Grundrechte und Gestaltungsspielraum: Eine rechtsvergleichende Untersuchung zum Prüfungsinstrumentarium von Bundesverfassungsgericht und US-amerikanischem Supreme Court bei der Normenkontrolle [1 ed.] 9783428493104, 9783428093106

Die Rechtsprechung des BVerfG zumal in Grundrechtsfragen ist geprägt von einer starren Fixierung auf die vom Zivilrecht

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Grundrechte und Gestaltungsspielraum: Eine rechtsvergleichende Untersuchung zum Prüfungsinstrumentarium von Bundesverfassungsgericht und US-amerikanischem Supreme Court bei der Normenkontrolle [1 ed.]
 9783428493104, 9783428093106

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CORNELIUS SIMONS

Grundrechte und Gestaltungsspielraum

Schriften zum Internationalen Recht

Band 111

Grundrechte und Gestaltungsspielraum Eine rechtsvergleichende Untersuchung zum Prtifungsinstrumentarium von Bundesverfassungsgericht und US-amerikanischem Supreme Court bei der Normenkontrolle

Von Comelius Simons

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Simons, Cornelius: Grundrechte und Gestaltungsspielraum : eine rechtsvergleichende Untersuchung zum Prüfungsinstrumentarium von Bundesverfassungsgericht und US-amerikanischem Supreme Court bei der Normenkontrolle I von Comelius Simons. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriften zum Internationalen Recht; Bd. I II) Zug!.: Jena, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09310-0

Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany

© 1999 Duncker &

ISSN 0720-7646 ISBN 3-428-09310-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8

Vorwort Diese Arbeit hat im Wintersemester 1997/1998 der Juristischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Dissertation vorgelegen. Rechtsprechung und Literatur sind auf den Stand des Jahresendes 1998 gebracht. Kaum eine Dissertation, am wenigsten diese, ist die Frucht kühner Entscheidung und rascher Erstellung. Entsprechend viele Helfer hatten Gelegenheit, sich meinen Dank zu verdienen. Ihr Beitrag darf hier nicht unerwähnt bleiben: An erster Stelle zu nennen ist Prof. Dr. Peter M. Huber, der den Anstoß zu dieser Arbeit gegeben und die Mühen des Doktorvaters auf sich genommen hat. Die Friedrich-Schiller-Universität in Jena und ihre hochgeschätzte rechtswissenschaftliche Fakultät bleiben für mich immer mit seinem Namen verbunden. Prof. Dr. Martin Morlok hat ein keinesfalls bloß "zügiges" sondern vor allem engagiertes und anregendes Zweitvotum verfaßt. Dafür gebührt auch ihm mein herzlicher Dank. Ganz andere, wiewohl nicht weniger wertvolle Hilfestellung haben der German Marshall Fund of the United States (in Form eines Forschungs-Zuschusses), die Hanns-Seidel-Stiftung (mit einem Promotions-Stipendium) und die Johanna und Fritz Buch-Gedächtnisstiftung (durch einen großzügigen Druckkostenzuschuß) geleistet. Auch hierfür schulde ich aufrichtigen Dank. Gewidmet ist die Arbeit meiner Familie - zuerst natürlich meinen Eltern, die ein (weniger für sie als für mich) sorgenfreies Studium ermöglicht haben, aber auch meiner Frau Anya, die das eigenartige Treiben ihres Doktoranden zumeist tapfer ertragen hat, und nicht zuletzt unserer Tochter Georgia, der die Überarbeitung dieser Arbeit durch ihren Vater Gelegenheit gegeben hat, noch rechtzeitig vor ihrer Veröffentlichung das Licht der Welt zu erblicken. Hamburg, im Winter 1998/99

Cornelius Simons

Inhaltsverzeichnis Einführung

15

A. Das Problem ........................................................................................................... l5 B. Das deutsche Modell: Verfassungsgericht und Dogmatik (1) ................................ 17 C. Dasamerikanische Modell: Verfassungsgericht und Funktion (I) ........................ 22 D. Magisches Dreieck: Gericht- Gesetzgeber- Individuum ..................................... 25 E. Gegenstand und Grenzen der Untersuchung .......................................................... 27

Erster Teil Die Grundlagen der Kontrolle legislativer Akte durch Supreme Courtund BVerfG

31

A. Die Rechtslage in den USA ................................................................................... 3 l I.

"Marbury v. Madison"- Rechtfertigung vonjudicial review ......................... 33 l. Die Fakten ................................................................................................... 33

2. Die Gerichtsentscheidung und ihre Argumente ........................................... 33 3. Bedeutung .................................................................................................... 35 II. "Marbury v. Madison" - Reichweite und Grenzen vonjudicial review .......... 37

l. Die Absichten der Verfassungsväter und der Verfassungstext. ................... 38 2. Marshalls Verständnis vonjudicial review .................................................. 40 3. Schlußfolgerung .......................................................................................... 45 B. Die Rechtslage in Deutschland ..............................................................................46 I.

Die positive Entscheidung des Grundgesetzes für die Verfassungsgebundenheit des Gesetzgebers und die Kontrollbefugnis des BVerfG .................... 46

II. Die Bedeutung der positiv-rechtlichen Normierung im Grundgesetz für die Ausübung der richterlichen Kontrollbefugnis ...........................................47 C. Zusammenfassung .................................................................................................. 52

Inhaltsverzeichnis

8

Zweiter Teil Die verfassungsgerichtliche Kontrolle legislativer Akte im Selbstverständnis von Supreme Court und BVerfG

53

A. Supreme Court ....................................................................................................... 53 I.

Schlüsselbegriffe der Supreme Court-Praxis:judicial activism undjudicial restraint .................................................................................................... 53

II. Der rote Faden: ,Judicial restraint" ................................................................. 56 III. Das gemiedene Bekenntnis: ,Judicial activism" .............................................. 64 IV. Zusammenfassung ........................................................................................... 68 B. Bundesverfassungsgericht. ..................................................................................... 69 I.

Der "Statusbericht" von 1952 .......................................................................... 69

II. Die Abgrenzung von Recht und Politik und die political questionDoktrin ............................................................................................................ 71 III. BVerfG undjudicial selfrestraint ................................................................... 76 C. Zusammenfassung .................................................................................................. 82

Dritter Teil Gestaltungsfreiheit und Kontrollauftrag in der PraxisMittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

84

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe .................................................................... 84 I.

Die Rechtslage in den USA ............................................................................. 85

1. Definition der Prüfungsmaßstäbe ................................................................ 86 a) Der mere rationality-Standard ................................................................ 86

b) Der strict scrutiny-Standard ................................................................... 88 c) Der middle tier-Standard ........................................................................ 89 d) Zusammenfassung .................................................................................. 90 2. Prüfungsobjekte .......... ................................................................................. 91 a) Endseines Gesetzes: Ziele, Zwecke, Motive und Effekte ...................... 91 aa) Feststellungsmodi ............................................................................. 91 bb) Wertigkeit ........................................................................................ 93 b) Gesetzgeberische Mittel ......................................................................... 96

Inhaltsverzeichnis

9

c) Mittel-Zweck-Relation ........................................................................... 97 aa) Allgemeines ...................................................................................... 97 bb) Due process- und equal protection-Fälle ......................................... 98 cc) Freedom ofspeech-Fälle ...................................................... .......... 100 dd) Zusammenfassung ......................................................................... 108 3. Handhabung der Prüfungsmaßstäbe .......................................................... 109 II. Die Rechtslage in Deutschland ...................................................... ................ 114 1. Der Verhältnismäßigkeilsgrundsatz als Prüfungsmaßstab ......................... 115

a) Allgemeines .......................................................................................... 115 b) Prüfungsobjekte, insbesondere die Mittel-Zweck-Beziehung .............. 116 aa) Zweck ............................................................................................. 116 bb) Mittel-Zweck-Beziehung ............................................................... 116 (I) Eignung ................................................................................... 116 (2) Erforderlichkeit ........................................................................ 117 (3) Proportionalität ........................................................................ I18 2. Der allgemeine und die besonderen Gleichheitssätze als Prüfungsmaßstab ..................................................................................................... 119 a) Allgemeines .......................................................................................... 119 b) Prüfungsobjekte ................................................................................... 121 aa) Differenzierungskriterium (Mittel) ................................................. 121 bb) Differenzierungsziel (Zweck) ........................................................ 123 cc) Mittel-Zweck-Beziehung ................................................................ 124 III. Bedeutung der Prüfungsmaßstäbe ftir die Aufgaben- und Funktionsverteilung zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber. ................................ 127 1. Die (potentielle) Doppelfunktion der Prüfungsmaßstäbe .......................... 127

2. Verfassungsgerichtliche Argumentation und Auswahl bzw. Ausgestaltung der Prüfungsmaßstäbe ...................................................................... 130 3. Folgerungen ............................................................................................... 142 B. Vermutungen, Darlegungslast, Beweislast und Beweismaß ................................ 147 I.

Allgemeines ................................................................................................... 147 1. Die Rechtslage in den USA ....................................................................... 148

a) Beweislast (burden ofproo/) ................................................................ 148

10

Inhaltsverzeichnis aa) Burden ofpleading und burden ofproducing evidencelgoing forward ............................................................................................ 148 bb) Burden ofpersuasion ..................................................................... 150 b) Vermutungen (presumptions) ............................................................... 152 c) Exkurs: "Tatsachen·' und Supreme Court ............................................. 155 2. Die Rechtslage in Deutschland .................................................................. 156 li. Vermutungenlpresumptions und Beweislast/burden ofproof in der Praxis von BVerfG und Supreme Court ............................................................. 160 1. Die Rechtslage in den USA ....................................................................... 160

a) Dogmatische Ausgestaltung ................................................................. 160 b) Praktische Bedeutung ........................................................................... 166 2. Die Rechtslage in Deutschland .................................................................. 169 lll. Vermutungen und Prüfungsstandards ............................................................ 175 IV. Vermutungen, Beweislast und Rollenverteilung zwischen Supreme Court und Gesetzgeber .................................................................................. 177 V. Zusammenfassung ......................................................................................... 182 C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen ....................... 183 I.

Allgemeines ................................................................................................... 183

II. Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen in der Praxis von Supreme Court und BVerfG .......................................................................... 186 1. Die Rechtslage in den USA ....................................................................... 186

a) Die Befugnis des Supreme Court zur Tatsachenfeststellung und Folgeneinschätzung .............................................................................. 186 aa) Der juristisch-prozessuale Aspekt: adversary proceeding, Revisionstätigkeit und legislative facts ............................................... 186 bb) Der praktisch-kompetenzielle Aspekt: Gericht, Gesetzgeber und legislative facts ......................................................................... 192 b) Die Praxis des Supreme Court.............................................................. 194 aa) Tatsachenfeststellungen .................................................................. 194 bb) Folgeneinschätzungen .................................................................... 208 2. Die Rechtslage in Deutschland .................................................................. 214 a) Die Befugnis des BVerfG zur Tatsachenfeststellung und Folgeneinschätzung ......................................................................................... 214

Inhaltsverzeichnis

II

b) Die Praxis des BVerfG ......................................................................... 216 aa) Tatsachenfeststellungen .................................................................. 216 bb) Folgeneinschätzungen .................................................................... 218 III. Legislativefacts, Vermutung der Verfassungsmäßigkeit und Prüfungsmaßstäbe ........................................................................................................ 223 IV. Legislativefacts und Funktionenordnung ..................................................... 226 V. Zusammenfassung .......................................................................................... 232 D. ,,Administrative convenience" und "Ökomomie der Verwaltung" ....................... 233 E. Gesetzgeberische Motive ..................................................................................... 242 I.

Allgemeines ................................................................................................... 242

li. Die Praxis gerichtlicher Motivforschung ....................................................... 246 l. Die Rechtslage in den USA ....................................................................... 246

a) Die Unterscheidung zwischen "de iure-" und "de facto-Benachteiligungen" und die .. doctrine ofdiscriminatory purpose" ................ 246 b) Umfang der Tatsachenfeststellung und Verteilung der Beweislast bei der Ermittlung der Absichten des Gesetzgebers ............................. 251 aa) Allgemeines .................................................................................... 251 bb) Möglichkeiten der Feststellung von Motiven ................................ 252 cc) Beweislast und Beweismaß ....... :.................................................... 253 2. Die Rechtslage in Deutschland .................................................................. 255 a) Ausgangssituation ................................................................................ 255 b) Die Behandlung "faktischer" Ungleichheit.. ........................................ 256 c) Ergebnis- oder Verfahrenskontrolle gegenüber dem Gesetzgeber? ...... 262 III. Rechtfertigung gerichtlicher Motivforschung ............................................... 266 IV. Zusammenfassung ......................................................................................... 275 F. Kontrolle des gesetzgeberischen Verfahrens im übrigen ...................................... 277

Vierter Teil

Abhängigkeit und Unabhängigkeit, Stabilität und Flexibilität der gerichtlichen Kontrollinstrumente

280

A. Die Situation im amerikanischen Verfassungsrecht.. ........................................... 280

I.

