, 489 Merkl, Adolf Julius 4 f., 9, 145, 146 (Bild), 147 f., 150, 160, 188, 218, 229, 249, 254, 271, 303, 309, 314 f., 317–321, 327, 336 f., 340, 343, 352, 362, 387, 390, 395, 419 f., 424, 450, 468, 474, 487, 489, 508, 523, 550 f., 560 f., 628, 729, 768, 770 f., 773–776, 827, 884, 887, 905 (Bild), 910, 912, 921 Merriam, Charles E. 659–661, 663 f., 704, 706, 840 Métall, Grete 668 Métall, Rudolf Aladár 1–4, 8, 46, 76 f., 91, 98, 115, 173–176, 225, 303, 309, 342, 375 f., 381 f., 395, 409 f., 416, 422, 491, 493, 498–500, 520, 524, 528, 550, 561, 582, 599, 623, 668, 683, 730, 755, 758, 760, 787, 804, 825 f., 904, 911, 916 Meyer, Conrad Ferdinand 365 Meyer, Hans Horst 489 Mik, Josef 49 f., 58 Miklas, Wilhelm 472, 626 Miller, Arthur 796 Minor, Margarete 456 Mises, Arthur v. 50 Mises, Ludwig (v.) 12, 22, 39, 50, 58 (Bild), 59, 82, 110, 169, 184, 190, 205, 311–313, 550, 581–584, 638, 658 Mises, Margit v. (vormals Sereny, Margit) 526, 579, 582 Mises, Richard (v.) 50, 646 Momigliano, Arnaldo 882 Moór, Gyula (Julius) 2, 389, 524 Morelly, Etienne-Gabriel 845 Morgenstern, Oskar 908 Morgenthau, Hans J. 1, 586, 825 f., 841 Morgenthau, Henry 743 Mosely, Philip E. 732 Moser, Koloman 234 Moses (Bibel) 46, 850
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Personenregister Moses, Bernard 711 Müller, Hermann 364, 505 Muralt, Alexander 476 Musil, Robert 79, 120, 376, 456, 653 f. Mussolini, Benito 74, 79, 305, 407 f., 630 Nachod, Pauline 38 Nakano, Tomio 389 Nawiasky, Hans 161, 214, 259 f., 349 (Bild), 351, 369 Nawrat, Eduard 444, 446 Neisser, Hans 704 Nelson, Leonard 412 Nestroy, Johann 59, 421 Neubacher, Hermann 489 Neumann-Ettenreich, Robert 256, 428, 473 Neuner, Robert 567 f., 618, 633 Neurath, Otto 398 f., 645, 666 Niebuhr, Reinhold 843 Nieto Arteta, Luis E. 807 Nipperdey, Hans Carl 531, 546, 548, 550, 552, 554 f., 567, 833–835, 899 Norton, Lucille 840 Nußbaum, Arthur 826 Nussbaum, Eugenie → Schwarzwald, Eugenie Oatman, Miriam E. 731 O´Connell, Daniel P. 872 Odegaard, Charles E. 820 Odegard, Peter H. 816–819, 820 f., 825 Oestreicher, Adam 802, 867 Oestreicher, Rolf 717, 802 f., 866 Ofner, Julius 256, 428, 430 f., 439, 441 Ogris, Werner 14, 16 Oliver, Covey T. 826 Olson, Culbert L. 711 Oppenheim, Lassa F. 634 Oppenheimer, Franz 464 Orlich, Rudolf 617 Otaka, Tomoo 524 Otto, Ernst 631 Ovid (Publius Ovidius Naso) 51 Palla, Edmund 473 Pantůček, Ferdinand 160 Papen, Franz v. 532 f., 535 Pappenheim, Bertha 237 Pappenheim, Wilhelm 237 Paris (Mythologie) 649 Pasvolsky, Leo 755 Pašukanis, Evgeni 522, 846–848 Paulson, Stanley 10, 652 Paulus (Bibel) 844 Pawelka, Karl 446
1023
