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German Pages 262 Year 2000
REINHOLD HESS
Grundrechtskonkurrenzen
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 819
Grundrechtskonkurrenzen Zugleich ein Beitrag zur Normstruktur der Freiheitsrechte
Von Reinhold Heß
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Heß, Reinhold: Grundrechtskonkurrenzen : zugleich ein Beitrag zur Normstruktur der Freiheitsrechte / Reinhold Heß. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 819) Zugl.: Marburg, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10106-5
Alle Rechte vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-10106-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Frühjahr 1999 abgeschlossen und im Sommersemester desselben Jahres vom Fachbereich Rechtswissenschaften der Philipps-Universität Marburg als Dissertation angenommen. Nachfolgende Veröffentlichungen konnten nur in geringem Umfang berücksichtigt werden. An dieser Stelle möchte ich all jenen danken, die an der Entstehung meiner Dissertation maßgeblichen Anteil hatten. Zu großem Dank bin ich zuerst Herrn Prof. Dr. Steffen Detterbeck verpflichtet. Von ihm stammen sowohl die Idee zu diesem Thema als auch weitere wertvolle Anregungen zur Konzeption der Arbeit. Ohne das angenehme Arbeitsklima an seinem Lehrstuhl und ohne den in großzügiger Weise eingeräumten Freiraum wäre es mir nicht möglich gewesen, das Manuskript neben meiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter fertigzustellen. Herzlich bedanken möchte ich mich schließlich für die überaus rasche Korrektur der Arbeit. Letzteres gilt auch für Herrn Prof. Dr. Gilbert H. Gornig, der das Zweitgutachten trotz hoher Arbeitsbelastung in kürzester Zeit angefertigt hat. Auch bei meiner Mutter möchte ich mich herzlich bedanken. Sie hat gemeinsam mit meinem verstorbenen Vater für die finanzielle Absicherung meines Studiums gesorgt und mir auch anschließend jede Art von Unterstützung gewährt. Ein ganz besonderer Dank gilt schließlich Nicole. Ihre verständnisvolle Zuneigung hat mir vieles leichter gemacht. Marburg, im Frühjahr 2000
Reinhold Heß
Inhaltsverzeichnis Α. Einführung
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Β. Die Konkurrenz von Rechtsnormen aus methodischer Sicht I. Einleitung II. Systematische Einordnung der Normkonkurrenz 1. Begriffsbestimmung „Rechtsnorm" 2. Anwendbarkeit einer Rechtsnorm 3. Normkollisionen a) Kollision von Normen unterschiedlicher Rangstufen b) Kollision gleichrangiger Normen unterschiedlichen Alters 4. Normkonkurrenzen a) Entstehung von Normkonkurrenzen b) Folgen einer Normkonkurrenz III. Methodische Behandlung von Konkurrenzsituationen 1. Nichtauflösungsbedürftige Konkurrenzen a) Kumulative Konkurrenz b) Alternative Konkurrenz? 2. Auflösungsbedürftige Konkurrenzen a) Gründe für die Auflösung von Normkonkurrenzen aa) Der Satz von der Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung bb) Spezifische Auflösungsgründe cc) Weitere, normlogische Auflösungsgründe? (1) Spezialitätsbegriff - normlogische Spezialität (2) Keine Verdrängung kraft Normlogik b) Verfahren der Konkurrenzauflösung aa) Konkurrenzauflösung durch Gesetz bb) Konkurrenzauflösung durch Auslegung 3. Folgen für die anwendbaren Normen bei Auflösung und Nichtauflösung der Konkurrenz a) Ausnahme vom Grundsatz der vollständigen Verdrängung der allgemeinen Norm b) Wechselseitige Beeinflussung der konkurrierenden Normen bei kumulativer Anwendung C. Grundrechtskonkurrenzen - Einführung, Begriffsbestimmung, Analyse der Lösungsvorschläge I. Einleitung II. Begriffsbestimmung
17 17 18 18 19 20 21 25 26 26 27 28 28 28 29 31 31 31 33 34 34 36 39 39 40 43 43 44 48 48 49
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nsverzeichnis III. Abgrenzung zu den sog. „Scheinkonkurrenzen" 1. Sachverhaltszerlegung a) Handlungsmehrheiten b) Differenzierung nach Eingriffen 2. Tatbestandsabgrenzung IV. Darstellung und Kritik der Lösungsvorschläge zur Behandlung von Grundrechtskonkurrenzen 1. Einleitung 2. Normverdrängende Lösung a) Tatbestandsorientierte Verdrängung aa) Normlogische Spezialität bb) Normative Spezialität cc) Sonderproblem personeller Schutzbereich b) Eingriffsorientierte Verdrängung 3. Normkumulierende Lösungen a) Theorie der rechtsfolgenverdrängenden Idealkonkurrenz b) Schrankenübertragungstheorien aa) Herrschaft des Grundrechts mit Begrenzungsregelung bb) Herrschaft des Grundrechts ohne Begrenzungsregelung.... cc) Vermittelnde Lösungen dd) Kritik der Schrankenübertragungsthese 4. Normkombinierende Lösungen - Grundrechtsverbund a) Generelle Verbundlösung b) Partielle Verbundlösungen aa) Kombinationsgrundrechte bb) Begrenzungskombination cc) Schrankenverbund c) Theorie der funktionellen Geltungseinheit 5. Gestufte Konkurrenzlösung unter Anwendung unterschiedlicher Modelle
D. Grundlagen der Konkurrenzdogmatik I. Einleitung II. Struktur der abwehrrechtsbegründenden Grundrechtsnorm 1. Tatbestand a) Tatbestand in sachlicher Hinsicht aa) Grundrechtsbegrenzungen als Tatbestandsmerkmale? (1) Inkorporation von Grundrechtsbegrenzungen (2) Kritik der Begrenzungsinkorporation bb) Grundrechtsbeeinträchtigung als Tatbestandsmerkmal? . . . . b) Tatbestand in personeller Hinsicht - Exkurs zur Konkurrenz von Deutschen- und Jedermanngrundrechten 2. Grundrechtsbegrenzungen 3. Sonstige Begrenzungsregelungen - „Schrankenschranken" a) Formelle Anforderungen
51 52 53 54 55 57 57 58 59 59 62 64 65 68 68 72 74 75 77 78 82 82 84 84 86 88 89 91 93 93 93 94 94 96 96 98 100 106 111 114 114
nsverzeichnis
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b) Materielle Anforderungen 115 c) Verfassungsmäßigkeit im übrigen 117 4. Zusammenfassung 119 III. Der abwehrrechtliche Schutzgegenstand 119 1. Systematik der Schutzgegenstände 120 a) Erscheinungsformen 120 b) Bestimmung des Schutzgegenstandes 121 c) Schutzgegenstandsmehrheiten 123 aa) Unechte Schutzgegenstandsmehrheiten 123 bb) Echte Schutzgegenstandsmehrheit 124 d) Verhältnis der Schutzgegenstände zueinander 125 2. Konzentration der Gewährleistungsgehalte mehrerer Grundrechte zu einem Schutzgegenstand? 128 a) Allgemeines Persönlichkeitsrecht 128 b) Sonstige Synthesegrundrechte 130 aa) Grundrecht auf Mobilität 130 bb) Zeitungspersönlichkeitsrecht 131 E. Allgemeine Konkurrenzdogmatik der Grundrechtsnormen I. Der Satz von der Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung als Grund für die Auflösung von Konkurrenzlagen 1. Widerspruchsfähigkeit von Grundrechtsnormen 2. Gegenstand der Konkurrenz 3. Sonstige Auflösungsgründe? II. Verfahren der Konkurrenzauflösung 1. Konkurrenzlösende Verfassungsnormen und -aussagen? a) Grundrechtsbezogene Regelungen b) Bindungsklausel, Art. 1 Abs. 3 GG c) Wesensgehaltsgarantie, Art. 19 Abs. 2 GG aa) Sicherungswirkung bb) Sperrwirkung bei Eingriff in den Wesensgehalt d) Art. 142 GG 2. Konkurrenzauflösung nach allgemeinen Regeln a) Normlogische Spezialität aa) Eingliedrige Schutzgegenstände bb) Mehrgliedrige Schutzgegenstände cc) Eigentumsschutz durch normlogisch spezielle Grundrechtsnormen b) Normative Spezialität aa) Konkurrenz unterschiedlicher Schutzgegenstandstypen . . . . bb) Inhalts- und Ausübungsrechte cc) Haupt- und Hilfsschutzgegenstände dd) Reichweite der Verdrängung (1) Problematik (2) Restwirkung der verdrängten Norm
133 133 133 134 135 136 136 136 137 138 138 138 139 144 144 144 145 147 149 149 152 157 160 160 161
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nsverzeichnis c) Tatbestandliche Idealkonkurrenz - Dominanz der stärksten Entscheidungsnorm 163 d) Logischer Vorrang der Verdrängung kraft Spezialität 164 III. Schutzzweck der Grundrechtsnorm 165
F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen I. Einleitung II. Die Garantie der Menschenwürde - Art. 1 Abs. 1 GG 1. Einleitung 2. Schutzgegestandsbestimmung 3. Annex - Notwendigkeit einer Begriffsbestimmung III. Meinungs- und Mediengrundrechte - die internen Konkurrenzverhältnisse des Art. 5 Abs. 1 GG 1. Einleitung 2. Verhältnis der Meinungsäußerungsfreiheit zu den Mediengrundrechten am Beispiel der Pressefreiheit a) Einleitung b) Schutzgegenstandsbestimmung c) Tatbestandsabgrenzung d) Schutzzweck e) Fallbeispiele 3. Verhältnis der Informationsfreiheit zu den Mediengrundrechten am Beispiel der Pressefreiheit 4. Verhältnis der Mediengrundrechte zueinander IV. Kunstfreiheit - Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG 1. Verhältnis zur Meinungsäußerungsfreiheit a) Einleitung b) Schutzgegenstandsbestimmung aa) Keine normlogische Spezialität der Kunstfreiheit bb) Fälle normativer Spezialität der Kunstfreiheit cc) Tatbestandsabgrenzung - Exkurs zum Kunstbegriff dd) Fälle normativer Spezialität der Meinungsäußerungsfreiheit 2. Verhältnis zu den Mediengrundrechten am Beispiel der Filmfreiheit V. Wissenschaftsfreiheit - Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG 1. Verhältnis zur Meinungsfreiheit 2. Verhältnis zu den Mediengrundrechten 3. Verhältnis zur Informationsfreiheit VI. Glaubens- und Gewissensfreiheit, Kriegsdienstverweigerung Art. 4 GG 1. Verhältnis zur Meinungsäußerungsfreiheit a) Einleitung b) Schutzgegenstandsbestimmung c) Normative Spezialität der Glaubens- und der Gewissensfreiheit. d) Tatbestandsabgrenzung zwischen Gewissens- und Meinungsfreiheit
167 167 167 167 169 171 172 172 173 173 174 178 180 180 181 182 184 184 184 188 188 189 190 192 195 196 196 196 197 198 198 198 199 202 203
nsverzeichnis 2. 3. 4. 5. 6.
Interne Konkurrenzverhältnisse Verhältnis zu den Mediengrundrechten Verhältnis zur Wissenschafts- und Kunstfreiheit Verhältnis zum Elternrecht - Art. 6 Abs. 2 GG Verhältnis zu Art. 7 Abs. 2 GG, Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG und Art. 7 Abs. 3 S. 3 GG 7. Verhältnis zu Art. 140 GG i.V.m. den Regelungen der WRV a) Einleitung b) Verhältnis zu Art. 136 Abs. 1 WRV c) Verhältnis zu Art. 136 Abs. 3 u. 4 WRV d) Verhältnis zu Art. 137 Abs. 2 WRV e) Verhältnis zu Art. 137 Abs. 3 WRV f) Verhältnis zu Art. 138 Abs. 2 WRV VII. Allgemeine Handlungsfreiheit und allgemeines Persönlichkeitsrecht Art. 2 Abs. 1 GG; Freiheit der Person - Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG 1. Allgemeine Handlungsfreiheit 2. Allgemeines Persönlichkeitsrecht 3. Freiheit der Person - Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG a) Verhältnis zu Art. 104 GG b) Verhältnis zu Art. 11 GG VIII. Versammlungsfreiheit - Art. 8 GG 1. Verhältnis zur Meinungsäußerungsfreiheit, Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG . . a) Einleitung b) Tatbestandsabgrenzung c) Schutzzweck d) Fälle normlogischer Spezialität 2. Verhältnis zur Kunstfreiheit, Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG 3. Verhältnis zu Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG sowie Art. 4 Abs. 1, 2 GG IX. Vereinigungsfreiheit - Art. 9 Abs. 1 GG X. Berufsfreiheit - Art. 12 GG 1. Verhältnis zu Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG a) Einleitung b) Schutzgegenstandsbestimmung 2. Verhältnis zu Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG; Art. 4 Abs. 1, 2 GG; Art. 33 GG XI. Eigentumsfreiheit - Art. 14 GG 1. Tatbestandsabgrenzung 2. Allgemeine Schlußfolgerungen für das Verhältnis zu den Freiheitsrechten 3. Verhältnis zu Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 12 GG; Art. 140 GG i.V.m. Art. 138 Abs. 2 WRV 4. Verhältnis zu Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG
11 203 204 205 206 208 209 209 210 212 212 213 215 216 216 219 221 221 223 226 226 226 227 228 229 231 231 233 235 235 235 235 238 240 240 243 244 245
XII. Anmerkungen zum allgemeinen Gleichheitssatz - Art. 3 Abs. 1 GG .. . 247 Literaturverzeichnis
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Sach Wortverzeichnis
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Abkürzungsverzeichnis a. Α. a.a.O. a. E. Abs. AcP AfP AGBG allg. Anm. AöR Art. AtG Aufl. ausf. Bad.-Württ. BayVBl. Bd. Bearb. Begr. BGB BGBl. BGH BGHSt Β GHZ BSHG BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG BVerwGE bzgl. bzw. d.h. DAR ders. Diss. DJT DÖV
andere(r) Ansicht am angegebenen Ort am Ende Absatz, Absätze Archiv für die civilistische Praxis Archiv für Presserecht Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen allgemein(e) Anmerkung(en) Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Atomgesetz Auflage ausführlich Baden-Württemberg Bayerische Verwaltungsblätter Band Bearbeiter Begründer Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Amtliche Sammlung der Entscheidungen des BGH in Strafsachen Amtliche Sammlung der Entscheidungen des BGH in Zivilsachen Bundessozialhilfegesetz Bundesverfassungsgericht Amtliche Sammlung der Entscheidungen des BVerfG Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesverwaltungsgericht Amtliche Sammlung der Entscheidungen des BVerwG bezüglich beziehungsweise das heißt Deutsches Autorecht derselbe Dissertation Deutscher Juristentag Die öffentliche Verwaltung
Abkürzungsverzeichnis DrS DVB1. EinigungsV EMRK etc. EuGRZ f., ff. Fn. Frhr. GA Gesamthrsg. GG ggf·
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Drucksache Deutsches Verwaltungsblatt Einigungsvertrag Europäische Menschenrechtskonvention et cetera Europäische Grundrechte-Zeitschrift folgende(r) Seite(n)/Paragraph(en) Fußnote Freiherr Goltdammers Archiv für Strafrecht Gesamtherausgeber Grundgesetz gegebenenfalls grundlegend grdl. Hauptausschuß HA herrschende Lehre h.L. herrschende Meinung h.M. Gesetz über den Wideruf von Haustürgeschäften und ähnlichen HaustürWG Geschäften HbdStKirchR Handbuch des Staatskirchenrechts HbdStR Handbuch des Staatsrechts HbdVerfR Handbuch des Verfassungsrechts HessStGH Hessischer Staatsgerichtshof Hrsg. Herausgeber HS Halbsatz HSOG Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung i.E. im Ergebnis i.V.m. in Verbindung mit JA Juristische Arbeitsblätter JöR Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Jura Juristische Ausbildung JuS Juristische Schulung JZ Juristenzeitung KritV Kritische Vierteljahreszeitschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft KSchG Kündigungsschutzgesetz LdR Ergänzbares Lexikon des Rechts itlw.Nw. mit weiteren Nachweisen MedR Medizinrecht MontanMitbestG Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie NJW Neue Juristische Wochenschrift Nr. Nummer(n) NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Nw. Nachweis(e)
14 o.a. OEG OLG OVG pari. Rdnr. Rspr. S. Schriftltg. SGB sog. SprengG st. Rspr. StGB str. StVG u.a. u.U. UFITA usw. UVPG Var. VerbrKrG VermG VersammlG VG VGH vgl. VIZ Vorbem. VVDStRL VwGO WaffG WHG WRV z.B. z.T. ZUM
Abkürzungsverzeichnis oder ähnliches Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht parlamentarischer Randnummer(n) Rechtsprechung Seite; Satz Schriftleitung Sozialgesetzbuch sogenannte(r) Sprengstoffgesetz ständige Rechtsprechung Strafgesetzbuch streitig Straßenverkehrsgesetz unter anderem; und andere unter Umständen Archiv für Urheber-, Film-, Funk- und Theaterrecht und so weiter Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung Variante Verbraucherkreditgesetz Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen Versammlungsgesetz Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche Zeitschrift für Vermögens- und Investitionsrecht Vorbemerkung Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung Waffengesetz Wasserhaushaltsgesetz Weimarer Reichsverfassung zum Beispiel zum Teil Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht
Α. Einführung Im Jahr 1998 entschied das Bundesverfassungsgericht in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung, daß die Verletzung der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zu Volksvertretungen der Länder nicht mit der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht gerügt werden kann 1 . Kernpunkt dieser Entscheidung war die Frage, ob im Anwendungsbereich der Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 28 Abs. 1 S. 2, 38 Abs. 1 S. 1 GG ein Rückgriff auf den mit der Verfassungsbeschwerde rügefähigen allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG zulässig ist. Das Gericht hat diese Frage verneint. Aus konkurrenzdogmatischer Sicht ist allerdings weniger das Ergebnis, vielmehr die Begründung von Interesse. Erstmalig hat das Bundesverfassungsgericht nicht nur lediglich das Vorliegen eines Spezialitätsverhältnisses zwischen Verfassungsnormen festgestellt, sondern darüber hinaus auch die dogmatischen Folgen dieser Konkurrenz umfassend untersucht. Das Gericht geht davon aus, daß immer dann, wenn sich eine Rechtsnorm gegenüber einer anderen wie lex specialis zu lex generalis verhalte, noch keine Entscheidung über die Unanwendbarkeit der allgemeinen Norm getroffen sei. Vielmehr müsse die Frage der Zulässigkeit des Rückgriffs auf die allgemeine Norm durch umfassende Auslegung der beteiligten Rechtssätze geklärt werden. Ob das Gericht mit dieser Entscheidung eine Kurskorrektur hin zu größerer konkurrenzdogmatischer Sorgfalt unternommen hat, bleibt abzuwarten. Eines zeigt der Beschluß vom 16.07.1998 jedoch gewiß: Die Lehre von den Konkurrenzen der Rechtsnormen spielt auch im Verfassungsprozeßrecht eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wenn wie hier die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht von einer konkurrenzdogmatischen Vorrangentscheidung abhängt, wird die Konkurrenzfrage zum prozessualen Schlüssel für die Erlangung bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes. Aber auch materiell-rechtlich ist die Lösung von Konkurrenzfragen im Grundrechtsbereich kein zu vernachlässigendes Problem. Häufig sind für ein und dasselbe menschliche Verhalten mehrere Grundrechte einschlägig. Teilweise sind diese Grundrechte parallel anwendbar, teilweise schließen sie sich gegenseitig in ihrer Anwendbarkeit aus. Deshalb steht erst, wenn die grundrechtliche Konkurrenzrelation geklärt ist, fest, an welcher Grund1
BVerfG NJW 1999, 43.
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Α. Einführung
rechtsnorm eine beeinträchtigende staatliche Maßnahme zu messen ist. Die Konkurrenzfrage wird damit zur entscheidenden Weichenstellung für den Umfang des Grundrechtsschutzes. Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind die Konkurrenzverhältnisse der abwehrrechtsbegründenden Grundrechtsnormen des Grundgesetzes. Konkurrenzen anderer Grundrechtsarten oder Konkurrenzen der einzelnen Grundrechtsarten untereinander werden nicht berücksichtigt 2 . Die Untersuchung beginnt mit einer methodischen Analyse der Konkurrenz zwischen Rechtsnormen. Neben der systematischen Einordnung der Normkonkurrenz werden hier Fragen der Entstehung von Konkurrenzlagen sowie ihrer methodischen Behandlung erörtert. Anschließend wird der Diskussionsstand in Literatur und Rechtsprechung nachgezeichnet und kritisch gewürdigt. Ein Schwerpunkt liegt dabei in der Systematisierung der bisher entwickelten Lösungsvorschläge. Der letzte vorbereitende Hauptteil schließlich beschäftigt sich mit der Struktur der abwehrrechtsbegründenden Grundrechtsnorm. In der Literatur ist nach wie vor umstritten, aus welchen Bestandteilen sich eine Grundrechtsnorm zusammensetzt. Diese Unklarheiten müssen ausgeräumt werden, bevor an die Konkurrenzverhältnisse dieser Normen überhaupt gedacht werden kann. Den Hauptteil der vorliegenden Arbeit bildet die Entwicklung allgemeiner konkurrenzdogmatischer Grundsätze für den Grundrechtsbereich. Basierend auf den Ergebnissen der vorangestellten Untersuchungen werden allgemeingültige Aussagen über die Auflösungsbedürftigkeit und das Auflösungsverfahren von Grundrechtskonkurrenzen erarbeitet. Hauptanknüpfungspunkt ist dabei die ebenfalls zuvor entwickelte Schutzgegenstandssystematik der Abwehrrechte. In einem letzten Teil werden schließlich die gewonnenen Erkenntnisse zur Lösung ausgewählter Konkurrenzprobleme herangezogen und für den Einzelfall konkretisiert.
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Dieser Bereich ist weitgehend eine terra incognita; vgl. Jarass, AöR 120 (1995), 345 (360); Siekmann/Duttge, Staatsrecht I, Rdnr. 1057.
Β. Die Konkurrenz von Rechtsnormen aus methodischer Sicht I. Einleitung Die Situation der parallelen Anwendbarkeit von Normen ist bekanntermaßen kein speziell verfassungsrechtliches oder grundrechtliches Problem. Vielmehr tritt dieses Phänomen in jedem durch gesetzliche Vorschriften geregelten Rechtsgebiet auf. Besonders im Strafrecht sind die Konkurrenzverhältnisse der Straftatbestände nach wie vor ein beliebtes Arbeitsgebiet für Rechtsdogmatiker 1. Das anhaltende Interesse an der Thematik ist offenbar dadurch begründet, daß hier nicht nur speziell strafrechtstypische Fragen beantwortet werden müssen, sondern auch grundlegende dogmatische Problemstellungen zu lösen sind. In allen Rechtsgebieten geht es bei der Lösung von Konkurrenzsituationen um Rechtsgewinnung und damit um die zentrale Aufgabe der Rechtsdogmatik. Das Verfahren der Rechtsgewinnung führt aber nur dann zu akzeptablen Ergebnissen, wenn die einzelnen Verfahrensschritte den Regeln der Logik nicht widersprechen. Daher muß die zur Lösung eines rechtsdogmatischen Problems angewandte Methode nachprüfbar, berechenbar und verläßlich sein 2 . Die Methodenklarheit ist unabdingbare Voraussetzung für jedwède rechtswissenschaftliche Untersuchung. Deshalb soll zunächst versucht werden, das Verfahren zur Behandlung von Normkonkurrenzen näher zu analysieren. Erst wenn auf diese Weise ein gesichertes Fundament geschaffen wurde, macht es Sinn, die Konkurrenzproblematik im Grundrechtsbereich detailliert zu untersuchen. Im folgenden wird zunächst die Entstehung von Normkonkurrenzen im Mittelpunkt der Ausführungen stehen. Dabei soll, ausgehend von einigen Überlegungen zum Begriff und zur Anwendbarkeit von Rechtsnormen, der Versuch unternommen werden, die Normkonkurrenz als einen von mehreren Normkonflikten systematisch einzuordnen. 1 Aus jüngerer Zeit vor allem Abels, Die „Klarstellungsfunktion" der Idealkonkurrenz, 1991; Fuchs, Gesetzeskonkurrenz und mitbestrafte Vortaten, Diss. Berlin, 1989; Mitsch, JuS 1993, 385 ff.; Fahl, JA 1995, 654ff. 2 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 9; Kerschner, Wissenschaftliche Arbeitstechnik und -methodik für Juristen, S. 20; Schwacke, Juristische Methodik, S. 2. 2 Heß
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Β. Die Konkurrenz von Rechtsnormen aus methodischer Sicht
II. Systematische Einordnung der Normkonkurrenz 1. Begriffsbestimmung „Rechtsnorm" Moderne Rechtssysteme halten umfangreiche, für den normalen Rechtsanwender kaum zu überschauende rechtserhebliche Verhaltensanordnungen bereit. Die einzelnen Elemente eines solchens komplexen Systems lassen sich unter anderem danach einteilen, ob ein Gebot für den Einzelfall ergeht oder ob eine generelle, für eine Vielzahl von Lebenssachverhalten geltende, verbindliche Folge festgelegt wird. Diejenigen rechtserheblichen Verhaltensanordnungen, die verbindliche Regelungen abstrakt und nicht nur für den Einzelfall aufstellen, werden als Rechtsnormen bezeichnet3. Folglich ist eine Regelung dann eine Rechtsnorm, wenn sie sowohl hinsichtlich des zu regelnden Lebenssachverhalts als auch hinsichtlich des Adressatenkreises abstrakt ist und für alle Anwendungsfälle unbedingte Geltung beansprucht 4. Einzelfallregelungen, wie etwa Verwaltungsakte, Verträge, Vollstreckungsmaßnahmen, behördeninterne Einzelweisungen und Gerichtsurteile sind deshalb keine Rechtsnormen 5. Rechtssätze weisen eine ähnlich Struktur auf wie Aussagesätze, sind jedoch von diesen strikt zu unterscheiden. Während ein Aussagesatz Behauptungen oder Feststellungen darüber enthält, wie sich ein Lebenssachverhalt tatsächlich gestaltet, wird durch eine Rechtsnorm festgelegt, welchen Anforderungen der Normunterworfene genügen muß, um sich rechtens zu verhalten. Die Norm beschreibt also nicht was ist, sie befiehlt was sein soll. Die anordnende Wirkung der Rechtsnorm impliziert zugleich einen unbedingten Geltungsanspruch. Normen enthalten keine Ratschläge oder Empfehlungen, denen wahlweise Folge geleistet werden kann oder auch nicht. Der Normbefehl verlangt absolute und unbedingte Beachtung. Der für die Existenz einer Rechtsnorm konstitutive Geltungsanspruch ist nicht gleichzusetzen mit der Gültigkeit der Norm 6 . Ob eine Norm tatsächlich gültig ist und Rechtswirkungen entfaltet, hängt insbesondere davon ab, ob die Norm rechtmäßig zustande gekommen ist. Sollte sie es nicht sein, ist sie jedenfalls rechtswidrig, möglicherweise auch nichtig. In jedem Fall handelt es sich aber auch dann um eine Rechtsnorm, wenn sie ungültig und nichtig ist. Allerdings zählt eine nichtige Norm nicht zur Rechtsordnung. 3
Die Begriffe „Norm", „Rechtsnorm", „Rechtsregel" und „Rechtssatz" werden in den folgenden Ausführungen synonym verwendet. 4 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 71; Schmalz, Methodenlehre für das juristische Studium, Rdnr. 47 ff. 5 Siehe Mayer/Kopp, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 105 f. 6 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 72, 74.
II. Systematische Einordnung der Normkonkurrenz
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Die Rechtsordnung wird nur von denjenigen Normen gebildet, die zu einem bestimmten Zeitpunkt gültig sind 7 . Die Rechtsnorm ist deshalb zu definieren als die sprachliche Verkörperung einer verbindlichen und generellen Rechtsregei 8.
2. Anwendbarkeit einer Rechtsnorm Rechtssätze sind in aller Regel in einen Voraussetzungs- (Tatbestands-) und einen Rechtsfolgenteil gegliedert 9. Bestimmt die Rechtsnorm selbst und unmittelbar, welches Verhalten in einer konkreten Lebenssituation geboten oder verboten ist, handelt es sich um eine vollständige Rechtsnorm. In diesem Fall ist der Rückgriff auf ergänzende unselbständige Normen zur Findung der Rechtsfolge nicht notwendig. Voraussetzung und Rechtsfolge eines vollständigen Rechtssatzes stehen in einem Bedingungszusammenhang (Konditionalprogramm). D.h. die Rechtsfolge einer Norm entfaltet ihre anordnende Wirkung dann, wenn alle Tatbestandsmerkmale durch einen Lebenssachverhalt erfüllt sind. Die Erfüllung des Tatbestandes wird damit zur Voraussetzung der Anwendbarkeit der Norm im Verfahren der Rechtsfindung. Die Frage nach der Anwendbarkeit einer Norm ist allein mit der Feststellung der Tatbestandsvoraussetzungen noch nicht beantwortet. Häufig kommen Rechtsnormen nur innerhalb eines bestimmten Geltungsbereiches zur Anwendung. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie Teil eines umfangreicheren Regelungssystems (Gesetz, Rechtsverordnung, Satzung etc.) sind. Das Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (ÀGBG) enthält beispielsweise mit den §§ 23, 24 Negativkataloge zur sachlichen und persönlichen Reichweite der einzelnen Vorschriften. Demnach können Allgemeine Geschäftsbedingungen, sofern sie im Geschäftsverkehr mit einem Kaufmann verwendet werden, gem. § 24 Nr. 1 AGBG nicht auf ihre inhaltliche Wirksamkeit anhand der §§ 9ff. AGBG überprüft werden. Der Anwendungsbereich der §§ 9ff. AGBG wird auf diese Weise eingeschränkt. Für die Rechtsanwendung bedeutet dies, daß der Tatbestand dieser Vorschriften nicht mehr zu prüfen ist. Die Norm entfaltet folglich für den konkret zu entscheidenden Lebenssachverhalt keine Wirkung. Aus gesetzestechnischer Sicht ist dem Tatbestand eines Rechtssatzes eine wei7
Schwacke, Juristische Methodik, S. 2; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 72. 8 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 71. Ausführlich zum Streit um den Normbegriff, Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 41 ff. 9 Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 25; Schwacke, Juristische Methodik, S. 19. 2*
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Β. Die Konkurrenz von Rechtsnormen aus methodischer Sicht
tere Regelung vorgeschaltet, die die Anwendbarkeit im engeren Sinne regelt. Derartige Anwendbarkeitsvorschriften finden sich in einer Vielzahl von Gesetzen10. In aller Regel normieren sie Anforderungen an die Person des Normadressaten, den örtlichen bzw. zeitlichen Anwendungsbereich oder die sachliche Reichweite der in Bezug genommenen gesetzlichen Regelungen. Anwendbarkeitsvorschriften sind also vor die Klammer gezogene, zumeist für mehrere Normen oder Normkomplexe geltende unselbständige Hilfsnormen 11 . Streng von der Problematik der Anwendbarkeit zu trennen ist die Frage nach der Gültigkeit einer Norm 1 2 . Ein Rechtssatz kann nicht zur Entscheidung über einen bestimmten Sachverhalt herangezogen werden, wenn er keine Rechtsgültigkeit besitzt. Nichtige bzw. unwirksame Rechtssätze haben nicht die Fähigkeit, rechtserhebliche Verhaltensanordnungen zu treffen 1 3 . Sie sind nicht Teil der Rechtsordnung. Die Gültigkeit der Rechtssätze ist also logische Voraussetzung für ihre Anwendbarkeit 14 . Es ist deshalb unbedingt erforderlich, Anwendbarkeits- und Gültigkeitsvoraussetzungen zu unterscheiden. Konflikte zwischen Rechtssätzen haben unterschiedliche Auswirkungen auf die konfligierenden Normen. Normative Spannungen können sowohl durch Geltungsvernichtung als auch durch nachrangige Anwendbarkeit einer der beteiligten Normen beseitigt werden. Im folgenden sollen deshalb die wichtigsten Konfliktfälle kurz dargestellt und ihre Lösungsmöglichkeiten systematisiert und beschrieben werden.
3. Normkollisionen In der Literatur werden unterschiedlichste Konfliktfälle, die zwischen Rechtsnormen auftreten können, als Normkollisionen bezeichnet 15 . Es bietet sich daher an, den Begriff der Normkollision als Sammelbegriff zu verwenden. Im folgenden werden in Abgrenzung zum Begriff der Normkonkurrenz alle sonstigen normativen Spannungen, die keine Normkonkurrenz sind, als Normkollisionen bezeichnet. 10 Beispiele für die Regelung eines sachlichen oder persönlichen Anwendungsbereichs einzelner Normen oder Normkomplexe (Gesetze) sind § 23 KSchG, § 1 ff. VerbrKrG, § 6 HaustürWG, § 6 WaffG, § 1 I SprengG, § 1 Abs. 1 WHG. 11 Im allgemeinen wird der Begriff der Hilfsnorm in einem engeren Sinne gebraucht; vgl. Schmalz, Methodenlehre für das juristische Studium, Rdnr. 117 f.; Treder, Methoden und Technik der Rechtsanwendung, S. 18. 12 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 71 f. 13 Schwacke, Juristische Methodik, S. 8. 14 Schmalz, Methodenlehre für das juristische Studium, Rdnr. 70ff., 88. 15 Schmalz, Methodenlehre für das juristische Studium, Rdnr. 72ff.; Röhl, Allgemeine Rechtstheorie, S. 153, 601 ff.
II. Systematische Einordnung der Normkonkurrenz
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Um den Unterschied zwischen Normkonkurrenzen und Normkollisionen deutlich zu machen, sollen zwei Kollisionsfälle exemplarisch untersucht werden. Zunächst geht es um Konflikte zwischen Normen, die auf unterschiedlichen Rangstufen der Normpyramide angesiedelt sind; sodann um Konflikte zwischen Normen, deren Alter sich unterscheidet. In beiden Fällen handelt es sich um Spannungen zwischen Rechtsnormen, die nicht ein und derselben Rechtsquelle entstammen. Zur Lösung der Widersprüche zwischen den Rechtssätzen hat die Jurisprudenz im Laufe der Jahrhunderte Regeln entwickelt, die der Harmonisierung der Normen dienen sollen. Dies sind die Sätze vom Vorrang des höherrangigen Rechts vor dem niederrangigen („lex superior derogat legi inferiori") und vom Vorrang des jüngeren Rechts vor dem älteren („lex posterior derogat legi priori").
a) Kollision von Normen unterschiedlicher
Rangstufen
Rechtsnormen stehen nicht regellos nebeneinander, sondern bilden ein abgestuftes, geordnetes System 16 . Auf der höchsten Stufe der Normhierarchie, jedenfalls des nationalen Rechts, steht zwingend die Bundesverfassung 17 . Es schließen sich die formellen Gesetze, die Rechts Verordnungen und Satzungen des Bundes an 1 8 . Unterhalb des Bundesrechts folgt gem. Art. 31 GG in der Rangskala, wiederum in entsprechender Reihenfolge, das Landesrecht 19 . Normkonflikte sind zwischen Normen aller Rangstufen denkbar. Von besonderem dogmatischen Interesse sind die Widersprüche zwischen unterverfassungsrechtlichen Normen und dem Verfassungsrecht. Einerseits indiziert der hohe Abstraktionsgrad verfassungsrechtlicher Regelungen besondere Schwierigkeiten bei der Offenlegung solcher Widersprüche. Andererseits besteht an der Lösung dieser Konfliktfälle ein großes praktisches Interesse, da die Verfassung durch die Verfahren der prinzipalen Normenkontrolle besondere Rechtsbehelfe für eben diese Fälle gewährt. Im folgenden soll untersucht werden, wie die Konfliktfälle zwischen Verfassungsrecht und einfachem Gesetzesrecht zu lösen sind. Nach einer ersten Auffassung ergibt sich die Lösung der Kollisionsproblematik unmittelbar aus dem Stufenaufbau der Rechtsordnung 20 . Nach 16 So die h.L. vom Stufenaufbau der Rechtsordnung; dazu Stern, Staatsrecht, Bd. I, S. 105 m.w.Nw. 17 Der Vorrang der Verfassung ist ein grundlegendes Prinzip des Verfassungsstaates. Die Verfassung kann nur dann die rechtliche Grundordnung eines Staates bilden, wenn sie an der Spitze der Normpyramide steht; Stern, Staatsrecht, Bd. I, S. 80f. 18 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4 Rdnr. 38. 19 Huber, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 31 Rdnr. 3; Gubelt, in: v. Münch/ Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, Art. 31 Rdnr. 3.
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Β. Die Konkurrenz von Rechtsnormen aus methodischer Sicht
dem Grundsatz der Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung können widerspruchsbehaftete Normen keine Gültigkeit erlangen. Die Rechtsordnung muß widerspruchsfrei sei 2 1 . Treten dennoch Widersprüche zwischen höherund niederrangigen Normen auf, folge bereits aus der Hierarchie der Normen, daß allein die höherrangige Norm Rechtswirksamkeit entfalten könne. Da das höherrangige Recht immer die Gültigkeitsvoraussetzungen für das niederrangige Recht enthalte, müsse im Kollisionsfall auch dem höherrangigen Recht der Geltungsvorrang zukommen 22 . Die einfachgesetzliche Norm werde bei Verstoß gegen die Verfassung unmittelbar und von Anfang an verdrängt. Die Norm werde mit dem Makel der Ungültigkeit behaftet „geboren" und könne niemals Rechtswirksamkeit erlangen. Sie sei ipso iure ungültig und nichtig 2 3 . Nach anderer Ansicht kann hingegen im Falle eines Widerspruches zwischen höher- und niederrangigen Normen unmöglich ein echter Normkonflikt entstehen, da die niederrangige Norm mangels Systemkompatibilität überhaupt nicht zu Entstehung gelange 24 . Dieses sog. Rechtsgeltungsmodell basiert auf der Vorstellung von einer der Normhierarchie folgenden Legitimationskette. Danach bildeten die höherrangigen Rechtsschichten den Rechtsgrund für die Entstehung der niederrangigen. Verstößt nun eine rangniedere Regelung gegen höherrangiges Recht, fehle dem Normgeber die Legitimation zum Erlaß eines Rechtsaktes. Der Gesetzgebungsakt sei rechtswidrig. Durch einen rechtwidrigen Gesetzgebungsakt könne jedoch keine Norm erzeugt werden. Das was erzeugt würde, sei eine NichtNorm 2 5 , ein rechtliches Nichts, welches folglich auch nicht verdrängt werden müsse. Freilich ist das Problem, ob die niederrangige Norm überhaupt zu Entstehung gelangt, oder von Anfang an verdrängt wird, an dieser Stelle nicht 20 Stern, in: Bonner Kommentar, Art. 93 Rdnr. 270, 276; Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im Öffentlichen Recht, S. 434; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4 Rdnr. 37; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rdnr. 344 m.w.Nw.; allgemein zur sog. Kollisionstheorie Röhl, Allgemeine Rechtstheorie, S. 606. 21 Ossenbühl, HbdStR III, § 61 Rdnr. 62; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4 Rdnr. 37. Dazu allgemein Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 16ff. 22 Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 36; Schmalz, Methodenlehre für das juristische Studium, Rdnr. 64; Stern, Staatsrecht, Bd. I, S. 105. 23 Stem, in: Bonner Kommentar, Art. 93 Rdnr. 271 f. m.w.Nw.; Badura, Staatsrecht, D 51; Detterbeck, Streitgegenstand und EntscheidungsWirkungen im Öffentlichen Recht, S. 433 ff. Ebenso offenbar das Bundesverfassungsgericht, vgl. BVerfGE 34, 9 (25); 91, 148 (175). 24 So etwa v.Olshausen, JZ 1967, 116 (117); Lippold, Der Staat 29 (1990), 185 (190 ff.). 25 Lippold, Der Staat 29 (1990), 185 (194). Nach Ossenbühl, HbdStR III, § 61 Rdnr. 63 soll diese Folge nur bei Verstoß gegen Kompetenznormen eintreten.
II. Systematische Einordnung der Normkonkurrenz
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von Belang. Nach beiden Auffassungen entfaltet die niederrangige gesetzliche Regelung keine Rechtswirkung. Die Frage nach der Anwendbarkeit dieser Norm stellt sich nicht mehr. Die Nichtigkeitstheorie ist zwar rechtslogisch konsequent, allerdings handelt es sich nicht um die einzig denkbare und zulässige Lösung. Zur Vermeidung des Normwiderspruches genügt es, wenn die Anwendbarkeit der niederrangigen Norm im konkreten Fall bis zu einer verbindlichen Entscheidung eines zur Lösung dieser Frage berufenen Gerichts gehemmt ist. Der niederrangige Rechtssatz kann nicht zur Lösung von Rechtsfragen herangezogen werden, bleibt aber Teil der Rechtsordnung. Erst die normverwerfende Entscheidung führt zur Nichtigkeit und Ungültigkeit der Norm. In diese Richtung zielt die in der Literatur zunehmend vertretene Gegenansicht. Die Unvereinbarkeit mit höherrangigem Recht soll danach nicht die ipso iure-Nichtigkeit zur Folge haben, sondern lediglich die Möglichkeit zur Vernichtung durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eröffnen 26 . Dem Gesetzgeber stehe unmittelbar aus der höherrangigen Erzeugungsnorm die Kompetenz zu, auch verfassungswidrige oder sonst gegen höherrangiges Recht verstoßende Rechtssätze zu erlassen 27. Diese seien aber in einem positiv normierten, gerichtlichen Verfahren aufhebbar 28 . Teilweise wird die bloße Vernichtbarkeit auch damit zu begründen versucht, daß die niederrangige Norm allein durch die faktische Wirkung ihrer Anwendung Gültigkeit beanspruchen müsse. Dies gebiete das rechtsstaatliche Prinzip der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes 29. Jedenfalls bedürfe es Ausnahmen vom Grundsatz der ipso iure-Nichtigkeit für Fälle des Verstoßes von unterverfassungsrechtlichen Normen gegen den Gleichheitsgrundsatz. Dies verlange die dem Gesetzgeber in den Grenzen von Art. 3 GG eingeräumte Gestaltungsfreiheit 30. Auch wenn man die ipso iure-Nichtigkeit verfassungswidriger Rechtssätze nicht als logisch zwingend ansieht 31 , zeigt doch die positive Verfas26
Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 93 Rdnr. 34; Ulsamer, in: Maunz u.a., Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 78 Rdnr. 16, § 80 Rdnr. 19 m.w.Nw.; Pestalozzi Verfassungsprozeßrecht, § 20 Rdnr. 14. 27 Grundlegend Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 275 ff. 28 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 280. 29 Böckenförde, Die sog. Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze, S. 115 ff.; Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht bei festgestellter Verfassungswidrigkeit von Gesetzen, S. 43. 30 BVerfGE 22, 249 (361); 85, 191 (211); 88, 87 (101). 31 Siehe etwa Art. 140 Abs. 3 der Österreichischen Bundesverfassung. Diese Vorschrift bestimmt, daß verfassungswidrige Normen gültig aber aufhebbar sind. Vgl. dazu auch Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rdnr. 344.
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Β. Die Konkurrenz von Rechtsnormen aus methodischer Sicht
sungsrechtslage nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sehr deutlich, daß der Verfassungsgeber hier die Kollisionslösung mit der Folge der ipso iure-Nichtigkeit zugrunde gelegt hat 3 2 . Dieser Schluß kann aus den Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3, 79 Abs. 1 Satz 1, 100 Abs. 1, 123 Abs. 1 GG gezogen werden 33 . Die genannten Normen postulieren einen absoluten Geltungsvorrang der Verfassung, der in keinem Fall in Frage gestellt werden darf. Daraus folgt zwingend, daß Rechtsakte, die die Vorgaben der Verfassung partiell entwerten, unmittelbar und sofort ihre Geltung verlieren müssen. Deshalb sieht § 78 S. 1 BVerfGG für Gesetze, die gegen die Verfassung verstoßen, die Feststellung der Nichtigkeit als Tenorierungsmöglichkeit vor 3 4 . Das Bundesverfassungsgericht stellt demnach die Nichtigkeit des überprüften Rechtssatzes im Normenkontrollverfahren lediglich fest. Einer Entscheidung kommt grundsätzlich keine GestaltungsWirkung zu 3 5 . Die kollidierende unterverfassungsrechtliche Norm ist von selbst und von Anfang an nichtig. Gleiches gilt für maßstabsnormwidriges untergesetzliches Recht, also Rechtsverordnungen und Satzungen36. Die Vorrangregel entfaltet ihre Wirkung nicht nur für den Bereich sachlich-inhaltlich gegenläufiger Rechtsnormen, also für die Fälle paralleler Anwendbarkeit, sondern sie gilt auch für das formelle Zustandekommen eines Rechtssatzes37. Erläßt beispielsweise der Bund ein Gesetz, für das er weder eine geschriebene Gesetzgebungskompetenz nach Art. 70 ff. GG noch eine ungeschriebene Kompetenz kraft Sachzusammenhangs oder Natur der Sache besitzt, verstößt das Gesetz gegen das grundsätzlich den Ländern zustehende Gesetzgebungsrecht aus Art. 70 GG. Ein formell nicht mit höherrangigem Recht vereinbarer Rechtssatz kann nach dem Prinzip des Normvorranges keine Wirksamkeit entfalten. Zusammenfassend ist daher festzuhalten: Grundsätzlich führt ein Konflikt zwischen Normen unterschiedlichen Ranges zur Nichtigkeit der rangniede32
Stem, in: Bonner Kommentar, Art. 93 Rdnr. 270; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rdnr. 344. 33 Stem, in: Bonner Kommentar, Art. 93 Rdnr. 271; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rdnr. 344. 34 Stern, in: Bonner Kommentar, Art. 93 Rdnr. 271. 35 Ausnahmsweise kann eine verfassungswidrige und damit nichtige Norm durch Anordnung des Bundesverfassungsgerichtes vorübergehend weitere Anwendung finden. Diese Durchbrechung der ipso iure-Nichtigkeit ist aber nur unter engen Voraussetzungen zulässig, dann allerdings auch verfassungsrechtlich geboten. Dazu ausführlich Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im Öffentlichen Recht, S. 435ff.; Hartmann, DVB1. 1997, 1264 (1266ff.). 36 BVerfGE 91, 148 (175). Zu den Ausnahmen auch Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, § 47 Rdnr. 91 f. 37 Mayer/Kopp, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 104f.; Schwacke, Juristische Methodik, S. 8.
II. Systematische Einordnung der Normkonkurrenz
25
ren Norm. Wenn der lex superior-Satz als Kollisionsregel Anwendung finden soll, so ist er jedenfalls für den Geltungsbereich des Grundgesetzes als Gültigkeits- und nicht als Anwendbarkeitsregel zu verstehen.
b) Kollision gleichrangiger Normen unterschiedlichen
Alters
Von weitaus geringerer Bedeutung als die Konfliktfälle von höher- und niederrangigem Recht sind in der praktischen Gesetzesanwendung Kollisionen zwischen älteren und jüngeren Rechtssätzen. Aus methodischer Sicht handelt es sich aber um eine parallele Situation, so daß der Vollständigkeit halber darauf eingegangen werden soll. Tritt durch einen formellen Gesetzgebungsakt eine neue gesetzliche Regelung in Kraft, die hinsichtlich der betroffenen Sachverhalte zu einer bestehenden gleichrangigen älteren Norm in Widerspruch steht, ist der Grundsatz von der Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung verletzt. Der Normkonflikt muß behoben werden. Dazu stehen zwei Verfahrensweisen zur Verfügung. Die erste Variante ist die Konfliktbereinigung durch sog. formelle Derogation 38 . In diesen Fällen bestimmt der Gesetzgeber in den neu zu erlassenden Gesetzen selbst, welche älteren Normen außer Kraft gesetzt werden. Fehlt eine solche ausdrückliche Bestimmung, gilt der Satz vom Vorrang des jüngeren Rechts vor dem älteren, „lex posterior derogat legi priori". Es handelt sich dann um einen Fall materieller Derogation. Diese - weitgehend anerkannte - Vorrangregel zugunsten des jüngeren Gesetzes besitzt aber keinen axiomatischen Charakter 39 . Sie muß vielmehr im Einzelfall mit Hilfe teleologischer Auslegung aus dem jüngeren Gesetz herausgelesen werden. Der Gesetzgeber verfolgt mit dem Erlaß der neuen Regelung den Zweck, für bestimmte Sachverhalte die Rechtslage neu festzulegen. Da auch im Gesetzgebungsverfahren der Grundsatz von der Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung zu beachten ist, ist davon auszugehen, daß mit der Neuregelungsabsicht grundsätzlich die Aufhebungsabsicht bezüglich anderslautender (älterer) Rechtssätze einhergeht 40 . Die ältere Norm muß deshalb ihre Wirksamkeit, d. h. ihre Gültigkeit, verlieren. 38
Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 572. In älteren Rechtsordnungen galt die Regel, daß nicht die jüngere Norm die ältere brach, sondern „das gute alte Recht" sich durchsetzte. Diese Vorstellung basierte auf der Annahme, daß Recht nicht geschaffen, sondern nur aufgefunden werden mußte. Neu erschaffenes Recht mußte folglich mit altem Recht in Einklang stehen, um Geltung beanspruchen zu können. Siehe dazu ausführlich Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 573; Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 211. 40 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 572; Schwacke, Juristische Methodik, S. 10; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 37. 39
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Β. Die Konkurrenz von Rechtsnormen aus methodischer Sicht
Mit diesem - quasi - antizipierten Auslegungsergebnis ist jedoch nur eine Vermutungsregel aufgestellt. Es ist u. U. möglich, daß nach Sinn und Zweck der Neuregelung keine Vernichtung, sondern lediglich ein Anwendungsvorrang der jüngeren Norm gewollt ist. Zeigt sich beispielsweise beim Vergleich der Tatbestände, daß die jüngere Regelung nur einen Teilbereich der älteren abdeckt, ändert sich an der Gültigkeit der älteren Regelung jedenfalls dann nichts, wenn die Auslegung ergibt, daß der Gesetzgeber die Rechtslage nur in diesem Teilbereich abweichend gestalten w i l l 4 1 . Zwar muß nach dem Grundsatz der Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung die ältere Norm im Überschneidungsbereich vollständig hinter die jüngere Norm zurücktreten. Ansonsten bleibt die ältere Norm jedoch anwendbar. Der lex posterior-Satz wird gewissermaßen durch die lex specialis-Regel überlagert. Gleiches gilt auch im umgekehrten Fall, wenn die ältere Regelung zugleich die spezielleren Voraussetzungen besitzt. In dieser Konstellation ist davon auszugehen, daß der Gesetzgeber die Sonderfallregelung beibehalten, generell jedoch eine abweichende Regelung treffen wollte. Folglich bleiben beide Normen geltendes Recht. Anwendbar ist jedoch nur die ältere Regelung. Aber diese Folge ist nicht zwingend. Immer dann, wenn sich aus dem jüngeren Gesetz ergibt, daß der Gesetzgeber eine umfassende Neuregelung vornehmen will, spielt das Spezialitätverhältnis keine Rolle 4 2 . In diesem Fall bleibt es bei der geltungsvernichtenden Wirkung der jüngeren Norm. Die dargestellten Varianten machen deutlich, daß die Frage, welche Norm im Kollisionsfall die Rechtsfolge bestimmen soll, letztendlich nur durch eine umfassende Auslegung der entsprechenden Rechtssätze zu beantworten ist 4 3 . Grundsätzlich ist jedoch davon auszugehen, daß die ältere Norm im Kollisionsfall ihre Rechtgültigkeit und Wirksamkeit verliert.
4. Normkonkurrenzen a) Entstehung von Normkonkurrenzen Sind gleichrangige Rechtsnormen auf ein und denselben Sachverhalt tatbestandlich anwendbar, handelt es sich um eine Normkonkurrenz. Dieser Begriff hat sich im Laufe der Zeit durchgesetzt und wird in dieser Bedeutung mittlerweile nahezu einheitlich verwendet 44 . Nur vereinzelt werden 41
Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 37. Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 37. 43 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 573; Schwacke, Juristische Methodik, S. 10; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 37. 44 Schwacke, Juristische Methodik, S. 11; Schmalz, Methodenlehre für das juristische Studium, Rdnr. 70ff.; Koller, Theorie des Rechts, S. 176; Vogel, Juristische 42
II. Systematische Einordnung der Normkonkurrenz
27
auch andere Normkonflikte als Konkurrenz bezeichnet 45 . Freilich geht damit ein Stück systematischer und terminologischer Klarheit verloren. Um Mißverständnisse zu vermeiden, ist es deshalb sinnvoll, den Begriff nur im engeren Sinne zu verwenden. Eine solche engere Begriffsfassung entspricht zudem auch der Bedeutung des ursprünglichen lateinischen Wortes concurrere = zusammenlaufen, zusammentreffen. Auch im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch wird das Wort Konkurrenz zumeist im Sinne von miteinander wetteifern und damit zur Beschreibung eines Nebeneinander in gleicher Zielrichtung gebraucht 46 . Alle anderen Normkonflikte sind treffender als Kollisionen zu bezeichnen. b) Folgen einer Normkonkurrenz Die Feststellung, wann Rechtsnormen miteinander konkurrieren, ist in der Regel unproblematisch. Schwierigkeiten bereitet allein die Frage, wann und nach welchen Regeln eine Normkonkurrenz aufzulösen ist. Die - unter Umständen notwendige - Auflösung der Konkurrenz zugunsten einer Norm beantwortet letztendlich die Frage nach der Anwendbarkeit der konkurrierenden Rechtssätze. Rechtsnormen mit demselben hierarchischen Rang besitzen nicht die Fähigkeit, einander aufzuheben. Weicht die verdrängte Norm einer anderen, behält sie ihre Gültigkeit, sie verliert aber die Bedeutung für den konkreten Fall. Der entscheidungsbedürftige Rechtskonflikt wird allein nach der Rechtsfolge der anwendbaren Norm gelöst. Fraglich ist allerdings, ob diese zunächst zwingend erscheinende Folge auch ausnahmslos für alle in Betracht kommenden Konkurrenzsituationen gilt. Es könnte durchaus sein, daß unter Umständen die verdrängte Norm trotz Unanwendbarkeit weiterhin eine geringe Restwirkung entfaltet, die in der Einzelfallentscheidung zu berücksichtigen wäre. Diese und weitere Fragen konkurrenzauflösender Regeln sind im weiteren zu erörtern.
Methodik, S. 58; Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 81; Röhl, Allgemeine Rechtstheorie, S. 614. 45 Teilweise werden unter Verzicht auf das Kriterium der Gleichrangigkeit auch die Konflikte zwischen höher- und niederrangiger Norm sowie älterer und jüngerer Norm als Konkurrenz bezeichnet; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 87f.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 33; Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 86. 46 Müller (Hrsg.), Duden Bedeutungswörterbuch, Stichwort „Konkurrenz".
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Β. Die Konkurrenz von Rechtsnormen aus methodischer Sicht
III. Methodische Behandlung von Konkurrenzsituationen 1. Nichtauflösungsbedürftige Konkurrenzen a) Kumulative Konkurrenz In vielen Fällen bedarf das Zusammentreffen mehrerer Normen zur rechtlichen Bewertung eines Sachverhaltes keiner besonderen Beachtung. Immer dann, wenn Rechtssätze gänzlich unterschiedliche Bereiche normieren, stehen die Rechtsfolgen eigenständig nebeneinander. Die vorsätzliche Beschädigung einer in fremdem Eigentum stehenden Sache zieht zum einen einen Schadensersatzanspruch nach den §§ 823 ff. BGB und zum anderen eine Sanktion gem. § 303 StGB nach sich. Die Tatbestände der Normen werden durch den gleichen Lebenssachverhalt aktualisiert. Die jeweiligen Rechtsfolgen stehen jedoch in keinerlei Zusammenhang 47 . Eine Verdrängung findet nicht statt. Bei staatshaftungsrechtlichen Sachverhalten tritt regelmäßig die Situation auf, daß verschiedene Anspuchsgrundlagen mit abweichenden Anspruchsinhalten parallel tatbestandlich einschlägig sind. Ist durch ein rechtswidriges Verwaltungshandeln sowohl ein Schaden entstanden als auch ein rechtswidriger Zustand geschaffen worden, kann der Verletzte Schadensersatz aus Amtshaftung und Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes aufgrund eines Folgenbeseitigungsanspruchs verlangen. Die Rechtsfolgen schließen sich nicht gegenseitig aus 48 . Im allgemeinen wird die Situation der parallelen Anwendbarkeit rechtsfolgenverträglicher Normen als kumulative Konkurrenz bezeichnet 49 . Allerdings kann dieser Ausdruck zu Mißverständnissen führen. Der Begriff kumulativ wird in der Rechtssprache im Sinne von gehäuft, aber auch im Sinne von (sich gegenseitig) verstärkend gebraucht. Die letztere Bedeutung ist hier gerade nicht gemeint. Die Rechtsfolgen der Normen beeinflussen sich nicht, sondern gelten selbständig und unabhängig voneinander. 47
Außerhalb der Konkurrenzproblematik gibt es durchaus Verknüpfungen. Durch die Einfügung des § 46 a StGB soll nach dem Willen des Gesetzgebers die pönale Wirkung einer zivilrechtlichen Leistung bei der Strafzumessung unter bestimmten Voraussetzungen berücksichtigt werden. Vgl. zur Diskussion über den Täter-OpferAusgleich und die Mechanismen der Verhaltenskontrolle durch Straf- und Zivilrecht, Jahn, Rechtstheorie 1996, 65 ff. 48 Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 332. Siehe auch Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht, § 9 Rdnr. 13, die allerdings zu Unrecht bereits das Vorliegen einer Konkurrenzlage verneinen. 49 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 90; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 34; Kerschner, Wissenschaftliche Arbeitstechnik und -methodik für Juristen, S. 35; Koller, Theorie des Rechts, S. 176.
III. Methodische Behandlung von Konkurrenzsituationen
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Kumulative Normenkonkurrenz ist in aller Regel auch dann anzunehmen, wenn die Rechtsfolgen der beteiligten Normen identisch sind 5 0 . Beispiele hierfür finden sich vor allem im Zivilrecht. Ein Schadensersatzanspruch für die Beschädigung eines Fahrzeuges bei einem Verkehrsunfall kann auf die deliktischen Anspruchsgrundlagen der §§ 823 ff. BGB gestützt werden. Daneben gewähren dem Geschädigten aber auch § 7 Abs. 1 StVG und § 18 Abs. 1 StVG Ersatz des entstandenen Schadens. Sind alle Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt, sind diese Vorschriften nebeneinander anzuwenden. Nach der Theorie von der Anspruchsgrundlagenkonkurrenz entsteht in diesen Fällen ein einheitlicher Anspruch, der lediglich auf unterschiedliche Anspruchsnormen gestützt werden kann 51 .
b) Alternative
Konkurrenz?
Als weitere Variante einer nichtauflösungsbedürftigen Normenkonkurrenz wird in der Literatur die sog. alternative oder elektive Konkurrenz aufgeführt 52 . Eine solche Konkurrenzsituation soll dann vorliegen, wenn das Gesetz dem Berechtigten zwar mehrere Rechtsfolgen zur Verfügung stellt, der Normadressat aber nur wahlweise die eine oder die andere Rechtsfolge geltend machen kann 5 3 . Als Beispiel wird etwa das Verhältnis zwischen den Alternativen des § 462 BGB oder das Verhältnis zwischen § 462 BGB und § 463 BGB genannt 54 . Nach diesen Vorschriften kann der Käufer - bei Vorliegen der Vorausetzungen - entweder Rückgängigmachung des Kaufes (Wandelung) oder Herabsetzung des Kaufpreises (Minderung) verlangen oder - wiederum unter besonderen Voraussetzungen - wahlweise Schadensersatz fordern. Eine Normkonkurrenz liegt in diesen Fällen aber bereits deshalb nicht vor, weil es an einer Mehrheit von Normen fehlt. Diese Aussage mag ver50
Schmalz, Methodenlehre für das juristische Studium, Rdnr. 91, 71; Koller, Theorie des Rechts, S. 179. 51 Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 18 Rdnr. 35; Georgiades, Die Anspruchskonkurrenz im Zivilrecht und Zivilprozeßrecht, S. 142 ff., 167 ff. Nach a.A. konkurrieren nicht nur die einzelnen Normen sondern auch die daraus resultierenden Ansprüche miteinander. So vor allem Arens, AcP 170 (1970), 392 (400); Baumann, AcP 187 (1987), 511 (539 f.). Zum Streitstand siehe Kramer, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 241 Rdnr. 25 ff. 52 Kerschner, Wissenschaftliche Arbeitstechnik und -methodik für Juristen, S. 35; Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 18 Rdnr. 24. 53 Kramer, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 241 Rdnr. 23. Koller, Theorie des Rechts, S. 177 versteht unter alternativer Konkurrenz das parallele Vorliegen von Normen mit sich widersprechenden Rechtsfolgen. 54 Kramer, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 241 Rdnr. 23, § 262 Rdnr. 13; Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 18 Rdnr. 25.
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Β. Die Konkurrenz von Rechtsnormen aus methodischer Sicht
wundern, läßt sich doch eine Vorschrift wie § 462 BGB scheinbar durchaus in zwei Einzelnormen zerlegen. Aufbautechnisch bestünden diese Normen dann aus zwei identischen Tatbeständen und jeweils unterschiedlichen Rechtsfolgen. Der Gesetzgeber als Normkonstrukteur hat aus Vereinfachungsgründen häufig von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, Normteile vor die Klammer zu ziehen. In vielen Vorschriften werden mehrere Einzeltatbestände als Tatbestandsvarianten zu einem Tatbestand zusammengefaßt und der Gesamttatbestand einer einheitlichen Rechtsfolge zugeordnet: „Aus Tatbestand X und/oder Tatbestand Y resultiert Rechtsfolge Z". Diese normtechnische Variante, die sich als Tatbestandsalternativität bezeichnen läßt, ist jedoch von der Rechtsfolgenalternativität grundlegend zu unterscheiden. Bei einer normtechnischen „Entweder-oder-Verknüpfung" auf der Rechtsfolgenseite ist eine Trennung in Einzelnormen unmöglich. Die Definition der Rechtsnorm erfordert, daß eine verbindliche Aussage über gebotenes oder verbotenes Verhalten getroffen wird. Es muß eine Rechtsregei aufgestellt werden. Mit der Verbindung eines Tatbestandes mit zwei alternativen Rechtsfolgen wird jedoch gerade keine rechtsverbindliche Regelung getroffen, da eine der beiden Rechtsfolgen nur dann eingreift, wenn die andere, alternative Rechtsfolge ausgeschlossen ist. Nur aus der Zusammenschau der Rechtsfolgen läßt sich ableiten, welche Verhaltensanordnung getroffen oder welche Rechte bzw. Ansprüche gewährt werden. Es liegt deshalb nur eine einzige - wenn auch eine alternativ ausgestaltete - Norm vor. Eine Normkonkurrenz ist deshalb bereits logisch ausgeschlossen. Im übrigen ist es auch unzutreffend, in diesen Fällen von einer Rechtsfolgen· oder Anspruchskonkurrenz zu sprechen. Eine auf Rechtsfolgenseite alternativ ausgestaltete Rechtsnorm hat die Fähigkeit, zwei oder mehrere unterschiedliche Rechtsfolgen zu erzeugen. Allerdings kann zwischen diesen Rechtsfolgen (Ansprüchen) niemals ein Konkurrenzverhältnis bestehen. Der Konditionalzusammenhang zwischen Tatbestand und der Rechtsfolge A steht unter der Bedingung, daß Rechtsfolge Β nicht eintritt und umgekehrt. Mit anderen Worten: Die Verwirklichung des Tatbestandes führt nicht automatisch zum Eintritt beider Rechtsfolgen. Es entsteht zunächst ein Recht anderer Art, ein Wahlrecht des Normadressaten, das ihm die Möglichkeit einräumt, durch einfache Erklärung die eine oder andere Rechtsfolge eintreten zu lassen (ius variandi). Erst die Entscheidung des Normberechtigten bringt also das in der bevorzugten Rechtsfolge niedergelegte Recht zur Entstehung 55 . So auch im Fall des § 462 BGB. Die Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen gewähren dem Käufer das Recht, zwischen Wandelung und Minderung zu wählen. Durch die Erklä55
Anders wohl Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 18 Rdnr. 24: Der Berechtigte habe zunächst beide Rechte, er könne jedoch endgültig nur den einen oder den anderen Anspruch geltend machen.
III. Methodische Behandlung von Konkurrenzsituationen
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rung gegenüber dem Vertragspartner gelangt der gewählte Anspruch zur Entstehung. Eine Konkurrenz von Minderungs- und Wandlungsanspruch ist hingegen ausgeschlossen56.
2. Auflösungsbedürftige Konkurrenzen Die kumulative Konkurrenz als nichtauflösungsbedürftige Konkurrenz stellt zwar den Regelfall in der Rechtsanwendungspraxis dar, sie ist aber völlig unproblematisch und deshalb für den weiteren Gang der Untersuchung nicht von Interesse. Vielmehr ist die Frage zu beantworten, welche dogmatischen Überlegungen dazu führen, daß Normen nicht nebeneinander auf einen Rechtsfall Anwendung finden können. Es ist also nach den Gründen für die Auflösungsbedürftigkeit einer Konkurrenzlage zu suchen. Ist diese Frage beantwortet, ist anschließend zu klären, auf welche Art und Weise, d. h. nach welchen Regeln Konkurrenzsituationen aufzulösen sind. a) Gründe für die Auflösung von Normkonkurrenzen aa) Der Satz von der Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung Die Komplexität und die Vielfältigkeit der Regelungsbereiche einer Rechtsordnung führt nicht selten zu gegenläufigen Aussagen und Wertungen. Widersprüche in einem Rechtssystem können in unterschiedlichsten Formen auftreten. Zu gesetzestechnischen Widersprüchen kommt es etwa dann, wenn Begriffe und Bezeichnungen in Gesetzestexten unterschiedlich verwendet werden 57 . Es handelt sich um rein terminologische Widersprüche, die durch wechselnden Sprachgebrauch hervorgerufen werden können. Als Normwidersprüche werden diejenigen Fälle bezeichnet, in denen unterschiedliche Normen Rechtsfolgen festlegen, die miteinander unvereinbar sind 5 8 . Sie treten dann auf, wenn ein Verhalten durch gesetzliche Rege56
Alternative Rechtsfolgeregelungen sind nicht nur im Zivilrecht anzutreffen. Im öffentlichen Recht findet sich etwa mit den polizeirechtlichen Ermessensnormen eine spezielle Unterart der alternativ ausgestalteten Normen. Wird einer Behörde durch eine solche Norm ein Auswahlermessen hinsichtlich der zu setzenden Rechtsfolge eingeräumt, entsteht selbstverständlich kein Konkurrenzverhältnis zwischen den möglichen, ermessensfehlerfreien Rechtsfolgen, obwohl auch hier alternativ mehrere Möglichkeiten auf der Rechtsfolgenseite zur Verfügung stehen. Es tritt nur die Rechtsfolge ein, die von der auswählenden Behörde gewollt ist. Gleiches gilt für das Strafrecht. Bestimmt eine Strafnorm, daß die Tat „... mit Freiheitsstrafe ... oder mit Geldstrafe bestraft . . w i r d , trifft das Gesetz auch hier eine einheitliche Regelung, die dem normanwendenden Gericht die Wahl zwischen unterschiedlichen Rechtsfolgen läßt. 57 Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 209.
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Β. Die Konkurrenz von Rechtsnormen aus methodischer Sicht
lungen einerseits geboten und andererseits verboten wird. Im Grunde sind die Normwidersprüche damit die echten Rechtswidersprüche. Zu einer weiteren Gruppe werden die sogenannten Wertungswidersprüche zusammengefaßt. Hier entsteht der Widerspruch durch die unterschiedliche normative Bewertung wertungsmäßig gleichliegender Tatbestände59. Der Gesetzgeber bleibt in diesem Fall einer von ihm selbst getroffenen Wertung nicht treu, ohne daß dabei ein echter Normwiderspruch entsteht 60 . Die Brauchbarkeit dieser herkömmlichen Unterteilung der Rechtswidersprüche wird jedoch zur Recht in Zweifel gezogen 61 . Die früher herrschende Auffassung, Normwidersprüche müßten in jedem Fall aufgelöst fO werden, Wertungswidersprüche hingegen nie , vermag angesichts der Ergebnisse neuerer Untersuchungen nicht mehr zu überzeugen. So sind Fallgestaltungen denkbar, in denen zwar ein echter Normkonflikt besteht, die Normadressaten aber dennoch in der Lage sind, die Rechtsfolgen ihres Handelns abzusehen und ihre Handlungen so auszurichten, daß die Rechtswidrigkeit vermieden wird 6 3 . Ansatzpunkt der nachfolgenden Überlegungen bilden daher nur diejenigen Normwidersprüche, die für die Normunterworfenen unvermeidbar sind. Legen konkurrierende Rechtssätze für einen Anwendungsfall widersprüchliche Rechtsfolgen fest, ergibt sich der Zwang zur Auflösung der Konkurrenz schon aus der Funktion der Normen als Sollensurteile. Der Normadressat muß eine eindeutige Auskunft darüber erhalten, was in der konkreten Situation Recht sein soll. Es ist a priori einsichtig, daß eine Rechtsordnung nicht gleichzeitig konträre Rechtsfolgen beinhalten darf 6 4 . Bestimmt Rechtssatz A, daß ein gewisses Verhalten untersagt ist, und verlangt Rechtssatz Β vom selben Normadressaten genau dieses Verhalten, ist der Verstoß gegen eine dieser Normen zwangsläufig. Regelungen, die sich auf diese Weise widersprechen, sind deshalb nicht in der Lage, eine Verhaltensanordnung zu treffen, der durch menschliches Verhalten entsprochen 58
Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 209ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 155; Vogel, Juristische Methodik, S. 60f. 59 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 155. 60 Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 212. 61 Insbesondere Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 243 f. 62 So Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 63; ders., Einführung in das juristische Denken, S. 213; Jarass, VVDStRL 50 (1991), 341. Anders Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 125, der einen Lösungsansatz für Wertungswidersprüche unter Zuhilfenahme des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes entwickelt. 63 Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 244; zur Diskussion insgesamt auch Wiederin, Rechtstheorie 21 (1990), 311 (237 f.). 64 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 87; Vogel, Juristische Methodik, S. 60.
III. Methodische Behandlung von Konkurrenzsituationen
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werden kann 6 5 . Das Recht an sich strebt immer zur Widerspruchsfreiheit. Genügen Rechtssätze diesem Postulat nicht, wird teilweise bezweifelt, ob es sich bei den widersprüchlichen Vorschriften überhaupt um Recht bzw. Rechtsnormen handelt 66 . Bei Zugrundelegung des oben entwickelten Rechtsnormbegriffes sind zwar auch solche Verhaltensanordnungen Rechtsnormen. Aufgrund des Widerspruches müssen sie jedoch für ungültig 6 7 , mindestens jedoch für unanwendbar erachtet werden 68 , wenn der Konflikt nicht anderweitig gelöst werden kann. Die entstandene Lücke in der Rechtsordnung muß in der Fallentscheidung unter Zuhilfenahme allgemeiner Grundsätze geschlossen werden 69 . Dieses Ergebnis ist jedoch unter dem Blickwinkel der Rechtssicherheit äußerst unerwünscht. Normen würden ihre Regelungsaufgabe vollkommen verfehlen, wenn sie widersprüchlich aufeinander treffen. Der Jurisprudenz kommt deshalb die Aufgabe zu, Regeln zu entwickeln, die der Harmonisierung der Normen und damit der Vermeidung von Antinomien zwischen ihnen dienen. Der Satz vom ausgeschlossenen (Norm-)Widerspruch gilt für die Rechtsanwendung auf allen Rechtsgebieten gleichermaßen. Immer dann, wenn Normen widersprüchliche Aussagen darüber treffen, welches Verhalten im Einzelfall richtig oder falsch, geboten oder verboten ist, muß der Widerspruch gelöst werden. Die Bedeutung dieser Schlußfolgerung für die Behandlung von Konkurrenzlagen liegt auf der Hand. Sind Rechtssätze grundsätzlich nebeneinander anwendbar, stehen aber ihre Rechtsfolgen im Widerspruch zueinander, ist die Auflösung der Konkurrenz unbedingt erforderlich. bb) Spezifische Auflösungsgründe Neben dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch als allgemeingültigem, normtheoretischem Grund können spezifische materiellrechtliche Überlegungen dazu zwingen, Konkurrenzsituationen zugunsten einer Norm aufzulösen. Ein anschauliches Beispiel ist die Begründung der Strafrechtsdogmatik für die sog. Gesetzeskonkurrenz strafrechtlicher Normen. Erfüllt ein Straftäter die Voraussetzungen mehrerer Straftatbestände, kann die Aus65
Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 463 f. So etwa Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 464. 67 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 464f.; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 122f.; Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 212. 68 Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 37. 69 Kerschner, Wissenschaftliche Arbeitstechnik und -methodik für Juristen, S. 37; Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 212; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 122. 66
3 Heß
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Β. Die Konkurrenz von Rechtsnormen aus methodischer Sicht
legung dieser Normen ergeben, daß die Strafandrohung letztendlich doch nur aus einem Straftatbestand zu entnehmen ist 7 0 . Dies ist dann der Fall, wenn der Unrechtsgehalt der Tat bereits durch einen der einschlägigen Straftatbestände vollständig abgegolten wird und eine parallele Anwendung zu einer doppelten Bewertung nur einmal vorhandenen Unrechts führen würde 71 . Dem Täter soll also bei der Feststellung des Schuldgehaltes im Urteilstenor nicht angelastet werden, daß gerade seine Tat aufgrund einer starken Differenzierung innerhalb des Gesetzes unter mehrere, in einem Spezialitäts- oder Subsidiaritätsverhältnis stehende Tatbestände subsumierbar ist. Einige Rechtsgüter werden durch mehrere Strafgesetze geschützt, andere nur durch einen einzigen Tatbestand. Aus Wertungsgründen wird deshalb die Verletzung eines Rechtsgutes auch nur durch die Nennung eines Tatbestandes im Tenor abgegolten. Im Grunde dient die Verdrängung von Strafnormen im Wege der Gesetzeskonkurrenz also der Vermeidung von wertungsmäßigen Widersprüchen bei der Feststellung des Tatunrechts. Die Begründung für die strafrechtliche Gesetzeskonkurrenz wurzelt demnach auch im Grundsatz von der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung.
cc) Weitere, normlogische Auflösungsgründe? Nach teilweise vertretener Auffassung soll sich der Grund zur Auflösung von Konkurrenzlagen zudem unmittelbar aus dem normlogischen Verhältnis von genereller und spezieller Norm ergeben 72 . Immer dann, wenn sich Normen in einem Verhältnis von lex specialis und lex generalis gegenüber stehen, müsse der speziellen Norm der Vorrang zukommen. Sonst sei das Risiko gegeben, daß die spezielle Norm überhaupt nicht zur Anwendung komme 7 3 . (1) Spezialitätsbegriff
- normlogische Spezialität
Die Verifizierung dieser These setzt zunächst eine Erläuterung der Begrifflichkeiten voraus. Der Begriff der Spezialität bezeichnet im allge70
Samson, in: Systematischer Kommentar, Vor § 52 Rdnr. 79; Lackner, Strafgesetzbuch, Vor § 52 Rdnr. 24. 71 Tröndle, Strafgesetzbuch, Vor § 52 Rdnr. 17; Samson, in: Systematischer Kommentar, Vor § 52 Rdnr. 79. Insofern ist die Bezeichnung Gesetzeseinheit statt Gesetzeskonkurrenz genauer. 72 Dietz, Anspruchskonkurrenz bei Vertragsverletzung und Delikt, S. 21 f., 58ff.; Schmalz, Methodenlehre für das juristische Studium, Rdnr. 78; Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 83; für den Fall widersprüchlicher Normaussagen auch Larenz/ Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 88. 73 Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 80f., 83.
III. Methodische Behandlung von Konkurrenzsituationen
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meinen juristischen Sprachgebrauch zunächst ein besonderes normtechnisches Verhältnis zwischen den Tatbeständen zweier Rechtsnormen. Danach ist eine Norm immer dann speziell, wenn sie alle Tatbestandsmerkmale einer anderen Norm und zusätzlich zumindest ein weiteres Tatbestandsmerkmal aufweist 74 . Das hinzutretende Tatbestandsmerkmal führt zu einer Begrenzung des Anwendungsbereiches, so daß alle von der speziellen Norm erfaßten Sachverhalte auch in den Regelungsbereich der allgemeinen Norm fallen 75 . Zur Verdeutlichung bietet sich das Bild zweier sich vollständig überlagernder Kreise mit unterschiedlichen Radien an 7 6 . Der äußere, größere Kreis umschließt den inneren, kleineren Kreis vollständig. Häufig überdecken sich jedoch enger und weiter Tatbestand nur unvollständig. Die beteiligten Normen besitzen dann neben dem Überdeckungsbereich jeweils noch ein eigenständiges Anwendungsfeld. Diese Fälle tatbestandlicher Überschneidung sind von denen der normlogischen Spezialiät grundsätzlich zu unterscheiden 77. Dennoch kann auch in derartigen Normverhältnissen unter bestimmten Voraussetzungen ein Anwendungsvorrang einer der an sich parallel anwendbaren Normen begründet sein. Wenn diese vorrangig anwendbare Norm - wie im Grundrechtsbereich üblich - ebenfalls als Spezialnorm bezeichnet wird 7 8 , ist dies für die Problembewältigung nicht unbedingt förderlich 79 . Dennoch hat sich der Begriff weitgehend durchgesetzt. Um begriffliche Verwirrungen zu vermeiden, bietet es sich jedoch an, dieses zweite Spezialitätskonzept in Abgrenzung zur echten normlogischen Spezialität als Spezialität kraft erschöpfender Sonderregelung 8 0 oder treffender als normative Spezialität zu bezeichnen. 74
Dietz, Anspruchskonkurrenz bei Vertragsverletzung und Delikt, S. 23; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 465; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 35; Vogel, Juristische Methodik, S. 63; Schmalz, Methodenlehre für das juristische Studium, Rdnr. 80. 75 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 82. 76 Beispiele bei Schmalz, Methodenlehre für das juristische Studium, Rdnr. 80; Schwacke, Juristische Methodik, S. 12; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 35. 77 Grundlegend Dietz, Anspruchskonkurrenz bei Vertragsverletzung und Delikt, S. 41; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 89; vgl. auch Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 18 Rdnr. 22; Baumann, AcP 187 (1987), 511 (539). 78 So überdecken sich Religions- und Versammlungsfreiheit nur in einem Teilbereich. Dennoch wird Art. 4 Abs. 1, 2 GG in diesem Verhältnis als spezielle Norm angesehen, Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 5; Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 8 Rdnr. 76. 79 Diesen terminologischen Mißstand beklagt schon Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 332. 80 So der Vorschlag von Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 297f.; ähnlich bereits Dietz, Anspruchskonkurrenz bei Vertragsverletzung und Delikt, S. 62: Subsidiarität infolge erschöpfender Regelung. 3*
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Β. Die Konkurrenz von Rechtsnormen aus methodischer Sicht
(2) Keine Verdrängung
kraft Normlogik
Im folgenden ist zu klären, ob im Fall der normlogischen Spezialität bereits aus dem besonderen Verhältnis der Normen zueinander der Zwang zur Auflösung der Konkurrenz zugunsten der speziellen Norm folgt. Der Gesetzgeber trifft eine normlogisch spezielle Regelung in der Regel dann, wenn besondere Sachverhaltskonstellationen zwar unter den Tatbestand einer Norm subsumierbar sind, die Rechtsfolge dieser Norm jedoch nicht eingreifen soll. In diesem Fall wird zur Regelung dieser besonderen Situation eine Sondervorschrift eingefügt. Die spezielle Norm dient als Ausnahmevorschrift. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis impliziert aber nicht, daß die spezielle Norm in ihrem Anwendungsbereich dem allgemeinen Rechtssatz auch notwendigerweise vorgeht. Es sind Fälle denkbar, in denen trotz normlogischer Spezialität die allgemeine Norm nur in einem Teilbereich durch die spezielle Norm verdrängt werden soll. Dies ist in der Regel dann anzunehmen, wenn die allgemeine Norm auf der Rechtsfolgenseite kumulativ mehrere Rechtswirkungen anordnet und die Auslegung ergibt, daß die spezielle Norm nur eine dieser Regelungen ersetzen soll. Dann sind die über diese Regelung hinausgehenden Anordnungen der allgemeinen Norm zusätzlich anzuwenden. So etwa, wenn die allgemeine Norm bestimmte Nebenfolgen regelt (z.B. strafrechtliche Maßnahmen der Besserung und Sicherung), die in der speziellen Vorschrift fehlen, aber mit dieser verträglich sind 8 1 . Eine Verdrängung kommt auch dann nicht in Betracht, wenn lex specialis und lex generalis eine gleichlautende Rechtsfolge anordnen. Dies läßt sich an einem Beispiel aus dem Zivilrecht verdeutlichen. Zwei Rechtsnormen, wie sie tatsächlich sinngemäß dem BGB zugrunde liegen, sollen lauten: (1) Verträge bedürfen keiner Form, sondern sind auch mündlich möglich. (2) Kaufverträge bedürfen keiner Form, sondern sind auch mündlich möglich. Ein Rechtsfall, der die Frage nach der Gültigkeit eines mündlich geschlossenen Kfz-Kaufvertrages zum Inhalt hat, kann nun unter Anwendung der Norm (1) oder der Norm (2) gelöst werden, ohne daß sich durch die Anwendung der Normen ein Widerspruch ergäbe. Jede Subsumtion führt für sich zur eindeutigen Feststellung, daß der fragliche Vertrag insofern wirksam zustande gekommen ist. Folglich besteht nach dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch kein Grund, einer der beiden Normen den Anwendungsvorrang einzuräumen. Darüber hinaus ist auch nichts dafür ersichtlich, warum es die Logik verlangen solle, daß die allgemeinere der 81
Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 35; Vogel, Juristische Methodik, S. 63.
III. Methodische Behandlung von Konkurrenzsituationen
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beiden Normen durch die spezielle verdrängt wird 8 2 . Beide Rechtssätze sind geltendes Recht und damit für die Rechtsfindung anwendbar. Zwar besteht im dargestellten Fall der Regelungsgehalt der spezielleren Norm lediglich in einer schlichten Wiederholung des allgemeinen Rechtssatzes. Dennoch ist die enger gefaßte Norm nicht sinnlos oder überflüssig. Insbesondere bei generalklauselartigen Rechtsnormen wie beispielsweise § 9 Abs. 1 AGBG dient die beispielhafte Formulierung der konkreteren Norm, etwa § 9 Abs. 2 AGBG, der Klarstellung und inhaltlichen Konkretisierung 8 3 . Es findet also keine Einschränkung des Anwendungsbereiches der allgemeinen Norm durch die konkretere statt, sondern eine Ergänzung bzw. Ausgestaltung. Damit steht fest, daß allein die Feststellung eines normlogischen Spezialitätsverhältnisses noch keine Aussage darüber erlaubt, ob im konkreten Anwendungsfall die spezielle Norm die generelle Norm verdrängt. Die Frage der Derogation ist vielmehr durch eine Analyse des Verhältnisses der konkurrierenden Rechtsnormen zueinander zu klären. Methodische Instrumente dafür sind die teleologische und die systematische Auslegung 84 . Aber auch dann, wenn sich die Rechtsfolgen der beiden konkurrierenden Normen insgesamt widersprechen, ist die Verdrängung der tatbestandlich engeren Norm nicht logisch zwingend. So kann beispielsweise die Auslegung ergeben, daß der Regelungsbereich der normlogisch speziellen Norm gewisse Sachverhaltskonstellationen erfaßt, die nach Sinn und Zweck der Vorschrift nicht von ihr geregelt werden sollen. Statt durch teleologische Reduktion der Spezialnorm läßt sich das Widerspruchsproblem auf der Konkurrenzebene lösen. Wenn die Auslegung ergibt, daß der zu entscheidende Fall nicht der Sonderregelung unterfallen soll, ist die durch die Existenz der Spezialnorm entstandene Vermutungswirkung widerlegt. D.h. es ist nicht die spezielle, sondern die allgemeine Regelung anwendbar. Der Vorrang der auf Rechtsfolgenseite abweichenden Spezialnorm ist demnach kein logisches Postulat 85 . Folglich bildet das normlogische lex specialis-Verhältnis zweier Normen niemals den Grund für die Auflösung einer Konkurrenzlage. Mit der lex specialis-Regel ist dem Rechsanwender lediglich eine Faustformel an die Hand gegeben, die darüber Auskunft erteilt, welche der beiden konkurrierenden Normen die Rechtsfolge für den zu entscheidenden Sachverhalt setzt. 82
Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 88; Vogel, Juristische Methodik, S. 63. 83 Heinrichs, in: Palandt (Begr.), Bürgerliches Gesetzbuch, AGBG 9 Rdnr. 1, 17. 84 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 88. 85 Ebenso Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 326 m.w.Nw.; vgl. auch BVerfG NJW 1999, 43 (44).
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Β. Die Konkurrenz von Rechtsnormen aus methodischer Sicht
Der entscheidende Grund für die Auflösung von Konkurrenzlagen ist der Zwang zur Vermeidung von Normwidersprüchen 86 . Deshalb ist immer dann, wenn zwischen zwei Normen ein Spezialitätsverhältnis besteht, zunächst zu prüfen, ob es zwischen den Rechtsfolgen der Normen überhaupt zu Widersprüchen kommen kann. Ist dies nicht der Fall, besteht für die Auflösung der Konkurrenz kein Grund. Jede der konkurrierenden Normen kann zur Entscheidung über einen Rechtsfall herangezogen werden. Sind die Normen jedoch potentiell widerspruchsfähig, greift zunächst die Vermutungsregel des lex specialis-Satzes. Die normlogisch spezielle Norm genießt danach vorrangige Anwendbarkeit. In Einzelfällen kann die Auslegung der Tatbestände allerdings ergeben, daß nicht die spezielle, sondern die allgemeine Regelung anwendbar sein soll. Freilich ist der Anwendungsvorrang der allgemeinen Norm auf Ausnahmen beschränkt. Dies ändert aber nichts daran, daß eine Durchbrechung des lex specialisSatzes dogmatisch zulässig ist 8 7 . Wie die Analyse der Auflösungsbedürftigkeit im Einzelfall zu erfolgen hat, soll anhand zweier einfacher Beispiele dargestellt werden. (1) Die Gewerbeordnung bestimmt in § 1 Abs. 1,1. HS, daß der Betrieb eines Gewerbes jedermann gestattet ist. Hingegen unterstellt § 2 Abs. 1 S. 1 der Gaststättenordnung den Betrieb eines Gaststättengewerbes der Erlaubnispflicht. Geht es um die Eröffnung einer Gaststätte, können nicht beide Rechtsfolgen - Erlaubnispflichtigkeit und Erlaubnisfreiheit des Betriebs nebeneinander eingreifen. Die Konkurrenzlage ist hier nach der lex specialis-Regel aufzulösen. (2) Im Grundgesetz wird die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern einerseits durch Art. 30 GG und andererseits durch Art. 70 GG geregelt. Beide Normen sind jeweils als Regel-Ausnahme-Vorschriften konzipiert. Der Regel-Teil des Art. 30 GG besagt sinngemäß: Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung staatlicher Aufgaben - dazu zählt auch die Gesetzgebung88 - ist Sache der Länder. Der Regel-Teil des Art. 70 GG, der tatbestandlich enger gefaßt ist, besagt: Das Recht zur Gesetzgebung haben die Länder. Bei paralleler tatbestandlicher Anwendbarkeit wird durch jede der Normen die Gesetzgebungskompetenz den Ländern zugewiesen. Art. 70 GG ist zwar insoweit spezieller. Beide Normen sind jedoch mangels Widerspruchsfähigkeit nebeneinander anwendbar 89 . Anders hingegen im Hinblick auf die Ausnahmevorschriften. Nach Art. 30 GG steht die Kompetenz dem Bund zu (Rechts86 So auch Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 210; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 465. 87 Weitere Beispiele bei Raisch, Juristische Methoden, S. 148. 88 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 30 Rdnr. 2.