Das Zusammenwirken der verschiedenen Kontrollinstrumente .................... 280

Inhaltsverzeichnis

12

I. Der mere rationality-Standard ................................................................... 280 2. Der strict scrutiny-Standard ....................................................................... 282 3. Der intermediate scrutiny-Standard ........................................................... 283 Il. Differenzierungen .......................................................................................... 284 B. Die Situation im deutschen Verfassungsrecht.. .................................................... 291

Fünfter Teil

Anwendungsbereiche der jeweiligen Kontrollstandards

293

A. Die Situation im amerikanischen Verfassungsrecht.. ........................................... 293

I.

Der strict scrutiny-Standard ........................................................................... 293 I . Equal protection-Fälle ............................................................................... 293

2. Due process-Fälle ...................................................................................... 298 3. Freedom ofspeech-Fälle ........................................................................... 300 II. Der mere rationality-Standard ....................................................................... 302 III. Der intermediate scrutiny-Standard ............................................................... 303 B. Die Situation im deutschen Verfassungsrecht.. .................................................... 305 I.

Fälle relativ strenger Kontrolle ...................................................................... 306

Il. Fälle relativ durchlässiger Kontrolle ............................................................. 311 C. Zusammenfassung ................................................................................................ 314

Sechster Teil

Gerichtliche Rechtfertigung der geübten Kontrollpraxis

315

A. Das arnerikanische Modell: Verfassungsgericht und Funktion (2) ...................... 315

I.

Die "Carolene Products"-Fußnote ................................................................. 316

II. John H. Ely: "Democracy and Distrust" ........................................................ 318 III. Die Rechtsprechung des Supreme Court ....................................................... 323 B. Das deutsche Modell: Verfassungsgericht und Dogmatik (2) .............................. 326

Inhaltsverzeichnis

13

Siebter Teil Das Phänomen selbständiger funktionell-rechtlicher Perspektiven und Kriterien und der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers

331

A. Zusammenfassung und Analyse der Einzelergebnisse ......................................... 331

B. Schlußfolgerungen ............................................................................................... 355

C. Paradigmatischer Testfall : Die Abtreibungsfrage ................................................ 367 Zusammenfassung d':r Ergebnisse

373

Literaturverzeichnis

382

Sachregister

409

"Der Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht und sich sodann in den Grenzen des Begreiflichen zu halten. " (J. W. v. Goethe)

Einführung A. Das Problem Geschichte und Gegenwart des Verfassungsrechts kennen konstitutionelle Systeme, die mit einer resoluten Verfassungsbindung des Gesetzgebers aufwarten ebenso, wie sie Beispiele einer eher zurückhaltenden oder sogar gänzlich fehlenden Verpflichtung desselben bereithalten. In nahezu jeder beliebigen Kombination damit finden sich Fälle einer sehr robust ausgestalteten justiziellen Sicherung des Verfassungsvorrangs neben solchen, die auf diese Sanktionsmöglichkeit graduell oder sogar vollständig verzichten. Strukturprägendes Merkmal des deutschen Verfassungsmodells ist demgegenüber die Entscheidung sowohl fiir einen Vorrang der Verfassung als auch dafiir, "den lückenlosen Schutz des Verfassungsvorrangs und damit auch die Kontrolle des parlamentarischen Gesetzgebers einer zentralen Gerichtsinstanz anzuvertrauen." 1 Das Versprechen des Verfassungsvorrangs als erste und prinzipale Funktionsvoraussetzung wirksamer Verfassungskontrolle wird durch das Grundgesetz in denkbar umfassender Weise eingelöst: Neben der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ist mit dem Gesetzgeber auch der am stärksten demokratisch legitimierte Hoheitsträger an die verfassungsmäßige Ordnung, Art. 20 Abs. 3 GG, und kraft ausdrücklicher, wiederholender Anordnung, Art. 1 Abs. 3 GG, vor allem an die Grundrechte gebunden. Darüber hinaus verhindert Art. 79 GG jedwede Durchbrechung (Abs. I) und sogar Abänderung (Abs. 3) dieses verfassungsrechtlichen Grundsatzes. Nicht anders steht es um die institutionelle Sicherung des Verfassungsvorrangs. Die Zuständigkeit des BVerfG zur Überprüfung und ggf. Verwerfung von Maßnahmen der politischen Verfassungsorgane ist im Grundgesetz und den auf seiner Grundlage ergangenen Gesetzen umfassend geregelt; darüber hinaus setzt Art. 100 Abs. 1 GG ein allgemeines richterliches Prüfungs-, wenn auch nicht Verwerfungsrecht stillschweigend voraus. 1 A. Rinken, in: AK-GG, Rdz. 2 vor Art. 93 . Vgl. auch E.-W Böckenförde, NJW 1999, S. 9, 14 f.

Einführung

16

Neben dieser so umrissenen "Makro-Kompetenz" 2 unbeantwortet läßt die Verfassung indes die infolge ihrer strukturellen und "demokratietheoretischen Folgeprobleme"3 praktisch noch wichtigere Frage nach dem konkreten Prüfungsmaßstab4, dem sich ein Gesetz im Fall der Normenkontrolle zu unterwerfen hat. Auch eine Analyse der Gerichtspraxis hilft hier vorerst nicht weiter: Eine Durchsicht der Entscheidungen des BVerfG macht zunächst nur deutlich, daß das Gericht offenbar unterschiedlich verfährt, daß also Umfang und Intensität der Kontrolle wechseln, und zwar nicht nur gegenüber der Verwaltung und den Gerichten, sondern auch gegenüber dem Gesetzgeber. Angesichts der entscheidenden Bedeutung, die die Antwort auf die Frage nach den Kontrollmaßstäben nicht nur für Umfang und Grenzen der verfassungsgerichtlichen Überprüfung, sondern auch für den vielbeschworenen "Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers" und damit letztlich für das Verhältnis von Grundrechtsstaat und Demokratie hat, ist es kaum erstaunlich, daß ihr praktisch von Beginn der Tätigkeit des BVerfG an erhebliche Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Gleichwohl kann nicht davon die Rede sein, daß Rechtsprechung und Literatur einer überzeugenden Lösung sehr viel näher gekommen wären. Um so mehr bedarf die Frage nach den Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, wie sie nicht zuletzt durch die "Mikro-Kompetenz" des im Einzelfall gewählten Prüfungsmaßstabes gesetzt werden, immer wieder tastender Überprüfung. Dabei bieten sich als die Prüfungsdichte und deren Umfang steuernde Faktoren vor allem zwei "Orientierungspunkte" an: die Regelungsdichte der einschlägigen Grundrechtsnorm sowie die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsgewalten.5 Für die spezifische Form der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland ergibt sich in dieser Frage die Besonderheit, "daß das BVerfG von seinen Kompetenzen und seiner Arbeitsweise her im Schnittpunkt zweier verwandter, aber nicht miteinander identischer Rechtskulturen und -traditionen steht. Einerseits ist nicht zu verkennen, daß das BVerfG ... institutionell gewisse Gemeinsamkeiten mit der Staatsgerichtsbarkeit der Weimarer Republik teilt", andererseits 2

Vgl. J. Jpsen, Norm und Einzelakt, S. 202.

A. Rinken, in: AK-GG, Rdz. 4 vor Art. 93. Zu den angesprochenen Problemen im Einzelnen D. Grimm, in: W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Sozialwissenschaften, Bd. II (1977), S. 83, 85 ff. 3

4

Ebenso K. Schlaich, BVerfG, Rdz. 13.

Vgl. M. Raabe, in: C. Grabenwarter u.a. (Hrsg.), Assistententagung ÖR (1994), S. 83, 85; K. Stern, StaatsR III/2, S. 1345 (§ 91 V 3); B.-0. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 303 ff. 5

B. Das deutsche Modell: Verfassungsgericht und Dogmatik (I)

I7

aber "in seinen Grundzügen doch primär an demjenigen Typus der Verfassungsgerichtsbarkeit ausgerichtet ist, wie er sich historisch insbesondere in den Vereinigten Staaten von Amerika entwickelt hat." 6 Ohne ein zumindest rudimentäres Verständnis dieser beiden traditionell erheblich voneinander abweichenden Entwicklungslinien kann diese Betrachtung demnach nicht auskommen. Es wäre aber auch töricht, angesichts gerade einer solchen Ausgangslage auf die Erfahrungen einer Rechtsordnung zu verzichten, der das hier diskutierte Problem nicht weniger vertraut ist als der deutschen. Zunächst einmal verschafft der Blick über die Grenze allerdings Gelegenheit, einen ersten Eindruck davon zu gewinnen, aufwelche Weise die eben genannten "Orientierungspunkte" - Nonnendichte auf der einen, Staatsfunktion auf der anderen Seite - für den Modus der in den beiden Rechtssystemen geübten Verfassungskontrolle Bedeutung erlangen. Aller Vergröberung dieser Beobachtung zum Trotz wird sich dabei herausstellen, daß der Zugang zur Abgrenzungsproblematik in beiden Ländern bereits im Ausgangspunkt ein jeweils unterschiedlicher ist.

B. Das deutsche Modell: Verfassungsgericht und Dogmatik (1) Die Überlegung, "als letzte Instanz in der politischen Auseinandersetzung" ein Organ fungieren zu lassen, "das selbst aus dem System der politischen Verantwortlichkeit herausfallt und den demokratischen Kontrollmechanismen nicht unterliegt", ist auch für ein Staatswesen wie das deutsche "zunächst überraschend."7 Obwohl der Gedanke einer richterlichen Politikkontrolle nicht erst aus der Nachkriegszeit stammt, kann ihre konkrete, von manchen als "perfektioniert"8 bezeichnete Ausprägung unter dem Grundgesetz nur verstehen, wer sie als entschlossene Antwort des parlamentarischen Rates auf die Tragödie der nationalsozialistischen Diktatur und ihrer Vorgeschichte begreift: Die Ausdehnung des Rechts und der zu seiner Durchsetzung geschaffenen Institutionen, kurzum: der Aufstieg der Dritten Gewalt sollte dem Individuum endlich den Schutz verschaffen, den ihm die Weimarer Republik aus doktrinären sowie das diktatorische Terrorsystem aus ideologischen Gründen vorenthalten hatte. Nicht zuletzt dem Mißbrauch, den der Gesetzgeber mit seiner Letztzuständigkeit 6

R. Dolzer, Verfassungskonkretisierung, S. VII.

D. Grimm, in: W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Sozialwissenschaften, Bd. II (1977), S. 83, 86. Ebenso G. F. Schuppert, Auswärtige Gewalt, S. 218; A. Rinken, in: AK-GG, Rdz. 3 vor Art. 93. Gegenstimmen bei K. Stern, Grundideen, S. 23. 7

8

R. Dolzer, Verfassungskonkretisierung, S. 24.

2 Simons

18

Einführung

getrieben hatte, verdankt das BVerfG, diese "Krönung des Rechtsstaates" 9 , seine Existenz. 10 So "offensichtlich" es deshalb zunächst erscheint, "daß man dem BVerfG möglichst viel Kompetenzen und Macht geben wollte", so klar zeigt sich doch auch, daß sich damit nicht in gleichem Maße "Gedanken über die generelle Rolle einer solch starken Verfassungsgerichtsbarkeit" verbunden haben. 11 Hier von Bedeutung ist an diesem Umstand vor allem, daß auf diese Weise auch die von den Prüfungsmaßstäben wesentlich mitgeprägte Frage nach den Grenzen verfassungsgerichtlicher Tätigkeit, in deren Zusammenhang man eine grundsätzliche Erörterung der Funktion von Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge des Staatsganzen durchaus hätte erwarten können, stets ineins gesetzt wurde (und ganz überwiegend noch ineins gesetzt wird) mit der Frage nach der Existenz und Regelungsdichte einer einschlägigen Verfassungs- oder hier Grundrechtsnorm.12 Folgt man dieser "traditionellen Sicht" 13 , sind die je selbständigen Fragen nach der rechtsschöpfenden Kraft verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung, nach den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit und damit schließlich auch nach der Rolle eines Verfassungsgerichts im politischen Prozeß zumindest zweitrangig und, genau genommen, sogar obsolet: Die Grenzen des BVerfG sind aus dieser Perspektive mit den von der Verfassung gesteckten Grenzen identisch. Dort, wo die Verfassung praktikable Kontrollmaßstäbe nicht mehr zu erkennen gibt, endet auch der Kontrollauftrag des Verfassungsgerichts. Seine Aufgabe ist nurmehr eine Funktion der Reichweite der Verfassung. 14 Das Gericht "sorgt unter diesen Umständen nur dafür, daß sich die übrigen Staatsorgane so verhalten, wie sie sich von Verfassungs wegen ohnedies verhalten müßten. Es entscheidet nicht eigentlich, sondern bringt lediglich Vorentscheidun9 A. Katz, Staatsrecht, Rdz. 209. Ähnlich R. Marcic, Richterstaat, S. 361. Enthusiastisch auch ders., Verfassung und Verfassungsgericht, S. 207 ff., 212. Vgl. auch H. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 154 sowie K. Schlaich, VVDStRL 39 (1981), S. 99, 101. Nüchterner R. Wahl, Staat 20 (1981), S. 485,499.