Perelman, Chaïm 826 Perels, Emil 163 Pernkopf, Eduard 259 Perón, Juan 808, 810 Perry, Ralph B. 695 Peterka, Otto 567 f. Petrazycki, Léon 698 Petschek, Georg 452 f., 475 Pfaff, Leopold 70 Philippovich v. Philippsberg, Eugen 81, 89 f., 125, 168, 328 Philipps, Lothar 883, 668 Piaget, Jean 668 Piaget, Valentine 668, 671 Picasso, Pablo 39 Pilatus, Pontius 302, 822, 843 Pils, Ramon 18 Pineles, Stanislaus 69 Pinto Bilac, Olavo 812 Pippin der Jüngere, König der Franken 407 f. Pisko, Oskar 399 Pitamic, Leonid(as) 147 f., 189, 207, 218, 266, 317, 320, 322, 324, 336 f., 338, 343, 397, 524, 887 Planck, Max 868 Planitz, Hans 492, 555, 560, 770 Platon 412, 494–496, 512, 586, 649 f., 823, 843, 862–864 Plessner, Helmuth 521 Plischke, Anna (vormals Lang, Anna) 382 f. Plischke, Ernst A. 382 f. Plöchl, Willibald M. 730, 732 f. Pollak, Rudolf 70, 170, 261 Pölzer, Amalia 229, 261 Popper, Karl 932, 831, 898, 912 Potter, Pitman, B. 584 Pound, Roscoe 21, 604 f., 607, 657, 659 f., 662, 678, 694, 704, 708 f., 713, 720–722, 730, 755, 761, 821, 826, 893, 901 f., 904 Powell, Thomas R. 712, 761 Poznanski, Roman 593 f. Prager, Bertha → Bondi, Bertha Praz, Mario 882 Preßburger, Richard 462 Preuß, Hugo 12, 133, 250 f., 272, 509, 906 Prey, Hermann 442, 474 Přibram, Karl 465 Przeorski, Tadeusz 590 Puchta, Georg 65 Puntschart, Paul 191 Purvis, Melvin 743 Pütz, Theodor 884 Queiroz Lima, Eusébio 594
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Personenregister
Rabasa, Emilio jr. 17 Rabasa, Emilio sr. 17, 873 f. Radbruch, Gustav 105 f., 558, 698, 900 Radermacher, Ludwig 489 Radin, Max 754 f. Raffo, Julio 17 Rainer, Josef 181 Ramek, Rudolf 360, 423 f., 428, 445 f. Rappard, William 476, 526–528, 530, 564– 566, 571, 581 f., 584, 585 (Bild), 605, 607, 637, 642 f., 652, 658, 662, 667 f., 676, 679, 829, 839, 865 Rašovský, Adolf 869 Rauchberg, Heinrich 214, 561 Rauscher, Joseph Ottmar v. 59 Reale, Miguel 812 Redlich, Josef 189, 218, 223–225, 390, 660 Redlich, Oswald 258 Reichel, Heinrich 259 Reid, Thomas 693 Reinhardt, Max 397, 399 Reininger, Arthur 489 Reissner, Michail A. 847 Reitzer, Hermann 832 Renard, Georges 698 Renner, Karl 12, 164, 180, 182–184, 194, 216, 221, 225 f., 229 f., 233 f., 236, 238–240, 241 (Bild), 242 f., 246 f., 253, 255, 262, 271–273, 278–280, 283, 287 f., 293 f., 300, 303, 308, 356, 381, 412, 439 f., 474, 483–486, 489, 768, 772–774, 923 Reno, (William) Lawson 710, 713–715, 719 Ressel, Josef 476 Reumann, Jakob 431–433 Rheinstein, Max 661 Ribbentrop, Joachim v. 633 Richter, Elise 489 Rickert, Heinrich 104–106, 192 Riesen, Günter 545, 575 Ringhofer, Kurt 5 f., 8 Rinzler, Marilyn 18 Ripka, Jan 634 Rivera, Diego 677 Rockefeller, John D. jr. 394, 677 Rockefeller, John D. sr. 660 Rodriguez, Guillermo Hector 873 Rommel, Otto 121 Roncalli, Angelo (Johannes XXIII.) 39 Roosevelt, Franklin D. 607, 653, 704, 723, 729, 735, 740, 745, 778, 801 Röpke, Wilhelm 582, 584 Rosegger, Peter 234 Rosenberg, Wilhelm 89 Ross, Alf 391, 544, 787, 871