III. Methodische Behandlung von Konkurrenzsituationen
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folge), wenn das Grundgesetz eine entsprechende Regelung trifft oder zuläßt (Tatbestand). Art. 70 Abs. 1 GG setzt hingegen für eine Bundeskompetenz voraus, daß das Grundgesetz dem Bund die Gesetzgebungsbefugnis verleiht. Der Tatbestand des Ausnahme-Teils des Art. 70 Abs. 1 GG enthält also ein zusätzliches einschränkendes Element: Anders als in Art. 30 GG wird eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes nicht schon dadurch begründet, daß das Grundgesetz dem Bund gestattet (es zuläßt), sich selbst durch Bundesgesetz einen Kompetenztitel zu schaffen 90 . Erforderlich ist vielmehr eine geschriebene oder durch Auslegung zu ermittelnde verfassungsrechtliche Kompetenznorm. Damit stehen auch diese Verfassungsrechtssätze bzw. -rechtssatzteile in einem normlogischen Spezialitätsverhältnis. Allerdings ist im Einzelfall das Auftreten eines Widerspruchs denkbar. Sollte das Grundgesetz die Gesetzgebungsbefugnis des Bundes zwar nicht unmittelbar selbst regeln, jedoch eine Regelung durch Bundesgesetz zulassen 91 , stünde nach Art. 30 GG die Gesetzgebungskompetenz dem Bund zu. Nach Art. 70 Abs. 1 GG wären hingegen in diesem Fall die Länder befugt. Daraus folgt, daß zwar die abstrakten Verfassungsnormen nicht in Widerspruch stehen. Zwischen den konkreten Einzelfallnormen kann es aber durchaus zu Widersprüchen kommen. Für das Konkurrenzverhältnis bedeutet dies, daß für die Feststellung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes ausschließlich auf Art. 70 Abs. 1 GG abgestellt werden muß. Die Regelung des Art. 30 GG tritt als lex generalis insoweit vollständig zurück 92 .
b) Verfahren
der Konkurrenzauflösung
aa) Konkurrenzauflösung durch Gesetz Der einfachste Weg zur Verhinderung von Normwidersprüchen und damit zur Auflösung von Normkonkurrenzen ist die gesetzestechnische Lösung. In diesem Fall ordnet eine gesetzliche Vorschrift ausdrücklich an, daß von mehreren anwendbaren Rechtsnormen eine Norm vorrangig anzuwenden ist. Eine solche gesetzlich normierte Konkurrenzklausel enthält also 89 Deshalb ist es richtig, wenn das Bundesverfassungsgericht soweit es um die Gesetzgebungskompetenz der Länder geht Art. 30 GG und Art. 70 GG zusammen zitiert; BVerfGE 61, 147 (203, 205); 67, 299 (315). 90 Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 70 Rdnr. 1; Maunz in: Maunz/ Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 70 Rdnr. 30. 91 Vgl. etwa Art. 87 Abs. 3 GG - allerdings für den Bereich der Verwaltungskompetenz. 92 Im Ergebnis ebenso Erbguth, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 30 Rdnr. 6f.; Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 70 Rdnr. 3; Pieroth, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, Art. 30 Rdnr. 2; Maunz, in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 30 Rdnr. 8.
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Β. Die Konkurrenz von Rechtsnormen aus methodischer Sicht
zugleich den Befehl zur Auflösung einer Konkurrenzlage (Auflösungsgrund) und die Anweisung, nach welchen Regeln die Auflösung zu erfolgen hat (Vorrangregel). Beispiele für konkurrenzlösende gesetzliche Regeln finden sich in allen Rechtsgebieten93. Dogmatisch sind derartige Konkurrenzklauseln als besondere Anwendbarkeitsvorschriften zu qualifizieren 94 . Konkurrenzlösende Anwendbarkeitsnormen können in verschiedenen Varianten auftreten. Am häufigsten anzutreffen sind Subsidiaritätsklauseln, Spezialitätsnormen oder rechtsfolgenverarbeitende Normen. Subsidiaritätsklauseln erklären eine Norm für nur hilfsweise anwendbar, falls andere, vorrangig zu berücksichtigende Rechtssätze nicht einschlägig sind. Spezialitätsregeln legen fest, welche der konkurrierenden Normen eine spezielle Regelung trifft und deshalb die allgemeinen Normen verdrängt. Eine dritte Gruppe konkurrenzlösender Normen erklärt nicht die eine oder andere Norm für anwendbar, sondern bestimmt eine gänzlich neue Rechtsfolge. So bleiben beispielsweise nach Maßgabe der §§ 52, 53 StGB die tatbestandlich einschlägigen Strafnormen anwendbar. Allerdings wird der Strafrahmen neu festgesetzt. Es findet also eine Rechtsfolgenverarbeitung statt. Damit handelt es sich bei den §§ 52, 53 StGB im Grunde nicht um konkurrenzauflösende Normen, sondern vielmehr um vollständige Rechtssätze, die tatbestandlich eine Konkurrenzlage voraussetzen. bb) Konkurrenzauflösung durch Auslegung Zur Vermeidung von Widersprüchen und aus Gründen der Rechtssicherheit trifft der Gesetzgeber in modernen Gesetzeswerken verstärkt Regelungen über das Verhältnis der neu geschaffenen Vorschriften zu anderen gesetzlichen Bestimmungen 95 . Dennoch werden längst nicht alle denkbaren Konstellationen berücksichtigt. Im öffentlichen Recht ist vor allem der Bereich der Leistungsverwaltung betroffen. Häufig sind hier Konkurrenzverhältnisse einzelner anspruchsbegründender Normen oder ganzer Regelungskomplexe Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen 96 . Schweigt das Gesetz zum Problem der Konkurrenzauflösung, müssen die Konkurrenzver93
§ 145 d Abs. 1 StGB; § 316 Abs. 1 StGB; § 11 HSOG; § 8 Abs. 1 AtG. Der Prüfungsstandort bei der Rechtsanwendung ist deshalb aus dem nachtatbestandlichen in den vortatbestandlichen Bereich verlagert. Werden die Voraussetzungen der derogierenden Norm bejaht, entfällt die Tatbestandsprüfung der verdrängten Norm. 95 Vgl. § 13 SGB XI (Verhältnis der Leistungen der Pflegeversicherung zu anderen Sozialleistungen); § 3 OEG (Zusammentreffen von Ansprüchen); § 2 MontanMitbestG (Vorrang des Montan-Mitbestimmungsgesetzes); § 4 UVPG (Vorrang anderer Rechtsvorschriften). 96 So z.B. BVerwG VIZ 1995, 582 - Verhältnis des VermG zu Kriegsfolgenrecht; VG München NJW 1991, 2164 - Verhältnis von § 40 Abs. 1 Nr. 2 BSHG zu § 40 94
III. Methodische Behandlung von Konkurrenzsituationen hältnisse werden.
unter
Anwendung
allgemeiner
methodischer
Regeln
41 geklärt
Die sachgerechte Anwendung dieser Regeln bildet den Schwerpunkt der gesamten Konkurrenzdogmatik. Steht fest, daß die Konkurrenzlage nicht durch kumulative Anwendung beider Rechtssätze bestehen bleiben kann, weil die Rechtsfolgen potentiell widersprüchlich sind, muß ein Weg gefunden werden, die Konkurrenzsituation aufzulösen. Das dafür zur Verfügung stehende methodische Arbeitsmittel ist die Auslegung. Mittels grammatikalischer, historischer, teleologischer und systematischer Überlegungen kann der aktuelle, also der heute geltende und rechtlich maßgebende Sinngehalt der Normen gefunden oder doch zumindest näher bestimmt werden 97 . Durch die Feststellung des Regelungsgehaltes der Normen wird auch das Verhältnis der Normen untereinander deutlicher. Grammatikalische und systematische Untersuchungen des Tatbestandes der Normen lassen Aussagen über ein eventuelles Spezialitätsverhältnis im normlogischen Sinn zu. Wie dargestellt, beruht ein normlogisches Spezialitätsverhältnis auf der Einschränkung des allgemeinen Tatbestandes durch Hinzufügen eines einengenden Tatbestandsmerkmals. Oftmals hilft schon die Wortlautauslegung, um das eingrenzende Merkmal auszumachen und inhaltlich zu bestimmen. Auch der Regelungszusammenhang ist in den meisten Fällen ein deutlicher Hinweis auf eine Spezialnorm. Ist ein Spezialitätsverhältnis im normlogischen Sinne nicht feststellbar, besteht also die tatbestandliche Überschneidung nur in einem Teilbereich, können insbesondere die teleologische und die historisch-genetische 98 Auslegung zu einem widerspruchslösenden Ergebnis führen. Insbesondere durch die Erforschung von Sinn und Zweck einer Regelung kann die Frage beantwortet werden, ob die Norm im Überdeckungsbereich Abs. 1 Nr. 4 BSHG; VG Berlin VIZ 1992, 23 (24) - Verhältnis VermG zur Gemeinsamen Erklärung (Anlage III zum EinigungsV). 97 So die mittlerweile wohl herrschende gemäßigt-objektive Theorie zum Ziel der Auslegung. Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 436; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 139; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 39; Schwacke, Juristische Methodik, S. 56. Ein Auslegungsziel generell verneinend Zeller, Auslegung von Gesetz und Vertrag, § 8 Rdnr. 281. 98 Die Arbeit mit historischen (früheren) Gesetzestexten ist als historische Auslegung zu bezeichen. Die genetische Auslegung hingegen berücksichtigt Nichtnormtexte aus der Entstehungsphase des Gesetzes; Butzer/Epping, Arbeitstechnik im Öffentlichen Recht, S. 21. Beide Auslegungskriterien erforschen den „Willen des historischen Gesetzgebers" und werden folglich von Vertretern der subjektiven Auslegungstheorie verwendet. Nahezu alle, der objektiven Theorie zuzuordnenden Autoren haben die Bedeutung dieser Kriterien erkannt und in den Auslegungskanon übernommen, vgl. nur Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 137 ff.
42
Β. Die Konkurrenz von Rechtsnormen aus methodischer Sicht
als abschließende Sonderregelung zu verstehen ist, die die anderen Vorschriften verdrängt, oder ob lediglich eine Modifizierung der anderen Regelungen - etwa durch Übertragung einer abweichenden Teilregelung - erfolgen soll. Die Reihenfolge der zur Verfügung stehenden Auslegungsmethoden ist weitgehend anerkannt": Beginnend vom Wortlaut sind über logisch-systematische Erwägungen und historisch-genetische Erkenntnisse letztendlich auch objektiv-teleologische Überlegungen zur Klärung des Konkurrenzverhältnisses heranzuziehen. Sollten die gefundenen Ergebnisse nicht übereinstimmen oder sich gar widersprechen, hat keines der Auslegungskriterien Entscheidungspriorität. Richtigerweise ist davon auszugehen, daß die Auslegungsmethoden nicht in einer festgefügten Rangfolge stehen 100 . Vielmehr muß ihre relative Stärke im konkreten Anwendungsfall herausgefunden und berücksichtigt werden. Nur durch eine Gesamtabwägung aller Argumente kann ein letztendlich überzeugendes Ergebnis gefunden werden 1 0 1 . Gelingt dies insgesamt nicht, ist der Normwiderspruch also durch Auslegung nicht aufzulösen, greift zwingend die oben schon angedeutete Folge ein: Die konkurrierenden, miteinander unvereinbaren Normen müssen als nichtig bzw. unanwendbar angesehen werden. Die entstandene Regelungslücke ist mit Hilfe der Methoden zur Lückenschließung auszufüllen. In der praktischen Rechtsanwendung wird es in letzter Konsequenz nie zu einem solchen Ergebnis kommen. Die unaufgelöste Antinomie ist zwar theoretisch denkbar 102 , mittels Auslegung vermag jedoch (nahezu) jeder Norm- oder Wertungswiderspruch durch Verdrängung der einen oder anderen Norm aufgelöst zu werden 1 0 3 . Die Auslegung findet daher bei der Ausräumung von Normwidersprüchen einen ihrer bedeutsamsten Anwendungsbereiche im Prozeß der Gesetzesanwendung104.
99 Kerschner, Wissenschaftliche Arbeitstechnik und -methodik für Juristen, S. 29; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 163 f.; Schwacke, Juristische Methodik, S. 67; sehr deutlich Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 556: „Schon allgemeine Zweckmäßigkeitserwägungen ... sprechen dafür, die einfachere Methode zunächst zu versuchen und zu der schwierigeren erst überzugehen, wenn mit Hilfe der ersten das gestellte Problem nicht zu lösen war." 100 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 166; Schwacke, Juristische Methodik, S. 67; jeweils mit Nw. zur a. A. 101 Kerschner, Wissenschaftliche Arbeitstechnik und -methodik für Juristen, S. 30. 102 Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 211; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 464. 103 In der methodologischen Literatur findet sich kein gegenteiliges Beispiel. 104 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 134; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 463 f.
III. Methodische Behandlung von Konkurrenzsituationen
43
3. Folgen für die anwendbaren Normen bei Auflösung und Nichtauflösung der Konkurrenz a) Ausnahme vom Grundsatz der vollständigen der allgemeinen Norm
Verdrängung
Aus konkurrenzdogmatischer Sicht beschränkt die spezielle Norm, die für den Rechtsfall als entscheidend anzusehen ist, die generelle Norm in ihrer Anwendbarkeit. Folglich wird der nicht maßgebliche Rechtssatz verdrängt und spielt für die Fallentscheidung keine Rolle. Die Verdrängungswirkung bei Konkurrenzauflösung folgt aus dem abschließenden Charakter der Spezialregelung. Ergibt die Auslegung, daß eine Norm nach ihrem Sinn und Zweck vollständig an die Stelle eines allgemeinen Rechtssatzes treten soll, wird der Regelungsgehalt dieser allgemeinen Norm nicht mehr benötigt. Die Norm wird verdrängt. Führt jedoch die Anwendung der besonderen Regel zu einer Wertungsverschiebung bzw. zu einem Wertungswiderspruch gegenüber der verdrängten Norm, die in dieser Art vom Gesetzgeber bei Schaffung der besonderen Regel nicht bedacht wurde, ist eine Korrektur des Ergebnisses notwendig. Dies geschieht, indem der zunächst ausgesonderte Normgehalt der verdrängten Norm bei der Anwendung der verdrängenden Norm teilweise berücksichtigt wird. Zur Verdeutlichung ein Beispiel: In der strafrechtlichen Konkurrenzdogmatik ist anerkannt, daß dem im Wege der Gesetzeskonkurrenz zurücktretenden Straftatbestand Bedeutung bei der Strafzumessung zukommt. Zum einen kann die Verletzung verdrängter Gesetze als erschwerend berücksichtigt werden 1 0 5 , zum anderen hat der Strafrahmen des verdrängten Gesetzes Einfluß auf die Mindeststrafe. Besitzt das insgesamt mildere zurücktretende Gesetz eine höhere Mindeststrafe als das anzuwéndende spezielle Gesetz, muß das Mindeststrafmaß der verdrängten Norm entnommen werden 1 0 6 . Sonst käme es durch das Hinzutreten eines schwereren Deliktes mit niedrigerer Mindeststrafe zu einer ungewollten Privilegierung im Strafmaß 107 . Die Lehre hat hierfür den Begriff der „Sperrwirkung des milderen Geset105
BGHSt 1, 155; 6, 27; 19, 189; Tröndle, Strafgesetzbuch, Vor § 52 Rdnr. 23. Erforderlich ist aber, daß die strafschärfenden Umstände nicht schon zu den Merkmalen des anwendbaren Delikts gehören und für dessen Strafdrohung mitbestimmend sind, Vogler, in: Leipziger Kommentar, Vor § 52 Rdnr. 117. 106 BGHSt 1, 155 (156); 10, 312; Tröndle, Strafgesetzbuch, Vor § 52 Rdnr. 23; Vogler, in: Leipziger Kommentar, Vor § 52 Rdnr. 113; Samson, in: Systematischer Kommentar, Vor § 52 Rdnr. 105. 107 Selbstverständlich gilt dies nicht, wenn das verdrängende Gesetz insgesamt ein milderes Strafmaß enthält, BGHSt 1, 155 (156).
44
Β. Die Konkurrenz von Rechtsnormen aus methodischer Sicht
zes" geprägt 108 . Die Korrektur der Derogationswirkung wird notwendig, weil sonst die gesetzlich getroffene Wertung in bezug auf das für die Tat angedrohte Strafmaß vereitelt würde. Konkurrenzsystematisch handelt es sich dabei um eine Ausnahme vom Grundsatz der Verdrängung der allgemeinen Norm. Obwohl der zurücktretende Straftatbestand gänzlich unanwendbar ist, entfaltet er dennoch Restwirkung auf der Rechtsfolgenseite der anwendbaren Norm. Die Auflösung der Normkonkurrenz zugunsten einer Norm führt damit gleichzeitig zu einer Rechtsfolgenmodifikation. Methodisch betrachtet, wird die anwendbare Norm teleologisch reduziert bzw. erweitert. Diese Sonderform der verdrängenden Konkurrenzauflösung bedarf im Anwendungsfall daher aller für eine Rechtsfortbildung notwendigen Voraussetzungen.
b) Wechselseitige Beeinflussung der konkurrierenden bei kumulativer Anwendung
Normen
Zur Vervollständigung und Abrundung soll kurz auf die Folgen bei Nichtauflösung einer Konkurrenzlage eingegangen werden. Regelfall ist die parallele Anwendbarkeit der jeweiligen Rechtsfolgen der konkurrierenden Normen. Aber auch hier sind Ausnahmen notwendig. Insbesondere bei der Konkurrenz ganzer Regelungskomplexe kann es durch die Aktualisierung von abweichenden Teilregelungen zu Widersprüchen kommen. Sollen nach Sinn und Zweck der Regelungen dennoch beide Normkomplexe nebeneinander anwendbar sein 1 0 9 und soll eine Konfliktbereinigung durch Verdrängung vermieden werden, muß der Widerspruch auf andere Art gelöst werden. Als methodische Vorgehensweise bietet sich die modifizierte kumulative Konkurrenz an. Diese widerspruchsvermeidende Konstruktion läßt sich am besten an einem Beispiel aus dem Zivilrecht darstellen. Das Recht der Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA) sieht in § 680 BGB eine Beschränkung des Haftungsumfangs auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit vor, wenn der Geschäftsführer zur Abwendung einer dem Geschäftsherrn drohenden dringenden Gefahr gehandelt hat 1 1 0 . Einfache Fahrlässigkeit des Geschäftsfüh108
Die Sperrwirkung wird auch für die Verhängung von Nebenstrafen und Nebenfolgen, Maßregeln der Besserung und Sicherung, sowie die Anordnung der Einziehung angenommen, Tröndle, Strafgesetzbuch, Vor § 52 Rdnr. 23. 109 Die deliktsrechtlichen Regeln sind für den Geschädigten teilweise günstiger als die vertragsrechtlichen. Die sich daraus ergebenden Vorteile sollen dem Geschädigten erhalten bleiben, Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 90 f. 110 Derartige Haftungsmilderungen sind weiterhin in den §§ 599, 690, 708 BGB geregelt.
III. Methodische Behandlung von Konkurrenzsituationen
45
rers bei der Übernahme der Geschäftsführung genügt demnach nicht, um eine Haftung gegenüber dem Geschäftsherrn zu begründen. In den meisten Fällen wird dem Geschäftsherrn jedoch neben den durch die Haftungsprivilegierung ausscheidenden Ansprüchen aus GoA ein Schadensersatzanspruch aus unerlaubter Handlung, § 823 BGB, zustehen. Vorausgesetzt, die Anspruchsnormen der GoA und die des Deliktsrechts stehen nicht in einem Verhältnis der Spezialität 111 , ergäbe sich ein unaufgelöster Widerspruch zwischen den Rechtsfolgen der Normkomplexe. Der Widerspruch entfällt jedoch, wenn die vom Gesetz für die GoA getroffene Wertung der Haftungsmilderung auch auf die konkurrierenden deliktischen Anspruchsnormen übertragen wird. Der deliktische Haftungstatbestand müßte also auf das Maß der konkurrierenden Norm reduziert werden 1 1 2 . Beide Anspruchsgrundlagen könnten dann nebeneinander bestehen und würden nicht zu abweichenden Ergebnissen führen. Der gesetzlich vorgesehenen Haftungsmilderung könnte damit überhaupt erst Geltung verschafft werden, denn ohne die Berücksichtigung der Konkurrenzsituation würde die privilegierende Regelung leer laufen. Eine „Übertragung" läßt sich methodisch durch teleologische Reduktion des Verschuldensgrundsatzes aus § 276 BGB im Tatbestand der § 823 ff. BGB erreichen 113 . Sinn und Zweck der deliktischen Regelungen ist es, dem Geschädigten die vorsätzlich oder fahrlässig zugefügten Schäden an bestimmten Rechtsgütern zu ersetzen. Bestimmt das Gesetz an anderer Stelle, daß für den Ersatz bestimmter Schäden qualifiziertes Verschulden erforderlich ist, muß diese „Negativanordnung" 114 bei der Anwendung der deliktischen Anspuchsgrundlagen berücksichtigt werden. Konkurrenzdogmatisch findet so eine Vermischung bzw. Verzahnung unterschiedlicher Regelungen bzw. Regelungskomplexe statt 1 1 5 . Hintergrund für diese Konstruktion ist die These von der Anspruchsnormenkonkurrenz. Nach dieser Auffassung besteht ein einheitlicher Schadens111 So die mittlerweile herrschende Meinung; Thomas, in: Palandt (Begr.), Bürgerliches Gesetzbuch, Einf ν § 677 Rdnr. 11; Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II/2, § 38 VI 2a; Georgiades, Die Anspruchskonkurrenz im Zivilrecht und Zivilprozeßrecht, S. 169. 1,2 Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II/2, § 83 VI 2a; Medicus, Bürgerliches Recht, Rdnr. 433, 639. 113 Ähnlich Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 91: „... teleologische Reduktion des Anwendungsbereiches der deliktsrechtlichen Regeln .. Nach a. A. entfällt bei leichter Fahrlässigkeit die Rechtswidrigkeit im Deliktstatbestand, Schäfer in: Staudinger (Begr.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Vorbem zu §§ 823 ff. Rdnr. 56. 114 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 91. 115 Georgiades, Die Anspruchskonkurrenz im Zivilrecht und Zivilprozeßrecht, S. 170.
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Β. Die Konkurrenz von Rechtsnormen aus methodischer Sicht
ersatzanspruch, der nur auf unterschiedliche Anspruchsgrundlagen gestützt werden kann. Weichen die Voraussetzungen der anspruchsbegründenden Normen voneinander ab, soll die einheitliche Ausgestaltung des Anspruchs durch die Anwendung der Konkurrenzlehre erreicht werden. Der Vorteil dieser Lösung liegt auf der Hand. Da dem Berechtigten mehrere Anspruchsgrundlagen parallel zur Verfügung stehen, kann der Anspruch im Prozeß folglich auf diejenige Norm gestützt werden, deren Voraussetzungen am einfachsten darzulegen und zu beweisen sind. Im Ergebnis unterscheiden sich damit die Derogationslösung und die modifizierte Konkurrenzlösung kaum. Beide führen zur Anwendung derjenigen Regelung, die nach dem Gesetzeszweck und der gesetzgeberischen Intention den Rechtsfall entscheiden soll. Ob eine Rechtsnorm gänzlich verdrängt oder unter Berücksichtigung der abweichenden (Teil-)Regelung teleologisch reduziert oder erweitert wird, hängt ganz praktisch gesehen davon ab, ob eine derartige Modifikation noch sinnvoll ist oder ob die Veränderung so stark wäre, daß es sinnwidrig ist, von einer parallelen Anwendbarkeit beider Regelungen zu sprechen 116 . Auch im Strafrecht ist die Parallelität dieser Sonderformen der verdrängenden und der kumulativen Konkurrenz seit langem bekannt und wird unter dem Stichwort „Annäherung von Ideal- und Gesetzeskonkurrenz" diskutiert 1 1 7 . Die für die Gesetzeskonkurrenz entwickelte, oben dargestellte Sperrwirkung des milderen Gesetzes entspricht genau der diesmal schon vom Gesetz in § 52 Abs. 2 S. 2 StGB getroffenen Regelung für die kumulative Konkurrenz (Idealkonkurrenz). Die Unterschiede zwischen Gesetzesund Idealkonkurrenz werden damit nahezu auf Null reduziert 118 . Dennoch sind die dargestellten Ausnahmen zuzulassen. Die Unzulänglichkeit der bisher entwickelten Lösungsansätze - Auflösung durch Derogation bzw. Nichtauflösung durch Kumulation - wird an den beiden genannten Beispielen deutlich. Die Normstrukturen der miteinander konkurrierenden Normen sind zu unterschiedlich, als daß sich durch eine pauschale und unreflektierte Derogation (bei Rechtsfolgenwiderspruch) oder Kumulation (bei Rechtsfolgenverträglichkeit) ein sachgerechtes Ergebnis erzielen ließe. Im Zuge der Auslegung ist also nicht nur zu erforschen, ob ein Rechtssatz dem anderen vorgeht oder nicht, es ist auch festzustellen, ob möglicherweise eine Modifikation der anwendbaren Regel(n) erfolgen muß. Schematischer Formalismus ist bei der Suche nach der Behandlung einer Konkurrenzsituation fehl am Platze. Die eigentliche Aufgabe der Konkurrenzlehre 1,6 117 1,8
Emmerich, JuS 1967, 345 (347). Vgl. nur Puppe, GA 1982, 141 (161). Stree, in: Schönke/Schröder (Begr.), Strafgesetzbuch, vor § 52 Rdnr. 103.
III. Methodische Behandlung von Konkurrenzsituationen
47
ist die sinnvolle und zweckentsprechende Harmonisierung der sich aus den konkurrierenden Normen ergebenden Widersprüche 119 . Dieses Ziel ist nur mittels einer umfassenden Auslegung der Einzelfallnormen zu erreichen.
119
Georgiades, Die Anspruchskonkurrenz im Zivilrecht und Zivilprozeßrecht, S. 169f.; vgl. auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 464; Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 210.
C· Grundrechtskonkurrenzen - Einführung, Begriffsbestimmung, Analyse der Lösungsvorschläge I. Einleitung Im Jahre 1968 erschien die erste zusammenfassende Arbeit von Wilfried Berg zu den „Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes". Berg konstatierte damals eine defizitäre Problemsicht sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur. Seiner Ansicht nach darf die Bedeutung eines richtigen Konkurrenzverständnisses für den Bereich der Freiheitsrechte nicht unterschätzt werden. Die Lehre von den Konkurrenzen der Grundrechte würde in ihrer Wirkung kaum der Konkurrenzlehre im Strafrecht nachstehen1. Tatsächlich erfolgte nach der Veröffentlichung seiner Untersuchungen im Laufe der Jahre eine intensive Beschäftigung mit der Thematik. Neben kleineren Beiträgen waren die Grundrechtskonkurrenzen, freilich nur in Teilbereichen, auch Gegenstand mehrerer Dissertationen 2 und einer Habilitation 3 . Mittlerweile verfügen die meisten Grundrechtslehrbücher über einen eigenen Abschnitt 4 , und auch die Kommentarliteratur hat sich des Problems angenommen5. Dennoch wurde auch in jüngerer Zeit weiterer Klärungsbedarf festgestellt 6. 1 Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 2. 2 Schwacke, Grundrechtliche Spannungslagen, 1975; Fohmann, Konkurrenzen und Kollisionen im Verfassungsrecht, 1978; Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, 1981. 3 Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977. 4 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 337 ff.; Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 643 ff.; Windthorst, Verfassungsrecht I, § 7 Rdnr. 33 ff.; Schmalz, Grundrechte, Rdnr. 284ff.; Bleckmann, Staatsrecht II, § 14 Rdnr. 7ff.; Schwacke/Stolz/ Schmidt, Staatsrecht, S. 246ff.; Haug, Staats- und Verwaltungsrecht, S. 115; v. Münch, Grundbegriffe des Staatsrechts I, Rdnr. 218ff.; Stein, Staatsrecht, S. 210; Schramm, Staatsrecht, Bd. II, S. 45 ff.; Maier, Staats- und Verfassungsrecht, S. 107 ff.; Katz, Staatsrecht, Rdnr. 598; Siekmann/Duttge, Staatsrecht I, Rdnr. 1052 ff. 5 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 I, II Rdnr. 31 ff.; Starck, in: v. Mangold/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3 Rdnr. 253f.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Vorb. vor Art. 1 Rdnr. 17f.; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 96f.; v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Art. 1 19 Rdnr. 4Iff. Weitere Darstellungen finden sich bei Breuer, HbdStR VI, § 147
II. Begriffsbestimmung
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Dies liegt vor allem daran, daß sich zunehmend die Erkenntnis herausbildet, daß Konkurrenzprobleme im Grundrechtsbereich nicht mittels einer einzigen dogmatischen Rezeptur zu lösen sind. Tiefergehende Untersuchungen gelangen regelmäßig zu dem Ergebnis, daß nur durch Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles eine sachgerechte Lösung gefunden werden kann 7 . Dennoch ist immer wieder der Versuch unternommen worden, zumindest in Teilbereichen verallgemeinernde Lösungsansätze zu entwickeln 8 . Wie weit diese grundlegenden Erkenntnisse gediehen sind, wird zunächst in diesem Abschnitt darzustellen sein. Zugleich soll der Erkenntnisstand kritisch beleuchtet und die einzelnen Lösungen auf ihre Anwendbarkeit für die Fallösung untersucht werden.
II. Begriffsbestimmung Für einen Lebenssachverhalt können mehrere Grundrechtsnormen zugunsten desselben Grundrechtsträgers tatbestandlich anwendbar sein. Diese Situation wird mittlerweile nahezu einhellig 9 als Grundrechtskonkurrenz bezeichnet 10 . Entscheidend für die Abgrenzung zu anderen Grundrechtskonflikten ist die personelle Ausrichtung: Stehen die fraglichen Grundrechte derselben Person zu, konkurrieren diese Normen um ihre letztgültige Anwendbarkeit miteinander. Treffen hingegen Grundrechtsgewährleistungen verschiedener Personen aufeinander, ist die personelle Gewährleistungsrichtung also gegenläufig, besteht ein Kollisionsverhältnis 11 . Diese terminologische Differenzierung hat sich für den Grundrechtsbereich nach anfänglichen Rdnr. 96ff.; Rüfner, in: Festgabe BVerfG, Bd. 2, S. 474ff. Zuletzt umfassend Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, § 92. 6 Schramm, Staatsrecht, Bd. II, S. 45; Fohmann, Konkurrenzen und Kollisionen im Verfassungsrecht, S. 52, 57; Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1368. 7 Sehr deutlich Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1377, 1406; siehe auch Breuer, HbdStR VI, § 147 Rdnr. 96; Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 I, II Rdnr. 35 f.; Β leckmann/Wiethoff, DÖV 1991, 122 (724). 8 Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1383ff.; Bleckmann/Wiethoff, DÖV 1991, 122ff.; Fohmann, EuGRZ 1985, 49ff. 9 Zur abweichenden Definition von Fohmann siehe sogleich. 10 Breuer, HbdStR VI, § 147 Rdnr. 96; Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1369; Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 110; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, Vorb. vor Art. 1 Rdnr. 17; Starck, in: v. Mangold/Klein/Stark, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3 Rdnr. 253; Rüfner, in: Festgabe BVerfG, Bd. 2, S. 453; Bethge, LdR, 5/340, S. 1; v. Münch, Grundbegriffe des Staatsrechts I, Rdnr. 218; Siekmann/Duttge, Staatsrecht I, Rdnr. 1052. Die Rechtsprechung verwendet den Begriff nur sehr zögerlich. Das Bundesverfassungsgericht wie auch der Bundesgerichtshof sprechen allgemein nur vom Verhältnis der Grundrechte untereinander; siehe dazu die Nw. bei Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1370. 11 Breuer, HbdStR VI, § 147 Rdnr. 96. 4 Heß
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C. Grundrechtskonkurrenzen
Unklarheiten inzwischen allgemein durchgesetzt 12. Rein sachlich weisen Konkurrenz und Kollision eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf. Im Kern geht es jeweils um die Frage des Verhältnisses von Grundrechten bzw. grundrechtsgleichen Rechten zueinander. Zur Lösung beider Konfliktfälle muß im konkreten Anwendungsfall entschieden werden, welcher Stellenwert einem Freiheits- oder Gleichheitsrecht gegenüber einem anderen zukommt. Kollision und Konkurrenz werden innerhalb des Rechtsanwendungsprozesses jedoch in völlig unterschiedlichen Zusammenhängen relevant. Bei der Feststellung und Lösung von Konkurrenzlagen geht es um die Frage der Anwendbarkeit der Grundrechtsnormen 13. Es wird gewissermaßen die Frage aufgeworfen, welcher grundrechtliche Maßstab zur Beantwortung einer Rechtsfrage heranzuziehen ist. Kollisionssituationen treten hingegen innerhalb der Grundrechtsprüfung selbst auf: Grundrechtlich garantierte Abwehrrechte gegen den Staat müssen immer dann ihre Grenze finden, wenn Grundrechte Dritter tangiert sind. Selbst vorbehaltlos ausgestaltete Grundrechte wie Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG und Art. 4 Abs. 1, 2 GG werden durch die gegenläufigen Grundrechte anderer begrenzt 14 . Die Grundrechtskollision ist also in erster Linie ein Problem der Grundrechtsbegrenzun„ 1 5
gen . Abweichend vom herrschenden Verständnis besteht nach Fohmann ein Konkurrenzverhältnis nur dann, wenn sich die jeweils konkurrierenden Entscheidungsnormen widersprechen 16 . Der Widerspruch soll also notwendige Voraussetzung sein, um überhaupt vom Vorliegen einer Konkurrenzsituation ausgehen zu können. Fest steht, daß Konkurrenzen im Grundrechtsbereich genau wie zivilrechtliche oder strafrechtliche Konkurrenzen zunächst einmal normtechnisch-logische Schwierigkeiten innerhalb des Rechtsfindungsprozesses bereiten. Der Begriff „Konkurrenz" wird in der Rechtssprache allgemein dahingehend verwendet, daß zwei oder mehrere Normen gleichzeitig tatbestandlich erfüllt sind und ihre Rechtsfolgen greifen 17 . Erst bei der sich anschließenden Überlegung, ob eine solche Konkurrenzlage 12
Vgl. Starck, in: v. Mangold/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3 Fn. 412: ausdrückliche Anpassung der Begrifflichkeit. Anders noch Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 127 ff. 13 Vgl. oben S. 27. 14 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Vorb. vor Art. 1 Rdnr. 37. 15 Die ausführlichste Darstellung der Kollisionsverhältnisse der Grundrechte findet sich bei Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977. Umfassend auch ders., LdR, 5/340, S. 5 ff. 16 Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (56); unklar Schwacke, Grundrechtliche Spannungslagen, S. 11, 18. 17 Dazu oben S. 26 f.
III. Abgrenzung zu den sog. „Scheinkonkurrenzen"
51
bestehen bleiben kann, oder ob sie zugunsten der einen oder der anderen Norm aufgelöst werden muß, ist die Widersprüchlichkeit der Rechtsfolgen entscheidend. Es erscheint deshalb nicht sinnvoll, die Begrifflichkeit im Verfassungsrecht enger zu fassen, als in der allgemeinen Rechtsdogmatik. Für die Rechtsanwendung interessant, und insoweit ist Fohmann zuzustimmen, sind immer nur die Konkurrenzlagen zwischen widersprüchlichen Normen. Dennoch sollte im Interesse besserer Verständlichkeit und zur Vermeidung von Mißverständnissen auch die parallele tatbestandliche Anwendbarkeit rechtsfolgenharmonischer, widerspruchsunfähiger Normen als Normkonkurrenz bezeichnet werden.
III. Abgrenzung zu den sog. „Scheinkonkurrenzen44 Die Lehre von den Grundrechtskonkurrenzen ist unbestreitbar ein wichtiger Teil der Grundrechtsdogmatik 18 . Entsprechend unbefriedigend ist die Tatsache, daß eine vollständige Konzeption zur Lösung der Konkurrenzprobleme weder in der Literatur noch in der Rechtsprechung gefunden wurde. Aufgrund der Schwierigkeiten in diesem Bereich ist es allerdings verständlich, daß sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch andere Bundesobergerichte nur selten detaillierte Aussagen über das Verhältnis der Grundrechte treffen und stattdessen auf pragmatische, einzelfallorientierte Lösungsmöglichkeiten zurückgreifen. In der Literatur werden einige Anstrengungen unternommen, um die Fälle der sog. „unechten Konkurrenzen" bzw. „Scheinkonkurrenz" auszusondern und auf diese Weise das Problemfeld der Grundrechtskonkurrenz so klein wie möglich zu halten 19 . Während die Rechtsprechung in aller Regel auf der Ebene der Grundrechtsinterpretation, insbesondere der Schutzbereichsauslegung ansetzt 20 , werden in der Literatur vor allem Lösungen im Bereich der Sachverhaltsfeststellung vorgeschlagen. Eine Konkurrenz zwischen Grundrechtsnormen ist immer dann gegeben, wenn (1) ein einziger Lebenssachverhalt (2) mehrere Grundrechte eines Grundrechtsträgers tatbestandlich aktualisiert. Konkurrenzen entstehen folglich dann nicht, wenn es gelingt, den grundrechtsrelevanten Lebensvorgang in zeitlicher und sachlicher Hinsicht so aufzugliedern, daß jedem tatsächli18
Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1368. Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 49ff.; Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1378ff.; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 324; Schwacke, Grundrechtliche Spannungslagen, S. 18f.; Lepa, DVB1. 1972, 161 (163f.); ausführlicher für Einzelgrundrechte, Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 39 ff. 20 Z.B. BVerfGE 30, 292 (334); 85, 1 (11); 86, 122 (128); 95, 28 (34); 95, 173 19
(181). 4·
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C. Grundrechtskonkurrenzen
chen Verhalten nicht mehrere, sondern nur eine einzige Grundrechtsnorm als Beurteilungsmaßstab zuzuordnen ist. Normkonflikte sind dann mangels Normmehrheit von vornherein ausgeschlossen. Dasselbe Ergebnis läßt sich erzielen, wenn die Tatbestände so interpretiert werden, daß die Grundrechtsnormen einen jeweils exklusiven Anwendungsbereich erhalten. Bereits auf abstrakter Ebene kann es dann nicht mehr zu einer tatbestandlichen Überschneidung kommen. Mit der Sachverhaltszerlegung und Tatbestandsabgrenzung stehen damit Verfahren zur Verfügung, die bereits auf der Voraussetzungsseite der Grundrechtskonkurrenz eine präzise Abschichtung echter Konkurrenzfälle von lediglich ähnlich gelagerten Situationen zulassen21. Zu untersuchen ist allerdings, wie beide Verfahren praktisch auszugestalten sind und welche Bedeutung ihnen tatsächlich bei der Aussonderung unechter Konkurrenzen zukommt.
1. Sachverhaltszerlegung In der Literatur werden zwei Konzepte zur sinnvollen Zerlegung des Sachverhaltes diskutiert. Der erste Vorschlag geht dahin, das tatsächliche Geschehen in einzelne, geschützte Handlung zu zerlegen 22 . Der zweite Vorschlag setzt bei den in die Grundrechte eingreifenden Maßnahmen an und ordnet jedem Eingriff die nach seiner Zielrichtung betroffenen Grundrechte zu 2 3 .
21
Nach Schwacke, Grundrechtliche Spannungslagen, S. 19, ist die Differenzierung zwischen Tatbestandsabgrenzung und Sachverhaltszerlegung lediglich begrifflicher Art. Im Grunde handele es sich um zwei Seiten derselben Medaille. Sachverhaltszerlegung könne nicht aus sich heraus erfolgen, sondern sei abhängig von der Fassung der Tatbestände. Diese seien aber wiederum bedingt durch die Eigenarten des Sachverhalts. Dem ist weitgehend zuzustimmen. Die Tatbestandsanalye (oder Schutzbereichsbestimmung) muß immer unter Anwendung anerkannter Auslegungskriterien im Hinblick auf den zu entscheidenden Einzelfall geschehen. Der hohe Abstraktionsgrad der Grundrechtsnormen erfordert die Umwandlung in anwendungsfähige Einzelfallnormen. Ausführlicher dazu unten S. 134f. Im folgenden soll jedoch im Interesse einer besseren Verständlichkeit an der herkömmlichen Unterteilung festgehalten werden. 22 Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1381. 23 Vor allem Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 324f.; aber auch Windthorst, Verfassungsrecht I, Rdnr. 38; Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 294.
III. Abgrenzung zu den sog. „Scheinkonkurrenzen"
53
a) Handlungsmehrheiten Menschliches Handeln ist häufig eine Summe von Einzelaktivitäten. Die Gründung eines Unternehmens läßt sich etwa in die Gründung der Gesellschaft, den Erwerb des Unternehmensgebäudes und die Einstellung der Beschäftigten sowie die Geschäftswerbung etc. untergliedern. Jede dieser Einzelhandlungen wird von unterschiedlichen Grundrechtstatbeständen erfaßt. Geht es um die Gründung der Gesellschaft, bildet Art. 9 Abs. 1 GG den Maßstab für die Grundrechtsprüfung. Der Abschluß von Arbeits- und Kaufverträgen wird durch Art. 12 GG geschützt. Die Geschäftswerbung unterfällt möglicherweise mehreren Grundrechtstatbeständen. In Betracht kommen Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, Art. 12 GG und Art. 2 Abs. 1 GG. Durch die Aufspaltung in Einzelhandlungen kann die Menge der jeweils anwendbaren Grundrechte reduziert werden. Voraussetzung für diese Variante der Sachverhaltszerlegung ist allerdings, daß zwischen den Einzelhandlungen keine Handlungseinheit besteht 24 . Sonst droht die Gefahr, daß durch Zerreißung einheitlicher, nicht teilungsfähiger Lebenstatbestände der Grundrechtsschutz verkürzt wird 2 5 . Eine rechtliche Handlungseinheit wird immer dann gegeben sein, wenn nur scheinbar mehrere Handlungen hintereinander geschaltet sind, in Wirklichkeit aber ein untrennbares Geschehen vorliegt. Stern bildet das anschauliche Beispiel eines Assessors, der den Beruf des Rechtsanwalts ausüben möchte und deshalb eine Kanzlei eröffnet. Ihm steht der Schutz der Berufsfreiheit, Art. 12 Abs. 1 GG, und der Freizügigkeit, Art. 11 Abs. 1 GG, zur Seite 26 . Beide Handlungen sind, auch wenn sie zeitlich auseinanderfallen, derart wechselseitig bedingt, daß eine getrennte Betrachtung die grundrechtliche Relevanz nicht hinreichend widerspiegeln würde. Die Niederlassung, verbunden mit der Berufswahl, ist insgesamt an den Art. 12 Abs. 1 GG und 11 Abs. 1 GG zu messen. Hier stößt die Sachverhaltszerlegung nach Handlungsabschnitten an ihre Grenzen.
24 Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1381, der den Begriff unter Rückgriff auf die strafrechtliche Terminologie prägt. 25 So im Anschluß an Lepa, DVB1. 1972, 161 (164) auch Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 45; Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1381. 26 Nach verbreiteter Ansicht allerdings nur dann, wenn der Eingriff zielgerichtet gegen die Freizügigkeit gerichtet ist. Eine mittelbare Beeinträchtigung durch berufsbezogene Eingriffe soll für die Eröffnung des Schutzbereiches von Art. 11 GG nicht ausreichen, Krüger, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 11 Rdnr. 21; Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 11 Rdnr. 34f.; a.A. Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 11 Rdnr. 17; Jarass, in Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 11 Rdnr. 4 m.w.Nw.: Art. 11 GG werde durch Art. 12 GG verdrängt; wieder anders Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 11 Rdnr. 30: beide Grundrechte seien nebeneinander anwendbar.
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C. Grundrechtskonkurrenzen b) Differenzierung
nach Eingriffen
Komplexe Sachverhalte lassen sich aber auch nach Eingriffsakten aufgliedern. Die jeweilige Zielrichtung der hoheitlichen Maßnahmen erlaubt u.U. eine grundrechtsorientiert Zerlegung des tatsächlichen Geschehens. Weigert sich der Wohnungseigentümer, dem Gerichtsvollzieher die Wohnungstür zu öffnen, kann beispielsweise das gewaltsame Eindringen unterteilt werden in die Durchsuchung der Wohnung und das gewaltsame Öffnen der Tür. Die Durchsuchung zielt eher auf den Schutzgegenstand des Art. 13 GG und muß deshalb den Anforderungen des Absatz 2 genügen, die Beschädigung der Tür ist allein an Art. 14 GG zu messen. Folgt man diesem Ansatz, kann das Verfahren insbesondere bei staatlichen Einzelakten (Verwaltungsakte, reales Handeln) sinnvoll sein 27 . Wird beispielsweise eine Gruppe vermummter Personen nach § 17a Abs. 4 VersammlG von den restlichen Versammlungsteilnehmern isoliert, ist deren Versammlungsfreiheit betroffen. Kommt es im Zuge dessen zu Festnahmen oder werden die Demonstranten nach der Auflösung der Demonstration für längere Zeit eingekesselt, wird allein die körperliche Bewegungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG eingeschränkt 28 . Das polizeiliche Handeln kann auf diese Weise in Einzelmaßnahmen zerlegt und gesondert auf seine Grundrechtmäßigkeit untersucht werden. Die Eingriffsabgrenzung versagt jedoch in aller Regel dann, wenn der eingreifende hoheitliche Akt ein Gesetz oder eine sonstige Norm ist 2 9 . Zunächst sind normative staatliche Sanktionen nicht immer konkret genug, um ihnen überhaupt Eingriffsqualität zusprechen zu können. Handelt es sich jedoch um einen Eingriff, kann dieser nicht weiter aufgespalten werden. Bei einer normativen Regelung handelt es sich eben nur um einen einzigen Eingriffsakt - im Gegensatz zu den oben genannten Beispielsfällen. Zudem ergeben sich aus der Entwicklung vom klassischen zum modernen Eingriffsbegriff Schwierigkeiten für eine konsequente Anwendung dieser Methode. Staatliches Handeln muß nicht zielgerichtet und unmittelbar in eine Grundrechtsposition eingreifen. Es genügen u. U. auch zufällige, mittelbare und tatsächliche Eingriffe 30 . Diese Erweiterung hat zur Folge, daß manch hoheitliches Handeln, das final nur ein Verhalten treffen soll, 27
Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1382. Die Verfolgung eines Straftäters bis in seine Wohnung berührt Art. 13 GG, die dort erfolgende Festnahme Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG; Windthorst, Verfassungsrecht I, § 7 Rdnr. 38. 29 Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1382. 30 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 238 ff. 28
III. Abgrenzung zu den sog. „Scheinkonkurrenzen"
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welches von einem Grundrecht geschützt wird, mittelbar auch andere Verhaltensweisen oder Rechtsgüter tangiert, die von anderen Grundrechtsbestimmungen garantiert werden. Polizeiliche Kontrollen, die an sich rechtmäßig sind, aber durch ihren schleppenden Verlauf den Zugang zu einer Versammlung erschweren, greifen unbeabsichtigt in das von Art. 8 GG gewährleistete Versammlungsrecht ein 3 1 . Die Unterscheidung zwischen der Kontrollmaßnahme und den gegen die Versammlung direkt gerichteten Sanktionen würde nicht weiterführen. Die Versammlungsfreiheit ist auch bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Kontrollmaßnahme zu berücksichtigen. Aus diesen Gründen führt die Differenzierung des tatsächlichen Geschehens aus der Eingriffsperspektive nur in wenigen Fällen zu dem gewünschten Erfolg. Es spricht deshalb nichts dafür, dieses Verfahren der Methode der Aufspaltung des tatsächlichen Geschehens nach Handlungsabschnitten vorzuziehen 32 .
2. Tatbestandsabgrenzung Von größerer Bedeutung als die Sachverhaltszerlegung ist die Tatbestandsabgrenzung 33. Durch klare Festlegung der Wirkungsradien der beteiligten Grundrechte ist es durchaus möglich, tatbestandliche Überschneidungen zu verhindern 34 . Ließe sich ein solches Verfahren konsequent für alle Grundrechte durchführen, käme es nicht zu Konkurrenzsituationen. Tatsächlich finden sich in der älteren Literatur Ansätze, die durch systematische Tatbestandsrestriktionen einiger Grundrechte Alternativverhältnisse zwischen den Tatbeständen zu begründen suchen 35 . Eine solche Vorgehens31 BVerfGE 69, 315 (349); Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 8 Rdnr. 35. 32 Siehe auch die Kritik von Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1382; a.A. allerdings Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsfreiheit, S. 294. 33 Die Tatbestandsabgrenzung ist kein speziell grundrechtliches Problem. Auch im Strafrecht herrscht über die Abgrenzung einiger Straftatbestände nach wie vor Streit, der sich in der Konkurrenzdogmatik unmittelbar auswirkt. Akzeptiert man das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der Vermögensverfügung für die räuberische Erpressung, §§ 253, 255 StGB, besteht ein strenges Alternativitätsverhältnis zum Raubtatbestand, § 249 StGB. Verzichtet man mit der Rechtsprechung auf dieses Merkmal, ist jeder Raub zugleich auch eine räuberische Erpressung, da das Opfer die Wegnahme der Sache erdulden muß. Das Konkurrenzverhältnis wäre dann bei einer nach dem äußeren Bild vorgenommenen Wegnahme zugunsten der Anwendbarkeit von § 249 StGB als dem spezielleren Delikt aufzulösen. 34 Lepa, DVB1. 1972, 161 (163); allgemein Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 464. 35 So Ridder, Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 18f.: Immer dann, wenn Kunst gezielt als (polititsche) Meinungsäußerung eingesetzt werde, unterfalle
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C. Grundrechtskonkurrenzen
weise „beseitige die Zwangslage der Rechtsprechung, die durch die Verfassung gesetzten Grenzmarken des allgemeinen Subjektionsverhältnisses, die Garantie und Schrankennormen, ständig erneut verwischen zu müssen" 36 . Deshalb sei eine eindeutige Grenzziehung zwischen den Grundrechten geboten 37 . Unbestreitbarer Vorteil dieser Ansichten ist der Zugewinn an Rechtsklarheit. Prüfungsmaßstab für einen Grundrechtsverstoß ist nur ein einziges Grundrecht. Eine solche generell restriktive, auf Abgrenzung bedachte Tatbestandsanalyse ist jedoch mit dem Charakter der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat nicht vereinbar. Die Kritik an dieser Meinung wurzelt folglich auch in dem vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Grundsatz, daß bei der Auslegung der Grundrechte derjenigen Auslegung der Vorzug zu geben ist, die die juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am stärksten entfaltet 38 . Tatsächlich darf bei der Auslegung eines Grundrechtstatbestands die Vermeidung von Konkurrenzen keine Rolle spielen 39 . Entscheidend ist allein die größtmögliche Grundrechtseffektivität 4 0 . Das Ziel, Konkurrenzsituationen nicht zur Entstehung gelangen zu lassen, ist zudem für alle Grundrechte kaum durchzuhalten, „ohne Wortlaut und Sinn von Grundrechtsvorschriften unter Verletzung der klassisch-juristischen Auslegungsregel Gewalt antun zu müssen" 41 . Diese Ansicht hat sich inzwischen gegen die strenge Abgrenzungsthese völlig zu Recht durchgesetzt 42 . Dennoch ist die Bedeutung einer sauberen und klaren Schutzbereichsdefinition für das Entstehen oder Nichtentstehen einer Konkurrenz offensichtlich. Genügt ein architektonisch schlichtes Gebäude nicht dem Kunstbegriff, entfallen die unter dem Stichwort Baukunst diskutierten Konflikte zwischen Art. 14 GG und Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG. Das Bauwerk ist nur sie nur Art. 5 Abs. 1 GG. Ähnlich auch Wehrhahn, AöR 82 (1957), 250 (273); Schnur, VVDStRL 22 (1963), 101 (144f.); Gygi, Grundrechtskonkurrenz?, in: Beiträge zum Verfassungs- und Verwaltungsrecht, S. 26 ff. 36 Wehrhahn, AöR 82 (1957), 250 (274). 37 Wehrhahn, AöR 82 (1957), 250 (274). 38 So schon Lepa, DVB1. 1972, 161 (163) unter Verweis auf BVerfGE 6, 55 (72). Zusammenfassend Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 44 f. 39 Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (53). 40 BVerfGE 39, 1 (38), 59, 231 (265); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 3. Aufl., Art. 1 Abs. 3 Rdnr. 105; v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Vorb. Art. 1-19 Rdnr. 51; anders aber Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 64. 41 Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 44; Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 75f.; Lepa, DVB1. 1972, 161 (163). 42 Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 75; Lepa, DVB1. 1972, 161 (163); Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (53); Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1383.
IV. Darstellung und Kritik der Lösungsvorschläge
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innerhalb der Inhalts- und Schrankenbestimmungen der Eigentumsfreiheit geschützt. Entscheidend ist also die Definition des Merkmals „Kunst" im Tatbestand von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht versucht, insbesondere das Verhältnis der Berufsfreiheit zur Eigentumsfreiheit mittels genauer Grenzziehung zwischen den Tatbeständen zu erfassen. Nach der vom Gericht geprägten Faustformel schützt Art. 12 GG den Erwerb, Art. 14 GG hingegen das Erworbene 43 . Die Berufsfreiheit ist demnach in erster Linie persönlichkeitsbezogen, die Eigentumsfreiheit objektbezogen. Die Schwierigkeiten dieser Abgrenzungsmethode werden sichtbar, wenn eine staatliche Maßnahme in das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb eingreift 44 . Die Nutzung von Produktionsanlagen und geistigem Kapital (Patente, Geschmacksmuster, Kundendaten etc.) dient der Gewinnerwirtschaftung und ist daher typisch erwerbswirtschaftlich ausgerichtet. Gleichzeitig macht der Unternehmer von seinem Eigentumsrecht Gebrauch. Eine klare tatbestandliche Abgrenzung zwischen beiden Grundrechten in diesem Sektor ist kaum durchzuhalten. Es bietet sich eine Lösung auf Konkurrenzebene an. Auch im personellen Schutzbereich ist eine genaue Tatbestandserfassung von großer Bedeutung. Die Frage, ob sich eine Person auf den Schutz eines Grundrechtes berufen kann, hat unmittelbare Auswirkungen auf die Konkurrenzsituation. Von der Beantwortung der immer noch umstrittenen Frage, inwieweit ein Kunstkritiker dem personellen Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG unterfällt 45 , hängt es ab, ob Eingriffe lediglich an Art. 12 Abs. 1 GG zu messen sind oder ob auch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG als Prüfungsmaßstab herangezogen werden muß.
IV. Darstellung und Kritik der Lösungsvorschläge zur Behandlung von Grundrechtskonkurrenzen 1. Einleitung Die Diskussion über das Verhältnis der Grundrechte zueinander, insbesondere das Sonderproblem der Grundrechtskonkurrenzen, wird seit Inkrafttreten des Grundgesetzes geführt. Überblicksartige Darstellungen über die bisher entwickelten Lösungsvorschläge zur Konkurrenzproblematik finden 43
(377).
BVerfGE 31, 8 (32); 82, 209 (234); 84, 133 (157); 85, 360 (383); 88, 366
44 Vgl. Bryde, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 14 Rdnr. 109. 45 Verneinend BVerfG (Kammer) NJW 1993, 1462; Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 III Rdnr. 28; bejahend Mahrenholz, HbdVerfR, § 26 Rdnr. 52 f.
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C. Grundrechtskonkurrenzen
sich selten 46 . Wenn überhaupt, wird nur unvollständig bzw. partiell auf vorherige Beiträge Bezug genommen. Dieser Befund ist auch nicht verwunderlich, zieht man in Betracht, daß sowohl die Ausgangspositionen der Autoren als auch die verwendete Terminologie nicht selten differieren. Im folgenden soll deshalb der Versuch unternommen werden, die einzelnen in der Literatur vertretenen Ansichten darzustellen und unter Einbeziehung der wenigen Stellungnahmen der Rechtsprechung zu systematisieren. In der Literatur zur Dogmatik der Grundrechtskonkurrenzen sind im wesentlichen drei Gruppen unterschiedlicher Lösungsvorschläge für die Behandlung von Konkurrenzsituationen entwickelt worden. Es handelt sich dabei um die normverdrängende Lösung, die normkumulierende Lösung und die normkombinierende Lösung. Alle drei Varianten unterscheiden sich grundlegend voneinander. Sie finden sich in ihrer Reinform in den einzelnen Beiträgen der Literatur selten. Vielmehr werden sie häufig innerhalb eines Gesamtlösungsvorschlages kombiniert und je nach Einzelfall zur Anwendung gebracht.
2. Normverdrängende Lösung Die normverdrängende Lösung basiert auf dem methodischen Prinzip der Widerspruchsvermeidung durch Verdrängung einer der beteiligten Normen 47 . Die Widersprüchlichkeit der Rechtsfolgen als „unduldbarer Zustand" wird also dadurch aufgehoben, daß eine Norm im Rechtsanwendungsprozeß unberücksichtigt bleibt. Welche der beiden Normen letztlich anzuwenden ist, soll durch eine sorgfältige Analyse der Rechtssätze oder der Eingriffsakte ermittelt werden. Methodisches Instrument dieses Verfahrens ist also die Auslegung. Insoweit unterscheiden sich die einzelnen Ansichten innerhalb der normverdrängenden Lösung nicht. Allerdings finden sich mehrere Begründungsmuster, die nicht unerheblich voneinander abweichen. Alle Theorien beruhen zwar auf dem Prinzip der Normverdrägung, sie differieren jedoch in den Kriterien, die für die Entscheidung, welche Norm verdrängt wird, maßgeblich sein sollen.
46 Ausführlicher nur Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 49 ff.; Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1390ff.; Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (53). 47 Siehe dazu oben S. 3Iff.
IV. Darstellung und Kritik der Lösungsvorschläge a) Tatbestandsorientierte
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Verdrängung
Nach der tatbestandsorientierten Theorie soll sich eine Lösung für grundrechtliche Konkurrenzsituationen allein aus dem (abstrakten oder konkreten) Verhältnis der involvierten Grundrechtstatbestände ergeben 48 . Die Grundlage für diese Lösungsvariante bildet der Satz vom Anwendungsvorrang der speziellen Norm vor der allgemeinen. Die Auflösung der Konkurrenzlage erfolgt durch Verdrängung der allgemeineren der beteiligten Rechtsnormen. Konkurrieren eine spezielle und eine allgemeine Norm um ihre vorrangige Anwendung, kommt diese grundsätzlich der spezielleren Norm zu. Welche Voraussetzungen eine Norm erfüllen muß, um als „speziell" zu gelten, wird nicht einheitlich beurteilt. aa) Normlogische Spezialität Allgemein gilt, daß jedenfalls diejenigen Normen vorrangig anzuwenden sind, die gegenüber den konkurrierenden Normen normlogisch speziell sind. Normlogische Spezialität liegt immer dann vor, wenn sich die Tatbestände der konkurrierenden Normen zueinander verhalten wie die Flächen zweier konzentrischer Kreise mit unterschiedlichen Radien; d.h. der engere Tatbestand der speziellen Norm muß gegenüber dem Tatbestand der allgemeinen Norm mindestens ein zusätzliches, spezialisierendes Tatbestandsmerkmal enthalten. Regelt die tatbestandlich engere Norm etwas von der tatbestandlich weiteren Norm Abweichendes, ist zu vermuten, daß der Gesetzgeber die spezielle Norm nur deshalb geschaffen hat, damit die Rechtsfolge der allgemeinen Rechtsnorm nicht zur Anwendung kommt. Die auf Rechtsfolgenseite abweichende Spezialregelung ist also eine vorrangig zu berücksichtigende Sondervorschrift. Für die konkurrierende allgemeine Grundrechtsnorm bedeutet dies im Umkehrschluß, daß sie zum Zweck der Widerspruchsvermeidung verdrängt werden muß 4 9 . Für den Bereich der Grundrechtsnormen sind normlogische Spezialitätsverhältnisse als mögliche Konkurrenzrelationen ganz überwiegend anerkannt 50 . Im einzelnen ist die Einordnung und Qualifikation der Grund48 Insbesondere Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II Rdnr. 31 Fn. 4: „Dabei sei besonders betont, daß für die Lösung von Grundrechtskonkurrenzen selbstverständlich nur von den Tatbeständen (Schutzbereichen) der Grundrechte, nicht von den ihnen beigefügten Schranken und Gesetzesvorbehalten auszugehen ist (...)." 49 Allgemein zur Vermutungswirkung der normlogischen Spezialität oben S. 36ff. 50 BVerfGE 84, 34 (58); 85 219 (223); Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Vorb. vor Art. 1 Rdnr. 18; Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 136; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 339ff.; Bleckmann, Staatsrecht II, § 14 Rdnr. 8 ff.; Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (57). Grundsätzlich ablehnend Berg,
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C. Grundrechtskonkurrenzen
rechtsnormen als jeweils spezielle und generelle Normen jedoch heftig umstritten. Hinzu kommen terminologische Unklarheiten, so daß ein deutliches Bild des Diskussionsstandes nur schwer nachzuzeichnen ist 5 1 . Ein echtes normlogisches Spezialitätsverhältnis besteht nach verbreiteter Ansicht zwischen der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG und den besonderen Freiheitsrechten 52. Der Tatbestand des Art. 2 Abs. 1 GG erfaßt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts und weiten Teilen der Literatur jedes menschliche Handeln 53 . Die besonderen Freiheitsrechte sind, sofern sie ebenfalls Verhaltensfreiheiten garantieren, demgegenüber tatbestandlich auf einen Ausschnitt menschlicher Verhaltensweisen beschränkt, wie z.B. jedes beruflich, künstlerisch oder religiös motivierte Tun oder Unterlassen. Daraus wird geschlußfolgert, daß jedes einzelne Freiheitsrecht gegenüber Art. 2 Abs. 1 GG die speziellere Regelung sei 5 4 . Weitgehend anerkannt ist auch die Spezialität der besonderen Gleichheitssätze 55 , wie etwa Art. 3 Abs. 2 S. 1 und 3 G G 5 6 , Art. 6 Abs. 5 G G 5 7 , Art. 28 Abs. 1 S. 2 i.V.m. Art. 38 Abs. 1 S. 1 G G 5 8 , Art. 33 Abs. 1 - 3 Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 161 ff.; Peters, in: Festschrift für Arnold, S. 117ff., 121 f.; Berkemann, NVwZ 1982, 85; vgl. auch Klein, in: v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl., Vorbem. Β XV 2 b. 51 In der grundrechtsdogmatischen Literatur werden eine Reihe von Begriffen verwendet, wie z.B. „Gesetzeskonkurrenz", „echte Gesetzeskonkurrenz", „Idealkonkurrenz", „Spezialität", „Subsidiarität", „Konsumtion", „echte bzw. unechte Konkurrenz", „Tatbestandskonkurrenz", „Rechtsfolgenkonkurrenz", „abstrakte und konkrete Konkurrenz", die teilweise dieselbe Bedeutung besitzen, teilweise völlig andere dogmatische Grundansätze charakterisieren. Hier geht es zunächst nur darum, diese einzelnen Ansätze darzustellen. Im Interesse einer besseren Verständlichkeit soll zunächst darauf verzichtet werden, die Brauchbarkeit oder Unbrauchbarkeit der Begriffe zu diskutieren. 52 BVerfGE 6, 32 (36); 67, 157 (171); 89, 48 (61); BVerwG NVwZ 1984, 514 (515); BGHSt 4, 385 (391); Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II Rdnr. 32ff.; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 97, Art. 2 I Rdnr. 66; Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 137; Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1393 mit umfangreichen Nw.; a.A. aufgrund eines anderen Verständnisses von Art. 2 Abs. 1 GG Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Rdnr. 428 m. w. Nw. 53 Grundlegend BVerfGE 6, 32 ff. In jüngerer Zeit wurde die Diskussion erneut angeregt durch die dissentierenden Voten des Verfassungsrichters Grimm, vgl. BVerfGE 80, 137 (164ff.); zustimmend Duttge, NJW 1997, 3353ff.; mit überzeugenden Argumenten dagegen Schnapp, NJW 1998, 960; umfassend dazu auch Pieroth, AöR 115 (1990), 33 ff. 54 Für die h.M. Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (57); differenzierend Scholz, AöR 100 (1975), 80 (123 ff.). 55 Teilweise handelt es sich um Grundrechtsnormen, teilweise um einfache Verfassungsnormen. 56 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 429.
IV. Darstellung und Kritik der Lösungsvorschläge
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G G 5 9 , Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1, 2 W R V 6 0 , gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG 6 1 . Die Frage, ob zwischen den besonderen Freiheitsrechten Spezialitätsverhältnisse denkbar sind, wird hingegen kontrovers diskutiert 62 . Hier finden sich für jede denkbare Normkonstellation befürwortende und ablehnende Stimmen. Insbesondere im Verhältnis der Meinungsäußerungsfreiheit zu anderen Kommunikationsfreiheiten läßt sich eine deutliche Tendenz zur Annahme eines normlogischen Spezialitätsverhältnisses erkennen 63 . So soll Art. 4 Abs. 1 GG als weltanschauliche und religiöse Bekenntnisfreiheit immer dem Basisgrundrecht des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG vorgehen 64 . Das würde bedeuten, daß im Anwendungsbereich der Glaubensfreiheit nicht auf den Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit zurückgegriffen werden kann. Voraussetzung für normlogische Spezialität ist jedoch, daß der Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1 GG in jedem Fall nur einen Ausschnitt des Schutzbereichs von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG bildet. Jeder Verhaltensweise, die durch Art. 4 Abs. 1 GG geschützt wird, müßte also ein Erklärungswert i.S. einer Meinungsäußerung zugemessen werden können. Dies trifft jedoch schon prima facie nicht zu. Art. 4 Abs. 1 GG geht in seiner Schutzwirkung über den Aspekt der Meinungsäußerung hinaus. So ist nicht nur das glaubensgeleitete Handeln vom Schutzbereich der Glaubens- und Gewissensfreiheit 57
BVerfGE 44, 1 (18); 74, 33 (38); Schmitt-Kammler, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 6 Rdnr. 89. 58 BVerfG NJW 1999, 43 (44). 59 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 429. 60 Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 140 Art. 136 WRV Rdnr. 2. 61 Teilweise werden auch weitere Grundrechte und Verfassungsnormen als Spezialregelungen angesehen; vgl. etwa Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1402: Art. 12 Abs. 2 GG; Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG (Verbot des Einzelfallgesetzes); Art. 21 GG; Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG. Die genannten Regelungen treffen zwar u.a. Anordnungen über die Gleichbehandlungspflicht für bestimmte Sachverhalte, ob es sich dabei aber um Fälle der normlogischen Spezialität - oder, wie Stern a.a.O. formuliert, der „logischen Exklusion" - handelt, erscheint hinsichtlich ihrer komplexen Strukturen zweifelhaft. 62 Grundsätzlich ablehnend Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 97; zustimmend hingegen Bethge, LdR 5/340, S. 2ff.; Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II Rdnr. 33. 63 Ausdrücklich Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II Rdnr. 32, 33; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 326f.; Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1403. 64 BVerfGE 32, 98 (107); BVerfG (Kammer) DVB1. 1993, 1204; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 4 Abs. 1, 2 Rdnr. 131 f.; Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 18; Art. 5 Abs. I, II Rdnr. 33; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 5; Bethge, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 48; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 327.
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C. Grundrechtskonkurrenzen
erfaßt. Das Grundrecht schützt auch die Freiheit zur Bildung einer Glaubensvorstellung sowie die inneren Vorstellungen selbst (forum internum) 65 . Diese rein geistigen „Handlungen" besitzen keine äußere Entsprechung. Sie sind für Dritte nicht erkennbar. Folglich fehlt es in diesem Bereich an einem für Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG notwendigen Äußern einer Meinung. Die Überschneidungen der Schutzbereiche der beiden Freiheitsgrundrechte sind also nur partiell. Damit kann also nicht - jedenfalls nicht mit der hier dargestellten Begründung - von normlogischer Spezialität und logischer Exklusion gesprochen werden 66 . bb) Normative Spezialität Um den Begründungsschwierigkeiten für normlogische Spezialitätsverhältnisse zu entgehen, wird vornehmlich durch die Literatur auf das zweite methodische Spezialitätskonzept zurückgegriffen, daß im folgenden als normative Spezialität bezeichnet werden soll 6 7 . Danach kann in den Fällen der lediglich partiellen Überdeckung von grundrechtlichen Tatbeständen eine Verdrängung der allgemeineren durch die speziellere Norm stattfinden, wenn feststeht, daß die speziellere Norm eine abschließende Sonderregelung für den zu entscheidenden Sachverhalt darstellt 68 . Ob ein Grundrecht gegenüber einem anderen in diesem Sinne speziell ist, soll nach Ansicht der Befürworter dieses Konzepts durch eine wertende Argumentation ermittelt werden 69 . Erforderlich sei dazu ein offener Argumentationsprozeß, in dem die Entscheidung für den Vorrang der einen oder anderen Norm argumentativ-sachlich begründet werden müsse 70 . Als tat65
Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 35 f. So aber Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1400. 67 Der Begriff findet sich wohl erstmals bei Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 53. Teilweise firmiert die normative Spezialität auch unter den Bezeichnungen „Konsumtion", Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1398 ff., „Rechtsfolgenspezialität" bzw. „Gesetzeskonkurrenz", Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 331; ders., JA 1979, 191 (192) oder „konkrete Spezialität", Kingreen, Die verfassungsrechtliche Stellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft im Spannungsfeld zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten, S. 99. 68 Allgemein bereits Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 89 f. Siehe dazu auch oben S. 21. Für den Bereich der Grundrechte Breuer, HbdStR VI, § 147 Rdnr. 98; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 331 f.; Schwacke/Stolz/Schmidt, Staatsrecht, S. 247; Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 297 f. Kritisch gegenüber dieser Form der Spezialität Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II Rdnr. 36. 69 Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1400; Schwacke/Stolz/Schmidt, Staatsrecht, S. 247. 70 Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (57), der allerdings aufgrund eines abweichenden Verständnisses der Strukturen der Grundrechtsnormen eine terminologische Unterscheidung zwischen „materialer Spezialität" und „materialer Subsidiarität" trifft. 66
IV. Darstellung und Kritik der Lösungsvorschläge
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bestandlich orientiertes Argumentationskriterium wird u.a. das Kriterium der konkret höheren Sachnähe oder größeren Sachzentralität vorgeschlagen 71 . Entscheidend soll sein, welches Grundrecht nach seinem Sinngehalt die stärkere sachliche Beziehung zu dem zu prüfenden Sachverhalt aufweist 7 2 . Es wird gefragt, ob das zu bevorzugende Grundrecht eine schon allgemein abgesicherte Tätigkeit besonders schützt 13. So sei etwa das Ausstellen von Kunstwerken durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG spezifisch abgesichert, da die Ausstellung als ein dem Wesen der Kunst entsprechender Gebrauch angesehen werden müsse. Staatliche Eingriffe, die beispielsweise als Berufsausübungsregelungen für den ausstellenden Künstler nach Art. 12 Abs. 1 GG zulässig sind, wären dennoch nur am Maßstab des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG zu messen 74 . Teilweise wird auch die Entstehungsgeschichte der Normen herangezogen, um die Existenz von Spezialitätsverhältnissen zu untermauern 75 . In vielen Fällen läßt die Feststellung normativer Spezialität jedoch fundierte, dogmatisch abgesicherte Begründungen vermissen. Es wird häufig nur in einem Nebensatz darauf hingewiesen, daß ein bestimmtes Grundrecht insoweit oder in der Regel gegenüber einem anderen als speziell zu gelten habe. Dieses Begründungsdefizit erklärt sich aus der Vielgestaltigkeit der grundrechtlich geschützten Verhaltensweisen und Rechtsgüter. Die auf der Basis einer wertenden Argumentation gefundenen Ergebnisse sind nur bedingt verallgemeinerungsfähig. Die Abhängigkeit vom Einzelfall ist zu groß, als daß auf diesem Wege gesicherte Aussagen über abstrakte Grundrechtsrelationen zu gewinnen sind. Dennoch ist die normative Spezialität ein wichtiges Begründungsmuster zur Auflösung von Konkurrenzsituationen. Voraussetzung ist jedoch eine eingehende Analyse der Tatbestände der beteiligten Grundrechtsnormen. Nur wenn es gelingt, eine allgemeingültige Systematik für die jeweilig geschützten Rechtsgüter zu entwickeln, wird die 71
Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. III Rdnr. 13, im Anschluß an Leisner, UFITA 37 (1962), 129 (146); Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 97. Bethge, LdR, 5/340, S. 5 bezeichnet diese Art der verdrängenden Konkurrenz als partielle Idealkonkurrenz, die im Ergebnis aber eher zur Gesetzeskonkurrenz tendiere. Dies verdeutlicht, wie wenig durch die begriffliche Unterscheidung von Gesetzes- und Idealkonkurrenz gewonnen ist. 72 So BVerfGE 64, 229 (238); 65, 104 (112); 67, 186 (195) zum Verhältnis zwischen Art. 3 Abs. 1 GG und den nachfolgenden Freiheitsrechten. Allgemein Schwacke/Stolz/Schmidt, Staatsrecht, S. 247; Schwacke, Grundrechtliche Spannungslagen, S. 40 ff. 73 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3 Rdnr. 254. 74 Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 53. 75 BVerfGE 30, 173 (191).
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C. Grundrechtskonkurrenzen
Präferenzentscheidung auf wertender Grundlage nachvollziehbar sein. Kriterien wie „Sachnähe" oder „stärkere sachliche Beziehung" sind jedenfalls nicht in der Lage, den Vorrang der einen oder der anderen Norm stichhaltig zu begründen. cc) Sonderproblem personeller Schutzbereich Ein Sonderproblem der Spezialitätsverhältnisse wird häufig im sog. personellen Schutzbereich der Grundrechte gesehen76. Treffen zum Beispiel ein spezielles Freiheitsrecht und die allgemeine Handlungsfreiheit aufeinander, soll Art. 2 Abs. 1 GG nur dann zur Anwendung kommen, wenn das spezielle Grundrecht nicht deshalb tatbestandlich ausscheidet, weil der Grundrechtsberechtigte kein Deutscher im Sinne des Grundgesetzes ist 7 7 . Der Deutscheneigenschaft wird also eine Sperrwirkung auch in bezug auf den Schutz von Art. 2 Abs. 1 GG zugesprochen 78. Konkurrenzdogmatisch läßt sich ein solcher Ansatz nur schwerlich begründen. Sofern die an sich normlogisch speziellere Norm tatbestandlich ausscheidet, liegt schon kein Konkurrenzverhältnis mit Art. 2 Abs. 1 GG vor. D.h. die allgemeine Handlungsfreiheit wird auch nicht normlogisch verdrängt. Dagegen wird u.a. eingewandt, das Merkmal Deutscher in den Grundrechtsbestimmungen etwa der Art. 8 Abs. 1, 9 Abs. 1, 11 Abs. 1, 12 Abs. 1 und 16 Abs. 2 GG sei kein positives Merkmal wie etwa die Begriffe „Kunst", „Vereinigung" oder „Versammlung". Vielmehr handele es sich um ein negatives Tatbestandsmerkmal (Begrenzungsmerkmal), das im Falle seiner Erfüllung oder Nichterfüllung eine eigene, von der sachlichen Schutzwirkung zu unterscheidende personelle Schutzwirkung nach sich ziehe 79 . Diese Schutzwirkung führe dazu, daß im Falle der thematischen Einschlägigkeit eines Deutschengrundrechts die Berufung der Ausländer auf den Schutz von Art. 2 Abs. 1 GG ausgeschlossen sei 80 . Ob dieser Ansicht zugestimmt werden kann, hängt folglich von der Beurteilung der Normstruktur der Grundrechtsnormen und der Einordnung der einzelnen Tatbestandsmerkmale ab. Geht man mit der Gegenansicht davon aus, daß dem Merkmal Deutscher kein besonderer Status innerhalb des Tatbestandes zukommt 8 1 , schaltet ein an die Staatsbürgerschaft gekop76 Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 334ff.; ders., JA 1979, 191 (192 f.); Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1400. 77 Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, S. 142; Schwabe, NJW 1974, 1044. 78 Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 335 ff.; Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (55). 79 Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (55). 80 Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (57).
IV. Darstellung und Kritik der Lösungsvorschläge
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peltes Grundrecht den Schutz des allgemeinen Art. 2 Abs. 1 GG in keinem Falle aus. b) Eingriffsorientierte
Verdrängung
Ein weiterer Vorschlag innerhalb der Gruppe der Verdrängungslösungen bezieht sich auf die eingreifende hoheitliche Maßnahme und ihre Zielrichtung. Entscheidend für die Präferenzentscheidung soll sein, ob sich der staatliche Eingriff eher gegen das Schutzgut des einen oder des anderen Grundrechtes richtet82. Ausgangspunkt der Überlegungen ist dabei die Feststellung, daß jede Grundrechtsbestimmung eine bestimmte Verhaltensweise schützt, zugleich aber auch die besonderen Gefahren, die sich aus der Grundrechtsverwirklichung für andere Rechtsgüter ergeben können, berücksichtigt. Dieser Zusammenhang wird für die Entscheidung, welches Grundrecht zu bevorzugen ist, nutzbar gemacht. Es wird gefragt, welche Gefahr durch die hoheitliche Maßnahme bekämpft werden soll und welche Schrankenregelung diese Gefahr besonders erfaßt 83 . Die so ermittelte Schrankenklausel soll dann allein für die Fallentscheidung maßgeblich sein. Abgestellt wird dabei auf den Willen desjenigen, der in Ausübung der staatlichen Befugnisse handelt. Im Falle eines Versammlungsverbotes wäre demnach zunächst festzustellen, ob die eingreifende Regelung getroffen wird, um versammlungstypischen Gefahren zu begegnen, also Gefahren, die von einer Versammlung gerade wegen ihrer großen Teilnehmerzahl und der damit verbundenen physischen und massenpsychologischen Phänomene ausgehen, oder ob die Versammlung wegen der geäußerten Meinungsinhalte und ihrer Gefahren für die persönliche Ehre, den Jugendschutz und die von den allgemeinen Gesetzen geschützten Rechtsgüter verboten oder aufgelöst 81 Stem, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 1041; Isensee, VVDStRL 32 (1974), 80; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 9; Hesse, HbdVerfR, § 5 Rdnr. 53; Lerche, HbdStR V, § 121 Rdnr. 14; Sachs, BayVBl. 1990, 385 (389); im Ergebnis auch Quaritsch, HbdStR V, § 120 Rdnr. 130 ff. 82 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II Rdnr. 38; Schwark, Der Begriff der Allgemeinen Gesetze4 in Art. 5 Abs. 2 des Grundgesetzes, S. 128; Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 8 Rdnr. 77 für das Verhältnis von Art. 5 zu Art. 8 GG; Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1406 im Anschluß an Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 137 f. Andeutungsweise auch Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3 Rdnr. 254; sowie Windthorst, Verfassungsrecht I, § 7 Rdnr. 48ff.: „Das [...] Vorrangverhältnis kann daher nur eingriffsbezogen auf der Grundlage des unterschiedlichen Schutzzwecks der Grundrechtsgewährleistungen ermittelt werden." 83 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II Rdnr. 38, Art. 8 Rdnr. 22; Kloepfer, HbdStR VI, § 143 Rdnr. 72; zustimmend auch Würkner, Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, S. 165. 5 Heß
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C. Grundrechtskonkurrenzen
wird. Je nach Zielrichtung des Hoheitsaktes wäre die Schrankenreglung des Art. 8 Abs. 2 GG oder die des Art. 5 Abs. 2 GG einschlägig 84 . Da nach dieser Ansicht eine Schrankenübertragung nicht in Rede steht, wäre insgesamt entweder Art. 8 oder Art. 5 Abs. 1, 2 GG anwendbar 85 . Nach dem ersten Anschein handelt es sich bei dieser Auffassung um die Kehrseite derjenigen Theorien, die sich am Verhältnis der Tatbestände zueinander orientieren (normative Spezialität). Dort wird gefragt, welches Grundrecht zu der zu beurteilenden menschlichen Verhaltensweise den stärkeren sachlichen Bezug aufweist, wobei eine objektive Analyse der betroffenen Schutzgüter angestellt wird. Nach der hier dargestellten Meinung kommt es umgekehrt auf die subjektive Sicht des Eingreifenden und den Zweck des Eingriffs - also dessen Zielrichtung - an. Beide Theorien versuchen, in der Einzelfallentscheidung die betroffenen Grundrechte voneinander abzuschichten. Zu unterscheiden scheint sich lediglich der Blickwinkel, aus dem heraus die Präferenzentscheidung getroffen wird. Dieser Eindruck täuscht. Tatsächlich handelt es sich nicht nur um einen Perspektivenwandel bei der Feststellung normativer Spezialitätsverhältnisse, sondern um grundlegend verschiedene Lösungen. Die eingriffsbezogene Theorie führt mit dem Zweck oder der Intention des Grundrechtseingriffs bzw. der Grundrechtsbeeinträchtigung einen neuen Aspekt in die Konkurrenzdiskussion ein. Die Entscheidung über die vorrangige Anwendbarkeit des einen oder des anderen Grundrechts wird nicht auf der Basis des sachlichen Gewährleistungstatbestandes getroffen, sondern hängt von einem außerhalb der Garantieebene angesiedelten Element ab. Ob der argumentative Rückgriff auf die beeinträchtigende hoheitliche Maßnahme überhaupt systemgerecht ist, muß zunächst begründet werden. Das Vorliegen eines Grundrechtseingriffes ist logische Voraussetzung für die Entstehung von grundrechtlichen Abwehr- und Unterlassungsansprüchen. Sofern es also um die Lösung von Konkurrenzen zwischen diesen grundrechtlichen Reaktionsansprüchen bzw. deren normativen Grundlagen ginge, wäre der Eingriff als Anspruchsvoraussetzung entscheidungserheblich und könnte zur Konkurrenzlösung herangezogen werden. Daher muß zunächst festgestellt werden, worin der Normgehalt der Grundrechtsnormen besteht. Aus der Beantwortung dieser Frage ergibt sich dann die Struktur der Grundrechtsnormen. Nur wenn feststeht, daß der Grundrechtseingriff ein Element der primären grundrechtlichen Entscheidungsnorm ist, um die es hier schließlich geht, können Ziel- und Schutzrichtung des eingreifenden 84
Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II Rdnr. 39; Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1407. 85 Windthorst, Verfassungsrecht I, § 7 Rdnr. 51 : „alleiniger Prüfungsmaßstab".
IV. Darstellung und Kritik der Lösungsvorschläge
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staatlichen Handelns für die Feststellung von Verdrängungsverhältnissen eine Rolle spielen 86 . Vorausgesetzt, diese Frage ist zu bejahen, sprechen aber noch weitere Gründe gegen diese Vorgehensweise. Die eingriffsorientierte Theorie wird immer dann in Schwierigkeiten kommen, wenn der betreffende Hoheitsakt nicht zielgerichtet in das eine oder andere Grundrecht eingreift. Anerkanntermaßen können Grundrechtsbeeinträchtigungen auch durch sog. faktische Maßnahmen ausgelöst werden 87 . So kann es zwar an der Finalität oder Unmittelbarkeit des Staatshandelns fehlen, dennoch ist u.U. das grundrechtsverkürzende Ereignis dem Verantwortungsbereich des Staates zuzurechnen 88 . Notwendigerweise fehlt es dann aber an Anhaltspunkten, um die Schutzintention - sofern eine solche überhaupt Grundlage des Handelns ist - feststellen zu können. Die eingriffsorientierte Abschichtungsmethode muß hier zwangsläufig versagen 89. Der Anwendungsbereich jedenfalls der Herzog'sehen Methode ist zudem nur auf einen Teil - wenn auch sicher den größeren Teil - der Grundrechte beschränkt. Nicht aus jeder Schrankenklausel des Grundrechtskatalogs lassen sich konkret grundrechtsspezifisch gefährdete Gemeinwohlbelange ableiten. Für Art. 5 Abs. 2 GG, Art. 11 Abs. 2 GG oder Art. 14 Abs. 2 GG macht diese Feststellung keine Schwierigkeiten. Das Grundgesetz selbst nennt das Recht der persönlichen Ehre, den Jugendschutz, die Raumnot und die Seuchengefahr oder allgemein die soziale Bedeutung des Eigentums. Anders verhält es sich jedoch, wenn die Begrenzungsregelung nur aus einem einfachen Gesetzesvorbehalt besteht, wie etwa bei Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG, Art. 8 Abs. 2 GG, Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG. Auch wenn wertungsmäßig nur gewisse öffentliche oder private Interessen das jeweilige Abwehrrecht beschränken können (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) 90 , so gibt es rein inhaltlich keine Zuordnungskriterien. Jedes andere Rechtsgut ist prinzipiell in der Lage, diese Grundrechte über die Anwendung des Gesetzesvorbehalts einzuschränken. Dies gilt auch für die Versammlungsfreiheit. Die 86
Kritisch zu dieser Frage Wallerath, Öffentliche Bedarfsdeckung und Verfassungsrecht, S. 228. 87 BVerfGE 66, 39 (60); 76, 1 (42); Lorenz, HbdStR VI, § 128 Rdnr. 24; Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 83; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 82; Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 445; Albers, DVB1. 1996, 233. 88 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 240. 89 Deshalb ist dieses Verfahren nur dann nutzbringend anwendbar, wenn es sich um Eingriffe der Legislative handelt. Mittels Gesetzesauslegung kann die Ziel- und Zwecksetzung der eingreifenden Maßnahmen in aller Regel festgestellt werden; Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1407. 90 Vgl. für Art. 8 GG Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 8 Rdnr. 94: „Güterabwägung". *
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C. Grundrechtskonkurrenzen
Bedeutung des Art. 8 Abs. 2 GG wird verkannt, wenn die Einschränkbarkeit der Versammlungsfreiheit auf die Abwehr versammlungstypischer Gefahren reduziert wird. Die Rechtsgüter, die in Konflikt mit der Versammlungsfreiheit treten können, sind sehr vielfältig 91 . In Rede stehen nicht nur Belange, die nur dadurch gefährdet sind, daß sich eine größere Menschenmenge ansammelt, sondern auch Rechtsgüter, die nicht im Zusammenhang mit dem Teilnehmerkreis oder dem Verhalten der Versammlungsteilnehmer stehen 92 . Für diese Grundrechte sind daher die durch die Schrankenklauseln abgesicherten Gemeinwohlbelange deckungsgleich oder doch zumindest ähnlich. Die Analyse der Zielrichtung der Eingriffsmaßnahme läßt in diesen Fällen keine Schluß darüber zu, welche Schrankenregelung dem zu überprüfenden Sachverhalt zuzuordnen ist 9 3 .