10

Vgl. das Gericht selbst in BVerfGE 39, I, 67.

R. Dolzer, Stellung, S. 39. Ebenso C. Landfried, in: C. Landfried (Hrsg.)., Constitutional Review and Legislation ( 1988), S. 7, 7 f. Vgl. auch U. Scheuner, DOV 1980, S. 473, 473 sowie die Literaturübersicht bei D. Grimm, in: W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Sozialwissenschaften, Bd. II ( 1977), S. 83, 83 f. 11

12 In der Einschätzung ebenso R. Dolzer, Stellung, S. 18, 39 ff., 43, 45, 46, 47, 68 et passim. Eindringlich auch E.-W Böckenförde, NJW 1976, S. 2089,2099. 13

K. Schlaich, BVerfG, Rdz. 470.

BVerfGE 62, I, 51: "Allein dort, wo verfassungsrechtliche Maßstäbe ... normiert sind, kann das BVerfG ... ihrer Verletzung entgegentreten." 14

B. Das deutsche Modell: Verfassungsgericht und Dogmatik (I)

19

genzur Geltung. Verfassungsrechtsprechung bleibt ihrer Natur nach Rechtsanwendung. Die bedeutet dann zwar immer noch einen Machtverlust ftlr die traditionellen Staatsorgane, doch nur den Verlust der Macht, ungestraft gegen die Verfassung zu verstoßen." 15 So muß es dem BVerfG geradezu zwangsläufig leicht fallen zu beteuern, daß es bei seiner Tätigkeit allein "um die Durchsetzung der Verfassungsordnung", nicht aber um einen Eingriff "in den von der Verfassung geschaffenen Raum freier politischer Gestaltung" 16 gehe. Demjenigen, den dies als "Orientierungspunkt" nicht überzeugt und der zur Festlegung der Grenzen von Verfassungsgerichtsbarkeit eine selbständige Funktionsbestimmung des BVerfG filr nötig hält, muß eine solche Position freilich erstaunen. Soll damit nämlich nicht mehr zum Ausdruck gebracht werden, als daß sich jedes verfassungsgerichtliche Judikat in nachvollziehbarer Weise auf den Sinngehalt einer Verfassungsvorschrift zurückfUhren lassen muß, so ist dies ein bloßer Gemeinplatz, den noch der letzte Verfassungsinterpret ftlr sich als verbindlich ansehen wird. 17 Als naiv dagegen muß ihm ein solches Verständnis insoweit erscheinen, als es die mögliche Bandbreite denkbarer Interpretationsergebnisse mitsamt ihren Implikationen fiir das Verhältnis von Verfassungsgericht und Gesetzgeber zu ignorieren und statt dessen einem nachgerade mechanisch funktionierenden Interpretationsmodell zu huldigen scheint. 18 Überaus aufschlußreich fiir die Debatte um die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit ist diese Position jedoch dennoch deshalb, weil sie die Richtung verdeutlicht, in die sich die Diskussion in Deutschland vornehmlich bewegt hat und im Grunde immer noch bewegt: hin nämlich zu einer Optimierung der "klassischen", stark von der Zivilistischen Tradition geprägten Interpretationsmethoden mitsamt ihrer einmal mehr, einmal weniger generösen Anwendung auf eine einschlägige Grundrechtsnorm. Nicht in der Verfassung mit ihren weit ausgreifenden Grundrechtsbestimmungen und schon gar nicht in der Institutionalisierung eines Verfassungsgerichts liegt demgemäß ein funktionell-rechtliches Problem begraben, sondern allenfalls in dem Handwerkszeug, mit dessen Hilfe das Gericht sich seinem Gegenstand nähert. Entsprechend soll sich "der Umgang des BVerfG mit den Normen der Verfassung" als ,juristische Interpre15 In der Einschätzung wie hier D. Grimm, in: W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Sozialwissenschaften, Bd. li (1977), S. 83, 86 ff., 90 (das Zitat S. 87). Exemplarisch auch H. Spanner, Richterliche Prüfung, S. 66 et passim.

16

BVerfGE 36, l , 13 ff.

17

Ebenso W. Heun, Funktionell-rechtliche Schranken, S. 37.

Vgl. G. Roellecke, in: J. Isensee I P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. StaatsR, Bd. li (1987), S. 676 f. (§ 53, Rdz. 28); A. Rinken, in: AK-GG, Rdz. 95 vor Art. 93. 18

Einführung

20

tation" 19 legitimieren; die "Besonderheiten des Verfassungsgesetzes" änderten, so wird behauptet, "nicht Grundsätzliches am Charakter der Verfassungsinterpretation als Gesetzesinterpretation." 20 Neben allerlei anderem steckt dahinter offenbar der Gedanke, daß dann, wenn es gelänge, das BVerfG an einigermaßen zuverlässig arbeitende Auslegungsgrundsätze zu binden, Grenzüberschreitungen des Gerichts gleichsam automatisch vermieden würden. Die Staatsfunktion "Rechtssetzung" mit dem Gesetzgeber als ihrem Hauptakteur wird auf diese Weise der Staatsfunktion "Rechtsanwendung" mit dem BVerfG an ihrer Spitze konfliktfrei gegenübergestellt. Eine originär von den respektiven Funktionen der beteiligten Verfassungsorgane her gedachte Position ist dies freilich nicht. 21 Bezeichnend dafiir ist, daß in der in den späten 50er Jahren begonnenen großen Auseinandersetzung um die Verfassungsgerichtsbarkeit die Grundfrage nicht etwa als Funktions-Problem verstanden, sondern dahin formuliert wurde, "ob die juristische Methodenlehre über einen konsensfähigen Regelkanon verfUgt, der der Richterwillkür rational kontrollierbare und juristischer Kompetenz unterliegende Grenzen setzt."22 Entsprechend gipfelte diese Debatte dann auch in einer Gegenüberstellung der Vorzüge und Nachteile von "geisteswissenschaftlich-werthierarchischer" und ,juristischer" Interpretationsmethode. Unter diesen Umständen war es kaum verwunderlich, daß die beiden profiliertesten Diskussionsteilnehmer, Ernst Forsthoff3 und Horst Ehmke24, in der Frage nach der Funktion des BVerfG zum genau gleichen Postulat gelangen konnten: daß nämlich die richterliche Kontrolle sich, soweit dies nur irgend möglich ist, zurückzuhalten und dem Gesetzgeber einen möglichst weiten Gestaltungsspielraum zu belassen habe. Allein der Ausgangspunkt und - dies das filr die Antipoden eigentlich entscheidende Problem25 - der Weg zum Ziel 19 E. Friesenhahn (Diskussionsbeitrag), in: Frhr. v. Stein-Ges. (Hrsg.), Cappenberger Gespräch (1980), S. 56, 57. Vgl. B. Schmidt-Bieibtreu I F. Klein, GG, Einl. Rdz. 52 a ff. 20 So zusammenfassend R. Dreier, in: R. Dreier I F. Schwegmann (Hrsg.), Verfassungsinterpretation (1976), S. 13, 14.

21 Zustimmend D. Grimm, in: C. Landfried (Hrsg.), Constitutional Review and Legislation (1988), S. 169, 169 f.; A. Rinken, in: AK-GG, Rdz. 93 ff. vor Art. 93; E.-W Böckenförde, NJW 1976, S. 2089, 2099. 22 So zusammenfassend R. Dreier, in: R. Dreier I F. Schwegmann (Hrsg.), Verfassungsinterpretation (1976), S. 13, 15.

23 E. Forsthoff, in: H. Barion u.a. (Hrsg.), FS f. C. Schmitt (1959), S. 35 ff. (auch abgedruckt in: E. Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel, S. 130 ff.). 24

H. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53 ff.

25

V gl. H. H. v. Arnim, Gemeinwohl, S. 234 f.

B. Das deutsche Modell: Verfassungsgericht und Dogmatik (I)

21

waren zwischen ihnen umstritten. All dies zeigt, daß die gesamte Debatte nicht wirklich eine solche um die Rolle des BVerfG, sondern um die angemessene Methode der Verfassungsinterpretation gewesen ist. Will man dem folgen, ist es also diese Methode, die die Dichte der Kontrollmaßstäbe, damit die Intensität der Prüfung und schließlich die konkrete Rolle des BVerfG im Verhältnis zum Gesetzgeber bestimmt. Ein Blick auf die von Forsthoff formulierten Gedanken liefert dafilr ein treffliches Beispiel. Seine Kritik an der von ihm als "geisteswissenschaftlich" bezeichneten "Interpretation" des Grundgesetzes nämlich trieb gar nicht so sehr die Sorge um einMacht-Ungleichgewichtzwischen BVerfG und Gesetzgeber um, als vielmehr "der aus der Abdankung der juristischen Methode und der Entformalisierung des Verfassungsrechts resultierende Verlust an Evidenz und Berechenbarkeit des Rechts." Ihren Grund fand Forsthoffs Kritik letztlich darin, daß "die moderne Industriegesellschaft ... auf formaler Berechenbarkeit beruh(t) und die hochgradige Verunsicherung des Verfassungsrechts diesem gesellschaftlichen Bedürfnis nicht gerecht (wird)." 26 Zudem filhre "die ,Abdankung der juristischen Methode' zu einer ,Depossedierung der Rechtswissenschaft' ... und folgeweise zum Verlust jurisprudentieller Kontrolle richterlicher Entscheidungssfmdung'm. Daßall dies zugleich eine Tendenz zum Justizstaat begünstigt - den er freilich auch nicht als Antipoden des Gesetzgebungs- sondern des Rechtsstaats betrachtete-, bemerkte Forsthoff dagegen eher beiläufig und nur am Rande. Damit soll durchaus nicht geleugnet werden, daß die Frage nach den Grenzen verfassungsgerichtlicher Tätigkeit ihren Ausgang bisweilen auch von Überlegungen zur Einordnung des BVerfG in das "Gefilge der Staatsfunktionen"28 genommen hat. Mündet sie jedoch, wie dies immer wieder geschiehe9 , nur in Überlegungen dazu ein, daß es sich beim BVerfG um ein an einen vorgegebenen Kontrollmaßstab gebundenes Gericht handelt, ist damit doch nur wieder der Ausgangspunkt betreten. Denn "das Problem besteht ja gerade darin, den weitgehend offenen Sinn bestimmter Normen und Normenkomplexe als Prüfungsmaßstab ... präziser zu bestimmen und einzugrenzen."30Um keinen 26 So zusammenfassend H. H. v. Arnim, Gemeinwohl, S. 260. Zu Forsthoff auch K. Larenz, Methodenlehre, S. 235 ff. 27 So zusammenfassend R. Dreier, in: R. Dreier I F. Schwegmann (Hrsg.), Verfassungsinterpretation (1976), S. 13, 16.

28 Hierzu die Referate von K. Korinek, J. Müller und K. Schlaich, VVDStRL 39 (1981), S. 7 ff., 53 ff., 99 ff. 29

Vgl. etwa K. Schlaich, BVerfG, Rdz. 474 ff. mit Nachw. bei Rdz. 492.