Roth, Joseph 29 Rothenbücher, Karl 352, 395, 530 Rott, Hans 732 Rousseau, Jean-Jacques 126, 297 f., 922 Rudolf IV., Herzog v. Österreich 63 Ruprecht I., Kurfürst von der Pfalz 108 Russell, Frank M. 711, 713 f., 720, 726, 730, 755, 758, 761–764, 778, 815–817 Rust, Bernhard 549, 553 Sachs, Hanns 371, 681 f. Sallust (Gaius Sallustius Crispus) 51 Salmond, John 902 Sander, Friedrich (Fritz) 12, 147–149, 177, 314, 317–341, 344, 354, 387, 397, 403, 405, 563 f., 568, 601, 620–622, 631, 807, 920 f. San Nicolò, Mariano 561, 564, 567–569 Sarlo, Oscar 13 Sartorius, Carl Friedrich 503 f. Satter, Karl 451 f. Sauter, Johannes 616 Savage, Carlton 729, 731, 760 Savigny, Friedrich Carl v. 65, 335 Sawada, Renzo 855 Sayre, Paul 702 Scelle, Georges 476, 564, 643, 826 Schachter, Oscar 763, 787, 826 Schaefer, Ernst 413 Schager (v. Eckartsau), Albin 195 f., 206 f., 222 Schambeck, Herbert 4, 14 Schärf, Adolf 185, 831, 886 Schärf, Hilda 185 Schätzel, Walter 563 Schechter, Edmund 882 Scheidemann, Philipp 250 Schenk, Hans Georg 612 Scheuner, Ulrich 867 Schey, Josef 70, 88, 141 Schick, Franz 710, 713 Schidloff, Amalia → Löwy, Amalia Schidloff, Samuel 39 Schiele, Egon 234 Schiff, Walter 238, 402 Schindler, August 58 Schirach, Baldur v. 525 Schlick, Moritz 376, 398, 489, 616 Schmidt, Friedrich 48 Schmidt, Johann 54 f. Schmill Ordóñez, Ulises 17 Schmitt, Carl 12, 21, 141, 341, 350, 359, 369, 464, 505, 507–513, 530–534, 536, 538, 555 f., 558, 568, 608, 856, 921, 926 Schmitz, Georg 9, 273 Schmitz, Richard 433
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Personenregister Schmölz, Franz-Martin 895 f. Schneeweiß, Rudolf 462 Schneider, Lilli 377 Schnitzler, Arthur 49 f., 59, 150, 432 Schober, Johannes 458, 467, 513, 515 Schoenborn, Walter 420 Schöffler, Herbert 548 Schönbauer, Ernst 401, 487 Schönberg, Arnold 38, 121, 187, 397, 399 Schopenhauer, Arthur 55, 76 Schranil, Rudolf 563 Schreier, Fritz 319 f., 336, 343, 400, 444, 447, 522, 524, 628 Schrutka v. Rechtenstamm, Emil 69 f., 89 f. Schubert, Franz 59 Schücking, Walter 484 Schüller, Richard 514, 583 Schumann, Clara 114 Schumann, Hellmut 669 Schumpeter, Anna, geb. Reisinger 190 Schumpeter, Joseph 169, 184, 190 f., 205, 241 (Bild), 704 Schuschnigg, Kurt 471, 625 f., 733 Schuster, Maximilian 89, 421 Schütz, Alfred 376 Schwarzenberger, Georg 826 