3. Normkumulierende Lösungen a) Theorie der rechtsfolgenverdrängenden
Idealkonkurrenz
Die hier so benannte Theorie der Rechtfolgenverdrängung wird in der Literatur zumeist als Theorie vom „Schutzmaximum" bezeichnet und in der Regel als herrschende Meinung deklariert 94 . Nach dieser Ansicht sollen die konkurrierenden Grundrechte in einem Verhältnis der Idealkonkurrenz stehen, wenn sich aus Spezialitätsgesichtspunkten kein Ausschlußverhältnis ergibt 95 . Unter Idealkonkurrenz wird dabei das unbeeinflußte Nebeneinander von Tatbeständen und Schrankenregelungen der beteiligten Grundrechtsnormen verstanden 96. Für den geschützten Verhaltensbereich bedeutet dies, das sich der Schutzumfang nach beiden anwendbaren Grundrechten bestimmt (sog. Schutzkumulation) 97 . Die Idealkonkurrenz entspricht damit dem Grundfall der kumulativen Konkurrenz von Rechtsnormen. Für den Fall der Schrankendivergenz dieser Grundrechte bedeutet dies, daß die Rechtmäßigkeit eines Eingriffes demnach auch an demjenigen Grundrecht gemessen werden muß, das die höheren Anforderungen an seine Einschränkbarkeit stellt 98 . Entscheidend wird damit die Rechtsfolge 91
Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 8 Rdnr. 102. Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 8 Rdnr. 102. 93 Ebenfalls kritisch, aber im Ergebnis zu weitgehend Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 361 ff., 420. 94 Vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1391. 95 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Vorb. vor Art. 1 Rdnr. 18; Pieroth/ Schlink, Grundrechte, Rdnr. 343. 96 Zum Begriff Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 332f.; Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 79. 97 Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (59). 92
IV. Darstellung und Kritik der Lösungsvorschläge
69
der stärksten Grundrechtsnorm 99 . Die konkurrierenden Grundrechte, die einen schwächeren Schutz gewähren, verlieren ihre Bedeutung für die Fallbeurteilung. Begründet wird dieses Ergebnis unterschiedlich. Die Grundrechte, so die erste Argumentation, wollten einen möglichst weitgehenden Schutz gewähren. Weil nun die stärkere Grundrechtsbestimmung die größere Freiheit sichere, müsse diese Norm auch allein Geltung beanspruchen („in dubio pro libertate") 1 0 0 Nach anderer Ansicht soll die Begründung in der Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat zu finden sein 1 0 1 . Änlich wie zivilrechtliche Anspruchsgrundlagen müßten auch die Grundrechtsbestimmungen nebeneinander stehen, da diese im Grunde nichts anderes seien als Anspruchsgrundlagen der Unterlassungs- und Abwehransprüche des Bürgers gegen den Staat. Der Anspruchsinhaber müsse sich diejenige Norm aussuchen können, die ihm die weitesten Rechtsfolgen gewähre 102 . Die erstgenannte Begründung überzeugt nicht, denn den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes läßt sich nicht entnehmen, daß der Verfassungsgeber grundsätzlich der privaten Freiheit die höchste Priorität zumessen wollte. Die Konstruktion von Freiheitsgewährung einerseits und unmittelbaren bzw. vorbehaltenen Beschränkungen andererseits weist im Gegenteil deutlich darauf hin, daß dem Grundgesetz der Gedanke des Ausgleiches zwischen privaten und Gemeinschaftsinteressen zugrunde liegt. Der Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 GG macht diese Aussage plastisch: Gemeinschaftsbelange und Individualität werden hier auf der gleichen Stufe angesiedelt. Anhaltspunkte für eine Zielsetzung der größtmöglichen privaten Freiheitsverwirklichung lassen sich hingegen nicht finden. Dem steht auch nicht der Grundsatz der größtmöglichen Grundrechtseffektivität entgegen 103 . Dieser besagt nur, daß unter mehreren Grundrechtsauslegungen derjenigen der Vorzug zu geben ist, welche die juristische 98
So bereits Peters, Geschichtliche Entwicklung und Grundfragen der Verfassung, S. 298; ebenso Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 343; Windthorst, Verfassungsrecht I, § 7 Rdnr. 53; Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (59). 99 Lepa, DVB1. 1972, 161 (164 f.); Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 I, II Rdnr. 246; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 97; Haug, Staats- und Verwaltungsrecht, S. 115; im Grunde auch Schwabe, JA 1979, 191 (194 f.), der jedoch die Möglichkeit abweichender Rechtsfolgen grundsätzlich in Frage stellt. 100 Peters, Geschichtliche Entwicklung und Grundfragen der Verfassung, S. 298. Zur Freiheitsvermutung auch BVerfGE 7, 198 (212); 13, 97 (105); sowie Schneider, in: Festschrift 42. DJT, Bd. 2, S. 263 ff. 101 Lepa, DVB1. 1972, 161 (165). 102 Lepa, DVB1. 1972, 161 (165); Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1391. 103 Im Ergebnis ebenso v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Bd. 1, Vorb. Art. 1-19 Rdnr. 51: Mit dem Grundsatz der größtmögli-
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C. Grundrechtskonkurrenzen
Wirkkraft des auszulegenden Grundrechts am stärksten entfaltet. Daraus kann aber nicht gefolgert werden, daß auch im Verhältnis der Grundrechte untereinander immer das Grundrecht maßgeblich sein muß, das am geringsten einschränkbar ist. Denn auch das Effektivitätsgebot ändert nichts an der normativen Kraft der Grundrechtsbegrenzungen. Unzulässig ist nach diesem Grundsatz lediglich die ausdehnende Auslegung der Begrenzungsregelungen 104 . Überzeugender ist deshalb die Anspruchsthese. Die Grundrechtsnormen bilden die Grundlage für die Entstehung sujektiv-öffentlicher Rechte. Das grundrechtliche Abwehrrecht als wichtigstes subjektives Recht gewährt dem Berechtigten, also dem Grundrechtsträger, das Recht, von den Grundrechtsverpflichteten zu verlangen, daß diese den geschützten Gegenstand nicht verletzen. Das subjektive Abwehrrecht besitzt also insofern eine ähnliche Struktur wie zivilrechtliche Anspüche 105 . Die verschiedenen Begründungsversuche machen eines sehr deutlich: Die konkurrenzauflösende (Norm-)Aussage wird nach beiden Ansichten dem Grundgesetz direkt entnommen. Entscheidend ist nicht das konkrete Verhältnis der jeweils konkurrierenden Normen, sondern das der Verfassung unmittelbar entnommene Gebot, daß sich in jedem Fall diejenige Norm, die den weitestgehenden Schutz gewährt, durchsetzen muß. Konkurrenzdogmatisch wird also die Konkurrenzlage nicht per Auslegung aufgelöst, sondern durch Anwendung einer zwingenden, verfassungsimpliziten Normaussage. Richtigerweise wird für die Präferenzentscheidung durch die meisten Verfechter dieser Ansicht auf das im Einzelfall stärkste Grundrecht abgestellt 1 0 6 . Das bedeutet, daß sich im Falle abweichender Ergebnisse dasjenige Grundrecht durchsetzt, dessen Begrenzungsregelung die hoheitliche Maßnahme materiellrechtlich nicht rechtfertigen kann. Welches Grundrecht konkret stärker oder schwächer ist, kann nicht unabhängig von der Prüfung des Einzelfalls entschieden werden. So kann beispielsweise eine zu überprüchen Grundrechtseffektivität wird nicht eine allgemeine Auslegungsregel der Freiheitsvermutung („in dubio pro libertate") anerkannt. 104 Dies bedeutet freilich nicht, daß es völlig ausgeschlossen ist, daß dem Grundgesetz der Gedanke des insgesamt größtmöglichen Grundrechtsschutzes zu entnehmen ist; vgl. dazu unten S. 139ff. Hier wurde nur festgestellt, daß jedenfalls die Grundrechte keinen Anhaltspunkt für die Existenz eines solchen Verfassungsgrundsatzes bieten. 105 Ausdrücklich auf diese Parallele hinweisend Ipsen, Staatsrecht II, Rdnr. 45ff.; Siekmann/Duttge, Staatsrecht I, Rdnr. 92. 106 Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (59); Stern, Die verfassungsrechtliche Situation der kommunalen Gebietskörperschaften in der Elektrizitätsversorgung, S. 65; ders., Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1392; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3 Rdnr. 254; Rüfner, in: Festgabe BVerfG, Bd. 2, S. 477; Schramm, Staatsrecht, Bd. II, S. 48.
IV. Darstellung und Kritik der Lösungsvorschläge
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fende Regelung von den Schranken des Art. 12 Abs. 1 GG gedeckt sein, aber einen Verstoß gegen Art. 14 GG darstellen. Ebenso sind aber auch Konstellationen denkbar, in denen umgekehrt Art. 12 Abs. 1 GG durch staatliches Handeln verletzt ist, Art. 14 GG den Eingriff jedoch rechtfert i g t 1 0 7 . Im ersten Fall bildet Art. 14 GG den Maßstab für die materielle Verfassungswidrigkeit, im letzteren Fall Art. 12 Abs. 1 GG. Lediglich in einigen wenigen Stellungnahmen der Literatur findet sich der unzutreffende Ansatz der Entscheidungserheblichkeit der abstrakt stärkeren Norm, wobei sich die abstrakte Stärke im wesentlichen nach der Schrankenklausel richten soll 1 0 8 . Dies würde jedoch zu einer völlig ungerechtfertigten Aufwertung der vorbehaltlos gewährten Grundrechte führen. Im bereits erwähnten Fall der Baukunst müßte Art. 14 GG hinter Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG zurücktreten, egal ob im Einzelfall die zu überprüfende baurechtliche Vorschrift durch kollidierendes Verfassungsrecht im Rahmen von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG gerechtfertigt werden kann oder nicht. Solch purer Formalismus kann ersichtlich kaum zu sachgerechten Ergebnissen führen. Folgt man der These von der Idealkonkurrenz der Grundrechte, muß sich also für die Fallentscheidung immer diejenige Grundrechtsnorm durchsetzen, die dem Staat die geringsten Eingriffsmöglichkeiten beläßt. Es wäre jedoch unschädlich und unproblematisch, wenn das oder die weiteren Grundrechte neben dem dominierenden Grundrecht zur Anwendung kämen, solange sich die Rechtsfolgen nicht widersprechen. Es bliebe dann bei der Situation der idealen, kumulativen (nichtauflösungsbedürftigen) Konkurrenz. Kommt es allerdings zum Rechtsfolgenwiderspruch, kann dieser Zustand nicht bestehen bleiben. Die Auflösung des Widerspruchs und damit der Konkurrenzlage hat dann nach dem Gesichtspunkt der konkret günstigsten Rechtsfolgen für den Grundrechtsberechtigten zu erfolgen. Das schutzgewährende Grundrecht setzt sich durch. Die dominante Stellung des inhaltlich weitestgehenden Abwehrrechts hat dabei aber nicht zur Folge, daß die unterlegene, schutzausschließende Norm verdrängt wird. Vielmehr bleibt 107 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3 Rdnr. 254; Rüfner, in: Festgabe BVerfG, Bd. 2, S. 476. 108 So etwa Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 82 ff. Ausdrücklich ablehnend hingegen Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 404ff.; 394ff.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Rdnr. 316; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3 Rdnr. 254; v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Art. 1-19 Rdnr. 46; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 89; Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 269; kritisch auch Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II Rdnr. 37.
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C. Grundrechtskonkurrenzen
es - ähnlich der zivilrechtlichen Anspruchsgrundlagenkonkurrenz - bei der parallelen Anwendbarkeit beider Grundrechtsnormen. Der Grundrechtsberechtigte kann sich allerdings auf dasjenige Grundrecht berufen, welches ihm den weitestgehenden Schutz gewährt. Insofern wird der Rechtsfolgenwiderspruch gewissermaßen durch eine Rechtsfolgenverdrängung aufgelöst. Aber auch die rechtsfolgenverdrängende Variante der Idealkonkurrenz vermag nicht alle Problemfälle befriedigend zu lösen. Bei einzelfallorientierter Stärkefeststellung der beteiligten Grundrechte besteht die latente Gefahr, daß vorbehaltlos gewährte Grundrechte die Ergebnisfindung zu stark beeinflussen 109 . Bereits bei marginaler Berührung der Kunst- oder Religionsfreiheit kann sich die in der Regel größere Schutzwirkung dieses Grundrechts entfalten, obwohl die Beeinträchtigung nur eine zufällige Nebenfolge des Hoheitsaktes ist. Dies kann zu Verschiebungen innerhalb des grundrechtlichen Systems führen. Jedes Grundrecht schützt jedoch ganz bestimmte menschliche Freiheitsbedürfnisse. Die zugehörigen Gesetzesvorbehalte wiederum tragen den von der Grundrechtsausübung typischerweise ausgehenden Gefahren Rechnung. Jede Schrankenregelung ist also genau auf den jeweiligen Gewährleistungsgehalt des Grundrechtes abgestimmt 110 . Die Konkurrenzlehre darf nun dieses ausgewogene Verhältnis nicht dadurch ignorieren, daß die nur am Rande mitbetroffenen Grundrechte die „Alleinherrschaft" über den Anwendungsfall übernehmen. Genau dies passiert jedoch, wenn eine starre Regel zur Grundlage für die Präferenzentscheidung gemacht wird. Folgt man dieser Ansicht - und sieht die Grundrechtsnormen als Anspruchsgrundlagen - , müssen Ausnahmen zulässig sein; zumindest muß das prima facie erzielte Ergebnis einzelfallorientiert überprüft werden. b) Schrankenübertragungstheorien Als eigentliches Problem der Grundrechtskonkurrenz wurde und wird die Schrankendivergenz der Grundrechtsbestimmungen angesehen 111 . Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn sich frühe Lösungsvorschläge vor allem an 109
Siehe den entsprechenden Hinweis bei Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1406. Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II Rdnr. 37; Stein, Staatsrecht, S. 238 f. 111 So bereits Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 124; ebenso Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3 Rdnr. 253; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Vorb. vor Art. 1 Rdnr. 17. Kritisch hingegen Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 97: „Wegen der subtilen Prüfungsmöglichkeit anhand des Verhältnismäßigkeitsprinzips dürften sich bei solchen Fällen der Schrankendivergenz in der Praxis allerdings kaum sehr unterschiedliche Resultate ergeben." 110
IV. Darstellung und Kritik der Lösungsvorschläge
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den abweichenden Begrenzungsregelungen orientierten. Es wurde versucht, durch Gegenüberstellung der abstrakten Stärken und Schwächen der Grundrechte eine allgemeingültige Regel für die Auflösung des Normkonfliktes zu finden. Gemein ist den in dieser Gruppe zusammengefaßten Theorien, daß ein Verdrängungsmechanismus zwischen Grundrechtsnormen bzw. deren Gewährleistungsgehalten grundsätzlich oder zumindest für den Fall der idealen Konkurrenz abgelehnt wird. Zur Begründung wird darauf verwiesen, daß die Verfassung ein einheitliches Ganzes darstelle, dessen Einzelnormen nicht in der Lage seien, sich gegenseitig aufzuheben oder zu verdrängen 112 . Die konkurrierenden Normen müßten deshalb nebeneinander anwendbar bleiben 1 1 3 . Normwidersprüche sollen auf andere Weise gelöst werden. Statt Verdrängung der gesamten Grundrechtsnorm müsse eine Verdrängung bzw. Übertragung der Begrenzungsregelungen stattfinden 114 . Nach welchen Grundsätzen die Schrankenübertragung allerdings durchgeführt werden soll, ist umstritten. Abgesehen von feinen Unterschieden lassen sich drei Lager erkennen: die alte und mittlerweile nicht mehr vertretene These von der Herrschaft der engeren Schranke 115 , die nicht minder alte Theorie von der Herrschaft der weiteren Schranke 116 und eine Gruppe vermittelnder Lösungen 117 .
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Peters, Kombination verschiedener Verfassungsgrundsätze als Mittel der Verfassungsauslegung, in: Festschrift für Arnold, S. 117 ff., 121 f.; vgl. auch Klein, in: v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl., Vorbem. Β XV 2 b. Teilweise wird aber auch der mindere Rechtsschutz moniert: Die Verdrängung würde dazu führen, daß Grundrechte von der richterlichen Nachprüfung ausgeschlossen würden. Darin sei aber ein Verstoß gegen das Verfassungsprinzip eines möglichst vollkommenen Grundrechtsschutzes zu erblicken; so Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 161 ff. 113 Mißverständlich dargestellt bei Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 55: „...(Es) wird hinsichtlich der Rechtsfolgen ein Grundrecht, und zwar dasjenige, das nach seinem Wortlaut weniger oder überhaupt nicht einschränkbar ist, ausgeschlossen." 114 Damit entspricht diese Theorie dem aus der allgemeinen Konkurrenzdogmatik bekannten Ansatz der modifizierten kumulativen Konkurrenz; siehe dazu oben S. 44 ff. Die Schrankenregelungen werden als Teilregelungen der Normkomplexe aneinander angepaßt. 115 Klein, in: v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl., Vorbem. Β XV 2 b; Rüfner, Der Staat 7 (1968), 41 ff. 116 Ridder, Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 19. 1,7 Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 126ff.; andeutungsweise auch Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 137.
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C. Grundrechtskonkurrenzen aa) Herrschaft des Grundrechts mit Begrenzungsregelung
Die Theorie von der Maßgeblichkeit des mit einer Begrenzungsregelung ausgestatteten Grundrechts beruht auf einer subtilen Schrankendogmatik. Danach sollen vorbehaltlos gewährte Grundrechte sog. systematisch-sachlichen Gewährleistungsschranken unterliegen, die sich aus dem Verhältnis der Grundrechte untereinander ergäben 118 . Immer dann, wenn mehrere Grundrechte durch dieselbe menschliche Verhaltensweise in Anspruch genommen werden, würde die Einschränkbarkeit der einen Bestimmung dazu führen, daß auch das nicht einschränkbare Grundrecht eingeschränkt werden müsse 119 . Das Grundrecht der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG in der Ausprägung des Rechtes, Prozessionen durchführen zu dürfen, werde systematisch dadurch eingeschränkt, daß dieses Recht gleichermaßen aus den Grundrechten der Versammlungsfreiheit, Art. 8 Abs. 1 GG, und der Freiheit der Person, Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, die beide einem Gesetzes vorbehält unterliegen, hergeleitet werden könne 1 2 0 . Im Grunde genommen beruht diese Theorie damit gar nicht auf einer Übertragung von Schrankenregelungen durch die Erweiterung der unbeschränkten Grundrechtsnorm um eine Schrankenklausel. Vielmehr besitzt nach dieser Ansicht jede Grundrechtsbestimmung von vornherein sachlichsystematische Gewährleistungsschranken, die durch das Hinzutreten der konkurrierenden mit einer Begrenzungsregel ausgestatteten Grundrechtsnorm lediglich aktualisiert werden. Die zusätzliche Schranke ist also keine fremde, übertragene, sondern eine eigene Schranke des unbeschränkten Grundrechtes. Allerdings ist sie inhaltlich mit der des hinzutretenden engeren Grundrechtes identisch. Durch das Hinzutreten der mit einer Schrankenklausel versehenen Grundrechtsnorm lebt dieselbe Begrenzungsregelung in der - zunächst - unbeschränkten Grundrechtnorm auf. Diese Abhängigkeit kommt damit einer Übertragung der Schrankenregelung gleich und ist insofern dogmatisch auch genauso zu behandeln.
118
Klein, in: v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl., Vörbem. Β XV 2 b. 119 Klein, in: v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl., Vorbem. Β XV 2 b. 120 Klein, in: v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl., Vorbem. Β XV 2 b. Die Ansicht von Rüfner, Der Staat 7 (1968), 41 (54 ff.) weicht von dieser Auffassung nicht im Ergebnis sondern nur in der Begründung ab: Die Beschränkungen, die für jedes Grundrecht gelten sollen, ergäben sich nicht aus der Systematik der Grundrechte, sondern seien eine Konsequenz von deren Einordnung in die allgemeine Rechtsordnung. Zur allgemeinen Rechtsordnung gehörten auch die Schranken zusätzlich ausgeübter Grundrechte. Diese seien deshalb wie allgemeine Gesetze zu behandeln und beschränkten auch das andere Grundrecht.
IV. Darstellung und Kritik der Lösungsvorschläge
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Nach der dargestellten Ansicht soll allerdings die Herrschaft der engeren der beiden divergierenden Schranken nicht ausnahmslos gelten. So könne eine durchzuführende Güterabwägung im Einzelfall ergeben, daß die systematisch einzuschränkende Grundrechtsbestimmung der anderen, gleichzeitig in Anspruch genommenen, ihrem Inhalt nach derart vorgeht, daß sich eine Einschränkung verbiete. In einem solchen Fall solle „unter Umständen" auch die gleichzeitig in Anspruch genommene engere Grundrechtsbestimmung erweitert werden können 1 2 1 . Grundsätzlich soll es aber bei der Herrschaft der engeren Schranke bleiben 1 2 2 . bb) Herrschaft des Grundrechts ohne Begrenzungsregelung Die zweite Literaturmeinung argumentiert genau entgegengesetzt. Beim Zusammentreffen eines beschränkten und eines unbeschränkten Grundrechtes sollen generell alle Schranken des engeren Freiheitsrechtes durch den schrankenlosen Grundwert des stärker schützenden Freiheitsrechts qualifiziert werden 1 2 3 . Dies bedeutet, daß die Schranken des engeren Grundrechts durch das Hinzutreten eines vorbehaltlosen Grundrechts aufgehoben werden 1 2 4 . Zur Begründung wird angeführt, daß das Grundgesetz der individuellen Freiheit ein Höchstmaß an Schutz gewähre. Es müsse deshalb vom grundsätzlichen Vorrang der Freiheit vor allen anderen Rechtsgütern ausgegangen werden. Demnach sei es unzulässig, die Freiheit über die in den einzelnen Artikeln aufgeführten Beschränkungsmöglichkeiten hinaus zu begrenzen 125 . Vorbehaltlos gewährte Freiheitsrechte dürften durch keine staatlichen Maßnahmen beschränkt werden, auch nicht auf dem Weg über Konkurrenzlagen und ihrer Lösung 1 2 6 . Dies müsse so sein, da andernfalls 121 Klein, in: v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl., Vorbem. Β XV 2 b. 122 Unklar bleibt, unter welchen Umständen die umgekehrte Schrankenübertragung bzw. -erweiterung stattfinden soll. Auch bildet Klein kein Beispiel für eine solche Ausnahmesituation, sondern unterwirft in der weiteren Kommentierung, ohne auf die propagierte Güterabwägung einzugehen, die unbeschränktere Freiheit generell den engeren Schranken des konkurrierenden Grundrechts; siehe etwa Klein, a.a.O., Anm. X 6 b zu Art. 5 GG. Kritisch dazu Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 126. 123 Ridder, Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 19; Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 145 ff; ders. JuS 1969, 16 (20). 124 Scholler, DÖV 1969, 526 (529): „Schrankenbeschränkung". 125 Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 145. Weitere Nachweise auch allgemein zum Grundsatz der Freiheitsvermutung „in dubio pro libertate" bei Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 90 Fn. 217. Kritisch dazu bereits Schwacke, Grundrechtliche Spannungslagen, S. 83 f.
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C. Grundrechtskonkurrenzen
derjenige Grundrechtsträger schlechter gestellt werde, der gleichzeitig in mehreren Grundrechten betroffen sei, gegenüber demjenigen, der sich nur auf ein einziges, uneinschränkbares Grundrecht berufen könne 1 2 7 . Verdeutlicht wird diese Argumentation vornehmlich am Beispiel des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG. Sofern der Schutzbereich der Kunstfreiheitsgarantie eröffnet sei, dürfe der Garantiegehalt nicht dadurch ausgehöhlt werden, daß die fragliche Verhaltensweise anderen, passenden Individualfreiheiten zugeordnet werde, wo dann jeweils „ein ganzes Arsenal von mehr oder minder geschmeidigen Schranken parat steht" 1 2 8 . Die Eigenständigkeit der Kunstfreiheit erlaube es nicht, daß auf diesem Wege die Besonderheit als vorbehaltlos garantierte Freiheit nivelliert und zunichte gemacht werde. So sei beispielsweise dem Gesetzgeber grundsätzlich die Möglichkeit genommen, das individualistische Berufsbild des Künstlers durch eine Berufsausübungsregelung auch nur geringfügig zu verändern 129 . Das zusätzlich hinzutretende Grundrecht der Berufsfreiheit dürfe die Kunstausübung nicht einengen130 Alle bisher dargestellten Schrankenübertragungstheorien bieten zur Lösung des Problems der Schrankendivergenz eine pauschal geltende Formel an. Genau dies ist jedoch der Ansatzpunkt der vielfältig und zu Recht geübten K r i t i k 1 3 1 . Bereits Erbel hat nachgewiesen, daß generalisierende Lösungen, die auf dem Konzept der Schrankenübertragung beruhen, einer einzelfallorientierten Überprüfung nicht standhalten 132 . Angesichts einer fehlenden durchgängigen Systematik des Regelungskomplexes der Art. 1 - 1 9 des Grundgesetzes muß ein Verfahren, welches auf rein formaler „Addition" oder „Subtraktion" der Schranken basiert, notwendig zu unbrauchbaren Ergebnissen führen 1 3 3 . Formale Theorien fußen in der Regel auf der Vorstellung von einer festen Rangordnung der Grundrechte 134 . Die Grundrechte bilden jedoch kein solches abstraktes System abgestufter Wer126 Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 146. 127 Berg, JuS 1969, 16 (20). 128 Ridder, Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 10. 129 Ridder, Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 19. 130 Die Ansicht von Ridder verliert etwas von ihrer Strenge, wenn man bedenkt, daß der Gewährleistungsbereich der Kunstfreiheit restriktiv interpretiert wird. So soll die politisch motivierte Kunst nur dem Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 GG unterfallen, nicht jedoch dem von Art. 5 Abs. 3 GG; vgl. Ridder, a.a.O., S. 18ff. 131 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 129; Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 110 ff. 132 Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 127 ff. 133 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 129; Scholz, in: Maunz/Dürig/ Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 12 Rdnr. 113.
IV. Darstellung und Kritik der Lösungsvorschläge
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tigkeiten 1 3 5 . Gerade die Vorbehaltlosigkeit einer Grundrechtsgewährleistung deutet nicht ohne weiteres auf eine erhöhte Schutzwürdigkeit oder eine exponierte Stellung des geschützten Rechts h i n 1 3 6 , wie das Beispiel von Art. 8 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG zeigt. So kann wohl kaum angenommen werden, daß die Versammlungsfreiheit in geschlossenen Räumen, die keinem Gesetzesvorbehalt unterliegt, in ihrem Rang höher einzustufen ist, als das elementarste, aber unter einfachem Gesetzesvorbehalt stehende Grundrecht der Freiheit der Person 137 . Insofern kann aus der Vorbehaltlosigkeit einer speziellen Freiheitsgewährung nicht entnommen werden, daß ihr Gewährleistungsgehalt in jedem Falle absolut schutzwürdig ist und die konkurrierenden Grundrechte deshalb um ihre Schrankenregelungen reduziert werden müssen. Jede Theorie, die von einem solchen Verhältnis der Grundrechte untereinander ausgeht, muß in der praktischen Rechtsanwendung zu unhaltbaren Ergebnissen führen. cc) Vermittelnde Lösungen Um diese Schwäche der generalisierenden Konzepte zu vermeiden, wurden differenzierende Lösungen auf Basis der Schrankenübertragungsmethode entwickelt 1 3 8 . Einen Mittelweg zwischen den dargestellten Extrem134
Beispielsweise Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 31, 79, 84; Ridder, Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 19: Ein vorbehaltlos gewährtes Grundrecht genieße eine höhere Wertschätzung und stehe im Rang über den Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt. Auch bei Klein, in: v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl., Einleitung IV 7 a; Vorbem. Β XV 2 b; ders., DÖV 1962, 41 (43), klingt ein Rangverhältnis zwischen den Grundrechte an: Gewisse Grundrechte genössen immer dann eine bevorzugte Stellung, wenn sie ihrem Inhalt nach zu den „elementaren Verfassungsgrundsätzen und Grundentscheidungen des Verfassungsgebers" zu zählen seien. Dies soll insbesondere dann gelten, wenn ein Grundrecht unmittelbarer Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit sei. 135 Mahrenholz, HbdVerfR, § 26 Rdnr. 68; Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 111; Rüfner, in: Festgabe BVerfG, Bd. 2, S. 462; sehr deutlich auch Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 317 ff., 364. Weniger streng Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 129; ders., in: Festschrift für Mahrenholz, S. 523: kein abstrakter Vorrang, aber ein „unter gewissen Bedingungen verbleibender Bonus". A.A. Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 143ff. und neuerdings Jansen, Der Staat 36 (1997), 27 (49). 136 Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 89 m.w.Nw. 137 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Rdnr. 316; Kriele, JA 1984, 629. Dagegen Jansen, Der Staat 36 (1997), 27 (49). 138 Vgl. v. Münch, Grundbegriffe des Staatsrechts I, Rdnr. 222. Neuerdings auch Bleckmann/Wiethoff, DÖV 1991, 722 (736ff.). Andeutungsweise Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 137; der Hinweis auf Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1405 ist allerdings mißverständlich, da dieser gerade nicht der Schranken-
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Positionen geht beispielsweise Erbel 139. Der Schrankenkonflikt könne nach seiner Ansicht nur von Fall zu Fall entschieden werden. Je nach Lage des Einzelfalles und nach Art und Umfang der Überschneidung der Gewährleistungsbereiche käme eine Übertragung sowohl der engeren Schranke als auch eine Nivellierung derselben durch die Vorbehaltlosigkeit des anderen Grundrechtes in Betracht. Entscheidend sei, ob es sich um eine „typische Erscheinungsform" der unbeschränkten Freiheit handele oder ob die konkrete Freiheitsausübung eher von atypischer Art sei 1 4 0 . Auf die Kunstfreiheitsgarantie übertragen, müsse dies bedeuten, daß die klassischen Ausdrucksformen künstlerischen Schaffens, wie etwa ein zeitkritisches Theaterstück oder eine politische Karikatur, ebenso von der vollen Schutzintensität des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG erfaßt werden, wie eine Gemäldeausstellung im Museum oder eine Musikdarbietung in einem Konzertsaal. Die künstlerische Gruppenentfaltung im Rahmen einer Versammlung unter freiem Himmel hingegen müsse, da sie dem Verfassungsgeber bei der Zumessung der Kunstfreiheitsschranken nicht vorgeschwebt habe, den engeren Schranken des zugleich in Anspuch genommenen Grundrechts der Versammlungsfreiheit unterfallen 141 . Im ersten Fall wäre also das mitverwirklichte Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit durch „Übertragung der Vorbehaltlosigkeit" ebenfalls nicht beschränkbar; im zweiten Beispiel erhielte die Kunstfreiheit den Gesetzesvorbehalt des Art. 8 Abs. 2 GG. Daß sich durch diese differenzierte Vorgehensweise sachgerechtere Ergebnisse erzielen lassen als durch eine Pauschallösung, leuchtet unmittelbar ein.
dd) Kritik der Schrankenübertragungsthese Allerdings sehen sich sowohl diese vermittelnden Lösungsansätze als auch die beiden zuvor dargestellten Extrempositionen grundsätzlichen Einwänden ausgesetzt. Alle bisher in diesem Abschnitt dargestellten Theorien gehen von einer Übertragung der Grundrechtsschranken aus 1 4 2 . Es bleibt jedoch weitgehend im Dunkeln, über welche dogmatische Konstruktion Übertragungsthese folgt. Auch das BVerwG scheint nach wie vor an der Schrankenübertragung festhalten zu wollen, vgl. nur BVerwG NVwZ 1991, 983 (984). 139 Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 127 ff. 140 Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 127 f. 141 Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 128. 142 Mit einer gewissen Einschränkung für Klein, der, wie gezeigt wurde, davon ausgeht, daß die „übertragene" Schrankenregelung bereits im einzuschränkenden
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eine explizit nur für ein Grundrecht geltende Schrankenregelung nun auch für ein anderes gelten soll. Die Antwort findet sich, wenn die Normstruktur der abwehrrechtlichen Grundrechtsnormen berücksichtigt wird. Grundrechtsschranken, oder besser Grundrechtsbegrenzungen, sind, wie noch ausführlich zu begründen sein wird, unselbständige Normteile von Grundrechtsnormen. Sie gehören nicht zum Tatbestand, sondern stellen gewährleistungsbezogene Ausnahmeregelungen dar, die die prima facie-Rechtsfolge der Grundrechtsnorm ausschließen können 1 4 3 . Die Schranke eines Grundrechtes auf ein anderes zu übertragen bedeutet, daß eine Teilregelung einer Norm auch auf eine andere Norm angewendet wird. Die um diese Schrankenregelung erweiterte Norm erfährt auf diese Weise eine inhaltliche Verengung bzw. Restriktion. Zum positiven, sachlichen und personellen Gewährleistungsgehalt tritt eine negative Begrenzung hinzu, die den Anwendungsbereich der grundrechtlichen Rechtsfolge einschränkt. Methodisch betrachtet, wird die Norm teleologisch reduziert bzw. im umgekehrten Fall teleologisch erweitert. Die „Übertragung" der Begrenzungsregelung bedarf damit aller Voraussetzungen, die für eine Rechtsfortbildung im Wege der teleologischen Reduktion oder Extension notwendig sind 1 4 4 . Ob die Voraussetzungen für eine Rechtsfortbildung, insbesondere das Erfordernis der planwidrigen Gesetzeslücke, tatsächlich begründet werden können, ist angesichts der differenzierten Schrankensystematik des Grundgesetzes zumindest fraglich 1 4 5 . Aus diesem Grunde ist auch der Lösungsvorschlag von Bleckmann/Wiethoff abzulehnen. Die Schrankenübertragung soll nach dieser Ansicht durch analoge Anwendung der jeweiligen Schrankenklauseln vollzogen werden. Ist beispielsweise neben Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG auch die Meinungsäußerungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG betroffen - etwa wenn dem Kunstwerk ein bestimmter Aussagegehalt zu entnehmen ist - , soll, sofern sich ein Eingriffsakt konkret dagegen richtet, Art. 5 Abs. 2 GG auch auf die Kunstfreiheit, freilich nur analog, anzuwenden sein 1 4 6 . Grundrecht angelegt ist. Diese These bedarf aber ebenfalls der dogmatischen Begründung, da der Wortlaut der Normen dazu nichts hergibt. 143 Siehe unten S. 96ff., 111 ff. 144 Gleiches gilt auch für die Lösung von Klein: Die Existenz der sachlich-systematischen Gewährleistungsschranken kann ebenso nur mit einer Rechtsfortbildung erklärt werden. 145 Generell ablehnend deshalb Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Rdnr. 309; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 90. 146 Bleckmann/Wiethoff, DÖV 1991, 722 (728); ablehnend schon BVerfGE 30, 173 (191).
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Die analoge Anwendung wird sogar für diejenigen Fälle erwogen, in denen zwar der Schutzbereich des schrankenbestimmenden Grundrechtes nicht eröffnet ist, der Normgehalt dieses Grundrechtes jedoch in anderen Grundrechten auflebt. Als Beispiel wird Art. 11 GG genannt. Selbst dann, wenn Art. 11 GG tatbestandlich nicht eingreift, wie für Reisen mit kürzerem Aufenthalt, soll Art. 11 Abs. 2 GG analog angewendet werden, sofern dieses Verhalten unter den Schutz eines anderen Freiheitsrechtes, etwa Art. 4, 5 Abs. 1, 5 Abs. 3 GG, fällt 1 4 7 . Art. 11 GG sei insoweit als abschließende Regelung zu verstehen. Deshalb müsse die zugehörige Schrankenregelung auch für diejenigen Grundrechte Verwendung finden, die Teilaspekte der allgemeinen, nicht von Art. 11 GG geschützten Freizügigkeit enthielten. Auf diese Art und Weise verliert der positiv niedergelegte Verfassungstext völlig seine Bedeutung. Die Zuordnung einer Schrankenregelungen zu einer bestimmten Grundrechtsbestimmungen wird belanglos. Sicherlich verleiht die analoge Anwendung stärker konturierter Gesetzesvorbehalte auf vorbehaltlos gewährte Grundrechte den Gemeinwohlbelangen bei der Einschränkung von grundrechtlichen Gewährleistungsgehalten eine bessere Durchsetzungskraft. Dies geschieht allerdings unmittelbar auf Kosten des durch das jeweilige Grundrecht geschützten Rechtsguts. Letzteres wird nur durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vor übermäßiger Beschränkung geschützt. Bei der herkömmlichen Lösung von Konflikten zwischen kollidierenden Verfassungsrechtssätzen bleibt hingegen die Möglichkeit der Herstellung praktischer Konkordanz, also die Option für einen schonenden Ausgleich zwischen den Verfassungsgütern. Alle Schrankenübertragungstheorien umgehen, und das ist auch das erklärte Ziel, den Zwang zur Auflösung einer Konkurrenzlage durch die Verdrängung von Normen. Die tatbestandlich einschlägigen Grundrechte sollen nicht unanwendbar sein, sondern zur Entscheidung des Rechtsfalles herangezogen werden können. Dies hat zwar den Vorteil, daß sich der Grundrechtsträger im Einzelfall auf alle betroffenen Grundrechte stützen kann, allerdings nur um den Preis der Veränderung des normativen Gehaltes der beteiligten Grundrechte. Die Fort- bzw. Umbildung der „unterlegenen" Norm führt im Ergebnis dazu, daß beispielsweise die vorbehaltlos gewährte Kunstfreiheitsgarantie durch Übertragung der Versammlungsrechtsschranken derart zurechtgestutzt und beschränkt wird, daß ihr eigentlicher Gewährleistungsgehalt nicht mehr zum Tragen kommt. Der entstandene Grundrechtstorso entfaltet keinen weitergehenden Schutz als das konkurrierende Grundrecht. Folglich besitzt er auch keine eigenständige Bedeutung mehr und dient lediglich als schmückendes Beiwerk. 147
Bleckmann/Wiethoff, DÖV 1991, 722 (726).
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Bereits Dürig hat davor gewarnt, die Grundrechte durch Schrankenübertragungen gleichzuschalten. Die fehlenden Beschränkungsmöglichkeiten sind als rechtserhebliche Aussagen für den unentziehbaren Gehalt des jeweiligen Grundrechts unbedingt zu beachten. Eine Übertragung beispielsweise der Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG wäre gleichbedeutend mit dem Ende einer differenzierten Beschränkungssystematik 148. Aus diesem Grund werden Schrankenübertragungen im Verhältnis der Einzelgrundrechte mittlerweile nahezu ausnahmslos abgelehnt 149 . Selbstverständlich muß diese Erkenntnis auch vor dem Hintergrund einer Konkurrenzlösung ernst genommen werden. Ein letzter Gedanke: Die meisten Schrankenübertragungstheorien gehen von der Prämisse aus, daß Konkurrenzlagen nur dann aufgelöst werden müssen, wenn die konkurrierenden Grundrechtsnormen mit divergenten Schrankenregelungen ausgestattet sind. Die Situation der Schrankenkongruenz - also der Fall der Deckungsgleichheit der Schrankenklauseln - wird als unproblematisch angesehen 150 . Dies mag in der praktischen Anwendung regelmäßig so sein, dennoch sind Fälle denkbar, in denen zwei Grundrechtsnormen, die beide mit einem einfachen Gesetzesvorbehalt ausgestattet sind, einander widersprechen. Der Gesetzesvorbehalt ist nicht schon dann ausgefüllt, wenn ein einschränkendes Gesetz existiert; dieses Gesetz muß weiterhin dem Übermaßverbot sowie allen anderen sog. Schrankenschranken genügen. Hier sind aber Abweichungen möglich. Zu nennen wären in erster Linie Konkurrenzsituationen unter Beteiligung des Art. 12 Abs. 1 GG. Die gestuften Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit i.e.S. und die Erforderlichkeit können dazu führen, daß ein Eingriff in das konkurrierende Grundrecht zwar gerechtfertigt, aber in die Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG nicht gerechtfertigt ist. Für diese Situation bieten die Schrankenübertragungstheorien keine Lösungsmöglichkeit, da eine Übertragung der Schrankenklauseln am Ergebnis nichts ändern würde. Die Rechtsfolgenabweichung ist allein Folge des in der Übermaßprüfung zum Ausdruck kommenden spezifischen Verhältnisses zwischen sachlicher Gewährleistung und Begrenzungsregelung des einzelnen Grundrechts. 148
Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 8,
69.
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BVerfGE 30, 173 (191); 32, 98 (107); 52, 223 (246); Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 4 Abs. 1, 2 Rdnr. 14, 74; Art. 5 Abs. 3 Rdnr. 206; Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 III (Kunst) Rdnr. 31; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 89; Bock, AöR 123 (1998), 444 (469). 150 Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 122; im Anschluß auch Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1404. 6 Heß
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4. Normkombinierende Lösungen - Grundrechtsverbund Die normverdrängende und die hier so bezeichneten normkumulierenden Lösungen unterscheiden sich im Ergebnis wie auch in der dogmatischen Konstruktion grundlegend voneinander. Dennoch ist beiden Ansätzen gemein, daß die Auflösung der Konkurrenzlage mit dem Ziel betrieben wird, die für die Fallentscheidung maßgebliche Grundrechtsnorm herauszuarbeiten. Die auf diese Art gewonnene einzelne, entscheidende Norm oder die beiden im Wege der Schrankenübertragung harmonisierten Normen bestimmen mit ihrer Rechtsfolge den rechtlichen Sollenszustand. Ein anderes Ziel verfolgt die normkombinierende Lösung, die auch als ganzheitliche Lösungsvariante des konkreten WirkungsVerbundes 151 bezeichnet wird. Dieser Ansatz zeichnet sich dadurch aus, daß sich im Ergebnis nicht die eine oder andere konkurrierende Grundrechtsnorm bzw. die eine oder andere Schrankenklausel durchsetzt, sondern alle beteiligten Grundrechte in Kombination herangezogen werden. Die konkurrierenden Grundrechtsnormen verlieren ihre Anwendbarkeit nicht. Vielmehr werden sie in einen künstlich geschaffenen Normverbund integriert. Innerhalb dieses Verbundes sollen sie dann ihre volle verfassungsmäßige Wirkkraft entfalten können, so daß der Schutzgehalt keines Grundrechtes verloren geht. Dafür, wie dieser Wirkungsverbund konstruiert werden kann, gibt es mehrere Vorschläge. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist der Zustand der parallelen tatbestandlichen Anwendbarkeit einander nicht verdrängender Grundrechtsnormen, also die Idealkonkurrenz.
a) Generelle Verbundlösung Nach Ansicht von Schwabe gibt es zwischen konkurrierenden Grundrechtsnormen aufgrund der Tatbestandsteilidentität keine Rechtsfolgenabweichungen. Notwendigerweise soll deshalb die Prüfung jedes einzelnen Grundrechtes zum selben Ergebnis führen 1 5 2 . Auch wenn nur eines der beteiligten Grundrechte eingesetzt werde, müßten innerhalb der Rechtsgüterabwägung die an sich von dem anderen Grundrecht erfaßten Aspekte berücksichtigt werden. Demzufolge seien Rechtsfolgenwidersprüche ausgeschlossen. Beispielhaft wird das Verhältnis von Art. 12 Abs. 1 GG zu Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG angeführt. Da Art. 12 Abs. 1 GG die Berufsausübung eines künstlerischen Berufes und Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG neben der künstlerisch kreati151
Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (53). Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 363 f., 420; ders., Grundkurs Staatsrecht, S. 84, 95, 117. 152
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ven Seite auch die beruflichen Aspekte künstlerischen Schaffens erfasse, sei dieses spezielle menschliche Verhalten schlichtweg doppelt abgesichert. Bei der Prüfung eines jeden Einzelgrundrechts bedürfe es der integralen Berücksichtigung der Kunst- wie der Berufsfreiheit, um die durch den Eingriff hervorgerufene Betroffenheit der Grundrechtsschutzgüter zutreffend zu bemessen 153 . Egal welches Grundrecht angewendet werde, das Ergebnis für die Fallentscheidung sei aufgrund der Wirkung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in jedem Fall dasselbe 154 . Sollte sich die Situation nach einer Grundrechtsprüfung anders darstellen, könne dies nur auf eine unterlassene oder fehlerhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung zurückzuführen sein 1 5 5 . Da also nach dieser Meinung konkurrierende Grundrechte im Einzelfall immer stärkeidentisch sind, würde die Heranziehung eines der Grundrechte „normativ ausreichen" 156 . Es sei jedoch bei sachgerechter Handhabung ebenso unschädlich, mit zwei Grundrechten zu arbeiten. Allerdings liege darin eine zusätzliche Fehlerquelle, die sich nur über die Zusammenfassung zu einem grundrechtlichen Wirkungsverbünd vermeiden lasse 157 . Dieser sei zwar nicht abwehrstärker oder -schwächer als jedes Einzelgrundrecht, er bringe aber alle einschlägigen Grundrechtsbestimmungen zur Geltung, ohne daß eine doppelte Prüfung erfolgen müßte 1 5 8 . Für den Fall der Schrankendivergenz könne dann sowohl die eine als auch die andere Schrankenregelung auf den Wirkungs verbünd angewendet werden 1 5 9 . Mit dieser Argumentation liefert Schwabe auch gleich das schlagende Gegenargument frei Haus. Wenn alle tatbestandlich einschlägigen Grundrechte im konkreten Anwendungsfall Stärkeidentität aufweisen würden, wäre das gesamte, ausdifferenzierte Grundrechtssystem inklusive der unterschiedlichen Schrankenregelungen überflüssig. Es würde - und insoweit ist diese Ansicht konsequent - ein allgemein gehaltenes, auf das Recht der privaten Handlungsfreiheit abzielendes Grundrecht genügen, um auch dem Schutz der Kunst, der Presse, des gegenständlichen Privatbereichs einer Wohnung etc. ausreichend Rechnung zu tragen. Mit dem Wirkungsverbund postuliert Schwabe dann auch ein solches Multigrundrecht, das aber keiner153
Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 362. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 361 ff., 364; ders., JA 1979, 191 (193). 155 Schwabe, JA 1979, 191 (195). 156 Eine Ausnahme wird nur für Art. 14 GG gemacht. Wegen Art. 14 Abs. 3 GG müsse die Eigentumsgarantie immer im Wirkverbund mit den konkurrierenden Grundrechten zur Anwendung kommen; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 370ff.; ders., JA 1979, 191 (194). 157 Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 366 f. 158 Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 367. 159 Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 366 f. 154
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lei Entsprechung im positiven Verfassungsrecht findet 1 6 0 . Das als grundrechtlich geschützt erkannte menschliche Verhalten wird einem allgemeinen Abwägungsvorbehalt unterstellt, anstatt die textlich vorgegebenen Begrenzungen zu prüfen. Die Nihilierung des Verfassungstextes durch die Verbundtheorie wäre nur akzeptabel, wenn die Ausgangsposition Schwabes, die Stärkeidentität der konkurrierenden Grundrechte, tatsächlich zuträfe. Dies ist jedoch nicht der Fall. Zwar wird in vielen Fällen die Güterabwägung innerhalb der Grundrechtsprüfung ähnlich verlaufen, dennoch besteht kein zwingender Grund, diesen Erfahrungssatz zu verallgemeinern 161 . Eine auf rein empirischen Ergebnissen beruhende Argumentation vermag im Bereich der Rechtsnormdogmatik keine überzeugenden Antworten zu liefern. Ob der Beweis der Zulässigkeit von Normverbünden auf theoretischer Grundlage gelingt, ist demnach noch festzustellen. Schwabe bleibt diesen Nachweis jedenfalls schuldig. b) Partielle
Verbundlösungen
Ähnliche, ebenfalls auf einer Verbundlösung basierende Ansätze finden sich vor allem in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und in der neueren Literatur. Allerdings sind die vorgeschlagenen Lösungswege wesentlich stärker ausdifferenziert als der Lösungsvorschlag Schwabes. Phänotypisch lassen sich drei Varianten unterscheiden, die jedoch alle drei materiell auf dem Gedanken der Herstellung eines einheitlichen Prüfungsmaßstabs unter Berücksichtigung aller konkurrierender Grundrechte beruhen. aa) Kombinationsgrundrechte So wird vorgeschlagen, aus den konkurrierenden Grundrechten Kombinationsverbände zu bilden, die so eng geknüpft sind, daß auf diese Weise „neue" Verbund-Grundrechte entstehen 162 . Diese Verbundgrundrechte sollen 160
So auch die Kritik von Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 306 und Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (53). 161 Sehr viel vorsichtiger deshalb Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 97: „Wegen der subtilen Prüfungsmöglichkeiten anhand des Verhältnismäßigkeitsprinzips dürften sich bei solchen Fällen der Schrankendivergenz in der Praxis allerdings kaum sehr unterschiedliche Resultate ergeben." Kritisch auch Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 12 Rdnr. 142. 162 Windthorst, Verfassungsrecht I, § 7 Rdnr. 52; Schmalz, Grundrechte, Rdnr. 305.
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gegenüber den ursprünglich beteiligten Grundrechten einen einheitlichen, verselbständigten Tatbestand und eine einheitliche, verselbständigte Schrankenregelung besitzen. Ein derartiges „Konsumtionsverhältnis" könne etwa für das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und das Lebensrecht der Ungeborenen aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG angenommen werden. 163 Ebenso sei es angebracht, auf diese Weise den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG in ein ebenfalls betroffenes spezielles Freiheitsrecht einzubinden 164 . Dies gelte insbesondere für die Konkurrenz von Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG. Inhalt und Reichweite der einzelnen Grundrechtspositionen der Berufsfreiheit müßten im Konkurrenzfall aus dem Zusammenspiel mit den Geboten der Gleichbehandlung und den Verboten der Diskriminierung entwickelt werden 1 6 5 . Aber auch andere Freiheitsrechte seien bei Betroffenheit des allgemeinen Gleichheitssatzes zu modifizieren. Die Frage, ob an Gesamthochschulen Universitätsprofessoren und Fachhochschulprofessoren zu einer einheitlichen Professorengruppe zusammengefaßt werden dürfen, müsse beispielsweise an einem einheitlichen Verbund aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG geprüft werden 1 6 6 . Wie eine derart tiefgreifende Umgestaltung der grundrechtlichen Gewährleistungsgehalte und Begrenzungsregelungen dogmatisch zu rechtfertigen ist, bleibt jedoch unklar. Die dargestellte Verschmelzungslösung löst die Struktur der Einzelgrundrechte auf und vermengt deren Gewährleistungsbereiche zu einem neuen einzelfallabhängigen grundrechtlichen Schutzkomplex. Diesem wird ein Begrenzungskonstrukt bestehend aus Teilen der ursprünglichen Schranken zugeordnet. Strenggenommen gerät die Konkurrenzauflösung damit zum Einstieg in ein Verfahren der Grundrechtsneuschöpfung. Maßgeblich für die Grundrechtsprüfung sind nicht mehr die aus den Grundrechtsbestimmungen ableitbaren Grundrechtsnormen, sondern Kunstprodukte, die im Verfassungstext keinerlei Entsprechung finden. Es muß deshalb bezweifelt werden, ob sich die Synthetisierung von neuen Grundrechten aus mehreren Grundrechtsbestimmungen noch innerhalb der Grenzen zulässiger Verfassungsinterpretation bewegt.
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Windthorst, Verfassungsrecht I, § 7 Rdnr. 52. Windthorst, Verfassungsrecht I, § 7 Rdnr. 52; Schmalz, Grundrechte, Rdnr. 305. 165 Breuer, HbdStR VI, § 147 Rdnr. 99. 166 Schmalz, Grundrechte, Rdnr. 305. 164
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C. Grundrechtskonkurrenzen bb) Begrenzungskombination
Nach einem häufiger vertretenen Lösungsvorschlag sind die betroffenen Grundrechte nur auf der Begrenzungsebene zu kombinieren. Der Tatbestand der Grundrechtsnorm, d. h. der sachliche Gewährleistungsgehalt, bleibt unangetastet. In der Grundrechtsprüfung wird eine der beteiligten Grundrechtsnormen als Basisnorm ausgewählt, während der normative Gehalt der zweiten sowie der weiteren Bestimmungen innerhalb der im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführenden Abwägungen mitberücksichtigt w i r d 1 6 7 . Auf dieses Verfahren scheint auch das Bundesverfassungsgericht abzustellen, wenn es darauf hinweist, daß die besondere Bedeutung des sachferneren Grundrechts innerhalb der Prüfung der sachnäheren Verfassungsnorm zu berücksichtigen sei 1 6 8 . Im Fall der Berufstätigkeit eines Forschers müsse deshalb bei Eingriffen in die Berufsfreiheit auch der Bedeutung und Tragweite der Wissenschaftsfreiheit ausreichend Beachtung geschenkt werden. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit könne nur gewahrt werden, wenn der Schutz des Gemeinschaftsgutes, dem der Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG dient, ein Zurücktreten auch der Forschungsinteressen als zumutbar erscheinen läßt 1 6 9 . Allerdings vollzieht das Gericht in diesem Beispielsfall die Abgrenzung zur normativen Spezialität nicht deutlich genug. Einerseits wird darauf hingewiesen, daß die betroffenen Forscher in den Genuß des Grundrechtsschutzes aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG kommen, andererseits erklärt das Gericht aber auch, daß Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG nicht verletzt sein könne, da die Forscher nur durch Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG geschützt seien 170 . Die Wissenschaftsfreiheit scheint also von Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG verdrängt zu werden. Die normkombinierende Lösung ist damit offenbar eine modifizierte Form der sonst vom Verfassungsgericht bevorzugten normativen Spezialität 1 7 1 . Das sachfernere Grundrecht wird zwar in seinem Normgehalt berücksichtigt, tritt aber hinter die dominante Norm zurück. 167
Berkemann, NVwZ 1982, 85 (87); Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 647; ders., JuS 1992, L 60 (L 62). Teilweise wird angeregt, die Grundrechte parallel anzuwenden, wobei allerdings bei der jeweiligen Prüfung der Verhältnismäßigkeit die Werte des anderen Grundrechts mitzuberücksichtigen seien; Bleckmann, Staatsrecht II, § 14 Rdnr. 25; Bleckmann/Wiethoff, DÖV 1991, 722 (729); Wallerath, Öffentliche Bedarfsdeckung und Verfassungsrecht, S. 240 ff. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 53 will auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit die widersprüchlichen Rechtsfolgen durch Anwendung des Verfahrens der praktischen Konkordanz zu einer einheitlichen Normaussage verknüpfen. 168 BVerfGE 13, 290 (296); 65, 104 (113); 67, 186 (195); 85, 360 (382). 169 BVerfGE 85, 360 (381). 170 BVerfGE 85, 360 (382).
IV. Darstellung und Kritik der Lösungsvorschläge
87
Zur Bestimmung, welches Grundrecht als Basisnorm dienen soll, wird das vage Kriterium der Sachnähe verwendet. Nachvollziehbare oder gar verallgemeinerungsfähige Hinweise, wann ein Grundrecht sachnäher ist, lassen sich hingegen nicht finden. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, daß sich in der Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts insbesondere zum Verhältnis der Freiheitsrechte zum allgemeinen Gleichheitssatz beide Varianten der Konkurrenzauflösung wiederfinden 172 . Unklar bleibt jedoch, wann nach Ansicht des Gerichts eine vollständige Verdrängung und wann eine Kombination der Schutzgehalte erfolgt, bzw. wann die Grundrechte nebeneinander stehen und damit das im Einzelfall stärkste Grundrecht dominiert. Einwänden grundsätzlicher Art sieht sich die dargestellte Theorie allerdings nicht ausgesetzt. Ganz im Gegenteil: Der Konzentration der Prüfung auf eine zentrale Grundrechtsnorm unter Berücksichtigung der weiteren Schutzgegenstände in der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist ein hohes Maß an Praktikabilität zu bescheinigen. Problematisch wird die Weitekombination nur dann, wenn sie mit der Intention einer Schutzverstärkung erfolgt. So wird teilweise vertreten, daß beim Zusammentreffen mehrerer Freiheitsrechte, wie etwa der Berufsfreiheit und der Kunstfreiheit, jedes einzelne Grundrecht derart verstärkt werde, daß die Weitekombination einen insgesamt höheren Rang inne habe als die beteiligten Grundrechte jeweils für sich genommen 173 . Im Ergebnis soll dies etwa bedeuten, daß ein Musiker, der seine künstlerischen Fähigkeiten zum Bestreiten seines Lebensunterhaltes nutzt, a priori größeren grundrechtlichen Schutz erfahren muß als ein Freizeitmusikant. Der neben Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG betroffene Art. 12 GG qualifiziere die Kunstfreiheit, so daß höhere Anforderungen an die Einschränkbarkeit zu stellen wären als ohne den beruflichen Aspekt der Tätigkeit174. Nimmt man diese Ansicht ernst, wäre eine bis zur maximalen Verstärkung führende Kettenreaktion die Folge. Jedes weitere hinzutretende Grundrecht müßte den Qualifikationseffekt noch verstärken, so daß letztendlich der unter Verwendung künstlerischer Formensprache demonstrie171
Vgl. zur normativen Spezialität etwa BVerfGE 64, 229 (238). BVerfGE 36, 321 (330f.): Einschränkung des Gestaltungsspielraumes des Gesetzgebers im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG und Art. 5 Abs. 1 GG; BVerfGE 38, 61 (79): Berücksichtigung von Art. 3 Abs. 1 GG im Rahmen von Art. 12 Abs. 1 GG. Eine eingehende Untersuchung der Rechtsprechung des BVerfG findet sich bei Rohloff, Zusammenwirken von allgemeinem Gleichheitssatz und Freiheitsgewährleistungen, 1992. 173 Bleckmann, Staatsrecht II, § 14 Rdnr. 25; Bleckmann/Wiethoff, DÖV 1991, 722 (729); Ronellenfitsch, JöR 44 (1996), 167 (182). 174 Bleckmann, Staatsrecht II, § 14 Rdnr. 25; Bleckmann/Wiethoff, DÖV 1991, 722 (729). 172
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C. Grundrechtskonkurrenzen
rende, parteilich organisierte Sekten-Guru einer der verfassungsrechtlich am besten abgesicherten Grundrechtsträger wäre. Dieses zugegebenermaßen überzogene Beispiel zeigt, daß eine solche „Grundrechtspotenz" dogmatisch nicht haltbar ist und außerdem zu kaum nachvollziehbaren Ergebnissen führt 1 7 5 . Eine Grundrechtsmehrheit, wie sie in einer Konkurrenzsituation definitionsgemäß vorliegt, verfestigt sicherlich die Basis für die grundrechtlichen Abwehrrechte; sie kann jedoch nicht dazu führen, daß ein Abwehrrecht entsteht, das stärker ist als das aus dem stärksten Einzelgrundrecht resultierende Abwehrrecht 176 . Dies sei an einem Beispiel verdeutlicht: Parteien können sich hinsichtlich ihrer politischen Betätigung auf die Rechte aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG berufen 177 . Veranstaltet eine Partei eine Demonstration, steht ihr wegen Art. 19 Abs. 3 GG auch der Schutz des Art. 8 GG zur Seite 1 7 8 . Geht man davon aus, daß zwischen beiden Verfassungsnormen kein Spezialitätsverhältnis besteht, ist es durchaus denkbar, daß bei der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit von Eingriffen in die Versammlungsfreiheit die besondere verfassungsrechtliche Stellung der Parteien Berücksichtigung finden muß. Andererseits kann die Parteienfreiheit durch Art. 8 GG nicht dahingehend verstärkt werden, daß Betätigungen, die nicht von Art. 21 GG gedeckt werden, während der Dauer einer Versammlung zulässig sind. Grundrechtskombination im Sinne einer Beeinflussung der Normgehalte kann demnach nur heißen, daß ein Grundrecht - oder möglicherweise alle beteiligten Grundrechte - durch die jeweils mitbetroffenen Grundrechte eine Schutzverstärkung erfahren, die aber durch das Maß des „stärksten" Grundrechts beschränkt ist. cc) Schrankenverbund Schließlich sollen nach einer letzten vorgeschlagenen Lösungsvariante die Rechtsfolgen der konkurrierenden Grundrechtsnormen durch die Einbin175
nung". 176
Kritisch auch Voßkuhle, BayVBl. 1995, 613 (617): „Milchmädchen-Rech-
Ebenso Würkner, DÖV 1992, 150 (152); Pieroth/Schlink, Grundrechte, 11. Aufl., Rdnr. 373; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 99; Rüfner, Festgabe BVerfG, Bd. 2, S. 477; Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1407 Fn. 181. 177 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 21 Rdnr. 10; Ipsen, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 21 Rdnr. 29; a.A. Grimm, HbdVerfR, § 14 Rdnr. 30. Die Grundrechtsqualität des Art. 21 GG ist umstritten. Aber auch wenn Art. 21 GG nur ein grundrechtsähnliches Recht gewährt, kann das Problem der Schutzverstärkung beispielhaft diskutiert werden. 178 Henke, in: Bonner Kommentar, Art. 21 Rdnr. 218; Preuß, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, Art. 21 Abs. 1, 3 Rdnr. 44.
IV. Darstellung und Kritik der Lösungsvorschläge
89
dung der einzelnen Begrenzungsregeln in einen gemeinsamen Schrankenverbund harmonisiert werden. Dieser Schrankenverbund bestehe aus allen Elementen der Einzelschranken und bilde eine neue, einheitliche Begrenzungsregel 179 . Diese Rechtsfolgenkombination habe den Vorteil, daß keine der konkurrierenden Verfassungsnormen ihre selbständige Bedeutung verlöre 1 8 0 . Konkurrierten beispielsweise die Grundrechte der Berufs- und der Pressefreiheit miteinander, wäre ein Eingriff in die Schutzbereiche nur dann zulässig, wenn das einschränkende Gesetz zur Erreichung eines legitimen, im öffentlichen Interesse liegenden Zieles an die Berufsausübung anknüpft, ohne auf die inhaltliche Qualität und die geistige Wirkung von Meinungsund Informationsinhalten abzustellen 181 . Dieser Lösungsvorschlag unterscheidet sich von der vorgenannten Ansicht dadurch, daß schon auf abstrakter Ebene konkrete Aussagen über die Struktur der jeweiligen Schrankenregelung getroffen, werden können. Für jede denkbare Grundrechtskonstellation lassen sich die Schranken, die als Argumentationslastregeln begriffen werden, bereits im voraus bestimmen. Fraglich ist jedoch der Erkenntniswert einer solchen Schrankenaddition. Die bloße Bündelung der Schrankenregelungen der Einzelgrundrechte führt notwendigerweise zu keinem anderen Ergebnis als eine getrennte Prüfung, wenn man davon ausgeht, daß keines der konkurrierenden Grundrechte verletzt sein darf 1 8 2 . Sobald das einschränkende Gesetz - um bei dem obigen Beispiel zu bleiben - ein Sondergesetz gegen eine bestimmte Meinung darstellt, greift weder die Begrenzungsregel des Art. 5 Abs. 2 GG noch die oben dargestellte kombinierte Schranke. Das Abwehrrecht des jeweiligen Grundrechtsträgers wird nach keiner Variante zulässig eingeschränkt. Es ist deshalb nicht ersichtlich, daß dieser Vorschlag weiterführt. c) Theorie der funktionellen
Geltungseinheit
Die Theorie der funktionellen Geltungseinheit ist keine Kombinationslösung im klassischen Sinne. Vielmehr werden durch diesen Ansatz Elemente der bisher dargestellten Lösungen verwendet und zu einem funktional orientierten Auflösungsmechanismus zusammengefügt. Dem Lösungsvorschlag liegt die Vorstellung zugrunde, daß jedes Grundrecht aus zwei Phasen besteht: die finale Gewährleistung und die tatsächliche Ausübung 1 8 3 . Zwischen beiden Phasen soll ein funktionaler Zusammenhang bestehen, dem 179
Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 303 ff., 309. Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 344. 181 Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 309. 182 So die bereits dargestellte, herrschende Theorie von der Dominanz der rechtsfolgengünstigsten Norm. 183 Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 107. 180
90
C. Grundrechtskonkurrenzen
jedoch im reinen Innenverhältnis keine weitere Bedeutung zukomme. Im Außenverhältnis jedoch könne der Wirkungszusammenhang für die Konkurrenzauflösung nutzbar gemacht werden. Auch unterschiedliche Grundrechte könnten in einer Weise zusammentreffen - und dies sei der wichtigste Konkurrenzfall - , daß sich zur Verwirklichung des Grundrechtszweckes eines Grundrechts ein Bürger der Handlungsformen oder der sachlichen Mittel eines anderen Grundrechts bediene. In diesem Fall entstehe zwar kein neues Grundrecht 184 ; die Grundrechtsgewährleistung des einen Grundrechts und die Grundrechtsausübung des anderen Grundrechts verbänden sich jedoch, wenn sie sich im Verhältnis von Zweck und Mittel gegenüberträten, zu einer momentanen funktionellen Geltungseinheit 185 . In der entstandenen Grundrechtskombination seien der Einheit von Ausübungsrecht und Inhaltsrecht die zugehörigen Schrankenformationen ebenfalls als „qualitative Einheit gemeinsamer Normgeltung" zugeordnet 186 . Für die Auflösung der Konkurrenzsitution sei nun von entscheidender Bedeutung, daß trotz aktual-geltender Schrankeneinheit eine deutliche inhaltliche Beziehung zwischen der Ausübungsschranke und dem Ausübungsrecht einerseits und der Gewährleistungsschranke und dem Inhaltsrecht andererseits erhalten bliebe. Diese funktionelle Zuordnung wirke auch im Verbund materiell weiter. Deshalb dürfe weder die Ausübungsschranke einseitig in den Inhaltstatbestand eingreifen noch umgekehrt das Ausübungsrecht einseitig durch die Schranke des Inhaltsrecht begrenzt werden. Vielmehr müsse die Anwendung der Schranken funktionsgerecht erfolgen 1 8 7 . Was dies bedeutet, wird an einem Beispiel dargestellt. Immer dann, wenn die Meinungsfreiheit als kommunikatives Ausdrucksmittel in den Dienst einer künstlerischen oder wissenschaftlichen Betätigung trete, unterstehe diese den Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG; allerdings nur soweit, wie es um den Bereich der kommunikativen Grundrechtsausübung geht. In den nichtkommunikativen Teilen dürfe keine Beschränkung erfolgen 188 . Ziel soll es also sein, nur die Ausübung zu beschränken, nicht jedoch das Inhaltsrecht. Selbstverständlich ist diese Methode nur dann verwendbar, wenn die konkurrierenden Grundrechte tatsächlich in einem Verhältnis von Inhalt 184
Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 108. Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 109. 186 Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 112. 187 Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 113. 188 Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 113 f. Der durch die Konkurrenz von Art. 5 Abs. 1 GG und Art. 5 Abs. 3 GG entstandene Wirkungszusammenhang „kommunikativ ausgeübte Kunst (Wissenschaft)" soll also nur in seinem kommunikationsrechtlichen Teilgehalt der Beschränkungsmöglichkeit durch die allgemeinen Gesetze unterfallen. 185
IV. Darstellung und Kritik der Lösungsvorschläge
91
(Zweck) und Ausübung stehen 189 . Insofern ist der Anwendungsbereich dieses Lösungsvorschlags von sich aus beschränkt. Der grundsätzliche Anknüpfungspunkt ist jedoch richtig gewählt. Die Antwort auf die Frage nach der „richtigen Schranke" muß sich an der jeweiligen Funktion der in Konkurrenz tretenden Grundrechte orientieren. Völlig zu Recht wird deshalb auf den Unterschied zwischen inhaltlicher Betroffenheit (Zweckbetroffenheit) und ausübungsbedingter Betroffenheit abgestellt. Nicht zu überzeugen vermag allerdings die Konstruktion des Geltungsverbundes. Die funktionsmäßige Unterscheidung darf nicht dazu führen, daß erst auf der Begrenzungsebene der grundrechtliche Prüfungsmaßstab festgelegt wird. Andernfalls geht die methodische Klarheit des Verfahrens verloren. Vorteilhafter wäre es stattdessen, die Unterscheidung zwischen Ausübungs- und Inhaltsrecht bereits auf der Ebene des Tatbestandes zu treffen, um dann die Prüfung mit der jeweils einschlägigen Norm fortzusetzen. Um diese Überlegung weiterzuentwickeln, bedarf es allerdings einer grundlegenden Betrachtungen über die Normstruktur der Grundrechtsnormen.
5. Gestufte Konkurrenzlösung unter Anwendung unterschiedlicher Modelle Häufig wird die Problemlösung für Konkurrenzlagen in zwei Schritten angegangen. Zunächst werden unter Rückgriff auf die einzelnen Spielarten der Verdrängungslösung bereits auf der Tatbestandsebene die Fälle von Spezialität (bzw. Gesetzeskonkurrenz im weiteren Sinne) ausgesondert 190 . Kann kein tatbestandliches Spezialitätsverhältnis festgestellt werden, soll es zunächst bei der kumulativen Anwendbarkeit der Grundrechtsnormen bleiben 1 9 1 . Liegt jedoch ein Fall von Schrankendivergenz vor, erfolgt eine erneute Konkurrenzuntersuchung, diesmal über die Anwendbarkeit der jeweiligen Schrankenregelungen 192. Im Ergebnis werden die Schranken dann entweder durch Verdrängung 193 oder durch Schrankenübertragung 194 harmonisiert. Die Schrankendivergenz wird auf diese Weise als reines 189 Sollte ein solches Verhältnis nicht zu konstatieren sein, schlägt Scholz, a.a.O., S. 115, vor, die Schrankenformationen nach dem „funktionsmäßigen Schwergewicht" abzugrenzen. Dies gelte insbesondere für das Verhältnis von Art. 12 GG und Art. 14 GG; vgl. auch Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 9 Rdnr. I l l , Art. 12 Rdnr. 112; 122ff. 190 Bethge, LdR 5/340, S. 3 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 399; Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 136f. 191 Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1404. 192 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II Rdnr. 37ff.; Bethge, LdR 5/340, S. 4; Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1404ff.; Schwabe, JA 1979, 191 (195); ders., S. 394; Schmalz, Grundrechte, Rdnr. 302. 193 Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1405ff.; Bethge, LdR 5/340, S. 5.
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C. Grundrechtskonkurrenzen
Zusatzproblem angesehen, das unabhängig von der Tatbestandsebene zu behandeln i s t 1 9 5 . Diese gestufte Vorgehensweise vernebelt jedoch das eigentliche Problem und verhindert eine methodisch saubere Lösung 1 9 6 . Grundrechtskonkurrenzen sind nichts weiter als Konkurrenzsituationen zwischen Rechtsnormen, die subjektive (Grund-)Rechte gewähren. Ebenso wie andere Bedingungsnormsätze sind Grundrechtsnormen aus Tatbestand und Rechtsfolge zusammengesetzt. Konkurrenzprobleme ergeben sich immer dann, wenn die Rechtsfolgen zueinander in Widerspruch stehen und sie deshalb als Regelungs- bzw. Verhaltensanordnungen unbrauchbar sind. Konkurrenzen zwischen den einzelnen Elementen der Grundrechtsnormen sind aber schon begrifflich ausgeschlossen. Zwischen grundrechtlichen Garantietatbeständen als den Verbürgungen menschlicher Freiheiten oder menschlicher Rechtsgüter kann es nicht zu Widersprüchen kommen 1 9 7 . Gleiches gilt für die Begrenzungsregelungen. Als Basis konkurrenzdogmatischer Überlegungen kann daher nur auf die Norm als ganzes zurückgegriffen werden. Normlogische oder normative Spezialitätsverhältnisse können nicht durch gesonderte Betrachtung einzelner Normbestandteile analysiert werden; erforderlich ist die Anwendung allgemeingültiger methodischer Regeln.
194
Bleckmann/Wiethoff, DÖV 1991, 722 (728); Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 137. 195 Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 394. 196 Vergleiche auch die völlig zu Recht geäußerte Kritik von Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 289 f. 197 Ebenso Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 289.
D. Grundlagen der Konkurrenzdogmatik I. Einleitung Bisher wurden die einzelnen Lösungsansätze der Literatur und Rechtsprechung kritisch untersucht. Bevor nun ein eigener Lösungsvorschlag erarbeitet werden kann, sind einige dogmatische Vorüberlegungen notwendig. Konkurrenzsituationen zwischen Grundrechten sind zunächst nichts weiter als Anwendbarkeitsfragen zweier oder mehrerer (Verfassungs-) Rechtsnormen. Grundsätzlich sind deshalb auch die Konkurrenzprobleme zwischen Grundrechten nach den allgemeinen methodischen Regeln zu lösen. Tatbestandliche Spezialitätsverhältnisse zwischen Grundrechtnormen lassen sich aber nur dann feststellen, wenn klar ist, welche Elemente der Grundrechtsnormen die Rechtsfolge und welche den Tatbestand bilden. Für die Entwicklung einer Konkurrenzdogmatik ist es deshalb von größter Bedeutung, den strukturellen Aufbau der Grundrechtsnormen gewissermaßen als Arbeitsgrundlage festzulegen. Freilich kann an dieser Stelle keine umfassende Auseinandersetzung mit dieser Frage erfolgen. Dennoch soll in der gebotenen Kürze zur allgemeinen Struktur der Grundrechtsnorm Stellung genommen werden.
II. Struktur der abwehrrechtsbegründenden Grundrechtsnorm Um terminologische Unklarheiten zu vermeiden, ist es sinnvoll, begrifflich zwischen Grundrechtsbestimmung, Grundrechtsnorm und Grundrecht zu unterscheiden. Eine Grundrechtsbestimmung ist die textliche Niederlegung des Grundrechtes. Sie fungiert als vergegenständlichte Basis mehrerer - unterschiedlicher - Grundrechtsnormen. Mit dem Begriff des Grundrechts hingegen ist die Gesamtheit der Rechtsfolgen der auf einer Grundrechtsbestimmung basierenden Grundrechtsnormen zu erfassen. Eine dieser Rechtsfolgen ist das hier in Rede stehende grundrechtliche Abwehrrecht als subjektive Rechtsposition des jeweiligen Grundrechtsträgers. Die Qualität der Grundrechtsnormen als Rechtsnormen im technischen Sinne wird unter der Geltung des Grundgesetzes nicht mehr in Abrede gestellt. Rechtsnormen sind sprachliche Verkörperungen verbindlicher und
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D. Grundlagen der Konkurrenzdogmatik
genereller Rechtsregeln 1. Der Verfassungsgeber hat mit den Grundrechtsbestimmungen Verbots- und Gebotsanordnungen getroffen, die - und das wird durch den eindeutigen Wortlaut des Art. 1 Abs. 3 GG unmißverständlich deutlich - die Gesetzgebung, die Rechtsprechung und die vollziehende Gewalt als unmittelbar geltendes Recht binden. Die Rechtsnatur der Grundrechtsbestimmungen als (Verfassungs-)Rechtsnormen ist damit festgelegt 2. Anders als im einfachen Recht läßt sich jedoch die Struktur der Grundrechtsnormen nicht ohne weiteres aus der textlichen Fassung des Grundgesetzes ableiten. Die Grundrechtsbestimmungen als sprachliche Verkörperungen der Grundrechtsnormen geben nur unvollständige Hinweise auf die Zugehörigkeit der einzelnen Normbausteine zu Tatbestand und Rechtsfolge. Dies ist freilich unbedeutend, da es genügt, daß diese Normelemente im Verfassungstext angedeutet sind 3 und durch entsprechende sprachliche Umstellung auch zur Anschauung gebracht werden können. Wie jeder andere vollständige Rechtssatz besitzt auch die abwehrrechtliche Grundrechtsnorm die allgemeine Struktur von Tatbestand und Rechtsfolge.
1. Tatbestand a) Tatbestand in sachlicher Hinsicht Grundrechte schützen in ihrer Funktion als Abwehrrechte die unterschiedlichsten Lebensbereiche, wie etwa das religiöse oder das kulturelle Leben, vor unbeschränkter staatlicher Einflußnahme 4 . Der grundrechtliche Schutzmantel überdeckt diese Bereiche jedoch nicht vollständig. Geschützt sind vielmehr nur bestimmte Verhaltensweisen oder bestimmte Rechtspositionen einer jeweils festgelegten Personengruppe 5. Derjenige Teil der Grundrechtsnorm, der diesen geschützten Ausschnitt der Lebenswirklichkeit beschreibt, bildet den Tatbestand der Norm 6 . Er dient damit der Abschich1
Siehe oben S. 18 f. Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 16; Roth, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, S. 94; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 39 f. 3 Roth, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, S. 95. 4 Dreier in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 78; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 199ff.; Höfling, Jura 1994, 169 (170). 5 Höfling, Jura 1994, 169 (170). Die Beschränkung der Definition auf Verhaltensweisen ist zu eng. Teilweise werden durch Grundrechte auch nur die reine Innehabung von Rechtspositionen oder die natürlichen Eigenschaften einer Person geschützt. Beispiele hierfür sind das Eigentum und die körperliche Unversehrtheit. Siehe dazu Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 241; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Vorb. vor Art. 1 Rdnr. 13. 6 Starck, in: v. Mangold/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3 Rdnr. 228ff.; Bleckmann, Staatsrecht II, § 12 Rdnr. Iff.; Höfling, Jura 1994, 2
II. Struktur der abwehrrechtsbegrndenden Grundrechtsnorm
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tung abwehrrechtlich geschützter Interessen von anderweitigen Rechtsgütern 7. Der Grundrechtstatbestand bildet durch die Festlegung des abwehrrechtlichen Schutzgegenstandes die positive Seite des Gewährleistungsgehaltes der Grundrechtsnorm. Er wird negativ durch die Grundrechtsbegrenzungen eingeschränkt 8. Die Begrenzungsmöglichkeiten verengen damit den tatbestandlich erfaßten Bereich; sie haben aber keinen Einfluß auf seine inhaltliche Ausgestaltung, d.h. sie definieren ihn nicht 9 . Damit ist allerdings noch nichts darüber gesagt, inwieweit die Interpretation des sachlichen Gewährleistungsgehaltes mit Blick auf die Grundrechtsbegrenzungen erfolgen darf 1 0 In bezug auf die Rechtsfolge läßt sich die Tatbestandsseite der Grundrechtsnorm definieren als „Inbegriff der notwendigen Voraussetzungen der grundrechtlichen Rechtsfolge, die zum Grundrechtsgewährleistungssatz zusammengefaßt sind" 1 1 . Negativ formuliert bedeutet dies, daß der Grundrechtstatbestand nur solche Merkmale enthalten kann, deren Fehlen ohne weitere Vorbedingungen dazu führt, daß die Anwendbarkeit des Grundrechtes ausgeschlossen ist 1 2 . Konsequenterweise fallen damit die Grundrechtsbegrenzungen aus dem Tatbestandsbegriff heraus. Sie werden nach der hier vertretenen Ansicht als selbständiger Normteil neben Tatbestand und Rechtsfolge verstanden. Systematisch läßt sich der Tatbestand in zwei Hauptbestandteile aufgliedern. Nahezu in jeder Grundrechtsbestimmung finden sich neben sachorientierten Voraussetzungen auch Regelungen über die jeweilige Grundrechtsträgerschaft. Die Tatbestandsmerkmale der Grundrechtsnormen können daher in die Grundrechtsberechtigung - Tatbestand in personeller Hinsicht - und in den Schutzgegenstand - Tatbestand in sachlicher Hinsicht - unterteilt werden 13 . 169 (170); Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 326; Siekmann/Duttge, Staatsrecht I, Rdnr. 93; Katz, Staatsrecht, Rdnr. 636. 7 Roth, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, S. 112. 8 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 272. 9 Lerche, HbdStR V, § 121 Rdnr. 11. 10 Gegen eine Berücksichtigung der Begrenzungsregelungen BVerfGE 85, 386 (397); Isensee, HbdStR V, § 111 Rdnr. 45; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 79; Kloepfer, in: Festgabe BVerfG, Bd. 2, S. 407; a.A. Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 56f., 61 m.w.Nw., der auf die systematischen Zusammenhänge zwischen Grundrechtsgewährleisung und Begrenzungsregelung verweist. 11 Sachs, JuS 1995, 693. 12 Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 19. 13 Siehe Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 77; ders. JuS 1995, 693.
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D. Grundlagen der Konkurrenzdogmatik
In der Literatur werden anstelle des Begriffs Tatbestand auch die Begriffe Schutzbereich oder Normbereich verwendet. Allerdings ist Vorsicht geboten. Nur in wenigen Fällen werden die Begriffe ausdrücklich synonym verwendet 14 . In der Regel verbergen sich hinter den Begrifflichkeiten unterschiedliche Bedeutungen 15 . Die Zerissenheit der Terminologie um den abwehrrechtlichen Tatbestand wird damit zum Spiegelbild des Streits um die Struktur der Grundrechtsnorm. Die Grundrechtsdogmatik ist in dieser Hinsicht noch lange nicht gefestigt. Im Gegenteil; selbst in aktuellen Publikationen, die sich intensiv mit Strukturfragen auseinandersetzen, gehen die Ansichten weit auseinander 16. Insbesondere wird, entgegen der hier vertretenen Auffassung, die besondere Stellung der Begrenzungsregelung außerhalb des Tatbestands bestritten. Häufiger noch wird in der Literatur ein Tatbestandsbegriff geprägt, der zugleich die Grundrechtsbeeinträchtigung als Rechtsfolgevoraussetzung erfaßt.
aa) Grundrechtsbegrenzungen als Tatbestandsmerkmale? (1) Inkorporation von Grundrechtsbegrenzungen Nach neuerdings vertretener Auffassung soll sich die Grundrechtsnorm nur aus dem Tatbestand auf Voraussetzungsseite und der Rechtsfolge auf der Anordnungsseite zusammensetzen. Die Grundrechtsbegrenzung wird nach dieser Ansicht nicht als eigenständiges Strukturmerkmal der Norm neben dem grundrechtlichen Tatbestand aufgefaßt 17 . Vielmehr werden die Begrenzungsregelungen der Grundrechtsnormen als Tatbestandsmerkmale angesehen, die dem Tatbestand als sog. Einschränkungsmerkmale inkorpo14
Für das Begriffspaar Tatbestand - Schutzbereich etwa Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb., Rdnr. 78; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 11. Aufl., Rdnr. 214; Isensee, HbdStR V, § 111 Rdnr. 40 Fn. 84. Im folgenden werden die Begriffe Tatbestand und Schutzbereich der Einfachheit halber synonym verwendet. 15 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 273 ff.: unterschiedliche Bedeutung der Begriffe Tatbestand und Schutzbereich, aber inhaltliche Kongruenz durch eine jeweils weite Begriffsfassung; Lerche, HbdStR V, § 121 Rdnr. 11: Schutzbereich als Summe aus Tatbestand und der im Kern für alle Grundrechte gleichen Rechtsfolge: „... wird als (Grund-)Recht gewährleistet"; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Vorb. vor Art. 1 Rdnr. 13; ders. AöR 120 (1995), 345 (371): Tatbestand des Grundrechtes als die Summe aus Schutzbereich und Eingriff. 16 Beispielhaft sei nur auf die im folgenden näher zu behandelnden grundlegend unterschiedlichen Positionen von Fohmann, EuGRZ 1985, 49ff.; Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 620ff., Bd. III/2, S. 3ff., 31 ff., 225ff. und Roth, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, S. 78ff., 94ff., insb. 101 ff. verwiesen. 17 Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (55 f.); im Anschluß auch Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1394 ff. Anders jedoch Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 13.
II. Struktur der abwehrrechtsbegrndenden Grundrechtsnorm
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riert sind. Der so gewonnene Tatbestand enthält damit alle Voraussetzungen, die in der Grundrechtsbestimmung als textlicher Grundlage der Grundrechtsnorm für den Eintritt der Rechtsfolge angelegt sind 1 8 . Demnach sollen drei Gruppen von Tatbestandsmerkmalen zu unterscheiden sein: Themamerkmale als positive, das Grundrecht charakterisierende Merkmale, Begrenzungsmerkmale als negative Tatbestandsmerkmale 19 und die besagten Einschränkungsmerkmale, die ebenfalls negativ den Schutzumfang des Grundrechtes bestimmen, zu ihrer Wirksamkeit aber einen unterverfassungsrechtlichen Akt des Gebrauchmachens erfordern. Beispiele für Beschränkungsmerkmale fänden sich in Art. 8 Abs. 1 GG in den Merkmalen „friedlich" und „ohne Waffen", in Art. 9 Abs. 2 GG in den Formulierungen „verfassungsmäßige Ordnung" und „Gedanken der Völkerverständigung" und in der Begrenzung einiger Grundrechte durch das Tatbestandsmerkmal „Deutscher". Zur Gruppe der Einschränkungsmerkmale seien die einfachen und qualifizierten Gesetzesvorbehalte zu zählen 20 . Der Tatbestand der Grundrechtsnorm wird damit in eine ähnliche Form gegossen, wie sie auch durch die im Strafrecht virulente Theorie von den negativen Tatbestandsmerkmalen für die Strafnormen entwickelt wurde 21 . Dieser dogmatische Ansatz ähnelt der älteren Innenrechtstheorie, wie sie beispielsweise von Häberle vertreten wird 2 2 . Danach seien Grundrechtsbegrenzungen nichts anderes als Grenzbestimmungen der grundrechtlichen Freiheiten. In dieser Funktion legten sie die inhaltliche Tragweite des jeweiligen Freiheitsrechtes fest und seien deshalb in den Schutzbereich mit einzubeziehen 23 .