30

So zutreffend W Heun, Funktionell-rechtliche Schranken, S. 15.

Einflihrung

22

Schritt weiter führen deshalb auch Argumentationen aus einer behaupteten Eigenart der Verfassungsgerichtsbarkeit31 sowie aus einer Funktionsbeschreibung des BVerfG als eines "Hüters der Verfassung." 32

C. Dasamerikanische Modell: Verfassungsgericht und Funktion (1) Das als "dogmatisch" bezeichnete Modell von Verfassungsgerichtsbarkeit mit seiner Funktionsbestimmung aus dem Wesen der Rechtsprechung, wie es soeben am Beispiel Deutschlands vorgestellt wurde, ist für die USA nie repräsentativ gewesen. Dort ist man vielmehr weit davon entfernt, die Tätigkeit des Verfassungsjuristen als bloße Gesetzesanwendung zu beschreiben. Schon ein dem deutschen vergleichbarer, mit dem Anspruch auf größtmögliche Objektivität auftretender Interpretationskanon ist dem amerikanischen Recht im Prinzip fremd. 33 Die theoretische Debatte ebenso wie die gerichtliche Praxis dominiert hat statt dessen immer die Frage, "welche Stellung die Verfassungsgerichtsbarkeit in einer konkreten Verfassung einnimmt (und) wie weit ihrer Tätigkeit innerhalb der Gesamtordnung den politisch entscheidenden Organen gegenüber, vor allem der Geset~febung, eine begrenzende, berichtigende und mitwirkende Rolle zukommt." Ganz offensichtlich geht es bei dieser, das Verhältnis zweier Institutionen zueinander betreffenden Frage um ganz andere Dinge als bei den ausschließlich den rechtsstaatliehen Aspekt von Verfassungsgerichtsbarkeit umkreisenden Problemen. Grundrechtsfragen werden hier in schon langer Tradition offen als den Grenzverlauf zwischen Gericht und Gesetzgeber bestimmende Machtfragen verstanden: Sollen Richter oder die gewählten Volksvertreter in entscheidenden Fragen das letzte Wort haben?35 In Konsequenz dessen ganz "im Vordergrund der Kritik und der Verteidigung stehen Begriffe wie 'undemocratic' und 'countermajoritarian"'36, die mit den von ihnen ausgelösten lmplikationen 31

Kritisch auch H.-P. Schneider, NJW 1980, 2103, 2103 .

V gl. nur BVerfGE I, 184, 196 f.; 40, 88, 93 sowie K. Stern, StaatsR II, S. 952 (§ 44 II 2); ders. , StaatsR III/2, S. 1344 f. (§ 91 V 2d) mwN. 32

33 Vgl. nur H. Bungert, AöR 117 (1992), S. 71, 89; M Kriele, Staat 4 (1965), S. 194, 194 f., 198 f. 34

U. Scheuner, DÖV 1980, S. 473,473.

35 Dazu M. Krie/e, in: J. lsensee u.a. (Hrsg.), Hdb. StaatsR, Bd. V (1992), S. 102 (§ 110, Rdz. 1), 105 (§ 110, Rdz. 7).

36

R. Do/zer, Stellung, S. 52 f.

C. Das arnerikanische Modell: Verfassungsgericht und Funktion (I)

23

einen entscheidenden Einfluß auf die in den USA geübte Art der Verfassungsinterpretation gewonnen haben. 37 Auch im Fall der USA ist ein kurzer Blick zurück für das Verständnis der noch heute aktuellen Diskussion erhellend. Dabei fällt auf, daß der Ausübung von Normenkontrolle durch den Supreme Court gerade die beiden Merkmale fehlen, die im Hinblick auf die Situation in Deutschland soeben noch für ausschlaggebend erklärt wurden. Denn weder kann sich der Supreme Court für seine Kontrollpraxis auf eine ausdrückliche Anweisung der Verfassung berufen, noch vermag er auf die Gunst einer bestimmten historischen Situation zu verweisen, die seinem Tun die nötige Legitimation vermitteln könnte. Schon dieser Umstand hat das Gericht praktisch vom Beginn seiner Tätigkeit an in die prekäre Situation versetzt, immer wieder ausdrücklich auf seine spezifische Rolle im amerikanischen system of government hinweisen zu müssen. Dementsprechend nimmt in den USA praktisch jede Diskussion über das verfassungsgerichtliche Tun ihren Ausgang bei der Feststellung, der Supreme Court übe eine prinzipiell undemokratische Tätigkeit aus, die sich gegenüber der insoweit "besseren" Legitimation des Gesetzgebers in besonderer Weise zu rechtfertigen habe. Gerade im Vergleich mit dem deutschen Modell wird klar, daß von einem solchen Ausgangspunkt aus verfassungsgerichtliche Tätigkeit nicht als Betätigungsfeld richterlicher Hermeneutik angesehen und als deren bloße Funktion verstanden werden kann, sondern daß sich eine gerichtliche Aufgabenbestimmung und -begrenzung nur aus der zugewiesenen Kompetenz und deren Einfügung in die gewaltgliedemde Ordnung der Verfassung selbst zu ergeben vermag. Tatsächlich ist denn auch das auffallendste Merkmal des amerikanischen Modells von Verfassungskontrolle, daß es eben diese so gewonnene Funktionsbestimmung als den maßgeblichen Ausgangs- und Orientierungspunkt seiner verfassungsgerichtlichen Interpretationsbemühungen ansieht. Das sehr holzschnittartig beschriebene deutsche Modell, demzufolge die Reichweite der Verfassung den Kompetenzbereich des BVerfG bestimmt, scheint damit für den amerikanischen Fall buchstäblich auf den Kopf gestellt. Im Streit um die angemessene Methode der Verfassungsinterpretation wird der genannte Unterschied besonders deutlich. Die in den USA geführte Auseinandersetzung präsentiert sich nämlich in ihrem Kern nicht eigentlich als ein Ringen um den objektiv "richtigen" Sinngehalt von Grundrechtsnormen, also insbesondere deren "liberales" oder "konservatives" Verständnis, sondern in 37 Vgl. A. Bick.el, Least Dangerous Branch, S. 16; L. Levy, in: L. Levy (Hrsg.), Judicia1 Review (1967), S. 1, 12 ff.; W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1 ff. Für eine interessante Ausnahme vgl. L. Tribe, Constitutional Law, S. 15 ff. (§ 1-9), 61 ff. (§ 3-6). Siehe auch S. Grifjin, 63 S.Cal.L.Rev. 493, 494 f. (1989).

24

Einführung

erster Linie als eine solche um die Rolle, die ein Verfassungsgericht vom Schlage des Supreme Court in einem demokratischen Staatswesen wie den USA legitimerweise spielen sollte. Ganz folgerichtig ist denn auch für diese Debatte "die Vielzahl der in ih(r) verwendeten funktionell-rechtlichen Argumente"38 das eigentlich kennzeichnende Element. Ganz dem entsprechend hat die Haltung der sogenannten "lnterpretivisten" (als der Methoden-Schule, die einer möglichst wortgetreuen, von naturrechtliehen Wertungen freien und eng an den Vorstellungen der Verfassungsschöpfer orientierten Auslegung das Wort redee 9) weniger mit einer bestimmten Vorstellung vom Inhalt der Verfassung, als mit der Funktion des Supreme Court im Konzert der verschiedenen branches of government zu tun: Wer einem Gericht den nur denkbar geringsten Anteil an der Aufgabe der Staatsleitung zuschreiben und diesen statt dessen dem Gesetzgeber reservieren will, ist notwendigerweise geneigt, ein enges Verständnis der Verfassung und eine Anwendung möglichst milder Prüfungsmaßstäbe zu favorisieren. Nichts anderes, nur jetzt mit umgekehrten Vorzeichen, gilt für die sogenannten non-interpretivists, die allesamt ein deutlich extensiveres Auslegungs-Modell unter Verwendung erheblich strengerer Kontrollstandards bevorzugen. 40 Bei aller Unterschiedlichkeit im einzelnen rührt deren Motivation durchgehend daher, daß sie dem Supreme Court einen sehr viel größeren Aufgabenbereich zuweisen wollen, als dies die interpretivists zu tun bereit sind. In der einen oder anderen Form ergibt sich daraus das an die Verfassungsgerichtsbarkeit adressierte Legat, substantiellen, obschon nur sehr vage umschriebenen Verfassungswerten wie Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen. Damit wird deutlich, daß "Kern der amerikanischen Meinungsverschiedenheiten" in Auslegungs- und Interpretationsfragen immer die Frage danach ist, "inwieweit der Supreme Court zu einer solchen Rechtsschöpfung befugt ist"41 oder ob nicht das Gericht sich zu Gunstendes Gesetzgebers eine größere 38 G. F. Schuppert, DVBI. 1988, S. 1191, 1196. Vgl. auch F. Scharpf, Political Question, S. I ff.; K. Stern, StaatsR 111/2, S. 1345 f., FN 522 (§ 91 V 3). 39 Beste Zusammenfassung bei J. Ely, Democracy and Distrust, S. I ff. In deutscher Sprache K. Stern, StaatsR III/2, S. 1640 ff. (§ 95 I 2a); W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 347 ff. jeweils mwN. Kritisch M. Schefer, Konkretisierung von Grundrechten, S. 92 f. (FN 6). 40 Hierzu wiederum J. Ely, Democracy and Distrust, S. 43 ff. sowie K. Stern, StaatsR III/2, S. 1642 ff. (§ 95 I 2a); W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 379 ff. jeweils mwN.

41 So, ohne sich freilich auf die eine oder andere Seite zu schlagen, K. Stern, StaatsR III/2, S. 1639 (§ 95 I 2). Vgl. auch ebd., S. 1345 f. mit FN 522 (§ 91 V 3), 1644 f. (§ 95 I 2): "Verfassungsinterpretation gibt Antwort auf die Frage, ob wichtige gesellschaftliche oder politische Fragen stärker von einer gerichtlichen oder einer politischen lnstitu-

D. Magisches Dreieck: Gericht- Gesetzgeber- Individuum

25

Zurückhaltung aufzuerlegen habe: Je nachdem, wie der jeweilige Interpret "die Rolle des Supreme Court" bestimmt, "verschieben sich auch die funktionellrechtlichen Grenzen" der damit korrespondierenden lnterpretationsmethode.42 Damit soll nicht geleugnet werden, daß es auch in den USA eine überaus lebhaft geführte Debatte um die Methoden der Verfassungsinterpretation gibt. Indes muß man sich immer deren ganz anders gearteten Ausgangspunkt vor Augen halten. Aufgrund einer dem amerikanischen Verständnis eigenen Skepsis gegenüber (verfassungs-)gesetzlich determinierten Rechtsproblemen und infolge einer Orientierung allein an der richterlichen Interpretationsaufgabe wurzeln ihre Lösungen sämtlich in einem bestimmten Funktionsverständnis von Gericht und Gesetzgeber. Die Antwort auf die Frage danach birgt also den Schlüssel für das Interpretationsproblem. Dabei sind die tieferen Gründe dessen weit weniger interessant, als die konkreten Auswirkungen, die dieses Phänomen für die Rechtsprechungstätigkeit des Supreme Court zeitigt. Der Hauptteil der Arbeit wird sich dieser Frage in aller Ausführlichkeit zuwenden.

D. Magisches Dreieck: Gericht- Gesetzgeber- Individuum Nimmt man die beiden, etwas vergröbernd geschilderten Modelle genauer unter die Lupe, ergibt sich, daß sie zwar jeweils zutreffende Aspekte von Verfassungsgerichtsbarkeit beleuchten, daß sie jedoch erst in ihrer Synthese deren eigentliche Problematik voll zu erkennen geben. Ein Beispiel mag das verdeutlichen. So wird über die deutsche, infolge ihrer Wert-Orientierung vergleichsweise ausgreifende Praxis des BVerfG - durchaus zu Recht - gesagt, daß sie "die Geltungs- und Prägekraft der Verfassung verstärkt sowie die Lebensqualität und die Ordnung eines menschenwürdigen Zusammenlebens verbessert"43 und "ganze Lebensbereiche (grund-)rechtlich strukturiert"44 habe; auf diese Weise ist - dem spezifisch deutschenapproachentsprechend-die Bedeutung dieser Rechtsprechung für den Bürger und die Reichweite des ihm durch die Grundrechte gegenüber staatlichen Eingriffen garantierten Freiraums umrissen. Damit allein ist es aber nicht getan; insbesondere ist damit kein Qualitätsurteil über diese Praxis gesprochen. Denn zugleich darf doch nicht übersehen wertion beantwortet werden sollen. Interpretivism und non-interpretivism kulminieren in der Antwort hierauf." Unzutreffend daher C. Rau, Grenzen, S. 135 f. 42 G. F. Schuppert, DVBI. 1988, S. 1191, 1196. Vgl. auch ders., ZUM 1995, S. I, I f.; W Brugger, JöR 42 (1994), S. 571,579 f., 583 ff., 588 ff.