Schwarzwald, Eugenie, geb. Nussbaum 12, 120–122, 126, 186 f., 377, 378 (Bild), 380, 919 Schwarzwald, Hermann (Hemme) 120–122, 169, 187, 378 (Bild), 380 Schwind, Ernst (v.) 12, 14, 19, 56, 69, 90, 204 f., 258, 299, 399 f., 403, 407–409, 502, 568, 899, 908, 924 Schwind, Fritz 14, 908 Sedláček, Jaromir 397, 623 Seidler, Ernst jun. 149 f., 177, 336 f., 489 Seidler, Ernst sen. 122 f., 144, 170, 185, 194, 200 f., 218, 327, 489 Seipel, Ignaz 218, 223–225, 232 f., 248, 285, 288, 290 f., 303, 360, 381, 421, 435, 440, 454 f., 457, 459 Seitz, Karl 194, 221, 227, 239, 260, 273, 277, 280, 440, 458 f., 466, 473, 485, 580 Seldte, Franz 524 Sellars, Kirsten 12 Sereny, Margit → Mises, Margit Sever, Albert 439 f. Seydel, Max 190 Seyß-Inquart, Arthur 403, 625 f. Siccama, D. G. Rengers Hora 623 Siches, Luis Recaséns 389 f., 688, 805, 826, 886 Siebeck, Oskar 129, 412 Siebeck, Paul 99, 128 f., 142, 263
1025
Sighele, Scipio 372 Silberpfennig, Henda → Silving, Helen Silveira, Flávio 593 f. Silving, Helen (urspr. Silberpfennig, Henda) 147, 498, 683 f., 708, 766 f., 826 Simmel, Georg 111 Singer, Heinrich 92 Singer (urspr. Sieghart), Rudolf 381 Sinowjew → Zinovev Skrotzky, Otto 123 Slameczka, Friedrich 49 Slapak, Alois 443, 446 Smelser, Helen 1 Smelser, Neil 1 Smend, Rudolf 12, 348, 349 (Bild), 350, 352, 501–504, 507 f., 520, 532, 558, 568, 899, 926 Smyth, Howard M. 732 Sobička, Konstantin 622 Sobičková, Marie 622 Somló, Felix 259, 405f Sophokles 51, 649 Soukup, František 614 Spann, Othmar 169, 259 f., 307, 310, 312, 316, 328, 331, 342, 381, 392, 402 f., 467, 921 Spencer, Herbert 331 Sperber, Hans 374 Sperl, Hans 70, 204, 310, 336 Spiegel, Ludwig 214, 260, 324 Spielhagen, Friedrich 52 Spiethoff, Arthur 385 Spinoza, Baruch de 74, 843 Spitaler, Armin 835 Spitzer, Leo 491 Springer, Ferdinand 559 Springer, Julius jun. 559 Sproul, Robert G. 711, 715, 761, 763 f., 796 f., 815–819, 821 Srbik, Heinrich 488, 491 Stadler, Friedrich 11 Stalin, Iosif W. 736, 740, 798 f., 847 Stammler, Rudolf 604 f. Starck, Taylor 729 Stark, Bernhard 316 f. Stark, Michael 615, 618 Starke, Joseph G. 826 Starzyński, Stanisław 214 Staudigl-Ciechowicz, Kamila 11 Steinherz, Samuel 612 Sterba, Richard 682 Stiasny, Maria 380 Stier-Somlo, Fritz 349 (Bild), 482 f., 484, 486, 491, 492, 499, 519 f., 521 (Bild), 530, 536 Stimson, Henry L. 743 Stöger, Otto 89
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1026
Personenregister