18
Nicht zu verwechseln ist diese Problematik mit der Frage, ob die verfassungsimmanenten Begrenzungen ganz oder teilweise als Tatbestandsmerkmale anzusehen sind. Befürwortend etwa Isensee, HbdStR V, § 111 Rdnr. 56; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Rdnr. 310 ff. Nicht so deutlich, aber im Ergebnis wohl ebenso Kriele, JA 1984, 629 ff. Differenzierter hingegen Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 260 ff. 19 Für eine Trennung zwischen Begrenzungsmerkmalen und Merkmalen, die auf den materiellen Hauptgegenstand des Grundrechts hinweisen auch Lerche, HbdStR V, § 121 Rdnr. 12 ff. 20 Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (55 f.); Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1394ff. 21 Zum Diskussionsstand Lenckner, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, vor § 13 Rdnr. 15ff. m.w.Nw. 22 Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, S. 126. 23 Ein Überblick über die Auseinandersetzung mit dieser Theorie findet sich insbesondere bei Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 250ff.; Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 12 ff. 7 Heß
98 (2)
D. Grundlagen der Konkurrenzdogmatik Kritik
der Begrenzungsinkorporation
Für ein derartiges Verständnis des grundrechtlichen Tatbestandes läßt sich keine durchgreifende Begründung finden. Zunächst ist schon die Zusammenfassung der Beschränkungs- und Einschränkungsmerkmale zur Gruppe der negativen Tatbestandsmerkmale problematisch 24 . Beschränkungsmerkmale legen trotz ihrer - teilweise - negativen Formulierung den Gewährleistungsgehalt eines Grundrechtes positiv fest. Für Art. 8 Abs. 1 GG bestimmen sowohl das sog. Themamerkmal der Versammlung als auch die sog. Beschränkungsmerkmale „friedlich" und „ohne Waffen", welche Art und Weise menschlichen Verhaltens durch das Grundrecht geschützt wird: eben das friedliche, waffenlose Sichversammeln 25 . Gleiches gilt für Art. 9 Abs. 2 GG. Folgt man der Interpretation des Bundesverfassungsgerichts und sieht Art. 9 Abs. 2 GG als Schutzbereichsregelung an 2 6 , schneidet die Normierung des Abs. 2 einen Teil aus dem Anwendungsfeld des Abs. 1 heraus 27 . Der Gewährleistungsgehalt wird damit verkürzt. Allerdings ist die negative Formulierung insofern zufällig, als auch eine positive Regelung mit dem gleichen Ergebnis hätte getroffen werden können. Generell führt jedes zusätzlich in den Normtatbestand eingefügte, positiv oder negativ formulierte Merkmal zu einer Schutzbereichsverkürzung 28. Die Differenzierung in positive Thema- und negative Beschränkungsmerkmale bringt also zumindest keinen besonderen Erkenntnisgewinn. Gegen die Einordnung der Grundrechtsbegrenzungen als negative (Einschränkungs-)Tatbestandsmerkmale lassen sich aus normtechnischer Sicht keine grundsätzlichen Einwände vorbringen. In der Literatur wird völlig zu Recht darauf hingewiesen, daß eine „handfeste Legitimation für eine Trennung (oder Zusammenführung)" der Normelemente nur schwerlich aus den Grundrechtsbestimmungen selbst zu entnehmen ist 2 9 . Dennoch halten die überwiegende Ansicht in der Literatur 30 und die Rechtsprechung 31 an der 24
So auch Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1395. v. Münch in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Art. 1-19, Rdnr. 49; Schnapp, JuS 1978, 729 (730): „verfassungsunmittelbare Beschreibung der sachlichen Gewährleistungsreichweite einer Grundrechtsbestimmung". 26 BVerfGE 80, 244 (253). 27 A.A. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 9 Rdnr. 15 m.w.Nw. 28 Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 20. 29 Kloepfer, in: Festgabe BVerfG, Bd. 2, S. 406. A.A. Roth, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, S. 96: die textliche Trennung von Gewährleistungs- und Begrenzungsregelungen lasse Rückschlüssse auf die Struktur der Norm zu. 30 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3 Rdnr. 232ff.; Isensee, HbdStR V, § 111 Rdnr. 42 insb. Fn. 40; Merten, HbdStR VI, § 144 Rdnr. 69; Kloepfer, in: Festgabe BVerfG, Bd. 2, S. 405ff.; Pie25
II. Struktur der abwehrrechtsbegründenden Grundrechtsnorm
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strukturellen Trennung fest. Zur Begründung wird richtigerweise die Nachvollziehbarkeit und Kontrollierbarkeit der verfassungsrechtlichen Subsumtionsvorgänge ins Feld geführt: Die gestufte Interpretation einer Grundrechtsnorm über Tatbestand, Begrenzung und „Schrankenschranken" macht die grundrechtliche Argumentation einsichtiger und berechenbarer 32. Zudem ist mittels dieser Vorgehensweise eine sachadäquate Berücksichtigung der divergierenden Interessen innerhalb der Einzelfallösung sehr viel besser möglich 3 3 . Wird die klare Gegenüberstellung von Gewährleistung und Begrenzung verwischt, führt dies zu einem Mangel an Transparenz des grundrechtlichen Entscheidungsvorgangs. Wenn aber Tatbestand und Begrenzung im juristischen Argumentationsprozeß, sprich in der Normanwendung, formal voneinander zu trennen sind, muß sich dies auch in der Normstruktur der abwehrrechtlichen Grundrechtsnormen niederschlagen. Hinzu kommt ein argumentationslogischer Einwand. Bei klassischer Trennung zwischen Tatbestand und Begrenzung stehen sich der grundrechtliche Schutzgegenstand und die durch die Grundrechtsausübung gefährdeten fremden Rechtsgüter strukturiert gegenüber. Anders bei einem einheitlichen Tatbestandsbegriff. Die Verkürzung des grundrechtlichen Gewährleistungsbereiches durch tatbestandsimmanente Einschränkungsmerkmale hätte zur Folge, daß eine Abwägung zwischen dem tatbestandlichen Schutzgegenstand und den kollidierenden Individual- und Gemeinschaftsinteressen, wie sie etwa innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung notwendig wird, kaum möglich wäre, ohne daß das Verfahren in den Verdacht eines Zirkelschlusses geriete. Denn diejenigen menschlichen Verhaltensweisen, die durch das einschränkende Gesetz erfaßt (verboten) werden, würden, da die negative Tatbestandsvoraussetzung erfüllt ist, nach dieser Ansicht nicht unter den Tatbestand der Grundrechtsnorm fallen. Folglich bildeten sie auch nicht den Schutzgegenstand des Grundrechts. Damit würde der Schutzgegenstand also erst durch Ausformung und Anwendung der Einschränkungsregelung durch den Gesetzgeber bestimmt. Andererseits hängt aber die Entscheidung, ob ein Gesetz dem Gesetzesvorbehalt des Einschränkungsmerkmals genügt, davon ab, ob es seinerseits verhältnismäßig ist. Zur Klärung dieser Frage muß jedoch auf den Schutzgegenstand des Grundrechtes zurückgegriffen werden, der aber, wie gerade festgestellt, erst durch das Einschränkungsroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 252ff.; Bleckmann, Staatsrecht II, § 12 Rdnr. Iff.; Katz, Staatsrecht, Rdnr. 634; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 172 ff. m.w.Nw.; ders., Vertragsfreiheit, S. 39; ders., Jura 1994, 169ff.; Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 11 ff. 31 Sehr deutlich in BVerfGE 32, 54 (72) und seit dem ständig. 32 Kloepfer, in: Festgabe BVerfG, Bd. 2, S. 407; Höfling, Jura 1994, 169 (170); Katz, Staatsrecht, Rdnr. 635. 33 Höfling, Jura 1994, 169 (170); vgl. auch Isensee, HbdStR V, § 111 Rdnr. 44 f. 7*
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D. Grundlagen der Konkurrenzdogmatik
merkmal determiniert wird. Die abwägende Argumentation würde sich im Kreise drehen. Schließlich spricht auch die unterschiedliche Zweckrichtung von Tatbestand und Begrenzung gegen eine strukturelle Vermischung dieser Elemente 34 . Der Tatbestand grenzt die Sphäre der individualen oder kollektiven Grundrechtsgeltung von ungeschützten Bereichen ab und legt damit die Grundlage für die Entstehung eines Abwehrrechts. Die Begrenzungsregelung hingegen beinhaltet zunächst nichts weiter als die bloße Möglichkeit, die Entstehung einer solchen Rechtsposition entgegen der tatbestandlichen Regelungsanordnung zu verhindern. Übertragen auf das Regel-AusnahmeSchema bedeutet dies, daß die Regel (Gewährleistung) zwingend, die Ausnahme hingegen lediglich ermächtigend wirkt. Diese eindeutige Wertung der Verfassung muß auch in der Strukturinterpretation der Grundrechtsnormen ihren Niederschlag finden. Als Fazit läßt sich daher festhalten, daß Tatbestand und Begrenzung eines Grundrechts als fundamentale Bauteile einer Grundrechtsnorm einen eigenständigen Charakter besitzen 35 . Sie verkörpern diametral die Gewährleistung und die Beschränkung individueller Freiheit gegenüber staatlicher Macht 3 6 . Der eigenständigen Stellung der Grundrechtsbegrenzung kommt dabei eine nicht zu unterschätzende freiheitssichernde Wirkung zu 3 7 . Die Grundrechtsbegrenzungen sind deshalb nicht Teil des Tatbestands, sondern stehen als selbständiges Strukturelement neben diesem. bb) Grundrechtsbeeinträchtigung als Tatbestandsmerkmal? Ebensowenig wie die Begrenzungsregelungen ist entgegen anderer Ansicht 3 8 auch der Grundrechtseingriff ein Element des Tatbestands der Grundrechtsnorm. Die Beeinträchtigung der grundrechtlich geschützten Verhaltensweisen und Rechtspositionen gehört nicht zu den tatbestandlichen Voraussetzungen für den Eintritt der primären grundrechtlichen Rechtsfolge. 34
Änlich Roth, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, S. 97. Kloepfer, in: Festgabe BVerfG, Bd. 2, S. 405. 36 Kloepfer, in: Festgabe BVerfG, Bd. 2, S. 405; Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 96. 37 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3 Rdnr. 229. 38 Ramsauer, Die faktische Beeinträchtigung des Eigentums, S. 50ff.: funktionales Element des Schutzbereichs; ähnlich Schwerdtfeger, NVwZ 1982, 5 (7 ff.); ders., Öffentliches Recht in der Fallbearbeitung, Rdnr. 447: die Normaussage über die Reichweite des jeweiligen Abwehrrechts bilde den „funktionalen Schutzbereich"; ähnlich auch Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Vorb. vor Art. 1 Rdnr. 13; Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 19f.; Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 291 ff. 35
II. Struktur der abwehrrechtsbegriindenden Grundrechtsnorm
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Grundrechtsbeeinträchtigungen 39 sind nach heute herrschendem Verständnis rechtfertigungsbedürftige Einwirkungen des Staates in die grundrechtlich geschützte Sphäre 40 . Der Rechtfertigungszwang für hoheitliches Handeln besteht also immer dann, wenn die staatliche Maßnahme gegen die grundrechtlich geschützte Freiheit ausgerichtet ist 4 1 . Grundrechtsbeeinträchtigungen sind in unterschiedlichster Gestalt möglich. Als Prototyp einer Grundrechtsbeeinträchtigung wird allgemein der sog. klassische Grundrechtseingriffs angesehen42. Voraussetzungen eines solchen Eingriffs sind Finalität, Unmittelbarkeit, Rechtsaktcharakter mit rechtlicher Wirkung und befehlsweise Anordung bzw. Durchsetzung des staatlichen Handelns 43 . Doch auch sonstige Maßnahmen des Staates können beeinträchtigende Wirkung haben. Grundsätzlich anerkannt ist dies mittlerweile für faktische (tatsächliche) sowie mittelbare (reflexive) Einwirkungen 44 . Wann die Schwelle zur Beeinträchtigung überschritten ist, ist im einzelnen allerdings hoch umstritten 45 . Der Grundrechtseingriff - oder ganz allgemein die Grundrechtseinschränkung - soll nun nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung notwendige Voraussetzung für den Eintritt der grundrechtlichen Rechtsfolge sein 46 . 39 Häufig wird statt von einer Grundrechtsbeeinträchtigung nur vom Grundrechtseingriff gesprochen; vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 238ff.; Bleckmann, Staatsrecht II, § 12 Rdnr. 32. Teilweise werden die Begriffe synomym gebraucht; siehe Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 84 ff. Es bietet sich jedoch an, die Grundrechtsbeeinträchtigung als Oberbegriff zu wählen, um den klassischen Eingriff terminologisch von sonstigen Beeinträchtigungen unterscheiden zu können. So auch Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 80f.; Jarass, AöR 120 (1995), 345 (367). Genau entgegengesetzt Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 426ff.: der Oberbegriff Eingriff solle sowohl den klassischen Eingriff als auch faktische und imperative Beeinträchtigungen erfassen. 40 Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 78; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, Vorb. vor Art. 1, Rdnr. 19; Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 19. 41 Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 426. 42 Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 78; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, Vorb. vor Art. 1 Rdnr. 20. 43 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 238; Bleckmann, Staatsrecht II, § 12 Rdnr. 34ff. Vertiefend Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 82ff. 44 BVerfGE 66, 39 (60); 76, 1 (42); Lorenz, HbdStR VI, § 128 Rdnr. 24; Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 83; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 82; Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 445; Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 26ff.; Roth, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, S. 225 ff.; Albers, DVB1. 1996, 233. 45 Zur Diskussion über den Grundrechtseingriff umfassend Bethge, VVdStRL 57 (1998), 7ff.; Weber-Dürler, VVDStRL 57 (1998), 57ff. 46 Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 20f.; Schmalz, Grundrechte, Rdnr. 79f.; Roth, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, S. 112f., 125 ff.; Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 291.
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D. Grundlagen der Konkurrenzdogmatik
Der Tatbestand besteht demnach nicht nur aus dem Schutzbereich, sondern auch aus einem Element, welches festlegt, welche staatliche Maßnahmen überhaupt geeignet sind, die Schutzwirkung der Freiheitsrechte auszulösen 47 . Während der Schutzbereich bestimme, was grundrechtlich geschützt wird, lege der Eingriff fest, wogegen sich dieser Schutz richte48. Begründet wird diese Feststellung insbesondere mit dem Argument, daß erst die Beeinträchtigung die übrigen Tatbestandsmerkmale aktiviere. Nur dann, wenn eine Beeinträchtigung eines grundrechtlich geschützten Verhaltens vorliege, käme die Schutzfunktion der Grundrechte zum Tragen 49 . Sinnvollerweise könne nur derjenige Teil einer Grundrechtsnorm als Tatbestand bezeichnet werden, der die Voraussetzungen für den Eintritt der Rechtsfolgen festlege. Rechtsfolgen ließen sich aber nicht an die Beschreibung des geschützten Verhaltens knüpfen, sondern nur an eine Beeinträchtigung der durch den Schutzbereich definierten geschützten Freiheit 50 . Ein Tatbestandsbegriff ohne Berücksichtigung des Eingriffsaktes sei für die praktische Rechtsanwendung nicht ausreichend 51. Die Grundrechtsbeeinträchtigung müsse deshalb als ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung für den Eintritt der grundrechtlichen Rechtsfolgen qualifiziert werden 52 . Teilweise wird auch - etwas differenzierter - mit einem zweigeteilten Tatbestandsbegriff gearbeitet 53 . Es wird unterschieden zwischen dem Schutzgut-Tatbestand, der zur Folge hat, daß auf Voraussetzungsseite der Norm nur das Schutzgut erscheint, und dem Schutzgut/Eingriff-Tatbestand, der den Eingriffsakt mitberücksichtigt. Als Beispiel für einen solchen Schutzgut-Tatbestand wird etwa die folgende Norm genannt: „Wenn eine Handlung eine Berufswahlhandlung ist, dann besteht ein prima facie-Recht darauf, daß nicht in sie eingegriffen wird." Einen Schutzgut/Eingriffs-Tatbestand enthält hingegen diese Norm: „Wenn die Handlung h eines Grundrechtsträgers eine Berufswahlhandlung ist und wenn die Maßnahme m in h eingreift, dann ist m prima facie verboten." Für das richtige Verständnis abwehrrechtlicher Normen sei nicht der sog. Schutzgut-Tatbestand, sondern der Schutzgut/Eingriff-Tatbestand zu47 Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 20 im Anschluß an Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, S. 24. 48 Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 20f., der aber zugesteht, daß im Einzelfall durchaus unklar sein könne, ob eine Aussage über den grundrechtlichen Schutz eine solche über den Schutzbereich oder den Eingriff in den Schutzbereich sei. 4φ Schmalz, Grundrechte, Rdnr. 79 f. 50 Roth, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, S. 112f.; Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 291. 51 Schmalz, Grundrechte, Rdnr. 79. 52 Roth, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, S. 113 f., 125 ff. 53 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 273 ff.
II. Struktur der abwehrrechtsbegrndenden Grundrechtsnorm
103
grundezulegen. Der Tatbestand als Gegenbegriff zur Schranke habe die Aufgabe, alle materiellen Voraussetzungen der prima facie-Rechtsfolge zusammenzufassen. Deshalb sei es „empfehlenswert", Eingriff und Schutzgut zum grundrechtlichen Tatbestand zu vereinen 54 . Dem ist nicht zu folgen. Die dargestellten Ansichten basieren auf einem einschichtigen Rechtsfolgenkonzept für die aus den Grundrechtsnormen folgenden Abwehrrechte. Grundrechtsbestimmungen sind Rechtsnormen mit unterschiedlichen Rechts Wirkungen 55 . Ihre unmittelbare Verbindlichkeit für die öffentliche Gewalt als konstitutives Merkmal einer Rechtsnorm ergibt sich aus der Bindungsanordnung des Art. 1 Abs. 3 GG. Es ist mittlerweile völlig unstreitig, daß Grundrechtsnormen die Grundrechte als subjektive öffentliche Rechte des einzelnen gewähren 56 . Einige Grundrechtsnormen begründen u.U. ganze Bündel solcher subjektiver Rechte. Die größte Bedeutung besitzen die auf die Abwehr staatlicher Beeinträchtigungen gerichteten subjektiven Abwehrrechte. Daneben existieren - durch Rechtsprechung und Literatur mehr oder weniger anerkannt und mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten erfaßt - die Leistungsrechte 57 , die Teilhaberechte 58 und die Bewirkungsrechte 59 . Diese Rechte bestehen permanent und sind 54
Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 273 ff. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3 Rdnr. 168 f. mit Hinweis auf die Situation der Weimarer Reichsverfassung. Siehe dazu auch Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 13 ff. 56 Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 1 Rdnr. 96; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3 Rdnr. 174; Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 530; Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1, Rdnr. 39ff.; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 30; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Rdnr. 283 ff.; Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 32; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 9; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 8 Rdnr. 11. Einen Überblick über den ausdiskutierten Streit gibt Detterbeck, Zum präventiven Rechtsschutz gegen ultra-vires-Handlungen öffentlich-rechtlicher Zwangsverbände, S. 100 ff. 57 Ausführlich Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. I I I / l , S. 687 ff. und schon S. 569f.; differenziert auch Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 59ff.; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 50 f. 58 Umfassend Murswiek, HbdStR V, § 112 Rdnr. Iff., zur verworrenen Terminologie insbesondere Rdnr. 5 ff.; siehe auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Rdnr. 289 m. w. Nw. 59 Dieser Begriff wird entwickelt von Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 570ff.; ders., in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 50: Ein Bewirkungsrecht ist eine Rechtsposition, die es dem Berechtigten ermöglicht, durch sein Verhalten gezielte Änderungen der Rechtslage herbeizuführen. Dies gilt etwa für den Wiedererwerb der deutschen Staatsangehörigkeit bei Opfern der NS-Ausbürgerungsmaßnahmen nach Art. 116 Abs. 2 S. 2 GG. Die grundrechtlich eingeräumte Rechtsposition erlaubt dem zwangsweise Ausgebürgerten, die deutsche Staatsange55
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D. Grundlagen der Konkurrenzdogmatik
nicht abhängig vom Eintritt einer staatlichen Verletzungshandlung. Sie verdanken ihre Existenz allein der Tatsache, daß eine menschliche Verhaltensweise unter den Tatbestand einer Grundrechtsbestimmung fällt und nicht durch eine Begrenzung vom Schutzumfang ausgenommen ist. Weitere Voraussetzungen sind nicht notwendig. Das subjektive Abwehrrecht ist also eine subjektive Rechtsposition, die durch eine Grundrechtsbestimmung gewährt wird und deren Beeinträchtigung der Staatsgewalt verboten ist 6 0 . Die abwehrrechtlichen Grundrechtsnormen geben dem Staat damit ein bestimmtes Verhalten auf, indem sie vorschreiben, welche grundrechtlich relevanten Maßnahmen erlaubt oder verboten sind. Zugleich legen sie fest, wann eine Beeinträchtigung der jeweils garantierten Freiheit rechtmäßig oder rechtswidrig ist. Die Entstehung eines subjektiven Abwehrrechts ist also die primäre rechtliche Folge bei Erfüllung des abwehrrechtlichen Tatbestandes61. Jedes menschliche Handeln, das unter den Schutzbereich eines Grundrechtes fällt, gewährt dem ausübenden Grundrechtsträger damit ein subjektives Recht auf Abwehr staatlicher Eingriffe. In Anbetracht der Weite der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG führt daher nahezu jedes Verhalten einer Person zunächst zur Entstehung eines Abwehrrechtes. Erst die Existenz der Grundrechtsbegrenzungen als rechtsfolgeausschließende Ausnahmeregel bewirkt eine sinnvolle Eingrenzung der Reichweite der subjektiven Rechte. Das Abwehrrecht allein, und insoweit ist der Gegenansicht zuzustimmen, besitzt deshalb nur geringe praktische Bedeutung. Erst dann, wenn dieses Recht durch eine hoheitliche Maßnahme beeinträchtigt wird, entfaltet es seine abwehrende Wirkung zugunsten des Grundrechtsträgers 62. Zur Durchsetzung sind dem Abwehrrecht Hilfsrechte zugeordnet, die als negatorische Ansprüche dem Berechtigten gegen die Beeinträchtigung des Schutzgegenstandes zustehen 63 . Dazu zählen insbesondere Abwehr- und Unterlassungshörigkeit bei Wohnsitznahme ex tunc zu erwerben, sofern kein gegenteiliger Wille offenkundig wird. 60 Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/1. S. 569; ähnlich Roth, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, S. 71. Enger ist die anspruchsbezogene Definition von Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 174, wonach ein Abwehrrecht ein Recht des Bürgers gegen den Staat auf negative Handlungen des Staates sei. 61 Isensee, HbdStR V, § 111 Rdnr. 75; Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 39; Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (55). 62 Dreier, Jura 1994, 505 (506 f.). 63 Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 30, 45; Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 569, 671; ders., in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 42; Stem, HbdStR V, § 109 Rdnr. 42; Isensee, HbdStR V, §111 Rdnr. 76; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 237 Fn. 40; Henke, DÖV 1984, 1 (3); Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, S. 68; Lorenz, HbdStR VI, § 128 Rdnr. 23.
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ansprüche 64 sowie unter Umständen auch Schadensersatz- und Folgenbeseitigungsansprüche 65. Die Beeinträchtigung wird also erst dann zur tatbestandlichen Voraussetzung, wenn es um die Entstehung dieser sekundären Reaktionsansprüche geht 66 . Für die primäre Rechtsfolge der Grundrechtsnormen mit Abwehrrechtsdimension ist die Beeinträchtigung nicht von Bedeutung 67 . Für ein richtiges Verständnis der Grundrechtsnormen ist es unabdingbar, die Problematik der eingriffsorientierten Grundrechtsprüfung von der Frage nach der Struktur der Grundrechtsnorm zu trennen. Die Grundrechtsnorm bildet den verfassungsrechtlichen Maßstab, an dem zu überprüfen ist, ob staatliches Handeln unzulässig in grundrechtlich verbürgte Freiheiten eingreift. Die klassische Grundrechtsprüfung hingegen ist ein operationaler Prozeß der Rechtsanwendung, der zum Ziel hat, die Vereinbarkeit eines staatlichen Akts mit dem grundrechtlichen Abwehrrecht festzustellen 68 . Erst im Zuge dieses Verfahrens ist zu überprüfen, ob die Maßnahme den Gewährleistungsbereich beeinträchtigt und ob dieser Eingriff gerechtfertigt ist. Bevor eine solche Überprüfung stattfinden kann, muß aber klar sein, anhand welchen Maßstabs die Rechtmäßigkeit des staatlichen Handelns festzustellen ist. Es ist also zu klären, welche der beteiligten Grundrechtsnormen anwendbar ist und folglich darüber entscheidet, ob ein Abwehrrecht besteht, in welches dann möglicherweise eingegriffen wurde. Insoweit gilt im Grundrechtsbereich nichts anderes als für Konkurrenzsituationen unterverfassungsrechtlicher Normen. Das Problem der Grundrechtskonkurrenzen wird nicht erst in der Grundrechtsprüfung, sondern bereits auf der Ebene der Maßstabsbildung virulent 69 . 64
Roth, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, S. 71 f.; Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 42. Zum Unterlassungsanspruch ausführlich Detterbeck, Zum präventiven Rechtsschutz gegen ultra-vires-Handlungen öffentlichrechtlicher Ζ Wangsverbände, S. 103 ff., 107 f. 65 Isensee, HbdStR V, § 111 Rdnr. 76; Gallwas, Grundrechte, Rdnr. 130 ff. Ablehnend gegenüber Schadensersatzansprüchen, Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/ 1, S. 683. Keinen Schadensersatz- aber einen sog. tertiären Entschädigungsanspruch will Roth, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, S. 87 f. zulassen. Zum Folgenbeseitigungsanspruch ausführlich Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S. 111 ff. 66 Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 39. 67 Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 622; im Ergebnis ebenso Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (56). 68 Zur Abfolge der Grundrechtsprüfung statt vieler Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 78 ff. 69 Sehr treffend Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, S. 417: „Die Lehre von den Grundrechtskonkurrenzen fragt nicht in reaktiver Kontrolle danach, wie eine hoheitliche Maßnahme wirksam abgewehrt werden kann, sondern - dem lo-
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D. Grundlagen der Konkurrenzdogmatik
Es läßt sich deshalb festhalten, daß erstens eine Lösung für grundrechtliche Konkurrenzlagen am Strukturelement des Grundrechtstatbestandes zu entwickeln ist und zweitens die Prioritätsentscheidungen bei Auflösung einer Konkurrenzsituation unabhängig von der Qualität des Eingriffs, also auch unabhängig von dessen Zielrichtung oder Intention getroffen werden muß 7 0
b) Tatbestand in personeller Hinsicht - Exkurs zur Konkurrenz von Deutschen- und Jedermanngrundrechten Die Grundrechtsbestimmungen weisen als Grundrechtsberechtigte entweder jedermann („Jeder hat das Recht ...") oder alle Deutschen aus. Im ersten Fall sind damit die Rechtsfähigen, im zweiten Fall alle Deutschen im Sinne des Grundgesetzes (Art. 116 GG) gemeint. Bei unbefangener Betrachtungsweise handelt es sich bei beiden Merkmalen um Tatbestandsmerkmale der Grundrechtsnormen, die neben den sachlichen Voraussetzungen besondere personelle Merkmale regeln. Dies bedeutet, daß bei Nichterfüllung des jeweiligen personenbezogenen Merkmals der Lebenssachverhalt hinter den grundrechtlichen Anforderungen zurückbleibt. Der Tatbestand ist nicht erfüllt, und die Norm kann folglich nicht zur Anwendung kommen. Konkurrenzdogmatisch folgt daraus, daß in der Person eines Ausländers nur die Tatbestände der Jedermanngrundrechte erfüllt sein können. Konkurrenzlagen zwischen Jedermann- und Deutschengrundrechten sind damit in der Person eines Ausländers logisch ausgeschlossen. Selbstverständlich gilt dies auch für Konkurrenzen zwischen dem Jedermanngrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG und den speziellen Freiheitsrechten, die nur Deutschen vorbehalten sind 7 1 . Art. 2 Abs. 1 GG bleibt also auch dann anwendbar, wenn ein Spezialgrundrecht zwar sachlich, aber nicht personell einschlägig ist 7 2 . gisch vorgelagert - aus gleichsam beratender Perspektive, welches Verhalten welche Grundrechte in welcher Intensität vor hoheitlichem Zugriff schützen." 70 Im Ergebnis ebenso Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, S. 417. Vgl. auch Ipsen, Staatsrecht II, Rdnr. 744; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 2 I Rdnr. 66; Windthorst, Verfassungsrecht I, § 7 Rdnr. 35; Maier, Staats- und Verfassungsrecht, S. 108. 71 So bereits Uber, Freiheit des Berufs, S. 88; Isensee, VVDStRL 32 (1974), 80. Für das Verhältnis von Art. 11 GG zu Art. 2 Abs. 1 GG auch BVerfGE 35, 382 (399). 72 BVerfGE 35, 382 (399); 78, 179 (196); Stern, Staatsrecht, Bd. I I I / l , S. 1041; Isensee, VVDStRL 32 (1974), 80; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 9; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 8 Rdnr. 39 Fn. 178; Hesse, HbdVerfR, § 5 Rdnr. 53; Lerche, HbdStR V, § 121 Rdnr. 14; Sachs, BayVBl. 1990, 385 (389).
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Die dogmatische Gleichbehandlung der personellen und der sachlichen Tatbestandselemente ist allerdings nicht unbestritten 73 . Die Gegenansicht sieht in der Regelung eines personell enger gefaßten Tatbestandes für einen bestimmten Freiheitsabschnitt zugleich die Anordnung des Ausschlusses jeglichen Grundrechtsschutzes. Die subsidiäre Anwendbarkeit des Art. 2 Abs. 1 GG oder anderer konkurrierender Freiheitsrechte würde den Grundrechtsschutz der Ausländer unzulässig erweitern und somit die ratio constitutionis der Grundrechte unterlaufen 74 . Diese Argumentation überzeugt freilich nicht. Eine sachliche Sperrwirkung für Art. 2 Abs. 1 GG oder andere konkurrierende Freiheitsrechte wäre nur dann anzunehmen, wenn die Deutschengrundrechte abschließende Regelungen für den jeweiligen Freiheitsbereich treffen wollten. Ein Blick in die Entstehungsgeschichte belegt, daß die Verfassungsväter bestimmte Einzelverbürgungen wie die Versammlungs- oder die Veireinigungsfreiheit ganz bewußt nur Deutschen im Sinne des Grundgesetzes zubilligen wollten 7 5 . Die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates betonten jedoch zugleich, daß mit der Gewährung der freien Entfaltung der Persönlichkeit durch Art. 2 Abs. 1 GG eine umfassend zu verstehende allgemeine Handlungsfreiheit gewährleistet werde 76 . Diese zunächst gegenläufigen Verfassungsimplikationen sind nur dann stimmig, wenn man die Verweigerung der Deutschengrundrechte für Ausländer als eine Verweigerung nur des ausdrücklichen bzw. besonderen Verfassungsschutzes ansieht. Vom Basisgrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit als grundrechtlicher Garantie jedes Tuns oder Unterlassens müssen diese Verhaltensweisen dennoch geschützt sein. Denn mit der Zuordnung zum Gewährleistungsbereich des Art. 2 Abs. 1 GG wird ein ansonsten auftretender „schwerlich tragbare Wertungswiderspruch" 77 vermieden: Es wäre nicht zu erklären, warum Art. 2 Abs. 1 GG zwar die Freiheitsausübung im Trivialbereich schützt, etwa das Reiten im Walde 7 8 oder die Verwendung ungekörter Bullen zur Zucht 7 9 , die ungleich bedeutendere Wahrnehmung der Vereinigungs-, Versammlungsund Berufsfreiheit aber ausklammert 80 . 73 Siehe Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 42; Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 66; Erichsen, HbdStR VI, § 152 Rdnr. 48ff.; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 335ff.; ders., NJW 1974, 1044ff.; Hailbronner, NJW 1983, 2105 (2110). 74 Quaritsch, HbdStR V, § 120 Rdnr. 130. 75 JöR 1 (1951), 1 ( 114 f., 117). 76 Abg. Lensing, JöR 1 (1951), 1 (57): „Freie Entfaltung umfaßt alles." 77 Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 2 I Rdnr. 32. 78 BVerfGE 80, 137 (154 f.). 79 BVerfGE 10, 55 (57 ff.).
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Der Charakter der Deutschengrundrechte als abschließende Reglungen ist auch nicht damit zu begründen, daß ansonsten die begrenzenden Tatbestandsmerkmale wie etwa die Friedlichkeit und Waffenlosigkeit in Art. 8 GG für Ausländer ihre Bedeutung verlören 81 . Auch eine aufrührerische oder waffengespickte Versammlung deutscher Staatsbürger fällt zwar aus dem Anwendungsbereich des Art. 8 Abs. 1 GG; der Tatbestand der allgemeinen Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG ist aber dennoch erfüllt und die Norm folglich anwendbar 82 . Denn die Gewährleistung der Freiheit, zu tun und zu lassen, was beliebt, ist gerade nicht auf gesellschaftskonformes Handeln beschränkt, sondern erfaßt auch sozialschädliches oder sogar strafbares Verhalten 83 . Insofern ist es nicht unzulässig, wenn sich auch ausländische Demonstranten bei unfriedlichen Versammlungen auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen können. Im übrigen steht Art. 2 Abs. 1 GG auch in ähnlich gelagerten Fällen immer als Auffanggrundrecht zur Verfügung. Neben der personellen Beschränkung auf Deutsche in einzelnen Grundrechtstatbeständen sind andere Konstellationen denkbar, in denen ein Kreis von an sich Grundrechtsberechtigten vom Schutz bestimmter Tatbestände ausgeschlossen ist. Denjenigen Personen oder Personengruppen, die sich wegen fehlender Einschlägigkeit des personalen Elements des Tatbestandes nicht auf den Grundrechtsschutz des speziellen Grundrechts berufen können, steht jedenfalls der Schutz des allgemeinen Art. 2 Abs. 1 GG zur Seite 84 . So können sich beispielsweise private Arbeitgeber im gewerblichen Bereich gegen die Einstellungsverpflichtung nach dem Schwerbehindertengesetz unter Berufung auf Art. 12 Abs. 1 GG wehren, während den Arbeitgebern, die keinen Beruf ausüben - etwa gemeinnützige Einrichtungen oder Sportvereine - , 80 Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 2 I Rdnr. 32; Degenhart, JuS 1990, 161 (168); Sachs, BayVBl. 1990, 385 (388). 81 So aber Erichsen, HbdStR VI, § 152 Rdnr. 49. 82 So bereits Hofacker, Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen, S. 8: „Wenn in Art. 123 Abs. 1 RV gesagt ist, daß alle Deutschen das Recht haben, sich unbewaffnet zu versammeln, so ist damit allein nichts darüber gesagt, ob und unter welchen Umständen bewaffnete Versammlungen verboten sind." Ebenso Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 360. A.A. Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 8 Rdnr. 77; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 68; Erichsen, HbdStR VI, § 152 Rdnr. 26; ders., Jura 1987, 367 (368f.); Dietel/Gintzel/Kniesel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, § 1 Rdnr. 121. 83 Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 53; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 3; Bethge, VVDStRL 57 (1998), 7 (23 f.); a.A. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 13. 84 Pieroth, AöR 115 (1990), 33 (42) unter Hinweis auf die nachfolgend dargestellte Bundesverfassungsgerichtsentscheidung.
II. Struktur der abwehrrechtsbegrndenden Grundrechtsnorm
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nur der Rückgriff auf Art. 2 Abs. 1 GG bleibt 8 5 . Obwohl es in der Sache bei beiden Gruppen um die rechtliche Ausgestaltung der Arbeitgebertätigkeit geht, bildet einmal das Spezialgrundrecht und ein andermal die allgemeine Handlungsfreiheit den grundrechtlichen Prüfungsmaßstab. Zu weitgehend wäre es allerdings, den Grundrechtsschutz der Ausländer über Art. 1 Abs. 2 GG begründen zu wollen. Das Bekenntnis des Grundgesetzes zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten kann nur so gedeutet werden, daß auf diese Weise ein Mindestbestand elementarer Menschenrechtspositionen gesichert werden soll. Zwar können nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Menschenrechtskonventionen, wie etwa die EMRK, durchaus als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Reichweite und Inhalt von Grundrechten herangezogen werden 86 , ein „verbindliches Gebot der menschenrechtskonformen Verfassungsinterpretation" kann aus Art. 1 Abs. 2 GG aber keinesfalls abgeleitet werden 87 . Insofern ist es für die Interpretation der deutschen Verfassung ohne Belang, daß Art. 11 Abs. 1 EMRK die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit als Menschenrechte gewährleistet. Der grundrechtliche Schutz der Ausländer wird insbesondere durch die Bindung der öffentlichen Gewalt an das Rechtsstaatsprinzip und an seine Ausprägungen, wie etwa den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, erreicht 88 . D.h. staatliche Eingriffe in grundrechtlich geschützte Freiheiten ausländischer Grundrechtsträger müssen ebenso verhältnismäßig sein, wie Beeinträchtigungen der Grundrechte Deutscher. Abstriche oder gar der Verzicht auf diese Anforderungen an das einschränkende Gesetz - wie dies teilweise vorgeschlagen w i r d 8 9 - würde der exponierten Stellung des Rechtsstaatsprinzips in der Verfassung nicht ausreichend Rechnung tragen. Immer wieder hat das Bundesverfassungsgericht auf den prägenden Charakter dieses Prinzips hingewiesen 90 . Der Bürger erfährt durch das Rechtsstaatsprinzip und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Schutz vor unnötigen, unangemessenen und unzumutbaren Eingriffen durch die öffentliche Gewalt. Ein solch zentraler, verfassungsrechtlicher Grundsatz bildet nicht nur den Mittelpunkt der Ausgestaltung des Staatsbürger-Staat-Verhältnisses, sondern greift zugunsten jedes Menschen, ob nun mit oder ohne deutsche Staatsangehörigkeit. 85
BVerfGE 57, 139 (158). BVerfGE 74, 358 (370); Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 1 Rdnr. 12a. 87 Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 1 Rdnr. 69. 88 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 115. 89 Sehr restriktiv etwa Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 140. 90 BVerfGE 2, 380 (403): „Leitidee"; BVerfGE 7, 89 (92): „Verfassungsgrundsatz". 86
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D. Grundlagen der Konkurrenzdogmatik
Die Anwendbarkeit des Art. 2 Abs. 1 GG - oder anderer konkurrierender Jedermanngrundrechte - führt dazu, daß nicht alle Vorstellungen der Verfassungsväter über die Ausgestaltung beispielsweise der Versammlungsfreiheit für Ausländer umgesetzt sind. So kann die grundrechtlich garantierte Versammlungsfreiheit aufgrund der Begrenzungsregelung der verfassungsmäßigen Ordnung in Art. 2 Abs. 1 GG nicht - wie vorgesehen - rein „administrativ oder sonstwie" eingeschränkt werden 91 . Vielmehr bedarf es für die Rechtmäßigkeit des Eingriffes eines Gesetzes oder einer sonstigen untergesetzlichen Rechtsnorm 92 . Das Gebot der Gesetzesform als Rechtsgrundlage für belastende Maßnahmen ergibt sich jedoch auch im nicht grundrechtlich geschützten Bereich bereits aus dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, Art. 20 Abs. 3 G G 9 3 . Die vorgeschlagene Konkurrenzlösung wertet die Freiheitsausübung der Ausländer also nicht ungerechtfertigt auf, sondern entspricht voll und ganz der Konzeption der Verfassung. Schließlich ist zu beachten, daß die 35-jährige Praxis der Gewährung von Grundrechtsschutz in den fraglichen Bereichen durch das Bundesverfassungsgericht den rechtstatsächlichen Grundrechtsstatus der Ausländer verändert hat 9 4 . Die Befugnis der Ausländer, in den von Deutschengrundrechten tatbestandlich erfaßten Bereichen Verfassungsbeschwerde zu erheben, „zählt als gesellschaftliche Realität zum Normbereich des Art. 2 Abs. 1 GG [... und ist] kein nachrangiges verfassungspolitisches Konkretisierungselement mehr" 9 5 . Spätestens dieser rechtspolitisch bedeutsamen Tatsache sind die - ohnehin nicht durchgreifenden - rechtsdogmatischen Bedenken nicht gewachsen 96 . Zudem würde eine Kehrtwende in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung den bestehenden Ist-Zustand nur hinsichtlich der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde ändern. Beinahe alle der im Grundgesetz ausschließlich Deutschen vorbehaltenen Grundrechtsgarantien werden durch internationale oder europäische Grundrechte allen Menschen gewährleistet 97 , die zwar keinen Verfassungsrang besitzen 98 , aber dennoch gerichtlich geltend gemacht werden können.
91 92 93 94 95 96 97 98
JöR 1 (1951), 1 (114). Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 101. Vgl. Erichsen, HbdStR VI, § 152 Rdnr. 51. Quaritsch, HbdStR V, § 120 Rdnr. 130; Pieroth, AöR 115 (1990), 33 (44). Pieroth, AöR 115 (1990), 33 (44). Sehr deutlich Quaritsch, HbdStR V, § 120 Rdnr. 130 a.E. Hesse, HbdVerfR, § 5 Rdnr. 53. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 1 Rdnr. 12a.
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2. Grundrechtsbegrenzungen Grundrechtsbegrenzungen 99 sind diejenigen Normteile einer Grundrechtsnorm, die nicht zum grundrechtlichen Tatbestand gehören, aber dennoch Voraussetzungen für den Eintritt der grundrechtlichen Primärrechtsfolge festlegen. Sie bestimmen, unter welchen Umständen trotz Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen die abwehrrechtsbegriindende Rechtsfolge der jeweiligen Grundrechtsnorm nicht ausgelöst wird. Es handelt sich somit um negative Entstehungsvoraussetzungen der grundrechtlichen Abwehrrechte 100 . Das Normstrukturmerkmal der Grundrechtsbegrenzung ist dogmatisch streng zu trennen von den Grundrechtsschranken 101. Unter dem Begriff der Grundrechtsschranke wird im allgemeinen, sofern diese terminologische Trennung durchgehalten wird, der rechtmäßig begrenzende staatliche Akt verstanden 102 . Ein solcher Akt kann ein gerechtfertigt eingreifendes Gesetz oder ein Verwaltungsakt aufgrund eines Gesetzes etc. sein. Der eingreifende Hoheitsakt wird also dann zur Schranke des Grundrechtes, wenn er u.a. durch eine Grundrechtsbegrenzung gedeckt ist. Begrenzungen finden sich vielfältig als geschriebene Gesetzesvorbehalte aber auch als ungeschriebene, verfassungsimmanente Grundrechtsbegrenzungen. Normtechnisch können Begrenzungsregelungen als unselbständige, an abwehrrechtsbegriindende Normen gekoppelte Hilfsnormen begriffen werden 1 0 3 . Einer jeden abwehrrechtsbegründenden Regelung sind eine oder mehrere entsprechende Ausnahmeregeln, geschriebene oder ungeschriebene, zugeordnet. Beide gemeinsam, rechtsbegründender Tatbestand und begren99
In der gleichen oder in ähnlicher Bedeutung werden die Begriffe „Schrankenklauser, siehe Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 259; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 86; „Einschränkung", siehe v. Münch in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Art. 1-19 Rdnr. 53; „Beschränkungsmöglichkeit", siehe Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 471; „Einschränkbarkeit", siehe Lerche, HbdStR V, § 122 Rdnr. 1 und „Schranke", siehe Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 22 verwendet. 100 Sachs, JuS 1995, 693. 101 Sehr deutlich Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 96 m.w.Nw. 102 Höfling, Jura 1994, 169 (171). Teilweise wird der Begriff der Schranke undifferenziert für den begrenzenden Normteil und für den einschränkenden Akt verwendet, Bleckmann, Staatsrecht II, § 12 Rdnr. 75 ff.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3 Rdnr. 228, 233 ff. 103 Ähnlich Stein, Staatsrecht, S. 236ff.: Die Freiheitsrechte bestehen aus einer Freiheitsnorm, die einen bestimmten Freiheitsbereich verfassungsrechtlich garantiert, und einer Bindungsnorm, die die Ausübung der Freiheit an die Beachtung öffentlicher Interessen bindet. Allgemein zu Struktur und Funktion einschränkender Rechtssätze Larenz/Canaris, Methodenlehre für die Rechtswissenschaft, S. 80ff.
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zende Ausnahmeregelung, bilden eine komplexe Grundrechtsnorm, die im Anwendungsfall das Entstehen oder Nichtentstehen eines Abwehrrechtes regelt. Zwischen Tatbestand und Begrenzung besteht also ein klassisches Regel-Ausnahme-Verhältnis 104 . Die geschriebenen Grundrechtsbegrenzungen in Form der Gesetzesvorbehalte können ohne Schwierigkeiten konstruktiv in die Normstruktur der Grundrechte eingepaßt werden. Gesetzesvorbehalte haben schon äußerlich den Charakter einer bedingten Norm und können deshalb leicht als unselbständige Ausnahmeregeln qualifiziert werden. Schwieriger ist diese Einordnung für die sog. verfassungsimmanenten Begrenzungen, die insbesondere für vorbehaltlos gewährte Grundrechte eine Rolle spielen. Betrachtet man die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung oder die Stellungnahmen in der Literatur zu dieser Thematik, fällt auf, daß in der Herleitung häufig nicht von einer begrenzenden Wirkung von Rechtsnormen, sondern von kollidierenden Verfassungsgütern die Rede i s t 1 0 5 . Damit wird der Eindruck erweckt, der Konflikt unterschiedlicher mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechtsgüter bilde die Grundlage für die Einschränkung eines Grundrechtes. Derartige Wertungswidersprüche innerhalb eines Regelwerkes sind jedoch nicht zwingend aufzulösen. Antinomien sind nur dann auflösungsbedürftig, wenn der Normadressat aufgrund sich widersprechender Normbefehle zwangsläufig gegen eine der Normen verstoßen muß. Bloße Wertungsverschiebungen oder vermeidbare Normwidersprüche sind hingegen auch angesichts des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch hinnehmbar 106 . Ein Konflikt zwischen Verfassungsrechtsgütern wird also erst dann für die Begrenzungsdogmatik relevant, wenn das kollidierende Rechtsgut auf einer Verfassungsnorm basiert, die im echten (unvermeidbaren) Widerspruch zu der zu beschränkenden Grundrechtsnorm steht. Die begrenzende Wirkung kollidierenden Verfassungsrechts läßt sich in diesem Fall unter dem Blickwinkel des Grundsatzes der Einheit der Verfassung begründen 107 . Rechtssätze des Grundgesetzes, die unterschiedlichen Rechtsgütern Verfassungsqualität zuerkennen und sich widersprüchlich gegenüberstehen, indem sie etwa entgegengerichtete Abwehrrechte begründen, können nicht, jedenfalls nicht zugleich, realisiert werden. Die Auflösung des Widerspruches ist 104
Sachs, JuS 1995, 693; Stein, Staatsrecht, S. 238. Vgl. BVerfGE 28, 243 (261); 83, 130 (138 f.); 84, 212 (228); Windthorst, Verfassungsrecht I, § 9 Rdnr. 105; Schnapp, JuS 1978, 729 (733ff.) 106 Vgl. oben S. 3Iff. 107 BVerfGE 30, 173 (193); Bethge, Zur Problematik von Grundrechtkollisionen, S. 9; Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 120ff.; Gallwas, Grundrechte, Rdnr. 181. 105
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zwingend notwendig; sie führt notgedrungen zur Beeinträchtigung des einen Verfassungsgutes auf Kosten des anderen. Jede Verfassungsnorm, der durch Auslegung zu entnehmen ist, daß sie ein bestimmtes Rechtsgut schützt, ist also potentiell in der Lage, die Entstehung abwehrrechtlicher Grundrechte zu hindern. Aus diesem Zusammenhang heraus läßt sich eine abstrakte, ungeschriebene Begrenzungsregel entwickeln, die Teil zumindest der vorbehaltlos strukturierten Grundrechtsnormen ist und sprachlich dargestellt werden kann. Es bietet sich an, die ungeschriebenen Grundrechtsbegrenzungen als systematisch-logische Einschränkungsvorbehalte zu bezeichnen 108 . Der Blick auf die normtheoretischen Grundlagen der immanenten Begrenzung verdeutlicht weiterhin, daß nur diejenigen Normen in der Lage sind, Grundrechte zu begrenzen, die im Grundgesetz selbst niedergelegt sind 1 0 9 . Kollidierendes unterverfassungsrechtliches Recht, und damit auch unterverfassungsrechtliche Rechtsgüter, besitzen nach dem lex superior-Satz nicht die Fähigkeit, grundrechtliche Abwehrrechte einzuschränken. Eine Ausweitung der möglichen Kollisionsgüter, wie sie teilweise in der Literatur vorgeschlagen w i r d 1 1 0 , ist demnach abzulehnen. Die Rechtsprechung hat auf Grundlage der bundesverfassungsgerichtlichen Vorgaben 111 in mehreren Entscheidungen eine Reihe von grundgesetzlich normierten Verfassungsgütern herausgearbeitet, die im Kollisionsfall Grundrechte begrenzen können. Beispielhaft aufgeführt seien hier der Bestand der Bundesrepublik und ihrer freiheitlichen demokratischen Grundordnung 112 , das Landesrecht an stillen 108 Das kollidierende Verfassungsrecht selbst ist nur Begrenzung, nicht jedoch Schranke des Grundrechtes. Zur Beschränkung des Grundrechtes bedarf es eines Gesetzes, welches wiederum den besonderen Anforderungen der sog. Schrankenschranken genügt, BVerfGE 52, 283 (298); 59, 231 (261); 65, 183 (193); BVerwGE 90, 112 (122); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 333; Jarass, AöR 120 (1995), 345 (372); ders., AöR 110 (1985), 363 (382ff.). Bei Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt sind Beeinträchtigungen nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes möglich. Für vorbehaltlose Grundrechte dürfen die Voraussetzungen aber nicht geringer sein. Folglich bedarf jede Grundrechtsbeeinträchtigung einer gesetzlichen Grundlage; Neumann, DVB1. 1997, 92 (98). 109 Zur Frage, ob die Normen des Sozialstaatsprinzips kollidierendes Verfassungsrecht sind, vgl. Neumann, DVB1. 1997, 92 (98 f.). 110 Insbesondere Kriele, JA 1984, 692ff.; Lerche, in: Festschrift für Mahrenholz, S. 522 ff. m.w.Nw. Zur Begründung wird zumeist auf die Unvollständigkeit des grundgesetzlichen Wertegehaltes hingewiesen. Das Grundgesetz sei in vielerlei Hinsicht zurückhaltend, beispielsweise dann, wenn Rechtsgüter durch Landesverfassungen zu Verfassungsgütern erhoben werden. Dies müsse berücksichtigt werden. Des weiteren sei die Abgrenzung zwischen Verfassungs- und einfachgesetzlichen Rechtsgütern willkürlich und unsicher. Mit entsprechendem Begründungsaufwand könnten nahezu alle zivilrechtlichen, strafrechtlichen oder polizeirechtlichen Normen auf Verfassungswerte zurückgeführt werden. 111 Grundlegend BVerfGE 28, 243 (261). 8 Heß
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Feiertagen gem. Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 W R V 1 1 3 , der staatliche Erziehungsauftrag gem. Art. 7 Abs. 1 G G 1 1 4 , die Funktionsfähigkeit der Landesverteidigung gem. Art. 12a Abs. 1, Art. 73 Nr. 1, Art. 87a Abs. 1 S. 1 G G 1 1 5 . Viele dieser Entscheidungen haben in der Literatur im Ergebnis wie in ihrer dogmatischen Begründung Kritik hinnehmen müssen, der hier nicht weiter nachgegangen werden kann 1 1 6 .
3. Sonstige Begrenzungsregelungen - „Schrankenschranken" Die grundrechtlichen Begrenzungsregelungen sind damit aber als Teile der Grundrechtsnormen noch nicht vollständig beschrieben. In der Verfassung finden sich sowohl geschriebene als auch ungeschriebene rechtsverbindliche Aussagen über weitere Anforderungen, die an ein rechtmäßig einschränkendes Gesetz zu stellen sind 1 1 7 . Sie sind abstrakt formuliert und gelten als vor die Klammer gezogene Faktoren für eine Mehrzahl von Gesetzesvorbehalten. Insofern müssen sie ebenfalls zur Begrenzungsregelung als Teil der Grundrechtsnorm gerechnet werden. Auch ihre Bedeutung als Grundrechtssicherung verlangt dies. Funktionell dienen diese zusätzlichen „Qualifizierungen der Gesetzesvorbehalte" 118 der Begrenzungen der staatlichen Einschränkungsbefugnis. D.h. der beachtliche Spielraum zur Beschränkung von Grundrechten, der dem Gesetzgeber durch die Gesetzesvorbehalte eingeräumt wird, wird auf diese Weise teilweise zurückgenommen. Das Gefährdungspotential für die Grundrechte 119 verringert sich damit auf ein vertretbares Maß. Mit der Verortung der „Schranken-Schranken" auf der Ebene der grundrechtlichen Maßstabsbildung findet diese Aufgabe ihre strukturelle Entsprechung. Systematisch lassen sich formelle und materielle Anforderungen unterscheiden. a) Formelle Anforderungen Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG legt fest, daß ein Gesetz, welches den Gesetzesvorbehalten der Grundrechtsbestimmungen genügen soll, das jeweilige Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen muß (sog. Zitiergebot). 112
BVerfGE 33, 52 (71). BVerwG DVB1. 1994, 1242 (1243). 1,4 BVerfGE 41, 29 (44). 115 BVerfGE 28, 243 (261). 116 Eine grundlegende Auseinandersetzung mit der h.L. findet sich bei Bamberger, Verfassungswerte als Schranken vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, 1999. 117 Gallwas, Grundrechte, Rdnr. 187, 198. 118 Schwerdtfeger, Öffentliches Recht in der Fallbearbeitung, Rdnr. 454. 119 Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 710. 113
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Diesem rein formalen Erfordernis ist im Laufe der Entwicklung verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung durch die Gewährung einer ganzen Reihe von Ausnahmen ein Teil seines Anwendungsbereiches genommen worden. So soll das Zitiergebot u. a. dann nicht gelten, wenn der Eingriff in einen grundrechtlich geschützten Bereich offenkundig erfolgt und die Warnfunktion deshalb nicht benötigt w i r d 1 2 0 oder wenn es sich nur um eine mittelbare oder faktische Beeinträchtigung durch das Gesetz handelt 1 2 1 . Berücksichtigt man zudem, daß unter den Regelungsbereich des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG von vornherein nur die Einschränkungsvorbehalte, nicht jedoch Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenziehungen fallen, daß also aus der Fülle der Begrenzungsregelungen der Grundrechtsbestimmung nur ein Katalog von insgesamt sieben Vorbehaltsbestimmungen verbleibt 1 2 2 , wird erkennbar, wie gering die praktische Bedeutung dieser grundrechtssichernden Norm tatsächlich ist.
b) Materielle Anforderungen Nicht wesentlich bedeutsamer sind das ebenfalls in Aiit. 19 Abs. 1 S. 1 GG geregelte Verbot zum Erlaß von Einzelfallgesetzen sowie das Gebot der Allgemeinheit dieser Gesetze. Ob es sich trotz der sprachlichen Fassung der Vorschrift materiell nur um eine einzige Anforderung an den Inhalt bzw. an die Struktur des einschränkenden Gesetzes handelt, ist ungeklärt. Nach bisher nahezu unbestrittender Ansicht soll die Verbots- und Gebotsanordnung durch das gegenläufige Begriffspaar Einzelfall-Allgemeinheit lediglich die „positive und negative Beschreibung ein und desselben Sachverhaltes" bieten 1 2 3 . Neuerdings werden den Normelementen jedoch auch wieder unterschiedliche Gehalte entnommen 124 . Einigkeit besteht aber wohl darüber, daß jedenfalls das Gebot der Allgemeinheit der Gesetze die auch von Art. 3 Abs. 1 GG geforderte „Gleichheit der Bürger im Gesetz" 1 2 5 zu einer materiellen Anforderung an das einschränkende Gesetz konkretisiert 126 . 120
BVerfGE 35, 180 (189). Menger, in: Bonner Kommentar, Art. 19 I Rdnr. 144; Krebs, in: v. Münch/ Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 19 Rdnr. 16. Zu den Ausnahmen insgesamt Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 509 ff. 122 Vgl. die Aufzählung bei Menger, in: Bonner Kommentar, Art. 19 I Rdnr. 183ff.; dem folgend Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 19 Rdnr. 3; desgleichen Krebs, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 19 Rdnr. 17. 123 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 19 Abs. I Rdnr. 25; Krebs, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 19 Rdnr. 6; a.A. Krüger, DVB1. 1955, 758 (762). 124 Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 733. 125 Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 530, 714. 121
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D. Grundlagen der Konkurrenzdogmatik
Weitere materielle Anforderungen werden durch das Bestimmtheitserfordernis 1 2 7 , die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG und den - aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden - Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aufgestellt. Während das Verbot der Beeinträchtigung des Wesensgehalts eines Grundrechts trotz seiner klaren und jedermann einsichtigen Intention in der Rechtsprechung kaum Berücksichtigung findet 1 2 8 , hat sich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zur „zentralen Schranken-Schranke grundrechtseinschränkender Gesetze" 129 entwickelt. Entsprechend gefestigt ist die Struktur der in diesem Grundsatz verborgenen Einzelanforderungen. Danach muß das Gesetz sowohl geeignet und erforderlich als auch angemessen bzw. verhältnismäßig i.e.S. sein 1 3 0 . Während Geeignetheit und Erforderlichkeit als feststehende Rechtsbegriffe subsumierbar 131 und damit im Prinzip voll gerichtlich überprüfbar sind 1 3 2 , tritt mit dem Merkmal der Verhältnismäßigkeit i.e.S. ein abwägendes Moment hinzu. Dieses letzte, praktisch aber am bedeutsamsten gewordene Teilgebot der Verhältnismäßigkeit verlangt eine durch den Rechtsanwender durchzuführende Güterabwägung zwischen dem Gemeinwohlinteresse auf der einen und dem Freiheitsverlust auf der anderen Seite 1 3 3 . 126
BVerfGE 25, 371 (399); Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 19 Rdnr. 1; Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 530, 714; Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 736. 127 BVerfGE 21, 73 (80); Gallwas, Grundrechte, Rdnr. 211; eine eigenständige Bedeutung neben dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bezweifelnd Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 312. 128 Siehe dazu den Überblick bei Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, S. VI Fn. 1. 129 Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 788. 130 BVerfGE 67, 157 (173); 70, 278 (286); 83, 1 (19); 89, 315 (323). 131 Es handelt sich - wie Schlink, EuGRZ 1985, 457 (460) darlegt - um empirisch orientierte Kriterien. Während in der Geeignetheit der staatlich gewollte Zustand und der tatsächlich zu erwartende Zustand gegenüber gestellt werden, findet in der Erforderlichkeit eine Alternativenüberprüfung statt. 132 Nach bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung ist die Kontrolldichte jedoch mit Blick auf das prognostische Element der Eignungsbeurteilung zu beschränken. Die Zwecktauglichkeit des Gesetzes müsse aus Sicht des Gesetzgebers überprüft werden. Das Gesetz sei nur dann ungeeignet, wenn es im Zeitpunkt seines Erlasses bei Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten eindeutig als zweckuntauglich einzuschätzen gewesen wäre; BVerfGE 39, 210 (230); 47, 89 (131); siehe dazu auch Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 777 f. Ähnliche Anforderungen stellt das Gericht auch an das Merkmal der Erforderlichkeit. Gesetzliche Regelungen sollen nur in eindeutigen Fällen übermäßig belastend und verfassungswidrig sein; BVerfGE 40, 371 (383); 49, 24 (58). Vgl. auch die Übersicht zu den Kontrollstufen bei Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3 Rdnr. 245, jeweils mit Nw. für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 133 Kritisch Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 289 ff.; Schlink, EuGRZ, 1985, 457 (461 ff.)
II. Struktur der abwehrrechtsbegrndenden Grundrechtsnorm
117
Die Bindungswirkung der Grundrechte für den Gesetzgeber hat zur Folge, daß die Vorbehaltsregelungen der Grundrechtsbestimmungen um das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit erweitert werden müssen. Der grundrechtliche Vorbehalt des Gesetzes hat sich damit - wie es treffend formuliert wurde - zum Vorbehalt des verhältnismäßigen Gesetzes entwickelt 1 3 4 . Das ungeschriebene, aber aus der Verfassung ableitbare Merkmal der Verhältnismäßigkeit des einschränkenden Gesetzes ist strukturell auf der Begrenzungsseite der Norm einzuordnen.
c) Verfassungsmäßigkeit
im übrigen
Mit der Verfassungsmäßigkeit im übrigen kann letztendlich ein ganzes Bündel zusätzlicher (formeller und materieller) Anforderungen an das grundrechtseinschränkende Gesetz umschrieben werden 1 3 5 . Ein Gesetz vermag den Gesetzesvorbehalt nur dann wirksam auszufüllen, wenn es Verfahrens· und kompetenzgemäß zustande gekommen i s t 1 3 6 . Auch im übrigen muß das einschränkende Gesetz verfassungsgemäß sein. Ein Problem wirft dabei die materielle Grundrechtskonformität auf. Auch die Grundrechte als Verfassungsnormen zählen zu den objektiven Rechtssätzen, die den Prüfungsmaßstab für die Rechtmäßigkeitsprüfung bilden. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts sind daher Gesetze, die Grundrechte Dritter verletzen, nicht in der Lage, einen Grundrechtseingriff zu rechtfertigen 1 3 7 . Freilich wird damit die Verletzung irgendeines Grundrechts irgendeines Grundrechtsträgers zur hinreichenden Bedingung für eine Verletzung des allgemeinen Freiheitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG eines anderen Grundrechtsträgers, wenn die Verletzungshandlung diesen nur in irgendeiner Weise hindert 1 3 8 . Dieser Konsequenz scheint sich das Gericht aber bewußt zu sein. Allerdings wurde die bisherige Rechtsprechung, wonach die auf eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG gestützte Rüge nicht die Möglichkeit eröffnet, geltend zu machen, eine Norm gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung, weil sie Dritte gleichheitsrechtswidrig benachteilige oder bevorzuge 139 , ausdrücklich aufgegeben 140 . Inwieweit diese Rechtsprechung auch auf Freiheitsrechte Dritter übertragen werden kann, ist unklar. Neuer134
Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 273. Vgl. Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 134 f. 136 BVerfGE 77, 84 (102); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 277. 137 BVerfGE 85, 191 (206); zustimmend Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 135 Fn. 280; dezidiert dagegen Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 349 ff., 353 ff. 138 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 354. 139 So noch BVerfGE 77, 84 (101). 140 BVerfGE 85, 191 (206). 135
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D. Grundlagen der Konkurrenzdogmatik
dings hat das Bundesverfassungsgericht das Problem, ob eine Verletzung objektiven Verfassungsrechts auch dann gerügt werden kann, wenn der Schutzzweck der konkreten Grundrechtsnorm eindeutig nicht dem Grundrechtsträger zugeordnet werden kann, ausdrücklich offengelassen 141 . Keine Berücksichtigung dürfen jedenfalls Verstöße des Gesetzes gegen andere Grundrechte desselben Grundrechtsträgers finden. Im Rahmen von Art. 2 Abs. 1 GG sind andere Freiheitsrechte schon deshalb nicht mehr zu prüfen, weil bei Erfüllung des Tatbestandes eines speziellen Grundrechts die allgemeine Handlungsfreiheit als subsidiär zurücktritt 1 4 2 . Gleiches muß nun auch für das Verhältnis der anderen Freiheitsrechte zueinander gelten. Wurde das zu überprüfende Gesetz etwa als unvereinbar mit der Berufsfreiheit gem. Art. 12 Abs. 1 GG qualifiziert, bedeutet dies nicht, daß das Gesetz auch in alle weiteren, tatbestandlich einschlägigen Freiheitsgrundrechte sozusagen durch einen „Schranken-Schranken-Automatismus" gleichfalls ungerechtfertigt eingreift. Eine inzidente Folgewirkung der Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG würde die Konkurrenzverhältnisse zu anderen Grundrechtsnormen von vornherein ausblenden. Die Grundrechte sind jedoch auf der Ebene der Maßstabsbildung autonom. Nicht von ungefähr zählt das Grundgesetz die einzelnen Verbürgungen textlich getrennt und katalogartig auf. Auch die generell geltenden externen Begrenzungsregelungen beziehen sich jeweils nur auf den Gewährleistungsbereich des jeweiligen Grundrechts. Strukturverknüpfungen im Sinne inzidenter Geltungskraft lassen sich zwischen den abwehrrechtlichen Grundrechtsnormen nicht feststellen. Auch für die Prüfung von Gleichheitsrechtsverstößen im Rahmen von Art. 2 Abs. 1 GG oder anderer Freiheitsrechte gilt nichts anderes. Jedes Freiheitsrecht besitzt neben der sachlich-thematischen Schutzwirkung über Art. 19 Abs. 1 GG (Allgemeinheit) auch ein gleichheitssicherndes Moment. Wenn der Verfassungsgeber dennoch das Gleichheitsgrundrecht daneben ausdrücklich positiviert hat, muß diesem auch selbständige Bedeutung zugemessen werden 1 4 3 . Da keine zwingenden Gründe dafür sprechen, das allgemeine Gleichheitsrecht im Rahmen der Freiheitsrechte zu prüfen, gehören Verstöße gegen Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu den zu berücksichtigenden Punkten innerhalb der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit im übrigen 1 4 4 .
141
BVerfGE 96, 375 (398). Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 351. 143 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 353. 144 In diesem Sinne wohl auch Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 137, der bei Unvereinbarkeit des einschränkenden Gesetzes mit Art. 3 GG diese Grundrechtsnorm als speziell ansieht. 142
III. Der abwehrrechtliche Schutzgegenstand
119
4. Zusammenfassung Das Ergebnis der Untersuchung über die Struktur abstrakt-genereller Grundrechtsnormen läßt sich wie folgt zusammenfassen. Wie auch andere konditional strukturierte Normen besteht die Grundrechtsnorm aus einem Voraussetzungs- und einen Rechtsfolgenteil. Der Voraussetzungsteil setzt sich dabei aus dem Tatbestand und einer oder mehreren Begrenzungsregelungen zusammen. Das Tatbestandselement wiederum ist in den sachlichen und den personellen Tatbestand untergliedert. Die gleichrangig neben dem Tatbestand stehenden Begrenzungsregelungen sind keine vollständigen Rechtssätze, sondern ein Konvolut verschiedener in der Verfassung niedergelegter Einzelnormen. Diese Einzelnormen stellen sowohl formelle als auch materielle Vorausetzungen für rechtmäßig begrenzende Staatsakte auf. So läßt sich beispielsweise die abstrakt-generelle Grundrechtsnorm, die das Grundrecht auf Meinungsfreiheit begründet, sprachlich etwa so darstellen: „Jeder Grundrechtsträger, der seine Meinung äußert, besitzt das Recht zur Abwehr von Beeinträchtigungen dieses Verhaltens, es sei denn, ein allgemeines Gesetz, das dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und den weiteren verfassungsrechtlichen Vorgaben genügt, regelt etwas anderes." Ein vorbehaltlos gewährtes Grundrecht - hier das Beispiel des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG - besitzt hingegen folgende Struktur: „Jeder Grundrechtsträger, der wissenschaftlich forscht, besitzt das Recht zur Abwehr von Beeinträchtigungen dieses Verhaltens, es sei denn, ein Gesetz, welches ein im Einzelfall überwiegendes Verfassungsrechtsgut schützt und auch im übrigen den verfassungsrechtlichen Vorgaben genügt, regelt etwas anderes."
III· Der abwehrrechtliche Schutzgegenstand Nachdem die Normstruktur der Grundrechtsnormen dargelegt wurde, ist an dieser Stelle kurz auf den Schutzgegenstand als den Inhalt des grundrechtlichen Abwehrrechtes einzugehen. Wie bereits im Abschnitt zur Darstellung der bisher entwickelten Lösungsvorschläge über die Behandlung von Grundrechtskonkurrenzen angedeutet wurde, können Aussagen zur Auflösung von Konkurrenzsituationen möglicherweise im Wege einer einzelfallbezogenen Schutzgegenstandsanalyse getroffen werden. Deshalb sind einige Überlegungen zur Systematik des abwehrrechtlichen Schutzgegenstands notwendig. Insbesondere ist dabei auf die für die Konkurrenzdogmatik wichtige Theorie der Entwicklung von Schutzgegenständen durch Kombination von Grundrechtsbestimmungen einzugehen.
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D. Grundlagen der Konkurrenzdogmatik
1. Systematik der Schutzgegenstände Mit der Umschreibung der sachlichen Gewährleistungsbereiche durch die Grundrechtsbestimmungen wird zugleich der Inhalt der subjektiven Abwehrrechte festgelegt. Diese Schutzgegenstände bzw. Schutzgüter 145 sind von unterschiedlichster Gestalt und Struktur, so daß eine Systematik nur schwer zu erarbeiten ist. Dennoch gibt es gemeinsame Merkmale, die eine Zusammenfassungen rechtfertigen. Dies schließt jedoch nicht aus, daß auch andere Unterteilungen möglich sind 1 4 6 .
a) Erscheinungsformen Die wichtigste Gruppe von Schutzgegenständen der Freiheitsrechte sind die Verhaltensfreiheiten 147 . Verhaltensfreiheit bedeutet dabei, daß die durch das Grundrecht geschützten Verhaltensweisen dem Grundrechtsträger in alleiniger und freier Selbstbestimmung obliegen 148 . Der Mensch ist im jeweiligen durch den sachlichen Tatbestand des Abwehrrechtes bestimmten Bereich prima facie frei, das zu tun, was er will. Freilich wird durch die grundrechtliche Gewährleistung die jeweilige Verhaltensfreiheit nicht erst eröffnet. Die Umschreibung des Schutzgegenstandes enthält also keine Erlaubnis für den Grundrechtsträger, dies oder jenes zu t u n 1 4 9 . Vielmehr wird mit der Deklaration des Gewährleistungsbereiches das beschriebene Freiheitssegment zum Schutzgut und damit zu einer vor staatlichem Handeln geschützten Position 1 5 0 . Die Freiheitsrechte schützen die von ihnen garantierte Freiheit umfassend. Das Recht, in der Ausübung einer bestimmten Verhaltensweise frei zu sein, impliziert ebenso das Recht, diese Befugnis nicht auszuüben 151 . 145
Die Begriffe werden im folgenden synonym verwendet. 146 Ygi e t w a die abweichenden Differenzierungsvorschläge bei Ipsen, Staatsrecht II, Rdnr. 72 ff. 147 Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 43; Isensee, HbdStR V, § 111 Rdnr. 41; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Vorb. vor Art. 1 Rdnr. 13; ders., AöR 120 (1995), 345 (360). Zur Entwicklung des Freiheitsbegriffes, Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. I I I / l , S. 625 ff. 148 Isensee, HbdStR V, § 111 Rdnr. 41, bezeichnet diese Selbstbestimmungsschutzgüter als subjektive Schutzgüter. 149 Insoweit ist die Aussage in BVerfGE 84, 372 (380) unmißverständlich: „Was nicht verboten ist, ist erlaubt." Dazu Ipsen, Staatsrecht II, Rdnr. 67 Fn. 52. 150 Zur Bedeutung der Unterscheidung zwischen Rechtsgut und Grundrecht sehr deutlich Ipsen, Staatsrecht II, Rdnr. 65ff.; Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 623 f. 151 Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 242. Ob tatsächlich jedes Abwehrrecht auch eine negative Dimension enthält, so BVerfGE 58, 357 (364), oder ob es Ausnahmen
III. Der abwehrrechtliche Schutzgegenstand
121
Geschützt ist also neben dem positiven Aspekt der Freiheit auch immer ihre negative Dimension: die Handlungsalternative bzw. die Handlungsmöglichkeit der im negativen Sinne freien Person 152 . Weitere Schutzgüter neben den vielfältigen Verhaltensfreiheiten sind bestimmte Eigenschaften und Situationen des Grundrechtsträgers 153. Hierzu zählen alle grundrechtlich geschützten Elemente der natürlichen Persönlichk e i t 1 5 4 , wie beispielsweise das Leben und die körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG oder die Würde des Menschen gem. Art. 1 Abs. 1 GG. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, erkennt man seine Existenz mit dem Bundesverfassungsgericht an, gehört ebenfalls in diese Gruppe 1 5 5 . Von den natürlichen Eigenschaften zu unterscheiden sind die durch das Grundgesetz verliehenen Rechtspositionen 156 . In den einzelnen Grundrechtsvorschriften findet sich eine Fülle dieser rechtlich geschaffenen und auf den Grundrechtsträger bezogenen Berechtigungen. Hierzu zählen zum einen Fähigkeiten und Eigenschaften, wie Wählbarkeit, Ämterfähigkeit, Rechts- und Geschäftsfähigkeit, weiterhin auch interpersonale Rechtsstellungen, wie die Mitgliedschaft in Personenverbänden und die familienrechtlichen Rechtsstellungen sowie Rechtspositionen mit gegenständlichem Bezug, insbesondere vermögensrechtliche Berechtigungen 157 . b) Bestimmung des Schutzgegenstandes Der Schutzgegenstand eines grundrechtlichen Abwehrrechtes wird durch den sachlichen Gewährleistungsgehalt als Teil des Grundrechtstatbestandes bestimmt 1 5 8 . Die Textaussagen der Grundrechtsbestimmungen bilden folggibt, so Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 12, Rdnr. 2, kann hier dahingestellt bleiben. 152 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 198. 153 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 176f.; Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 644; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Vorb. vor Art. 1 Rdnr. 13; ders., AöR 120 (1995), 345 (360). 154 Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 44. Vgl. auch Isensee, HbdStR V, § 111 Rdnr. 41: Schutzgüter, die der Selbstbestimmung des Grundrechtsträgers vorausliegen. 155 Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 646 ff. Ähnlich Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 333, der das allgemeine Persönlichkeitsrecht innerhalb der unbenannten Freiheitsrechte den zustandsbezogenen Rechten in Abgrenzung zu den handlungsbezogenen Rechten zuordnet. 156 Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Vor Art. 1 Rdnr. 44; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, Vorb. vor Art. 1 Rdnr. 13; ders., AöR 120 (1995), 345 (360). Ähnlich Isensee, HbdStR V, § 111 Rdnr. 41: Schutzgüter, die die Selbstbestimmung des Grundrechtsträgers umhegen. 157 Ausführlich dazu Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. I I I / l , S. 656ff.
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D. Grundlagen der Konkurrenzdogmatik
lieh den Ausgangspunkt für die Interpretation der Schutzgüter. Um die Gegenstände der einzelnen Abwehrrechte herauszuarbeiten, ist auf die methodischen Prämissen der Verfassungsauslegung zurückzugreifen. Häufig enthalten Grundrechtsbestimmungen nicht nur ein einziges Schutzgut. Vielmehr können aus einer scheinbar einheitlichen Textaussage durch eingehende Interpretation mehrere nebeneinander gewährte Schutzgegenstände gewonnen werden 1 5 9 . In einigen Fällen ist die Mehrheit der geschützten Rechtsgüter schon dem Wortlaut bzw. der Systematik des Gesetzes zu entnehmen und insofern trivial. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG schützt das Leben und die körperliche Unversehrtheit, Art. 6 Abs. 1 GG Ehe und Familie. Hinter den Formulierungen der Grundrechtsbestimmungen verbirgt sich ein mehrgliedriger Gewährleistungsgehalt. Allerdings ist neben systematischer und Wortlautauslegung die Teleologie der Verfassungsaussage zu beachten. Trotz alternativer Aufzählung im Verfassungstext kann die Analyse ergeben, daß tatsächlich nur ein einheitliches Rechtsgut geschützt werden soll und daher nur ein einheitliches Abwehrrecht entsteht. So ist beispielsweise allgemein anerkannt, daß Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG die Wissenschaft, die Lehre und die Forschung nicht als einzelne, unverbundene Rechtsgüter schützt. Die Aspekte der Forschungs- und Lehrfreiheit werden vielmehr durch den Oberbegriff der Freiheit der Wissenschaft mitumfaßt 1 6 0 . Der fragliche Gewährleistungssatz (-teil) des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG beschreibt insofern nur zwei Schutzgegenstände: die wissenschaftliche Forschungsfreiheit und die wissenschaftliche Lehrfreiheit 161 . In anderen Fällen kann das Ergebnis der Wortlautauslegung auf einen lediglich eingliedrigen Gewährleistungsgehalt der Grundrechtsbestimmungen hindeuten. Erst die Anwendung der übrigen Interpretationsmethoden läßt erkennen, daß es sich um einen zusammengesetzen Schutzgegenstand handelt 1 6 2 . Für die Konkurrenzdogmatik ist es dabei von größter Wichtigkeit, die Struktur dieser Schutzgegenstandsmehrheiten herauszuarbeiten und sichtbar zu machen. 158
Siehe oben S. 95. Umfassend zur Schutzgegenstandsanalyse Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 40ff., Bd. I I I / l , S. 622ff. 160 BVerfGE 35, 79 (113); Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 III (Wissenschaft) Rdnr. 20; Wendt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 Rdnr. 100; Denninger, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 3 I Rdnr. 13 mit Hinweis auf die Entstehungsgeschichte der Norm; a. A. Blankenagel, AöR 105 (1980), 35 (70). 161 Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. III Rdnr. 85; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 76; Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 49 m.w.Nw. 162 Vgl. dazu die Beispiele unten S. 124. 159
III. Der abwehrrechtliche Schutzgegenstand
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c) Schutzgegenstandsmehrheiten aa) Unechte Schutzgegenstandsmehrheiten Systematisch sind die echten von den unechten Schutzgegenstandsmehrheiten zu unterscheiden 163 . Unechte Mehrheiten sind beispielsweise dann anzunehmen, wenn zwischen den Teil-Schutzgegenständen Spezialitätsverhältnisse bestehen. In diesem Fall sind die vielschichtigen einzelnen Handlungsfreiheiten des Grundrechts nur unselbständige Detailaspekte eines insgesamt geschützten Freiheitsbereiches. Ein solches Verhältnis besteht etwa zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und seinen durch die Rechtsprechung ausgeformten Teilbereichen. Das Recht am eigenen Bild, am eigenen Wort oder das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sind unselbständige Sonderfälle des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und besitzen folglich keinen selbständigen Schutzgegenstand. Von einer unechten Schutzgegenstandsmehrheit ist aber auch dann auszugehen, wenn eine Unterteilung in Einzelaspekte den Schutzgehalt des Grundrechts zerreißen und damit verfälschen würde wie etwa im Fall der Meinungsäußerungsfreiheit. Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. HS GG schützt alle Verhaltensweisen, die als Meinungskundgabe zu qualifizieren sind. Dazu zählen nicht nur die Handlungen, die der Entäußerung der Meinung selbst dienen, sondern auch diejenigen, die für die Verbreitung, also den Zugang der Meinungsäußerung notwendig sind. Die Tätigkeiten und Handlungen, die der einzelne vornimmt, um seine Meinung nach außen zu tragen, wie das Schreiben, Zeichnen, Reden, bilden jedoch keine eigene Kategorie. Sie beschreiben nur einen unselbständigen Aspekt des Kundgabevorgangs. Gleiches gilt für diejenigen Verhaltensweisen, die nicht der Abgabe der Mitteilung, sondern der Verbreitung der bereits entäußerten Gedankenerklärung dienen. Während das Entäußern einer Meinung nur die inhaltliche Stellungnahme, also das bloße Artikulieren der Meinung beinhaltet, bezieht sich das Merkmal verbreiten auf den sozialen Erfolg der Äußerung, auf das Zugänglichmachen für eine oder auch mehrere Personen 164 . Erst durch diesen Aspekt des Schutzgegenstands wird die eigentliche Intention der Grundrechtsgarantie verwirklicht, die darin besteht, dem einzelnen die Freiheit zu gewähren, nach eigener Wahl zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort auf andere geistig einwirken zu 163
Grundlegend Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 49 ff. Schmidt-Jortzig, HbdStR VI, § 141 Rdnr. 24; Wendt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 Rdnr. 17; abweichend Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 1, 2 Rdnr. 32f. 164
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D. Grundlagen der Konkurrenzdogmatik
können 1 6 5 . Deshalb ist eine Freiheit der bloßen Meinungsentäußerung ohne den Aspekt der Weitergabe und Verbreitung nichts wert. Meinungen werden nicht zum Selbstzweck geäußert. Ihr Sinn besteht gerade darin, geistige Wirkungen in ihrer Umwelt zu erzielen, also meinungsbildend und überzeugend auf die Gesamtheit einzuwirken 166 . Nur in der Zusammenschau von Äußerung und Verbreitung von Meinungen wird deshalb der volle Schutzgehalt des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung sichtbar. Die Benennung der Teilaspekte ist lediglich als Akzentsetzung im Rahmen eines einheitlichen Garantietatbestandes der freien kommunikativen Entfaltung zu verstehen 167 . Es handelt sich jedoch nicht um selbständige Schutzgegenstände.
bb) Echte Schutzgegenstandsmehrheit Die echte Schutzgegenstandsmehrheit zeichnet sich dadurch aus, daß der Gewährleistungsgehalt aus mehreren Schutzgegenständen gebildet wird, die sich in einem Gleichordnungsverhältnis befinden 168 . Dies bedeutet, daß jeder (Teil-)Schutzgegenstand eigenständige, konstitutive Bedeutung besitzt und nicht etwa als bloßer Unterfall des Gesamtschutzgegenstandes oder eines anderen (Teil-)Schutzgegenstandes zu verstehen ist. Jeder dieser Schutzgegenstände bildet den Inhalt eines eigenen Abwehrrechts. Notwendigerweise findet sich eine solche Schutzgutrelation immer dann, wenn die versammelten Schutzgegenstände von unterschiedlicher Struktur sind, wie beim Zusammentreffen einer Verhaltensfreiheit mit einer verliehenen Rechtsposition. Ein anschauliches Beispiel für eine solche heterogene Schutzgegenstandsmehrheit bietet Art. 9 Abs. 1 G G 1 6 9 . Der Verfassungswortlaut gewährt zunächst nur die freie Bildung von Vereinen und Gesellschaften als spezielle Verhaltensfreiheit. Anerkanntermaßen schützt Art. 9 Abs. 1 GG aber darüber hinaus auch die durch den Beitritt oder die Gründung erworbene Rechtsstellung eines Mitglieds, also das Mitgliedschaftsrecht, vor hoheitlichen Beeinträchtigungen 170 . Das Grundgesetz garantiert 165 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 I, II Rdnr. 49. 166 BVerfGE 7, 198 (210); 61, 1 (7); Wendt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 Rdnr. 12, 17. 167 Allgemeine Meinung, vgl. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 1, 2 Rdnr. 32; Wendt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 Rdnr. 17. 168 Der Begriff der Addition der Schutzgegenstände macht diese kumulative Struktur plastisch; Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 50. 169 Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 50. 170 BVerfGE 13, 174 (175), 30, 227 (241); 50, 290 (354); 84, 372 (378); Merten, HbdStR VI, § 144 Rdnr. 49; Bauer, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 9 Rdnr. 39.
III. Der abwehrrechtliche Schutzgegenstand
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damit die Mitgliedschaft in einer Vereinigung als Verfassungsrechtsposition, in die der Staat nur im Rahmen der Begrenzungsregelungen der Norm eingreifen darf. Eine ähnlich zusammengesetzte Schutzgegenstandsmehrheit findet sich im Tatbestand des Grundrechts auf Schutz des Briefgeheimnisses, Art. 10 Abs. 1 GG. Einerseits wird der Kommunikationsinhalt als spezielle Ausprägung des Persönlichkeitsrechts geschützt, zum anderen wird - nach nunmehr allgemeiner Ansicht - auch der Kommunikationsvorgang als Verhaltensfreiheit vom Schutzumfang erfaßt 171 . In den einzelnen Grundrechtsbestimmungen sind die heterogenen Schutzgegenstandsmehrheiten der Regelfall 172 . Seltener beschreibt der Gewährleistungstatbestand der Grundrechtsnorm mehrere gleichgeordnete Schutzgüter, die eine identische Struktur besitzen (homogene Schutzgegenstandsmehrheit). Denkbar sind in dieser Konstellation Doppelschutzgüter, die sich aus zwei garantierten Rechtspositionen oder zwei sich nicht überlagernden Verhaltensfreiheiten zusammensetzen173. Eine Mehrheit verliehener Rechtspositionen findet sich beispielsweise in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Das Grundrecht schützt das Leben und die körperliche Unversehrtheit unabhängig voneinander. d) Verhältnis
der Schutzgegenstände zueinander
Zwischen den einzelnen (Teil-)Schutzgegenständen einer homogenen oder heterogenen Schutzgegenstandsmehrheit lassen sich gewisse inhaltliche Beziehungen feststellen, die Rückschlüsse auf die Bedeutung der (Teil-)Schutzgegenstände zulassen. Die Informationsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 2. HS GG erfaßt beispielsweise den gesamten Prozeß des Informierens und damit eine Vielzahl von Verhaltensweisen. Nicht alle geschützten Handlungen zählen jedoch zum eigentlichen Kerngehalt des Sich-Informierens. Als selbständige, kumulativ gewährte Teilgehalte lassen sich zum einen der Informationsvorgang als solcher, also die Summe aller Verhaltensweisen die zur Entgegennahme einer Information bzw. zur aktiven Beschaffung unmittelbar notwendig sind 1 7 4 , und zum anderen aber 171 Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 10 Rdnr. 29 mit Nw. für die früher vertretene Ansicht. 172 Vgl. auch die weiteren Beispiele bei Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 50. Dort werden weiter angeführt: das Nebeneinander des religiösen Persönlichkeitsrechts (forum internum) und die Freiheit zu glaubensgeleitetem Verhalten in Art. 4 GG, die Eheschließungsfreiheit und die Rechtsstellung als Ehegatte nach Art. 6 Abs. 1 GG sowie die Rechtsstellung als Eigentümer und die Freiheit der Eigentumsnutzung und -Verwertung. 173 Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 50.
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D. Grundlagen der Konkurrenzdogmatik
auch die dazu notwendigen praktisch-technischen Vorarbeiten, wie das Bereitstellen und Unterhalten von entsprechenden Empfangsanlagen 175 , unterscheiden. Derartige, im Vorfeld der Informationsverschaffung gelegenen Aktivitäten werden - in erweiternder Auslegung des Tatbestands - deshalb geschützt, weil sie eine notwendige Voraussetzung für den Informationszugang darstellen, also eine enge innere Verbindung in Form einer Zweckbindung an die (Haupt-)Freiheit besteht. Dennoch gehören diese Verhaltensweisen nicht zum Empfangsvorgang als dem eigentlich geschützten Inhalt des Grundrechts. Sie können vielmehr in einer eigenen Kategorie zusammengefaßt werden. Der auf diese Weise gebildete Hilfsschutzgegenstand ist systematisch vom Hauptschutzgegenstand der Informationsfreiheit zu trennen. Den Hilfsschutzgegenständen kommt gewissermaßen eine dienende Funkion zu. Sie flankieren den zentralen Schutzgegenstand und runden ihn ab. Die von diesen Schutzgegenständen erfaßten Verhaltensweisen bilden den Randbereich des Grundrechts. Ähnliche Mehrheiten echter (Teil-)Verhaltensfreiheiten finden sich in Art. 5 Abs. 1 S. 2, 1. Var. GG und Art. 5 Abs. 3 S. 1, 1. Var. GG. Vorausgesetzt, die Pressefreiheit schützt auch die presseinternen und presseexternen Hilfstätigkeiten 176 , bilden diese Verhaltensweisen, durch die die Voraussetzungen für eine freie Pressetätigkeit geschaffen werden, einen selbständigen Hilfsschutzgegenstand. Einzelaspekte dieses Schutzgegenstands sind etwa die Anschaffung der pressetechnisch notwendigen Einrichtungen und Rohstoffe, die Anstellung von Personal, die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse oder die Buchhaltung 177 . Selbstverständlich müssen die den Hauptverhaltensfreiheiten zugeordneten flankierenden Hilfsschutzgegenstände nicht notwendigerweise selbst wiederum ein gewisses Verhalten schützen. Die Pressefreiheit schützt neben 174
BVerfGE 27, 71 (82). BVerfGE 90, 27 (32, 36); Wendt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Bd. 1, Art. 5 Rdnr. 26; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 I, II Rdnr. 64 m. w. Nw. 176 So Wendt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 Rdnr. 33; Bullinger, HbdStR VI, § 142 Rdnr. 15. Grundsätzlich ablehnend BVerfGE 77, 346 (354). Differenzierend Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Bd. 1, Art. 5 I, II Rdnr. 74: Auch Hilfstätigkeiten seien „ausnahmsweise" erfaßt, wenn ein enger organisatorischer Zusammenhang zur Pressearbeit bestehe. 177 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 1, 2 Rdnr. 63; Wendt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 Rdnr. 33. 175
III. Der abwehrrechtliche Schutzgegenstand
127
den verhaltensrechtlichen Hilfsschutzgütern auch natürliche Rechtspositionen, wie etwa das zwischen Journalisten und privaten Informanten aufgebaute Vertrauensverhältnis 178 oder die redaktionelle Vertraulichkeitssphäre 179 (Redaktionsgeheimnis 180 ) als Ausprägungen des Persönlichkeitsrechts. Diese Schutzgegenstände beschreiben nicht die Veröffentlichungsfreiheit als den geschützten Zentralbereich des Grundrechts, sondern gewähren Rechtsräume, die als Voraussetzungen der freien Pressearbeit unabdingbar sind. Gleiches gilt für die Kunstfreiheit. Auch hier unterfallen vorbereitende Tätigkeiten, die nicht zum eigentlichen schöpferischen Prozeß gehören, dem Freiheitsbereich des Art. 5 Abs. 3 S. 1, 1. Var. G G 1 8 1 . Dennoch handelt es sich nur um flankierende Tätigkeiten, die mit der Kunst ausschließlich durch ihre Zweckrichtung mittelbar verbunden sind. Deshalb bildet die Kunstausübung selbst den Schutzgegenstand des durch Art. 5 Abs. 3 S. 1, 1. Var. GG zentral gewährten Abwehrrechts. Die Tätigkeiten im Vorfeld des künstlerischen Schaffens sind Inhalt eines eigenständigen, aber lediglich flankierenden Abwehrrechts. Die dargestellte Differenzierung in Haupt- und Hilfsschutzgegenstände stößt in der Literatur nicht auf ungeteilte Zustimmung. Insbesondere wird kritisiert, daß die Aufspaltung des sachlichen Gewährleistungsgehaltes in aller Regel zufällig und ohne heuristischen Wert sei 1 8 2 . Es bestünde die Gefahr, daß der zentrale Schutzzweck des Grundrechtes in seiner maßgeblichen Bedeutung durch zusätzliche Hilfsschutzgegenstände verdeckt und überlagert werde. Die Randbereiche einer Verhaltensfreiheit seien vielmehr durch funktionale Schutzerweiterung des (Haupt-)Schutzgegenstandes zu erfassen 183 . So könne die Geheimnissphäre, die das Verhältnis von Rundfunkveranstalter (oder Presseunternehmen) und Informant schützen solle, unmittelbar der Informationsbeschaffung als Teil der Rundfunkfreiheit zugerechnet werden. Damit seien zusätzliche Schutzgegenstände außerhalb des Verfassungstextes überflüssig 184 . Die dargestellte Schutzgegenstandssystematik ist, und das muß eingeräumt werden, strukturtheoretisch keinesfalls zwingend. Die Abschichtung 178
Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 1, 2 Rdnr. 62 m.Nw. für die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung. 179 Grundlegend BVerfGE 66, 116 (131 ff.). Kritisch Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 52, dazu sogleich. 180 Wendt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 Rdnr. 33. 181 Denninger, HbdStR VI, § 146 Rdnr. 18. 182 Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 53. 183 Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 52. 184 Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 52.
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D. Grundlagen der Konkurrenzdogmatik
der einzelnen geschützten Freiheitsbereiche nach der inhaltlichen Nähe zum zentralen Schutzzweck dient nur als Vehikel zur Interpretation der durch den sachlichen Gewährleistungstatbestand beschriebenen Schutzgegenstände. Das Verfahren hat allerdings den Vorteil, daß einzelne ergänzende bzw. dienende Teilgewährleistungsgehalte plastischer herausgestellt werden können. Der jeweils betroffene Teilschutzgegenstand besitzt in aller Regel schärfere Konturen als die Gesamtverhaltensfreiheit. Es ist deshalb möglich, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den einzelnen Teilgehalten unterschiedlicher Grundrechte klarer herauszuarbeiten. Häufig kann gerade die Abgrenzung und Gegenüberstellung von Haupt- und Hilfsschutzgütern zu wichtigen Erkenntnissen für die Auflösung von Konkurrenzsituationen führen.