43 H Simon, in: E. Benda u.a. (Hrsg.), Hdb. VerfassungsR (1994), S. 1667 (§ 34, Rdz. 51).

44

A. Rinken, in: AK-GG, Rdz. 53 vor Art. 93.

26

Einführung

den, daß eben diese Praxis "zwangsläufig vermehrte(n) Eingriffsmöglichkeiten des Gerichts in den Verantwortungsbereich anderer Staatsorgane"45 und damit einer Machtverschiebung von der parlamentarisch gesteuerten Demokratie zu einem ungleich schwerer kontrollierbaren "Richterstaat" Vorschub geleistet hat; insoweit ist nun nicht mehr die durch das jeweils betroffene Grundrecht geprägte Staat-Bürger-Beziehung, sondern - ganz dem amerikanischen Modell gemäß- das Verhältnis des BVerfG zum Gesetzgeber, ein Kompetenzaspekt also, angesprochen. Mit gerade umgekehrten Vorzeichen, aber von der Idee her dem genau entsprechend, ließe sich auch eine relativ zurückha/tendere Rechtsprechung in ihren jeweiligen Wirkungszusammenhängen aufschlüsseln. Damit zeigt sich, daß die Adjudikation einer Grundrechtsfrage stets in einem nicht ein- sondern zweidimensionalen, an seinen Eckpunkten von Verfassungsgericht, Gesetzgeber und Bürger gekennzeichneten Kontext steht. Verfassungskontrolle vollzieht sich also de facto und ob dies dell beteiligten Akteuren bewußt ist oder nicht, in einem an seinen Seiten miteinander kommunizierenden "magischen" Dreieck. Das wiederum bedeutet nicht nur, daß ,jede Justierung an dem Kontrollmaßstab ... das funktionell-rechtliche Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung entscheidend verändern kann" 46 und daß, gerade umgekehrt, jede Zuschreibung eines Gestaltungsspielraums an den Gesetzgeber sich auf das materielle Grundrecht und den von ihm gewährten Schutz auszuwirken vermag47, sondern auch, daß der jeweilige Modus von Verfassungskontrolle sowohl von dem einen, durch Gesetzgeber und Bürger einschließlich der sie verbindenden Grundrechte, als auch von dem anderen, durch Gesetzgeber und Verfassungsgericht einschließlich der sie verknüpfenden Funktions- und Kompetenzvorschriften markierten Verhältnis seinen Ausgang zu nehmen und Impulse zu empfangen vermag. Dabei ist offensichtlich, daß die jeweilige Argumentation - von den durch sie generierten Ergebnissen abgesehen - in ganz unterschiedlichen Bahnen verlaufen kann, je nachdem, welchen Ausgangspunkt der einzelne Interpret zur Lösung einer am Maßstab der Verfassung zu lösenden Rechtsfrage wählt und welche Gesichtspunkte er hierbei für erheblich hält. 48 So, wie bisher vorgestellt

45 H Simon, in: E. Benda u.a. (Hrsg.), Hdb. VerfassungsR (1994), S. 1668 (§ 34, Rdz. 52). 46 G. F. Schuppert (Diskussionsbeitrag), VVDStRL 47 0989), S. 97, 97. Ebenso M. Raabe, in: C. Grabenwartee u.a. (Hrsg.), Assistententagung OR (1994), S. 83, 85.

47 M. Raabe, in: C. Grabenwartee u.a. (Hrsg.), Assistententagung ÖR (1994), S. 83, 85 f.; R. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 427; P. Lerche, in: K. Vogel (Hrsg.), Grundrechtsverständnis (1979), S. 24, 40 mit FN 50. 48

Vgl. das Beispiel bei B.-0. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 109 f.

E. Gegenstand und Grenzen der Untersuchung

27

jedenfalls, scheint nach dem deutschen Modell die Kompetenz der Methode, nach dem amerikanischen dagegen eher die Methode der Kompetenz zu folgen. Um dieses Verhältnis von Methode und Kompetenz, von Funktion und Dogmatik sowie von Ursache und Wirkung geht es in der vorliegenden Arbeit: Ihre Hauptaufgabe wird es sein, die im Rahmen der beiden Modelle bisher nur sehr theoretisch beschriebenen Argumentationsstränge aufzuspüren und in ihren praktischen Voraussetzungen und Folgen fiir das deutsche sowie das amerikanische Recht anschaulich zu machen.

E. Gegenstan~ und Grenzen der Untersuchung Selbst noch mit dieser Einschränkung sind Untersuchungen zu Aufgabe und Grenzen von Verfassungsgerichtsbarkeit freilich Legion. Für gerechtfertigt halten kann man den hier gemachten Versuch nur dann, wenn man sich dessen zweifache Besonderheit vor Augen fuhrt: Zum einen bedient er sich - worauf sogleich zurückzukommen sein wird - einer vergleichenden Perspektive, indem er die Praxis eines anderen Gerichts und einer anderen Rechtskultur in die Untersuchung miteinbezieht Zum anderen geht es ihm nicht in erster Linie darum, ein umfassendes Konzept legitimer Verfassungskontrolle auszubreiten, sondern darum, die seitens der Gerichte konkret eingeschlagenen Lösungswege darzustellen und zu vergleichen. Die Aufgabe besteht also darin, festzustellen, vermittels welcher Mittel und Instrumente - Prüfungsmaßstäbe, Vermutungen, Beweislastregeln usw.- sich BVerfG und Stipreme Court eines vor ihnen ausgebreiteten Rechtsstreites in der Sache entledigen. Auf diese Weise soll der Entwicklung eines "funktionsgerechten"49, "die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers respektierenden Instrumentariums"50 Vorschub geleistet werden. Dem liegt die Idee zugrunde, daß erst die ftir das anglo-amerikanische Rechtsdenken typische Fallrechtsmethode das dem kontinentalen Interpretationskanon infolge seiner quasi generalklauselmäßigen Behandlung von Grundrechtsnormen innewohnende Defizit bei der Berücksichtigung der "eigenständige(n) demokratische(n) Legitimation der politischen Verfassungsorgane" zu überwinden vermag.5 1 Noch wichtiger fast als der so gekennzeichnete Untersuchungsgegenstand sind freilich die Beschränkungen, denen er unterliegt. Ausgespart bleiben ne-

49

G. F. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen, S. 38.

50

BVerfDE 39, 1, 72 (Simon, Rupp-v. Brünneck, diss.).

R. Dolzer, Verfassungskonkretisierung, S. VII f. Vgl. auch J Ipsen, Norm und Einzelakt, S. 203 f. 51

28

Einführung

ben den für die Frage der Zulässigkeil einer Verfassungsfrage maßgeblichen Aspekten sämtliche die gerichtliche Rechtsfolgenbestimmung steuernden Gesichtspunkte.52 Auch gegenständlich erfolgt eine Begrenzung insoweit, als es sich bei den im Zusammenhang der untersuchten Gesetze zutage tretenden Prüfungsmaßstäben in erster Linie um solche handelt, die aus dem deutschen Gleichheitssatz oder dem Verhältnismäßigkeitsprinzip bzw. der amerikanischen equal protection- oder due process-clause fließen. 53 Nurmehr am Rande werden Fragen der Meinungsfreiheit mitbehandelt; sämtliche anderen Bereiche bleiben vollends ausgespart. 54 Eine weitgehende Begrenzung der Untersuchung auf Akte des Gesetzgebers55 ergibt sich schließlich daraus, daß gemeinhin das Verhältnis eines Verfassungsgerichts zu gerade diesem Kompetenzträger (und nicht etwa zu den Gerichten, der Exekutive oder der Regierung) als besonders problematisch angesehen wird. Die zweite Besonderheit dieser Untersuchung liegt in der von ihr angebotenen rechtsvergleichenden Perspektive. Sie findet ihr Motiv neben der eingangs beschriebenen methodischen Notwendigkeit vor allem in der Überzeugung, daß prinzipielle Zustimmung zum und Kritik am BVerfG erst durch das Überschreiten des systemimmanenten Kontexts und die Einordnung in einen vergleichenden Zusammenhang strukturierbar werden. So dürfte den zur Besänftigung sei-

52 Zu sämtlichen Formen gerichtlicher Selbst-Beschränkung (auf der "Annahme-", "prozessualen-", "Sach-" und "Tenorierungsebene") - auch rechtsvergleichend - C. Rau, Grenzen ( 1996). Die hier allein interessierende "Sachebene" wird von Rau (ebd., S. 94 ff., 171 ff., 251 ff.) allerdings unter einem anderen Blickwinkel untersucht. 53 Neben pragmatischen Überlegungen - Stofflille! - haben für die Auswahlentscheidung vor allem folgende Aspekte eine Rolle gespielt: 1.) Im amerikanischen Recht lassen sich due process und equal protection weder verfassungshistorisch noch verfassungsfunktionell trennen. Mit dem Glei~hheitssatz und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip sind die nächstliegenden deutschen Aquivalente angesprochen. 2.) Für die beteiligten Rechtsordnungen sind die genannten Prüfungsmaßstäbe qualitativ und quantitativ ~nzweifelhaft am bedeutsamsten; in Teilbereichen ergeben sich zudem AnwendungsUberschneidungen. 3.) Sämtliche genannten Prüfungsmaßstäbe sind sowohl flir eine denkbar "offensive" als auch eine denkbar "defensive" gerichtliche Inanspruchnahme offen. Eben das macht sie vor allem für eine funktionell-rechtliche Betrachtung interessant. Kaum anders M. Schefer, Konkretisierung von Grundrechten, S. 5 ff. 54 Zum amerikanischen Grundrechtsbegriff (.. constitutional rights and liberties ", "civil rights") W: Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 22 f.; H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, S. 199; T. Giegerich, Privatwirkung, S. 39 ff. 55 Ebenso E.-W: Böckenförde, NJW 1999, S. 9, 10.- Wege zu einer Gesetzesprüfung sind in Deutschland die konkrete oder abstrakte Nonnenkontrolle und die Verfassungsbeschwerde - unmittelbar oder mittelbar (über die Urteils-Verfassungsbeschwerde) gegen ein Ge.~etz. Zum Ganzen K. Schlaich, BVerfG, Rdz. 113. In den USA handelt es sich bei der Uberprüfung eines Gesetzes stets um einen Fall konkreter, inzidenter Normenkontrolle, vgl. E.-W: Böckenförde, NJW 1999, S. 9, 14 f. - Rechtsvergleichend zu den Zugangsvoraussetzungen für den Bürger J Wieland, AöR 29 (1990), S. 333 ff.

E. Gegenstand und Grenzen der Untersuchung

29

ner Kritiker dienenden Hinweisen darauf, daß die Entscheidungen des BVerfG "im Ganzen Zustimmung verdienen"56, daß das Gericht sich "immer wieder und mit Erfolg bemüht ha(be), die Eigenverantwortung der anderen Staatsorgane in ihren Funktionsbereichen zu respektieren" 57 und daß es "den Kompetenzbereich der anderen Verfassungsorgane ... gewahrt" 58 habe, ohne den erfolgreichen Nachweis, daß in einem anderen Land ceteris paribus nicht ein noch weiterreichender Respekt zu verzeichnen ist, kaum die erwünschte Wirkung beschieden sein. 59 Hier bietet sich gerade die amerikanische als eine von der deutschen in vielerlei Hinsicht zum Vorbild genommene60 Verfassungspraxis zum Vergleich an. Dabei geht die Untersuchung davon aus, daß sich allen prozessualen, institutionellen und materiell-rechtlichen Unterschieden zum Trotz das deutsche und das amerikanische System prinzipiell durchaus vergleichen lassen. Ignoriert werden insoweit insbesondere Tendenzen, der Tätigkeit des Supreme Court die Qualität als Verfassungsrechtsprechung abzustreiten oder jedenfalls das Gericht seiner Einbindung in die gewöhnliche Hierarchie der Bundesgerichte wegen 61 , als ein Verfassungsgericht irgendwie "minderen", jedenfalls unvergleichbaren Zuschnitts62 anzusehen. 63 Aus einer umfassenden funktionellen 56 W. Heun, Funktionell-rechtliche Schranken, S. II. Ähnlich K. Schiaich (Diskussionsbeitrag), VVDStRL 39 (1981), S. 208, 209. Vgl. aber auch K. Korinek, in: K. Vogel (Hrsg.), Normenkontrolle (1979), S. 87, 87. 57

H. Simon, in: E. Benda u.a. (Hrsg.), Hdb. VerfassungsR (1994), S. 1668 (§ 34,

Rdz. 52). 58

K. Stern, StaatsR III/2, S. 1346 (§ 91 V 3).

59

Vgl. K. Stern, Grundideen, S. 34 f. mit FN I 02.