Stöger-Steiner (v. Steinstätten), Rudolf 194 f., 198 (Bild), 199, 200 f., 203, 206, 211, 216–218 Stolleis, Michael 11 f. Stone, Harlan F. 762 Stone, Julius 13, 902–904. Stone, Reca 902 f. Stooss, Carl 68, 70: 89 Stourzh, Gerald 9 Stránský, Jaroslav 833 Strauss, Richard 382 Strigl, Richard 148, 324, 337 Strindberg, August 79, 121 Strisower, Leo 70, 80–82, 89, 189, 259, 309 f., 320, 399, 403, 499 Strogovich, Mikhail 847 Strohl, Mitchell P. 838 f. Stross-Laky, Bridget (Stroß Brigitte) 382, 716 Stroß, Lilli, geb. Bernfeld 382, 716 Stroß, Walter 382, 716 Strzygowski, Josef 380 Stučka, Pëtr 522, 847 f. Stürgkh, Karl 144 Swoboda, Hermann 76 f. Sylvester, Julius 239, 256, 434, 444, 446, 475 Szegö, Giulio 304 Taaffe, Eduard v. 95 Tammelo, Ilmar 878 Tandler, Julius 125, 224–226, 258 Tannous, Thiago Saddi 16 Tatarin-Tarnheyden, Edgar 349 (Bild), 420, 608 Taylor, Elizabeth 859 Teilhard de Chardin, Pierre 39 Teufel, Oskar 219 Tezner, Friedrich (urspr. Tänzerles) 150–152, 158, 162: 214, 291 Thales v. Milet 650 Thévenaz, Henri 593, 826, 830 Thoma, Richard 12, 349 (Bild), 395, 416–418, 420, 505 Thomas v. Aquin 820, 843, 870, 896 Thun und Hohenstein, Leo v. 47, 64–66, Thurn und Taxis, Albert I. v. 424 f. Tietz, Alfred 491 Tillich, Paul 466 Tiny (Hausangestellte Kelsens) 581 Tolman, Edward C. 797 f. Tönnies, Ferdinand 411 Topitsch, Ernst 826, 886 f. Torberg, Friedrich 376, 675 Trainin, Ilja Pavlovič 847 Treves, Renato 589
Triepel, Heinrich 124, 349 (Bild), 350 f., 411, 417, 418 f., 503 f. Trotzki (eig. Bronstein, Lev) 179–183, 193 f., Truman, Harry S. 736, 750, 796, 801 Tucker, Robert W. 795, 826 Turezky, Josef 443 f. Tylor, Edward B. 648 Unger, Anna 19, 761, 829, 836 (Bild) Unger, Frederick (Friedrich) 19, 717, 761, 829 f., 832 Unger, Grete → Heinz, Grete Unger, Joseph 102, 786 Urey, Harold C. 710 Vaihinger, Hans 897, 898, 927 Valdés Otero, Estanislao 16 f. van Kleffens, Eelco 758 van Praag, Marinus Maurits 545, 603 Vanderbilt, Arthur T. 722, 764 Vanossi, Jorge Renaldo 17 Vargas, Getúlio 593–595 Vecchio, Giorgio 698 Verdroß (v. Droßberg), Alfred 4 f., 146–148, 150, 173, 177, 188, 264, 268, 316, 318–324, 326, 329, 330, 336–338, 340, 342 f., 387, 390 f., 395–397, 424, 437, 485, 487, 489, 522 f., 527– 529, 541, 556 f., 559–561, 642, 716, 769 f., 773, 775–777, 784, 792, 803 f., 813, 826 f.: 865, 868 f., 881, 884, 887, 895, 898, 905 (Bild), 910, 921 Verdroß (v. Droßberg), Ernst 173 Verdroß (v. Droßberg), Ignaz 146, 173 f. Verdroß v. Droßberg, Paul 173 Vermeulen, Jean H. 389 Vernengo, Roberto 17, 809, 826, 830 Verosta, Stephan 826 Villanova, José 811 Vittorelli, Paul (v.) 225, 255 f., 421, 428, 429 (Bild), 434, 444, 454, 473, 475, 489 Vochoč, Vladimir 758 Voegelin (Vögelin), Eric(h) 315, 376, 394, 399, 498, 524, 527 f., 659, 840–842, 848–852, 879, 895 Vogel, Emmanuel Hugo 161 Vogelsang, Karl v. 342 Voltelini, Hans (v.) 204, 259, 307, 310 Vorländer, Karl 183 Vyshinskij, Andrei 847 Wagner, Otto 234, 335 Walgreen, Charles R. 840 Wahrheit, Karl 123 Wahrmund, Adolf 87