2. Konzentration der Gewährleistungsgehalte mehrerer Grundrechte zu einem Schutzgegenstand? Die Frage, inwieweit der Schutzgegenstand eines Abwehrrechtes aus mehreren, zusammenwirkenden Grundrechtsbestimmungen hergeleitet werden kann, besitzt grundlegende Bedeutung für die Konkurrenzdogmatik. Sollte es möglich sein, abwehrrechtliche Schutzgüter aus mehreren Grundrechtsbestimmungen der Verfassung zu synthetisieren, wäre eine Basis für die normkombinierende Theorie des grundrechtlichen Wirkungsverbundes geschaffen. Verallgemeinernde Gedanken zu dieser Thematik finden sich selten 185 . In der Literatur wurde das Problem der Grundrechtsverbünde wenn überhaupt nur anhand von Einzelfällen erörtert. Beispiele sind etwa die Diskussionen über das Grundrecht auf Mobilität, das Zeitungspersönlichkeitsrecht 186 , das Grundrecht auf Medienfreiheit 187 oder das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit 1 8 8 . Ausführliche Stellungnahmen zu diesem Problem finden sich zudem auch zu den dogmatischen Grundlagen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. a) Allgemeines Persönlichkeitsrecht Das allgemeine Persönlichkeitsrecht wurde vom Bundesverfassungsgericht im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung auf der Grundlage des Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG entwickelt und ist in seiner 185
Ausführlich nur Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 53 ff. Näher zu diesen Synthese-Grundrechten sogleich. 187 Hoffmann-Riem, JZ 1975, 469 (470); Bethge, AöR 104 (1979), 265 (285); Stock, AöR 104 (1979), 1 (7, 53). 188 Kniesel, NJW 1992, 858ff.; Blanke/Sterzel, KJ 1981, 347ff. 186
III. Der abwehrrechtliche Schutzgegenstand
129
Existenz von der Literatur anerkannt 189 . Das Gericht führt in seiner maßgeblichen Entscheidung aus, daß das verfassungskräftige Gebot der Achtung der Intimsphäre des Einzelnen seine Grundlage in dem durch Art. 2 Abs. 1 GG verbürgten Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit habe. Bei der Bestimmung von Inhalt und Reichweite dieses Grundrechts sei jedoch zu beachten, daß nach der Grundnorm des Art. 1 Abs. 1 GG die Würde des Menschen unantastbar und von den staatlichen Gerichten zu achten und zu schützen sei 1 9 0 . Der abwehrrechtliche Schutzgegenstand dieses selbständigen Grundrechts 191 folgt demnach aus Art. 2 Abs. 1 GG. Diese Norm bildet als eigentlich betroffenes Grundrecht die Basis des Persönlichkeitsrechts. Der Menschenwürde-Satz des Art. 1 Abs. 1 GG dient nach zutreffender Auffassung lediglich als programmatische, objektiv-rechtliche Leit- und Auslegungsrichtlinie und ist deshalb nur hinsichtlich der Bestimmung der Grundrechtsschranken heranzuziehen 192 . Für die Bestimmung des Schutzgegenstandes muß die Menschenwürdegarantie notwendigerweise unberücksichtig bleiben. Sonst wäre ein Eingriff in den Gewährleistungsbereich des Grundrechts wegen der zwingenden Formulierung des Art. 1 Abs. 1 GG immer verfassungswidrig 193 . Unzutreffend wäre es auch, wenn aufgrund des auf der Gewährleistungsebene bestehenden Schwergewichts von Art. 2 Abs. 1 GG auf der Begrenzungsebene allein auf die Begrenzungsregelung des Art. 2 Abs. 1 GG zurückgegriffen würde. Sobald der Schutzgegenstand der Menschenwürde tangiert ist, richtet sich der Umfang des Schutzes ausschließlich nach Art. 1 Abs. 1 GG. Auch die Tatsache, daß die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG den Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG genießt, verlangt, die Tatbestände und damit die Schutzgegenstände der Normen auseinander zu halten 1 9 4 . 189
BVerfGE 35, 202 (219); 82, 236 (269); 90, 263 (270). Zur Genese Jarass, NJW 1989, 857 (858); Degenhart, JuS 1992, 361 (362). 190 BVerfGE 27, 1 (6 ff.); 27, 344 (350). 191 Jarass, NJW 1989, 857 (858). 192 Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 2 I Rdnr. 50; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 55, 85; Degenhart, JuS 1992, 361; Höfling, JuS 1995, 857 (862). A.A. Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 63; Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Rdnr. 10; Siekmann/Duttge, Staatsrecht I, Rdnr. 852; Katz, Staatsrecht, Rdnr. 676: Die Menschenwürde bestimme Inhalt und Gewährleistungsumfang des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. 193 Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 2 I Rdnr. 50; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 85. 194 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 85. 9 Heß
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D. Grundlagen der Konkurrenzdogmatik
Denn durch Art. 79 Abs. 3 GG wird nicht nur ein irgendwie reduzierter Grundsatz des Art. 1 Abs. 1 GG, sondern die Norm in vollem Umfang, also auch der Tatbestand, vor Verfassungsänderungen geschützt 195 . Das heißt im Ergebnis, daß das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht aus den Garantiegehalten unterschiedlicher Grundrechtstatbestände hergeleitet werden kann. Beide Normen sind für die Erzeugung unterschiedlicher Abwehrrechte mit unterschiedlichen Schutzgegenständen verantwortlich. Durch Art. 1 Abs. 1 GG wird nur ein unantastbarer Kernbereich der Persönlichkeit geschützt, während das aus Art. 2 Abs. 1 GG folgende allgemeine Persönlichkeitsrecht den sonstigen Bereich privater Lebensgestaltung sichert. Auf diese Weise wird die Menschenwürdegarantie als selbständiges Grundrecht gewahrt. Es steht als letzter Schutzwall vor schweren Beeinträchtigungen elementarer Persönlichkeitskomponenten neben dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht 196 . Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist demnach kein synthetisches Grundrecht, dessen Schutzgegenstand durch Kombination zweier Grundrechtstatbestände gewonnen werden muß. Der Schutzgegenstand wird unmittelbar durch den Tatbestand der aus Art. 2 Abs. 1 GG abzuleitenden, abwehrrechtsbegründenden Grundrechtsnorm garantiert.
b) Sonstige Synthesegrundrechte aa) Grundrecht auf Mobilität Bereits seit einiger Zeit gibt es weitere Versuche, aus thematisch eng miteinander verwobenen Einzelfreiheiten einheitliche, überwölbende Grundrechte zu gewinnen. Ein aktuelles Beispiel für den Begründungsversuch eines konzentrierten Abwehrrechts bietet das sog. Grundrecht auf Mobilität. Dieses soll aus einer ganzen Bastion von Grundrechtsbestimmungen 197 als Essenz der mobilitätsgarantierenden Teilgehalte induktiv hergeleitet werden können 1 9 8 . Die grundrechtlichen Mobilitätsgehalte der einzelnen Freiheitsrechte müßten nur im Wege der Abstraktion zusammengefaßt werden, um das „vor die Klammer gezogene" Grundrecht zu erhalten 199 . Dieses Grundrecht unterliege dann aber nicht, bzw. nur in Ausnahmefällen, der Schran195
Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 79 Rdnr. 6; a.A. Bryde, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, Art. 79 Rdnr. 33. 196 Höfling, JuS 1995, 857 (862). 197 Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 4 GG; alle Kommunikationsgrundrechte, Art. 12 GG; Art. 14 GG. 198 Ronellenfitsch, DAR 1992, 321 (323); ders., DAR 1994, 7 (9). 199 Ronellenfitsch, JöR 44 (1996), 167 (181); ders., DAR 1994, 7 (9).
III. Der abwehrrechtliche Schutzgegenstar d
131
kentrias des Art. 2 GG, sondern sei durch kollidierendes Verfassungsrecht zu begrenzen 200 . Die Schwäche der Begründung für ein derartiges „ M i ltigrundrecht" wird deutlich, wenn die letztgenannten These näher beleuchtet wird. Begrenzungsregelungen sind, wie oben ausgeführt wurde, Baue emente der Grundrechtsnormen. Die Konstruktion eines nicht explizit geschriebenen zusammengesetzten Gewährleistungsgehaltes, dem als negative Komponente nur das kollidierende Verfassungsrecht gegenübergestellt wird, führt zu einer generellen Nivellierung der geschriebenen Begrenzungsregelungen. Mobilität als Verfassungsgut wäre dann nur gegen andere Verf issungswerte abzuwägen. Damit würde über die Ausblendung der grundrechtlichen Begrenzungsregeln die Freiheit, sich (auto-)mobil fortzubewegen gegenüber anderen Verfassungsrechtsgütern ungerechtfertigt aufgeweitet werden. Eine solche Rechtsfortbildung setzt aber eine Lücke innerhalb der Verfassung voraus, von der hier keine Rede sein kann. Jeder Teil-Mobilitätsgehalt wird durch eine spezielle Verhaltensfreiheit oder zumindest durch die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG geschützt 201 . Die Nutzung eines Fahrzeuges aus beruflichen Gründen genießt den Schutz des Art. 12 GG, der Pendelbusverkehr zu einem Wallfahrtsort kann dem Gewährleistungsbereich des Art. 4 Abs. 1, 2 GG unterfallen usw. Für eine Zusammenfassung grundrechtlicher (Mobilitäts-)Schutzgegenstände findet sich daher keine tragfähige methodische Grundlage 202 . Derartige Konstruktionen sind grundsätzlich abzulehnen. bb) Zeitungspersönlichkeitsrecht Auch das sog. Zeitungspersönlichkeitsrecht bildet hier keine Ausnahme. Dieses Grundrecht soll sich ergeben, „wenn man das Persönlichkeitsrecht als verlegerbezogenes Freiheitsrecht unter Einbeziehung des aktiven allgemeinen Persönlichkeitsrechts fortentwickelt" 203 . Träger dieses Kombinationsgrundrechts aus Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Var. GG und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG sollen der Zeitungsverleger sowie diejenigen natürlichen und juristischen Personen sein, die die Persönlichkeit einer Zeitung schaffen 2 0 4 . Die auf diese Weise zum Verfassungsrechtsgut erhobene Tendenz einer Zeitung („der Geist des Hauses") soll dann mittelbar auch in den die Zeitung betreffenden Privatrechtsverhältnissen, wie gesellschafts- oder 200
Ronellenfitsch, DAR 1992, 321 (324). Bethge, VVDStRL 57 (1998), 7 (22). 202 Im Ergebnis auch Sendler, NJW 1995, 1468 f.; Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 56. 203 Zuck, Zeitungspersönlichkeitsrecht, S. 69 f. 204 Zuck, Zeitungspersönlichkeitsrecht, S. 70f. 201
9*
132
D. Grundlagen der Konkurrenzdogmatik
arbeitsrechtliche Beziehungen, auf Seiten des Grundrechtsträgers besonders zu berücksichtigen sein 2 0 5 . Spätestens mit dieser These wird klar, worauf die Konstruktion eines Zeitungspersönlichkeitsrechts abzielt. Sicherlich mag es für eine Verlegerpersönlichkeit, die eine bestimmte Zeitung oder Zeitschrift durch ihr Lebenswerk geprägt und ihr einen unverwechselbaren Charakter gegeben hat, von hohem ideellen Interesse sein, das politische oder kulturelle Gepräge des Blattes auch gegenüber Veränderungsbestrebungen durch Mitarbeiter oder Miteigentümer zu verteidigen. Der Rückgriff auf das Verfassungsrecht ist hierfür freilich der falsche Weg. Die vorrangige Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat wird verkehrt, wenn aus dem Bedürfnis der Stärkung privatrechtlicher Positionen heraus die Gewährleistungsgehalte der halbwegs einschlägigen Grundrechte zusammengefaßt und mit einer neuen Qualität ausgestattet werden. Die Grundrechte wirken nur in ihrer objektiv-rechtlichen Dimension ins Privatrecht. Folglich können auch nur die tatsächlich in der Verfassung niedergelegten grundsätzlichen Wertentscheidungen berücksichtigt werden. Außerhalb des Regelungsgehaltes stehende „Fortentwicklungen" der Grundrechte sind, abgesehen von ihrer methodisch zumindest sehr zweifelhaften Zulässigkeit, sicher nicht dazuzuzählen.
205
Zuck, Zeitungspersönlichkeitsrecht, S. 74.
E. Allgemeine Konkurrenzdogmatik der Grundrechtsnormen I. Der Satz von der Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung als Grund für die Auflösung von Konkurrenzlagen 1. Widerspruchsfähigkeit von Grundrechtsnormen Die Auflösung einer Konkurrenzlage ist notwendig, damit Widersprüche zwischen den Rechtsfolgen der konkurrierenden Normen, die zur Geltungsvernichtung der Normen führen würden, vermieden werden. Da der Grundsatz der Einheitlichkeit und Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung für alle Normsysteme und damit auch für die Verfassung als dem rangmäßig höchsten Regelwerk gilt 1 , sind auch im Falle unvermeidbar widersprüchlicher Normaussagen parallel anwendbarer Grundrechtsnormen Konkurrenzlagen aufzulösen. Fraglich ist allerdings, inwieweit Widersprüche zwischen Grundrechtsnormen überhaupt möglich sind. Grundrechtsnormen können prinzipiell zwei unterschiedliche Rechtsfolgen anordnen. Sind die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt und greift die zugeordnete Begrenzungsregelung nicht ein, ordnet die Norm die Entstehung eines grundrechtlichen Abwehrrechts an. Da der öffentlichen Gewalt über Art. 1 Abs. 3 GG Eingriffe in den abwehrrechtlich geschützten Bereich untersagt sind, spricht die Norm gegenüber den Bindungsadressaten zugleich ein Handlungsverbot aus. Die abwehrrechtsbegründende Grundrechtsnorm übernimmt in diesem Fall die Funktion einer negativen Kompetenznorm für die grundrechtsrelevanten Tätigkeiten des Staates2. Ist hingegen neben dem Tatbestand auch die grundrechtliche Begrenzungsregelung einschlägig, entsteht kein Abwehrrecht. Die Norm ordnet vielmehr über die Begrenzungsregelung die Zulässigkeit des staatlichen Handelns im tatbestandlich umgrenzten Bereich an. Es wird folglich kein Verbot, sondern eine Erlaubnis für die hoheitliche Beschränkung des vom Schutzgegenstand erfaßten tatsächlichen menschlichen Handelns ausgesprochen. 1
Vgl. Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (50). Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Rdnr. 291. 2
134
E. Allgemeine Konkurrenzdogmatik der Grundrechtsnormen
Die Rechtsfolgen enthalten diametrale Sollensurteile. Verbot und Erlaubnis schließen sich als Handlungsanordnungen gegenseitig aus. Im Fall des Zusammentreffens beider Normanordnungen durch unterschiedliche Grundrechtnormen entsteht also zwangsläufig ein echter unvermeidbarer Normwiderspruch 3.
2. Gegenstand der Konkurrenz In der Literatur wird, wenn es um die Frage geht, welche Gegenstände zueinander im Verhältnis der Konkurrenz stehen, allgemein auf die Grundrechtsnormen als Konkurrenzgegenstände verwiesen, ohne diese Aussage näher zu präzisieren 4. Tatsächlich basieren die einzelnen Untersuchungen jedoch in aller Regel auf den abstrakten Grundrechtsnormen. Dies trifft allerdings nicht den Kern der Sache. Zwar sind die aus den Grundrechtsbestimmungen abzuleitenden abstrakten Grundrechtsnormen, wie eben dargestellt, potentiell widerspruchsfähig. Dennoch bilden sie nicht den Gegenstand der Grundrechtskonkurrenz. Konkurrenzen entstehen immer erst dann, wenn über einen konkreten Einzelfall entschieden werden muß. Folglich können Normwidersprüche auch nur zwischen den Normen auftreten, die sich im Einzelfall tatsächlich gegenüberstehen. Deshalb ist es zutreffend, wenn darauf hingewiesen wird, daß nicht die abstrakten Grundrechtsnormen, sondern die in der Fallentscheidung maßgeblichen konkret-individuellen Entscheidungsnormen den Gegenstand der Konkurrenz bilden 5 . Die grundrechtlichen Entscheidungsnormen sind diejenigen Rechtsnormen, die durch einen konkretisierenden und individualisierenden Präzisierungsprozeß aus den abstrakten Grundrechtsnormen zu gewinnen sind 6 . Im Präzisierungsverfahren wird der abstrakte Rechtssatz durch die Konkretisierung der Normelemente in eine entscheidungsfähige, einzelfallbezogene Norm umgewandelt. Die Präzisierung hat dabei sowohl auf Tatbestands- als auch auf Begrenzungsebene zu erfolgen 7. 3
Ebenso Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (56). Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 326. 5 Fohmann, Konkurrenzen und Kollisionen im Verfassungsrecht, S. 62f., 82ff.; ders. EuGRZ 1985, 49 (52); dem zustimmend Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1376. 6 Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (55). 7 Das Präzisierungsverfahren für die durch den grundrechtlichen Tatbestand festgelegten Schutzgegenstände wurde bereits ausführlich dargestellt; siehe S. 121 ff. In gleicher Weise muß auf der Begrenzungsebene die im Einzelfall einschlägige Begrenzungsregel herausgearbeitet werden; etwa dann, wenn wie bei Art. 2 Abs. 1 GG oder Art. 5 Abs. 2 GG mehrere Begrenzungsregelungen zur Verfügung stehen. 4
I. Der Satz von der Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung
135
Wenn nun die konkret-individuellen Entscheidungsnormen den eigentlichen Gegenstand der Grundrechtskonkurrenz bilden, muß die Lösung des Konkurrenzproblems auch auf der Basis dieser Normen erfolgen. D.h. die konkurrenzdogmatischen Untersuchungen sind allein an den präzisierten Einzelfallnormen bzw. deren Tatbeständen zu orientieren und nicht an den Tatbeständen der abstrakten Grundrechtsnormen. Eine Untersuchung der Konkurrenzverhältnisse auf abstrakter Ebene muß zwangsläufig ohne besonderen Erkenntnisgewinn bleiben 8 . Der hohe Abstraktionsgrad der Grundrechtsnormen läßt nur in absoluten Ausnahmefällen allgemeingültige Aussagen über tatbestandliche Konkurrenzverhältnisse zu. Mittlerweile ist die Entscheidungsnormtheorie in der Literatur allgemein anerkannt. Auch wenn zum Gegenstand der Konkurrenz in aller Regel nicht ausdrücklich Stellung genommen wird, so hat sich doch inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Lösung der Konkurrenzsitutionen nur in Abhängigkeit vom Einzelfall und nicht abstrakt erfolgen kann 9 . Das Bundesverfassungsgericht geht in Konkurrenzsituationen pragmatisch vor und trifft, wenn notwendig, konkurrenzdogmatische Präferenzentscheidungen in der Regel zu Beginn der ersten Grundrechtsprüfung 10. Dieses Verfahren ist durchaus zulässig, denn die Feststellung, ob die konkurrierenden Normen im Einzelfall tatsächlich zu widersprüchlichen Ergebnissen führen, ist nicht notwendig. Die (potentielle) Widerpruchs/äA/g^/i der Normen genügt, um vorab entscheiden zu können, welche Norm als Prüfungsmaßstab heranzuziehen ist. Der Normwiderspruch ist also keine notwendige Voraussetzung für die Präferenzentscheidung 11. Der Satz vom ausgeschlossenen (Norm-)Widerspruch ist nur die Erklärung, warum eine Auflösung überhaupt erfolgen muß.
3. Sonstige Auflösungsgründe? Über das formal-logische Gebot des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch hinaus besteht kein Grund, Konkurrenzlagen zugunsten der einen oder anderen Grundrechtsnorm aufzulösen. Auch die Durchsetzung der um das Rechtsstaatsprinzip gescharten Bindungsprinzipien des Art. 20 Abs. 3 8 Anders aber ausdrücklich Β leckmann/Wiethoff, DÖV 1991, 722 (723).; zu Recht kritisch Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1394; Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, S. 417. 9 Statt vieler Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1377. 10 BVerfGE 36, 321 (330); 77, 308 (332). 11 Anders Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (52f.), der den Rechtsfolgenwiderspruch bereits als Voraussetzung einer Konkurrenzlage ansieht; siehe auch oben S. 50 f.
136
E. Allgemeine Konkurrenzdogmatik der Grundrechtsnormen
GG bildet keinen zusätzlichen material-rechtlichen Grund 12 . Konditional strukturierte Normen können durch den Normverpflichteten nur dann befolgt werden, wenn sie widerspruchsfrei sind. Dies gilt wie für alle Normen auch für die in der Verfassung niedergelegten Rechtssätze. Adressat der verfassungsrechtlichen Gebote ist der Staat. Folglich ist der Staat auch nur dann über die Bindungsnormen der Art. 20 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 3 GG verpflichtet, wenn die Verfassungsnormen widerspruchsfrei sind. Damit wird die Widerspruchsfreiheit der Verfassungsnormen zwar zur unbedingten Funktionsvoraussetzung der Bindungsprinzipien 13 , ein zusätzlicher Grund für die Auflösungsbedürftigkeit rechtfolgendivergenter Grundrechtsnormen folgt daraus aber nicht.
II. Verfahren der Konkurrenzauflösung 1. Konkurrenzlösende Verfassungsnormen und -aussagen? a) Grundrechtsbezogene
Regelungen
Der erste Abschnitt des Grundgesetzes enthält neben den Grundrechtsbestimmungen organisationsrechtliche Normen, aber auch Normen, die in engem Zusammenhang mit den Grundrechten stehen und auf diese Bezug nehmen. Zur letzten Gruppe zählen die externen Begrenzungsregelungen der Grundrechtsnormen (sog. Schranken-Schranken), die in Art. 19 Abs. 1 und 2 GG normiert sind, sowie die generell geltende Adressatenregelung des Art. 1 Abs. 3 GG und die Regelung über die Grundrechtsberechtigung von Personenmehrheiten, Art. 19 Abs. 3 GG. Diese Normen sind bloße unselbständige Hilfsnormen, die als allgemeine, vor die Klammer gezogene Regelungen für jede Grundrechtsnorm gelten und damit strukturell als Teile dieser Normen zu qualifizieren sind. Weitere auf die Grundrechte bezogene Bestimmungen finden sich im Grundgesetz noch an zwei anderen Stellen. Gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG wird die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für Verfassungsbeschwerden über die Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten durch die öffentliche Gewalt begründet, und Art. 142 GG bestimmt, daß die Landesgrundrechte neben den Bundesgrundrechten gelten, sofern sie mit den Bundesgrundrechten in Übereinstimmung stehen. 12
Anders aber Fohmann, Konkurrenzen und Kollisionen im Verfassungsrecht, S. 46f.; ders., EuGRZ 1985, 49 (50). 13 Insoweit zutreffend Fohmann, Konkurrenzen und Kollisionen im Verfassungsrecht, S. 47.
II. Verfahren der Konkurrenzauflösung
137
Normen, die auf Konkurrenzlagen von Grundrechten innerhalb des Grundgesetzes Bezug nehmen, bzw. Vorrangregelungen in den Grundrechtsnormen selbst, sind dagegen nicht zu erkennen. Möglicherweise lassen sich aber den bereits genannten grundrechtsorientierten Hilfsnormen neben ihrer primären Zielrichtung auch konkurrenzdogmatisch verwertbare Gehalte abgewinnen. b) Bindungsklausel, Art. 1 Abs. 3 GG Art. 1 Abs. 3 GG legt fest, daß die Grundrechte - und darüber hinaus die grundrechtsgleichen Rechte - die Staatsgewalt als unmittelbar geltendes Recht binden. Auch wenn sich im einzelnen Probleme im Rahmen der Auslegung der aufgezählten Staatsfunktionen ergeben können 14 , zeigt die Textanalyse, daß die gesamte öffentliche Gewalt, sofern sie vom Staat abgeleitet wird, durch Art. 1 Abs. 3 GG grundrechtsverpflichtet ist 1 5 . Art. 1 Abs. 3 GG begründet also die institutionelle Bindung der Hoheitsträger. Darin erschöpft sich aber der normative Gehalt dieser Grundgesetzbestimmung. Für weitergehende Interpretationen der Regelungswirkung läßt der Wortlaut keinen Raum. Art. 1 Abs. 3 GG sagt beispielsweise nichts darüber aus, welche Handlungsformen als Grundrechtsbeeinträchtigungen zu werten sind. Insbesondere liefert die Vorschrift keinen Anhaltspunkt dafür, welche nicht zielgerichteten, mittelbaren oder tatsächlichen Eingriffe Grundrechtsrelevanz besitzen und dem jeweiligen Hoheitsträger im Rahmen der Bindung zuzurechnen sind 1 6 . Der Tatbestand ist allein institutions-, nicht aber sachbezogen. Auch für die Konkurrenzdogmatik ist die Norm unergiebig. Die Staatsgewalt ist über Art. 1 Abs. 3 GG allgemein an die ... Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden. Eine Konkretisierung, welches Grundrecht im Falle eines Widerspruchs zwischen den Grundrechtsnormen anwendbar sein soll, fehlt. Allerdings läßt sich aus der Absolutheit der Bindungsklausel zumindest ein Indiz für die Notwendigkeit konkurrenzauflösender Präferenzentscheidungen entnehmen. Da die Grundrechte ihre Bindungskraft nur dann entfalten können, wenn die Sollensanordnungen widerspruchsfrei sind, bedeutet dies, daß widerspruchsbehaftete Konkurrenzsituationen aufgelöst werden müssen, um die Folge der Unanwendbarkeit beider beteiligter Normen und das Auftreten einer Lücke zu vermeiden. Die Regelung des Art. 1 Abs. 3 14
Vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. I I I / l , S. 1203. Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 1 Rdnr. 77; Rüfner, HbdStR V, § 117 Rdnr. 1. 16 So ausdrücklich Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Rdnr. 50; vorsichtiger Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 1205 f. 15
138
E. Allgemeine Konkurrenzdogmatik der Grundrechtsnormen
GG weist demnach verstärkt auf das aus dem Satz vom ausgeschlossenen Normwiderspruch folgende, logisch zwingende Postulat zur Auflösung von Konkurrenzlagen bei potentieller Widerspruchsfähigkeit der Grundrechtsnormen hin. c) Wesensgehaltsgarantie,
Art. 19 Abs. 2 GG
aa) Sicherungswirkung Ein wenig ertragreicher für die Konkurrenzdogmatik ist die Analyse der in Art. 19 Abs. 2 GG geregelten Wesensgehaltsgarantie der Grundrechte. Auch ohne an dieser Stelle auf die umfangreich geführte Diskussion über den Wesensgehalt der Grundrechte einzugehen, lassen sich bezüglich der Ausstrahlungswirkung dieser Norm auf das Grundrechtssystem einige konkurrenzdogmatisch verwertbare Aussagen treffen. Der Sicherungsmechanismus des Art. 19 Abs. 2 GG ist als Beschränkung der Beschränkungsmöglichkeiten konstruiert. Vordergründig richtet sich die Norm also an den Gesetzgeber als den zur Ausfüllung und Anwendung der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte bestimmten Teil der Staatsgewalt. Durch Art. 19 Abs. 2 GG wird damit trotz der gesetzgeberischen Möglichkeiten zur Grundrechtsbeschränkung ein Mindestmaß grundrechtlichen Schutzes gewährleistet. Schutzgegenstand des Art. 19 Abs. 2 GG sind anerkanntermaßen die Grundrechtsnormen in ihrem objektiv-rechtlichen Bestand 17 . Als Teile der objektiven Rechtsordnung stellen die Grundrechtsnormen die positivierte Grundlage der subjektiven Grundrechte dar. Die Wesensgehaltsgarantie verhindert nun, daß der Gesetzgeber über die Begrenzungsregelungen die Freiheitsgehalte der Grundrechte vernichtet und ihre gesellschaftliche Gesamtbedeutung annulliert 18 . Die Grundrechte werden durch Art. 19 Abs. 2 GG davor geschützt, über die Anwendung der Gesetzesvorbehalte ausgehöhlt und ihrer praktischen Bedeutung beraubt zu werden.
bb) Sperrwirkung bei Eingriff in den Wesensgehalt Diese besondere Sicherungsfunktion der Wesensgehaltsgarantie gilt es nun auch in konkurrenzdogmatischer Hinsicht zu beachten. Liegt eine Beeinträchtigung des Wesensgehalts eines der konkurrierenden Grundrechte vor, ergibt sich eine konkurrenzdogmatisch sehr interessante Situation. Die Formulierung des Art. 19 Abs. 2 GG muß in ihrer eindeutigen Aussage „In 17
Krüger, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 19 Rdnr. 34; Jäckel, Grundrechtsgeltung und Grundrechtssicherung, S. 57ff. m.w.Nw. 18 Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 19 II Rdnr. 9.
II. Verfahren der Konkurrenzauflösung
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keinem Falle darf ... angetastet werden" auch insofern als zwingend angesehen werden, als daß eine Rechtfertigung keinesfalls - auch nicht durch die konkurrierende Norm - erfolgen kann. Demnach ist immer dann, wenn der Wesensgehalts eines Grundrechts verletzt ist, eine Rechtfertigung des Eingriffs durch konkurrierende Grundrechte nicht möglich. Das insoweit verletzte Grundrecht setzt sich in der Konkurrenzrelation durch und „sperrt" die parallel anwendbaren Grundrechtsnormen 19. Denn die Auflösung einer Konkurrenzlage zwischen Grundrechtsnormen darf nicht dazu führen, daß die letzte Bastion der Grundrechtsgeltung, die Wesensgehaltsgarantie, umgangen und damit wirkungslos wird 2 0 . Freilich kann die These von der Sperrwirkung des Wesensgehaltseingriffs nur dann aufrechterhalten werden, wenn der Wesensgehalt als absolute Größe verstanden wird. Ein relativer Wesensgehaltsbegriff, der sich auf die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes beschränkt, würde nicht genügen, um eine derartig weitgehende Wirkung zu begründen. Die Verhältnismäßigkeit als Abwägung kollidierender Rechtsgüter ist jeweils auf das einzelne Grundrecht bzw. dessen jeweiligen Schutzgegenstand bezogen. Ließe man eine Sperrwirkung zu, würde dies zu einem absoluten Gebot der Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes führen. Damit wäre aber jede Konkurrenzdogmatik überflüssig, da sich immer diejenige Grundrechtsnorm durchsetzen müßte, die wegen Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgebots ein Abwehrrecht gewährt. Allerdings ist die Sperrwirkung des Wesensgehaltseingriffs eine rein theoretische Konstellation und praktisch kaum relevant. Angesichts des Schattendaseins, welches Art. 19 Abs. 2 GG bisher in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung führt, und angesichts des immer noch schwelenden Streits um den Inhalt und die Bestimmung der grundrechtlichen Wesensgehalte ist nicht zu erwarten, daß die Sperrwirkung des Art. 19 Abs. 2 GG zukünftig in der gerichtlichen Praxis eine große Rolle spielen wird. d) Art. 142 GG Art. 142 GG ist neben Art. 31 GG die zweite wichtige kollisionsrechtliche Vorschrift des Grundgesetzes 21. Über ihren Wortlaut hinaus regelt die Verfassungsnorm das Kollisionsverhältnis zwischen den Grundrechten des Grundgesetzes und den Grundrechten der Landesverfassungen umfassend 22 . Sprachlich als Ausnahme zu dem in Art. 31 GG aufgestellten 19 20 21
Ebenso Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (58). Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (58). Zu Art. 31 GG bereits BVerfGE 36, 116 (135).
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E. Allgemeine Konkurrenzdogmatik der Grundrechtsnormen
Grundsatz des Vorranges der grundgesetzlichen Regelungen gefaßt, bestimmt Art. 142 GG, daß die Grundrechtsnormen der Landesverfassungen ihre Gültigkeit nicht verlieren, wenn sie „in Übereinstimmung mit den Artikel ... dieses Grundgesetzes Grundrechte gewährleisten". Art. 142 GG ist also dem Wortlaut nach eine lex specialis-Regelung gegenüber Art. 31 G G 2 3 . Ob die Norm allerdings tatsächlich etwas von Art. 31 GG Abweichendes regelt, hängt wesentlich von der Interpretation der letzteren Verfassungsbestimmung ab. Hier stehen sich zwei Auffassungen gegenüber. Nach einer Ansicht soll Art. 31 GG generell für alle bundesverfassungsrechtlichen Bestimmungen gelten, also auch für inhaltsgleiche Normen. Nach anderer Ansicht regelt die Kollisionsnorm nur Fälle entgegenstehenden Landesverfassungsrechts. Versteht man Art. 31 GG als eine umfassende, auch für inhaltsgleiche landes(grund)rechtliche Normen geltende Regelung 24 , stellt Art. 142 GG eine konstitutive Ausnahmeregel für grundrechtsgewährende Verfassungsnormen auf 2 5 . Erfaßt der Regelungsbereich des Art. 31 GG hingegen nur die Fälle entgegenstehenden Landes Verfassungsrechts 26, bleibt für Art. 142 GG kein eigenständiger Anwendungsfall 27 . Kollidierende landesverfassungsrechtliche Grundrechtsnormen würden dann bereits durch die Regelungswirkung des Art. 31 GG verdrängt werden, während übereinstimmende Grundrechtsbestimmungen auch ohne Art. 142 GG nebeneinander bestehen blieben. Problematisch ist es allerdings, Art. 142 GG bei letzterer Auslegung des Art. 31 GG lediglich deklaratorische Bedeutung beizumessen 28 . Unabhängig vom Normgehalt des Art. 31 GG ist Art. 142 GG selbstverständlich normativ verbindlich 29 . Auch dann, wenn eine tatbestandlich 22
BVerfGE 22, 267 (271); Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 142 Rdnr. 2; Pietzcker, HbdStR IV, § 99 Rdnr. 42; v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, Art. 142 Rdnr. 10; Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1460ff. 23 v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, Art. 142 Rdnr. 4; Huber, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 142 Rdnr. 2; Dietlein, Jura 1994, 57 (58). 24 So bereits die h.M. zu Art. 13 WRV. Nw. bei Sachs, DÖV 1985,469 (470 Fn. 15). 25 Stein, in: Zinn/Stein, Verfassung des Landes Hessen, Vor Art. 1, VII 1, 7. Aus der neueren Literatur insbesondere Huber, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 142 Rdnr. 2. 26 Grundlegend BVerfGE 36, 342 (363). 27 Sachs, DÖV 1985, 469 (470); Pietzcker, HbdStR IV, § 99 Rdnr. 39; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 142 Rdnr. 1. Vorsichtiger v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, Art. 142 Rdnr. 17: „... erscheint Art. 142 als selbständige Norm überflüssig ...". 28 So aber die Schlußfolgerung von Huber, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 142 Rdnr. 1, der u.a. deshalb die entgegenstehende Ansicht vertritt. 29 Zutreffend Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1464.
II. Verfahren der Konkurrenzauflösung
141
enger gefaßte Norm mit der allgemeineren Norm rechtfolgenidentisch ist, bleibt die spezielle Regelung gültiges und anwendbares Recht 30 . Deshalb ist der Streit an dieser Stelle nicht von Interesse, da lediglich untersucht werden soll, welche konkurrenzdogmatisch verwertbaren Aussagen Art. 142 GG abzugewinnen sind. Obwohl die Diskussion um die Interpretation des Art. 142 GG längst nicht beendet ist, können einige Erkenntnisse als gesichert gelten. Die historische Exegese wie auch die teleologische Auslegung sprechen dafür, daß der Verfassungsgeber mit der Einfügung dieser Norm bewußt eine Entscheidung zugunsten eines weiten, auch über die Gewährleistungen des Grundgesetzes hinausgehenden Grundrechtsschutzes getroffen hat 3 1 . Im Ergebnis besteht in Rechtsprechung und Literatur deshalb weitgehend Einigkeit, daß jedenfalls Landesgrundrechte, die einen weitergehenden oder zumindest identischen Schutz gewähren, neben den Bundesgrundrechten in Kraft bleiben 32 . Dies betrifft sowohl die Grundrechte, deren Tatbestände in sachlicher oder personeller Hinsicht weiter sind 3 3 , als auch die Grundrechte, deren Einschränkungsmöglichkeiten gegenüber denen des Bundesgrundrechts weniger stark ausgeprägt sind 3 4 . Auch wenn es zwischen den konkreten Entscheidungs(grundrechts)normen aufgrund der unterschiedlichen Beschränkungsregelungen genauso wie zwischen konkurrierenden Bundesgrundrechten zu einem positiven Schutzumfangskonflikt kommen kann, führt diese Art des Widerspruchs nicht zur Nichtigkeit nach Art. 31 GG. Dies ist der spezielle Regelungsgehalt des Art. 142 GG. Nur im Falle des Widerspruchs mit Normen des Grundgesetzes, der in der Form eines Zielkonfliktes auftritt - wie zum Beispiel bei der (fiktiven) Normierung eines Grundrechts auf Abtreibung durch eine Landesverfassung - , bleibt es bei der Rechtsfolge des Art. 31 GG. Aber selbst dann setzt die Derogationswirkung nur ein, wenn der Widerspruch (Zielkonflikt) nicht durch bundesrechtskonforme Auslegung des entsprechenden Landesgrundrechts vermieden werden kann. 30
Vgl. auch oben S. 36ff. Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1455; Sachs, DÖV 1985, 469 (478). 32 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, § 142 Rdnr. 3; v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, Art. 142 Rdnr. 7; differenzierend Huber, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 142 Rdnr. 9; a.A. Quaritsch, HbdStR V, § 120 Rdnr. 7 ff. 33 Für den überschießenden Schutzbereich des Landesgrundrechts fehlt es bereits an einer Kollision zwischen den Grundrechtsnormen; Sachs, DÖV 1985, 469 (475); Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1474. I.E. ebenso HessStGH JZ 1982, 463 (464); v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, Art. 142 Rdnr. 7. 34 Pietzcker, HbdStR IV, § 99 Rdnr. 45; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, § 142 Rdnr. 3; a.A. Quaritsch, HbdStR V, § 120 Rdnr. 7ff. 31
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E. Allgemeine Konkurrenzdogmatik der Grundrechtsnormen
Heftig umstritten ist, ob Landesgrundrechte, die in ihrem Gewährleistungsumfang hinter dem Grundgesetz zurückbleiben (negativer Schutzumfangskonflikt), wegen dieser Abweichung gem. Art. 31 GG verdrängt werden. Die Entstehungsgeschichte des Art. 142 GG stützt offenbar eine solche Interpretation, sollte doch nach dem Willen der Abgeordneten des Parlamentarischen Rates Art. 142 GG in seiner heutigen Fassung gerade Mißverständnisse über die Nichtigkeit zurückbleibender Landesgrundrechte vermeiden 35 . Auch Sinn und Zweck der Vorschrift sprechen dafür. Der Grundrechtskatalog des Grundgesetzes postuliert einen grundrechtlichen Mindeststandard, der folglich auch durch Landesgrundrechte nicht unterlaufen werden darf 3 6 . Privilegierungen zugunsten der staatlichen Gewalt der Länder sollen gerade ausgeschlossen werden. Demnach bewahrt Art. 142 GG nur die Geltungskraft solcher Landesgrundrechte, die diesem Mindeststandard genügen 37 . Besteht hingegen zwischen Landes- und Bundesgrundrecht ein Widerspruch in Form eines negativen Schutzumfangskonflikts, wird die Derogationswirkung des Art. 31 GG ausgelöst. Ein solcher Schutzumfangskonflikt besteht allerdings entgegen verbreiteter Ansicht nicht schon dann, wenn das Landesgrundrecht lediglich tatbestandlich enger gefaßt ist 3 8 . Denn im Überdeckungsbereich der Tatbestände ist die Normanordnung identisch. Das Landesgrundrecht gewährt ebensoviel wie das Bundesgrundrecht. Für den tatbestandlich überschießenden Teil aber, der nur durch das Bundesgrundrecht gewährleistet wird, fehlt es an einer Kollisionslage, da das Landesgrundrecht tatbestandlich gar nicht aktualisiert ist. Insofern ist diese Situation nicht anders zu bewerten, als wenn das Landesrecht überhaupt keine Regelung für den fraglichen Bereich getroffen hätte. Das Landesgrundrecht bleibt in Kraft. Auch wertungsmäßig ist hier der Gegenansicht zuzustimmen. Ein geringerer landesrechtlicher Grundrechtsstandard ist immer noch besser als gar keiner 39 . 35
Parl.Rat-HA, Stenographische Berichte, S. 765; siehe auch JöR 1 (1951), 1
(912). 36
Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 142 Rdnr. 14; v. Campenhausen, in: v. Mangold/Klein/v. Campenhausen, Art. 142 Rdnr. 9; v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, Art. 142 Rdnr. 9; Jutzi, DÖV 1983, 836 (838); Dietlein, Jura 1994, 57 (60); Denninger, Alternativkommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, Art. 142 Rdnr. 7; Stein, in: Zinn/Stein, Verfassung des Landes Hessen, Vor Art. 1, VII 7; ausführlich Rozek, Das Grundgesetz als Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte, S. 202 ff., 206; a.A. Huber, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 142 Rdnr. 10; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 142 Rdnr. 3; Pitzcker, HbdStR IV, § 99 Rdnr. 45 ff.; neuerdings auch BVerfGE 96, 345 (365); siehe dazu die zustimmende Anmerkung von Hain, JZ 1998, 615 (622). 37 Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1476. 38 Vgl. nur Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 142 Rdnr. 13 f.
II. Verfahren der Konkurrenzauflösung
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Ein Widerspruch zwischen den Rechtsfolgen kann sich aber dann ergeben, wenn die Grundrechtsnorm der Landesverfassung eine weitergehende Begrenzungsregelung enthält, als ihr grundgesetzliches Pendant. Hier kann u.U. die per Landesverfassung gebundene Staatsgewalt in höherem Maße in den grundrechtlich geschützten Bereich eingreifen, als dies von der Bundesverfassung vorgesehen ist. Der Widerspruch besteht dann nicht nur zwischen dem das Landesgrundrecht beschränkenden Gesetz und dem bundesrechtlichen Grundrecht, sondern auch zwischen den Normaussagen der beiden Grundrechtsbestimmungen 40. Begründet eine Grundrechtsnorm ein Abwehrrecht und versagt eine andere dieses, besteht eben keine Übereinstimmung. Der negative Schutzumfangskonflikt wird also nicht von der Sonderregelung des Art. 142 GG erfaßt, sondern unterfällt der allgemeinen Kollisionsregel des Art. 31 GG. Auch wenn der unglücklich gewählte Wortlaut des Art. 142 GG sicherlich anderweitige Interpretationen zuläßt, dürfte der Normgehalt damit zutreffend beschrieben sein. Für die Konkurrenzdogmatik der Bundesgrundrechte lassen sich aus Art. 142 GG zwei Dinge ableiten. Erstens: Das Grundgesetz gesteht entgegen Art. 31 GG allgemein jedem Grundrecht, auch wenn es nur durch eine im Rang unterhalb des Grundgesetzes stehende Landesverfassung garantiert wird, eigene normative Geltungskraft zu, solange dieses Grundrecht ein „Mehr" an Freiheitsverbürgung enthält als das grundrechtliche System. Damit wird, wie auch durch andere Passagen der Verfassung, die besondere Bedeutung der Grundrechtsbestimmungen gegenüber „einfachen" Verfassungsnormen deutlich. Gleichzeitig tritt aber auch die Entscheidung der Verfassung für eine möglichst umfassende Grundrechtsgarantie zutage. Das Ziel, einen maximalen grundrechtlichen Schutz zu erreichen, muß deshalb als Leitlinie nicht nur der Grundrechts-, sondern jeder Verfassungsinterpretation mit Grundrechtsbezug angesehen werden. Zweitens: Der Parlamentarische Rat hielt offenbar das Verhältnis der Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes zueinander für nicht regelungsbedürftig, so daß eine verfassungsrechtliche Normierung der Konkurrenzrelationen - ähnlich Art. 142 GG - unterblieb. Dies bedeutet, daß für die Konkurrenzen der grundgesetzlichen Grundrechtsnormen die allgemeinen, konkurrenzdogmatischen Regeln gelten. Im übrigen wird diese Schlußfolgerung auch durch die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes gestützt. In den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates wurde mehrfach darauf hingewiesen, daß sich die allgemeine 39 So etwas plakativ, aber treffend Huber, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 142 Rdnr. 10; i.E. auch Bleckmann, Staatsrecht II, Rdnr. 14f. 40 Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 142 Rdnr. 16; dagegen Sachs, DÖV 1985, 469 (478).
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E. Allgemeine Konkurrenzdogmatik der Grundrechtsnormen
Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG zu den nachfolgenden Freiheitsrechten in weitem Umfang wie lex generalis zu lex specialis verhalte 41 . Dieser Hinweis kann zweifelsohne als Indiz dafür gewertet werden, daß der historische Verfassungsgeber von der Anwendbarkeit des lex specialisSatzes für die Grundrechtsnormen ausgegangen ist. In der Zusammenschau mit These 1 bedeutet dies aber auch, daß immer dann, wenn kein Spezialitätsverhältnis zwischen den Grundrechten feststellbar ist, jedes einzelne Grundrecht seine volle Geltungskraft entfalten können muß. D.h. beide Grundrechtsnormen müssen tatbestandlich ideal konkurrieren. In bezug auf die Rechtsfolge muß allerdings dann dasjenige Grundrecht maßgeblich sein, daß im Einzelfall tatsächlich abwehrrechtlichen Schutz gewährt. Die maximale Wirkkraft der Abwehrrechte kann sich nur dann entfalten, wenn sich in Konkurrenzfällen das im Einzelfall stärkste Grundrecht durchsetzt.
2. Konkurrenzauflösung nach allgemeinen Regeln a) Normlogische Spezialität aa) Eingliedrige Schutzgegenstände Besteht zwischen gleichrangigen Normen ein Verhältnis normlogischer Spezialität, verdrängt bei Auflösung des Konkurrenzverhältnisses die spezielle Norm in der Regel die allgemeine. Dieser empirisch begründete Auslegungserfahrungssatz hat seine Bedeutung insbesondere für die Konkurrenzverhältnisse rechtsfolgendifferenter Grundrechtsnormen. Bei der Feststellung normlogischer Spezialitätsverhältnisse zwischen Normen mit eingliedrigen Schutzgegenständen42 sind keine Besonderheiten zu beachten. Strukturell lassen sich Grundrechtsnormen als Bedingungsnormsätze darstellen. Sie bestehen aus dem Tatbestand in sachlicher und in personeller Hinsicht, der geschriebenen oder ungeschriebenen Begrenzungsregelung und der abwehrrechtlichen Rechtsfolge. Entscheidend für die Qualifizierung als spezielle und generelle Regelung ist allein der sachliche Tatbestand. Überschneiden sich die Tatbestände dergestalt, daß alle konkret denkbaren Anwendungsfälle der einen Norm zugleich auch unter den Tatbestand der anderen Norm subsumierbar sind, ist die erste Norm speziell. Der Tatbestand einer abwehrrechtlichen Grundrechtsnorm beschreibt den konkreten Gegenstand, der durch das Grundrecht geschützt werden soll. Für das normlogische Spezialitätsverhältnis bedeutet dies, daß eine Abwehrrechtsnorm (A) dann speziell ist, wenn sich ihr Schutzgegenstand als Teil41 42
So ausdrücklich v. Mangoldt, JöR 1 (1951), 1 (75, 144). Dazu oben S. 121 f.
II. Verfahren der Konkurrenzauflösung
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bereich, Ausschnitt oder Element des Schutzgegenstands der zweiten Norm (B) beschreiben läßt. Gewähren beide Tatbestände Verhaltensfreiheiten, müssen die geschützten Verhaltensweisen der Norm A zugleich durch Norm Β garantiert werden. Sind die Schutzgegenstände als verliehene Rechtspositionen ausgestaltet, muß Schutzgegenstand Β im Verhältnis zu Schutzgegenstand A den Oberbegriff bilden. Ob dies tatsächlich der Fall ist, kann nur mittels Auslegung analysiert werden. Allerdings ist die tatbestandliche Überdeckung zwangsläufig auf gleichartige Schutzgegenstände beschränkt. Garantiert Grundrecht A eine Verhaltensfreiheit, Grundrecht Β hingegen eine natürliche oder verliehene Rechtsposition, kann aufgrund der strukturellen Verschiedenheit kein Inklusionsverhältnis bestehen. Treffen beispielsweise Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, und Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, die Freiheit der Person, tatbestandlich aufeinander - etwa bei einer Folterhaft - , stehen sich als Schutzobjekte die körperliche Integrität als natürliche Eigenschaft des Grundrechtsträgers und die Freiheit, sich körperlich ungehindert zu bewegen, gegenüber. Die Integrität der Person zählt zu den ureigensten Gütern des Menschen. Sie haftet ihm - wie alle anderen natürlich gegebenen Eigenschaften - spätestens mit Vollendung der Geburt an und ist nicht an den Willen oder an Willensentscheidungen gebunden. Gleiches gilt für die grundgesetzlich verliehenen Rechtspositionen, allerdings mit dem Unterschied, daß diese erst von Verfassungs wegen den Grundrechtsträgern als Rechtsgüter zugeordnet werden. Verhaltensfreiheiten hingegen schützen gerade die autonome Entschließungsfreiheit, dies oder jenes zu tun oder zu unterlassen. Sie knüpfen an die Fähigkeit des Menschen an, sich selbst als willensgelenktes Wesen zu bestimmen. Diese Unterschiede verbieten es, tatbestandliche Inklusionsverhältnisse zwischen den unterschiedlichen Schutzgegenstandstypen zu konstruieren. Normlogische Spezialitätsverhältnisse sind nur dann möglich, wenn die jeweiligen Tatbestände Schutzgegenstände beschreiben, die systematisch derselben Kategorie zugehörig sind. bb) Mehrgliedrige Schutzgegenstände Normlogische Spezialitätsverhältnisse sind nicht auf Grundrechtsnormen mit eingliedrigen Schutzgegenständen beschränkt. Grundsätzlich gilt auch für mehrgliedrig ausgestaltete Gewährleistungsgehalte die Vermutungswirkung der Normlogik. Allerdings sind die unterschiedlichen Erscheinungsformen zu berücksichtigen. Läßt sich aus einer Grundrechtsvorschrift eine abwehrrechtsbegründende Norm ableiten, deren sachlicher Gewährleistungsbereich dem Wortlaut nach mehr als einen Schutzgegenstand beschreibt, ist zunächst festzustellen, welcher der einzelnen Teilgehalte sachlich betroffen 10 Heß
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E. Allgemeine Konkurrenzdogmatik der Grundrechtsnormen
ist. Danach ist zu differenzieren: Steht der einschlägige Teilschutzgegenstand in echter Schutzgegenstandsmehrheit zu den weiteren Verbürgungen, kann das Verhältnis zum Schutzgegenstand des konkurrierenden Grundrechts auf eine normlogische Spezialität hin untersucht werden. Aufgrund ihrer Selbständigkeit bilden diese Teilschutzgegenstände jeweils den Inhalt eigenständiger Abwehrrechte. In der Konkurrenzrelation sind sie daher so zu behandeln, als wären sie jeweils einzeln garantiert. Handelt es sich hingegen um eine nur scheinbare (unechte) Mehrheit von Schutzgegenständen, d.h. garantiert der sachliche Gewährleistungsgehalt tatsächlich nur einen Schutzgegenstand, ist allein diese Position konkurrenzdogmatisch ausschlaggebend. Zur Verdeutlichung läßt sich für den Schutzgegenstand des bereits oben kurz angesprochenen Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. HS GG folgendes Beispiel bilden. In einigen virtuellen Diskussionsräumen (newsgroups), die mittels eines Internet-Zugangs für jedermann erreichbar sind, werden u. a. Gespräche mit pornographischem bzw. rechtsradikalem Inhalt geführt. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, daß diese Gespräche gegen deutsches Strafrecht verstoßen und teilt ihre Erkenntnisse dem Betreiber des Online-Dienstes (Provider) mit. Dieser sperrt daraufhin den Zugang zu den besagten Gesprächsgruppen für alle Benutzer 43 . Grundrechtlich relevant ist zunächst Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. HS G G 4 4 . Durch das Verwehren des Zugangs zu den newsgroups kann der einzelne am Gespräch interessierte Teilnehmer zwar nach wie vor seine Meinung äußern, die Mitteilung wird aber mangels eines gemeinsamen Forums von den Gleichgesinnten nicht mehr empfangen. Betroffen ist also der Verbreitungserfolg der Meinungsäußerung. Da der Vernehmungserfolg und die Äußerung der Meinung aber nicht voneinander zu trennen sind 4 5 , muß im weiteren von einem einheitlichen Schutzgegenstand der Meinungsäußerungsfreiheit ausgegangen werden, nicht von einem selbständigen Teilschutzgegenstand des Verbreitungserfolgs. Tritt zu Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG noch Art. 4 Abs. 1, 2 GG hinzu, etwa dann, wenn religiös motivierte Gewaltverherrlichung dargestellt wird, ist das Konkurrenzverhältnis zwischen der einheitlichen Verhaltensfreiheit zur Meinungsäußerung und der Religionsausübungsfreiheit zu bestimmen.
43 Zum tatsächlichen Hintergrund dieses Falles, Der Spiegel v. 12.02.1996, S. 157 f. 44 Abgesehen von der Frage, ob die Mitteilung der Staatsanwaltschaft bereits eine Grundrechtsbeeinträchtigung darstellt. 45 Dazu bereits oben S. 123 f.
II. Verfahren der Konkurrenzauflösung
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cc) Eigentumsschutz durch normlogisch spezielle Grundrechtsnormen Ein normlogisches Spezialitätsverhältnis besteht beispielsweise zwischen der allgemeinen Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG und der dazu speziellen Regelung des Art. 140 GG i.V.m. Art. 138 Abs. 2 W R V 4 6 . Art. 138 Abs. 2 WRV gewährt über den inkorporierenden Art. 140 GG besonderen Schutz für alle Vermögenswerten Rechte der Religionsgemeinschaften, soweit sie religiösen Zwecken dienen 47 . Die Ähnlichkeit der Formulierung der VerfassungsVorschrift mit Art. 14 GG macht deutlich, daß den Religionsgesellschaften und religiösen Vereinen unmittelbar durch diese Vorschrift das Recht eingeräumt wird, Beeinträchtigungen durch den Staat abzuwehren 48 . Damit trägt die Regelung einen explizit subjektiv-rechtlichen Charakter, so daß einiges dafür spricht, Art. 138 Abs. 2 WRV zu den Grundrechten oder zumindest zu den grundrechtsgleichen Rechten zu zählen 49 . Tatbestandlich besteht zwischen den Verfassungsnormen ein klassisches Inklusionsverhältnis. Art. 138 Abs. 2 WRV schützt keine Rechte, die nicht bereits durch Art. 14 GG garantiert wären 50 . Allerdings beschränkt sich die Regelung der Weimarer Reichsverfassung nicht darauf, die Schutzwirkung der allgemeinen Eigentumsgarantie für das Kirchengut nochmals zu bekräftigen. Vielmehr besitzt die Norm eine eigenständige Regelungswirkung 51 . Im Gegensatz zur allgemeinen, funktionsunabhängigen Sicherung des Eigentums durch Art. 14 GG garantiert Art. 138 Abs. 2 WRV die Kirchen46
Ebenso Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 14 Rdnr. 155; Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 664f.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 4 Abs. 3 Rdnr. 137 a.E; Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 14 Abs. 1 Rdnr. 105; a.A. v. Campenhausen, in: v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 14, Art. 140 Art. 138 Abs. 2 WRV Rdnr. 30ff. 47 Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 140 Art. 138 WRV Rdnr. 6. 48 Hollerbach, HbdStR VI, § 139 Rdnr. 64. 49 Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 140 Art. 138 WRV Rdnr. 6; dem zuneigend auch Kästner, HbdStKirchR I, S. 904; a.A. BVerfGE 19, 129 (135), st.Rspr.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 140; offenbar ebenfalls ablehnend Hemmrich, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, Art. 140 Rdnr. 7. 50 Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 140 Art. 138 WRV Rdnr. 11. 51 Dagegen vermischen Heckel, in: Festgabe für Smend, S. 103 ff. und im Anschluß auch Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 140 Art. 138 WRV Rdnr. 10 die Analyse der Tatbestände und der Regelungswirkungen und verneinen deshalb eine tatbestandliche Überdeckung und folglich ein normlogisches Spezialitätverhältnis. 10*
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E. Allgemeine Konkurrenzdogmatik der Grundrechtsnormen
güter speziell in ihrer religionsbezogenen Funktion 52 . Das Kircheneigentum dient, und dies wird durch Art. 138 Abs. 2 WRV anerkannt, vor allem der Sicherung der materiellen Basis für das freie Wirken der Kirchen 5 3 . Insoweit geht Art. 138 Abs. 2 WRV über Art. 14 GG hinaus 54 . Dieser besondere Regelungsgehalt des Art. 138 Abs. 2 GG ist auf der Begrenzungsebene zu berücksichtigen. Die kirchlichen Eigentumsrechte werden nach dem Wortlaut vorbehaltlos garantiert. Folglich kann der Gewährleistungsgehalt nur durch kollidierendes Verfassungsrecht begrenzt werden. Für eine Übertragung der Begrenzungsregelung des Art. 137 Abs. 3 WRV - Begrenzung durch die für alle geltenden Gesetze - , wie sie von der überwiegenden Mehrheit in Rechtsprechung und Literatur vorgeschlagen wird 5 5 , findet sich keine tragfähige Begründung. Zwar ist es richtig, daß mit der besonderen Garantie des kirchlichen Eigentums das durch Art. 137 WRV gewährte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen ergänzt und gestärkt wird 5 6 . Die inhaltliche Nähe allein rechtfertigt jedoch keine Übertragung 57 . Sehr viel stärker als die Nähe zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht wirkt sich die Normativität des Art. 4 Abs. 1, 2 GG aus. Würde das Grundgesetz keine Regelung wie die des Art. 138 Abs. 2 WRV enthalten, wäre die Verfügungsgewalt über das Kircheneigentum, zumindest über das Eigentum an res sacrae (Kirchengebäude und kultische Gegenstände), durch den vorbehaltlos ausgestalteten Art. 4 Abs. 1, 2 GG geschützt 58 . Die Vorbehaltlosigkeit der Gewährleistung in Art. 138 Abs. 2 GG ist also kein redaktioneller Fehler bei der Eingliederung der Passagen der Weimarer Reichsverfassung ins Grundgesetz. Beeinträchtigungen des kirchlichen Eigentums sind nur durch kollidierende Verfassungsrechtssätze möglich. Allerdings ist, wie bereits erwähnt, innerhalb der verfassungsrechtlichen Güterabwägung die besondere Gewährleistungsrichtung des Art. 138 Abs. 2 52
Kästner, HbdStKirchR I, S. 894; Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 140 Art. 138 WRV Rdnr. 8. 53 Hollerbach, HbdStR VI, § 139 Rdnr. 64. 54 Hollerbach, HbdStR VI, § 139 Rdnr. 64. 55 Für eine Schrankenübertragung BVerwGE 87, 115 (124); Meyer, HbdStKirchR I, S. 916; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 140 Art. 138 WRV Rdnr. 3; Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 140 Art. 138 WRV Rdnr. 10; sowie Hemmrich, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, Art. 140 Rdnr. 39, letzterer allerdings ohne Begründung; a.A. v. Campenhausen, in: v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 14, Art. 140 Art. 138 Abs. 2 WRV Rdnr. 31. 56 Meyer, HbdStKirchR I, S. 916; Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 140 Art. 138 WRV Rdnr. 10. 57 Zu den Voraussetzungen einer Schrankenübertragung siehe oben S. 78 ff. 58 Kästner, HbdStKirchR I, S. 893 Fn. 11 unter Verweis auf BVerwG ZevKR 36 (1991) 56ff. (= E 87, 115ff.).
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WRV zu berücksichtigen. Der Grad abwehrrechtlichen Schutzes richtet sich abgestuft nach der Intensität der Funktionsbezogenheit59. D.h. je unbedeutender das jeweilige Objekt der Eigentumsrechte für die Religionsausübung ist, desto schwächer ist auch der Schutz des Art. 138 Abs. 2 WRV. A m stärksten geschützt werden res sacrae, am schwächsten ausgeprägt ist der Schutz für Verwaltungs- oder bloße Finanzvermögen 60 . b) Normative Spezialität Als zweites Spezialitätskonzept zur Lösung von Konkurrenzrelationen steht die normative Spezialität zur Verfügung 61 . Diese Art der Konkurrenzauflösung basiert ebenfalls auf einer Präferenzentscheidung zugunsten einer der konkurrierenden Normen. Auch hier folgt aus der Spezialität regelmäßig die alleinige Anwendbarkeit der speziellen Norm. Die Grundlage für die Vorrangentscheidung bildet, wie auch bei der normlogischen Spezialität, eine umfassende Auslegung der sachlichen Gewährleistungsgehalte, also die Analyse der sachlichen Tatbestände der beteiligten Normen. Läßt sich durch die textliche, systematische, teleologische oder historische Interpretation feststellen, daß eine der Normen in ihrem sachlichen Regelungsgehalt einen stärkeren Bezug zu dem zu regelnden Sachverhalt aufweist und eine für die rechtliche Beurteilung vorrangig zu beachtende Regelung trifft, ist diese Norm speziell und verdrängt die anderen. Die Feststellung, wann eine Grundrechtsnorm für einen bestimmten Sachverhalt eine solche Sonderregelung trifft, ist äußerst problematisch. Im Grunde liegt hier die Hauptschwierigkeit der grundrechtlichen Konkurrenzdogmatik. Trotz der Orientierung an den Gegebenheiten des Einzelfalls lassen sich dennoch einige allgemeine Grundsätze aufstellen, die allerdings für die Auslegung nur indizielle Bedeutung besitzen. aa) Konkurrenz unterschiedlicher Schutzgegenstandstypen Sollten sich in der Konkurrenzrelation Tatbestände gegenüberstehen, die typologisch unterschiedliche Schutzgegenstände garantieren, scheidet nicht 59 v. Campenhausen, in: v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 14, Art. 140 Art. 138 Abs. 2 WRV Rdnr. 31. 60 v. Campenhausen, in: v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 14, Art. 140 Art. 138 Abs. 2 WRV Rdnr. 32 f. Nach anderer Ansicht sollen die beiden letztgenannten Positionen nicht mehr vom Tatbestand erfaßt werden, sondern allein dem Anwendungsbereich des Art. 14 GG unterfallen, Preuß, Altemativkommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, Art. 140 Rdnr. 67; Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 140 Art. 138 WRV Rdnr. 8. 61 Allgemein dazu oben S. 35, 62f.
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nur ein normlogisches, sondern in aller Regel auch ein normatives Spezialitätsverhältnis aus. Dies folgt aus der substantiell unterschiedlichen Gewährleistungsrichtung der entstehenden Abwehrrechte und betrifft somit im besonderen Konkurrenzlagen unter Beteiligung einer Verhaltensfreiheit einerseits und einer natürlichen oder verliehenen Rechtsposition andererseits. So läßt sich etwa das Verhältnis zwischen Schutzgegenständen, die zu den Elementen der natürlichen Persönlichkeit zählen, und den Schutzgegenständen, die einzelne menschliche Freiheiten garantieren als Verhältnis von Fundamentalrecht und einfachem Verhaltensrecht beschreiben 62. Am deutlichsten wird dieser Zusammenhang beim Zusammentreffen des Rechts auf Leib und Leben einerseits und einem Verhaltensfreiheitsrecht andererseits. Das Lebensrecht und das Recht auf körperliche Integrität bilden das materielle Zentrum der Persönlichkeitsrechte 63. Insbesondere dem Recht auf Leben kommt ein besonderer Rang zu. Es handelt sich um einen Höchstwert der Verfassung 64. Da nur ein in seinem Lebensrecht geschützter Mensch in der Lage ist, sich wirklich frei zu entfalten, ist dieses Recht zugleich die wichtigste Voraussetzung für jeden weiteren Freiheitsgebrauch 65. Es ist der Freiheit in gewisser Weise vorgelagert. Ohne die Garantie dieser Persönlichkeitselemente bestünde die Gefahr des Leerlaufens der einzelnen Freiheitsgewährungen. Dennoch läßt sich kein Vorrangverhältnis zwischen den Schutzgegenständen begründen. Auch wenn durch die inhaltliche, unmittelbar in der Verfassung angelegte enge Verknüpfung zwischen dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und den Freiheitsverbürgungen tatbestandliche Überschneidungen recht häufig sind, konsumiert die Fundamentalgarantie die Verhaltensgarantie nicht. Während Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, wie auch alle anderen auf natürlichen Eigenschaften basierenden Abwehrrechte, einen statischen Bestandsschutz garantiert, schützen die Verhaltensfreiheitsrechte die dynamische Entwicklungsmöglichkeit in bestimmten Bereichen. Diese Freiheitsrechte sind keine Sicherungsinstrumente für die Beibehaltung eines naturgegebenen status quo, sondern sie zielen auf den Schutz der Entfaltungsmöglichkeiten, die der Mensch zwar kraft seiner natürlichen Eigenschaften besitzt, die er aber in selbstbestimmter Weise auch nutzen muß. Ein Zusammentreffen von abwehrrechtlichen Gewährleistungstatbeständen 62
Nach Bleckmann/Wiethoff, DÖV 1991, 722 (728 f.) können gewisse Schutzgegenstände materielle (personelle, sachliche, finanzielle) Mittel für die Ausübung anderer Handlungsfreiheiten sein. Allerdings erfolgt kein Vorschlag, wie sich diese Differenzierung auf die Konkurrenzsituation auswirken soll. 63 Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. I I I / l , S. 644. 64 BVerfGE 49, 24 (53); Lorenz, HbdStR VI, § 128 Rdnr. 5. 65 BVerfGE 39, 1 (42); Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 69.
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mit solch unterschiedlicher Gewährleistungsrichtung schließt es daher nahezu aus, daß durch eine der beteiligten Normen eine vorrangig zu berücksichtigende Spezialregelung getroffen wird. Folglich bleibt in diesen Fällen nur die parallele Anwendbarkeit der konkurrierenden Grundrechtsnormen 66 . Auf das bereits oben angesprochene Beispiel der Folterhaft übertragen, bedeutet dies, daß sich die tatbestandlich einschlägigen Grundrechte der Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, Recht auf Leben und körperliche Integrität, und Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, Freiheit der Person, auch nicht wegen eines normativen Spezialitätsverhältnisses gegenseitig ausschließen, sondern nebeneinander den Maßstab für die Rechtmäßigkeit des staatlichen Handelns bilden. Nichts anderes gilt prinzipiell für die individualrechtliche Garantie der Menschenwürde durch Art. 1 Abs. 1 GG 6 7 . Die Menschenwürde wird durch das Grundgesetz nicht verliehen, sondern als Rechtsgut rezipiert und zu einem fundamentalen Bestandteil der verfassungsmäßigen Grundordnung gemacht 68 . Systematisch gehört die Menschenwürde als Schutzgegenstand des Art. 1 Abs. 1 GG deshalb ebenso zu den Elementen der natürlichen Persönlichkeit wie Leben, Gesundheit und allgemeines Persönlichkeitsrecht 69 . Wie die Gewähr des Lebensrechts geht die Achtung der menschlichen Eigenständigkeit und des menschlichen Eigenwertes durch die Staatsgewalt der unbeschadeten Ausübung einzelner Handlungsfreiheiten voraus. Im Gebrauch der individuellen Freiheit schwingt immer ein Stück tatsächlicher Verwirklichung der Menschenwürdegarantie mit. Gewissermaßen wird, wie das Bundesverfassungsgericht treffend formuliert hat, die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Menschen nur um seiner Würde willen 66
Dieser systematische Unterschied wird vom Bundesverfassungsgericht regelmäßig nicht beachtet. Vgl. nur BVerfG (Kammer) NVwZ 1999, 290 (292): Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gehe als spezielleres Grundrecht Art. 2 Abs. 1 GG vor. 67 Die heute ganz herrschende Ansicht geht von der Grundrechtsqualität der Menschenwürdegarantie aus, siehe Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 24ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 1 Rdnr. 2a, 3; Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Rdnr. 3; Podlech, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 61; Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 1 Rdnr. 3; ders., JuS 1995, 857 ff. mit Nw. für die Rechtsprechung des BVerfG; Häberle, HbdStR I, § 20 Rdnr. 74; Benda, HbdVerfR, § 6 Rdnr. 7; Stem, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 26; Ipsen, Staatsrecht II, Rdnr. 219. Neuerdings mehren sich aber auch zweifelnde Stimmen, so etwa Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 I Rdnr. 71 ff; Gröschner, Menschenwürde und Sepulkralkultur in der grundgesetzlichen Ordnung, S. 45; Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 113 ff.; Neumann, KritV 1993, 277 (285). 68 Stem, HbdStR V, § 108 Rdnr. 6. 69 Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 373.
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gesichert 70 . Nicht zuletzt dieses sachliche FundierungsVerhältnis 71 rechtfertigt es, Art. 1 Abs. 1 GG als „Wurzel und Quelle aller später formulierten «72 Grundrechte und damit selbst [als] das materielle Hauptgrundrecht" zu bezeichnen. Dennoch ist das Konkurrenzverhältnis der freiheitsrechtsgarantierenden Grundrechtsnormen und Art. 1 Abs. 1 GG kein simpler Fall paralleler Anwendbarkeit. Dies folgt bereits aus dem in der Unantastbarkeitsklausel positivierten absoluten Eingriffsverbot. Die Ausnahmslosigkeit der Menschenwürdegarantie verschafft Art. 1 Abs. 1 GG im Grundrechtssystem eine Sonderstellung, die sich auch in den Konkurrenzrelationen niederschlägt 73 . bb) Inhalts- und Ausübungsrechte Neben der systematischen Zuordnung besitzt auch die inhaltliche Beziehung der Schutzgegenstände zueinander eine hohe Indizwirkung für das Bestehen normativer Spezialitätsverhältnisse. Verhaltensfreiheiten können durch den Grundrechtsberechtigten dergestalt wahrgenommen werden, daß sich die Schutzgegenstände der beteiligten Grundrechte im Verhältnis von Zweck und Mittel gegenüberstehen 74. Entscheidend für die Prüfung der Grundrechtsverträglichkeit eingreifender Maßnahmen ist in diesen Fällen grundsätzlich nur das zweckbestimmende Inhaltsrecht, nicht jedoch auch das nur die äußere Form (mit-) bestimmende Ausübungsrecht. Welcher Normtatbestand im jeweiligen Einzelfall das Inhalts- und welcher das Ausübungsrecht garantiert, muß durch eine grundrechtsorientierte Analyse und die themengerechte Zuordnung des grundrechtsrelevanten menschlichen Handelns bestimmt werden 75 . Die Komplexität einer modernen Gesellschaft bringt es in zunehmendem Maße mit sich, daß viele Verhaltensweisen nicht nur dem Tatbestand eines einzigen, thematisch bestimmenden Grundrechts unterfallen. Verantwortlich dafür sind die Kreativität der Menschen in der Ausfüllung grundrechtlich 70
BVerfGE 5, 85 (204). Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 I Rdnr. 96. 72 Nipperdey, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. II, S. 12; ähnlich BVerfGE 93, 266 (293). 73 Näher zu den Konkurrenzverhältnissen unter Einschluß von Art. 1 Abs. 1 GG unten S. 167 ff. 74 Zum Beispiel des Zusammenwirkens von Kunst- und Versammlungsfreiheit bei der Veranstaltung von Straßentheatern sogleich ausführlich. 75 Zur Unterscheidung von Inhalts- und Ausübungsrechten bereits Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 108ff.; ders., in: Maunz/Dürig/Herzog/ Scholz, Grundgesetz, Art. 9 Rdnr. 111, allerdings mit abweichenden konkurrenzdogmatischen Schlußfolgerungen. Siehe dazu oben S. 89 ff. 71
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abgesteckter Betätigungsfelder sowie deren Akzeptanz durch die Rechtsprechung, die sich in großzügigen Schutzbereichsinterpretationen niederschlägt. Die Nutzung von modernen Kommunikationsmitteln, die Vielfalt der Instrumente des politischen Meinungskampfes, die Verknüpfung von religiösen Zielen mit politischen oder wirtschaftlichen Interessen und andere moderne Erscheinungformen des gesellschaftlichen Lebens machen es tatsächlich schwierig, die zu beurteilenden Sachverhalte nur jeweils einer Grundrechtsnorm als verfassungsrechtlichem Maßstab zuzuordnen. Die faktische Weite der Tatbestände darf jedoch nicht dazu führen, daß bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit beeinträchtigender Maßnahmen Begrenzungsregelungen herangezogen werden, die dafür nicht konzipiert wurden. Es ist notwendig, diejenigen Grundrechtsnormen auszusondern, die ihrer Themenrichtung nach nur marginal berührt sind 76 . Als Beispiel für die gleichzeitige Berührung eines Inhalts- und eines Ausübungsrechts kann die Veranstaltung politischen Straßentheaters dienen. Geht man mit Rechtsprechung und Literatur davon aus, daß politisch motivierte Theater- und Schauspielaufführungen, Happenings u.ä., die in öffentlichen Verkehrsräumen stattfinden, Versammlungen i.S. des Art. 8 GG sind 7 7 , stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zur Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG. Die Richtigkeit der These vom Primat des Inhaltsrechts vorausgesetzt, ist zu prüfen, ob sich das entsprechende Verhalten den jeweiligen Garantietatbeständen zuordnen läßt, so daß deren Charakter als Inhalts- oder Ausübungsrecht deutlich wird. Das Verfahren ist allerdings nicht einfach. Bei abstrakter Betrachtung des Problems werden in aller Regel mehrere Interpretationen möglich sein. Für die politischen Straßentheater ließe sich einerseits vertreten, daß die künstlerische Form der Darbietung nur als ein ausgefalleneres Mittel der politischen Auseinandersetzung genutzt wird. Inhaltlich ginge es dann also um politische Willensbildung, die in ihrer kollektiven Ausprägung den besonderen Schutz des Art. 8 GG genösse. Die Veranstaltung müßte ausschließlich dem Tatbestand des Art. 8 GG zugeordnet werden, und Beeinträchtigungen wären an der Begrenzungsregel des Art. 8 Abs. 2 GG zu messen. Es könnte jedoch auch argumentiert werden, die künstlerische Aussage bilde den Mittelpunkt des grundrechtsrelevanten Tuns, und nur um ein größeres Publikum zu erreichen, werde die Straße zur Bühne umfunktioniert. Der Versammlungscharakter wäre dann nur ungewollte Nebenfolge der künstlerischen Darbietung. Eingreifende staatliche Maßnahmen müßten den Vorgaben von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG genügen. 76
Ebenso auch Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1407; Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, S. 427. 77 Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 8 Rdnr. 17.
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Hier wird deutlich, wie wichtig es ist, die abstrakte Ebene zu verlassen und die konkret-individuellen Entscheidungsnormen für die Konkurrenzlösung heranzuziehen. Denn betrachtet man einzelfallorientiert die Sachverhalte, die in diesem Zusammenhang zur richterlichen Entscheidung angestanden haben, wird recht schnell klar, daß eine themengerechte Zuordnung durchaus möglich ist. Dazu zunächst ein Fall, den der VGH Baden-Württemberg 78 zu entscheiden hatte. Im Rahmen einer Pilgerprozession - „Padayadra-Prozession" sollten die Teilnehmer dazu aufgefordert werden, sich mit dem Thema „Spirituelle Lösungen für materielle Probleme" auseinanderzusetzen. Als Mittel zur Unterstützung dieser Aufforderung waren musikalische und tänzerische Darbietungen sowie ein mit dem Thema zusammenhängendes Theaterstück vorgesehen. Der VGH mußte nun klären, inwieweit diese in den Ablauf der Prozession integrierten Vorhaben grundrechtlichen Schutz genießen. Mit der Argumentation, Straßentheater und musikalisch-tänzerische Aufführung dienten dem verbindenden Zweck der Versammlung, der darin bestünde, in einer öffentlichen Angelegenheit Stellung zu beziehen, hat der VGH die Einzeldarbietungen als Versammlung i.S.d. Art. 8 GG eingestuft und allein dem Grundrechtsschutz des Art. 8 GG unterstellt 79 . Diese Einschätzung ist richtig. Obwohl selbstverständlich auch der Schutzbereich der Kunstfreiheit eröffnet ist, ist der künstlerische Aspekt nur „dienendes Beiwerk für die durch die Versammlung bezweckte Aussage" 80 . Es kommt also nicht maßgeblich auf die Ausübungsform Kunst an. Sie bildet nur die äußere Einkleidung für die Wahrnehmung des Versammlungsrechts. Das, was mitgeteilt, ausgetauscht, diskutiert werden soll, kann inhaltlich ebensogut verbal oder mittels anderer Medien dargestellt werden. Nur die Meinungsbildung als solche ist essentiell für das gesamte Unterfangen. Genotypisch geht es also um die Versammlungsfreiheit, die als inhaltsbestimmendes Grundrecht auch die Reichweite des abwehrrechtlichen Schutzes festlegt und daher das Ausübungsrecht verdrängt 81 . Anders liegt der Fall für einen Sachverhalt, der einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde lag 8 2 . In Anlehnung an das Gedicht von Bertolt Brecht „Der Anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy" wurde durch den Beschwerdeführer und andere Gegner des damaligen Kanzlerkandidaten Strauß ein politisches Straßentheater inszeniert und 78
VGH Bad.-Württ. DÖV 1995, 163. VGH Bad.-Württ. DÖV 1995, 163 ff. 80 Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 III (Kunst) Rdnr. 47. 81 Im Ergebnis ebenso Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 III (Kunst) Rdnr. 47. 82 BVerfGE 67, 213 - „Anachronistischer Zug". 79
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in der Form eines Zuges durch die Straßen mehrerer Städte der Bundesrepublik aufgeführt. Protagonist der Inszenierung war unter anderem auch die Person von Franz Josef Strauß, die gemeinsam mit sechs von Brecht beschriebenen Parteigenossen, personifiziert als Nazigrößen des Dritten Reiches, auftrat. Das Bundesverfassungsgericht hatte nun zu entscheiden, inwieweit bei der Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Beleidigung die Grundrechte in ausreichendem Maße Beachtung gefunden hatten. Als Grundlage für den beschwerdestattgebenden Beschluß diente dem Gericht allein der Maßstab der Kunstfreiheit, Art. 5 Abs. 3 S. 1 G G 8 3 . Die ebenfalls einschlägige Versammlungsfreiheit wurde offenbar als nicht entscheidungsrelevant angesehen. Auch wenn der Senat in diesem Fall seine Entscheidung - richtigerweise - auf Schutzzweckgesichtspunkte gestützt hatte 84 , ist auch im Hinblick auf die normative Spezialität der Kunstfreiheit die Heranziehung von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG für die Überprüfung des eingreifenden Hoheitsakts zutreffend 85 . Anders als im oben dargestellten Fallbeispiel wird die Aufführung des Straßentheaters nicht als bloßes Beiwerk genutzt, um den versammlungstypischen Zweck noch besser verfolgen zu können. Die Schauspieler und sonstigen Beteiligten nehmen hier primär die aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG folgenden Rechte zur freien schöpferischen Gestaltung und zur allgemeinen Präsentation des Kunstwerkes war. Die Ausübungsform der öffentlichen Darstellung und die damit verbundene Berührung des Versammlungsrechts ergibt sich erst sekundär als zwangsläufige Folge dieser besonderen künstlerischen Ausdrucksform. Inhaltlich geht es darum, dem Publikum ein Theaterstück vorzuführen, auch wenn das Werk in seiner Darbietungsform und seinem Darbietungsort von einer gewöhnlichen Theateraufführung abweicht. Art. 8 GG ist nur zufällig und in einem für die grundrechtliche Bewertung nicht interessierenden Punkt berührt. Das Publikum - Straßenpassanten etc. - bildet für sich 83
Anders noch VGH München NJW 1981, 2428 (2429): Die Propagierung einer politischen Meinung lasse die künstlerischen Elemente in den Hintergrund treten, so daß der Aufzug nicht vom Kunstbegriff des Art. 5 Abs. 3 GG erfaßt werde. Kritisch dazu bereits Ott, NJW 1981, 2397 ff. 84 Dazu im folgenden ausführlich. 85 In einem Kammerbeschluß, ebenfalls zum Anachronistischen Zug, hat das BVerfG ausgeführt, eine grundsätzliche Klärung des Verhältnisses der Grundrechte zueinander könne dahinstehen, da ausschließlich die inhaltliche Ausgestaltung des Zuges betroffen sei und keine versammlungstypischen Aspekte in Rede stünden; BVerfG (Kammer) NJW 1988, 328 (329). Dem ist vollauf zuzustimmen! Im vorliegenden Fall fehlt es ganz offensichtlich an einer Beeinträchtigung des Schutzgegenstands der Versammlungsfreiheit. Für die folgenden Überlegungen muß deshalb unterstellt werden, daß mit der strafrechtlichen Verurteilung auch die Versammlungsfreiheit beeinträchtigt wird.
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genommen aufgrund fehlender innerer Verbundenheit keine Versammlung i.S.d. Art. 8 G G 8 6 . Auch durch das Zusammentreffen der Künstler mit den Zuschauern bzw. Zuhöreren entsteht noch keine Versammlung. In diesem Verhältnis verläuft der Informationsfluß einbahnstraßenartig vom Kommunikator (einem einzelnen oder einer kleinen Gruppe) zu der (meist größeren Gruppe) von Rezipienten 87 . Allein zwischen den Ausführenden besteht eine für den Versammlungscharakter notwendige innere Verbindung. Deshalb genügt nur diese Personenmehrheit dem Versammlungsbegriff des Art. 8 GG. Dennoch kommt dem Garantiegehalt des Art. 8 GG keine Bedeutung zu. Der - nur gespielte - kommunikative Austausch zwischen den Akteuren ist im vorliegenden Fall überhaupt nicht entscheidend. Die maßgebliche intellektuelle Beziehung besteht allein zwischen den Schauspielern und dem Publikum. Kunst ist in aller Regel kein Selbstzweck. Sie wird, egal in welcher Form, geschaffen, um wahrgenommen bzw. betrachtet zu werden. Die Eingleisigkeit des geistigen Austauschs ist deshalb geradezu kennzeichnend für den künstlerischen Kommunikationsprozeß 88 . Da es beim Straßentheater nur auf die Künstler-Zuschauer-Beziehung ankommt, ist auch nur die Kunstfreiheitsgarantie inhaltlich einschlägig. Das reine, nicht einem Versammlungszweck dienende Straßentheater muß deshalb auf Konkurrenzebene ausschließlich dem Garantiegehalt des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG zugeordnet werden 89 . Die Gewährleistung der Versammlungsfreiheit besitzt keine inhaltliche Bedeutung und wird deshalb verdrängt. In den vorstehenden Erläuterungen wurde bereits deutlich, daß Konkurrenzsituationen entstehen können, in denen eines der beteiligten Grundrechte materiell das Zentrum der Grundrechtsbetroffenheit bildet. Dieses Inhaltsrecht ist nach Regelungsintention und Reichweite „dichter" an der Fallkonstellation als die nur marginal betroffenen Ausübungsrechte. Wenn das inhaltsbestimmende Grundrecht aber aufgrund der Nähe zu dem zu regelnden Sachverhalt als Maßstab für die Einzelfallbeurteilung herangezogen werden kann, muß es auch insoweit als abschließende Regelung angesehen werden. D.h. die Ausübungsgrundrechtsnormen dürfen nicht parallel 86
Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 8 Rdnr. 2 m.w.Nw. Kloepfer, HbdStR VI, § 143 Rdnr. 23. 88 Abgesehen von gewissen Formen der interaktiven Kunst, die den Konsumenten mit einbeziehen. Vgl. zur kommunikationsorientierten Gewährleistungsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG auch Erbel, ZUM 1985, 283 (294). Zur Frage, inwieweit der Rezipient Grundrechtsträger sein kann, Denninger, HbdStR VI, § 146 Rdnr. 23. 89 Im Ergebnis ebenso Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 8 Rdnr. 37; Würkner, Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, S. 165. Sehr treffend auch Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 8 Rdnr. 75: Art. 5 Abs. 3 GG kommt allein zur Anwendung, wenn die Versammlungsform selber als Kunstwerk anzusehen ist. 87
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zur Anwendung kommen. Sollte nämlich das inhaltsbestimmende Grundrecht abwehrrechtlichen Schutz versagen, wäre diese Rechtsfolge unbeachtlich, wenn nach den parallel anwendbaren Grundrechtsnormen dem Grundrechtsträger dennoch ein Abwehrrecht zustünde. Denn nach dem Grundsatz des effektiv größtmöglichen Grundrechtsschutzes wäre dann das Grundrecht maßgeblich, daß den weitesten Schutz gewährt. Dieses Ergebnis würde jedoch die höhere thematische Relevanz des Inhaltsrechts nicht hinreichend widerspiegeln. Zudem könnte die Begrenzungsregelung des Inhaltsrechts ihre Funktion als Rechtfertigungsnorm für staatliches Handeln im tatbestandlich erfaßten Bereich nicht mehr erfüllen und würde völlig leerlaufen. Um dies zu verhindern und der Grundrechtsnorm in bezug auf ihre negative, schutzausschließende Rechtsfolgenanordnung normative Verbindlichkeit zu sichern, muß das Ausübungsgrundrecht zurücktreten. Darauf könnte nur verzichtet werden, wenn, was jedoch in beinahe keiner Konkurrenzrelation der Fall ist, absolute Kongruenz zwischen den entscheidungserheblichen Begrenzungsregelungen bestünde. Die Verdrängung der Ausübungsnorm durch die inhaltsbestimmende Norm ist mithin zwangsläufige Folge der Struktur der Grundrechtsnormen als Zuordnung spezifischer Begrenzungsregelungen zu einem Grundrechtstatbestand.
cc) Haupt- und Hilfsschutzgegenstände Es wurde bereits gezeigt, daß es möglich ist, einzelne Schutzgegenstandsmehrheiten, die durch ein und denselben Gewährleistungstatbestand garantiert werden, aufzugliedern in thematisch zentrale Schutzgegenstände und in Schutzgegenstände, die nur deshalb geschützt werden, weil sie den Hauptschutzgegenstand flankieren und abrunden 90 . Diese Differenzierung kann für die Feststellung normativer Spezialitätsverhältnisse fruchtbar gemacht werden. Wenn eine gewisse Verhaltensweise oder Rechtsposition nur deshalb geschützt wird, weil sie dem zentralen Schutzgegenstand dient, kommt ihr auch nur sekundäre Bedeutung zu. Ist die fragliche geschützte Tätigkeit oder das geschützte Recht gewissermaßen im Randbereich der Grundrechtsverbürgung angesiedelt, deutet vieles darauf hin, daß das hieraus entstehende (Hilfs-)Abwehrrecht auch in der Konkurrenzrelation keine maßgebliche Rolle spielt 91 . Es wird durch das 90
Ausführlich mit Beispielen oben S. 125 ff. In diese Richtung zielen verschiedene Lôsungsversuché; siehe Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 137: Kembereich - Außenbereich; Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1407: Zentralbereich - Randbereich; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner 91
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speziellere Grundrecht verdrängt. Für diese Spielart der normativen Spezialität kommt es also auf die Bedeutung der konkurrierenden Schutzgegenstände innerhalb ihres jeweiligen Garantiefelds an, während bei der Unterscheidung von Inhalts- und Ausübungsrechten die thematische Nähe zum tatsächlichen Geschehen ausschlaggebend ist. Ein solches Nebeneinander von Haupt- und Hilfsschutzgegenstand ist in folgendem Beispielsfall anzunehmen. Eine radikale Studentengruppierung plant eine Versammlung auf einem zentralen städtischen Platz, um auf das angeblich fortschreitende Unwesen traditioneller Studentenverbindungen aufmerksam zu machen. Da nach Ansicht der Gruppierung die Öffentlichkeit nachhaltig aufgerüttelt werden muß, wird mittels einer großangelegten Flugblattaktion um die zahlreiche Teilnahme der Studentinnen geworben. Durch die Aktion, die über einige Tage mit großem Materialaufwand durchgeführt wird, sind sämtliche Universitätsgebäude alsbald mit den ausgelegten bzw. weggeworfenen Handzetteln in einem über das Übliche hinausgehenden Maße verunreinigt. Dem Präsidenten der Universität, selbst Alter Herr einer liberal ausgerichteten Verbindung, mißfällt sowohl die Verschmutzung durch die Zettel als auch deren Inhalt. Er verfügt deshalb die Beendigung der Aktion. Als grundrechtlicher Maßstab für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Verfügung kommen die Pressefreiheit und die Versammlungsfreiheit in Betracht 92 . Die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 S. 2, 1. Var. GG und des Art. 8 GG sind erfüllt. Die Flugblätter genügen als zur Verbreitung an die Allgemeinheit bestimmte Druckerzeugnisse dem Pressebegriff des Art. 5 G G 9 3 . Geschützt wird durch die Pressefreiheit insbesondere die Verbreitung des Presseprodukts, also hier die Verteilung der Zettel 9 4 . Daneben zählt die Maßnahme aber auch zu den Vorbereitungshandlungen für eine Versammlung i.S.d. Art. 8 GG und ist als solche geschützt. Es besteht im wesentlichen Übereinstimmung darüber, daß über den Wortlaut hinaus auch alle vorbereitenden Organisationsakte, wie die Einladung, Beschaffung von Räumlichkeiten, Gewinnung von Rednern etc. tatbestandlich von Art. 8 Abs. 1 GG erfaßt werden 95 . Allerdings können diese Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3 Rdnr. 254: zufällige Berührung eines Grundrechts. 92 Die tatbestandlich ebenfalls einschlägige Meinungsfreiheit soll hier noch außer Betracht bleiben. 93 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 20; ders., Freiheit der Massenmedien, S. 195. 94 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 1, 2 Rdnr. 62. 95 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 8 Rdnr. 58; Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 8 Rdnr. 22 m.w.Nw.