Vgl. W. Geiger, BVerfGG, S. XVII; R. Dolzer, Stellung, S. 16 f., 27 ff., 32 f., 38 f.; B. Pieroth, NJW 1989, S. 1333, 1337; H. Steinberger, in: K. Stern (Hrsg.), 40 Jahre Grundgesetz ( 1990), S. 41 , 53, 64 ff. 60

61 Vgl. zu dieser Unterscheidung zwischen "diffuser" und "konzentrierter" Art der Normenkontrolle bereits C. Schmitt, Hüter der Verfassung, S. 18 mit FN 3; ders., in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 63, 82 ff. et passim.

62 So aber apodiktisch C. Gusy, Gesetzgeber, S. 15; D. Merlen, DVBI. 1980, 773, 779. AusfUhrlieh und dezidiert im Vergleich zur Weimarer Praxis bereits C. Schmitt, Hüter der Verfassung, S. 12 ff., 18 f. Vgl. auch K. Vogel, BVerfG, S. 5 f., 27 ff.; E. Friesenhahn, in: Frhr. v. Stein-Gesellsch. (Hrsg.), Cappenberger Gespräch (1980), S. 56, 57 f. 63 Im wesentlichen wie hier C. Rau, Grenzen, S. 246 ff. ; F.-C. Zeit/er, Völkerrechtlicher Vertrag, S. 87; W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 2 (mit FN 4), 3; H. Lechner I R. Zuck, BVerfGG, Ein!. Rdz. 9; R. Dolzer, Veti!ISsungskonkretisierung, S. 15 f.; A. Rinken, in: AK-GG, Rdz. 8 vor Art. 93; R. Katz, DOV 1954, S. 97, 101 f.; H. Steinberger, Amerikanische Bundesverfassung, S. 37 f.; K. Grasmann, BVerfG und Supreme Court, S. 84 f. Ebenso wohl auch B.-0. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 99 f., 108; G. Casper, 53 S.Cal.L.Rev. 773, 781 f. (1980). Vgl. auch H.

30

Einführung

Perspektive betrachtet, die sich an den gerichtlicherseits zu erfüllenden Aufgaben orientiert, besteht jedenfalls kein Anlaß, ftlr den soeben umrissenen Untersuchungsgegenstand auf eine vergleichende Betrachtung zu verzichten. In Einzelfragen bestehende Unterschiede werden damit keinesfalls geleugnet.

Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, S. 461 ff. Zur (vernachlässigten) Bedeutung der Rechtsvergleichung bei der Verfassungsinterpretation M. Sachs (Hrsg.) IM. Sachs, GG, Einf. Rdz. 44 mwN. Einen Vergleich mit dem Supreme Court stellt das Gericht selbst an in BVerfGE 2, 76, 86. Zu den lmplikationen dieser Entscheidung R. Dolzer, Verfassungskonkretisierung, S. 16, FN 28.

Erster Teil

Die Grundlagen der Kontrolle legislativer Akte durch Supreme Court und BVerfG Die Frage nach der Reichweite des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums ist untrennbar verknüpft mit der Frage nach der Korrektur-Befugnis des zu seiner Überprüfung berufenen Kontrollorgans. Diese Befugnis wiederum ist zunächst einmal abhängig davon, inwieweit ein Verfassungssystem einem Gericht überhaupt die Möglichkeit der Normenkontrolle einräumt. Ohne einen Blick auf die normativen Grundlagen des richterlichen Prüfungsrechts bleibt jeder Eindruck seiner praktisch-konkreten Inanspruchnahme und damit notwendig auch der Reichweite des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums unverständlich. Im folgenden wird daher die Frage im Mittelpunkt stehen, ob überhaupt und, wenn ja, welche Vorentscheidung die je eigene Fundierung der gerichtlichen Kontrollbefugnis für Supreme Court und BVerfG im Hinblick auf den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers mit sich bringt.

A. Die Rechtslage in den USA Das amerikanische Recht enthält weder in seiner Verfassung noch in seinen Gesetzen eine ausdrückliche Bestimmung des Inhalts, seine Gerichte sollten Akte anderer Verfassungsorgane, insbesondere des Bundes- oder eines StaatenGesetzgebers überprüfen; erst recht fehlt naheliegenderweise eine Anordnung, wie weit eine solche Befugnis reichen würde. 1 Der Bundesverfassung ist zu1 Zu beachten ist, daß das amerikanische Verfassungsrecht, wie bereits erwähnt, nur ein akzessorisches (= Inzident-)Prüfungsrecht kennt, W. Haller, Supreme Court und Politik, S. 135 f.; P. Kauper, 58 Mich.L.Rev. 1091, 1169 (1960); ders., in: H. Mosler (Hrsg. ), Verfassungsgerichtsbarkeit ( 1962), S. 568, 61 0 ff., 615 f., 620, 629; B. Kroll, JuS 1987, S. 944, 946. Unklar daher C. Egerer, ZVgiRWiss 88 (1989), S. 416, 425 ff. Wenn in der Folge gesagt wird, der Supreme Court habe (z.B.) "ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt" (anstatt: "ein Gesetz - nur - im Zusammenhang des konkreten Streitfalles ftir nicht anwendbar erklärt"), ist diese Einschränkung mitzubedenken. Grund für die terminologische Nachlässigkeit ist, daß - nicht anders als in Deutschland"im Mittelpunkt der ... Verfassungsrechtsprechung des Supreme Court .. . nicht der konkrete Streitfall und sein Ergebnis (steht), sondern die incidenter-Entscheidung der Verfassungsfrage, ihr Beitrag zur Entwicklung des Verfassungsrechts im allgemeinen

Erster Teil: Grundlagen der Kontrolle legislativer Akte

32

nächst nur zu entnehmen, daß der Rechtsweg jedenfalls dann zum Supreme Court führen kann, wenn eine ihrer Nonnen oder eine nachrangige bundesrechtliche Vorschrift entscheidungserheblich ist, Art. 111 Sec. 2 Constitution. Weitere Hinweise sind weder in der Verfassung noch in einfachen Bundesgesetzen enthalten. Trotzdem kann heute nicht ernstlich bezweifelt werden, daß judicial review eine ebenso anerkannte wie praktisch wirksame Realität des amerikanischen Verfassungslebens ist. 2 Der Grund daftlr trägt den Namen des berühmtesten amerikanischen Rechtsfalles, "Marbury v. Madison".3 In dieser bahnbrechenden Entscheidung, untrennbar mit dem Namen ihres Schöpfers, Chief Justice John Marshall4 , verknüpft, hat der Supreme Court entschieden, daß Gerichte über die Autorität verfUgen, Akte des (zunächst allerdings nur: Bundes5-) Gesetzgebers auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung zu überprüfen. 6 Das Hauptaugenmerk gilt freilich nicht vorwiegend diesem Aspekt von judicial review, sondern der Reichweite und den Grenzen seiner Ausübung in der vom Supreme Court geübten Praxis. "Marbury v. Madison" auch unter diesem Aspekt zu betrachten, ist sinnvoll allerdings nur dann, wenn man sich zuvor kurz den damals zu entscheidenden Rechtsfall und seine originäre Bedeutung vergegenwärtigt.

und zur verfassungsrechtlichen Doktrinenbildung im besonderen" (so treffend H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, S. 460.) Ebenso F. Scharpf, 75 Yale L.J. 517, 523 f.

(1966). 2

Vgl. für viele E. Rostow, 33 Notre Dame Law. 573, 576 (1958).

3

Marbury v. Madison, 5 U.S. (I Cranch) 137 (1803).

John Marshall (*1755, + 1835) war der vierte und berühmteste Chief Justice des Supreme Court. Bereits während seiner 34 Dienstjahre hat er sich einen unsterblichen Ruf erworben. Er gehört noch heute zu den verehrtesten Persönlichkeiten Amerikas. Zur aktuellen Einschätzung vgl. die Übersicht bei L. Epstein u.a., Compendium, Tabelle 5-8 ("Justices rated 'great"'): Marshalls Name wird in allen Studien genannt. -Mit der Bezeichnung Marshalls als "Schöpfer" von "Marbury" wird dessen unbestrittene geistige Urheberschaft gekennzeichnet. Die Entscheidung erging gleichwohl mit den Stimmen aller (damals sechs) Richter. 4

5 Die Erstreckung der Prüfungskompetenz auf Akte der Einzelstaaten erfolgte mit Fleteher v. Peck, 10 U.S. (6 Cranch) 87 (1810), Martin v. Hunter's Lessee 14 U.S. (I Wheat.) 304 (1816) und Cohens v. Virginia 19 U.S. (6 Wheat.) 264 (1821).- Die erste Verwerfung eines Aktes der Bundesgewalt nach "Marbury" kam erst wieder 1857, in Dred Scott v. Sandford, 60 U.S. (19 How.) 393 (1857), vor. 6

Rein machtpolitische Deutung dieses Urteils bei B. Maaßen, Supreme Court,

s. 95 ff.

A. Die Rechtslage in den USA

33

I. "Marbury v. Madison"- Rechtfertigung vonjudicial review

1. Die Fakten7

"Marbury v. Madison", ein politisch hochbrisanter Fall, berührt mit der Auseinandersetzung zwischen den "Föderalisten" als den Anhängern der neuen Verfassung und Verfechtern einer ausgeprägten Bundesgewalt und ihren der Idee der Dezentralisation anhängenden Widersachern, den "Republikanern", ein Herzstück frühester US-amerikanischer Geschichte. 8 Die Umstände des Falles lagen wie folgt: Kurz bevor der damalige Präsident der Vereinigten Staaten, John Adams, im Frühjahr 1801 sein Amt wegen der von ihm erlittenen Wahlniederlage aufgeben mußte, hatte er eilig noch 42 neue Friedensrichter für den District of Columbia ernannt. Die meisten von ihnen waren, wie er, Föderalisten und eingesetzt in der Hoffnung, daß sie die befürchteten Neuerungen der republikanischen Administration des designierten Präsidenten Jefferson mildern würden. Einer dieser sogenannten "midnight judges" war der spätere Kläger, William Marbury. Den Ernennungen durch Adams folgte in aller Eile - genau einen Tag vor Jeffersons Amtsübernahme - die Bestätigung durch den Senat. Die Aushändigung der Ernennungsurkunden dagegen, das i-Tüpfelchen des ganzen Verfahrens, konnte in der Hektik der Amtsübergabe nicht mehr in allen Fällen pünktlich vollzogen werden. Genau dies nachzuholen aber weigerte sich aus verständlichen Gründen Jeffersons hierfür zuständiger Außenminister, James Madison, der spätere Beklagte. Ende 1801 erhob Marbury Klage unmittelbar zum Supreme Court mit dem Ziel der sofortigen Aushändigung der Emennungsurkunde. Erst 1803 allerdings, infolge einer vom inzwischen republikanisch dominierten Kongress beschlossenen Änderung des Geschäftsablaufs beim Gericht, konnte der Supreme Court den Fall hören und entscheiden. 2. Die Gerichtsentscheidung und ihre Argumente

Um Marburys Begehr zu entsprechen, hatte der Supreme Court im wesentlichen drei Hürden zu überwinden, wobei er sich mit den ersten beiden nicht sonderlich schwer tat. Die Frage danach, in welchem Zeitpunkt aus einem blo-

7 Für Einzelheiten siehe R. Clinton, Marbury v. Madison, S 81 ff.; W van Alstyne, 1969 Duke L.J. 1, 3 ff.; K. Carstens, Amerikanische Verfassung, S. 94 ff.; E. Klein, ZaöRV 34 (1974), 83,85 ff.