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Personenregister Waldner, Viktor 221 Walker, Gustav 399, 423 Wallace, Henry A. 801 Walter, Robert 4–6, 8 f., 13 f., 16, 21, 887, 894, 897, 905 (Bild), 915 f. Walz, Gustav 563 Wanschura, Adolf 446, 474 f. Weber, Max 109, 168 f., 331, 463, 502, 698, 841 Webern, Anton 456 Wedberg, Anders 544, 699 f. Wedrac, Stefan 17–19 Wehberg, Hans 476, 584 Weininger, Leopold 78, 82 Weininger, Otto 55, 76, 77 (Bild), 78–80, 82, 85 f., 118, 138, 149 Weininger, Richard 149 Weininger, Rosa 76 Weir, John M. 743, 744 (Bild), 744 f., 752 Weiskirchner, Richard 176 Weiss, Gertrude, geb. Kelsen 41 f., 45, 76, 100, 117, 118, 179, 377, 626, 627 (Bild), 753 Weiss, Richard 117, 626, 753 Weiß, Adolf 49 Weiß, Egon 567 f., 618, 633 Weiß, Franz Xaver 175, 563, 568, 620, 633 Weiß, Moritz Ludwig 444, 446 f. Weizsäcker, Wilhelm 562, 564, 567 f., 631 Wekerle, Sándor 201 Wellesz, Egon 121, 456 Wenger, Leopold 607 Wenzel, Clemens 240 Wenzel, Max 352 f. Werfel, Franz 370, 456, 525 Wettstein, Richard 258, 489 Weyr, František (Franz) 4, 162–164, 188 f., 214, 319, 341, 343, 379 f., 389, 396 f., 524, 562, 600, 622 f., 635, 833 White, Leonard D. 704, 706 Whitehead, Alfred N. 723 Wiese, Leopold v. 464, 508, 548 Wieser, Friedrich 70, 89, 190, 311 f., 328 Wigmore, Henry 903 Wigmore, John W. 662, 698
1027
Wild, John 863 f. Wilhelm II., Deutscher Kaiser 347, 529, 740 f., 839 Williamson, Francis T. 771 f. Wilson, Charles H. 590 Wilson, T. Woodrow 212, 220, 226, 526 Windelband, Wilhelm 102, 104–107, 109 Windelband, Wolfgang 486, 492, 536, 549, 576 Windscheid, Bernhard 138, 140 Winkelnkemper, Peter 545 f., 556 Winkler, Günther 15, 72, 831, 885, 911 Winkler, Harold 797 f., 800, 802 Winter, Ernst Karl 656, 684, 887 Winter, Fritz 256 Winternitz, Emanuel 340, 498 Wittgenstein, Ludwig 79, 376 Wittmayer, Leo 189, 259, 385 Wlassak, Moritz 69, 71, 90 Woeß, Friedrich 441, 487, 489 Wohlheim, Paul 123 Wolff, Christian 268 Wolmar, Wolfgang Wolfram v. 569 Woods, Baldwin M. 821 Wright, Henrik 830, 833 Wright, Herbert F. 733 f. Wright, Quincy 705, 722, 755, 826 Yepes, Jesús Maria 666 Yokota, Kissaburo 393, 524 Zajiček, Erwin 615 Zallinger, Otto 67–69 Zanella, Riccardo 304 f. Zeiller, Franz v. 65, 303 Zimmermann, Alfred 423 Zimmermann, Paul 119 Zinovev (Sinowjew), Grigorij Evseevič 405 Zitkovksy, Ludwig v. 49 Zollmann, Hermine 617 Zuckmayer, Carl 377, 626 Zweig, Egon 84 f. Zweig, Stefan 39, 113, 248, 374 f., 579, 654 Žolger, Ivan 214