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Handlungen nur dann dem Gewährleistungsbereich unterfallen, wenn sie unmittelbar der Ausübung des eigentlichen, von Art. 8 GG erfaßten Versammlungsrechts dienen. Im Prinzip wird der Tatbestand der Grundrechtsnorm mit der Hereinnahme der Vorbereitungshandlungen ausweitend interpretiert bzw. sogar i.S. einer Gesetzesanalogie extensiv erweitert. Diese Ausweitung ist durchaus gerechtfertigt, um die Wahrnehmung des Versammlungsrechts bereits im Vorfeld zu garantieren. Denn gerade in der Vorbereitungsphase kann sehr effektiv gegen unerwünschte Zusammenkünfte vorgegangen werden. Es ist daher geboten, zur Durchsetzung des Schutzgehaltes des Art. 8 GG bereits in dieser frühen Phase grundrechtliche Barrieren gegen staatliche Blockademaßnahmen zu errichten. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Kerngehalt des Art. 8 GG, das friedliche, waffenlose Sichversammeln, in diesen Fällen eben nicht berührt ist. Betroffen ist nur die Peripherie des Gewährleistungsbereiches. Die Pressefreiheit hingegen ist mit dem Verteilen der Flugblätter in ihrem orginären Schutzgegenstand tangiert. Die geschützte Handlungsfreiheit umfaßt hauptsächlich alle Tätigkeiten und Verhaltensweisen, die zur pressespezifischen Verbreitung von Nachrichten und Meinungen gehören 96 . Hier geht es darum, das Presseprodukt dem Leser zugänglich zu machen. Die Verteilaktion wird völlig unabhängig vom Inhalt der Flugblätter durch den zentralen Schutzzweck des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 2. Var. GG gedeckt. Art. 5 Abs. 1 S. 1, 2. Var. GG ist daher gegenüber Art. 8 GG in dieser konkreten Konkurrenzrelation die speziellere Norm und folglich für die grundrechtliche Fallentscheidung maßgeblich. Anders gestaltet sich das Verhältnis von Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit, wenn im Rahmen der bereits begonnenen Versammlung Zeitungen oder Broschüren an Versammlungsteilnehmer oder Externe verteilt oder verkauft werden. In diesem Fall ist das Versammlungsrecht nicht in seinem Randbereich berührt, betroffen ist vielmehr der zentrale Schutzgegenstand. Der Hauptschutzgegenstand der Versammlungsfreiheit besteht in der Garantie des ungehinderten kommunikativen Austauschs zwischen den Sichversammelnden. Im Zeitalter der multimedialen Gesellschaft ist die Kommunikation aber auch bei Versammlungen nicht auf verbale Äußerungen beschränkt 97 . Gerade dann, wenn es darum geht, das thematische Anliegen der Versammlung zu vertiefen, kann das Verteilen von Schriftstükken, wie Flugblättern, Zeitungen und Broschüren, den Versammlungszweck nachhaltig fördern 98 . Deswegen wird der Einsatz von Printmedien ebenso 96 BVerfGE 10, 118 (121); 50, 234 (240); Starck, in: v. Mangold/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 1, 2 Rdnr. 62. 97 So für Wahlkampfveranstaltungen bereits VG München, Beschluß v. 17.9.1982, AZ 4416 VII/82.
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E. Allgemeine Konkurrenzdogmatik der Grundrechtsnormen
wie von Sprach- oder Bildkommunikationssystemen (Großbildleinwand, Videoübertragung etc.) nicht nur von den Grundrechten des Art. 5 Abs. 1 GG, sondern auch von Art. 8 GG zentral geschützt. Beim Verkauf von Broschüren konkurrieren daher die Pressefreiheit und die Versammlungsfreiheit - jeweils betroffen in ihren Hauptschutzgegenständen - miteinander. Ob damit allerdings ein normatives Spezialitätsverhältnis ausgeschlossen ist, hängt von der Einschätzung ab, inwieweit der thematische Gehalt des Art. 5 Abs. 1 S. 2, 2. Var. GG nur ausübungsbeschreibend zur Wahrnehmung des Versammlungsrechts hinzutritt. Es spricht vieles dafür, auch hier, ähnlich wie im Fall der Konkurrenz zwischen dienender Kunst- und inhaltsbestimmender Versammlungsfreiheit, vom Vorrang des Art. 8 GG auszugehen99.
dd) Reichweite der Verdrängung (1) Problematik Grundsätzlich besteht nach allgemeinen Regeln auch für die normativ spezielle Norm ein absoluter Anwendungsvorrang. Im Bereich der Grundrechte bedeutet dies, daß nur die dominierende Grundrechtsnorm den Maßstab für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Beeinträchtigungen bildet. Entscheidend ist also allein die Begrenzungsregel dieser Grundrechtsnorm. Es wurde jedoch bereits dargestellt, daß neben dem absoluten Anwendungsvorrang auch differenziertere Verdrängungslösungen möglich sind 1 0 0 . Die Verdrängungswirkung folgt sowohl bei normativer als auch normlogischer Spezialität aus dem abschließenden Charakter der Sonderregelung. Ergibt die Auslegung, daß eine Norm nach ihrem Sinn und Zweck vollständig an die Stelle eines allgemeinen Rechtssatzes treten soll, wird der Regelungsgehalt dieser allgemeinen Norm nicht mehr benötigt; die Norm kann vollständig verdrängt werden. Führt jedoch die Anwendung der besonderen Regel zu einer Wertungsverschiebung bzw. zu einem Wertungswiderspruch gegenüber der verdrängten Norm, die in dieser Art vom Gesetzgeber bei Schaffung der besonderen Regel nicht bedacht wurde, muß der zunächst ausgesonderte Normgehalt wieder berücksichtigt werden 1 0 1 . 98
VG München NJW 1983, 1912; siehe auch Ridder u.a. (Hrsg.), Versammlungsrecht, § 15 Rdnr. 231. 99 Ausführlich zu dieser Fallkonstellation oben S. 154. ,(X) Vgl. oben S. 43 ff. 101 Vgl. auch oben S. 43 f. zum Beispiel der Sperrwirkung des milderen Strafgesetzes.
II. Verfahren der Konkurrenzauflösung
161
Auch bei der Auflösung von Konkurrenzlagen zwischen Grundrechtsnormen können wertungsmäßige Korrekturen erforderlich sein. Betroffen sind davon insbesondere Konkurrenzverhältnisse, die nach dem Schema des Vorrangs der Inhalts- vor der Ausübungsnorm aufgelöst werden. In diesen Fällen ist der Normgehalt der verdrängten Norm bei der Anwendung der dominierenden Norm zu berücksichtigen. Wie dies im einzelnen zu geschehen hat und worin der zu berücksichtigende Normgehalt besteht, ist im folgenden zu klären. (2) Restwirkung
der verdrängten
Norm
Neben ihrer Funktion als Grundlage für Abwehr- und Leistungsrechte besitzen die Grundrechtsnormen eine weitere, objektiv-rechtliche Dimension 1 0 2 . Grundrechte enthalten objektive Prinzipien der Verfassungsordnung, die sich als Elemente der Gesamtrechtsordnung in vielfältiger Weise auf die Tätigkeit des Gesetzgebers, der Verwaltung und der Rechtsprechung auswirken. Die objektiv-rechtlichen Gehalte beeinflussen insbesondere die Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts und damit selbstverständlich auch die Auslegung und Anwendung grundrechtsbeschränkender Gesetze. Dieser Zusammenhang hat sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch die Entwicklung der sog. Wechselwirkungstheorie niedergeschlagen. Nach Ansicht des Gerichts müssen die sich aus den allgemeinen Gesetzen ergebenden Grenzen der Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG ihrerseits im Lichte dieser Grundrechte gesehen werden. D.h. die allgemeinen Gesetze sind aus der Erkenntnis der Bedeutung der Freiheit der Meinungsäußerung, der Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit im freiheitlichen demokratischen Staat auszulegen und so in ihrer diese Grundrechte beschränkenden Wirkung selbst wieder einzuschränken 103 . Der Verstärkungseffekt zugunsten des subjektiven Grundrechtsschutzes durch die objektiv-rechtliche Dimension ist jedoch nicht auf das Innenverhältnis eines Grundrechts beschränkt. Auch innerhalb von Konkurrenzrelationen muß die Bedeutung der Grundrechte als Grundentscheidungen bzw. Grundsatznormen berücksichtigt werden. Der objektiv-rechtliche Normgehalt einer tatbestandlich einschlägigen Grundrechtsnorm ist von der konkurrenzdogmatischen Vorrangentscheidung nicht betroffen. Zwar vermag unter den dargestellten Voraussetzungen eine 102
Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Rdnr. 290ff.; Jarass, AöR 110 (1985), 363 m.Nw. für die Rspr. Ausgreifend dazu Stem, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 890ff.; Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 21 ff. 103 BVerfGE 7, 198 (208); 20, 172 (177), st. Rspr. 11 Heß
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E. Allgemeine Konkurrenzdogmatik der Grundrechtsnormen
Grundrechtsnorm eine andere zu verdrängen. Die Derogationswirkung aufgrund normativer oder normlogischer Spezialität kann sich aber nur auf die Norm in ihrer Funktion als Grundlage für subjektive Rechtspositionen beziehen. Subjektive und objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte bedingen sich nicht wechselseitig, sondern stellen grundsätzlich unabhängige Aspekte einer umfassenden Grundrechtsgewährleistung dar 1 0 4 . Die Ausstrahlungswirkung der verdrängten Verfassungsnorm auf die Auslegung und Anwendung grundrechtseinschränkender Gesetze wird von der konkurrenzdogmatisch motivierten Verdrängung deshalb nicht berührt. Für die Auflösung der Konkurrenz bedeutet dies vereinfacht ausgedrückt: Die verdrängte Grundrechtsnorm scheidet zwar als Rechtsgrundlage für die Entstehung eines subjektiven Abwehrrechts aus, die grundlegende Entscheidung des Verfassungsgebers, den Schutzgegenstand gesondert zu schützen, wird aber dennoch berücksichtigt. Dieser Effekt ist als „Restwirkung der verdrängten Grundrechtsnorm" zu bezeichnen. Die objektiv-rechtlichen Gehalte wirken sich insbesondere in Abwägungsverfahren, etwa der Prüfung der Verhältnismäßigkeit aus. Bei einer unter die grundgesetzliche Versammlungsfreiheit fallenden öffentlich dargebotenen künstlerischen Betätigung muß dann also in der Abwägung nicht nur die Bedeutung der Versammlungsfreiheit für den politisch-demokratischen Willensbildungsprozeß berücksichtigt werden, sondern auch die Ingebrauchnahme künstlerischer Ausdrucksformen 105 . Inwieweit allerdings die objektiv-rechtliche Seite der verdrängten Grundrechtsnorm im Ergebnis tatsächlich den subjektiven Grundrechsschutz verstärkt, bleibt eine Frage des Einzelfalls 106 .
104 Freilich heißt das nicht, daß es keinerlei Wechselbeziehung zwischen objektiver und subjektiver Seite der Grundrechtsnormen gäbe. „Unabhängig" meint lediglich, daß die abwehrrechtlichen und die objektiv-rechtlichen Rechtsfolgen der Norm gleichgeordnet nebeneinander eintreten. 105 Im Ergebnis ebenso, aber ohne dogmatische Begründung BVerfGE 85, 360 (381 f.). Ähnlich Berkemann, NVwZ 1982, 85 (87), der allerdings auf eine verfassungsimmanente Wechselwirkung innerhalb der Idealkonkurrenz abstellt; siehe auch oben S. 86ff. Ebenfalls in diese Richtung Würkner, Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, S. 166; ders., NJW 1988, 317 (318). 106 Instruktiv dazu auch BVerfGE 96, 205 (210, 213 f.): Das Gericht stellt zunächst auf Art. 12 Abs. 1 GG als das sachnähere Grundrecht ab, prüft dann allerdings, ob bei der Auslegung und Anwendung der grundrechtsbeschränkenden Gesetze die Bedeutung nicht nur der Berufsfreiheit, sondern auch der Wissenschaftsfreiheit und des Zugangsrechts zu öffentlichen Ämtern, Art. 33 Abs. 2 GG, ausreichend Rechnung getragen wurde.
II. Verfahren der Konkurrenzauflösung
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c) Tatbestandliche Idealkonkurrenz Dominanz der stärksten Entscheidungsnorm Ist zwischen den konkurrierenden Grundrechtsnormen kein normlogisches oder normatives Spezialitätsverhältnis festzustellen, bleiben die Tatbestände beider Normen nebeneinander anwendbar. Diese tatbestandliche Idealkonkurrenz muß sich auf der Schrankenebene fortsetzen. Eine nochmalige Konkurrenzbetrachtung im Bereich der Begrenzungsregelungen kommt nicht in Betracht 107 . Jede Schrankenregelung ist nur in bezug auf den zugehörigen Gewährleistungstatbestand anzuwenden. Für eine Schrankenübertragung bzw. analoge Anwendung von Schrankenklauseln auf andere Tatbestände fehlt es regelmäßig an den notwendigen Voraussetzungen für eine Gesetzesanalogie108. Insofern konkurrieren also nicht die Tatbestände idealitär, sondern die Grundrechtsnormen in ihrer Gesamtheit. Sofern der Schutzumfang der grundrechtlichen Entscheidungsnormen identisch ist, bleiben die Normen kumulativ anwendbar. Treffen die Normen jedoch widersprüchliche Anordungen über den Umfang des grundrechtlichen Schutzes, muß sich diejenige Norm durchsetzen, die den im Einzelfall größeren Schutz gewährt. Die Dominanz des stärksten Grundrechts folgt dabei unmittelbar aus dem Gebot der größtmöglichen Geltungskraft der Grundrechte. Nach zutreffender Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist bei der Auslegung der Grundrechtsnormen im Zweifel diejenige Auslegung zu wählen, welche die juristische Wirkungskraft der Grundrechtsnorm am stärksten entfaltet 109 . Nichts anderes kann für die Auflösung von Konkurrenzlagen gelten. Auch hier darf die Wirkungskraft derjenigen Norm, die den größten Schutz gewährt, nicht durch eine Konkurrenzentscheidung ausgehebelt werden. Auch in einzelnen Bestimmungen des Grundgesetzes finden sich Anhaltspunkte, die diese These stützen. So trifft Art. 142 GG für das Verhältnis von Bundes- und Landesgrundrechten die grundsätzliche Entscheidung für die Fortgeltung der Landesgrundrechtsnormen, sofern diese einen gegenüber den Bundesgrundrechten umfangreicheren bzw. weitergehenden Schutz gewähren. Der darin zum Ausdruck kommende Rechtsgedanke läßt sich auch auf das Verhältnis der Bundesgrundrechte zueinander übertragen 110 . Wenn schon ein Grundrecht, das im Range unter den Bundesgrundrechten steht, für den Einzelfall gültig und anwendbar bleibt, muß dies erst recht 107
Dazu oben S. 91 f. Siehe oben S. 78 ff. 109 BVerfGE 39, 1 (38), st. Rspr.; zustimmend v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Art. 1-19 Rdnr. 51; ablehnend Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 64. 110 Ausführlich dazu oben S. 139 ff. 108
π
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E. Allgemeine Konkurrenzdogmatik der Grundrechtsnormen
für ein gleichrangiges Grundrecht gelten. Der abwehrrechtlichen Meistbegünstigung kommt daher der Rang eines Verfassungsprinzips zu.
d) Logischer Vorrang der Verdrängung
kraft
Spezialität
Tatbestandliche Idealkonkurrenz kann immer nur dann vorliegen, wenn beide Grundrechte tatsächlich nebeneinander rechtsfolgebestimmend sind, d.h. wenn kein Spezialitätsverhältnis besteht 111 . Keinesfalls darf eine Präferenzentscheidung zugunsten der im Einzelfall stärksten Norm getroffen werden, wenn zuvor die Tatbestände nicht auf eventuelle Spezialitätsverhältnisse hin untersucht wurden. Sonst würden die auf der Tatbestandsebene angesiedelten Konkurrenzverhältnisse ausgeblendet und der grundrechtliche Maßstab für die Einzelfallentscheidung verzerrt werden. Das Gebot der größtmöglichen Grundrechtseffektivität, das die Dominanz der stärksten Norm bei idealer Konkurrenz begründet, kann selbstverständlich nur dann konkurrenzdogmatisch maßgebend sein, wenn der Verfassung keine anderweitige Konkurrenzregelung in Form eines speziellen Tatbestandes zu entnehmen ist. Deshalb darf die Frage nach dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Spezialitätsverhältnisses grundsätzlich nicht offengelassen werden 1 1 2 . Dies ist ausnahmsweise nur dann zulässig, wenn aufgrund einer hinlänglichen zumindest summarischen - Prüfung feststeht, daß keines der konkurrierenden Grundrechte abwehrrechtlichen Schutz gewährt 113 . Dann besteht im Einzelfall schon gar kein Rechtsfolgenwiderspruch. Im übrigen ist es auch im Falle des Bestehens eines Spezialitätsverhältnisses unzulässig, urteilstechnisch auf das allgemeinere Grundrecht zurückzugreifen, wenn feststeht, daß dieses Grundrecht verletzt i s t 1 1 4 . Das speziellere Grundrecht muß in jedem Falle vorrangig berücksichtigt werden. Schließlich ist es denkbar, daß die spezielle Norm im zu entscheidenden Fall den grundrechtlichen Schutz gerade ausschließt. Mit der Anwendung 111
Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 97. So aber für das Verhältnis von Kunst- und Rundfunkfreiheit BVerfGE 35, 202 (244) und für das Verhältnis von Kunst- und Meinungsfreiheit BVerfGE 86, 1 (9) unter Bezugnahme auf BVerfGE 68, 226 (233). 113 Vgl. BVerfGE 97, 228 (264 f.). Hier wurde die Frage offengelassen, ob Fernsehübertragungsrechte überhaupt eine verfassungsrechtlich geschützte Eigentumsposition darstellen und daher Art. 14 GG tatbestandlich einschlägig ist. Dies war deshalb möglich, weil das Gericht bereits festgestellt hatte, daß eine Prüfung am Maßstab der Eigentumsgarantie zum selben Ergebnis führen wird, wie die Prüfung am Maßstab der Berufsfreiheit bzw. der allgemeinen Handlungsfreiheit. 1,4 So aber Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 I, II Fn. 893 im Anschluß an BVerfGE 68, 226 (233). 1,2
III. Schutzzweck der Grundrechtsnorm
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der allgemeinen Norm würde aber die schutzausschließende Regelungsanordnung der speziellen Norm unterlaufen 115 .
III. Schutzzweck der Grundrechtsnorm Grundrechtsnormen sind Normen, die dem einzelnen Abwehrrechte gegen beeinträchtigende Maßnahmen des Staates gewähren. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts schützt aber nicht jedes Abwehrrecht gegen jede Art von hoheitlichen Eingriffen. Wichtigstes Beispiel ist die Beschränkung des Schutzzwecks des Art. 12 Abs. 1 GG auf den Schutz vor Eingriffen mit objektiv berufsregelnder Tendenz 116 . Die Richtigkeit dieser Ansicht vorausgesetzt, bedeutet dies, daß Grundrechtsnormen, obwohl sie tatbestandlich anwendbar sind, nicht in jedem Fall als Prüfungsmaßstab für die Überprüfung hoheitlicher Maßnahmen in Betracht kommen. Nur dann, wenn tatsächlich eine Beeinträchtigung des spezifischen Schutzgegenstands vorliegt, kann das jeweilige Grundrecht seine Schutzwirkung entfalten. Freilich hat diese Problematik mit der Feststellung von Konkurrenzverhältnissen zwischen den Grundrechtsnormen unmittelbar nichts zu tun. Zu beachten ist allerdings, daß das konkurrenzdogmatische Verhältnis und damit die Anwendbarkeit der Grundrechtsnormen für die Einzelfallentscheidung nicht von Belang ist, wenn die zu überprüfende hoheitliche Maßnahme überhaupt nur in eines der beteiligten Grundrechte eingreift. In diesem Fall muß aufgrund der Schutzzweckbeschränkung der anderen Grundrechte immer auch dieses Grundrecht als Prüfungsmaßstab herangezogen werden, auch wenn es aus konkurrenzdogmatischer Sicht eigentlich verdrängt wäre. Ein Grundrecht kann andere Grundrechte nur soweit verdrängen, wie sein Schutzumfang tatsächlich reicht. Für die Grundrechtsprüfung bedeutet dies, daß konkurrenzdogmatische Erwägungen nur dann anzustellen sind, wenn der Abwehrgegenstand, d.h. die hoheitliche Maßnahme, auch vom Schutzzweck mindestens zweier Grundrechtsnormen erfaßt wird. So mußte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit zivilrechtlicher Ansprüche auf Schadensersatz wegen fehlgeschlagender Sterilisation statt spezieller Grundrechte den an sich 115
Diese Möglichkeit übersieht Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II Rdnr. 34a, der wie selbstverständlich davon ausgeht, daß die spezielle Grundrechtsnorm immer einen größeren Schutz bietet als die allgemeine. Daß dies jedoch nicht so ist, weist Nolte, EuGRZ 1988, 253 (257) am Beispiel von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 5 Abs. 3 GG nach. 116 Siehe nur BVerfGE 13, 181 (186); 82, 209 (223 f.); 95, 267 (3302); 97, 228, 1627 (253 f.), st. Rspr.
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E. Allgemeine Konkurrenzdogmatik der Grundrechtsnormen
subsidiären Art. 2 Abs. 1 GG heranziehen 117 . Zwar handelte es sich bei dem Grundrechtsschutz reklamierenden Anspruchsgegner um einen niedergelassenen Arzt, so daß neben Art. 12 GG auch Art. 14 GG in der Tatbestandsvariante des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes einschlägig w a r 1 1 8 . Die Pflicht des Arztes, Schadensersatz leisten zu müssen, wird jedoch weder durch den Schutzzweck der einen noch der anderen Grundrechtsnorm abgedeckt. Die Eigentumsgarantie kann durch Geldleistungspflichten grundsätzlich nicht berührt werden, und für die Anwendbarkeit der Berufsfreiheit fehlte es an der objektiv berufsregelnden Tendenz der entsprechenden Vertrags- und Deliktsnormen. Folglich war der Rückgriff auf die allgemeine Handlungsfreiheit zur Überprüfung der grundrechtskonformen Anwendung dieser Normen möglich und notwendig.
117 118
BVerfGE 96, 375 (397). Diese Frage läßt das BVerfG a.a.O. allerdings ausdrücklich dahinstehen.
F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen I. Einleitung An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen: Wenn im folgenden Konkurrenzverhältnisse analysiert und bestimmt werden, gelten diese Feststellungen nur als Richtwerte. Das Verhältnis zweier Grundrechte ist einzelfallabhängig. Es ist denkbar, daß Einzelschutzgegenstände in einem Spezialitätsverhältnis stehen, während bei Aktualisierung anderer Aspekte derselben Grundrechtsbestimmung Idealkonkurrenz vorliegt. Dementsprechend ergeben sich für die unterschiedlichen Kombinationsmöglichkeiten von Grundrechtsnormen jeweils mehrere Konkurrenzrelationen. Dies bedeutet, daß die nachfolgende Übersicht nur die wichtigsten Konkurrenzsituationen erfassen kann. Und selbst diese Überlegungen gelten nur für den Regelfall und dürfen nicht unreflektiert auf jede Konkurrenzlage übertragen werden. Bei der Lösung von Konkurrenzproblemen gilt es immer, die Aufgabe der Konkurrenzdogmatik im Auge zu behalten: Die sinnvolle und zweckentsprechende Harmonisierung der sich aus den konkurrierenden Normen ergebenden Widersprüche 1.
II. Die Garantie der Menschenwürde - Art. 1 Abs. 1 GG 1. Einleitung Die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG ist zweifelsohne einer der schwierigsten Verfassungsrechtssätze des Grundgesetzes 2. Neben dem vor einiger Zeit scheinbar beigelegten, mittlerweile aber wieder aufflammenden Streit über die Grundrechtsqualität wird eine ganze Reihe weiterer Kontroversen um diese fundamentale Grundrechtsnorm geführt. Als sehr problematisch wird u.a. auch das Verhältnis von Art. 1 Abs. 1 GG zu den nachfolgenden Grundrechten angesehen3.
1 Siehe dazu auch allgemein oben S. 44 ff. sowie Georgiades, Die Anspruchskonkurrenz im Zivilrecht und Zivilprozeßrecht, S. 169f.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 463 ff.; Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 209. 2 Höfling, JuS 1995, 857.
168
F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
Die Schwierigkeiten bei der Analyse der einzelnen Konkurrenzverhältnisse rühren von der besonderen Normstruktur des Art. 1 Abs. 1 GG her. Einerseits erschöpft sich der sachliche Gewährleistungsgehalt der Norm in der Bezeichnung der menschlichen Würde als dem durch das Grundrecht zu schützenden Gegenstand. Andererseits steht der generalklauselartigen Weite des Tatbestandes mit der Unantastbarkeitsklausel eine absolut verbindliche Rechtsfolge gegenüber, die „die Menschenwürde dem gängigen Abwägungsmodell des grundrechtlichen Argumentationsprozesses entzieht" 4 . Diese schwierige Kombination von interpretationsoffenem Tatbestand und strikter Geltungsanordnung auf der Rechtsfolgenseite ist der Grund für die Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts bei der Anwendung der Norm in ihrer abwehrrechtlichen Funktion. Immer dann, wenn neben Art. 1 Abs. 1 GG weitere Grundrechte einschlägig sind, prüft das Gericht diese Normen vorrangig und greift auf Art. 1 Abs. 1 GG nur subsidiär zurück 5 . In der Literatur findet diese Vorgehensweise weitgehend Zustimmung 6 . Zwar wird immer wieder betont, daß Art. 1 Abs. 1 GG - im Gegensatz zu Art. 2 Abs. 1 GG - kein Auffanggrundrecht i.S. rechtstechnischer Subsidiarität sei 7 . Dennoch soll die Norm nur dann zur Anwendung kommen, wenn zuvor die „vorrangigen Maßstabsnormen", zu denen neben den Freiheitsauch die Gleichheitsrechte zählen sollen, geprüft wurden 8 .
3
Vgl. den Meinungsüberblick bei Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Rdnr. 69. 4 Höfling, JuS 1995, 857 (858). 5 BVerfGE 51, 97 (105); 53, 357 (300); 56, 363 (393). Ob das Bundesverfassungsgericht mit BVerfGE 96, 375 (398) von seiner bisherigen Praxis abweicht, bleibt abzuwarten. In dieser Entscheidung wurde Art. 6 Abs. 1 bzw. 2 GG gegenüber Art. 1 Abs. 1 GG zurückgestellt, weil diesen Vorschriften kein eigenständiges Gewicht zukäme. 6 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 1 Rdnr. 3; Kunig, in: v. Münch/ Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Rdnr. 69; Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 289; Stein, Staatsrecht, S. 210. Demgegenüber geht Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 16 a. E. offenbar davon aus, daß Art. 1 Abs. 1 GG jedenfalls gegenüber Art. 2 Abs. 1 GG lex specialis ist. 7 So Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 1 Rdnr. 3; Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 1 Rdnr. 57; Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz· Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Rdnr. 69; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 164. Anders Siekmann/Duttge, Staatsrecht I, Rdnr. 197: Spezialitätsverhältnis. 8 Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 1 Rdnr. 57; ders., JuS 1995, 857 (861); Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Rdnr. 69.
II. Die Garantie der Menschenwürde - Art. 1 Abs. 1 GG
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2. Schutzgegenstandsbestimmung Der stereotype Hinweis darauf, daß Art. 1 Abs. 1 GG gegenüber anderen Grundrechten nicht subsidiär sei, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Verfassungsnorm durch die nachrangige Berücksichtigung ihre Bedeutung als eigenständige Garantienorm verliert. Die tatbestandliche Ausdehnung der Freiheitsrechte, besonders die Weite der allgemeinen Handlungsfreiheit, dürften Art. 1 Abs. 1 GG kaum noch einen eigenen Anwendungsbereich belassen9. Dennoch ist der Ansatz der herrschenden Auffassung zunächst richtig. In der Tat ist ein Anwendungsvorrang der anderen Grundrechte konkurrenzdogmatisch nicht begründbar. So lassen sich etwa normlogische Spezialitätsverhältnisse als Grundlage der verdrängenden Wirkung nicht feststellen. Als natürliches Element der menschlichen Persönlichkeit unterscheidet sich die Menschenwürde strukturell von den Verhaltensfreiheiten. Spezialitätsverhältnisse kommen diesbezüglich a priori nicht in Betracht 10 . Aber auch gegenüber anderen verliehenen Rechtspositionen ist die Menschenwürdegarantie kein allgemeiner Schutzgegenstand. Die einzelnen geschützten Bereiche der menschlichen Persönlichkeit weisen keinen speziellen „Menschenwürdekern" auf 1 1 , der es rechtfertigen würde, die allgemeine Gewährleistungsgarantie der Menschenwürde nur subsidiär heranzuziehen. Es bestehen deshalb keine Inklusionsverhältnisse zwischen den Tatbeständen. Richtig ist allerdings, daß viele der nachfolgenden Grundrechte zumindest segmentär auch dem Würdeschutz dienen 12 . Dennoch kann Art. 1 Abs. 1 GG aus Wertungsgründen nicht als allgemeine, nachrangig anwendbare Regelung angesehen werden. Denn es ist widersinnig anzunehmen, daß die Menschenwürdegarantie durch die allgemeine Norm nicht nur vorbehaltlos, sondern sogar absolut geschützt ist, die speziellen Teilgehalte allgemeines Persönlichkeitsrecht, Glaubensfreiheit etc. - hingegen durch Gesetz oder kollidierendes Verfassungsrecht einschränkbar sein sollen. Subsidiarität der Menschenwürdegarantie scheidet folglich aus. Umgekehrt ist Art. 1 Abs. 1 GG aber auch nicht lex specialis gegenüber den besonderen Freiheitsrechten 13. Die Menschenwürde ist keine Essenz 9
Diese Gefahr sieht auch Höfling, JuS 1995, 857 (862). Siehe dazu bereits oben S. 151 f. Anders Siekmann/Duttge, Staatsrecht I, Rdnr. 197. 11 So aber die These von Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 1 Rdnr. 81, 85; ebenso Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 12. Vgl. dazu auch BVerfGE 84, 90 (121) sowie die Kritik von Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 I Rdnr. 97. 12 Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Rdnr. 69. Für die Glaubensfreiheit BVerfGE 33, 23 (28 f.). 10
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F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
unterschiedlicher Ausprägungen des Persönlichkeitsrechts. Auch wenn sicherlich eine inhaltliche Nähe besteht, ist die Würde des Menschen ein aliud gegenüber der geschützten engeren privaten oder religiösen Lebenssphäre und kein Sonder- oder Spezialfall. Art. 1 Abs. 1 GG steht neben den anderen Grundrechtsnormen. Zur Harmonisierung des Konkurrenzverhältnisses wird u.a. vorgeschlagen, die Unantastbarkeitsklausel des Art. 1 Abs. 1 GG bereits im Rahmen der Prüfung der anderen Grundrechtsnormen zu berücksichtigen. Die Menschenwürdegarantie soll als spezielle „Schranken-Schranke" den Begrenzungsregelungen der Grundrechtsnormen zugeordnet werden 14 . Eine Verletzung dieser Vorschrift zöge dann immer auch eine Verletzung des überprüften Grundrechts nach sich. Dies mag zwar konstruktiv möglich sein, allerdings wird damit das Pferd von hinten aufgezäumt. Einfacher ist es, von vornherein auf Art. 1 Abs. 1 GG als Maßstabsnorm zurückzugreifen. Dies entspricht zudem auch dem Regelungsgehalt der Norm. In der Anordnung der Unantastbarkeit der Menschenwürde kommt ein absoluter Geltungsanspruch zum Ausdruck, der jede Ausnahme strikt ausschließt. Zudem ist die Bindung der Staatsgewalt an die Garantie der Menschenwürde in einem besonderen Maße verstärkt. Art. 79 Abs. 3 GG erweitert den Schutz sogar auf Abänderungen durch den verfassungsändernden Gesetzgeber. Art. 1 Abs. 1 GG nimmt folglich im System der grundrechtlichen Gewährleistungen eine Sonderstellung ein, die in der Konkurrenzdogmatik nur dann ihre Entsprechung findet, wenn die Norm, sofern eine Verletzung möglich erscheint, in der Prüfungsreihenfolge an erster Stelle steht. Nur wenn im Einzelfall feststeht, daß die Menschenwürde unangetastet ist und die hoheitliche Maßnahme nicht gegen die fundamentalste Garantie menschlicher Individualität verstößt, können die weiteren, ideal konkurrierenden Grundrechtsverbürgungen als Kontrollmaßstab herangezogen werden. Es widerspricht dem Rang des Art. 1 Abs. 1 GG und damit dem System der Grundrechtsgarantien, wenn dasjenige Grundrecht, welches als tragendes Konstitutionsprinzip des Grundgesetzes fungiert 15 , auf die abwehrrechtliche Reservebank gedrängt wird. Auch im Hinblick auf die Schwierigkeiten bei der präzisen Erfassung des Schutzbereichs ist es nicht legitim, Art. 1 Abs. 1 GG als selbständige, abwehrrechtsbegründende Grundrechtsnorm in die Bedeutungslosigkeit abzuschieben16. Sicherlich 13 So aber für das Verhältnis zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Abs. 138. 14 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 1 Rdnr. 3. 15 BVerfGE 87, 209 (228). 16 Dies nimmt aber beispielsweise Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 289 in Kauf.
II. Die Garantie der Menschenwürde - Art. 1 Abs. 1 GG
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trifft es zu, daß der grundrechtliche Schutzmantel auch in bezug auf die Menschenwürde lückenlos geschlossen werden kann, wenn die aus Art. 1 Abs. 1 GG folgende Wertentscheidung im Rahmen der Auslegung und Anwendung der anderen Grundrechte berücksichtigt wird 1 7 . Allerdings treten dann dieselben Schwierigkeiten bei der Ausfüllung des Würdebegriffes auf wie bei einer direkten Anwendung des Art. 1 Abs. 1 GG. Das Problem wird somit nicht gelöst, sondern nur verlagert.
3, Annex - Notwendigkeit einer Begriffsbestimmung Voraussetzung einer funktionsgerechten Anwendung des Art. 1 Abs. 1 GG ist daher die Konkretisierung des Menschenwürdebegriffs. Wie das Bundesverfassungsgericht dargelegt hat, kann die Verletzung der Menschenwürde nur in Ansehung des konkreten Falles festgestellt werden 18 . Das inhaltsbestimmende Tatbestandsmerkmal muß also im Wege der Fallgruppenbildung bzw. Kasuistik einzelner Verletzungstatbestände Stück für Stück herausgearbeitet und auf diese Weise positiv erschlossen werden 19 . Die Notwendigkeit einer einengenden, aber klaren Bestimmung des Gewährleistungsgehalts der Menschenwürdegarantie ist auch im Hinblick auf das Problem der Grundrechtskollisionen augenscheinlich. Art. 1 Abs. 1 GG besitzt konzeptionell den Status eines Übergrundrechts, das im Kollisionsfall die Grundrechte anderer Grundrechtsträger ausnahmslos aus dem Felde schlägt. Unpräzise, vage und damit unkalkulierbare Ausdeutungsversuche des Garantiegehalts des Art. 1 Abs. 1 GG haben deshalb verheerende Auswirkungen. Mit der vorschnellen Bejahung einer Menschenwürdeverletzung wird von vornherein jeglicher Abwägung zwischen den kollidierenden Grundrechten der Boden entzogen. Eine Beeinträchtigung wäre, sofern sie als die Menschenwürde schützend legitimiert wird, in jedem Fall gerechtfertigt. Genau dieser Gefahr ist das Bundesverfassungsgericht erlegen, als es im Fall der Hachfeld-Karikaturen 20 eine Kollision zwischen Kunstfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht zu beurteilen hatte. Nach Ansicht des Gerichts wurde allein schon durch die Berührung des Sexualbereichs das allgemeine Persönlichkeitsrecht als Ausfluß der Menschenwürde verletzt 21 . Da „diese Schranke absolut", also „ohne die Möglichkeit eines Güterausgleichs" 17
So Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 1 Rdnr. 3. BVerfGE 30, 1 (25). 19 So auch Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 16. 20 BVerfGE 75, 369 (380). 21 Eine bedenkliche Tendenz zur Vermengung von Ehre und Menschenwürde; dazu Kübler, in: Festschrift für Mahrenholz, S. 313. 18
172
F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
wirkt, mußte im Ergebnis die Kunstfreiheit zurücktreten. Das Gericht konnte sich jeden weiteren Begründungsaufwand ersparen 22. Auch wenn dem Bundesverfassungsgericht im Ergebnis wohl zuzustimmen ist, die Argumentation, die Darstellung sexuellen Verhaltens zähle zum Kern des Intimlebens und damit zur von Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Menschenwürde, ist angesichts der veränderten Sexualmoral nicht überzeugend.
III. Meinungs- und Mediengrundrechte die internen Konkurrenzverhältnisse des Art. 5 Abs. 1 GG 1. Einleitung Art. 5 Abs. 1 GG enthält insgesamt fünf Grundrechte: die Meinungsfreiheit, S. 1, 1. HS, die Informationsfreiheit, S. 1, 2. HS, die Pressefreiheit, S. 2, 1. Variante, die Rundfunkfreiheit, S. 2, 2. Variante und die Freiheit der Filmberichterstattung, S. 2, 3. Variante 23 . Das Verhältnis dieser Grundrechtsgarantien - untereinander und zu anderen Grundrechten - nimmt in der Diskussion zu den Grundrechtskonkurrenzen breiten Raum ein. Der Grund dafür dürfte in der Tatsache zu sehen sein, daß die Verfassung einen relativ eng umgrenzten Verhaltensbereich durch eine Vielzahl von Verbürgungen grundrechtlich abgesichert hat. Kardinaler Bezugspunkt aller Garantien des Art. 5 Abs. 1 GG ist die Gewährung der freien Meinungsbildung 24 . Meinungsbildung setzt regelmäßig einen kommunikativen Prozeß des Informierens und des Informiertwerdens voraus. Das Grundgesetz schützt beide Seiten dieses Kommunikationsvorgangs durch jeweils mehrere Grundrechte. Art. 5 Abs. 1 S. 1 garantiert die freie Meinungsabgabe sowie den freien Informationsempfang für die individual-kommunikative Ebene. Satz 2 erweitert den Schutz der Informationsverbreitung und -weitergäbe sowie der Informationsbeschaffung auf die Nutzung bestimmter Medien. Zusätzlich erfassen Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG mit der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit sowie Art. 8 GG mit der Versammlungsfreiheit wichtige Einzelbereiche kommunikativer Entfaltungsmöglichkeiten.
22
Vor dieser Entwicklung warnend Gounalakis, NJW 1995, 809 (815); Mahrenholz, HbdVerfR, § 26 Rdnr. 89; Nolte, EuGRZ 1988, 253 (257). 23 Ganz h.M.; siehe nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 547. 24 Bethge, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 18.
III. Meinungs- und Mediengrundrechte
173
2. Verhältnis der Meinungsäußerungsfreiheit zu den Mediengrundrechten am Beispiel der Pressefreiheit a) Einleitung Die Diskussion in der Literatur um die internen Konkurrenzverhältnisse des Art. 5 Abs. 1 GG beschränkt sich im wesentlichen auf die Beziehung der Meinungsäußerungsfreiheit zur Pressefreiheit bzw. zur Rundfunkfreiheit. Deshalb soll auch hier das Verhältnis von Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit - gewissermaßen exemplarisch - näher untersucht werden. Beide Grundrechte wurden in den vergangenen Jahrzehnten durch Literatur und Rechtsprechung ausführlich analysiert. Auch angesichts neuerer Untersuchungen läßt sich jedoch keine einheitliche Linie bei der Bewertung der Konkurrenzverhältnisse feststellen. Während die Rechtsprechung grundsätzlich von einer idealen Konkurrenz zwischen Art. 5 Abs. 1 S. 2, 2. Variante GG und Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG ausgeht, dabei aber die Tatbestände nach ihrem unterschiedlichen Schutzzweck restriktiv gegeneinander abgrenzt 25 , beharrt ein Teil der Literatur auf der These vom teilweisen Vorrang der Spezialfreiheiten des Satzes 2 vor der Meinungsäußerungsfreiheit 2 6 . Tatsächlich ist das Verhältnis dieser Grundrechte ungleich komplexer, als die einfache textliche Struktur des Art. 5 Abs. 1 GG vermuten läßt. Um die Problematik in den Griff zu bekommen, müssen die Schutzgegenstände der Grundrechte sorfältig analysiert und auf eventuelle Spezialitätsverhältnisse hin untersucht werden. Denn es liegt auf der Hand, daß ein Vorrang der Pressefreiheit kraft normlogischer Spezialität - jedenfalls in bezug auf die Tatbestände als ganze - in jedem Fall ausscheidet. Es ist offensichtlich, daß zwischen den Schutzgegenständen der Presse- und Meinungsäußerungsfreiheit kein tatbestandliches Inklusionsverhältnis besteht 27 . Der geschützte 25
BVerfGE 85, 1 (11 ff.); 86, 122 (128); 95, 28 (34f.); zustimmend Degenhart, in: Bonner Kommentar, Art. 5 Abs. 1 u. 2 Rdnr. 66ff., 75 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 571; Windthorst, Verfassungsrecht I, § 7 Rdnr. 49ff.; Fehling, JuS 1996, 431 (434); Siekmann/Duttge, Staatsrecht I, Rdnr. 422; für die Rundfunkfreiheit Herrmann, Rundfunkrecht, § 5 Rdnr. 87. 26 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II Rdnr. 154; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 19; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 1, 2 Rdnr. 5; v. Münch, Grundbegriffe des Staatsrechts I, Rdnr. 219; Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 216ff.; Bismark, Neue Medientechnologien und grundgesetzliche Kommunikationsverfassung, S. 104 f ; unklar Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1399. 27 So bereits Ridder, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. II, S. 255, 259; ebenso Scheuner, VVDStRL 22 (1963), 1 (65). Anders Herrmann,
174
F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
Bereich der Pressefreiheit geht über das Äußern von Meinungen und Ansichten hinaus und erfaßt alle Tätigkeiten von der Beschaffung der Information bis zur Verbreitung der Nachrichten und Meinungen inclusive aller dazu erforderlichen medienspezifischen Vorbereitungshandlungen 28. Eine tatbestandliche Überdeckung besteht deshalb nur im Teilbereich der eigentlichen Meinungsäußerung, während die presseinternen Hilfstätigkeiten ausschließlich von Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG und die nicht pressebezogenen Meinungsäußerungen von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG erfaßt werden 29 . Spezialitätsverhältnisse können daher nur zwischen einzelnen im Überdeckungsbereich angesiedelten Schutzgegenständen bestehen.
b) Schutzgegenstandsbestimmung Das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit beinhaltet einen typisch eingliedrigen Schutzgegenstand30. Es bleibt daher kein Raum für weitere Differenzierungen. Der Tatbestand der Pressefreiheit hingegen beschreibt eine Vielzahl von einzelnen Schutzgegenständen, die gleichgeordnet nebeneinander stehen. Solche Einzelschutzgegenstände sind etwa die journalistische Recherchetätigkeit, die Redaktionsarbeit oder die Drucklegung als Verhaltensfreiheiten, aber auch die redaktionelle Vertraulichkeitssphäre und der gegenständliche Bereich der Redaktionsräume als besonders geschützte Geheimbereiche. Konkurrenzdogmatisch relevant ist im Verhältnis zur Meinungsäußerungsfreiheit vor allem der eigentliche Publikationsakt, also diejenige Tätigkeit, die sich als Meinungskundgabe unter Zuhilfenahme eines unter den Pressebegriff fallenden Mediums darstellt. Vordringlich in diesem Bereich kann ein und dieselbe Handlung die Tatbestände beider Grundrechte aktualisieren. Für die Beurteilung des Konkurrenzverhältnisses kommt es nun darauf an, ob die Veröffenlichungstätigkeit eine besondere Ausdrucksform der Meinungskundgabe darstellt; dann wäre Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG in dieser Beziehung die normlogisch allgemeine und Satz 2, 2. Variante die besondere Norm. Setzt die Pressetätigkeit hingegen eine bestimmte, bereits geäuFemsehen und Hörfunk, S. 189; Friesenhahn, in: Festgabe für Kunze, S. 24ff.; Schnur, VVDStRL 22 (1963), 101: die Pressefreiheit sei ein unselbständiger Unterfall der Meinungsfreiheit. 28 BVerfGE 20, 162 (176); 91, 125 (134); Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/ Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II Rdnr. 154; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 568, 574; Bismark, Neue Medientechnologien und grundgesetzliche Kommunikationsverfassung, S. 104 f. 29 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II Rdnr. 154. 30 Siehe zur Erläuterung oben S. 123 f.
III. Meinungs- und Mediengrundrechte
175
ßerte Meinung voraus, die durch die pressetechnische Verarbeitung lediglich einem gesonderten Verbreitungsverfahren unterzogen wird, würde es sich um unterschiedliche Verhaltensweisen handeln, die nicht in einem normlogischen Spezialitätsverhältnis stehen. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG gewährt nicht nur die uneingeschränkte Möglichkeit zur Meinungskundgabe als solcher, sondern gewährt auch die Freiheit, das jeweilige Medium, in welches die gedankliche Erklärung umgesetzt werden soll, auszuwählen. Dies geht aus dem Wortlaut „ . . . seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern..unmittelbar hervor. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG schützt aber nicht nur die Auswahl des Äußerungsmediums. Die textliche Aufzählung der unterschiedlichen Ausdrucksformen bezieht sich zugleich auch auf die Verbreitungsvariante des Grundrechts, also die erfolgsbeschreibende Seite des Schutzgegenstands. Nach Sinn und Zweck der grundrechtlichen Garantie soll der Sich-Äußernde sowohl in der Wahl der Ausdrucksform als auch in der Wahl des Weitergabemediums frei sein 31 . Die Veröffentlichung eines Beitrags in einer Zeitschrift oder Zeitung ist nun tatsächlich nichts weiter als eine besondere Variante der Nutzung des Verbreitungsmediums Schrift. Bei rein technischer Betrachtungsweise besteht kein Unterschied, ob ein Schriftstück im Original oder in hundertfacher Ausfertigung als Druckerzeugnis, Fotokopie o.ä. verwendet wird. Im Hinblick auf den Verbreitungsmodus könnte die Pressefreiheit insofern als spezielle Mcinungsverbreitungsfreiheit klassifiziert werden. Gleiches ließe sich auch für die Rundfunkfreiheit vertreten. Die Entgeistigung der Gedankenerklärung erfolgt hier durch das Sprechen, während der Rundfunk als Verbreitungsmedium dient 3 2 . Dies würde aber bedeuten, daß Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG einen einzelnen, bereits von Satz 1 geschützten Aspekt des Meinungsäußerungsvorgangs, nämlich die Meinungsverbreitung, nochmals - und wegen der identischen Begrenzungsregelung des Abs. 2 doppelt - schützt. Der besondere Regelungsgehalt der Norm würde sich auf den Schutz der von Satz 1 nicht erfaßten pressetechnischen Hilfstätigkeiten beschränken 33. Ob diese Interpretation aber dem Sinn und Zweck der Regelung entspricht, ist mehr als zweifelhaft. Ausgehend vom Wortlaut der Vorschrift liegt eine andere Deutung näher, die die Schutzverdoppelung vermeidet und der Pressefreiheit eine eigenständige Bedeutung verschafft. Die unterschiedliche Gewährleistungsrichtung von Presse- und Meinungsfreiheit läßt sich am Beispiel der Fremdverbreitung von Meinungen ver31 32 33
Degenhardt, in: Bonner Kommentar, Art. 5 Abs. 1 u. 2 Rdnr. 160. So die Einschätzung von Bullinger, HbdStR VI, § 142 Rdnr. 1. Vgl. Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 225.
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F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
deutlichen. Es ist denkbar, daß nicht der geistige Vater, sondern eine dritte Person für die Verbreitung der geistigen Äußerung Sorge trägt, etwa durch das Verlesen eines Schriftstücks des fremden Autors. Dieses Verhalten wird nicht vom Wortlaut des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG erfaßt, der ausdrücklich bestimmt, daß nur die eigene Meinung frei geäußert und verbreitet werden darf. Für eine ausweitende Interpretation der Norm über ihren Wortlaut hinaus besteht - entgegen anderer Ansicht 3 4 - kein Bedürfnis. Trägt jemand eine fremde Meinung vor, liegt darin regelmäßig eine Mitteilung über die Tatsache, daß sich ein anderer entsprechend geäußert hat. Möglicherweise kommt darin sogar eine eigene Stellungnahme des Übermittlers zum Ausdruck. Da auch Tatsachenmitteilungen von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG geschützt werden, jedenfalls dann, wenn sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen sind 3 5 , kann sich auch der Mittler fremder Meinungen in aller Regel auf Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG berufen. Der Schutz greift nur dann nicht ein, wenn sich die Tätigkeit des Überbringers allein darauf beschränkt, dem Hintermann die Stimme zu leihen, also als menschliches Äquivalent eines Schwarzen Bretts zu fungieren. In diesen Fällen fehlt es am eigenen Beitrag zum Meinungsbildungsprozeß 36. Dieses Beispiel macht deutlich, daß Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG seiner Ausrichtung nach nicht auf den Schutz einzelner isolierter Segmente des Meinungsäußerungsprozesses abzielt, sondern aktives kommunikatives Verhalten ausschließlich in seiner Gesamtheit erfassen will. Der Botenjunge, der eine Mitteilung seines Dienstherren überbringt, die Sekretärin, die einen Aushang im Schaukasten anbringt, der Internet-Provider, der die elekronische Post der einzelnen Benutzer versendet oder andere Mittler fremder Meinungsäußerungen können sich, obwohl sie zur Verbreitung beitragen, allein aus diesem Grund nicht auf den Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit berufen. Dieser steht nur den Personen zu, die als Urheber hinter den Gedankenerklärungen stehen, auch wenn sie bei der Verbreitung auf die Mithilfe Dritter angewiesen sind. Die für die moderne Massenkommunikation unabdingbaren Tätigkeiten der Übermittlungshelfer sind anderweitig grundrechtlich abgesichert. 34 Degenhardt, in: Bonner Kommentar, Art. 5 Abs. 1 u. 2 Rdnr. 161; HoffmannRiem, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 1, 2 Rdnr. 24; ders., HbdVerfR, § 7 Rdnr. 22. 35 BVerfGE 61, 1 (8), st.Rspr.; zustimmend Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 2; noch weitergehend Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II Rdnr. 51 ff. 36 Zutreffend deshalb BVerfGE 95, 173 (181 ff.): Durch die Pflicht zur Veröffentlichung von Warnhinweisen auf Zigarettenschachteln werden die Hersteller von Tabakerzeugnissen nicht in ihrer negativen Meinungsäußerungsfreiheit tangiert. Die Produzenten verbreiten lediglich eine fremde Meinungsäußerung und nehmen deshalb nicht am Meinungsbildungsprozeß teil.
III. Meinungs- und Mediengrundrechte
177
Fremdntitzige Verbreitungstätigkeiten haben dann am Schutz der Kommunikationsgrundrechte teil, wenn sich die Vermittler eines der in Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG garantierten Kommunikationsmittel bedienen. Der Verfassungsgeber hat durch diese Norm eine eigenständige Kategorie von Übermittlungsmöglichkeiten, die zur Verbreitung von Meinungen besonders geeignet sind, neben Satz 1 nochmals geschützt, zugleich aber den thematischen Bezug zur Meinungsäußerung durchbrochen. Besonders deutlich wird dies durch den Begriff der Berichterstattung im Tatbestand der Rundfunk- und Filmfreiheit. Es ist zwar richtig, daß durch diese Einschränkung Meinungsäußerungen, die durch die Medien verbreitet werden, nicht aus der Gewährleistungsgarantie ausgeschlossen werden 37 . Es wird jedoch klargestellt, daß hier der tatbestandliche Anknüpfungspunkt nicht der Inhalt (Meinungsäußerung, Tatsachenmitteilung etc.), sondern allein das Verbreitungsverfahren unabhängig vom zu verbreitenden Inhalt ist. Die Mediengrundrechte sind also nicht inhaltlich, sondern instrumental ausgerichtet 38. Auf die Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit können sich deshalb auch diejenigen berufen, die nicht ihre eigenen, sondern fremde Meinungen oder Tatsachenberichte verbreiten. Die Abkoppelung vom Meinungsbegriff macht deutlich, daß die Gewährleistungen des Satzes 2 keine bloße Wiederholungen dessen sind, was Satz 1 bereits allgemein schützt. Zwar wird ebenfalls die freie Wahl eines Verbreitungsmediums garantiert, jedoch völlig unabhängig davon, ob das, was einem großen Zuhörer- oder Leserkreis zugänglich gemacht werden soll, eine Meinungsäußerung darstellt oder nicht. Zwischen den Schutzgegenständen der Meinungsäußerungsfreiheit auf der einen und den Medienfreiheiten auf der anderen Seite besteht damit keine inhaltliche Kongruenz 39 . Beide Gewährleistungstypen besitzen einen selbständigen Charakter und eine selbständige Funktion 40 . Nach dem Sinn und Zweck der Vorschriften stehen die Grundrechte daher nebeneinander. Ein normlogisches Spezialitätsverhältnis scheidet jedenfalls zwischen diesen Schutzgegenständen aus. Auch sonst spricht nichts dafür, daß der Pressefreiheit gegenüber der Meinungsfreiheit im Einzelfall der Vorrang einzuräumen ist. Die Grund37 BVerfGE 35, 202 (222); 60, 53 (63); Wendt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 Rdnr. 44 m. w. Nw. 38 Ebenso auch Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 I, II Rdnr. 65. Dieser Unterschied in der Gewährleistungsrichtung der Grundrechte wird verwischt, wenn die Medienfreiheiten als Verbreitungsfreiheiten von Meinungen bezeichnet werden; so aber Bullinger, HbdStR VI, § 142 Rdnr. 1 m. w.Nw. 39 Hoffmann-Riem, HbdVerfR, § 7 Rdnr. 31. 40 Insoweit auch Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52 (57); ders., AöR 112 (1987), 216 (234); Hoffmann-Riem, AöR 109 (1984), 304 (320); Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1399; Windthorst, Verfassungsrecht I, § 7 Rdnr. 51. 12 Heß
178
F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
rechte stehen sich nicht als Inhalts- und Ausübungsrecht gegenüber. Im Konkurrenzfall sind - wenn man so will - sowohl die Meinungsäußerungsfreiheit als auch das jeweilige Mediengrundrecht als inhaltsbestimmendes Recht betroffen. Es besteht keine normative Spezialität. Selbst Art. 18 GG gibt für eine anderweitige Deutung nichts her. Wenn der Wortlaut der Norm bestimmt, daß derjenige seine Grundrechte verwirkt, der „die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit [...] zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht", soll damit keine konkurrenzdogmatische Aussage getroffen werden 41 . Der Zusatz „insbesondere die Pressefreiheit" stellt lediglich klar, daß auch der mittels Zeitungsartikeln, Rundfunksendungen oder Flugblattaktionen nachhaltig und aggressiv geführte Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht durch dieses Grundrecht legitimiert wird. Im Gegenteil. Erst die massenhafte Verbreitung demokratiefeindlicher Propaganda begründet in aller Regel eine ernsthafte Gefahr für Freiheit und Demokratie. Die Presse kann eben nicht nur zur Information, sondern auch gezielt zur Desinformation und zur Verbreitung von Lügen und Hetzparolen verwendet werden. Entscheidend für den Verwirkungstatbestand ist dennoch nicht die Pressetätigkeit als solche, sondern der Kampf mittels feindlicher Meinungsäußerungen. Welche Medien dazu verwendet werden, ist sekundär. Die entscheidende Passage des Art. 18 GG ist deshalb so zu lesen: „Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Freiheit der Meinungsäußerung durch Presse, Rundfunk und Film [...] mißbraucht, verwirkt dieses Grundrecht" 42 . Die Konkurrenz zwischen den Grundrechtsnormen kann folglich nur ein Fall idealer Konkurrenz sein. Beide Grundrechte bilden parallel den Maßstab für die Prüfung von Verletzungsakten. c) Tatbestandsabgrenzung Freilich dürfen Konkurrenzsituationen nicht künstlich erzeugt werden. Im Verhältnis von Meinungsäußerungs- und Medienfreiheiten gilt in besonderer Weise das Gebot zur Sachverhaltszerlegung und Tatbestandsabgrenzung. Insbesondere die uferlose Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Meinungsfreiheit ist zu vermeiden. Viele Tätigkeiten des täglichen Lebens ent41
A.A. offenbar Brenner, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 18 Rdnr. 49 a.E. 42 Nur so ist es zu verstehen, wenn der Abgeordnete v. Mangoldt in den Ausschußsitzungen des Parlamentarischen Rats erklärt, daß Presse, Rundfunk und Film durch die Freiheit der Meinungsäußerung einbezogen seien, die Pressefreiheit in Art. 18 GG aber dennoch besonders angeführt werden könne; siehe JöR 1 (1951), 1 (172).
III. Meinungs- und Mediengrundrechte
179
halten einzelne Elemente, aus denen sich eine gewisse geistige Haltung ablesen läßt. Ein Mensch, der bei rotem Signal an der Fußgängerampel stehen bleibt, macht deutlich, daß er die Straßenverkehrsordnung achtet und es für wichtig hält, daß Erwachsene kein schlechtes Beispiel für Kinder abgeben. Eine Meinung wird aber allein durch das Beachten der Ampelsignale noch nicht geäußert. Gleiches gilt für viele Tätigkeiten im Presse- und Rundfunkwesen. Die Entscheidung, eine Meldung in den Nachrichten an einer bestimmten Stelle zu piazieren, beruht auf dem Ergebnis eines Abwägungsprozesses. Mit der Ausstrahlung der Nachrichtensendung wird für jeden Zuschauer erkennbar, welche Bedeutung der verantwortliche Redakteur den Ereignissen des Tages beimißt. Eine Meinungsäußerung ist dies aber nicht 4 3 . Das Äußern einer Meinung wird dadurch charakterisiert, daß der SichÄußernde willentlich zu einem Thema Stellung bezieht. Es muß ihm gerade darauf ankommen, mit der Abgabe der Erklärung Wirkungen zu erzielen. Das bloße Erkennbarwerden einer Geisteshaltung genügt den Anforderungen an eine Meinungsäußerung nicht. Würde einem Nachrichtenredakteur von staatlichen Kontrollstellen vorgeschrieben, welche Meldungen in welcher Reihenfolge zu senden sind, ist nicht die Meinungsfreiheit, sondern ausschließlich die Presse- bzw. Rundfunkfreiheit betroffen. Bei sachgerechter Tatbestandsauslegung erweist sich die ansonsten bestehende Konkurrenzlage zwischen Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG als bloßer Scheinkonflikt. Beim Zusammentreffen der Gewährleistungen aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG und aus Satz 2 sind daher mehrere Fallgestaltungen denkbar. Erschöpft sich die Tätigkeit des Trägers der Pressefreiheit in der Erfüllung seiner Funktion als Mittler zwischen einem dritten Autor und den Rezipienten, wird mangels eigener Meinungsäußerung nur der Tatbestand der Pressefreiheit aktualisiert. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG ist folglich allein anwendbar. Es besteht keine auflösungsbedürftige Konkurrenzlage. Wird durch einen Presseunternehmer, Redakteur etc. ein eigener oder ihm zurechenbarer Beitrag veröffentlicht, erfüllt er auch hier eine Mittlerfunktion, diesmal allerdings als Träger seiner eigenen Meinungsäußerung. Neben der Pressefreiheit ist dann auch die Meinungsfreiheit tatbestandlich einschlägig. Beide Grundrechte kommen nebeneinander zur Anwendung. Der Autor eines irgendwie gearteten, zur Veröffentlichung vorgesehenen Manuskripts kann sich hingegen in bezug auf den Herstellungsprozeß nur auf die Meinungsäußerungsfreiheit berufen. Die Schwelle zur pressetypischen Tätigkeit ist noch nicht erreicht. Der Tatbestand des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG ist nicht erfüllt. 43
A.A. offenbar Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II Rdnr. 51 unter Berufung auf BVerfGE 12, 205 (260); 31, 314 (326). 12*
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F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen d) Schutzzweck
Neben der sorgfältigen Abgrenzung der Tatbestände spielen die jeweiligen Schutzzwecke der Grundrechtsnormen für das Verhältnis der Grundrechte zueinander eine nicht zu unterschätzende Rolle 4 4 . Zwar werden in vielen Fällen staatliche Maßnahmen sowohl in den Schutzgegenstand der Meinungs- als auch der Pressefreiheit eingreifen. Dies ist jedoch nicht zwangsläufig so. Die Verurteilung des Autors eines Presseartikels wegen Beleidigung bezieht sich nur auf den Inhalt der Meinungsäußerung als strafrechtlich relevante Handlung. Die Tatsache, daß die fragliche Äußerung in einem Presseorgan publiziert wurde, ist völlig unerheblich. Selbst wenn also der Tatbestand der Pressefreiheit erfüllt sein sollte, bildet allein Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG den Prüfungsmaßstab für die Überprüfung der Grundrechtmäßigkeit des strafgerichtlichen Urteils 45 . Anders ist zu entscheiden, wenn es um die technischen und organisatorischen Voraussetzungen der Pressetätigkeit geht. Sollten neben den Tatbestandsvoraussetzungen der Pressefreiheit auch die der Meinungsfreiheit erfüllt sein, ist dennoch allein auf die Pressefreiheit abzustellen, wenn ausschließlich der Schutzzweck dieser Norm berührt ist. e) Fallbeispiele Die bisher gefundenen Ergebnisse lassen sich anhand einiger weiterer Beispielsfälle veranschaulichen. (1) Die Werkszeitung eines großen Unternehmens enthält u.a. eine Rubrik, in der Zuschriften von Mitarbeitern zu betrieblichen Themen veröffentlicht werden. Als in mehreren Beiträgen schwere Vorwürfe gegen den Betriebsrat erhoben werden, verlangt dieser, Leserbriefe nur noch mit seiner Zustimmung abzudrucken und den Namen des Autors zu veröffentlichen. Die Arbeitsgerichte geben einem entsprechenden Klagebegehren des Betriebsrats statt 46 . Die Forderungen des Betriebsrates beziehen sich auf das Verfahren und die Organisation der Redaktionsarbeit. Nur wenn der Betriebsrat angehört und der Autor namentlich angegeben wird, darf der Arbeitgeber und Herausgeber Zuschriften aus dem Beschäftigtenkreis in der Betriebszeitung veröffentlichen. Damit ist der Kern der publizistischen Tätigkeit betroffen und Art. 5 Abs. 1 S. 2, 1. Var. GG tatbestandlich einschlägig. Die Meinungsäu44
Allgemein dazu oben S. 165 f. Ebenso BVerfGE 85, 23 (30); BVerfG (Kammer) NJW 1993, 916. Vgl. auch BVerfGE 85, 1 (11 ff.); 86, 122 (127 f.). 46 Zu diesem Sachverhalt BVerfGE 95, 28 ff. 45
III. Meinungs- und Mediengrundrechte
181
ßerungsfreiheit spielt hingegen keine Rolle. Die Auswahl und Anordnung der Leserbriefe kann zwar u.U. die Einstellung des Redakteurs oder des Herausgebers der Betriebszeitung zu diesem Thema deutlich werden lassen, eine gezielte Äußerung ist darin aber nicht zu sehen 47 . Folglich fehlt es schon an den Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG. Prüfungsmaßstab zur verfassungsrechtlichen Überprüfung der arbeitsgerichtlichen Entscheidungen ist deshalb allein die Pressefreiheit 48. (2) Eine Gruppe kritischer Aktionäre eines großen Chemiekonzerns will ein Flugblatt veröffentlichen, in dem u.a. der Vorstandsvorsitzende dieses Unternehmens als Handlanger von Giftgasmördern bezeichnet wird. Bevor die Druckschrift auf der Aktionärsversammlung verteilt werden kann, werden die Initiatoren auf Antrag des Konzerns dazu verurteilt, die fraglichen Äußerungen zu unterlassen 49. Das Vertreiben und Verteilen eines Presseprodukts durch die Autoren erfüllt die Tatbestandsvoraussetzungen sowohl der Meinungsäußerungsfreiheit als auch der Pressefreiheit. Beide Grundrechte sind tatbestandlich parallel anwendbar. Da im vorliegenden Fall weder ein normlogisches noch ein normatives Spezialitätsverhältnis festzustellen ist, konkurrieren die Grundrechtsnormen ideal. Allerdings ist die unterschiedliche abwehrrechtliche Zielrichtung der Grundrechte zu berücksichtigen. Während die Meinungsfreiheit vor inhaltlichen Beschränkungen schützt, richtet sich die Pressefreiheit gegen Beeinträchtigungen der Pressearbeit als solcher. Im vorliegenden Fall sanktioniert das zivilgerichtliche Urteil den Inhalt des Flugblatts und greift damit in den Schutzgegenstand des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG ein. Die Pressefreiheit ist hingegen nicht berührt. Das Abwehrrecht bewahrt den pressebezogenen Schutzgegenstand nicht vor staatlichen Maßnahmen, die gegen die Meinungsinhalte gerichtet sind. Im Fall der Verurteilung auf Unterlassung von bestimmten Meinungsäußerungen ist deshalb ausschließlich anhand des Maßstabs von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG zu überprüfen, ob in grundrechtlicher Hinsicht ein Verfassungsverstoß vorliegt.
3. Verhältnis der Informationsfreiheit zu den Mediengrundrechten am Beispiel der Pressefreiheit Das Informationsgrundrecht des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG gewährt die Freiheit, in jeder erdenklichen Art Informationen entgegenzunehmen und zu beschaffen. Die Unterrichtung muß lediglich aus allgemein zugänglichen 47
A.A. Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II Rdnr. 51. 48 Im Ergebnis ebenso BVerfGE 95, 28 (34). 49 Vgl. zu diesem Fall auch BVerfGE 85, 1 (2ff.); sowie Windthorst, Verfassungsrecht I, § 7 Rdnr. 49.
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F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
Informationsquellen erfolgen, damit die Handlungen durch das Grundrecht geschützt sind. Auch Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG schützt die Beschaffung von Informationen aus allgemein zugänglichen Quellen. Insoweit sind die Tatbestände der Pressefreiheit und der allgemeinen Informationsfreiheit identisch 50 . Da der Anwendungsbereich von Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG jedoch auf Tätigkeiten beschränkt ist, die im Rahmen der Pressearbeit stattfinden, ist die Norm in diesem Bereich normlogisch speziell 51 . Freilich sind die für beide Grundrechte aus Art. 5 Abs. 2 GG zu entwickelnden Begrenzungsregelungen dekkungsgleich, so daß beide Normen im Prinzip ein inhaltsgleiches Grundrecht auf Informationsverschaffung aus allgemein zugänglichen Quellen gewähren 52 . Darüber hinaus besitzt die Pressefreiheit jedoch auch einen selbständigen Anwendungsbereich. So können sich die im Pressewesen beschäftigten Personen auch bei der Ausforschung von lediglich individuell zugänglichen Quellen auf den Schutz der Pressefreiheit berufen. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG schützt damit beispielsweise das Informantengespräch, die persönliche Inaugenscheinnahme in privat zugänglichen Bereichen etc. Der Gewährleistungstatbestand beschreibt also neben der Verhaltensfreiheit, sich aus allgemein zugänglichen Quellen zu unterrichten, eine zweite, von der ersten abtrennbare und daher selbständige Verhaltensfreiheit. Ist dieser Schutzgegenstand der Pressefreiheit einschlägig, bildet mangels Anwendbarkeit der allgemeinen Informationsfreiheit ausschließlich Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG den grundrechtlichen Entscheidungsmaßstab für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit beeinträchtigender Hoheitsakte.
4. Verhältnis der Mediengrundrechte zueinander Die Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit sind verfassungsrechtlich ausdrücklich gesicherte Aspekte der Freiheit publizistischer Vermittlung durch Massenmedien 53 . Die Abgrenzung zwischen den Normbereichen der Grundrechtsnormen erfolgt über die Tatbestandsmerkmale Presse, Rundfunk und F i l m 5 4 . Hier wird die instrumentale Ausrichtung der Mediengrundrechte deutlich. Entscheidend für die Zuordnung ist allein die eingesetzte Verbrei50 Bullinger, HbdStR VI, § 142 Rdnr. 15; Ipsen, Staatsrecht II, Rdnr. 419 m.Nw. für die Rspr. 51 Zutreffend insoweit Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 19; Bethge, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 63. 52 Ebenso Degenhart, in: Bonner Kommentar, Art. 5 Abs. 1 u. 2 Rdnr. 314. 53 Hoffmann-Riem, HbdVerfR, § 7 Rdnr. 24. 54 Allgemeine Meinung, siehe nur Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 20, 29, 41.
III. Meinungs- und Mediengrundrechte
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tungstechnologie, also die Art der technischen Umsetzung der Meinungsund Tatsachen Verbreitung 55. Kennzeichnend für die Presse ist die Herstellung von Druckwerken. Rundfunk wird durch die Aussendung elektromagnetischer Wellen oder elektrischer Impulse betrieben, und ein Film ist ein Bild- oder Datenträger, der am Abspielort vorgeführt wird 5 6 . Wie schwierig die Abgrenzung im Einzelfall jedoch sein kann, zeigt die intensive Diskussion darüber, ob eine Online-Verbindung über das Internet als Presse oder Rundfunk einzuordnen ist 5 7 . Zukünfig sind immer dann, wenn die verfassungsrechtliche Beurteilung neuer Verbreitungsmedien ins Haus stehen, ähnliche Auseinandersetzungen zu erwarten. Allein, von konkurrenzdogmatischem Interesse sind diese Abgrenzungsfragen nicht. Nach der eindeutigen Intention der Verfassung gibt es kein einheitliches Mediengrundrecht, in dem die drei ausdrücklich benannten Kommunikationsgrundrechte des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG aufgehen 58 . Die textlich vorgegebene Trennung muß aufgrund unterschiedlicher Strukturen und Bedingtheiten auch interpretatorisch durchgehalten werden 59 . Dies bedeutet, daß egal welcher medialen Einzelfreiheit das fragliche Kommunikationsmittel zugeordnet wird, immer nur eines der Grundrechte tatbestandlich einschlägig sein kann. Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit schließen sich gegenseitig aus, so daß Konkurrenzsituationen in keinem Fall entstehen können 60 . Die entsprechenden Grundrechtsnormen stehen in einem strengen Alternativverhältnis.
55
Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 1, 2 Rdnr. 153; Bullinger, HbdStR VI, § 142 Rdnr. 5; Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 221 f. mit ausführlicher Wortlautanalyse. 56 Zu den Definitionen siehe nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 567, 573, 580. 57 Vgl. Bullinger, AfP 1996, Iff.; ders., JZ 1996, 385 (387ff.) einerseits und Scherer, AfP 1996, 213 ff. andererseits. 58 Bethge, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 118. Für ein übergreifendes Verständnis der medialen Freiheiten hingegen Bullinger, HbdStR VI, § 142 Rdnr. 86. 59 Bethge, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 118. 60 Bethge, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 127 hält hingegen Konkurrenzlagen zwischen Rundfunk- und Filmfreiheit für möglich.
184
F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
IV. Kunstfreiheit - Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG 1. Verhältnis zur Meinungsäußerungsfreiheit a) Einleitung Einen zentralen Platz in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu den Konkurrenzen der Kunstfreiheit nimmt das Verhältnis zwischen Kunst und Meinungsäußerungsfreiheit ein. Angesichts der verhältnismäßig zahlreichen Entscheidungen, die sich im Kern mit Fragen der Rechtmäßigkeit von Karikaturen und satirischen Texten beschäftigen, ist dieser Befund auch nicht verwunderlich. Sowohl die Meinungsfreiheit als auch die Kunstfreiheit schützen Formen des geistigen Austauschs 61 . Überschneidungen ergeben sich damit zwangsläufig 62 . Bereits in der Mephisto-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht die Ansicht vertreten, Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG sei gegenüber Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG die spezielle Regelung 63 . Bis heute hält es nach wiederholter eigener Bekundung an dieser Einschätzung fest 64 . Zugleich ist das Gericht offenbar aber auch der Meinung, daß die an sich spezielle Kunstfreiheit die allgemeine Meinungsäußerungsfreiheit nicht in jedem Fall verdrängen könne, sondern die Anwendbarkeit des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG unter gewissen Umständen unberührt bleibe. So wird in mehreren Entscheidungen auf Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG als Prüfungsmaßstab rekurriert, obwohl auch in diesen Fällen das fragliche Verhalten dem Kunstbegriff und damit dem Schutz von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG unterfällt 65 . Als Begründung wird angeführt, daß die Frage der Schutzbereichseröffnung des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG dahinstehen könne, da bereits das Grundrecht auf Meinungsfreiheit verletzt sei 6 6 Die Intention dieser Rechtsprechung ist klar. Das Gericht erspart sich auf diesem Wege schwierige Untersuchungen zu Umfang und Reichweite der Kunstfreiheit. Methodisch zulässig ist diese Vorgehensweise freilich nicht. Hat der Verfassungsgeber mit der Normierung des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG 61
Treffend daher die Bezeichnung „Kommunikationsgrundrechte"; Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 III Rdnr. 13; Denninger, HbdStR VI, § 146 Rdnr. 16. 62 Henschel, NJW 1990, 1937 (1943). 63 BVerfGE 30, 173 (191 f., 200). 64 BVerfGE 67, 213 berücksichtigt nur die Kunstfreiheit, obwohl auch die Verletzung der Meinungsfreiheit gerügt wurde. Ausdrücklich für einen Vorrang kraft Spezialität aber BVerfGE 75, 369 (377); 81, 278 (291). 65 BVerfGE 68, 226 (233); 86, 1 (9); BVerfG (Kammer) NJW 1998, 1386 (1387). 66 Zuerst BVerfGE 68, 226 (233). Ebenso BGH NJW 1994, 124 (127, Anm. d. Schriftltg.).
IV. Kunstfreiheit - Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG
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eine spezielle Sonderregelung für künstlerische Meinungsäußerungen getroffen, schließt diese nach konkurrenzdogmatischen Grundsätzen die Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG aus 67 . Rechtsfolgebestimmend ist allein die auf Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG basierende Grundrechtsnorm. Die vom Bundesverfassungsgericht praktizierte Prüfungstechnik ist nur dann zulässig, wenn Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit nicht in einem Spezialitätsverhältnis stehen, sondern ideal konkurrieren. Greift ein Hoheitsakt ungerechtfertigt in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG ein, muß nach dem Verfassungsgrundsatz vom größtmöglichen Grundrechtsschutz nicht mehr festgestellt werden, ob auch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG grundrechtlichen Schutz gewährt. Es ist in diesem Fall möglich, die tatbestandliche Anwendbarkeit der Kunstfreiheitsgaranie offenzulassen. Die Vorgehensweise des Gerichts könnte daher als Indiz dafür geweitet werden, daß in Sonderfällen Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit ideal konkurrieren, d.h. nebeneinander maßstabsbestimmend sind 68 . Allerdings fehlt dann eine schlüssige Erklärung dafür, in welchen Fällen Ideal- und wann Gesetzeskonkurrenz besteht. Näher liegt deshalb die Vermutung, daß das Gericht zwar auch in diesen Entscheidungen ein Spezialitätsverhältnis zwischen den Grundrechten annimmt, zugleich aber davon ausgeht, daß das vorbehaltlos gewährte Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG die abstrakt höhere Eingriffsbarriere darstellt 69 . Wäre dies tatsächlich so, könnte durch einen einfachen Erst-Recht-Schluß von einer Verletzung des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG auf eine Verletzung des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG geschlossen werden. Den Nachweis dafür hat das Gericht jedoch bislang nicht erbracht. Zwar sind vorbehaltlos garantierte Grundrechte nur durch kollidierendes Verfassungsrecht zu begrenzen. Ob die Meßlatte im Einzelfall tatsächlich höher liegt, kann aber erst nach Durchführung der notwendigen Abwägungsverfahren festgestellt werden. Es sind durchaus Fälle denkbar, in denen die Spezialität der Kunstfreiheitsgarantie nicht zu einer Privilegierung der Kunstausübung führt 7 0 . 67
Vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. III Rdnr. 13. Keinen Widerspruch zur sonstigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sieht offenbar Würkner, Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, S. 162f. 68 Diese Schlußfolgerung zieht offenbar auch Bethge, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 194, der dann, wenn es um satirische Meinungsäußerungen geht, ebenfalls Idealkonkurrenz annimmt. 69 In der Literatur wird diese Ansicht verteten von Degenhart, in: Bonner Kommentar, Art. 5 Abs. 1 u. 2 Rdnr. 754; ebenso Bullinger, HbdStR VI, § 142 Rdnr. 83, jedoch für das Verhältnis von Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG zu Art. 5 Abs. 3 GG, allerdings unter jeweils unzutreffender Verweisung auf das Bundesverfassungsgericht. Insbesondere aus der zitierten Mephisto-Entscheidung, BVerfGE 30, 173 (191), geht nicht hervor, daß Art. 5 Abs. 3 GG einen abstrakt höheren Schutz gewährt.
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F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
Das Bundesverfassungsgericht wäre besser beraten, die einmal eingeschlagene Richtung beizubehalten und nicht zwischen den Maßstabsnormen zu wechseln. Dies würde freilich eine eindeutige Stellungnahme zum Kunstbegriff voraussetzen. Insbesondere wäre eine klare Abgrenzung zwischen künstlerischer Satire und lediglich satirisch eingefärbter Meinungsäußerung notwendig. Solange das Gericht diese Frage offenläßt und sich statt dessen auf Platitüden zurückzieht, wie: „Satire kann Kunst sein; nicht jede Satire ist jedoch Kunst" 7 1 , wird es sich auch weiterhin die Möglichkeit offenhalten, in problematischen Fällen den Weg über Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG zu gehen. Die Literatur hat das Spezialitätskonzept des Bundesverfassungsgerichts weitgehend gebilligt 7 2 . Anlaß zu erneuter Diskussion bot jedoch die Deutschlandlied-Entscheidung73. Diesem Beschluß liegt folgender Sachverhalt zugrunde: In einer Zeitung sollte eine satirische Nachdichtung des Deutschlandlieds veröffentlicht werden. Das zuständige Amtgericht beschlagnahmte jedoch vor der Auslieferung die gesamte Ausgabe. Der betroffene Redakteur ließ daraufhin eine Presseerklärung drucken und verteilen, in der über die Umstände der Beschlagnahme berichtet wurde. Das Bundesverfassungsgericht weist nun in den Entscheidungsgründen darauf hin, daß diese Presseerklärung nicht den Schutz der Kunstfreiheit genießt, obwohl zur Erläuterung der Geschehnisse der Text des Gedichts mitzitiert wird. In diesem Fall diene die Kunst lediglich als Beiwerk der dargestellten Meinung und nicht deren inhaltlicher Vermittlung 74 . Prüfungsmaßstab sei daher insoweit Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG. Mit dieser Feststellung rückt das Gericht - entgegen in der Literatur geäußerter Vermutungen - nicht von seiner bisherigen Bewertung des Konkurrenzverhältnisses ab 7 5 . Der Senat stellt lediglich klar, daß zwischen 70
Dazu näher Nolte, EuGRZ 1988, 253 (257); a.A. Herzog, in: Maunz/Dürig/ Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 I, II Rdnr. 34a. Gegen eine abstrakte „StärkenFeststellung anhand der Begrenzungsregelung auch Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 304 ff., 394ff.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Rdnr. 316. 71 BVerfGE 86, 1 (9). 72 Denninger, HbdStR VI, § 146 Rdnr. 15; Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 III (Kunst) Rdnr. 24, 47; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 66; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 3 Rdnr. 267, 286; Degenhart, in: Bonner Kommentar, Art. 5 Abs. 1 u. 2 Rdnr. 754; Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 58 f.; differenzierend Bethge, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 194; generell ablehnend Ipsen, Staatsrecht II, Rdnr. 491 ff; Bleckmann, Staatsrecht II, § 26 Rdnr. 137. 73 BVerfGE 81, 298. 74 BVerfGE 81, 298 (305). 75 So aber die Schlußfolgerung von Henschel, NJW 1990, 1937 (1943).
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einer Meinungsäußerung unter Verwendung künstlerischer Elemente und dem bloßen Zitieren eines Gedichts ein wesentlicher Unterschied besteht. Die reine Bezugnahme auf die Kunst ist selbst keine künstlerische Betätigung und wird deshalb von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG tatbestandlich nicht erfaßt. Darüber hinaus werden keine generellen Abgrenzungskriterien für die beiden in Rede stehenden Tatbestände festgelegt. Die Äußerung des Gerichts darf insbesondere nicht so gedeutet werden, daß immer dann, wenn Meinungsäußerungen nur geringfügig mit künstlerischen Mitteln verfremdet werden, die Kunst als Beiwerk anzusehen ist und Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG deshalb nicht zur Anwendung kommen kann 7 6 . In der Literatur wird jedoch ein solches Konzept schon seit geraumer Zeit vertreten. Nach dieser Auffassung soll die Abgrenzung zwischen den Tatbeständen der Kunst- und Meinungsäußerungsfreiheit einzelfallorientiert nach der jeweils konkret höheren Sachnähe und größeren Sachzentralität erfolgen 77 . Dies bedeutet aber, daß im Ergebnis nicht der Kunstbegriff, sondern die größere Nähe zum einen oder zum anderen Tatbestand darüber entscheidet, ob ausschließlich Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG oder ausschließlich Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG anwendbar ist 7 8 . Zwangsläufig führt eine solche Differenzierung zu einer teilweisen Auslagerung des Kunstfreiheitsschutzes aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 G G 7 9 . Immer dann, wenn ein Kunstwerk eine besonders hohe Aussagekraft besitzt, wäre allein die Meinungsfreiheit einschlägig; wenn der künstlerische Gehalt überwiegt, käme Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG zum Tragen. Es ist aber keinesweges einzusehen, warum beispielsweise politische oder sonstige Stellungnahmen, die in künstlerisch ironischer Form überzeichnet und daher Kunst sind, von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG erfaßt sein sollen, während Nonsens-Theater oder dadaistische Malerei als Verkörperungen sinnentleerter Kunst den Schutz von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG genießen. Zudem sind schwierige Abgrenzungsprobleme zur Festellung der Stärke des Kunstbezugs vorprogrammiert, die sicherlich nicht mit solch vagen Kriterien wie Sachzentralität oder Sachnähe befriedigend zu lösen sind. 76 In diese Richtung interpretiert Henschel a.a.O. die Entscheidung. Zustimmend Fehling, JuS 1996, 431 (433). 77 Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. III Rdnr. 13 im Anschluß an Leisner, UFITA 37 (1962), 129 (146). Ähnlich neuerdings Reupert, NVwZ 1994, 1155 (1164). Auch Degenhart, in: Bonner Kommentar, Art. 5 Abs. 1 u. 2, Rdnr. 148 hält nur Art. 5 Abs. 1 GG für einschlägig, wenn die künstlerischen Elemente deutlich und offensichtlich hinter einer Meinungsäußerung zurücktreten. 78 Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. III Rdnr. 13. Nach dem „Beiwerk"-Kriterium differenzierend Würkner, NJW 1994, 914. 79 Würkner, Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, S. 163.
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Die Freiheit der Kunst wird in Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG völlig unabhängig von Funktion, Zielrichtung oder Erscheinungsform des künstlerischen Wirkens gewährleistet. Voraussetzung ist nur, daß die fragliche Tätigkeit die Kriterien des Kunstbegriffs erfüllt 8 0 . Die Abgrenzung zu den sonstigen Grundrechtstatbeständen hat deshalb ausschließlich über das Tatbestandsmerkmal Kunst zu erfolgen.
b) Schutzgegenstandsbestimmung aa) Keine normlogische Spezialität der Kunstfreiheit Der Tatbestand der Kunstfreiheit beschreibt eine ganze Reihe unterschiedlicher Schutzgegenstände. Zu differenzieren ist zunächst zwischen dem sog. Werkbereich, dazu zählen alle Tätigkeiten zur Herstellung des Kunstwerks, und dem sog. Wirkbereich. Letzterer erfaßt diejenigen Handlungsweisen, die der Vermittlung des Kunstwerks an Dritte dienen 81 . Überschneidungen mit der Meinungsäußerungfreiheit können nur im Wirkbereich auftreten. Der reine Schöpfungsvorgang ist meinungsneutral. Das Schreiben eines Romans, das Verfertigen einer Komposition oder das Malen von Bildern erfolgt in aller Regel ohne Kenntnisnahme durch die Öffentlichkeit. Erst durch das Präsentieren, Zugänglichmachen bzw. Veröffentlichen des Kunstwerks werden die vergegenständlichten Meinungsinhalte für Dritte sichtbar und erfahrbar. Falls Schöpfung und Darstellung des Werkes ausnahmsweise in einer Handlung zusammenfallen, wie etwa bei einer freien Improvisation eines Polit-Kabarettisten, werden die Schutzgegenstände lediglich zeitgleich aktualisiert. Inhaltlich vollzieht sich keine Veränderung. D.h. auch in diesem Fall konkurrieren nur der Schutzgegenstand der Meinungsäußerungsfeiheit und der Schutzgegenstand der Kunstdarstellungs- oder -verbreitungsfreiheit. Zwischen beiden Schutzgegenständen besteht kein normlogisches Spezialitätsverhältnis. Die Kunstverbreitungsfreiheit wäre nur dann normlogisch speziell, wenn durch jede von ihr erfaßte Handlung zugleich ein Erklärungstatbestand gesetzt würde. Mit anderen Worten, jede Darstellung von Kunst müßte eine Meinungsäußerung sein. Daß dem nicht so ist, ist offensichtlich. Viele rein zu ästhetischen Zwecken geschaffene Gemälde, Fotos 80
Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 III (Kunst) Rdnr. 24; ebenso Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 3 Rdnr. 286. 81 Allgemeine Meinung, siehe nur Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 3 Rdnr. 283 ff.