8 Zusammenfassung der verschiedenen Positionen bei G. Stone u.a., Constitutional Law, S. 5 ff.

3 Simons

34

Erster Teil: Grundlagen der Kontrolle legislativer Akte

ßen Kandidaten fiir ein Richteramt ein Richter werde und demnach also auch ein Anspruch auf Aushändigung der Ernennungsurkunde bestehe, beantwortete das Gericht damit, daß es auf den Zeitpunkt der SiegeJung der Urkunde durch den Außenminister (die in Marburys Fall bereits stattgefunden hatte9) ankomme. 10 Der zweiten Frage, schon etwas komplizierter, nämlich danach, ob dem in seinen Rechten verletzten Marbury auch irgendein Rechtsbehelf zur Seite stehe, entledigte sich Marshall mit dem Hinweis darauf, daß es ein "government of laws" auszeichne, Rechtsübertretungen nicht ohne Kompensation zu lassen, und zwar selbst dann nicht, wenn es sich bei den Beteiligten um öffentliche Beamte und bei dem Rechtsstreit somit um eine "politische" Angelegenheit handele. 11 Nachdem Marburys Fall diese beiden Hürden genommen hatte, kam er bei der dritten und schwierigsten Frage schließlich doch noch ins Straucheln. Hier ging es darum, ob der Kläger gerade vom Supreme Court genau den Rechtsbehelf bekommen konnte, den er beantragt hatte, einen sog. writ of mandamus nämlich. Das schien nach Abschnitt 13 des Judiciary Act von 1789, auf den sich Marbury gestützt hatte, eine zumindest vertretbare 12 Interpretation zu sein, der sich das Gericht insoweit auch noch anschloß. Sie nützte dem Kläger aber deshalb nichts, weil Marshall die Vorschrift als mit Art. III Sec. 2 Constitution unvereinbar und deshalb fiir unanwendbar erklärte. 13 Dabei war sich Marshall sehr wohl bewußt, daß nicht die konkrete Ungültigerklärung (die im Ergebnis der verklagten republikanischen Administration ja von Nutzen war 14) sondern die Inanspruchnahme der richterlichen Prüfungsmacht der eigentlich heikle Punkt seiner Entscheidung war. Um auch insoweit Gefolgschaft zu fmden, mußte er vor allem zweierlei unter Beweis stellen: Zum 9 Die Ernennungsurkunden waren pikanterweise noch unter Marshalls Ägide als Außenminister ausgefertigt worden, und zwar zu einer Zeit als er (während etwa eines Monats) gleichzeitig (noch) Außenminister und (schon) Chief Justice war. Marshalls Bruder waren die Auslieferungen anvertraut. - Aus der Tatsache, daß sich Marshall in "Marbury" nicht wie bei anderer Gelegenheit (etwa in Martin v. Hunter's Lessee, 14 U.S. (1 Wheaton), 304 (1816)) für befangen erklärte, wird für gewöhnlich geschlossen, daß er den Fall entscheiden wollte, vgl. W van Alstyne, 1969 Duke L.J. 1, 8. 10

II

Marbury v. Madison, 5 U.S. (1 Cranch) 137, 155-162 (1803).

Ebd., s. 162-173.

Gleichwohl hätte Marshall einer anderen Interpretation den Vorrang geben und die Verfassungsfrage damit vermeiden können, vgl. W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 6 f.; ders., Einführung, S. 8. 12

13

Marbury v. Madison, 5 U.S. (1 Cranch) 137, 162 ff. (1803).

Vgl. G. Gunther, Constitutional Law, S. 11 ; J Nowak / R. Rotunda, Constitutional Law, S. 2 f. (§ 1.2) weisen darauf hin, daß gegen Marshall im Falle des Obsiegens Marburys wohl ein Impeachment-Verfahren begonnen worden wäre. 14

A. Die Rechtslage in den USA

35

einen den (noch relativ einfach zu begründenden) Vorrang der Verfassung gegenüber allem anderen Recht, zum anderen die (schon sehr viel schwerer zu legitimierende) Befugnis gerade der Gerichte, einen solchen Vorrang zur Geltung zu bringen. Der Bedeutung dieser Fragen entsprach Marshalls argumentativer Aufwand. Im Kern meinte er, sich vor allem auf fünf, im Wege textlicher15, systematischer und historischer Verfassungsinterpretation zutage geförderte16 Gesichtspunkte stützen zu können: Zunächst sei eine Verfassung nutzlos, wenn sie sich nicht gegen widersprechende Rechtsvorschriften niederen Ranges durchsetze; weiterhin sei es originäre Aufgabe von Gerichten, Rechtsvorschriften auszulegen und zu deuten und also auch Verfassungsstreitigkeiten zu entscheiden; darüber hinaus seien die Richter durch Ableistung eines Amtseides auf die Beachtung der Verfassung verpflichtet; und schließlich betone die Verfassung selbst die Bindung der Gerichte in Art. III Sec. 2 Constitution und enthalte in Art. VI Satz 2 Constitution zudem eine VorrangklauseL 3. Bedeutung

"Marbury v. Madison" wird heute nicht nur als die maßgebliche Autorität in Sachen richterliches Prüfungsrecht, sondern als einer der Grundpfeiler des amerikanischen Verfassungsrechts und seine bedeutendste Entscheidung überhaupt angesehen. 17 Dabei war das in dem Fall aufgeworfene Sachproblem weder theoretisch noch praktisch neu; obwohl Marshall vollständig darauf verzichtete, seine tragenden Überlegungen auf anerkannte Autoritäten zu stützen 18, hätte er dazu zweifellos ausreichend Gelegenheit gehabt. Auch handelte es sich keineswegs um die erstbeste Möglichkeit der Überprüfung eines vom Kongress verabschiedeten Gesetzes durch den Supreme Court. 19 "Marbury v. Madison" war aber 15 Beachte aber, daß Marshall (ebd., S. 178) dem Text der Verfassung nur sekundäre Bedeutung zumißt ("peculiar expressions ofthe constitution ofthe United States fumish additional arguments").

16 Zum folgenden W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 5 ff. ; ders., Einflihrung, S. 7 ff. 17 Ganz im Widerspruch übrigens zu der Gleichgültigkeit, mit der Zeitgenossen damals auf ihre Veröffentlichung reagiert haben, vgl. A. Beveridge, Life ofMarshall, Band 3, S. 153. Siehe auch R. Clinton, Marbury v. Madison, S. 102 f. A.A. offensichtlich C. Warren, Supreme Court, Bd. 1, S. 243 f. Vgl. auch W van Alstyne, 1969 Duke L.J. I, 16; E. Klein, ZaöRV 34 (1974), 83, 106 f.

18

AusfUhrlieh zu Vordenkern Marshalls E. Klein, ZaöRV 34 (1974), 83, 88 ff.

Die Verfassungsmäßigkeit eines Bundesgesetzes war bereits Gegenstand von Hylton v. United States, 1 U.S. (3 Dall.) 150 (1796) gewesen. Bereits in dieser Entscheidung nahm das Gericht, zumindest implizit, die Befugnis zur Normenkontrolle in 19

3*

36

Erster Teil: Grundlagen der Kontrolle legislativer Akte

die erste Entscheidung, deren zentrale Rechtsfrage - wie hat ein Bundesgericht zu verfahren, wenn Bundesrecht mit der Verfassung kollidiert? - 1.) vom Supreme Court20, 2.) positiv im Sinne a.) eines Vorranges der Verfassung und b.) einer Entscheidungs-Zuständigkeit der Gerichte entschieden wurde. 21 Bis heute unentschieden ist indes die Debatte darüber, ob den von Marshall angezogenen Argumenten wirklich das Maß an Überzeugungskraft eigen ist, das sie angesichts der Bedeutung des diskutierten Problems haben sollten. Der generellen Hochschätzung der Marshallsehen Entscheidung hat dies freilich keinerlei Abbruch getan. Dennoch ist darauf sogleich noch einmal :zUrückzukommen. Will man ein in diesem Zusammenhang abschließendes Urteil über "Marbury v. Madison" treffen22 und seine Bedeutung fiir das amerikanische Verfassungsrecht beschreiben, so liegt diese offenbar "weniger in der interpretatorischen Überzeugungskraft der Argumente als in der Findigkeit und Schläue, mit der John Marshall dem erheblichen Druck von seiten der Legislative und Exekutive nachgab und den Anspruch von Marbury abwies, gleichzeitig aber die verfassungsgerichtliche Prüfungs- und Verwerfungskompetenz gegenüber Akten der Bundesgewalt verankerte. " 23 Schließt man sich dem an, geht freilich kaum ein Weg daran vorbei, "Marbury v. Madison" eine "politische" Entscheidung und ihren Schöpfer, John Marshall, einen richterlichen Revolutionär zu nennen. 24

Anspruch. Allerdings erfolgte dort, anders als in "Marbury", keine Erklärung der Verfassungswidrigkeit. Zu weiteren Fällen vgl. E. Klein, ZaöRV 344 (1974), 83, ?.1 ff., 103 ff.; D. Currie, Constitution in the Supreme Court, S. 69 f. (dort auch zu den Außerungen in Hamiltons Federalist No. 78, auf die sich Marshall hätte berufen können). 20 Von einem Federal Circuit Court war ein Akt des Kongress' für verfassungswidrig erklärt worden in Hayburn's Case, 2 U.S. (2 Dall.) 409 (1792). 21 Zum Ganzen gru~dsätzlich abweichend R. C/inton, Marbury v. Madison, S. I mit der für die Praxis der Uberprüfung bedeutenden These, es handele sich um einen "Mythos", der Entscheidung die im Text genannte Bedeutung beizumessen. Tatsächlich besage der Fall nur "that federal courts are entitled to invalidate acts of coordinate branches of government only when to allow such acts to stand would violate constitutional restrictions on judicial power, not on legislative or executive power." Dezidiert dagegen aber W van Alstyne, 1969 Duke L.J. I, 34 ff., 35. 22 Detaillierte Analyse von Stärken und Schwächen der Argumente Marshalls, vor allem im Hinblick auf die Etablierung von judicial review bei W van Alstyne, 1969 DukeL.J., I, 16ff. 23 W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 9. Ähnlich F. Scharp[, Political Question, S. 5; E. Corwin, 12 Mich.L.Rev. 538, 543 (1914); R. McCloskey, Supreme Court, S. 41 f. 24 Vgl. A. Bickel, Least Dangerous Branch,.. S. I. Siehe auch 0. Holmes, Legal Papers, S. 295 f. Vgl. hierzu im Hinblick auf die Uberprüfung von Staatengesetzen aber L. Tribe, Constitutional Law, S. 13, FN 7 mwN.

A. Die Rechtslage in den USA

37

II. "Marbury v. Madison"Reichweite und Grenzen vonjudicial review "Marbury v. Madison" hat seine primäre und ganz unbestrittene Bedeutung in der Etablierung gerichtlicher Kontrolle über Akte des Gesetzgebers. Marshalls Argumente klingen freilich stärker als sie es tatsächlich sind. Diese Unsicherheit hat "Marbury v. Madison" bis heute zu einem Lieblingsobjekt der amerikanischen Rechtswissenschaft gemacht. Der Schwerpunkt der Betrachtung allerdings hat sich gewandelt. Angesichts hunderter vom Supreme Court fiir nichtig erklärter Bundes- und Staatengesetze kann heute sinnvollerweise die Frage nicht mehr lauten, ob judicial review eine gerechtfertigte Praxis des amerikanischen Verfassungslebens ist, sondern bis zu welchem Grad die Inanspruchnahme einer solchen gerichtlichen Kompetenz sinnvoll und verfassungsrechtlich legitimierbar ist. Das ist zugleich, nur in anderem Gewande, die Frage nach dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Gemeinhin wird auch in diesem Punkt "Marbury v. Madison" eine erhebliche Bedeutung beigemessen. So spricht Gunther keinesfalls fiir sich allein, wenn er erklärt, daß er "Marbury" auch heute noch fiir "very much alive" halte. "lt rests on reasoning significant for the contemporary exercise of judicial power."25 War also Marshall ein "Aktivist" auch in dem Sinn, daß er nach seinen Vorstellungen vonjudicial reviewdem Supreme Court einen weiten Spielraum bei der Auslegung der Verfassung zuzuweisen bereit gewesen wäre? Hätte er vielleicht sogar zugestimmt dazu, daß "whoever hath an absolute authority to interpret any written or spoken law, it is he who is truly the lawgiver, to all intents and purposes, and not the person who first spoke or wrote them"?26 Oder muß Marshall, der Begründer des gerichtlichen Prüfungsrechts, auch gleichzeitig als der erste Mahner zur Zurückhaltung und damit als der populärste restraintist des Supreme Court angesehen werden? Marshall selber hat sich hierzu in "Marbury" nicht ausdrücklich geäußert der Fall bot dazu keinen unmittelbaren Anlaß. Trotzdem liefern die Entscheidung selbst einschließlich der sich um sie rankenden Diskussionen (1.) sowie andere Äußerungen Marshalls (2.) Anhaltspunkte fiir eine weitergehende Analyse.