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und sogar lyrische oder epische Werke beinhalten keine Elemente des Dafürhaltens oder der Stellungnahme, durch die eine bestimmte Meinung des Künstlers zur irgendeinem Thema deutlich würde. Die Ausstellung eines Landschaftsgemäldes lädt zwar den Betrachter zu einer sinnlich-ästhetischen Kommunikation 82 mit dem Werk ein. Dem Meinungsbegriff des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG genügt dies freilich nicht. Folglich überdecken sich die Schutzgegenstände nicht im Verhältnis zweier Kreise mit unterschiedlichen Radien 83 .
bb) Fälle normativer Spezialität der Kunstfreiheit In Betracht kommt jedoch ein Spezialitätsverhältnis kraft wertender Zuordnung. Ein erstes, zugegebenermaßen schwaches Indiz für ein solches Verhältnis läßt sich aus der systematischen Stellung der Kunstfreiheitsgarantie ableiten. Die Kunstfreiheit ist wie die Forschungs- und Lehrfreiheit gemeinsam mit den anderen wichtigen Kommunikationsfreiheiten in einem Grundrechtsartikel geregelt. Anders als die Medienfreiheiten unterliegt die Kunstgarantie aber nicht der Begrenzungsregel des Art. 5 Abs. 2 GG. Der Verfassungsgeber hat hier auf eine zusätzliche Rechtsfolgevoraussetzung neben dem Tatbestand verzichtet. Diese Abweichung spricht dafür, die Kunstfreiheit als eine gegenüber der Meinungsfreiheit spezielle Form der Kommunikationsfreiheit anzusehen84. Deutlicher wird das Spezialitätsverhältnis durch die Untersuchung des Telos der Regelung. Die Darstellung von Kunstwerken mit Aussagegehalt vollzieht sich immer als ein Akt des geistigen Austausches zwischen Künstler und Kunstbetrachter. Darin unterscheidet sich die künstlerische Entfaltung nicht von jeder anderen Form der Meinungsäußerung. Zwar erfolgt die geistige Einflußnahme zunächst nur einseitig durch den Künstler. Zuschauer, Zuhörer oder Leser verhalten sich dennoch nicht passiv. Die vom Künstler beabsichtigte Wirkung tritt nur dann ein, wenn sich der Rezipient auf das Dargebotene einläßt. Künstlerische Darstellungen bedienen sich häufig des Verfremdungseffekts. Die Verfremdung dient dazu, die vom Künstler beabsichtigte Aussage oberflächlich zu verschleiern, sie zugleich jedoch für den aktiv wahrnehmenden Betrachter viel schärfer und deutlicher zu konturieren, als dies in anderer Form möglich wäre. Die Kunst fordert die Imaginationskraft und die Reflektionsfähigkeit des Zuschauers. Sie ermöglicht es dem Betrachter, 82
Mahrenholz, HbdVerfR § 26 Rdnr. 37. So auch Bleckmann, Staatsrecht II, § 26 Rdnr. 137. 84 Ebenso bereits BVerfGE 30, 173 (191 f.) mit Ausführungen zur Genese des Grundrechts. 83
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im Kunstwerk einen ganz individuellen und nur von ihm erfahrbaren Sinn zu ergründen 85 . Die künstlerische Aussage ist damit nie objektiv bestimmbar, sondern nur subjektiv auf der Grundlage des jeweiligen individuellen Erfahrungshorizonts zu erfassen 86. Genau dies eröffnet dem Künstler phantastische Möglichkeiten. Die Kunst vermag es, bestimmte Dinge auf den Punkt zu bringen, ohne sie überhaupt anzusprechen 87. Durch Übertreibungen und Überzeichnungen von Personen oder Geschehnissen kann der Bezug zum Realen vernebelt, zugleich aber das Groteske, Lächerliche, Zynische oder Grausame der Realität erst deutlich herausgestellt werden. Kunst vermittelt ihre Inhalte emotional, viel seltener rational. Sie erzielt ihre Wirkung dementsprechend unterschwellig und oft auf eine für den Betrachter unbewußte Weise. Eben dies macht Kunst für die staatliche Macht gefährlich 88 und fordert damit vielfältige gegen die Kunst gerichtete staatliche Sanktionen und Eingriffshandlungen heraus. Wenn aber die Kunst gerade wegen dieser typischen Gefährdungslage gesondert und vorbehaltlos geschützt wird, kann dies nur bedeuten, daß die Kunstfreiheitsgarantie die Garantie der Meinungsfreiheit für den Bereich der künstlerisch ausgeformten Kommunikation verdrängt. Im Überschneidungsbereich von Kunst- und Meinungsäußerungsfreiheit weist die Kunstausübung und -darstellung alle Elemente einer Meinungsäußerung auf. Die Kunstfreiheit „konsumiert" also den Schutzgehalt des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG vollständig 89 .
cc) Tatbestandsabgrenzung - Exkurs zum Kunstbegriff Die Kunstfreiheit verdrängt die Meinungsäußerungsfreiheit freilich nur dann, wenn der Tatbestand des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG auch tatsächlich einschlägig ist. Die Feststellung, ob dies der Fall ist, bereitet jedoch häufig nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Eine satirische Meinungsäußerung wird nach der hier vertretenen Ansicht nur dann zur Kunst, wenn der Verfremdungseffekt für den Betrachter oder Zuhörer offenbar ist. Im Vordergrund der künstlerischen Darstellung steht nicht die sachliche Information, die mittels Karikatur oder Satire mitgeteilt 85
Mahrenholz, HbdVerfR § 26 Rdnr. 6. Mahrenholz, HbdVerfR § 26 Rdnr. 1 ff., 6. 87 Man denke nur an die Liedermacher und Kabarettisten in der DDR, denen es trotz schärfster Zensur gelang, die Marodität und Verfaultheit des Systems in ihren Liedern und auf der Bühne darzustellen. 88 Ebenso Mahrenholz, HbdVerfR § 26 Rdnr. 6. 89 Bethge, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 48. 86
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wird. Entscheidend ist der durch die Verfremdung erzielte originelle Aussagewert 9 0 . Folglich ist auch die Frage, ob eine bildliche Darstellung oder ein Text den Schutz der Kunstfreiheit genießt, danach zu beantworten, ob die Darstellungsweise neben der Sachaussage eine Eigenbedeutung besitzt oder ob die satirischen oder karikaturhaften Anflüge nur als Stilelemente in den Dienst schriftstellerischer oder zeichnerischer Metaphorik gestellt werden 91 . Ein Flugblatt, das neben entsprechenden Bildern einen Text enthält, der begründet, warum Soldaten Mörder seien, klagt auf krasse und übertriebene Weise an 9 2 . Um Kunst handelt es sich dennoch nicht. Die verbal verschärfte Argumentation enthält nichts Verfremdendes. Die vom Autor getroffene Aussage wird direkt durch die gewählten Formulierungen deutlich. Der Text ist so zu verstehen, wie er geschrieben wurde. Damit ist eine solche Veröffentlichung durch Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG und nicht durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG geschützt. Das gleiche gilt, wenn auf einer Plakattafel unter der Überschrift „Alle reden vom Klima - Wir ruinieren es" die Porträts zweier Vorstandsvorsitzender großer Wirtschaftsunternehmen abgebildet werden 93 . Trotz sicher vorhandener Ironie in der Schlagzeile wird durch das Plakat nur mitgeteilt, daß die unterzeichnende Umweltschutzorganisation der Ansicht ist, die entsprechenden Unternehmen seien verantwortlich für die eintretende Klimaveränderung. Diese Aussage läßt sich bereits unmittelbar dem Wortsinn entnehmen. Der sarkastische Anflug in der Formulierung der Überschrift wie auch in der gesamten Gestaltung des Plakats hat keine selbständige Bedeutung. Es handelt sich daher nicht um Kunst im Sinne des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG 9 4 . 90
So äußerst treffend Mahrenholz, HbdVerfR § 26 Rdnr. 42. Mahrenholz, HbdVerfR § 26 Rdnr. 42ff.; zustimmend Gounalakis, NJW 1995, 810 (812); Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 I, II Rdnr. 48. Sehr anschaulich auch Steffen, in: Festschrift für Simon, S. 368: „Wo die satirische Einkleidung als bloßes Stilmittel eingesetzt wird, etwa in gelegentlichen Passagen einer politischen Wahlrede oder eines Zeitungsberichts oder in einer politischen Witzzeichnung, wo also darauf verzichtet wird, im Spannungs-Hin-undHer zwischen der Ent-Zeichnung der Realität und ihrer Be-Zeichnung im Inhalt Widersprüche zwischen ihrem Erscheinen und ihrem Wesen zu artikulieren, da geht es wohl auch hier nicht mehr um Erfahrungs- und Bewältigungsprozesse, die der verfassungsrechtliche Kunstbegriff meint." 92 Siehe BVerfGE 93, 266 (275). 93 Siehe BGH NJW 1994, 124. 94 Der BGH a.a.O. hat die Frage offengelassen. Interessanterweise geht auch Staeck, der als Graphiker und Karikaturist das fragliche Plakat geschaffen hat, davon aus, daß seine Art der Darstellung vordergründig eine Dimension der Meinungsfreiheit sei; Staeck, in: Mühleisen (Hrsg.), Grenzen politischer Kunst, S. 87. Freilich hat das Selbstverständnis des Künstlers nur begrenzte Bedeutung. Es kann jedoch als Indiz für eine objektivierende Auslegung herangezogen werden; Wendt, 91
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F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
Anders ist es zu beurteilen, wenn der Moderator einer Satire-Talk-Show während des Interviews geschickt den Spitznamen seiner Gesprächspartnerin ins Spiel bringt, um in ironischer Weise auf deren Vorleben anzuspielen 9 5 . Die Bemerkung, die anwesende Adelige habe doch früher auch den Namen „Münzen-Erna" gehabt, wird nicht eingebaut, um dem Publikum ein lustiges Detail aus dem Leben der betreffenden Dame mitzuteilen. Die Information wird vielmehr benutzt, um pointiert den bemerkenswerten Aufstieg vom Münzhandel in den deutschen Hochadel zu kommentieren. Die satirische Übertreibung gibt der Äußerung über den verwendeten Begriff hinaus eine eigene Bedeutungsrichtung. Der Widerspruch zwischen Schein und Sein, den darzustellen es dem Moderator ankommt, wird in einem einzigen Wort offengelegt. Diese Beherrschung des Wortwitzes ist Kunst 9 6 .
dd) Fälle normativer Spezialität der Meinungsäußerungsfreiheit Die Kunstfreiheit ist immer dann gegenüber der Meinungsfreiheit normativ speziell, wenn es um die Verbreitung einer durch ein Kunstwerk ausgedrückten Meinung, also um die kommunikative Dimension der Kunst geht. Zwischen beiden Freiheitsrechten sind jedoch auch Überschneidungen möglich, die dann entstehen, wenn nicht durch, sondern über die Kunst geurteilt oder Stellung bezogen wird. Beispielhaft für eine solche Konkurrenzsituation ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum sog. „Herrnburger Bericht". In diesem Fall war die Frage zu beantworten, ob und unter welchen Voraussetzungen die für ein Kunstwerk betriebene Werbung durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG geschützt wird 9 7 . Nach Ansicht des Gerichts zählt die Werbung als Kommunikationsmittel zum Wirkbereich des künstlerischen Schaffens, „denn die Kunst ist wie die Schutzgüter der anderen »Kommunikationsgrundrechte 4 öffentlichkeitsbezogen und daher auf öffentliche Wahrnehmung angewiesen" 98 . Im später ergangenen Deutschlandlied-Beschluß bestätigt das Gericht seine Auffassung, indem es darauf hinweist, daß auch Stellungnahmen, die dazu dienen, „die Freiheit zur Vermittlung des Kunstwerks zu erkämpfen", dem Wirkbereich von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG zuzurechnen in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 Rdnr. 91; Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 59. 95 Zu diesem Sachverhalt BVerfG (Kammer) NJW 1998, 1386 ff. 96 In BVerfG (Kammer) NJW 1998, 1386 (1387) wird die Frage, ob es sich um Kunst handelt, offengelassen. 97 BVerfGE 77, 240ff. 98 BVerfGE 77, 240 (251). Zustimmend Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Bd. 1, Art. 5 III (Kunst) Rdnr. 25; Denninger, HbdStR VI, § 146 Rdnr. 44.
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sind". Das Verteilen einer Presseerklärung in Form von Flugblättern, in denen gegen die Beschlagnahme einer bestimmten Ausgabe eines Magazins wegen des Abdrucks eines Gedichts protestiert wird, sei deshalb von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG geschützt. Die damit entstandene Konkurrenzlage zwischen Meinungs- und Kunstfreiheit löst das Gericht in der Deutschlandlied-Entscheidung zugunsten der Kunstfreiheit auf. Die Meinungsfreiheit müsse, soweit sie tatbestandlich einschlägig sei, hinter die Kunstfreiheit zurücktreten 100 . Der gleichen Ansicht ist das Bundesverfassungsgericht offenbar auch im Fall des „Herrnburger Berichts". Zwar wird Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG und das Konkurrenzverhältnis zur Kunstfreiheit in dieser Entscheidung nicht näher untersucht. Es steht jedoch angesichts der vorherigen Spruchpraxis außer Frage, daß das Gericht die Plakatwerbung zwar als Meinungsäußerung ansieht 101 , zugleich aber davon ausgeht, daß Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG als allgemeine und subsidiäre Regelung verdrängt wird. Den genannten Entscheidungen ist in denjenigen Passagen zuzustimmen, die sich mit der Auslotung der Reichweite des geschützten Wirkbereichs befassen. Es ist richtig, daß Werbeveranstaltungen, Kunstrezensionen oder Protestschreiben, die sich auf Ausstellungsverbote etc. beziehen, sowohl von der Meinungsäußerungs- als auch von der Kunstfreiheit tatbestandlich erfaßt werden. Unzutreffend ist allerdings in beiden Entscheidungen die Bewertung des Konkurrenzverhältnisses. Das Bundesverfassungsgericht berücksichtigt nicht, daß nicht alle Tätigkeiten, die der Verbreitung eines Kunstwerkes dienlich sind, auch tatsächlich dem Hauptschutzgegenstand der Kunstfreiheit zuzurechnen sind. Zentral geschützt werden ausschließlich diejenigen Handlungen, die der eigentlichen Darstellung und Präsentation eines Kunstobjekts dienen. Wird ein Bild ausgestellt, ein Theaterstück aufgeführt oder ein Roman gedruckt und verkauft, eröffnet sich damit der Zugang für die Rezipienten. Die Kunst wird auf diese Weise kommunikativ. Daher bilden Handlungen, die unmittelbar diesem Zweck dienen, neben dem Werkbereich den zweiten Hauptschutzgegenstand der Kunstfreiheit. Andere Tätigkeiten, die zwar ebenfalls zur Herstellung der Beziehung zwischen Kunst und Publikum geeignet sind, die aber nur den Boden für 99
BVerfGE 81, 298 (306). BVerfGE 81, 298 (306). 101 Für den Schutz kommerzieller Werbung durch Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG etwa BVerfGE 71, 162 (175); enger noch BVerfGE 40, 371 (382). Zustimmend Wendt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 Rdnr. 11, 94; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 I, II Rdnr. 44 m.w.Nw.; Hoffmann-Riem, ZUM 1996, Iff.; ablehnend v. Münch, in: v. Münch (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl., Art. 5 Rdnr. 7. 100
13 Heß
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F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
die Öffentlichkeitswirkung der Kunst bereiten, sind davon ausgenommen. Sie werden zwar gleichfalls von der Kunstfreiheit geschützt; allerdings bilden sie nur den Inhalt eines Hilfsschutzgegenstands. Es ist eben ein Unterschied, ob ein Kunstobjekt aus sich selbst heraus auf die Betrachter wirkt oder ob das Kunstwerk Gegenstand einer Meinungsäußerung ist. So leuchtet es zweifellos ein, daß das Versenden von Einladungskarten für den Erfolg einer Vernissage gewiß ebenso wichtig ist wie die rechtzeitige Lieferung der richtigen Champagner-Marke. Dennoch tragen diese Dinge nur mittelbar dazu bei, daß die Ausstellungsstücke auch gebührend beachtet werden. Entscheidend für den Kontakt zur Öffentlichkeit ist die Präsentation selbst. Die nur mittelbar wirkenden Hilfstätigkeiten besitzen deshalb innerhalb des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG nur eine geringere Bedeutung. Dies wirkt sich auch auf das Konkurrenzverhältnis aus. Wird die fragliche Tätigkeit durch den zentralen Schutzgegenstand eines anderen Grundrechts erfaßt, ist dieses Grundrecht gegenüber der Kunstfreiheit in aller Regel speziell 102 . Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG tritt zurück. Die Meinungsäußerungsfreiheit entfaltet ihre Verdrängungswirkung immer dann, wenn es um Tätigkeiten geht, die nicht die direkte Beziehung zwischen Kunstwerk bzw. Künstler und Konsument betreffen, also beispielsweise Werbeaktionen und Kunstrezensionen. Hierzu zählen auch Maßnahmen, die der wirtschaftlichen Verwertung des Kunstwerks dienen, wie etwa der Verkauf von Rechten an einem Musikstück bzw. Roman oder der Verkauf einer Theaterkarte 103 . Übertragen auf die oben genannten bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen bedeutet dies, daß die Flugblatt-Verteilaktion, die über die Beschlagnahme der Zeitschrift wegen der Veröffentlichung der Deutschlandlied-Satire informiert, zwar prinzipiell von den Tatbeständen der Meinungsfreiheit und der Kunstfreiheit gedeckt ist. Nach konkurrenzdogmatischen Grundsätzen bildet aber nur Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG den Grundrechtsmaßstab für die Überprüfung der beeinträchtigenden staatlichen Maßnahmen. Gleiches gilt für die Werbeplakate, die auf die Aufführung des Theaterstücks „Herrnburger Bericht" hinweisen. Das Bundesverfassungsgericht hätte hier nicht auf die Kunstfreiheit, sondern auf die Meinungsfreiheit abstellen müssen. Das heißt allerdings nicht, daß der Schutzgehalt des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG gänzlich seine Wirkung auf die Fallentscheidung verliert. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung müssen die 102
Siehe allgemein dazu oben S. 157 ff. Streitig ist allerdings, inwieweit die Verwertung von Kunstwerken überhaupt vom Tatbestand des Art. 5 Abs. 3 GG erfaßt wird; siehe dazu BVerfGE 49, 382 (392); 71, 162 (276); Wendt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 Rdnr. 94. 103
IV. Kunstfreiheit - Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG
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objektiv-rechtlichen Gehalte der Kunstfreiheit - möglicherweise schutzverstärkend - in die Abwägung miteinbezogen werden.
2. Verhältnis zu den Mediengrundrechten am Beispiel der Filmfreiheit Nach hier vertretener Ansicht stehen die Medienfreiheiten des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG grundsätzlich neben der Meinungsäußerungsfreiheit. Zwischen den entsprechenden Grundrechtsnormen besteht Idealkonkurrenz. Die Kunstfreiheit ist hingegen - zumindest dann, wenn es um die inhaltliche Aussage des Kunstwerks geht - ein Spezialfall der Meinungsfreiheit; d.h. die Meinungsfreiheit wird im Konkurrenzfall verdrängt. Ausgehend von diesen Thesen fällt es nicht schwer, das Konkurrenzverhältnis zwischen Mediengrundrechten und Kunstfreiheit zu beschreiben. Wenn Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG die künstlerische Meinungsfreiheit speziell regelt, müssen Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit gegenüber der Kunstfreiheit - den Gesetzen der Logik gehorchend - ebenfalls in Idealkonkurrenz stehen. Die Analyse des Schutzgegenstands der Filmfreiheit - stellvertretend für die beiden anderen Mediengrundrechte - bestätigt diesen Befund. Die Freiheit filmischer Darstellung wird als funktional orientiertes Grundrecht gewährt. D.h. geschützt wird ein bestimmter Verbreitungsmodus für Darstellungen aller Art, solange das Verbreitungsmedium dem Filmbegriff des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG genügt. Auf die Inhalte kommt es nicht a n 1 0 4 . Durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG hingegen wird der besondere Eigenwert der Kunst vor kunstspezifischen Gefahrenlagen gesichert 105 . Entscheidend für die Erfüllung des Tatbestands ist also, ob eine Tätigkeit einen Bezug zur Kunst aufweist. Besteht ein solcher Bezug, werden auch die unterschiedlichsten Kommunikationshilfen und Verbreitungsarten, deren sich ein Künstler bedienen kann, geschützt 106 . Auf diese Weise werden die Produkte der Filmkunst, wie beispielsweise Spielfilme oder auch künstlerische Dokumentationen, durch beide Grundrechtsnormen aus ganz verschiedenen Blickwinkeln heraus tatbestandlich erfaßt. Aufgrund der unterschiedlichen abwehrrechtlichen Gewährleistungsrichtung der Grundrechte besteht kein Spezialitätsverhältnis 107 . Der Kinofilmproduzent kann sich daher auf Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG berufen. 104
Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 1, 2 Rdnr. 152. 105 BVerfGE 30, 173 (191). 106 Müller, Die Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 102. 107 Bethge, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 127; Reupert, NVwZ 1994, 1155 (1163); unklar BVerfGE 87, 209 (233); a.A. Scholz, in: Maunz/Dürig/ 13*
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F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
V. Wissenschaftsfreiheit - Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG 1. Verhältnis zur Meinungsfreiheit Die Konkurrenzverhältnisse der Wissenschaftsfreiheit zu den anderen in Art. 5 GG garantierten Grundrechten liegen parallel zu denen der Kunstfreiheit. Struktur und Gewährleistungsrichtung der Grundrechte sind vergleichbar. Die Wissenschaftsfreiheit schützt alle diejenigen Tätigkeiten, die in bezug zur wissenschaftlichen Forschungs- und Lehrtätigkeit stehen 108 . Wissenschaftliches Arbeiten ist häufig kommunikativ ausgerichtet 109 . In erster Linie gilt dies natürlich für die Lehrtätigkeit, aber darüber hinaus auch für die Forschung. Wird ein wissenschaftliches Thema zum Gegenstand eines individuellen Gedankenaustauschs, erfaßt Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG in diesem Fall alle Einzelmerkmale der Meinungsäußerungsfreiheit und ist daher spez i e l l 1 1 0 . Abgrenzungskriterium zwischen den Grundrechten ist die Wissenschaftlichkeit der Meinungsäußerung 111 . Eine Abgrenzung der Tatbestände nach Sachnähe kommt, wie auch im Verhältnis Kunst - Meinung, nicht in Betracht 112 .
2. Verhältnis zu den Mediengrundrechten Mit den Medienfreiheiten des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG konkurriert die Wissenschaftsfreiheit ideal. Während Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit funktionsorientiert jeweils einen bestimmten Verbreitungsmodus schützen, knüpft Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG an den wissenschaftlichen Charakter der VerHerzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. III Rdnr. 13 sub cc) unter Verweis auf Herrmann, Fernsehen und Hörfunk in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, S. 94ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 66; Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 III (Kunst) Rdnr. 47; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 3 Rdnr. 267; differenzierend zwischen Medieninhalt und medienspezifischen Gewährleistungsgehalten, Degenhart, in: Bonner Kommentar, Art. 5 Abs. 1 u. 2 Rdnr. 754; Würkner, Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, S. 172. 108 Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 III (Wissenschaft) Rdnr. 25 ff. 109 Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, S. 88 ff. 110 BVerfGE 47, 327 (368); Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. III Rdnr. 184; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 75; Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 (Wissenschaft) Rdnr. 54; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 3 Rdnr. 374; Bethge, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 220; Oppermann, HbdStR VI, § 145 Rdnr. 26; a.A. Bleckmann, Staatsrecht II, § 26 Rdnr. 137. 1,1 Vgl. BVerfGE 90, 1 (12, 14). 112 So aber Oppermann, HbdStR VI, § 145 Rdnr. 26.
V. Wissenschaftsfreiheit - Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG
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öffentlichung oder Präsentation an. Sollten beide Grundrechtsnormen tatbestandlich anwendbar sein, kann sich der beschwerte Grundrechtsträger auf beide Grundrechte berufen. Allerdings dürfte dieser Fall nur selten eintreten. In aller Regel werden wissenschaftliche Publikationen durch Verlage veröffentlicht. Der Wissenschaftler tritt nur als Autor in Erscheinung. In dieser Funktion kann er sich jedoch nicht auf die Pressefreiheit etc. berufen 113 . Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG schützt nur die presse- bzw. rundfunkspezifischen Tätigkeiten 114 . Die Entstehung von Konkurrenzlagen ist daher weitgehend ausgeschlos-
3. Verhältnis zur Informationsfreiheit Im Verhältnis zur allgemeinen Informationsfreiheit ist die Wissenschaftsfreiheit das speziellere Grundrecht 116 . Zur wissenschaftlichen Arbeit gehört auch der Zugriff auf frei verfügbare Informationsquellen, Archive, Datenbanken etc. 1 1 7 . Überschneidungen entstehen allerdings nur dann, wenn es um die Informationsbeschaffung aus allgemein zugänglichen Quellen geht. Für diesen Bereich ist die Wissenschaftsfreiheit das normlogisch spezielle Grundrecht. Da der Tatbestand das zusätzliche tatbestandsverkürzende Element der wissenschaftlichen Zweckrichtung enthält, besteht ein normlogisches Inklusionsverhältnis.
113 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 I, II Rdnr. 241 m.w.Nw. 114 Dazu schon oben S. 179. 115 Ausnahmen gelten beispielsweise für Wissenschaftsredakteure von Zeitschriften oder Fernsehsendern, soweit die ausgeübten Tätigkeiten dem Wissenschaftsbegriff des Art. 5 Abs. 3 GG genügen. 116 Ebenso Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 (Wissenschaft) Rdnr. 54; Mayen, Der grundrechtliche Informationsanspruch des Forschers gegen den Staat, S. 105; vgl. auch die ausführliche Analyse von Bizer, Forschungsfreiheit und informationelle Selbstbestimmung, S. 107 ff. 117 Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 (Wissenschaft) Rdnr. 25.
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F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
VI. Glaubens- und Gewissensfreiheit, Kriegsdienstverweigerung - Art. 4 GG 1. Verhältnis zur Meinungsäußerungsfreiheit a) Einleitung Nach ganz herrschender Meinung in der Literatur gewährt Art. 4 Abs. 1, 2 GG gegenüber der Meinungsfreiheit die spezielleren Grundrechte 118 . Nur vereinzelt wird die Auffassung vertreten, daß die Grundrechte aufgrund ihrer unterschiedlichen Gewährleistungsrichtungen in einem Verhältnis der Idealkonkurrenz stünden 119 . Das Bundesverfassungsgericht hat sich zum Konkurrenzverhältnis der Grundrechte bisher nur am Rande geäußert. So findet sich in einer älteren Entscheidung der Hinweis, daß die Begrenzungsregelung des Art. 5 Abs. 2 GG deshalb nicht auf Art. 4 Abs. 1, 2 GG übertragbar sei, weil der „Grundsatz der Spezialität" zur Anwendung komme 1 2 0 . Das Gericht geht also offensichtlich davon aus, daß Art. 4 Abs. 1, 2 GG den allgemeineren Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG verdrängt. Allerdings postuliert der Senat in derselben Entscheidung zugleich eine restriktive Tatbestandsabgrenzung zwischen den Grundrechten. Es wird betont, daß Meinungsäußerungen auf die Kundgabe von beliebigen subjektiven Äußerungen und Werturteilen gerichtet seien, während die Glaubensfreiheit eine mit der Person des Menschen verknüpfte Gewißheit über den Bestand und den Inhalt bestimmter Wahrheiten zum Gegenstand habe 1 2 1 . Das Gericht geht 118 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 4 Abs. 1, 2 Rdnr. 132; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 5; Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 18; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 135; Schmidt-Jortzig, HbdStR VI, § 141 Rdnr. 37; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 I, II Rdnr. 242; Bethge, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 48; Preuß, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 19; Zippelius, in: Bonner Kommentar, Art. 4 Rdnr. 98. Ein wechselndes SpezialitätsVerhältnis nimmt offenbar Wendt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 Rdnr. 115 an. 119 v. Campenhausen, HbdStR VI, § 136 Rdnr. 87; Hemmrich, in: v. Münch (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl., Art. 4 Rdnr. 41. Teilweise wird auch auf die unterschiedliche Entwicklungsgeschichte der Grundrechte verwiesen; Scheuner, DÖV 1967, 585 (590); v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 36; siehe dazu die ausführliche rechtsvergleichend-historische Analyse von Staps, Bekenntnisfreiheit - ein Unterfall der Meinungsfreiheit?, S. Iff., insbesondere S. 176ff. 120 BVerfGE 32, 98 (107). Offengelassen in BVerfGE 12, 4. 121 BVerfGE 32, 98 (107); kritisch zu dieser Abgrenzungsformel Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 4 Abs. 1, 2 Rdnr. 131.
VI. Glaubens- und Gewissensfreiheit, Kriegsdienstverweigerung
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also davon aus, daß die Tatbestände in den meisten Fällen in einem Alternativverhältnis stehen und nur „soweit überhaupt Überschneidungen in Betracht kommen" Art. 4 Abs. 1, 2 GG gegenüber Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG speziell ist. b) Schutzgegenstandsbestimmung Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung bildet nach allgemeiner Meinung ein von den übrigen Verbürgungen des Art. 4 GG unabhängiges Grundrecht 122 . Über die innere Struktur der Absätze 1 und 2 des Art. 4 GG herrscht hingegen keine Einigkeit. Streitig ist insbesondere, welche der textlich getrennten Einzelgewährleistungen den Inhalt selbständiger Grundrechte bilden und welche rein deklaratorischer Natur sind. Nach verbreiteter Auffassung sollen die Freiheit des Glaubens und der Weltanschauung sowie die Freiheit des Bekenntnisses unselbständige Einzelaspekte eines einheitlichen Grundrechts auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit sein 1 2 3 . Auch der Gewährleistung der freien Religionsausübung in Absatz 2 soll danach keine konstitutive Bedeutung zukommen. Diese Freiheitsverbürgung sei bereits durch die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit garantiert 124 . Daneben habe lediglich die Gewissensfreiheit als weiteres Grundrecht selbständige Bedeutung 125 . Nach anderer Auffassung soll auch die Gewissensfreiheit ein unselbständiger Teil eines einheitlichen Grundrechts auf Religionsfreiheit sein 1 2 6 . Die Aufzählung der verschiedenen Ausprägungen in Art. 4 Abs. 1, 2 GG sei lediglich aus Klarstellungsgründen erfolgt 1 2 7 . Eine dritte Ansicht schließlich geht davon aus, daß alle Einzelverbürgungen trotz ihres engen Zusammenhangs scharf voneinander zu unterscheiden 122
Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 177; Kempen, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, Art. 4 Abs. 3 Rdnr. 1; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 47. 123 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 1; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 12f.; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 31; Siekmann/Duttge, Staatsrecht I, Rdnr. 305. 124 BVerfGE 24, 236 (245 f.); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 4 Abs. 1, 2 Rdnr. 12; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 12. 125 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 31; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 1. 126 v. Campenhausen, HbdStR VI, § 136 Rdnr. 36; Mikat, HbdVerfR, § 29 Rdnr. 7; Katz, Staatsrecht, Rdnr. 716; unklar Listi, HbdStKirchR I, S. 448f. der die Religionsfreiheit als Gesamtgrundrecht bezeichnet, welches sich aus Einzelgrundrechten und integrierenden Bestandteilen zusammensetzen soll. 127 v. Campenhausen, HbdStR VI, § 136 Rdnr. 36.
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F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
seien. Der Verfassungsgeber habe etwa die Freiheit des weltanschaulichen Bekenntnisses bewußt neben die Freiheit des religiösen Bekenntnisses gestellt. Gleiches gelte für Gewissens- und Religionsfreiheit. In Einzelfällen könne hier zwar eine enge Verbindung bestehen. Dies müsse allerdings nicht so sein 1 2 8 . Nach der hier vertretenen Ansicht bildet jeder Schutzgegenstand, sofern er selbständig neben den anderen Gewährleistungsgehalten steht, den Inhalt eines eigenen Abwehrrechts 129 . Allerdings ist die Schutzgegenstandsanalyse nicht einfach. Die von Art. 4 Abs. 1, 2 GG garantierten Schutzgegenstände sind mit den in der Grundrechtsbestimmung verwendeten Begriffen nicht deckungsgleich. So läßt sich beispielsweise religiös motiviertes bzw. glaubensgeleitetes nach außen gerichtetes Handeln sowohl zur Freiheit der Religions- oder Glaubensausübung als auch zur Bekenntnisfreiheit zählen. Dies läßt sich an einem Beispiel verdeutlichen. Die meisten Religionen sind missionarisch ausgerichtet. D.h. das Überzeugen anderer von der Richtigkeit des eigenen Glaubens gehört zu den grundlegenden Bestandteilen des Lebens nach dem Glauben. Zugleich ist das Werben für die eigene religiöse oder weltanschauliche Überzeugung eine wesentliche Form des Bekenntnisses 130 . Wirbt jemand für den eigenen Glauben, macht er deutlich, daß er sich auch zu den Idealen dieser Glaubensrichtung bekennt. Nun ließe sich die Werbung für den Glauben, wenn sie verbal erfolgt, eher der Bekenntnisfreiheit und die Werbung durch die gesamte eigene Lebensgestaltung eher der Religionsausübung zuschlagen 1 3 1 . Einen Erkenntnisgewinn für die Konkurrenzdogmatik bringt dies freilich nicht. Sinnvoller ist es, zwischen der nach außen gerichteten Freiheit, sich nach seiner Religion oder seinem Glauben zu betätigen, und der nach innen gerichteten Freiheit, religiöse und weltanschauliche Überzeugungen zu bilden oder zu haben, zu unterscheiden 132 . Denn zwischen diesen beiden Aspekten bestehen grundlegende konkurrenzdogmatisch relevante Unterschiede. Die innere Seite dieser umfassenden Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit ist keine Verhaltensfreiheit, sondern ein geschützter Bereich der menschlichen Persönlichkeit 133 . Es handelt sich also um eine durch Art. 4 128
v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 1; Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 6ff., 63 ff. 129 Siehe dazu oben S. 121 ff. 130 BVerfGE 12, 1 (4); 24, 236 (245); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 4 Abs. 1, 2 Rdnr. 33. 131 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 81 f. 132 So auch BVerfGE 32, 98 (106f.); 69, 1 (33 f.); Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 7.
VI. Glaubens- und Gewissensfreiheit, Kriegsdienstverweigerung
201
Abs. 1, 2 GG geschützte natürliche Rechtsposition. Die äußere Seite hingegen ist eine klassische Verhaltensfreiheit. Sie gewährt das „Recht des einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seiner religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln" 1 3 4 . Folglich handelt es sich bei diesen Aspekten des Gewährleistungsbereichs des Art. 4 Abs. 1, 2 GG um unabhängige Schutzgegenstände, die selbständig nebeneinander stehen und den Inhalt eigener Abwehrrechte bilden. Damit ist der Gewährleistungsgehalt aber noch nicht erschöpfend beschrieben. Art. 4 Abs. 1 GG gewährt neben den weltanschaulich bzw. religiös orientierten Grundrechten das Grundrecht auf Gewissensfreiheit. Das Bundesverfassungsgericht versteht unter dem Gewissen „ein (wie immer begründbares, jedenfalls aber) real erfahrbares seelisches Phänomen, dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind" 1 3 5 . Als Gewissensentscheidung sei „jede ernste sittliche, d.h. an den Kategorien von ,Gut' und ,Böse' orientierte Entscheidung anzusehen, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte" 1 3 6 . Nach anfänglich kontroverser Diskussion hat sich mittlerweile die Auffassung durchgesetzt, daß die Gewissensfreiheit ebenso wie die Glaubensund Weltanschauungfreiheit einen äußeren und einen inneren Aspekt besitzt 137 . Während das forum internum den „menschlichen Innenbereich der Gewissensbildung", also die „Gedankenfreiheit in Gewissensfragen" erfaßt, ist mit dem forum externum die „Freiheit nach den Geboten des Gewissens handeln zu dürfen" garantiert 138 . Die Gewissensfreiheit als ganzes wird daher ebenso wie die Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit durch eine natürliche Rechtsposition und eine Verhaltensfreiheit geschützt. Neben den vier bisher herausgearbeiteten Schutzgegenständen enthält der Tatbestand des Art. 4 Abs. 1, 2 GG noch eine Reihe weiterer Schutzgegen133
Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 50. BVerfGE 32, 98 (106). 135 BVerfGE 12, 45 (55). 136 BVerfGE 12, 45 (55). 137 v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 27; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 64, beide mit umfassenden Nw. für Rechtsprechung und Literatur. Ausführlich auch Steiner, JuS 1982, 157 (161) sowie für die Gegenansicht Eiselstein, DÖV 1984, 794 ff. 138 Bethge, HbdStR VI, § 137 Rdnr. 13f.; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 74 f. 134
F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
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stände, die für Konkurrenzverhältnisse zu anderen Grundrechten bedeutsam sind. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien die Religionsmündigkeit und die Mitgliedschaft in einer Religionsgesellschaft, die als selbständige verliehene Rechtspositionen durch Art. 4 Abs. 1, 2 GG geschützt werden, 11Q genannt . c) Normative Spezialität der Glaubens- und der Gewissensfreiheit Konkurrenzlagen mit der Meinungsfreiheit ergeben sich naturgemäß immer dann, wenn es um die äußere Seite der Glaubens- oder Gewissenfreiheit geht. Glaubensgeleitete oder weltanschaulich motivierte Stellungnahmen sind Meinungsäußerungen i.S.d. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG. Zwar besteht zwischen den Schutzgegenständen kein normlogisches Inklusionsverhältnis, die normative Spezialität liegt jedoch auf der Hand. Art. 4 Abs. 1, 2 GG schützt über Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG hinaus individualkommunikatives Handeln, wenn Fragen des Glaubensinhalts oder der weltanschaulichen Sicht den Gegenstand der Meinungsäußerung bilden. Die tatbestandliche Spezialität der Glaubens- und Weltanschauungfreiheit besteht insofern in der glaubensgeprägten Motivation der Meinungsäußerung. Damit ist diese Konkurrenzsituation unmittelbar mit der Konkurrenz zwischen Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG und der Kunst- bzw. Wissenschaftsfreiheit vergleichbar. Gleiches gilt für die Gewissensfreiheit. Eine Meinungsäußerung kann sich auch als Verhaltensweise darstellen, die aus einer Gewissensentscheidung heraus für den Betreffenden zwingend geboten i s t 1 4 0 . Wenn Kriegsgegner mittels verschiedener Aktionen zur Verweigerung des Wehrdienstes aufrufen, wird dieses Verhalten sowohl von Art. 4 Abs. 1, 2 GG als auch von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG tatbestandlich erfaßt. Abwehrrechtlich entscheidend, da speziell, ist allein Art. 4 Abs. 1, 2 GG. Auch hier ergibt sich die Spezialität aus Sinn und Zweck der Regelung. Jede Meinungsäußerung setzt einen Akt der Meinungsbildung voraus. Die Meinungsbildung ist als innerer geistiger Vorgang durch Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG geschützt. Wenn Art. 4 Abs. 1, 2 GG mit der Gewissensfreiheit den aus einer inneren Zwangslage bzw. aus einem Gewissensnotstand resultierenden Meinungsbildungsprozeß unter einen besonderen Schutz stellt, so muß auch der Umsetzungsakt, nämlich die gewissensmäßig motivierte Meinungsäußerung, dem Schutz dieses Grundrechts unterfallen. Die insoweit allgemeine Regelung des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG wird verdrängt.
139 140
7 (17).
Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 50 Fn. 167; Bd. III/1, S. 660. Zum kommunikativen Aspekt der Gewissensfreiheit Franke, AöR 114 (1989),
VI. Glaubens- und Gewissensfreiheit, Kriegsdienstverweigerung d) Tatbestandsabgrenzung
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zwischen Gewissens- und Meinungsfreiheit
Werden an das Merkmal der Gewissensentscheidung hohe Anforderungen gestellt, steht nicht zu befürchten, daß die Begrenzungsregelung des Art. 5 Abs. 2 GG über die Anwendung des lex specialis-Satzes umgangen w i r d 1 4 1 . Selbstverständlich stellt sich jede Meinungsäußerung als Ergebnis eines inneren Abwägungs- und Erkenntnisprozesses dar. Um Gewissensentscheidungen handelt es sich aber nur in seltenen Fällen. Es genügt nicht, daß sich jemand innerlich dazu gedrängt fühlt, die Stimme zu erheben, obwohl eine staatliche Verhaltensanordnung dies verbietet oder sanktioniert. Erforderlich ist ein unausweichlicher Gewissenskonflikt, der dem Individuum keine zumutbare Handlungsalternative läßt 1 4 2 . Die Entscheidung zur öffentlichen Stellungnahme muß sich aus einem für die betreffende Person unmittelbar evidenten und unbedingten Handlungsgebot ergeben 143 . Wird beispielsweise trotz ausdrücklichen Verbots ein privates oder dienstliches Geheimnis verraten, liegt nur dann eine Gewissensentscheidung vor, wenn aus Sicht dieser Person die Preisgabe des Geheimnisses der einzig mögliche Ausweg i s t 1 4 4 . Für einen anderweitig motivierten Geheimnisverrat besteht u.U. Schutz durch Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG. Ein Aufruf zum Boykott bestimmter Produkte ist zumeist eine von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG geschützte Meinungsäußerung und keine von einer Gewissensentscheidung getragene Handlung. Es ist nach den Wert- und Moralvorstellungen der zum Boykott aufrufenden Personen zwar geboten, aber in aller Regel nicht absolut zwingend, auch andere vom Kauf der Waren abzuhalten.
2. Interne Konkurrenzverhältnisse Die Abgrenzung zwischen der Gewissensfreiheit und der Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit kann im Einzelfall schwierig sein. Häufig bilden religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen die Grundlage für Gewissensentscheidungen145. In diesen Fällen überschneiden sich zwar die Tatbestände der Grundrechte. Sie gelten aber dennoch selbständig nebeneinander 1 4 6 . Es besteht kein Spezialitätsverhältnis 147 . Nicht jede Gewissensent141 Vgl. v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 28; v. Campenhausen, HbdStR VI, § 136 Rdnr. 59. 142 Ähnlich Preuß, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, Art. 4 Abs. 1, 2 Rdnr. 43. 143 BVerfGE 12, 45 (54). 144 Siehe auch v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 32: Gewissensentscheidung nur dann, wenn die Situation des „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders." gegeben ist. 145 BVerwGE 7, 242 (246); Zippelius, in: Bonner Kommentar, Art. 4 Rdnr. 35. 146 Bethge, HbdStR VI, § 137 Rdnr. 21.
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F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
Scheidung ist glaubensgeleitet. Auch die Gewährleistungsrichtungen unterscheiden sich. Während Gewissensentscheidungen auch dann geschützt sind, wenn sie nicht rational nach Maßgabe vernünftiger Kriterien begründbar sind 1 4 8 , muß sich gelebte religiöse Überzeugung auf einen Glauben als ein System religiös geprägter Anschauungen zurückführen lassen. Insofern ist das glaubensgeleitete Handeln objektiv durch die Vorgaben der Religion gebunden. Gewissensentscheidungen sind hingegen durch den subjektiven Erfahrungshorizont, die individuelle psychische Situation des einzelnen begründet. Wenn ein bestimmter Entschluß auch auf religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen zurückzuführen ist, werden beide Aspekte berührt: die individuelle Entscheidungsfreiheit und die Freiheit, den eigenen Glauben leben zu können. D.h. Glaubens- und Gewissensfreiheit als Einzelgrundrechte des Art. 4 Abs. 1, 2 GG bilden gemeinsam den Maßstab für beeinträchtigende hoheitliche Maßnahmen. Da aber beide Grundrechte nur durch kollidierendes Verfassungsrecht zu begrenzen sind, werden sich in der praktischen Fallanwendung kaum unterschiedliche Rechtsfolgen ergeben. Das Recht aus Art. 4 Abs. 3 GG ist eine von der Verfassung ausdrücklich anerkannte und geschützte Gewissensentscheidung auf Verweigerung des Dienstes mit der Waffe trotz generell bestehender Verpflichtung gem. Art. 12a Abs. 1 GG, §§ 1, 3 WPflG. Durch die Gewährleistung wird ein Teilbereich der Gewissensfreiheit mit spezifischem Anknüpfungspunkt ausgewählt und rechtlich verselbständigt 149 . Es handelt sich folglich um einen normlogischen Spezialfall der Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG150
3. Verhältnis zu den Mediengrundrechten Das Verhältnis der Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit zu den Mediengrundrechten ist angesichts der bisher gewonnenen Ergebnisse unschwer einzuordnen. Zur tatbestandlichen Überschneidung kann es nur kommen, wenn Presseprodukte publiziert oder Rundfunksendungen ausgestrahlt werden, die religiöse oder weltanschauliche Themen zum Inhalt 147 A.A. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 40: individuelle Glaubensfreiheit als lex specialis. 148 Kokott, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 22 unter Verweis auf BVerwGE 12, 270 (272 ff.). 149 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 134. 150 BVerfGE 19, 135 (138); 23, 127 (32); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 4 Abs. 3 Rdnr. 138; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 47; Kempen, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, Art. 4 Abs. 3 Rdnr. 1.
VI. Glaubens- und Gewissensfreiheit, Kriegsdienstverweigerung
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haben. Die allgemeine wirtschaftliche Tätigkeit eines Presseunternehmens oder die Berichterstattung über andere Themen werden nicht vom Tatbestand des Art. 4 Abs. 1, 2 GG erfaßt 151 . Das gilt auch, wenn das Unternehmen von einer Religionsgemeinschaft getragen wird oder die Tendenz des Presseorgans oder der Rundfunkanstalt eindeutig christlich, jüdisch oder muslimisch ausgerichtet ist. Konkurrenzlagen treten daher nur in wenigen Fällen auf. Art. 4 Abs. 1, 2 GG und Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG konkurrieren vor allem dann miteinander, wenn Sendungen mit Verkündigungscharakter (Gottesdienste, Predigten, religiöse Ansprachen) produziert oder ausgestrahlt oder entsprechende Artikel (Hirtenbriefe) gedruckt und verbreitet werden. 152 . In diesen Fällen ist die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit - das forum externum - als Spezialfall der Meinungsfreiheit tatbestandlich aktualisiert. Die Gewährleistungsrichtung dieses Grundrechts zielt auf den Schutz der Freiheit des religiösen Bekenntnisses und der Glaubensausübung. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG hingegen schützt die freie Presse- oder Rundfunkbetätigung als rein funktional ausgerichtete Gewährleistung ohne Bezug zum Inhalt der Sendungen. Die Grundrechte stehen daher in Idealkonkurrenz 153 .
4. Verhältnis zur Wissenschafts- und Kunstfreiheit Sowohl die Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit als auch die Kunstund Wissenschaftsfreiheit sind spezielle Ausprägungen der Meinungsäußerungsfreiheit, solange es um religiöse, wissenschaftliche oder künstlerische Aussagen geht. Die Spezialität folgt jeweils aus der engen Verbindung der Meinungsäußerung mit einer anderen Lebenserscheinung. Art. 4 Abs. 1, 2 GG knüpft an die religiöse Motivation an, Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG an die künstlerische Gestaltung bzw. den wissenschaftlichen Inhalt 1 5 4 . Wissenschaftlichkeit, Religionsbezug oder künstlerische Formensprache schließen sich aber nicht gegenseitig aus, sondern können nebeneinander zur Geltung kommen. Die entsprechenden Tätigkeiten stehen in diesem Fall 151
v. Campenhausen, HbdStR VI, § 136 Rdnr. 87. BVerfG (Kammer) NJW 1993, 1190 (1191 f.); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 4 Abs. 1, 2 Rdnr. 133; v. Campenhausen, HbdStR VI, § 136 Rdnr. 87. 153 Ebenso Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 I, II Rdnr. 246. Auch das Bundesverfassungsgericht geht offenbar von einem Verhältnis der Idealkonkurrenz aus, wenn es Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 4 Abs. 1, 2 GG nebeneinander prüft; BVerfG (Kammer) NJW 1993, 1190 (1191). Vgl. auch Degenhart, in: Bonner Kommentar, Art. 5 Abs. 1 u. 2 Rdnr. 756. 154 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 3 Rdnr. 287. 152
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F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
unter dem Schutz mehrerer Grundrechte 155 . Zwischen den Varianten des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG besteht untereinander und im Verhältnis zur Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit bzw. zu deren speziellen Ausprägungen in den inkorporierten Artikeln der Weimarer Reichsverfassung grundsätzlich Idealkonkurrenz 156 .
5. Verhältnis zum Elternrecht - Art. 6 Abs. 2 GG Das Bundesverfassungsgericht hat sich zum Verhältnis von Art. 4 Abs. 1, 2 GG zu Art. 6 Abs. 2 GG noch nicht ausdrücklich geäußert. In der Rechtsprechungspraxis werden aber Beeinträchtigungen des religiösen Erziehungsrechts der Eltern sowohl an der Glaubens- und Religionsfreiheit als auch am Elternrecht als Prüfungsmaßstab gemessen 157 . Freilich trennt das Gericht bei seinen Überlegungen selten. Die Grundrechtsbestimmungen werden zumeist zu einem einheitlichen Grundrecht verschmolzen und gemeinsam geprüft 1 5 8 . Auf Begrenzungsebene findet in aller Regel eine Abwägung zwischen dem elterlichen Erziehungsrecht und dem Recht zur religiösen Bestimmung der Kinder einerseits und entgegenstehenden Verfassungsbelangen, insbesondere dem staatlichen Erziehungsauftrag, andererseits statt 1 5 9 . Die Literatur behandelt das Konkurrenzverhältnis zwischen Elternrecht und Religionsfreiheit stiefmütterlich. Sofern überhaupt auf diese Konstellation eingegangen wird, beschränken sich die Ausführungen auf den Hinweis, daß zwischen den Grundrechten Idealkonkurrenz bestünde und beide Grundrechtsnormen nebeneinander zur Anwendung kämen 1 6 0 . Diese Einschätzung trifft jedoch nicht zu. Das Bundesverfassungsgericht kommt der richtigen Beurteilung sehr nahe, wenn es feststellt, daß die welt155 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 3 Rdnr. 287. 156 Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. III, Rdnr. 33, 50, 181; Bethge, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 220; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 66; Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 III (Kunst) Rdnr. 47; Würkner, Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, S. 172. Die Kritik von Renck, NVwZ 1996, 333 (335) bezieht sich nicht auf das Konkurrenzverhältnis, sondern auf die Einordnung theologischer Fakultäten staatlicher Hochschulen in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG. 157 BVerfGE 41, 29 (44, 47 f.); 52, 223 (235); 93, 1(15). 158 BVerfGE 93, 1(15): Art. 4 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. 159 BVerfGE 93, 1 (21 ff.). 160 Ε. Μ. v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 6 Rdnr. 59; Gröschner, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 6 Rdnr. 124. Ausführlich nur Jestaedt, in: Bonner Kommentar, Art. 6 Abs. 2 und 3 Rdnr. 263 ff.
VI. Glaubens- und Gewissensfreiheit, Kriegsdienstverweigerung
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anschauliche Erziehung der Kinder untrennbarer Bestandteil der ElternKind-Beziehung ist, die das Grundgesetz durch die Gewährleistung der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) und das elterliche Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) besonders schützt 161 . Tatsächlich ist Art. 6 Abs. 2 GG gegenüber Art. 4 Abs. 1, 2 GG eine besondere, d.h. spezielle Regelung. Es besteht ein normatives Spezialitätsverhältnis. Ein Vergleich der Schutzgegenstände verdeutlicht dies. Den Eltern steht nach Art. 6 Abs. 2 GG das Recht zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder zu. Das Grundrecht schützt damit die umfassende Kompetenz der Eltern für die Gestaltung der Lebens- und Entwicklungsbedingungen der Kinder 1 6 2 . Selbstverständlich beinhaltet das Elternrecht nicht nur die Hoheit über ganz alltägliche Fragen, wie Tagesablauf, Ernährung, Aufenthaltsort oder Beschäftigung, sondern auch - und vor allem - über die grundlegende Ausrichtung der Kindererziehung. Nach dem Grundgesetz dürfen die Eltern ihre eigenen weltanschaulichen, religiösen und moralischen Anschauungen zum Maßstab für die Unterweisung ihrer Kinder erheben 163 . Damit ist allein ihnen das Recht zugestanden, die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder in den maßgeblichen Bereichen primär zu beeinflussen 164 . Gerade die weltanschaulich-religiöse Erziehung spielt dabei eine zentrale Rolle. Nicht selten folgen aus der weltanschaulichen Grundüberzeugung eine ganze Reihe von Verhaltensanordnungen und Wert- und Moralvorstellungen, die tief in der Glaubens- und Lebenseinstellung verwurzelt sind. Die religiöse Prägung der Kinder durch die Eltern ist daher von ganz fundamentaler Bedeutung für ihre Entwicklung hin zu selbständigen Persönlichkeiten. Wird das weltanschauliche und religiöse Erziehungsrecht durch den Staat in Frage gestellt, ist deshalb die Grundrechtsverbürgung des Art. 6 Abs. 2 GG in ihrem Kerngehalt betroffen. Anders sieht es hingegen für Art. 4 GG aus. Die Freiheit, das eigene Leben nach der glaubensmäßigen oder weltanschaulichen Überzeugungen zu gestalten, wird durch Art. 4 Abs. 1, 2 GG umfassend gewährt. Dazu zählt beispielsweise, sich entsprechend den religiösen Bekleidungsvorschriften zu kleiden, die Ernährungsvorschriften zu beachten, Gebets- und Ruhezeiten einzuhalten, an religiösen Zeremoniellen teilzunehmen oder diese 161
BVerfGE 41, 29 (47). Zacher, HbdStR VI, § 134 Rdnr. 65. 163 Vgl. BVerfGE 7, 320. 164 Streitig ist allerdings, ob Art. 4 GG darüber hinaus den Eltern das Recht gewährleistet, andere von der religiös-weltanschaulichen Einwirkung auf das Kind auszuschließen. Dazu einerseits Preuß, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 16 und andererseits Schmitt-Kammler, Elternrecht und schulisches Erziehungsrecht nach dem Grundgesetz, S. 30, 64; ders., in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 6 Rdnr. 71; zustimmend Jestaedt, in: Bonner Kommentar, Art. 6 Abs. 2 und 3 Rdnr. 264. 162
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F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
durchzuführen und die Erziehungsziele für die eigenen Kinder festzulegen und umzusetzen. Es bleibt kein Lebensbereich von der Schutzwirkung ausgenommen. Wenn also Art. 4 Abs. 1, 2 GG die religiöse Erziehungsfreiheit der Eltern schützt, dann nur als einen von vielen Aspekten der äußeren Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit. Es spricht deshalb alles dafür, daß Art. 6 Abs. 2 GG, der die religiöse Erziehungsfreiheit als zentrale Säule des Elternrechts erfaßt, eine gegenüber Art. 4 Abs. 1, 2 GG besondere und vorrangige Regelung trifft 1 6 5 . Art. 6 Abs. 2 GG ist daher normativ speziell. Allerdings gilt es auch hier die Restwirkung der verdrängten Norm zu berücksichtigen. Bei der Ausfüllung der Vorbehaltsregel des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG und in den Abwägungsverfahren zwischen Elternrecht und kollidierenden Verfassungsrechtsgütern sind die Aspekte der Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit zu berücksichtigen. Im Ergebnis wird dies zu einer Verstärkung des Schutzes von Art. 6 Abs. 2 GG führen. Das Bundesverfassungsgericht hat jedenfalls dann, wenn das religiöse Erziehungsrecht der Eltern tangiert war, die religiös-weltanschauliche Ausrichtung der staatlichen Schulen nur in engen Grenzen für zulässig erklärt 1 6 6 .
6. Verhältnis zu Art. 7 Abs. 2 GG, Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG und Art. 7 Abs. 3 S. 3 GG Sowohl Art. 4 Abs. 1, 2 GG als auch Art. 6 Abs. 2 GG schützen das Recht der Eltern, ihre Kinder nach ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen zu erziehen. Wenn Art. 7 Abs. 2 GG den Eltern das Recht gewährt, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen, erfaßt die Norm auf diese Weise ein Segment des Tatbestandes des Art. 4 Abs. 1, 2 GG, aber auch des Art. 6 Abs. 2 GG. Art. 7 Abs. 2 GG ist daher kraft Normlogik lex specialis zu Art. 4 Abs. 1, 2 G G 1 6 7 und zu Art. 6 Abs. 2 G G 1 6 8 . 165
Enger Schmitt-Kammler, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 6 Rdnr. 71: allein Art. 6 Abs. 2 GG bilde das rechtliche „Medium" für die „Übertragung" von Erziehungsinhalten auf das Kind. 166 Siehe nur aus jüngerer Zeit BVerfGE 93, 1 (21 ff.), wonach staatliche Gebote zur Anbringung von Kreuzen im Klassenzimmer unzulässig sind. Etwas anderes soll nur im nichtreligiösen Bereich gelten. Nach BVerfGE 98, 218 (260f.) besteht keine unverhältnismäßige Beeinträchtigung des elterlichen Erziehungsrechts durch die Einführung neuer Rechtschreibregeln in der Schule. Allgemein zur Kollision des Elternrechts mit anderen Verfassungsgütern, Jestaedt, in: Bonner Kommentar, Art. 6 Abs. 2 und 3 Rdnr. 112f., 166ff. 167 Kokott, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 135; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 164. 168 Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 7 Rdnr. 28; Hemmrich, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 7
VI. Glaubens- und Gewissensfreiheit, Kriegsdienstverweigerung
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Gleiches gilt für das Recht der Religionsgemeinschaften, den Inhalt des Religionsunterrichts zu gestalten. Soweit Art. 4 Abs. 1, 2 GG die Glaubensunterweisung als Teil der kollektiven Religionsfreiheit schützt, ist Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG normlogische lex specialis 169 . Auch das Recht der Lehrer, die Erteilung von Religionsunterricht zu verweigern, wird von Art. 7 Abs. 3 S. 3 GG gegenüber Art. 4 Abs. 1, 2 GG speziell geschützt 170 . Nach zutreffender Einschätzung kommt dem Grundrecht insofern selbständige Bedeutung zu, als mögliche Einschränkungen der negativen Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit selbst dann unzulässig sind, wenn sie ansonsten mit dem Beamtenstatus der Lehrer gerechtfertigt werden könnten 1 7 1 .
7. Verhältnis zu Art. 140 GG i.V.m. den Regelungen der WRV a) Einleitung Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 140 GG keine Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte 172 . Folgt man dieser Ansicht, wie dies die herrschende Meinung t u t 1 7 3 , liegt bei tatbestandlicher Anwendbarkeit des Art. 4 Abs. 1, 2 GG und des Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 ff. WRV kein Fall einer Grundrechtskonkurrenz vor. Soweit die Vorschriften der Art. 136 ff. WRV dennoch bestimmte Rechte gewähren, besteht zwischen diesen Regelungen und Art. 4 Abs. 1, 2 GG eine einfache Verfassungsnormkonkurrenz. Nach einer zunächst vorsichtig, mittlerweile aber deutlich artikulierten Ansicht in der Literatur soll es hingegen sachgerechter sein, einigen Rdnr. 52; Schmitt-Kammler, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 6 Rdnr. 52; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 7 Rdnr. 10; Gröschner, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 7 Rdnr. 79, 107; Jestaedt, in: Bonner Kommentar, Art. 6 Abs. 2 und 3 Rdnr. 266; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 675; Siekmann/Duttge, Staatsrecht I, Rdnr. 387. 169 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 7 Rdnr. 8; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 135; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 164. 170 Hemmrich, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 7 Rdnr. 52; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 7 Rdnr. 9. 171 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 674. 172 BVerfGE 19, 129 (135). 173 Zippelius, in: Bonner Kommentar, Art. 4 Rdnr. 93; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 140 Rdnr. 1; v. Campenhausen, HbdStR VI, § 136 Rdnr. 92; Hemmrich, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, Art. 140 Rdnr. 4. Verbreitet werden die aus diesen Vorschriften resultierenden Rechte aber als grundrechtsó7w//c7i bezeichnet, weil sie sich als primär individualbezogen darstellen; Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/1 S. 374 m.w.Nw. 14 Heß
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F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
Bestimmungen der Weimarer Kirchenartikel eigene Grundrechtsqualität zuzubilligen 174 . Der offensichtliche subjektivrechtliche Charakter und auch die formale Struktur einiger Artikel legten dies nahe 1 7 5 . Selbst das Bundesverfassungsgericht behandele etwa Art. 137 Abs. 3 WRV materiell wie ein Grundrecht, wenn es im Rahmen der Begründetheitsprüfung einer Verfassungsbeschwerde nicht Art. 4 Abs. 1, 2 GG, sondern direkt die Weimarer Bestimmung als Maßstabsnorm heranziehe 176 . Eine entsprechende erweiternde Auslegung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG sei demnach nur die verfahrensrechtliche Konsequenz einer von der Verfassung selbst getroffenen materiellen Wertung 1 7 7 . Tatsächlich sprechen gute Gründe dafür, Konkurrenzsituationen zwischen Art. 4 Abs. 1, 2 GG und Art. 140 GG i.V.m. den Regelungen der WRV als echte Grundrechtskonkurrenzen anzuerkennen. Insbesondere müßte das Bundesverfassungsgericht die Beschwerdebefugnis für die Erhebung von Verfassungsbeschwerden nicht mühsam auf den - teilweise - gar nicht anwendbaren Art. 4 Abs. 1, 2 GG stützen, wenn materiell die Verletzung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts gem. Art. 137 Abs. 3 GG in Rede steht 1 7 8 . Um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, muß dieses Problem hier offengelassen werden. Dennoch soll im folgenden in der gebotenen Kürze die Frage beleuchtet werden, inwieweit Tatbestand und Begrenzungsregel des Art. 4 Abs. 1, 2 GG durch die inkorporierten Vorschriften der WRV ersetzt, ergänzt oder modifiziert werden.
b) Verhältnis
zu Art. 136 Abs. 1 WRV
Die in Art. 136 Abs. 1 WRV getroffene Regelung besitzt gegenüber Art. 4 Abs. 1, 2 GG nur auf der Gewährleistungs- nicht jedoch auf der Begrenzungsebene eine eigenständige Bedeutung. Ihrem Wortlaut nach ließe sich die Vorschrift zwar als spezielle Schrankenregelung für die Ausübung der Religionsfreiheit deuten 179 . Die verfassungsrechtliche Genese 174
Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 140 Rdnr. 3. Hollerbach, HbdStR VI, § 138 Rdnr. 145. 176 Vgl. dazu BVerfGE 46, 73 (85); 53, 366 (391). 177 Hollerbach, HbdStR VI, § 138 Rdnr. 145; zustimmend Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 140 Rdnr. 3. 178 Siehe nur BVerfGE 70, 138 (161 f.). 179 So v. Campenhausen, in: v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 14, Art. 140 Art. 136 Abs. 1 WRV Rdnr. 6; ders., HbdStR VI, § 136 Rdnr. 82; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 4 Abs. 1, 2 Rdnr. 75 f.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 17; Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 224ff.; sowie unter ausführlicher Aufarbeitung des Streitstands Bock, AöR 123 (1998), 444 (464 ff.). 175
VI. Glaubens- und Gewissensfreiheit, Kriegsdienstverweigerung
211
spricht jedoch dagegen 180 . Der Verfassungsgeber hat mit Art. 4 GG eine Grundrechtsbestimmung eingefügt, die - anders als die „Vorgängerregelung" des Art. 135 WRV - gerade keinen Gesetzesvorbehalt enthält. Ein entsprechender Zusatz wurde ausdrücklich verworfen 181 . Die Religionsfreiheit, jedenfalls in ihrer individualrechtlichen Dimension, wird also durch das Grundgesetz nach dem eindeutigen Willen seiner Väter und Mütter als schrankenloses Grundrecht gewährt. Art. 136 Abs. 1 WRV kann insofern nicht als Begrenzungsregelung verstanden werden. Auch die Systematik stützt diese Auffassung. Art. 4 Abs. 1, 2 GG schützt nicht nur die Religions·, sondern auch die Gewissensfreiheit. Es ist kein sachlicher Grund ersichtlich, warum die Religionsfreiheit gem. Art. 136 Abs. 1 WRV unter dem Vorbehalt der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten stehen soll, die Gewissensfreiheit aber nur den immanenten Begrenzungen des Art. 4 GG unterliegt 182 . Da eine Schrankenübertragung auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit auch im Wege der Analogie nicht in Betracht k o m m t 1 8 3 , wäre ein Wertungswiderspruch zwischen den Begrenzungsregelungen die Folge. Rein sachlich normiert Art. 136 Abs. 1 WRV ein spezielles Ungleichbehandlungsverbot 184 . Die religiöse Ausrichtung wird bezüglich der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten zum unzulässigen Differenzierungskriterium erklärt 1 8 5 . Diese spezielle Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes ist im Grundgesetz in ähnlicher Formulierung bereits in Art. 136 Abs. 2 WRV sowie Art. 33 Abs. 3 GG - jeweils unter Hinzufügung der Zulassung zu öffentlichen Ämtern - und in Art. 3 Abs. 3 GG normiert. Sowohl Art. 136 Abs. 1 als auch Abs. 2 WRV laufen insofern leer und besitzen keine selbständige Bedeutung 186 . In der Grundrechtsprüfung genügt es daher, neben Art. 4 Abs. 1, 2 GG ausschließlich auf die gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG rügefähigen Grundrechte der Art. 3 Abs. 3, 33 Abs. 3 GG abzustellen 187 . 180
Kokott, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 114; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 90; a.A. Bock, AöR 123 (1998), 444 (469); Hillgruber, JZ 1999, 538 (543). 181 JöR 1 (1951), 1 (74). 182 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 90; insoweit ebenso Bock, AöR 123 (1998), 444 (469 ff.). 183 Dazu oben S. 78 ff. 184 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 3 Abs. 3 Rdnr. 394; Preuß, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, Art. 140 Rdnr. 37; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 113. 185 Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, S. 37; zustimmend Kokott, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 113. 186 v. Campenhausen, in: v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 14, Art. 140 Art. 136 Abs. 2 WRV Rdnr. 8, 13. 14*
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F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen c) Verhältnis
zu Art 136 Abs. 3 u. 4 WRV
Art. 136 Abs. 3 u. 4 WRV enthalten auf Gewährleistungsebene - klarstellende - Konkretisierungen der durch Art. 4 Abs. 1, 2 GG umfassend garantierten negativen Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit 188. Auf Begrenzungsebene kommt indes Art. 136 Abs. 3 S. 2 WRV ein selbständiger Regelungsgehalt zu. Diese Norm räumt dem Staat in gewissen Fällen ein Fragerecht nach der Religionszugehörigkeit ein. Staatliche Stellen dürfen nach der rechtlichen Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, nicht jedoch nach dem Inhalt der Glaubensüberzeugung fragen. Art. 136 Abs. 3 S. 2 WRV begrenzt auf diese Weise die negative Seite der Religionsfreiheit 189 . Folglich ist die Norm als spezielle Begrenzungsregelung auf Art. 4 Abs. 1, 2 GG anwendbar. Der Umfang der Regelungswirkung, also die Frage, zur Feststellung welcher Rechte und Pflichten ein Fragerecht besteht, ist anhand des Zwecks der Bezugnahme auf die Weimarer staatskirchlichen Bestimmungen zu eruieren.
d) Verhältnis
zu Art. 137 Abs. 2 WRV
Die Gewährleistungsgegenstände des Art. 137 Abs. 2 S. 1 und 2 WRV, die individuelle religiöse Vereinigungsfreiheit und die kollektive religiöse Vereinigungsfreiheit, werden allgemein bereits durch die individuelle und kollektive Glaubens- und Religionsfreiheit geschützt 190 . Die Tatbestände verhalten sich demnach wie zwei sich überdeckende Kreise mit unterschiedlichen Radien. Nach den allgemeinen Regeln ist Art. 137 Abs. 2 WRV deshalb prinzipiell gegenüber Art. 4 Abs. 1, 2 GG normlogisch speziell 1 9 1 . Zu 187
Ebenso offenbar BVerfGE 79, 69 (75). Listi, HdbStKirchR I, S. 456; Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 140 Rdnr. 10; Hemmrich, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, Art. 140 Rdnr. 13; Zippelius, in: Bonner Kommentar, Art. 4 Rdnr. 111; v. Campenhausen, in: v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 14, Art. 140 Art. 136 Abs. 4 WRV Rdnr. 40f.; Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 140 Rdnr. 7 f.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 8. 189 Hemmrich, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, Art. 140 Rdnr. 13; Zippelius, in: Bonner Kommentar, Art. 4 Rdnr. 100. 190 BVerfGE 83, 341 (355); Zippelius, in: Bonner Kommentar, Art. 4 Rdnr. 112; Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 140 Art. 137 WRV Rdnr. 7; v. Campenhausen, in: v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 14, Art. 140 Art. 137 Abs. 2 WRV Rdnr. 17. Vgl. auch Kästner, AÖR 123 (1998), 408 (418ff.). 191 Preuß, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, Art. 140 Rdnr. 44; Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 140 Art. 137 WRV Rdnr. 3; a.A. BVerfGE 83, 341 (355). 188
VI. Glaubens- und Gewissensfreiheit, Kriegsdienstverweigerung
213
beachten ist allerdings, daß beide Vorschriften keine Begrenzungsregelungen enthalten. Die Rechtsfolgen sind also in jedem Fall identisch. Da Art. 137 Abs. 2 WRV mithin keine abweichende Regelungswirkung entfalten kann, kommt der Norm deshalb praktisch neben dem mit der Verfassungsbeschwerde rügefähigen Art. 4 Abs. 1, 2 GG keine Bedeutung zu. e) Verhältnis
zu Art. 137 Abs. 3 WRV
Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV erfaßt tatbestandlich das Recht der Religionsgesellschaften zur selbständigen Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten. Heftig umstritten ist, inwieweit der sachliche Gewährleistungsgehalt der Norm bereits durch Art. 4 Abs. 1, 2 GG garantiert wird. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts und Teilen der Literatur fügt Art. 137 Abs. 3 WRV „der Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirchen und Religionsgemeinschaften die zur Wahrnehmung dieser Aufgaben unerläßliche Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung" hinzu 1 9 2 . Die Norm sei deshalb gegenüber Art. 4 Abs. 1, 2 GG als selbständige Gewährleistung anzusehen. Die von Art. 4 Abs. 1, 2 GG garantierte kollektive Kultusfreiheit beschränke sich auf die gemeinsame Kultusausübung 193 , also die Religionsausübung im engeren Sinn. Mit der Übernahme der Weimarer Norm sei die kollektive Religionsfreiheit in bezug auf die Ordnung und Verwaltung der eigenen Angelegenheiten der Religionsgesellschaften ergänzt worden 1 9 4 . Beide Regelungen stünden folglich nebeneinander. Nach anderer Auffassung schützt Art. 4 Abs. 1, 2 GG mit der kollektiven Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit auch das kirchliche Selbstbestimmungsrecht 195 . Dies ergebe sich zwanglos, wenn - wie vom Bundesverfassungsgericht vorgegeben - der Schutzbereich der Freiheit der Organisation und Verwaltung nach dem Selbstverständnis der Grundrechtsträger bestimmt werde 1 9 6 . Die Tatbestände der Normen überdeckten sich demnach in diesem Teilbereich vollständig. Wegen der tatbestandlichen Kongruenz 192 BVerfGE 53, 366 (401); 72, 278 (289); v. Campenhausen, HbdStR VI, § 136 Rdnr. 91; Hesse, HdbStKirchR I, S. 526. 193 v. Campenhausen, HbdStR VI, § 136 Rdnr. 91. 194 v. Campenhausen, in: v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 14, Art. 140 Art. 137 Abs. 3 WRV Rdnr. 27. 195 Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 140 Art. 137 WRV Rdnr. 1, 9; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 74f.; Listi, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 372 ff. 196 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 74, unter Verweis auf die st. Rspr. seit BVerfGE 24, 236 (247). Vgl. dazu auch Hollerbach, HbdStR VI, § 138 Rdnr. 95.
214
F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
bestehe der selbständige Regelungsgehalt des Art. 137 Abs. 3 WRV nur in der Verweisung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts in die Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Die inkorporierte Verfassungsnorm sei also nichts weiter als eine spezielle Begrenzungsregelung für den durch Art. 137 Abs. 3 WRV konkretisierten Teilbereich des Art. 4 Abs. 1, 2 G G 1 9 7 . Tatsächlich spricht einiges für diese Ansicht. Art. 4 Abs. 1, 2 GG schützt nach zutreffender Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auch die religiöse Vereinigungsfreiheit als „die Freiheit, aus gemeinsamem Glauben sich zu einer Religionsgesellschaft zusammenzuschließen und zu organisier e n " 1 9 8 . D.h. Art. 4 Abs. 1, 2 GG garantiert nicht nur die Gründungs-, sondern auch ein gewisses Maß an Organisationsfreiheit 199 . Die religiöse Vereinigungsfreiheit ist damit zumindest in Teilbereichen mit dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht identisch. Es bleibt bei näherer Betrachtung allerdings zweifelhaft, ob tatsächlich zwischen den Verfassungsnormen auf Tatbestandsebene ein normlogisches Einschlußverhältnis besteht. Dazu müßte der gesamte von Art. 137 Abs. 3 WRV geschützte Bereich zugleich auch von Art. 4 Abs. 1, 2 GG erfaßt werden. Maßgeblich für die tatbestandliche Reichweite der kollektiven Glaubensfreiheit soll das kirchliche Selbstverständnis sein. Es zeigt sich jedoch, daß auch nach dem Selbstverständnis der Kirchen einige Aspekte der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts nicht unmittelbar glaubensrelevant sind 2 0 0 . So zählt etwa die Besetzung des Berufsbildungsausschusses für die Ausbildung kirchlicher Verwaltungsangestellter sicherlich zu den inneren kirchlichen Angelegenheiten i. S.d. Art. 137 Abs. 3 W R V 2 0 1 . Daß allerdings auch die kollektive Glaubensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1, 2 GG tatbestandlich betroffen ist, kann kaum angenommen werden. Es ist nicht davon auszugehen, daß die religiösen Überzeugungen der beteiligten kirchlichen Amtsträger durch die Ausschußbesetzung in irgendeiner Weise tangiert werden. Gerade die dienst- und arbeitsrechtlichen Beziehungen oder die vielfältigen wirtschaftlichen Betätigungen der Kirchen sind häufig Teil ihres Selbstverwaltungs- und Selbstbestimmungsrechts 202. Um unmittelbar glaubensgeleitete Tätigkeiten handelt es sich in vielen Fällen aber nicht 2 0 3 . Der Gewähr197
Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 74. BVerfGE 83, 341 (355). 199 Lücke, EuGRZ 1995, 651 (653). 200 Lücke, EuGRZ 1995, 651 (654). 201 BVerfGE 72, 278 (290). 202 Für die kirchliche Grundstücksverwaltung OLG Hamburg NJW 1983, 2572 ff. 203 Interessant ist hierzu auch BVerfGE 70, 138 (162ff.). Nach dem Selbstverständnis der Katholischen Kirche umfaßt die Religionsausübung nicht nur den Bereich des Glaubens und des Gottesdienstes, sondern auch das karitative Wirken in der Welt. Das Betreiben eines Krankenhauses oder eines Jugendheims unterfällt 198
VI. Glaubens- und Gewissensfreiheit, Kriegsdienstverweigerung
215
leistungsbereich der Weimarer Norm ist demnach in bezug auf das Selbstbestimmungsrecht weiter gezogen als der des Art. 4 Abs. 1, 2 GG. D.h. Art. 137 Abs. 3 WRV besitzt einen eigenen, über Art. 4 Abs. 1, 2 GG hinausgehenden Garantiegehalt. Zwischen den Grundrechtsnormen besteht deshalb kein normlogisches Spezialitätsverhältnis. Allerdings stehen die Grundrechte nicht beziehungslos nebeneinander. Ihre Gewährleistungsrichtung ist weitgehend identisch. Den Religionsgemeinschaften wird garantiert, ihre Glaubesüberzeugungen frei zu leben und die dazu notwendigen organisatorischen Voraussetzungen zu schaffen. Die kollektive Glaubensfreiheit des Art. 4 Abs. 1, 2 GG wird durch Art. 137 Abs. 3 GG sowohl konkretisiert als auch ergänzt. Der Weimarer Kirchenartikel ist deshalb bei normativer Betrachtung eine für den tatbestandlichen Überschneidungsbereich verdrängende Spezialregelung. Allerdings wird auf diese Weise die „organisatorische Betätigung der Religionsfreiheit" 204 einer engeren Begrenzung unterworfen als die individuelle Glaubensausübung. Dies ist aber hinnehmbar, wenn nicht sogar verfassungsrechtlich geboten. Im Bereich der allgemeinen wirtschaftlichen Betätigung (Ankauf eines Fahrzeugs, Anstellung von Verwaltungsbediensteten und Arbeitern) unterscheidet sich die Stellung der Religionsgemeinschaften nicht sonderlich von der Position anderer Vereinigungen. Die Beziehungen zu Dritten sind deshalb genauso regelungsbedürftig wie in jedem anderen Sektor. Auch hier muß der Staat seinen Schutzpflichten gegenüber den Grundrechten dieser Bürger nachkommen 205 .
f) Verhältnis
zu Art. 138 Abs. 2 WRV
Tatbestandliche Überschneidungen der Kirchengutsgarantie des Art. 138 Abs. 2 WRV mit Art. 4 Abs. 1, 2 GG sind nur in wenigen Fällen denkbar. Wenn jedoch die Nutzung eines durch Art. 138 Abs. 2 WRV geschützten Gegenstandes zugleich der Ausübung der Religion dient, ist die Weimarer Regelung gegenüber Art. 4 Abs. 1, 2 GG normlogisch speziell 2 0 6 . Zu Recht hat deshalb das Bundesverwaltungsgericht in der St. Salvator-Entscheidung die Grundrechtsverträglichkeit des Entwidmungsbegehrens für ein Kirchendemnach dem Tatbestand des Art. 4 Abs. 1, 2 GG. Der Abschluß von Arbeitsverträgen mit Krankenhaus- oder Jugendheimmitarbeitern ist hingegen nur eine praktischtechnische Vorarbeit im Rahmen der Eigenorganisation um den karitativen Auftrag erfüllen zu können. Richtigerweise hat das Gericht deshalb auf Art. 137 Abs. 3 GG und nicht auf Art. 4 Abs. 1, 2 GG als Prüfungsmaßstab abgestellt. 204 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 75. 205 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 75. 206 Ebenso Kästner, HdbStKirchR I, S. 893 Fn. 11; dazu auch schon oben S. 147 f.
216
F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
gebäude nur nach Art. 138 Abs. 2 WRV beurteilt und Art. 4 Abs. 1, 2 GG dahinter zurücktreten lassen 207 . Die Kirchengutsgarantie schützt eigentumsrelevante Postitionen gerade in ihrer religionsbezogenen Funktion 2 0 8 . Folglich hebt Art. 138 Abs. 2 WRV auf Tatbestandsseite einen Aspekt der von Art. 4 Abs. 1, 2 GG umfassend geschützten Religionsausübungsfreiheit gesondert heraus. Auch wenn beide Grundrechtsnormen vorbehaltlos, also „schrankenkongruent" ausgestaltet sind, besitzt Art. 138 Abs. 2 WRV dennoch einen eigenen Regelungsgehalt 209 . Die kirchlichen Eigentumspositionen sind nach zutreffender Ansicht gegenüber kollidierenden Rechtsgütern funktionsbezogen in Relation zu setzen. D.h. je stärker der Bezug zur Religionsausübung ist, desto stärker ist auch die Durchsetzungsfähigkeit der Position im Abwägungsverfahren. Anders als bei Art. 4 Abs. 1, 2 GG ist hier also auf Begrenzungsseite eine Schutzabstufung zu berücksichtigen.
VII. Allgemeine Handlungsfreiheit und allgemeines Persönlichkeitsrecht - Art. 2 Abs. 1 GG; Freiheit der Person - Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG 1. Allgemeine Handlungsfreiheit Das Verhältnis der allgemeinen Handlungsfreiheit zu den nachfolgenden Grundrechten zählt zu den ausdiskutierten Themen der grundrechtlichen Konkurrenzdogmatik 210 . Es besteht weitgehend Einigkeit, daß Art. 2 Abs. 1 GG als allgemeine Regelung hinter die speziellen Freiheitsrechte zurückt r i t t 2 1 1 . Diese Auffassung ist zweifellos zutreffend. Das normlogische Spezialitätsverhältnis ist so offensichtlich, daß auf eine ausführliche Begründung verzichtet werden kann. Lediglich auf einige Aspekte soll an dieser Stelle gesondert hingewiesen werden. 207
BVerwGE 87, 115 (133). Näher oben S. 147 f. 209 F o l g t m a n der h.M., ergibt sich der besondere Regelungsgehalt schon aus der analogen Anwendung der Begrenzungsregelung des Art. 137 Abs. 3 WRV. 210 Vgl. die teils umfassenden Beiträge von Scholz, AöR 100 (1975), 80 (81 ff., 265 ff.); Pieroth, AöR 115 (1990), 33ff.; Erichsen, HbdStR VI, § 152 Rdnr. 25 ff.; Degenhart, JuS 1990, 161 ff. 211 BVerfGE 6, 32 (36); 67, 157 (171); 89, 48 (61); BVerwG NVwZ 1984, 514 (515); BGHSt 4, 385 (391); Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II, Rdnr. 32ff.; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Rdnr. 97, Art. 2 I Rdnr. 66; Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 137; Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1393 mit umfangreichen Nw.; a.A. aufgrund eines anderen Verständnisses von Art. 2 Abs. 1 GG Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Rdnr. 428 m.w.Nw. 208
VII. Allgemeine Handlungsfreiheit
217
Erstens: Die allgemeine Handlungsfreiheit stellt systematisch die Grundform der Verhaltensfreiheiten dar. Sie bildet innerhalb des Gewährleistungsbereichs des Art. 2 Abs. 1 GG einen selbständigen Schutzgegenstand und ist immer dann einschlägig, wenn ein Lebenssachverhalt unter keinen nachfolgenden, eine Verhaltensfreiheit garantierenden Grundrechtstatbestand zu subsumieren ist. Die Norm ist demnach subsidiär. Allerdings beschränkt sich die Auffangfunktion der allgemeinen Handlungsfreiheit allein auf das Verhältnis zu den speziellen Verhaltensfreiheiten. Gegenüber den verliehenen oder natürlichen Rechtspositionen als strukturell andersartigen Schutzgegenständen besteht dieses Subsidiaritätsverhältnis nicht. Dies läßt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen. Werden die Verwender elektronischer Chiffriersysteme per Gesetz verpflichtet, einer staatlichen Überwachungsstelle zur Überwachung des elektronischen Datenverkehrs (e-mail etc.) ein Programm zur Entschlüsselung nebst Entschlüsselungscode an die Hand zu geben, ist zweifellos der geschützte Geheimbereich als selbständiger Schutzgegenstand des Art. 10 Abs. 1 GG betroffen. Zugleich wird den Kommunikationspartnern mit dem Zwang zur Herausgabe des Computerprogramms eine Verhaltenspflicht auferlegt, die als solche nur durch den negativen Aspekt der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG geschützt w i r d 2 1 2 . Es entsteht eine Konkurrenzlage zwischen Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 10 Abs. 1 GG. Diese ist aber nicht zugunsten von Art. 10 Abs. 1 GG aufzulösen. Ein Verdrängungsverhältnis kommt aufgrund der strukturellen Unterschiede zwischen den konkurrierenden Schutzgegenständen nicht in Betracht 213 . Art. 10 Abs. 1 GG ist deshalb in diesem Fall nicht lex specialis gegenüber Art. 2 Abs. 1 GG. Beide Grundrechte konkurrieren ideal und bilden gemeinsam den Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Verpflichtung. Zweitens: Nach der hier vertretenen Aufassung 214 kann nur dann auf Art. 2 Abs. 1 GG rekurriert werden, wenn auf den zu überprüfenden Sachverhalt kein spezieller Grundrechtstatbestand anwendbar ist. D.h. entscheidend für den Rückgriff auf die allgemeine Handlungsfreiheit ist, daß mindestens eine der Tatbestandsvoraussetzungen der in Frage kommenden speziellen Normen nicht erfüllt ist. Ist hingegen neben Art. 2 Abs. 1 GG auch ein anderer Grundrechtstatbestand aktualisiert, der ebenfalls eine Verhaltensfreiheit garantiert, wird die entstandene Konkurrenz zu Lasten der allgemeinen Handlungsfreiheit aufgelöst. Ob zudem eine Beeinträchtigung des 2.2 Da die Herausgabe des Entschlüsselungsprogramms nicht den Kommunikationsvorgang betrifft, dürfte Art. 10 Abs. 1 GG in seiner Dimension als Verhaltensfreiheit insoweit nicht einschlägig sein. 2.3 Siehe oben S. 144ff. 214 Ausführlich zur Struktur der abwehrrechtsbegründenden Grundrechtsnorm oben S. 93 ff.
F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
218
Schutzgegenstandes vorliegt oder diese Beeinträchtigung durch eine Begrenzungsregel gedeckt ist, ist für die Entstehung und folglich auch für die Auflösung der Konkurrenzlage zunächst völlig unerheblich 215 . Im Einzelfall ist jedoch zu berücksichtigen, ob das jeweils spezielle Abwehrrecht überhaupt vor der in Rede stehenden staatlichen Maßnahme schützt 216 . Nur wenn der Schutzzweck der speziellen abwehrrechtlichen Grundrechtsnorm berührt wird, verdrängt sie die allgemeinere Regelung. D.h. bei einer Konkurrenz zwischen Art. 12 GG und Art. 2 Abs. 1 GG kann die Berufsfreiheit dann als Prüfungsmaßstab herangezogen werden, wenn das zu überprüfende staatliche Handeln einen engen Zusammenhang mit der Berufsausübung und eine objektiv berufsregelnde Tendenz aufweist 217 . Ist dies nicht der Fall, handelt es sich nicht um eine Beeinträchtigung der durch Art. 12 GG geschützten Verhaltensweisen. Die Maßnahme ist dann an Art. 2 Abs. 1 GG 218
zu messen . Drittens: Entscheidend für die Sperrwirkung der speziellen Grundrechtsnorm ist zunächst immer die Erfüllung der Tatbestandsmerkmale, nicht die thematische Einschlägigkeit des Grundrechts 219 . Nur wenn die Norm anwendbar ist, greift auch ihre spezielle Rechtsfolge. Etwas anderes gilt nur dann, wenn sich dies aus Sinn und Zweck der Regelung unzweifelhaft ergibt. Dafür finden sich jedoch im Verhältnis der Grundrechtsnormen zueinander nur wenige Beispiele. Die in diesem Zusammenhang oft genannten Tatbestandsmerkmale „friedlich" und „ohne Waffen" in Art. 8 Abs. 1 GG geben für eine Sperrwirkung des Regelungsbereichs dieses Grundrechts jedenfalls nichts her 2 2 0 . Zusammenkünfte von Menschen, die dem Versammlungsbegriff des Art. 8 GG genügen, werden von der Norm tatbestandlich erfaßt, wenn sie friedlich und waffenlos erfolgen. Auf diese Weise werden speziell bezeichnete Versammlungen unter einen besonderen grundrechtlichen Schutz gestellt. Auch wenn sich aus dieser Beschränkung 215
Ebenso Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 2 Rdnr. 88; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 369ff.; offenbar auch Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 2 I Rdnr. 66; Ipsen, Staatsrecht II, Rdnr. 744. 216 Ausführlich dazu oben S. 165 f. 217 So jedenfalls die Anforderungen der h.M. an eine Beeinträchtigung des Art. 12 GG; vgl. BVerfGE 13, 181 (186); 82, 209 (223 f.); 95, 267 (3302); 97, 228 (253 f.), st. Rspr. 218 Deshalb ist es zutreffend, wenn formuliert wird, Art. 2 Abs. 1 GG sei subsidiär, wenn ein Eingriff in den Schutzbereich (Tatbestand) des speziellen Grundrechts gegeben ist. So etwa Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 2; Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 137. 219 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 341; a.A. insbesondere Erichsen, in: HbdStR VI, § 152 Rdnr. 26; ders., Jura 1987, 367 (368 f.); Bleckmann/Wiethoff, DÖV 1991, 722 (726); neuerdings auch Hillgruber, MedR 1998, 201 (204). 220 Siehe auch Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 360.
VII. Allgemeine Handlungsfreiheit
219
ein Unwerturteil des Verfassungsgebers über unfriedliche und bewaffnete Versammlungen herauslesen läßt 2 2 1 , bedeutet dies nicht zwangsläufig, daß der Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG ausgeschlossen sein soll. Ein Vergleich mit der Regelung des Art. 9 Abs. 2 GG macht dies deutlich. Hier werden verfassungsfeindliche Vereinigungen nicht nur aus dem Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 1 GG herausgelöst, sondern überdies einem Verbot unterworfen. Damit dieses Verbot zum Tragen kommt, muß für den Zusammenschluß zu solchen Vereinigungen zwangsläufig jeder Grundrechtsschutz, auch der des Art. 2 Abs. 1 GG entfallen. Die Formulierung des Art. 8 Abs. 1 GG hingegen enthält keine derartige Anordnung. Viel eher besteht eine Parallele zur Regelung des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, dessen Beschränkung auf die Nutzung allgemeinzugänglicher Quellen gleichfalls den Rückgriff auf Art. 2 Abs. 1 GG für sonstige Informationsbeschaffungen erlaubt 2 2 2 .
2. Allgemeines Persönlichkeitsrecht Schutzgegenstand des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist die engere persönliche Lebenssphäre 223 , der autonome Bereich privater Lebensgestalt u n g 2 2 4 oder schlicht das Person-Sein 225 des Menschen. Die Verfassung garantiert damit ebenso wie mit dem Recht auf Leben und Gesundheit ein höchstpersönliches menschliches Gut. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht folgt unmittelbar aus der in Art. 2 Abs. 1 GG garantierten Freiheit zur Entwicklung und Entfaltung des Menschen 226 . Die freie Entfaltung der Persönlichkeit wird auf diese Weise in Art. 2 Abs. 1 GG durch zwei Säulen abgesichert: die allgemeine Handlungsfreiheit als aktives, dynamisches Element und das allgemeine Persönlichkeitsrecht als statische, bestandssichernde Komponente 227 . Beide Schutzgegenstände stehen selbständig nebeneinander. Im Konkurrenzfall besteht aufgrund des strukturellen Unterschieds Idealkonkurrenz 228 . Ebenso wie das Leben unabdingbare Basis für jede Art 221
Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 8 Rdnr. 77. BVerfGE 18, 310 (315); 34, 384 (400); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 63. 223 BVerfGE 54, 148 (153). 224 BVerfGE 79, 256 (268). 225 Treffend Jarass, NJW 1989, 857 (859). 226 Allgemein zur textlichen Grundlage des Persönlichkeitsrechts oben S. 128 f. 227 Vgl. BVerfGE 54, 148 (153). 228 Anders Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 64: das allgemeine Persönlichkeitsrecht sei Spezialgrundrecht zur allgemeinen Handlungsfreiheit. Zustimmend Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 26. Unklar BVerfGE 56, 37 (42 f.). 222
220
F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
von Freiheitsverwirklichung ist, bildet die geschützte Privatsphäre die Grundlage für das Gebrauchmachen der unterschiedlichen Verhaltensfreiheiten 2 2 9 . Das Bundesverfassungsgericht hat eine ganze Reihe unterschiedlicher Einzelaspekte des allgemeinen Persönlichkeitsrechts herausgearbeitet, die allerdings nur als Präzisierungen bzw. Konkretisierungen eines einheitlichen Schutzgegenstandes zu verstehen sind 2 3 0 . Die Persönlichkeit des Menschen, das Sein der Person, ist nicht teilbar, sondern bildet wie auch die menschliche Würde ein einheitliches Ganzes. Deshalb sind das Recht auf informationelle Selbstbestimmung oder das Recht am eigenen Bild nur plastische Ausformungen des inhaltlich offenen allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Selbständige, speziell normierte Bereiche des Persönlichkeitsrechts sind das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis gem. Art. 10 Abs. 1 G G 2 3 1 , der gegenständliche Privatbereich der Wohnung gem. Art. 13 Abs. 1 G G 2 3 2 , die familiäre Privatsphäre 233 oder die innere Seite der Glaubens- und Gewissensfreiheit 234 . Im Verhältnis zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht sind diese Grundrechtsnormen Spezialregelungen, die das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG insofern verdrängen 235 . Das allgemeine Persönlichkeitsrecht als unbenanntes Freiheitsrecht ist also insoweit subsidiäres Auffanggrundrecht. Zu den unterschiedlichen grundrechtlich garantierten Verhaltensfreiheiten, die aufgrund ihrer abweichenden Struktur niemals Sonderfälle des allgemei229
Sollte etwa einem militärischen Ausbilder, der in der Öffentlichkeit in den Verdacht geraten ist, ihm unterstellte Rekruten zu schikanieren, bis zur Klärung der Vorwürfe verboten werden, Rundfunk- oder Femsehinterviews zu geben, ist dieser sowohl in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit als auch seinem Persönlichkeitsrecht betroffen. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch die Entscheidung des einzelnen, wie er sich Dritten gegenüber oder in der Öffentlichkeit darstellen will; BVerfGE 63, 131 (142). Indem dem Ausbilder die Möglichkeit genommen wird, öffentlich zu den Anschuldigungen Stellung zu nehmen, wird in dieses Recht eingegriffen. 230 Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 646 ff. mit einer Aufzählung der anerkannten unselbständigen Einzelaspekte. 231 Krüger, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 10 Rdnr. 52; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 10 Rdnr. 103. 232 Gomig, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 13 Abs. 1 Rdnr. 53. 233 Diese und weitere Beispiele mit jeweils umfassenden Nachweisen bei Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 649 ff. Siehe auch Schmitt Glaeser, HbdStR VI, § 129 Rdnr. 27. 234 Siehe oben S. 200f. 235 Gomig, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 13 Abs. 1 Rdnr. 53; Erichsen, HbdStR VI, § 152 Rdnr. 29.
VII. Allgemeine Handlungsfreiheit
221
nen Persönlichkeitsrecht sein können 2 3 6 , besteht Idealkonkurrenz 237 . Hier gilt deshalb nichts anderes als im Verhältnis zur allgemeinen Handlungsfreiheit. Zu Recht hat deshalb das Bundesverfassungsgericht die Versagung von Vollzugslockerungen für Strafgefangene parallel an Art. 2 Abs. 1 (i.V.m. Art. 1 Abs. 1) GG - Resozialisierungsinteresse - und Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG - Freiheit der Person - gemessen 238 .
3. Freiheit der Person - Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG a) Verhältnis
zu Art. 104 GG
Sowohl Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG als auch Art. 104 GG regeln das grundrechtlich verbürgte Recht der Freiheit der Person und stehen insoweit in einem „unlösbaren Zusammenhang" 239 . Trotz der engen thematischen Verknüpfung besteht jedoch in der Literatur über das Konkurrenzverhältnis der Normen keine Einigkeit. Im wesentlichen stehen sich zwei Auffassungen gegenüber. Während teilweise unter Hinweis auf den Grundrechtscharakter des Art. 104 GG von einem Spezialitätsverhältnis zwischen dieser Norm und Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG ausgegangen w i r d 2 4 0 , soll nach anderer Ansicht Art. 104 GG das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG lediglich auf Begrenzungsebene modifizieren 241 . Das Bundesverfassungsgericht hat sich zum Verhältnis der Vorschriften bisher nicht ausdrücklich geäußert; es prüft jedoch regelmäßig beide Verfassungsbestimmungen in Verbindung miteinander 242 . Ein Blick in die Entstehungsgeschichte der Normen scheint zunächst die letztgenannte Auffassung zu stützen. Die textliche Trennung in zwei Artikel 236
Dazu oben S. 145, 149ff. Ebenso Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 138; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 2 I Rdnr. 67; differenzierend zwischen dem Schutz der Privatsphäre und der personalen Entfaltung Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 26. 238 BVerfG (Kammer) NJW 1998, 1133 f. Weniger deutlich BVerfGE 90, 255 (259): das allgemeine Persönlichkeitsrecht trete zu Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG ergänzend hinzu. In diesem Sinne über das Verhältnis zu Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG bereits BVerfGE 35, 35 (39). 239 BVerfGE 22, 180 (219 f.); 30, 47 (53). 240 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 411. 241 H.M., siehe nur Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 228; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz-Kommentar, Art. 2 Rdnr. 58; Siekmann/ Duttge, Staatsrecht I, Rdnr. 233; Grabitz, HbdStR VI, § 130 Rdnr. 20; Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 300. 242 BVerfGE 65, 317 (322); 96, 10 (21); BVerfG (Kammer) NJW 1998, 1133 (1134). 237
222
F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
wurde nur deshalb vorgenommen, um den Grundrechtsteil durch die Aufnahme der sehr detaillierten, aus der Weimarer Reichsverfassung übernommenen Vorschriften nicht zu überfrachten 243 . Tatsächlich betreffen die in Art. 104 GG zu den Voraussetzungen der Freiheitsbeschränkung und -entziehung getroffenen Regelungen den Aufgabenkreis der Justiz, weshalb sie besser zu den sonstigen in Art. 101 ff. GG enthaltenen justitiellen Garantien 244
passen . Dennoch enthält Art. 104 GG ein gegenüber Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG selbständiges grundrechtsgleiches Recht und keine bloße zusätzliche Begrenzungsregelung. Der Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG läßt für eine anderweitige Deutung keinen Raum. Hätte der Verfassungsgeber etwas anderes gewollt, wäre die Erwähnung des Art. 104 GG in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG nicht notwendig gewesen. Der Umfang des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes wäre auch in diesem Fall nicht geringer ausgefallen. Denn als Begrenzungsregelung hätte Art. 104 GG als untrennbarer Bestandteil am Grundrechtscharakter des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG teilgehabt, ohne daß dies besonders normierungsbedürftig gewesen wäre. Auch der Wortlaut des Art. 104 GG weist darauf hin, daß diese Vorschrift ein subjektives Recht auf Abwehr aller nicht von den Begrenzungsregelungen gedeckten Freiheitsbeschränkungen gewährt. Zwar unterscheidet sich die Formulierung von den im Grundrechtsabschnitt üblichen Textfassungen. Die Anordnung „kann nur ... beschränkt werden" impliziert jedoch die Existenz eines entgegenstehenden Rechts. Für das Konkurrenzverhältnis der Normen ergibt sich daraus folgendes. Wenn Art. 104 GG die Basis für eine aus Tatbestand, Begrenzungsregelung und Rechtsfolge zusammengesetzte abwehrrechtliche Grundrechtsnorm bildet, müßte nach der lex specialis-Regel Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG verdrängt werden, da die Tatbestände der Normen identisch sind 2 4 5 und die Begrenzungsregelung des Art. 104 GG enger gefaßt ist. Im Konkurrenzfall wäre also nur Art. 104 GG maßgeblich. Dies würde freilich bedeuten, daß Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG aufgrund der Identität der sachlichen Tatbestände in keinem Fall einen eigenen Anwendungsbereich besäße und mithin überflüssig wäre. Faktisch würde diese Art der Konkurrenzauflösung eine Degradierung des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG von einer Grundrechtsnorm zur deklaratorischen Grundrechtsfloskel bedeuten. Die herausragende Stellung der im ersten Abschnitt des Grundgesetzes geregelten Grundrechte muß jedoch auch auf Konkurrenzebene beachtet 243
JöR 1 (1951), 1 (64); Bleckmann, Staatsrecht II, Rdnr. 16. Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 228; Siekmann/Duttge, Staatsrecht I, Rdnr. 233 Fn. 463. 245 Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 104 Rdnr. 4. 244
VII. Allgemeine Handlungsfreiheit
223
werden. Die Qualität des Freiheitsrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG als echtes Grundrecht darf durch die parallele Anwendbarkeit des Art. 104 GG nicht ausgehebelt werden. Die Verdrängungswirkung des spezielleren Art. 104 GG ist deshalb auf die Fälle begrenzt, in denen eine von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG abweichende Rechtsfolge eintritt. Nur dann ist ausschließlich Art. 104 GG maßgeblich. In allen anderen Fällen verhalten sich Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 104 GG zueinander wie zwei zu einheitlicher Normgeltung verbundene Einzelnormen, die in der Rechtsanwendung in Verbindung miteinander heranzuziehen sind.
b) Verhältnis
zu Art 11 GG
Sowohl Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG (i.V.m. Art. 104 GG) als auch Art. 11 GG schützen die menschliche Bewegungsfreiheit im weitesten Sinne. Es liegt deshalb die Vermutung nahe, daß bei tatbestandlicher Einschlägigkeit des einen Grundrechts häufig auch das andere Grundrecht anwendbar ist. Ein Vergleich der Reichweite der Tatbestände zeigt, daß sich die Anwendungsbereiche der Grundrechte tatsächlich weitgehend überschneiden. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG schützt die Freiheit, sich von seinem Aufenthaltsort wegzubewegen und damit den Ort zu verlassen 246 . Der Schutzgegenstand von Art. 11 GG ist hingegen weiter gefaßt. Diese Norm garantiert das Recht, einen beliebigen Ort innerhalb des Bundesgebietes aufzusuchen, um sich dort aufzuhalten oder gar seinen Wohnsitz dorthin zu verlegen 247 . Damit umschließen die von Art. 11 GG geschützten Verhaltensweisen diejenigen, die durch Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG geschützt werden. Denn immer dann, wenn ein bestimmter Ort gezielt aufgesucht wird, muß der bisherige Aufenthaltsort zwangsläufig verlassen werden. Die Ausübung des Freizügigkeitsrechts setzt also die uneingeschränkte körperliche Fortbewegungsfrei1
·
248
heit voraus . Der Überschneidungsbereich ist noch größer, wenn dem Tatbestand von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG auch die sog. negative Bewegungsfreiheit zugeordnet wird, d. h. das Recht, jeden beliebigen Ort zu meiden 2 4 9 . Denn auch das 246
Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 59; Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 300. 247 BVerfGE 2, 266 (273); Hailbronner, HbdStR VI, § 131 Rdnr. 22. 248 Zur Klarstellung: Dies bedeutet nicht, daß Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG auch das Recht schützt, sich an einem ganz bestimmten Ort aufzuhalten; ebenso Siekmann/ Duttge, Staatsrecht I, Rdnr. 237; Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 300. Bei einem gewillkürten Ortswechsel sind jedoch Überschneidungen der Ausführungshandlungen zwangsläufig. 249 So die wohl überwiegende Meinung: Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 230f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 413; Siekmann/Dutt-
224
F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
Grundrecht auf Freizügigkeit schützt die Freiheit, sich den Aufenthalts- und Wohnort selbst auszusuchen. Trotz der engen thematischen Verbundenheit der Grundrechte ist die auflösungsbedürfige Konkurrenzlage die Ausnahme. Grund dafür ist der unterschiedliche Schutzzweck der Normen. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG schützt als klassisches habeas-corpus-Recht vor jeder willkürlichen Freiheitsentzieh u n g 2 5 0 sowie vor sonstigen Freiheitsbeeinträchtigungen, welche die physische Bewegungsfreiheit wenn auch nur kurzfristig aufheben 251 . Vom Schutzzweck der Norm umfaßt sind also alle Maßnahmen, die eine Arretierung der Person bewirken. Unerheblich ist es dabei, ob der Zwang zum Verbleib körperlich ausgeübt wird, ober ob jemand unter dem Eindruck der Androhung unmittelbaren Zwangs „freiwillig" an Ort und Stelle verbleibt 2 5 2 . Der Schutzbereich von Art. 11 GG wird hingegen durch derartige Hoheitsakte in aller Regel nicht verletzt. Solange gezielt die körperliche Fortbewegungsfreiheit entzogen oder beeinträchtigt wird, wirkt sich dies auf die Freizügigkeit nur reflexartig aus. Mittelbare Behinderungen oder Beeinträchtigungen reichen aber für eine Schutzbereichsverletzung des Art. 11 GG - jedenfalls nach herrschender Meinung - nicht aus 2 5 3 . Folglich sind derartige Eingriffe auch nur an Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG zu 254
messen
.
Umgekehrt handelt es sich bei Eingriffen in die Freizügigkeit in der Regel nicht um Maßnahmen, die den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG tangieren. Erteilt beispielsweise der Jugendrichter gem. § 10 Abs. 1 Nr. 1 JGG eine Weisung hinsichtlich des allgemeinen Aufenthaltsortes des straffällig gewordenen Jugendlichen, so greift diese Erziehungsmaßregel in das Grundrecht aus Art. 11 GG ein. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG ist hingegen nicht verletzt. Auch wenn dem Jugendlichen im Einverständnis mit den Eltern aufgegeben wird, den Heimatort für eine gewisse Zeit nicht zu verlassen, kann er sich dennoch über die Weisung hinwegsetzen und ins Nachbardorf gehen. Die körperliche Fortbewegungsfreiheit wird deshalb nicht ge, Staatsrecht I, Rdnr. 237f.; a.A. mit guten Argumenten Grabitz, HbdStR VI, § 130 Rdnr. 5 f.; Ipsen, Staatsrecht II, Rdnr. 248. 250 Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 229. 251 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 2 II Rdnr. 63 m.w.Nw. 252 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 61; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 2 II Rdnr. 64. 253 Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 11 Rdnr. 19; Krüger, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 11 Rdnr. 20; Pieroth/ Schlink, Grundrechte, Rdnr. 801. 254 Insoweit zutreffend Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 11 Rdnr. 65.
VII. Allgemeine Handlungsfreiheit
225
eingeschränkt. Mithin ist der Rahmen für die Verfassungsmäßigkeit der Maßnahme allein der Grundrechtsnorm aus Art. 11 GG zu entnehmen. Zu beachten ist aber, daß diese an Schutzzweckgesichtspunkten orientierte Abgrenzung dann versagt, wenn man der Gegenansicht folgt und auch faktische Behinderungen oder Belastungen als vom Schutzzweck des Art. 11 GG erfaßte Beeinträchtigungen qualifiziert 255 . Die Lösung muß dann auf Konkurrenzebene erfolgen: In diesem Fall wäre das Freizügigkeitsgrundrecht nur ausübungsbedingt betroffen, so daß nach allgemeinen Grundsätzen allein das zentral einschlägige Inhaltsrecht den grundrechtlichen Maßstab bestimmte. Art. 11 GG würde nach dieser Ansicht durch Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG verdrängt werden 256 . Greift ein Hoheitsakt nach den engen Voraussetzungen der herrschenden Meinung tatsächlich in die Schutzbereiche beider Grundrechte ein, d.h. ist die Maßnahme vom Schutzzweck beider Grundrechtsnormen erfaßt, sind beide Grundrechte parallel heranzuziehen 257 . Eine Verdrängung kraft Vorrangs des Inhaltsrechts kommt nicht in Betracht, da in diesen Fällen keines der beiden Grundrechte lediglich ausübungsbedingt betroffen ist. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte für eine normativ begründete Spezialität feststellbar. Die Gewährleistungsrichtung der Grundrechtsnormen unterscheidet sich grundlegend. Während Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG mit der körperlichen Bewegungsfreiheit einen bedeutenden Aspekt der physischen Existenz 2 5 8 und damit ein elementares Menschenrecht garantiert, korrespondiert die Freizügigkeit mit den Grundrechten auf freie Berufsausübung, Eigentum oder Ehe und Familie 2 5 9 . Art. 11 GG vervollständigt die Schutzwirkung wichtiger Freiheitsrechte in bezug auf die freie Wahl des Ausübungsorts und überlagert damit die Gewährleistungsbereiche dieser Grundrechte teilweise. Das Grundrecht der Freiheit der Person ist hingegen von anderen Grundrechten losgelöst und besitzt ebenso wie die Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit selbständige Bedeutung.
255
Vor allem Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 11 Rdnr. 20. 256 Insoweit konsequent Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 11 Rdnr. 14, 30. Ebenfalls für einen Vorrang von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG Grabitz, HbdStR VI, § 130 Rdnr. 13. 257 Ebenso Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 2 Rdnr. 74; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 2 II Rdnr. 76. Für einen Vorrang von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG hingegen Grabitz, HbdStR VI, § 130 Rdnr. 13; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 Rdnr. 233; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 58a, Art. 11 Rdnr. 1. 258 Grabitz, HbdStR VI, § 130 Rdnr. 1. 259 Hailbronner, HbdStR VI, § 131 Rdnr. 19. 15 Heß
226
F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
VIII. Versammlungsfreiheit - Art. 8 GG 1. Verhältnis zur Meinungsäußerungsfreiheit, Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG a) Einleitung Das Konkurrenzverhältnis von Versammlungs- und Meinungsäußerungsfreiheit ist ein Lieblingsthema der Konkurrenzdogmatiker. Nahezu alle zu den Grundrechtskonkurrenzen vertretenen Auffassungen werden anhand dieses Konkurrenzverhältnisses beispielhaft dargestellt. Entsprechend vielschichtig sind die gewonnenen Ergebnisse 260 . Das Bundesverfassungsgericht sowie die mittlerweile herrschende Ansicht in der Literatur gehen von einem grundsätzlich bestehenden Verhältnis idealer Konkurrenz aus 2 6 1 . Tatbestandliche Spezialität wird ausdrücklich verneint 262 . Teilweise wird jedoch zugleich die Auffassung vertreten, daß trotz tatbestandlicher Idealkonkurrenz auf Begrenzungsebene je nach Ziel- bzw. Motivationsrichtung der beeinträchtigenden Maßnahme nur die eine oder andere Begrenzungsklausel zur Anwendung kommen soll 2 6 3 . Sei danach der Eingriff gegen die Versammlung als solche gerichtet, müsse Art. 8 Abs. 2 GG einschlägig sein. Ziele das Versammlungsverbot, die Auflage etc. hingegen auf den Inhalt der innerhalb der Veranstaltung geäußerten Meinungen, sei Art. 5 Abs. 2 GG anwendbar. Auch wenn dieser „Faustregel" eine gewisse Praktikabilität nicht abgesprochen werden kann, ist die Konstruktion dogmatisch nicht haltbar. So ist bereits die Trennung in Tatbestands- und Schrankenkonkurrenz abzulehnen. 260
Zum Streitstand siehe die ausführliche Darstellung bei Ehrentraut, Die Versammlungsfreiheit im amerikanischen und deutschen Verfassungsrecht, S. 119 ff. 261 BVerfGE 82, 236 (258); 90, 241 (246); Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 8 Rdnr. 77; Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 8 Rdnr. 37; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 8 Rdnr. 4a; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 1, 2 Rdnr. 258; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 8 Rdnr. 87; Stem, Bd. III/2, S. 1403; Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 363; Dietel/Gintzel/Kniesel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, § 1 Rdnr. 130. Abweichend Ehrentraut, Die Versammlungsfreiheit im amerikanischen und deutschen Verfassungsrecht, S. 132 ff.: umfassende Spezialität der Versammlungsfreiheit. 262 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 I, II Rdnr. 34; Dietel/Gintzel/Kniesel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, § 1 Rdnr. 130. 263 Grundlegend Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 I, II Rdnr. 39; zustimmend Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 8 Rdnr. 77; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 8 Rdnr. 87; Kloepfer, HbdStR VI, § 143 Rdnr. 72; Hofmann, BayVBl. 1987, 129 (132).
VIII. Versammlungsfreiheit - Art. 8 GG
227
Da „Schrankenübertragungen" grundsätzlich nicht in Betracht kommen, führt jede Verdrängung zwischen den Begrenzungsregelungen automatisch dazu, daß die gesamte Grundrechtsnorm ihre Entscheidungsrelevanz verliert. Dies widerspricht jedoch dem Ausgangspunkt dieser Theorie, nämlich der Idealkonkurrenz zwischen den Tatbeständen. Maßgeblich für die Konkurrenzauflösung sind deshalb immer die Grundrechtsnormen als ganze. Des weiteren ist der Perspektivenwechsel in die Eingriffssicht unzulässig. Konkurrenzen betreffen die Frage nach dem Maßstab, an welchem die unterschiedlichen Eingriffsakte überprüft werden müssen. Es geht also um ein vorgelagertes Problem, das mit der konkreten Maßnahme zunächst nichts zu tun hat 2 6 4 . Im Ergebnis ist die Auffassung der herrschenden Meinung jedoch zutreffend. Versammlungs- und Meinungsfreiheit sind in ihrer Gewährleistungsrichtung funktional unterschiedlich orientiert. Grundsätzlich besteht deshalb wie auch zwischen Meinungsfreiheit und Mediengrundrechten ein Verhältnis der Idealkonkurrenz. Dies gilt jedoch nicht ausnahmslos. In Einzelfällen kann sowohl die Versammlungs- als auch die Meinungsfreiheit normatives Übergewicht besitzen, so daß die jeweils konkurrierende Grundrechtsnorm verdrängt wird.
b) Tatbestandsabgrenzung Selbstverständlich gilt auch in diesem Konkurrenzverhältnis das Gebot der Tatbestandsabgrenzung. Nicht selten verbergen sich hinter vermeintlichen Konkurrenzlagen bloße Scheinkonkurrenzen, wenn beachtet wird, daß Art. 8 GG nur versammlungsspezifische Tätigkeiten schützt und Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG die freie Meinungsäußerung zum Inhalt hat. Was damit gemeint ist, läßt sich an folgendem Beispielsfall erläutern. Auf einer öffentlichen Veranstaltung soll nach den Plänen der Veranstalter ein Historiker zu Wort kommen, der die Auffassung vertritt, Juden seien im Dritten Reich nicht verfolgt worden. Vor Beginn der Veranstaltung erteilt deshalb die zuständige Behörde den Veranstaltern gem. § 5 Abs. 4 VersammlG die Auflage, sicherzustellen, daß derartige Äußerungen nicht getätigt werden. Grundrechtlicher Prüfungsmaßstab zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Auflage ist allein Art. 8 GG. Das Auswählen und Einladen eines Redners zu einer Versammlung fällt als versammlungstypische Tätigkeit in den Tatbestand von Art. 8 G G 2 6 5 . Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG kommt daneben nicht 264 265
15*
Ausführlich oben S. 65ff., lOOff. Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 8 Rdnr. 22.
228
F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
zum Zuge. Zwar kann allein schon mit der Entscheidung für einen bestimmten Redner eine gewisse Tendenz in der Geisteshaltung der veranstaltenden Personen deutlich werden. Dem Meinungsbegriff genügt dies freilich nicht 2 6 6 . Deshalb trifft es nicht zu, wenn das Bundesverfassungsgericht zu diesem Sachverhalt feststellt, daß die Gerichtsentscheidungen, die die behördliche Auflage bestätigen, vorrangig am Grundrecht der Meinungsfreiheit zu messen seien 267 . Das Gericht hätte vielmehr allein Art. 8 GG heranziehen müssen. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG wäre erst im Rahmen der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 5 Abs. 4 VersammlG zu beachten gewesen. Hier hätte das Gericht feststellen müssen, ob § 5 Abs. 4 VersammlG gegen Grundrechte Dritter verstößt 268 .
c) Schutzzweck Die Zahl echter Konkurrenzfälle läßt sich weiter reduzieren, wenn der unterschiedliche Schutzzweck der Grundrechtsnormen berücksichtigt wird. Besonderes Augenmerk ist dabei auf Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG zu legen. Nach Art. 5 Abs. 2 GG dürfen gesetzliche Regelungen die Meinungsfreiheit nur dann einschränken, wenn es sich um allgemeine Regelungen handelt, also um Vorschriften, die nicht gegen eine bestimmte Meinung als solche gerichtet sind. Im Umkehrschluß bedeutet dies, daß das Grundrecht auf Meinungsfreiheit insbesondere zum Ziel hat, vor solchen Beeinträchtigungen zu schützen, die an den Inhalt der Meinungsäußerung anknüpfen. Derartige Beeinträchtigungen sind u. a. inhaltsbezogene strafrechtliche Sanktionen. Wird ein Versammlungsteilnehmer wegen Beleidigung verurteilt, weil er ein Plakat getragen oder öffentlich gesprochen hat, ist Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG seinem Schutzzweck nach betroffen. Für das Grundrecht der Versammlungsfreiheit ist dies jedoch fraglich. Eine Beeinträchtigung des Schutzgegenstands liegt nur dann vor, wenn die Versammlung einer Anmeldungsoder Erlaubnispflicht unterstellt oder sonst eine geschützte Verhaltensweise sanktioniert, behindert oder beschränkt w i r d 2 6 9 . Im Beispielsfall kommt als geschützte Verhaltensweise das Sich-Versammeln in Betracht. Das Äußern der Meinungen als solches wird von Art. 8 GG gerade nicht geschützt 270 . Die strafrechtliche Verurteilung sanktioniert jedoch nicht die Teilnahme an der Versammlung, sondern ausschließlich den Inhalt der Äußerung. Folglich 266 Ygj $ 160f. A.A. Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 363: die zu erwartenden Meinungsäußerung des Redners seien den Veranstaltern zuzurechnen. 267 BVerfGE 90, 241 (246, 254). 268 Siehe S. 117 f. 269 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 706. 270 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 8 Rdnr. 4a; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 8 Rdnr. 20.
I . V e r u n g s f r e i h e i t - Art.
GG
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wird der Schutzgegenstand der Versammlungsfreiheit nicht beeinträchtigt. Prüfungsmaßstab für die Überprüfung des Strafurteils ist allein Art. 5 Abs. 1 S. 1 G G 2 7 1 . Auf das konkurrenzdogmatische Verhältnis der Grundrechte kommt es deshalb gar nicht an. Als Gegenbeispiel kann ein Sachverhalt dienen, der einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde l a g 2 7 2 . Der Beschwerdeführer, ein in der Öffenlichkeit bekannter Gegner eines verkehrstechnischen Großprojekts, rief in Reden und Fernsehinterviews zur Demonstration vor dem Firmengelände der Betreibergesellschaft auf. Kurze Zeit später kam es zu Protestaktionen, in deren Verlauf die Teilnehmer auch den Tatbestand des Landfriedensbruchs erfüllten. Daraufhin wurde der Beschwerdeführer wegen seiner Äußerungen als ortsabwesender Mittäter verurteilt. Die strafgerichtlichen Entscheidungen greifen sowohl in das Grundrecht der Meinungsfreiheit als auch in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit ein. Die geschützte versammlungsspezifische Tätigkeit ist hier das Aufrufen bzw. Initiieren der Demonstration. Mit der rechtlichen Würdigung als Tatbeitrag zum Landfriedensbruch wird genau diese Handlung strafrechtlich sanktioniert. Der Schutzgegenstand der Versammlungsfreiheit ist damit beeinträchtigt. Zugleich knüpft der Tatvorwurf an die Äußerung selbst an. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG soll jedoch gerade davor schützen, daß der Staat Meinungskundgaben unterbindet oder unter Strafe stellt. Folglich liegt in der Verurteilung auch ein Eingriff in die Meinungsfreiheit. Da beide Grundrechte tatbestandlich einschlägig und ihrem Schutzzweck nach betroffen sind, muß festgestellt werden, ob die Normen in einem Spezialitätsverhältnis stehen.
d) Fälle normlogischer Spezialität Die Feststellung, daß zwischen den Tatbeständen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit kein normlogisches Spezialitätsverhältnis besteht, muß nicht ausgreifend begründet werden 273 . Es ist offensichtlich, daß nicht jede versammlungsspezifische Tätigkeit zugleich Meinungsäußerung ist. Schwierigkeiten bereiten jedoch verallgemeinernde Aussagen zu Konkurrenzlagen mit normativer Spezialität. Aufgrund der starken inhaltlichen Verschränkung der Grundrechte sind regelmäßig beide Grundrechte durch die in Rede stehenden Verhaltensweisen in ihren zentralen Schutzgegenstän271
Ebenso BVerwGE 64, 55 (61 ff.). BVerfGE 82, 236. 273 Ausführlich dazu Müller, Wirkungsbereich und Schranken der Versammlungsfreiheit, insbesondere im Verhältnis zur Meinungsfreiheit, S. 71 f.; siehe auch Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 I, II Rdnr. 34. 272
230
F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
den betroffen. Dennoch sind Konkurrenzfälle denkbar, in denen nur ein Hilfs- oder Randschutzgegenstand der Versammlungsfreiheit aktualisiert ist. Am deutlichsten dürfte sich eine solche Konkurrenzsituation im zuletzt behandelten Beispielsfall abzeichnen. Ein typischer Hilfsschutzgegenstand des Grundrechts aus Art. 8 GG ist derjenige Teil der Verhaltensfreiheit, der alle im Vorfeld der eigentlichen Versammlung angesiedelten Tätigkeiten schützt. Dazu zählen als typische Vorbereitungshandlungen insbesondere Aufrufe oder Einladungen zu Versammlungen. Zugleich werden diese Tätigkeiten, sofern ihnen Meinungsqualität zukommt, vom Hauptschutzgegenstand des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG erfaßt. Folglich ist die Versammlungsfreiheit nur in einem marginalen Bereich tangiert, während die Meinungsfreiheit zentral betroffen ist. Nach der hier vertretenen Auffassung bedeutet dies, daß auf Konkurrenzebene das Grundrecht auf Meinungsfreiheit den alleinigen Prüfungsmaßstab bildet. Art. 8 GG tritt hingegen zurück 2 7 4 . Das heißt freilich nicht, daß die Versammlungsfreiheit trotz tatbestandlicher Anwendbarkeit auf Konkurrenzebene vollständig wieder ausgeblendet wird. Im Abwägungsverfahren ist neben der Bedeutung der Meinungsfreiheit auch die objektiv-rechtliche Dimension der Versammlungsfreiheit zu berücksichtigen. Da die Versammlungsfreiheit als objektives Prinzip der Verfassung für die Funktionsfähigkeit der Demokratie sowie für die Verwirklichung von Rechts- und Sozialstaatlichkeit unabdingbar i s t 2 7 5 , kommt ihr in dieser Hinsicht ein hoher Stellenwert zu. Im Ergebnis wird sich die subjektive Position des Grundrechtsträgers deshalb verstärken. Ein Verhältnis normativer Spezialität ergibt sich grundsätzlich auch dann, wenn sich Demonstrations- und Meinungsfreiheit als Inhalts- und Ausübungsrecht gegenüberstehen. Eine solche Sitution dürfte aber auf absolute Ausnahmefälle beschränkt sein. In aller Regel sind dann, wenn Versammlungsteilnehmer Transparente mit sich führen, Lieder singen oder Sprechchöre skandieren, beide in Anspruch genommene Verhaltensfreiheiten als Inhaltsrechte einzustufen. Es kommt sowohl auf die Meinungsäußerung als auch auf das gemeinsame Tun an. Erst der Verbund beider Elemente ergibt den von den Teilnehmern erwünschten Effekt. Eine Verdrängung der einen oder anderen Grundrechtsnorm scheidet deshalb in diesen Fällen aus.
274 Auch das Bundesverfassungsgericht hat seine Entscheidung im wesentlichen auf Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG gestützt; BVerfGE 82, 236 (258 ff.) - tragende Auffassung. Dasselbe gilt für das Votum der dissentierenden Richter; BVerfGE 82, 236 (265 ff.). 275 Hoffmann-Riem, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, Art. 8 Rdnr. 31.
I . V e r u n g s f r e i h e i t - Art.
GG
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2. Verhältnis zur Kunstfreiheit, Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG Da die Kunstfreiheit gegenüber der Meinungsfreiheit lex specialis ist, jedenfalls dann, wenn es um die eigentliche künstlerische Aussage geht, gelten für das Verhältnis von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG zu Art. 8 GG dieselben Grundsätze wie für das Verhältnis von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG zu Art. 8 GG. D.h. sofern es sich überhaupt um eine echte Konkurrenzsituation handelt, stehen Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG und Art. 8 GG aufgrund der unterschiedlichen Zielrichtung der Schutzgegenstände nebeneinander 276 . Es besteht Idealkonkurrenz. Eine Verdrängung auf Begrenzungsebene je nach Eingriffsrichtung der beeinträchtigenden hoheitlichen Maßnahme kommt nicht in Betracht 277 . Im Einzelfall kann jedoch ein Vorrang des einen oder des anderen Grundrechts kraft normativer Spezialität begründet sein. Die Grundrechte können sich insbesondere in einem Verhältnis von Inhalts- und Ausübungsrecht gegenüberstehen. Hauptanwendungsfälle für dieses Spezialitätskonzept sind vor allem Straßentheater sowie Aktionskunst unter freiem H i m m e l 2 7 8 . Wie auch im Verhältnis zur Meinungsfreiheit sind in der Fallanwendung den konkurrenzdogmatischen Überlegungen eine sorgfältige Tatbestandsabgrenzung und eine Schutzzweckprüfung voranzustellen.
3. Verhältnis zu Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG sowie Art. 4 Abs. 1, 2 GG Echte Konkurrenzfälle sind ebenso wie im Verhältnis zwischen Art. 11 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG selten. Zumeist werden staatliche Maßnahmen, die die Versammlungsfreiheit beeinträchtigen, die Freiheit der Person nicht tangieren 279 . Sollten jedoch ausnahmsweise beide Grundrechte in ihrem Schutzzweck betroffen sein, ist zu differenzieren: Immer dann, wenn das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit bei einer Inhaftierung etc. nur 276 Ebenso Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 8 Rdnr. 77; Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 8 Rdnr. 37; Bleckmann, Staatsrecht II, § 29 Rdnr. 61. Für einen Vorrang von Art. 8 GG bei restriktiver, mit Art. 5 Abs. 3 GG konformer Anwendung der Schrankenklausel Berkemann, NVwZ 1982, 85 (87); Dietel/Gintzel/Kniesel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, § 1 Rdnr. 186. 277 A.A. Ridder u.a. (Hrsg.), Versammlungsrecht, Art. 8 GG Rdnr. 15; undeutlich Ott, NJW 1981, 2397 (2398). 278 Dazu ausführlich bereits oben S. 153 ff. Im Ergebnis ebenso Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 8 Rdnr. 75; Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 III (Kunst) Rdnr. 47; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 8 Rdnr. 87. 279 Siehe dazu oben S. 224f.
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F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
zufällig betroffen ist - etwa wenn der Termin für den Haftantritt eines Gewerkschaftsfunktionärs auf den 30. April festgelegt wird - ist Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG regelmäßig die speziellere Regelung. In diesem Fall verbindet sich das Grundrecht der Freiheit der Person als Inhaltsrecht mit dem nur reflexartig betroffenen Art. 8 GG als Ausübungsrecht. Art. 8 GG tritt zurück. Die Grundrechtsnormen sind jedoch dann parallel anwendbar, wenn keines der Grundrechte ausschließlich ausübungsbedingt betroffen ist. So beispielsweise im Fall der Einkesselung von Demonstrationsteilnehmern durch Polizeikräfte. Ist die Versammlung noch nicht aufgelöst, wird das Verlassen des Versammlungsorts sowohl von Art. 8 GG als auch von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG geschützt 280 . Keinem der Grundrecht kommt jedoch ein Vorrang z u 2 8 1 . Die Freiheit der Person wird zwar bei der Ausübung des Versammlungsrechts vorausgesetzt. Der Garantiegehalt von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG findet sich jedoch nicht in Art. 8 GG wieder. Beide Grundrechte haben selbständige Bedeutung 282 . Für weltanschaulich oder religiös motivierte Veranstaltungen ist Art. 4 Abs. 1, 2 GG gegenüber der Versammlungsfreiheit die speziellere N o r m 2 8 3 . Der selbständige Teilschutzgegenstand der kollektiven Religionsausübung steht zum Versammlungsrecht im Verhältnis echter normlogischer Spezialität.
280
Insoweit zutreffend Dietel/Gintzel/Kniesel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, § 1 Rdnr. 123. 281 A.A. Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 8 Rdnr. 72; Dietel/Gintzel/Kniesel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, § 1 Rdnr. 123: Vor Auflösung der Versammlung sei Art. 8 GG vorrangig. 282 Siehe dazu oben S. 225. 283 Absolut h.M., siehe nur Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 8 Rdnr. 76; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 136; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 5; v. Campenhausen, HbdStR VI, § 136 Rdnr. 89; v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Art. 4 Rdnr. 83; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 4 Abs. 1, 2 Rdnr. 134; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 8 Rdnr. 73; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 52, 164. Für eine Verdrängungslösung auf Begrenzungsebene Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 96, Art. 8 Rdnr. 24; sowie neuerdings Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 8 Rdnr. 88. Zur Kritik an dieser Auffassung siehe S. 78 ff. Unklar Zippelius, in: Bonner Kommentar, Art. 4 Rdnr. 104.
IX. Vereinigungsfreiheit - Art. 9 Abs. 1 GG
233
IX. Vereinigungsfreiheit - Art. 9 Abs. 1 GG Durch Art. 9 Abs. 1 GG wird das Recht, Vereine und Gesellschaften zu gründen, umfassend geschützt. Der Tatbestand der Norm garantiert zunächst die individuelle Vereinigungsfreiheit, also das Recht der gegenwärtigen oder zukünftigen Mitglieder, eine Vereinigung zu gründen, aufzulösen, dieser fernzubleiben oder auszutreten 284 . Neben dieser individuellen Verhaltensfreiheit sichert Art. 9 Abs. 1 GG nach verbreiteter Meinung auch die freie Entfaltung der Vereinigung selbst 285 . Erfaßt werden allerdings nur Tätigkeiten, die zur Sicherung der Existenz- und Funktionsfähigkeit oder zur inneren Organisation notwendig sind 2 8 6 . Hierzu zählen u.a. auch die Mitgliederwerbung und die Präsentation der Vereinigung nach außen 287 . Geschützt sind daneben aber auch einzelne der Vereinigung als ganzes zustehende Rechtspositionen, wie etwa das Namensrecht 288 oder der innere Geheimbereich, also die Privatheit des Vereins 289 . Die Konkurrenzverhältnisse dieser Schutzgegenstände richten sich nach den allgemeinen Regeln. Es gelten keine Besonderheiten. In Betracht kommen insbesondere Überschneidungen mit der kirchlichen Vereinigungsfreiheit, Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 2 S. 1, 2 WRV und Art. 4 Abs. 1, 2 GG, dem kirchlichen Selbstverwaltungsrecht, Art. 140 i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV und der Koalitionsfreiheit, Art. 9 Abs. 3 GG. Die Schutzgegenstände der kirchlichen Vereinigungsfreiheit und der Koalitionsfreiheit sind echte normlogische Spezialfälle der allgemeinen Vereinigungsfreiheit und verdrängen diese 290 . Soweit das interne Selbstorganisationsrecht in Rede steht, weist der Regelungszusammenhang Art. 137 284
Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 9 Rdnr. 6. Zuerst BVerfGE 13, 174 (175), st.Rspr.; Merten, HbdStR VI, § 144 Rdnr. 27, 50; Bauer, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 9 Rdnr. 29, 43; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 9 Rdnr. 8; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Rdnr. 410; a.A. Isensee, HbdStR V, § 118 Rdnr. 64ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 731. 286 BVerfGE 50, 290 (353 f.); 84, 372 (378); Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 370. 287 BVerfGE 84, 372 (378). 288 BVerfGE 30, 227 (241). 289 Merten, HbdStR VI, § 144 Rdnr. 51: insbesondere Vereinsdaten, wie Namen und Anschriften der Mitglieder. 290 Bauer, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 9 Rdnr. 9; Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 9 Rdnr. 47; Merten, HbdStR VI, § 144 Rdnr. 64ff.; Kemper, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 9 Abs. 1 Rdnr. 146. Für das Verhältnis zur religionsgesellschaftlichen Vereinigungsfreiheit v. Campenhausen, in: v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 14, Art. 137 Abs. 2 WRV Rdnr. 17; ders., HbdStR VI, § 136 Rdnr. 89; Spezialität ablehnend Zippelius, in: Bonner Kommentar, Art. 4 Rdnr. 114; Ott, DÖV 1971, 763. 285
234
F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
Abs. 3 WRV ebenfalls gegenüber Art. 9 Abs. 1 GG als Spezialvorschrift aus. Dasselbe gilt im Verhältnis zu Art. 21 GG, der zwar kein Grundrecht oder grundrechtsgleiches Recht garantiert 291 , aber gegenüber Art. 9 Abs. 1 GG gleichfalls speziell i s t 2 9 2 . Besonders hinzuweisen ist auf das der individuellen Vereinigungsfreiheit zuzurechnende Mitgliedschaftsrecht des einzelnen Mitglieds. Es handelt sich hierbei um eine mit der individuellen Verhaltensfreiheit korrespondierende, durch Art. 9 Abs. 1 GG verliehene Rechtsposition. Das Mitgliedschaftsrecht wird als grundrechtlicher Schutzgegenstand beispielsweise dann bedeutsam, wenn es um verbandszweckwidrige Handlungen eines grundrechtsunterworfenen öffentlich-rechtlichen Zwangs Verbands geht 2 9 3 . Der Inhalt des Mitgliedschaftsrechts bestimmt sich nach den für den Zwangszusammenschluß geltenden normativen Regelungen. Maßnahmen, die außerhalb des verbandsmäßigen Zweck- und Funktionsbereichs liegen, betreffen das Mitglied folglich in diesem Recht. Zugleich können aber auch weitere, tatbestandlich einschlägige Grundrechte in ihrer Abwehrrichtung tangiert sein. Etwa dann, wenn es sich um einen berufsständischen Zwangsverband handelt und die Maßnahmen, die dieser Verband gegenüber seinen Mitgliedern ergreift, zumindest objektiv berufsregelnde Tendenzen aufweisen 2 9 4 . In diesen Fällen konkurriert Art. 9 Abs. 1 GG mit Art. 12 GG. Da das als verliehene Rechtsposition gewährte Mitgliedschaftsrecht und die berufsmäßige Verhaltensfreiheit nicht in einem Spezialitätsverhältnis stehen können 2 9 5 , gelten beide Grundrechte nebeneinander 296 . Es besteht Idealkonkurrenz.
291 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, Art. 21 Rdnr. 49; Merten, HbdStR VI, § 144 Rdnr. 66; a.A. Henke, in: Bonner Kommentar, Art. 21 Rdnr. 216; Ipsen, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 21 Rdnr. 28. 292 BVerfGE 25, 69 (78); Merten, HbdStR VI, § 144 Rdnr. 65 f.; Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 9 Rdnr. 111. 293 Freilich nur dann, wenn man davon ausgeht, daß die Vereinigungsfreiheit auch Grundrechtsschutz gegenüber und in öffentlich-rechtlichen Zwangszusammenschlüssen gewährt; vgl. zum Streit Bethge, JA 1979, 281 (284f.); Bauer, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 9 Rdnr. 42 m.w.Nw. Sowohl das Bundesverfassungs- als auch das Bundesverwaltungsgericht rekurrieren hingegen in st. Rspr. auf Art. 2 Abs. 1 GG; BVerfGE 10, 89 (102); 78, 320 (329); BVerwG 64, 298 (301). 294 Siehe dazu Detterbeck, Zum präventiven Rechtsschutz gegen ultra-viresHandlungen öffentlich-rechtlicher Zwangsverbände, S. 92 m.w.Nw. 295 Ausführlich oben S. 145, 149 ff. 296 Ebenso Detterbeck, Zum präventiven Rechtsschutz gegen ultra-vires-Handlungen öffentlich-rechtlicher Zwangsverbände, S. 92 f.
X.
eufreiheit - Art. 1 GG
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X. Berufsfreiheit - Art. 12 GG 1. Verhältnis zu Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG a) Einleitung Das Bundesverfassungsgericht geht in den wenigen Entscheidungen, in denen neben der Berufsfreiheit auch ein Mediengrundrecht eine Rolle spielt, von einem Verhältnis idealer Konkurrenz aus. Eine ausdrückliche Bewertung des Konkurrenzverhältnisses fehlt zwar, die Grundrechte werden jedoch nebeneinander angewendet 297 . Damit folgt das Gericht der in der Literatur mittlerweile nahezu einhellig vertretenen Annahme von Idealkonkurrenz der Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit einerseits und der Berufsfreiheit andererseits 298 . b) Schutzgegenstandsbestimmung Der Tatbestand der Berufsfreiheit beschreibt vier Gewährleistungsgegenstände: die Freiheit der Berufswahl und der Berufsausübung, die freie Wahl des Arbeitsplatzes sowie die Ausbildungsfreiheit 299 . Auch wenn zwischen Berufswahl und Berufsausübung eine enge zeitliche und sachliche Verbindung besteht, lassen sich die Verhaltensfreiheiten in aller Regel recht deutlich voneinander abschichten 300 . Ausgehend vom Wortlaut spricht deshalb 297
BVerfGE 97, 228 (266); 97, 298 (316). Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 12 Rdnr. 161; Tettinger, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 12 Rdnr. 167; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 19; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Bd. 1, Art. 5 I, II Rdnr. 245; Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 12 Rdnr. 95; Bethge, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 89; Manssen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 12 Abs. 1 Rdnr. 273; Breuer, HbdStR VI, § 147 Rdnr. 99; Bleckmann, Staatsrecht II, § 33 Rdnr. 60; Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 215 ff.; Herrmann, Rundfunkrecht, § 5 Rdnr. 87; Detterbeck, ZUM 1990, 372 (375). Die abweichenden Auffassungen, die Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG als lex specialis gegenüber Art. 12 GG ansahen, wurden teilweise revidiert; vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II Rdnr. 141; Wendt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 Rdnr. 115. Anders jetzt nur noch Degenhart, in: Bonner Kommentar, Art. 5 Abs. 1, 2 Rdnr. 758; unklar Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 1, 2 Rdnr. 262. 299 Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 12 Rdnr. 55ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 12 Rdnr. 7f., 44; Ipsen, Staatsrecht II, Rdnr. 595 ff. 300 Rittsteg, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, Art. 12 Rdnr. 59. 298
236
F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
nichts dagegen, diese Einzelaspekte als selbständige Schutzgegenstände anzusehen 301 . Die herrschende Meinung geht allerdings im Anschluß an das Apothekenurteil des Bundesverfassungsgerichts 302 von einem einheitlichen Grundrecht mit einem einheitlichen Schutzbereich aus 3 0 3 . Um den unterschiedlichen Anforderungen an die Rechtmäßigkeit staatlicher Eingriffsmaßnahmen gerecht zu werden, ist nach dieser Ansicht der Regelungsvorbehalt des Satz 2 in abgestufter Weise auf das gesamte Grundrecht anzuwenden. Unbestreitbarer Vorteil dieser Vorgehensweise ist die Möglicheit zur flexiblen Handhabung der entsprechenden Eingriffsbarrieren. Die Stufenprüfung erlaubt es, die Anforderungen an die Grundrechtskonformität je nach Intensität der Beeinträchtigung und Nähe zum Aspekt der Berufswahl einzelfallgerecht abzuwägen 304 . Für die Lösung der Konkurrenzprobleme ist die Frage der Teilbarkeit des Schutzgegenstandes nicht von Bedeutung. Der Streit kann deshalb in diesem Zusammenhang offenbleiben. Es ist unerheblich, ob den Einzelschutzgegenständen selbständige Bedeutung zukommt oder nicht, da jedenfalls die abwehrrechtliche Gewährleistungsrichtung aller Einzelaspekte der Berufsfreiheit, die mit der Gewährleistungsrichtung der Pressefreiheit verglichen werden muß, identisch ist. Art. 12 Abs. 1 GG schützt in seiner Gesamtheit die freie Entfaltung der Persönlichkeit zur materiellen Sicherung der individuellen Lebensgestaltung 305 . Jeder Grundrechtsberechtigte soll die Freiheit besitzen, seine Arbeitskraft nach den eigenen Vorstellungen und Fähigkeiten einzusetzen und damit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Berufliche Tätigkeiten werden durch die Verfassung also geschützt, weil die Ausübung des Berufs die Grundlage für eine selbstbestimmte Existenz bildet. In eine völlig andere Richtung zielt der Gewährleistungstatbestand der Medienfreiheiten des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG. Hier geht es um eine funktionale Sicherung bestimmter Verbreitungsinstumente für Nachrichten und Meinungen. Im Zentrum steht die Gewährleistung der freien Meinungsbildung und damit der Meinungspluralität als Grundbaustein einer demokratischen Verfassungsordnung 306. Die Pressefreiheit dient, wie das Bundesver301
So auch Lücke, Die Berufsfreiheit, S. 9 ff. BVerfGE 7, 377 (400 ff.). 303 Breuer, HbdStR VI, § 147 Rdnr. 32; Tettinger, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 12 Rdnr. 8; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 12 Rdnr. 2; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 808 f.; differenzierend Pitschas, Berufsfreiheit und Berufslenkung, S. 40ff. 304 Vgl. dazu Breuer, HbdStR VI, § 147 Rdnr. 59. 305 BVerfGE 81, 242 (254), st. Rspr.; Tettinger, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 12 Rdnr. 9. 306 Vgl. BVerfGE 20, 162 (174f.). 302
X.
eufreiheit - Art. 1 GG
237
fassungsgericht festgestellt hat, ihrer Zielsetzung nach nicht der Garantie wirtschaftlicher Interessen 307 . Es ist deswegen unerheblich, ob mit der Herstellung und Verbreitung eines Druckwerks ein monetärer oder sonstiger Zweck verfolgt wird. Mithin sind die Medienfreiheiten keine Sonderfälle der Berufsfreiheit. Berufsmäßig ausgeübte Presse- und Rundfunktätigkeiten werden durch die einschlägigen Grundrechte unter einem völlig unterschiedlichen Blickwinkel geschützt. Normlogische Spezialität scheidet daher aus 3 0 8 . Ebensowenig kommt in aller Regel ein normativ begründeter Vorrang der Mediengrundrechte in Betracht. Sollte beispielsweise der Zugang zum Beruf des Zeitungsredakteurs an subjektive Voraussetzungen geknüpft werden, ist sowohl die Berufsfreiheit als auch die Pressefreiheit tatbestandlich einschlägig 309 . Das Ergreifen eines Presseberufs wird als Verhaltensfreiheit von beiden Grundrechten als primärem Inhaltsrecht geschützt. Weder der wirtschaftlich-berufliche noch der presserechtlich-politische Aspekt treten lediglich ausübungsbedingt hinzu. Folglich müssen auch beide Grundrechte gleichrangig berücksichtigt werden. Es besteht in diesem Fall Idealkonkurrenz. Das heißt jedoch nicht, daß normative Spezialitätsverhältnisse a priori ausgeschlossen sind. Wenn im Einzelfall eines der Grundrechte nur in einem Hilfsschutzgegenstand betroffen ist - etwa bei pressetechnischen Hilfstätigkeiten - und deshalb ein normatives Übergewicht der Berufsfreiheit feststellbar ist, darf nur dieses Grundrecht als Prüfungsmaßstab herangezogen werden. So dürfte es sich etwa in dem vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall des Vertriebs von Presseprodukten durch einen Grossisten oder Zwischenhändler verhalten. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG ist nach Ansicht des Gerichts deshalb tatbestandlich einschlägig, weil der Grossist durch die individualvertragliche Ausgestaltung der Beziehung zu den Verlagen derart in den Vertriebsprozeß eingegliedert ist, daß sich eine gesetzliche Regelung seiner Tätigkeit auf die freie Presse insgesamt auswirkt 3 1 0 . Damit handelt es bei dieser Verhaltensfreiheit um einen typischen Hilfsschutzgegenstand der Pressefreiheit. Die wirtschaftliche Verwertung des Presseprodukts wird nur deshalb geschützt, weil sie unabdingbar für die Erfüllung des Schutzauftrags des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG ist. Nach den allgemeinen Grundsätzen bedeutet dies, daß die Pressefreiheit durch die zentral einschlä307
BVerfGE 25, 256 (268). Ebenso Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, S. 298 f. 309 Zur tatbestandlichen Einschlägigkeit der Pressefreiheit vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 I, II Rdnr. 141; Degenhart, in: Bonner Kommentar, Art. 5 Abs. 1 u. 2 Rdnr. 371. 310 BVerfGE 77, 346 (355). 308
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F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
gige Berufsfreiheit verdrängt w i r d 3 1 1 . Allerdings ist die objektiv-rechtliche Dimension der Pressefreiheit in die Abwägung mit einzustellen.
2. Verhältnis zu Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG; Art. 4 Abs. 1, 2 GG; Art. 33 GG Im Verhältnis der Berufsfreiheit zur Kunst- bzw. Wissenschaftsfreiheit gelten dieselben Grundsätze wie für das Verhältnis der Berufsfreiheit zu den Mediengrundrechten. Auch jene Grundrechte sind ihrer Gewährleistungsrichtung nach nicht auf die Gewährung wirtschaftlicher Freiheiten ausgerichtet. Sowohl die Kunst- als auch die Wissenschaftsfreiheit schützen in ihren Wirkbereichen besondere Kommunikationsformen bzw. -inhalte. Auch der Schutz der Herstellungsbereiche, also der Werkbereich der Kunst und der Forschungsbereich der Wissenschaft ist nicht wirtschaftlich ausgerichtet. Hier geht es um die grundrechtliche Sicherung freier Forschertätigkeit und freien Künstlertums, d.h. um den Ausschluß staatlicher Einflußnahme auf die Forschungsarbeit 312 bzw. um das Freihalten der auf der Eigengesetzlichkeit der Kunst beruhenden Verhaltensweisen von jeglicher staatlicher Ingerenz 313 . Zwischen den Grundrechten besteht daher prinzipiell Idealkonkurrenz 314 . Beeinträchtigende staatliche Maßnahmen, wie etwa die Verpflichtung für Ärzte, geplante klinische Versuche an Menschen einer Ethik-Kommission vorzustellen, oder das Verbot von Tierversuchen im medizinischen Forschungsbereich sind anhand beider Grundrechtsnormen zu überprüfen 315 . 311
Das Bundesverfassungsgericht hat hingegen auch in diesem Fall beide Grundrechte parallel herangezogen. 3,2 BVerfGE 47, 327 (367); 90, 1 (11 ff.). 313 BVerfGE 30, 173 (190); 31, 229 (238 f.). 314 Ebenso Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 66; Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 12 Rdnr. 95; Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. III Rdnr. 50, Art. 12 Rdnr. 171, 173ff.; Bethge, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 194, 220; Schenke, NJW 1991, 2313 (2318); Frotscher/Stornier, Jura 1991, 316 (322); a.A. Bachof, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, S. 170; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 3 Rdnr. 288; Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 III (Kunst) Rdnr. 47, Art. 5 Abs. III (Wissenschaft) Rdnr. 54; Manssen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 12 Abs. 1 Rdnr. 276; Würkner, Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, S. 172 mit einem wenig überzeugenden Beispiel. Nach BVerfGE 85, 360 (382); 96, 205 (216) soll die Berufsfreiheit als „sachnäheres" Grundrecht die Wissenschaftsfreiheit im Einzelfall verdrängen können. Dabei übersieht das Gericht, daß in den zu entscheidenden Fällen gar keine Beeinträchtigung des Schutzgegenstands des Art. 5 Abs. 3, 2. Alt. GG vorliegt und allein deshalb ausschließlich Art. 12 Abs. 1 GG zum Zuge kommt.
X.
eufreiheit - Art. 1 GG
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Allerdings sind auch in diesem Verhältnis Fälle normativer Spezialität nicht ausgeschlossen. Dazu ein Beispielsfall. Die wenigsten Künstler betreiben die Kunst ausschließlich um der Kunst willen. In aller Regel werden Kunstwerke geschaffen, um sie in bare Münze umzusetzen. Die dazu notwendigen Verwertungshandlungen werden jedenfalls dann von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG geschützt, wenn durch sie der Zugang für Dritte zum Kunstwerk eröffnet wird und sie deshalb dem Wirkbereich zuzurechnen sind 3 1 6 . Dieser Ansicht scheint auch das Bundesverfassungsgericht zu sein, wenn es feststellt, daß eine Verwertung nach § 46 UrhG a.F. nicht vom Tatbestand des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG erfaßt werde, weil die Anwendung dieser Vorschrift voraussetze, daß die fraglichen Werke bereits erschienen und der Öffentlichkeit zugänglich sein müßten 3 1 7 . Im Umkehrschluß bedeutet dies, daß immer dann, wenn erst mit der Verwertungshandlung das Kunstprodukt in den Verkehr gebracht wird, Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG tatbestandlich gerade nicht ausgeschlossen ist. Ausdrücklich bestätigt wird diese Auffassung durch das Scherenschnitt-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. Danach fällt auch der Verkauf der Kunstwerke in den Wirkbereich der Kunstfreiheit, wenn Herstellung und Verwertung unauflöslich miteinander verknüpft sind 3 1 8 . Allerdings tritt in diesen Fällen die Kunstfreiheit als das in einem Hilfsschutzgegenstand betroffene Grundrecht hinter das in seinem zentralen Schutzgegenstand betroffene Grundrecht der Berufsfreiheit zurück 3 1 9 . Gleiches gilt für die Wissenschaftsfreiheit. Prüfungsmaßstab für Beeinträchtigungen der Verwertungsfreiheit wissenschaftlicher Erkenntnisse oder Kunstgegenstände ist ausschließlich Art. 12 Abs. 1 GG. Nur im Rahmen der Verhältnismäßigkeit ist die thematische Betroffenheit der anderen Grundrechte einzelfallorientiert zu berücksichtigen. Das Konkurrenzverhältnis der Berufsfreiheit zur Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit beurteilt sich nach denselben Grundsätzen. Im Regelfall ist Idealkonkurrenz anzunehmen 320 . 315 Zu diesen Beispielen Schenke, NJW 1991, 2313 (2318); Frotscher/Stornier, Jura 1991, 316 (322). 3.6 Verkauf von Büchern oder Theaterkarten; siehe dazu oben S. 194. 3.7 BVerfGE 31, 229 (238). 318 BVerwGE 84, 71 (74); zustimmend Wendt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 Rdnr. 94. 319 Ebenso Oppermann, HbdStR VI, § 145 Rdnr. 17; a.A. Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. III Rdnr. 18; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 5 Rdnr. 68. 320 Ebenso Breuer, HbdStR VI, § 147 Rdnr. 99; Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 12 Rdnr. 157ff.; Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 12 Rdnr. 95; Tettinger, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 12 Rdnr. 167; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-
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F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
Soweit Art. 33 GG besondere Gleichheitssätze enthält, stehen die Regelungen selbständig neben der Berufsfreiheit 321 . Es besteht Idealkonkurrenz 3 2 2 . Bei den Vorschriften der Art. 33 Abs. 4 und 5 GG handelt es sich hingegen um normlogische leges speciales. Dem Staat wird durch diese Normen gestattet, Sonderregelungen für die berufsmäßige Erfüllung staatlicher Aufgaben zu treffen 323 . Sie verdrängen damit Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG nicht, sondern erweitern dieses Grundrecht um zusätzliche Begrenzungsregelungen 324 . Gleiches gilt für Art. 33 Abs. 2 GG. Neben dem Gewährleistungsgehalt als speziellem Gleichbehandlungsgebot enthält die Norm Richtlinien für die Zulassung zu öffentlichen Ämtern. Auch diese Vorschrift konkretisiert den Regelungsvorbehalt des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG und ist daher ergänzende Spezialnorm 325 .
XI. Eigentumsfreiheit - Art. 14 GG 1. Tatbestandsabgrenzung Wenn das Verhältnis von Art. 14 GG zu den anderen Freiheitsrechten als ungeklärt und problematisch bezeichnet w i r d 3 2 6 , so ist dieser Befund zweifelsohne richtig. Allerdings sind die Schwierigkeiten nicht ausschließlich konkurrenzdogmatischer Natur. Häufig bildet die Abgrenzung der Grundrechtstatbestände den eigentlichen Kern der Problematik 327 . In der Diskussion werden beide Problemkreise jedoch nicht immer sauber voneinander
Kommentar, Bd. 1, Art. 4 Rdnr. 164; a.A. Bachof, in: Bettermann/Nipperdey/ Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, S. 170; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 4 Abs. 1, 2 Rdnr. 136; Manssen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 12 Abs. 1 Rdnr. 272. 321 Siehe unten S. 247 f. 322 Manssen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 12 Abs. 1 Rdnr. 285. 323 Vgl. BVerfGE 73, 301 (315). 324 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 12 Rdnr. 43a, Art. 33 Rdnr. 9. Weitergehend Breuer, HbdStR VI, § 147 Rdnr. 98: verdrängende Spezialregel; ebenso offenbar auch Bachof, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, S. 170. 325 In diese Richtung auch BVerfGE 92, 140 (151 ff.); sowie Scholz, in: Maunz/ Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 12 Rdnr. 200. 326 Thormann, Abstufungen in der Sozialbindung des Eigentums, S. 71. 327 Beispielhaft angeführt sei die Diskussion darüber, ob auch die wirtschaftliche Verwertung von Kunstprodukten von Art. 5 Abs. 3 GG geschützt wird. Siehe dazu Wendt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 5 Rdnr. 94 m.w.Nw. sowie oben S. 194, 239.
XI. Eigentumsfreiheit - Art. 14 GG
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getrennt. Dies zeigt sich bereits bei der Frage nach der tatbestandlichen Reichweite der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie. Einigkeit besteht darüber, daß Art. 14 GG das Eigentum in seinem konkreten Bestand schützt 328 . Der Schutzumfang bemißt sich danach, welche Befugnisse dem Eigentümer zum Zeitpunkt der gesetzgeberischen Maßnahme konkret zustehen 329 . Auf diese Weise wird zugleich auch die Nutzung des Eigentums - Verfügung, Veräußerung, Verwendung, Verbrauch des Eigentumsobjekts - durch Art. 14 GG geschützt. Dies ist im Grundsatz unstreitig 330 . Heftig umstritten ist jedoch, ob bereits jedes (Aus- oder Be-)Nutzen des Eigentums von der durch Art. 14 GG garantierten Verhaltensfreiheit erfaßt wird. Teilweise wird gefordert, daß eine Handlung ihrer sozialen Funktion nach zur Eigentums- und Vermögenssphäre gehören müsse, damit der Schutzbereich überhaupt eröffnet sei 3 3 1 . Allein deshalb, weil zur Ausübung einer Verhaltensfreiheit ein Eigentumsobjekt nötigt sei, werde die durch Art. 14 GG gewährleistete Vermögenssphäre, der Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich, noch nicht tangiert 332 . Daher müsse die Eigentumsnutzung im formalen Sinn ausschließlich den Tatbeständen der anderen Freiheitsrechte, etwa der allgemeinen Handlungsfreiheit zugeordnet werden. Das Autofahren sei deshalb nur von Art. 2 Abs. 1GG geschützt, die Lektüre einer Zeitung nur von Art. 5 Abs. 1 S. 1 G G 3 3 3 . Die Gegenansicht ordnet den Gebrauch des Eigentums insgesamt dem Gewährleistungsbereich der Eigentumsgarantie z u 3 3 4 . Zur Begründung wird vor allem auf den Wortlaut des Art. 14 Abs. 2 S. 2 GG verwiesen 335 . Auch 328
BVerfGE 20, 31 (34); 89, 1 (7); Wendt, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 14 Rdnr. 41. 329 BVerfGE 70, 191 (201). 330 BVerfGE 88, 366 (377); Wendt, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 14 Rdnr. 41; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 14 Rdnr. 13 m.w.Nw. 331 Vor allem Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 915; Thormann, Abstufungen in der Sozialbindung des Eigentums, S. 74f.; zustimmend Bryde, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 14 Rdnr. 13; andeutungsweise Rittsteg, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, Art. 14 Rdnr. 75 ff. Für eine restriktive Auslegung Eschenbach, Der verfassungsrechtliche Schutz des Eigentums, S. 616ff. 332 Thormann, Abstufungen in der Sozialbindung des Eigentums, S. 74. 333 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 915. 334 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 76; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 372f.; ähnlich Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 2 Rdnr. 89; Manssen, Staatsrecht I, Rdnr. 425. 335 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 76. 16 Heß
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F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
das Bundesverfassungsgericht ist der Auffassung, daß im Eigentumsschutz immer auch ein Stück persönlicher Freiheit und damit ein Element der allgemeinen Handlungsfreiheit garantiert sei 3 3 6 . Der Tatbestand müsse in dieser Hinsicht deshalb weit gefaßt werden. Für die Konkurrenzen folgt bei einer solchen Betrachtungsweise, daß Art. 14 GG jedenfalls die allgemeine Handlungsfreiheit als die allgemeinere Regelung verdrängt 337 . Dem Bundesverfassungsgericht ist insoweit zuzustimmen, als es feststellt, daß die Eigentumsgarantie den Freiraum im vermögensrechtlichen Bereich nur garantiert, um dem einzelnen die Entfaltung und eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens zu ermöglichen 338 . Tatsächlich werden die privaten vermögensrechtlichen Beziehungen nicht um ihrer selbst willen geschützt, sondern auschließlich aufgrund dieses Zweckzusammenhangs. Mit einer reinen Bestandsgarantie ließe sich ausreichender Schutz jedoch nicht bewerkstelligen. Erst eine grundrechtlich umfassend garantierte Nutzungsbefugnis ermöglicht es, daß das Eigentum als die vermögensrechtliche Zuordnung von Gegenständen und Rechten zu Personen seine freiheitssichernde Wirkung entfalten kann. Deshalb muß grundsätzlich jeder Eigentumsgebrauch vom Tatbestand des Art. 14 GG geschützt sein. Der Gewährleistungsgegenstand der Eigentumsgarantie ist demnach weit zu interpretieren. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß jede Berührung des eigentumsrechtlichen Tatbestandes den Normgehalt des Art. 14 GG auch zum Rechtfertigungsmaßstab für hoheitliche Beeinträchtigungen werden läßt. Sofern die Eigentumsfreiheit nur zufällig, d.h. ausübungsbedingt berührt wird, ist allein das inhaltsbestimmende Freiheitsrecht maßgeblich. Ein nur in einem formalen Sinne berührtes Grundrecht kann nicht das dem Sachverhalt inhaltlich zugeordnete Grundrecht verdrängen. Art. 14 GG tritt in diesem Fall zurück 3 3 9 . Insofern fügt sich die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG nahtlos in das allgemeingültige konkurrenzdogmatische System ein. Die Anwendbarkeitsfrage ist also nicht auf der Ebene des Tatbestands, sondern auf Konkurrenzebene zu klären.
336 BVerfGE 24, 367 (389); 31, 229 (239); 53, 257 (289, 300). Vgl. dazu insbesondere BVerfGE 88, 366 (377). 337 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 76; Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 2 Rdnr. 89. Vgl. auch Bryde, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Bd. 1, Art. 14 Rdnr. 109, der der Gegenansicht eine „gewisse Beliebigkeit" attestiert. 338 BVerfGE 68, 193 (222); 83, 201, (208). 339 Ebenso Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 14 Rdnr. 4; Rozek, Die Unterscheidung von Eigentumsbindung und Enteignung, S. 293.
XI. Eigentumsfreiheit - Art. 14 GG
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2. Allgemeine Schlußfolgerungen für das Verhältnis zu den Freiheitsrechten Bezogen auf die oben gebildeten Beispiele bedeutet dies, daß das schlichte Zeitunglesen oder Radiohören dann vom Tatbestand des Art. 14 GG erfaßt wird, wenn sich dieses Verhalten als Ausnutzung der Eigentümerbefugnisse darstellt. Allerdings ist thematisch allein die Informationsfreiheit als inhaltsbestimmendes Grundrecht maßgeblich. Die Eigentumsfreiheit wird nur tangiert, weil der Leser oder Hörer zufällig auch Eigentümer der Zeitung oder des Radiogeräts ist. Nach den Grundsätzen der wertenden Zuordnung ist deshalb ausschließlich Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG für die Beurteilung der Grundrechtskonformität von eingreifenden Hoheitsakten maßgebend. Dasselbe gilt auch im Verhältnis der Eigentumsfreiheit zur allgemeinen Handlungsfreiheit. Zwar ist die Spezialität zwischen diesen Grundrechten nicht normativer, sondern normlogischer Art. Dennoch ist im Fall des Autofahrens Art. 2 Abs. 1 GG und nicht Art. 14 GG als Grundrechtsmaßstab entscheidend. Diese These scheint auf den ersten Blick den allgemeinen konkurrenzdogmatischen Grundsätzen zu widersprechen. Dem ist jedoch nicht so. Es wurde bereits festgestellt, daß eine normlogisch spezielle Grundrechtsnorm die allgemeinere Regelung deshalb verdrängt, weil die spezielle Norm sonst ohne eigenständigen Anwendungsbereich bleibt. D.h. die Anwendbarkeit der Rechtsfolge des lex specialis-Satzes resultiert aus einem antizipierten, logisch begründeten Auslegungsergebnis. Dieser Erfahrungssatz hat aber nur die Wirkung einer Vermutung. Wenn im Einzelfall die Auslegung der konkurrierenden Normen ergibt, daß die normlogisch engere Regelung zurücktreten muß, ist die Vermutung widerlegt 3 4 0 . So liegt die Sache hier. Wird durch den Gesetzgeber ein Straßenverkehrsgesetz erlassen, welches die Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen auf 130 km/h begrenzt, so beeinträchtigt diese Norm zumindest sektoral die Nutzungsbefugnis der Eigentümer derjenigen Fahrzeuge, die schneller als die vorgeschriebene Geschwindigkeit fahren können. Dennoch wird Art. 14 GG durch Art. 2 Abs. 1 GG verdrängt. Das schnelle Autofahren als Nutzungshandlung ist gerade nicht an die Eigentümerstellung des Fahrers gebunden. Auch alle anderen berechtigten oder unberechtigten Benutzer von Kraftfahrzeugen werden von der Regelung in gleicher Weise betroffen. Die Einschlägigkeit des Tatbestands von Art. 14 GG ist immer dann, wenn Fahrer und Eigentümer des Fahrzeugs personenidentisch sind, rein zufällig. Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt im Ergebnis dieser Auffassung. So hat das Gericht beispielsweise Reitverbotsrege340 Allgemein dazu oben S. 37f.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 35; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 465. 16*
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F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
lungen ausschließlich an Art. 2 Abs. 1 GG überprüft 341 . Der durch den Beschwerdeführer und Eigentümer mehrerer Reitpferde ebenfalls als verletzt gerügte Art. 14 GG wird in der Entscheidung nicht angesprochen 342 . Etwas anderes würde beispielsweise dann gelten, wenn ein Warenproduzent durch ein Verkehrsverbot am Verkauf bereits hergestellter Waren gehindert w i r d 3 4 3 . In diesem Fall ist zwar ebenfalls mit dem Veräußerungsrecht eine Form der Eigentumsnutzung betroffen. Der Verkauf kann hier jedoch nur durch den Eigentümer erfolgen. Da das Verkaufsverbot jedwede sinnvolle Nutzung verhindert, wirkt es für den Eigentümer wie ein Vollrechtsentzug. Die funktionelle Zuordnung des Verkaufs der Waren zur Eigentums- und Vermögenssphäre ist offensichtlich. Art. 14 GG ist nicht nur ausübungsbedingt, sondern als Inhaltsrecht betroffen und folglich neben dem ebenfalls einschlägigen Art. 12 GG anwendbar.
3. Verhältnis zu Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 12 GG; Art. 140 GG i.V.m. Art. 138 Abs. 2 WRV Die in Art. 14 GG geschützten Verhaltensfreiheit ist demnach grundsätzlich gegenüber der allgemeine Handlungsfreiheit normlogisch speziell 3 4 4 . In Ausnahmefällen kann jedoch der vermögensrechtliche Bezug der fraglichen Handlung so gering sein, daß die Eigentumsfreiheit als lediglich ausübungsbedingt betroffenes Grundrecht hinter die allgemeine Handlungsfreiheit zurücktritt. Dies gilt freilich nur dann, wenn Art. 2 Abs. 1 GG nicht durch ein anderes konkurrierendes Grundrecht verdrängt wird. Im Verhältnis zu Art. 12 GG schließt, sofern tatsächlich beide Grundrechte tatbestandlich einschlägig sind 3 4 5 , die unterschiedliche Gewährleistungsrichtung eine Verdrängung kraft normativer Spezialität aus 3 4 6 . Da die Grundrechte zueinander auch nicht normlogisch speziell sind, besteht bei paralleler tatbestandlicher Anwendbarkeit Idealkonkurrenz 347 . 341
BVerfGE 80, 137 (152). Vgl. dazu auch BVerfGE 59, 275 (278) - Schutzhelmpflicht; BVerfG (Kammer) NJW 1987, 180 - Gurtanlegepflicht. 343 Vgl. dazu Detterbeck, Jura 1997, 379 (382). 344 BVerfGE 79, 292 (304); Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Bd. 1, Art. 2 Rdnr. 88; Wendt, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 14 Rdnr. 185. 345 Zur Abgrenzungsformel insbesondere BVerfGE 30, 292 (335); zuletzt BVerfG (Kammer) NJW 1998, 1776 (1777); Wittig, in: Festschrift für G. Müller, S. 575 ff. 346 Erichsen, Jura 1980, 551 (559). 347 Nahezu einhellige Ansicht, siehe nur BVerfGE 95, 173 (181, 187); Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 12 Rdnr. 122ff.; Papier, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 14 Rdnr. 220; Kimminich, in: Bonner Kommentar, Art. 14 Rdnr. 130; Manssen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das 342
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Die in Art. 140 GG i.V.m. Art. 138 Abs. 2 WRV getroffene Regelung zum Kircheneigentum ist gegenüber Art. 14 GG lex specialis 348 . Gleiches gilt für Art. 33 Abs. 5 GG, der die vermögensrechtlichen Ansprüche der Beamten und Versorgungsempfänger einer Sonderregelung unterwirft 3 4 9 .
4. Verhältnis zu Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG Das Verhältnis von Art. 14 GG zu Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG wird insbesondere für die grundrechtliche Bewertung der Baukunst relevant und soll deshalb auch mit Blick auf diese Thematik behandelt werden. Das Bundesverwaltungsgericht vertrat in seiner früheren Rechtsprechung die Auffassung, daß bauliche Beschränkungen allein anhand der Eigentumsgarantie zu beurteilen seien. Auch die künstlerische Errichtung baulicher Anlagen stelle sich als Nutzung des Eigentums dar und unterliege daher den dem Eigentum zulässigerweise gezogenen Beschränkungen 350 . Im Grunde folgt damit das Gericht der bereits oben widerlegten Schrankenübertragungsthese. In der Literatur werden teilweise andere Konzepte vertreten, die im Ergebnis aber gleichfalls zu einer Einschränkung der Kunstfreiheit, diesmal jedoch bereits auf Tatbestandsebene führen 3 5 1 . Dogmatisch befriedigend sind diese Lösungen freilich nicht 3 5 2 . Zu Recht hat sich deshalb in jüngerer Zeit die Auffassung durchgesetzt, daß in den Baukunstfällen beide Grundrechte idealkonkurrierend nebeneinander anwendbar sind 3 5 3 . Betrachtet man das Verhältnis der Tatbestände zueinanBonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 12 Abs. 1 Rdnr. 285; ders., Staatsrecht I, Rdnr. 402; Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 14 Abs. 1 Rdnr. 99; Breuer, HbdStR VI, § 147 Rdnr. 100; Dörr, NJW 1988, 1049 (1050); a.A. Katz, Staatsrecht, Rdnr. 794. 348 Ausführlich oben S. 147 ff. 349 BVerfGE 52, 303 (344); 76, 256 (294); Papier, in: Maunz/Dürig/Herzog/ Scholz, Grundgesetz, Art. 14 Rdnr. 233; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 14 Rdnr. 11. 350 BVerwGE 2, 172 (179); BVerwG, BRS 35, Nr. 133; NJW 1989, 2638. 351 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 3 Rdnr. 319; Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 5 Abs. III Rdnr. 72; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 170ff.; Ridder, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 12, 19; Müller, Die Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 104 ff. 352 Siehe dazu den hervorragenden Überblick und die zutreffende Kritik bei Voßkuhle, BayVBl. 1995, 613 (617ff.) m.w.Nw. 353 BVerwG NJW 1995, 2648 (2649); OVG Koblenz NJW 1998, 1422; VG Berlin NJW 1995, 2650 (2651); Koenig/Zeiss, Jura 1997, 225 (226); Voßkuhle, BayVBl. 1995, 613 (617 ff.); Würkner, Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, S. 166ff.; Grote/Kraus, Fälle zu den Grundrechten, S. 115. Bereits
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F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
der, wird diese These bestätigt. Ein normlogisches Einschlußverhältnis scheidet von vornherein aus. Während die Kunstfreiheit kommunikationsschützend ausgelegt ist, garantiert die Eigentumsfreiheit die Zuordnung von Vermögenswerten Rechten. Auch eine normativ begründete Verdrängung kommt in aller Regel nicht in Betracht. Egal, ob ein Bauherr ein dem Kunstbegriff des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG genügendes architektonisch bemerkenswertes Gebäude errichten läßt oder ein bauplanungsrechtlich relevantes Kunstwerk im Vorgarten aufstellt, sowohl die Kunst- als auch die Eigentumsfreiheit sind als inhaltsbestimmende Rechte berührt. In beiden Fällen kann sich der Grundrechtsträger auf die Baufreiheit aus Art. 14 GG berufen. Die Bebaubarkeit eines Grundstücks zählt als eine der wichtigsten Nutzungsmöglichkeiten unmittelbar zur Vermögenssphäre des Eigentümers. Aber auch die Kunstfreiheit ist nicht nur ausübungsbedingt berührt. Das Ausstellen eines Kunstwerks durch den Käufer wird jedenfalls dann als Handlung im Wirkbereich der Kunst von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG geschützt, wenn das Kunstobjekt erst durch das Zurverfügungstellen des Aufstellungsorts seine Wirkung auf die Außenwelt entfalten kann 3 5 4 . Die Versagung der Baugenehmigung oder eine Abrißverfügung ist daher an beiden Grundrechten zu überprüfen. Freilich ist im Einzelfall auch hier sorgfältig zu prüfen, ob tatsächlich die Tatbestandsvoraussetzungen beider Grundrechtsnormen erfüllt und ihr Schutzzweck tangiert ist. In der Praxis empfiehlt es sich, zwischen Kunst am Bau und echter Baukunst zu unterscheiden. Als Abgrenzungskriterium kann die planungsrechtliche Relevanz des Vorhabens dienen 3 5 5 . Gebaute Kunst setzt voraus, daß planerische Belange derart berührt werden, „daß das Kunstwerk über seine unmittelbarste Umgebung hinaus städtebaulich oder landschaftsgestaltend w i r k t " 3 5 6 . Ist dies der Fall, steht das Bauvorhaben insgesamt unter dem Schutz des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG. D.h. bereits bei der Anwendung planungsrechtlicher Vorschriften ist die Schutzwirkung der Kunstfreiheit zu berücksichtigen. Handelt es sich hingegen um Kunst am Bau, greift der Gewährleistungsgehalt der Kunstfreiheit erst auf der Ebene des Bauordnungsrechts. Planungsrechtlich unterfällt das Vorhaben dann lediglich dem Gewährleistungstatbestand des Art. 14 GG.
in BVerwG NVwZ 1991, 983 (984) läßt das Bundesverwaltungsgericht erkennen, daß an der bisherigen Rechtsprechung nicht uneingeschränkt festzuhalten ist. 354 Grote/Klaus, Fälle zu den Grundrechten, S. 110; kritisch Schütz, JuS 1996, 499 (500). 355 Dazu ausführlich Koenig/Zeiss, Jura 1997, 225 (226 f.). 356 Koenig/Zeiss, Jura 1997, 225 (226).
XII. Anmerkungen zum allgemeinen Gleichheitssatz
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XII. Anmerkungen zum allgemeinen Gleichheitssatz Art. 3 Abs. 1 GG Es wäre vermessen, das Problem des Verhältnisses der Gleichheitsgarantie zu den Freiheitsrechten im Rahmen dieser Arbeit in gebührendem Umfang darstellen zu wollen. Die Thematik bietet ausreichend Stoff für eine eigene monographische Abhandlung. Allein die Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stellt ein selbständiges Dissertationsthema dar 3 5 7 . Dennoch soll an dieser Stelle der Versuch unternommen werden, die Gleichheitsgarantien in das bisher entwickelte System einzupassen und damit die Richtung für eine Problemlösung aufzuzeigen. Der Schutzgegenstand des allgemeinen Gleichheitsgrundrechts nimmt bereits auf den ersten Blick gegenüber den Freiheitsgrundrechten eine systematische Sonderstellung ein. Das Gleichheitsrecht garantiert weder eine besondere Form des Sich-Verhalten-Dürfens, noch wird eine zugewiesene Rechtsposition zum Gegenstand eines Abwehrrechts erklärt. Auch in die Gruppe der natürlichen Persönlichkeitselemente - Leben, Gesundheit oder allgemeines Persönlichkeitsrecht - läßt sich die Gleichheit der Person nicht ohne weiteres einordnen 358 . Dennoch ist das Gleichheitsrecht nicht schutzgegenstandslos. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß der Gleichheitssatz an Eigenschaften oder Situationen der Person anknüpft. Besonders deutlich wird dies bei den speziellen Gleichheitssätzen wie Art. 3 Abs. 2, 3 GG oder Art. 33 Abs. 1, 2 GG. Abstammung, Herkunft, Rasse, Landeszugehörigkeit, Eignung, Befähigung und fachliche Leistung sind Umstände, Gegebenheiten oder Tätigkeiten aus der Sphäre des Grundrechtsinhabers 359 . Selbstverständlich geht es nicht um eine absolute Sicherung dieser Positionen. Diese Funktion ist den Freiheitsrechten vorbehalten. Die speziellen Gleichheitsnormen garantieren dem einzelnen ausschließlich einen relativen Beeinträchtigungsschutz im Verhältnis zu anderen Vergleichspersonen. Das eigenschafts- oder situationsbezogene Verhältnis wird damit selbst zum Schutzgegenstand des Abwehrrechts. D.h. die einzelnen Gleichheitssätze garantieren tatbestandlich ein Recht auf formale Gleichbehandlung. Versteht man Art. 3 Abs. 1 GG als subsidiäres Auffanggrundrecht, muß dasselbe auch für den Tatbestand dieser Norm gelten. Tatbestandlicher Anknüpfungspunkt für das Gleichbehandlungsgebot kann hier generell jede Eigenschaft oder Situation des Grundrechtsträgers sein. Schutzgegenstand des allgemeinen Gleichheitssatzes ist demnach der 357 Bisher umfassend bearbeitet von Rohloff, Zusammenwirken von allgemeinem Gleichheitssatz und Freiheitsgewährleistungen, S. 33 ff. 358 So aber der vorsichtige Vorschlag von Sachs, in: Stem, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 652. 359 Jarass, AöR 120 (1995), 345 (361 f.).
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F. Die Konkurrenzverhältnisse im einzelnen
Geltungsanspruch der Person innerhalb der Gesellschaft 360 oder mit anderen Worten die rechtliche, wirtschaftliche und soziale Relation gegenüber anderen 361 . Für das Konkurrenzverhältnis zu den Freiheitsrechten bedeutet dies, daß aufgrund des strukturellen Unterschieds und der querliegenden Gewährleistungsrichtung weder normlogische noch normative Spezialitätsverhältnisse in Betracht kommen. Es besteht folglich Idealkonkurrenz 362 . Dies heißt freilich nicht, daß sich parallel anwendbare Gleichheits- und Freiheitsgrundrechtsnormen u.U. nicht wechselseitig beeinflussen können. So hat das Bundesverfassungsgericht herausgestellt, daß sich die Prüfungsdichte für Verstöße gegen den Gleichheitsgrundsatz erhöhen muß, wenn sich die Ungleichbehandlung auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann 3 6 3 . Allerdings ist der Einfluß des konkurrierenden Freiheitsrechts nicht dahingehend zu verstehen, daß sich die parallel anwendbaren Grundrechte zu einem grundrechtlichen Wirkungsverbund zusammenschließen 364 . Die Grundrechtsnormen besitzen einen eigenständigen Gewährleistungsgehalt und müssen deshalb aus methodischen Gründen nebeneinander als Prüfungsmaßstab herangezogen werden. Im Verhältnis der Gleichheits- und Freiheitsrechte kann grundsätzlich nichts anderes gelten. Auch das Bundesverfassungsgericht, das zunächst offenbar eine Verbundlösung bevorzugt hat 3 6 5 , prüft in jüngeren Entscheidungen Art. 3 Abs. 1 GG neben den ebenfalls einschlägigen Freiheitsgrundrechten 3 6 6 .
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Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 652. Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3 Rdnr. 40. 362 Tettinger, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 12 Rdnr. 166; Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 3 Rdnr. 124; im Grundsatz auch Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 3 Rdnr. 2a; a.A. Erichsen, Jura 1980, 551 (560): Art. 12 GG soll abschließende und „spezielle" Regelung sein. Dies ist jedoch so nicht zutreffend. Soweit das Verhältnis verschiedener Berufe zueinander in Rede steht, die nicht unter einen gemeinsamen Oberbegriff gefaßt werden können, ist Art. 3 Abs. 1 GG bereits tatbestandlich nicht anwendbar. 363 BVerfGE 88, 87 (96); 91, 346 (363); zustimmend Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 3 Rdnr. 29. 364 Anders Kirchhof, HbdStR V, § 124 Rdnr. 171; Kloepfer, Gleichheit als Verfassungsfrage, S. 50; Wallerath, Öffentliche Bedarfsdeckung und Verfassungsrecht, S. 242 f. Zur Kritik an dieser Auffassung bereits oben S. 128 ff. Kritisch auch Selmer, DÖV 1972, 551 (553); Kingreen, Jura 1997, 401 (406 f.). 365 BVerfGE 30, 292 (327). 366 BVerfGE 77, 84 (118); 80, 269 (278, 280) mit zustimmender Anmerkung von Sachs, JuS 1990, 137; BVerfGE 98, 49 (58ff.); BVerfG (Kammer) NJW 1998, 1475 (1477), 1776 (1778). 361
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arverzeichnis Abwehrrecht 93, 104, 133
Grundrechtsschranke 111
Anwendbarkeit
Grundrechtsverbund 82 ff.
19 f.
Auslegung 40 ff. Berufsfreiheit 235 ff., 244 Eigentumsfreiheit 147 ff., 240ff. Elternrecht 206
Handlungsfreiheit, allgemeine 216 ff. Idealkonkurrenz 68 ff., 163 f. Informationsfreiheit
181 f., 197
Koalitionsfreiheit 233
Filmfreiheit 182 f., 195
Konditionalprogramm 19, 119
Freiheit der Person 221 ff., 231 f.
Kunstfreiheit 154 ff., 184ff., 205, 231, 238 f., 245 f.
Freizügigkeit 223 ff. Gesetzeskonkurrenz 43 Glaubens- und Gewissensfreiheit 198 ff., 231 f., 239 Gleichheitssatz, allgemeiner 247 f.
lex posterior 25 f. lex superior 2Iff. Meinungsäußerungsfreiheit 172 ff., 184ff., 192ff., 196, 198 ff., 226 ff.
Grundrecht - Begriff 93 - Deutschengrundrecht 106 ff. - landes verfassungsrechtliches 140
Menschenwürde 151, 167 ff.
Grundrechtsbeeinträchtigung 100 ff.
Normkonkurrenz - alternative 29 ff. - Begriff 26 f. - kumulative 28 f., 44 ff.
Grundrechtsbegrenzung 96 ff., 111 ff. -
verfassungsimmanente 112
Grundrechtsbestimmung 93 Grundrechtseingriff 100 f. Grundrechtskonkurrenz - Begriff 49 ff. - Gegenstand 134 f. - unechte 51 ff. Grundrechtsnorm - Begriff 93 - Struktur 94 ff. - Schutzzweck 165 f. - Widerspruchsfähigkeit 133
Normhierarchie 21 Normkollision 20 f.
Persönlichkeitsrecht, allgemeines 128 ff., 219 ff. Pressefreiheit 173 ff., 181 ff., 235 ff. Rechtsnorm - Begriff 18 - Gültigkeit 18 Rechtsordnung - Begriff 19 - Widerspruchslosigkeit der 31 ff.
Sachwortverzeichnis Rundfunkfreiheit
182 f., 235 ff.
Sachverhaltszerlegung 52 ff. Scheinkonkurrenz 5Iff.
261
Spezialität - normlogische 34f., 59 ff., 144ff. - normative 35, 62 ff., 149 ff. Stufenaufbau der Rechtsordnung 21
Schrankenschranken 114 Schrankenübertragung 72ff., 78ff. Schranken verbünd 88 f. Schutzbereich - Begriff 96 - personeller 64 Schutzgegenstand 119 ff. - Begriff 120 - Erscheinungsformen 120 f. - Hauptschutzgegenstand 125 ff., 157 ff. - Hilfsschutzgegenstand 125 ff., 157 ff. - Schutzgegenstandsmehrheit 123 ff. Selbstbestimmungsrecht der Kirchen 213 ff.
Tatbestand - sachlicher 94 ff. - personeller 106 ff. Tatbestandsabgrenzung 55 ff. Vereinigungsfreiheit
107, 233 ff.
Versammlungsfreiheit 107, 154 ff., 226 ff. Wesensgehaltsgarantie 13 8 f. Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung 3 Iff. Wissenschaftsfreiheit 238 f.
196 ff., 205,