25 G. Gunther, Constitutional Law, S. I (2, 18 et passim). Vgl. Ebenso P. Bobbitt, Constitutional Fate, S. 191. A.A. offensichtlich J Choper, Judicial Review, S. 63 . 26 Der Ausspruch (hier zitiert nach R. Clinton, Marbury v. Madison, S. 7), ein geflügeltes Wort des amerikanischen Verfassungsrechts, stammt von dem englischen Bischof Hoadley aus einer Ansprache an seinen König im Jahr 1717.

Erster Teil: Grundlagen der Kontrolle legislativer Akte

38

1. Die Absichten der Verfassungsväter und der Verfassungstext

Wie angesichts der dünnen normativen Grundlage kaum anders zu erwarten, ist in der amerikanischen Literatur erhebliche Mühe darauf verwendet worden nachzuweisen, daß sich Marshalls Schlußfolgerungen in "Marbury" weder ausdrücklich- was unbestritten ist- noch im Wege impliziter Schlußfolgerung aus der Verfassung herleiten lassen?7 Dabei setzt die Kritik weniger am "Vorrang"-Konzepe8 als an der Frage der Prüfungs- und Verwerfungsbefugnis gerade des Supreme Court an. Denn wie das Vorbild nicht nur des englischen Mutterlandes zeigte, war es keinesfalls selbstverständlich, gerade einem Gericht das letzte Wort in streitigen Verfassungsfragen zuzuschreiben, und zwar ganz unabhängig von der Existenz einer geschriebenen Verfassung?9 Zumindest theoretisch denkbar wäre auch gewesen, diese Aufgabe der Legislative zu überlassen, einer Instanz, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts geradezu als der Garant bürgerlicher Freiheiten angesehen wurde oder aber, was besonders in Amerika nahelag, dem Präsidenten als einer unabhängigen und vom ganzen Volk legitimierten Stelle. Und selbst wenn es der Supreme Court gewesen wäre, der nach dem Willen der Verfassungsschöpfer die Kontrollfunktion hätte wahrnehmen sollen, so hätte sich diese doch auf eine bloß formal-prozedurale anstelle der vom Gericht in Anspruch genommenen substantiell-inhaltlichen Überprüfung beschränken können. Kaum geringerer Einsatz ist freilich von der anderen Seite aufgebracht worden, um das genau gegenteilige Ergebnis zu stützen, also den Nachweis einer ausreichenden verfassungsrechtlichen Grundlage fiir eine Inanspruchnahme des richterlichen Prüfungsrechts zu liefem.30 Diese noch heute spürbare Auseinandersetzung ist indes nicht nur von historischer Bedeutung, sondern gerade auch im hier behandelten Zusammenhang von Interesse. Das wird klar, wenn man sich die an die jeweiligen Positionen üblicherweise geknüpften Schlußfolgerungen vor Augen hält: Ließe sich eine genügend fundierte Begründung schon fiir die Legitimität eines richterlichen Prüfungsrechtes unmittelbar in der Verfassung oder zumindest in den Vorstellungen der Verfassungsschöpfer finden, wäre auch leichter zu begrün27

Vgl. nur L. Hand, Bill ofRights, S. 1 ff.

Hier liefert die "Suprematsklausel" (Art. VI Satz 2 Constitution) die Rechtfertigung aus der Verfassung. Siehe zu abweichenden Deutungen aber auch W. van Alstyne, 1969 Duke L.J. 1, 20 f. 28

29 Zeitgenössische Beispiele bei D. Currie, Constitution in the Supreme Court, S. 71 mit FN 49; W. van Alstyne, 1969 Duke L.J. 1, 17 ff. 30 H Wechsler, 73 Harv.L.Rev. 1, 3 ff. (1959). Gegen diesen A. Bickel, Least Dangerous Branch, S. 11 f. ; L. Tribe, Constitutional Law, S. 23 f. (§ 3-2).

A. Die Rechtslage in den USA

39

den, daß den Gerichten bei dessen Ausübung eine herausgehobenere Stellung eingeräumt ist; offensichtlich wären dann sie vor allen anderen berufen, die verfassungsmäßigen Rechte zu schützen.31 Demgegenüber müßte der fehlende Nachweis entsprechender Vorstellungen mit zwingender Notwendigkeit die gerade umgekehrte Schlußfolgerung nach sich ziehen. Leamed Hand etwa läßt eine solche Haltung zum richterlichen Prüfungsrecht erkennen: "Since this power is not a logical deduction from the structure of the Constitution but only a practical condition upon its successful operation", kann man bei ihm lesen, "it need not be exercised whenever a court sees, or thinks that it sees, an invasion of the Constitution. It is always a preliminary question how importunately the occasion demands an answer." 32 Der Streit braucht hier allerdings nicht entschieden zu werden. Wichtiger ist, daß und wie er in den USA geführt wird. Im Ergebnis durchgesetzt hat sich inzwischen die Meinung, daß im Hinblick auf die Legitimität vonjudicial review der Wille der Verfassungsväter keinen genügend klaren Ausdruck in der Verfassung gefunden habe. 33 Das ändert freilich nichts daran, daß manjudicial reviewfür mit der Verfassung vereinbar halten kann und daß Marshalls Argumente hierzu einige Überzeugungskraft besitzen34, nimmt aber den Verfechtern einer herausgehobenen Stellung des Supreme Court ebenso die Argumente aus der Hand wie den Befürwortem einer restriktiven Kontrollpraxis. Denn wenn der historische Rückblick nichts Greifbares hinsichtlich der Legitimität von judicial review hergibt, ist es unnötig, sich dieser Quelle für das sich daran anschließende Problem seiner Reichweite und Grenzen zuzuwenden. Daß die Verfassung hierzu unmittelbar, also ohne Rekurs auf ihre Geschichte, eine genügend klare Antwort böte, hatte ohnehin niemand behauptet.35

31

A.A. offenbar J. Choper, Judicial Review, S. 63.

L. Hand, Bill ofRights, S. 15. -J. Frank, 24 U.Chi.L.Rev. 668 (1956/57) berichtet, daß Learned Hand, selbst hoher Bundesrichter, außer in einem Fall von Präjudizienbindung, nicht ein einziges Bundesgesetz aus anderen als formellen Gründen für verfassungswidrig erklärt habe. 32

33 Sorgfältige Zusammenfassung der "histoxischen" Argumente bei L. Levy, in: L. Levy (Hrsg.), Judicial Review (1967), S. I ff. Uberblick auch bei B. Maaßen, Supreme Court, S. 31 ff.; R. Mann, JA 1989, S. 72, 73 f. 34 Gleiche Bewertung bei W van Alstyne, 1969 Duke L.J. I, 29; W Brugger, Einfiihrung, S. 9 f. Vgl. auch A. Bickel, Least Dangerous Branch, S. l.

35 Überblick zum Ganzen bei G. Gunther, Constitutional Law, S. 13 ff.; J. Nowak/ R. Rotunda, Constitutional Law, S. 13 f. (§ 1.4(c)); E. Wolf, Verfassungstreue, S. 6 ff.; L. Levy, in: L. Levy (Hrsg.), Judicial Review (1967), S. l ff. Dort auch (S. 4) dasjudicial reviewbetreffende Zitat von E. Corwin vor dem Justizausschuß zum "Court Packing-Pian" 1937: "The people who say the framers intended it are talking nonsense

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Erster Teil: Grundlagen der Kontrolle legislativer Akte

2. Marshalls Verständnis vonjudicial review Von dieser verbreitetsten Form, "Marbury v. Madison" im Sinne der Reichweite und Grenzen des richterlichen Prüfungsrechts zu instrumentalisieren abgesehen, besteht freilich noch eine zweite Methode, die Bedeutung der Entscheidung auch in dieser Hinsicht festzustellen, nämlich die Analyse der von Marshall selbst verwendeten Worte und der in ihnen zum Ausdruck gebrachten Idee vonjudicial review.36 Solches Vorgehen gründet sich auf die Annahme, daß ein Richter vom Format Marshalls seinen Fall nicht nur ad hoc entschieden sondern ihm zugleich ganz unabhängig davon, was die Absichten der jeweiligen Verfassungsschöpfer gewesen sein mögen - eine bestimmte Vision der Ausübung gerichtlicher Kontrolle legislativer Akte unterlegt haben muß. Angesichts der enormen Reputation, die Marshall als Jurist noch heute genießt, vor allem aber angesichts des filr die Etablierung von judicial review in einem Fallrechts-System nach wie vor maßgeblichen Präjudizes "Marbury v. Madison", kann eine solche Vision nicht unbeachtet bleiben. Dabei ist eine der in diesem Zusammenhang zentralen Fragen, ob Marshall die Tätigkeit der Gerichte bei der Entscheidung auch verfassungsrechtlicher Komplexe als deren spezielle Aufgabe ansah oder nur als ein mehr oder weniger "zufälliges Nebenprodukt"37 allgemeiner richterlicher Tätigkeit. Im ersten Szenario scheint ein Gericht offenbar sehr viel eher autorisiert, für sich eine besonders weitreichende Kontrollkompetenz in Anspruch zu nehmen als im zweiten Fall, wo sich die Befugnis quasi nur "von selbst" ergibt. Während das Gericht hier also kaum mehr als bloß die Gelegenheit zur Kontrolle hat, verfUgt es dort über das Amt und die Autorität dazu. Aus anderer Perspektive - der des Gesetzgebers - betrachtet, vergrößert sich im ersten Fall sein Gestaltungsspielraum bei verminderter Interventionsgefahr durch das Gericht

and the people who say they did !:lOt intend it are talking nonsense." Vgl. auch Marshalls (damals noch anwaltliche) Außerung in Ware v. Hylton, 3 U.S. (3 Dall.) 199, 211 (1796). 36 Theoretisch bieten sich hierflir - was nicht immer genügend klar auseinandergehalten wird - zwei Ansatzpunkte an: 1.) Die Art und Weise, auf die Marshall in seinem Fall selbstjudicial reviewübt (Bsp.: T Grey , 27 Stan.L.Rev. 703, 707 f. ( 1975)) sowie 2.) auf die judicial review von jetzt an geübt wird oder geübt werden sollte (Bsp.: C. Wolfo, Modern Judicial Review (1986)). Beide Ansatzpunkte werden behandelt von B. Caine, 56 Temple L.Q. 297 ff. (1983)). Der erste Ansatzpunkt drängt sich hier allerdings schon deshalb nicht auf, weil es sich bei der in "Marbury" entschiedenen Rechtsfrage um ein Zuständigkeits- und nicht, wie bei der selbst gestellten Aufgabe, um ein Grundrechtsproblem handelte.

37

Hierzu und zum folgenden G. Gunther, Constitutional Law, S. I f. , 14.

A. Die Rechtslage in den USA

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tendenziell, im zweiten Fall verkleinert er sich infolge einer vermutlich dichteren gerichtlichen Kontrolle. "Marbury v. Madison" gibt einigen Anlaß anzunehmen, Marshall favorisiere die erste, gleichsam "beiläufige" Art gerichtlicher Kontrolle, die dem Gericht keine besondere Aufgabe zur Wahrung der Verfassung zuweist. Zur Stütze für diese These finden sich Äußerungen wie die, daß die Verfassungsväter die Verfassung "as a rule for the governments of courts as weil as of the legislature" ansahen, woran Marshall die Folgerung knüpfte, daß "courts as weil as other departments are bound by that instrument"38 und nur "in some cases, then, the Constitution must be looked into by the judges."39 Jedoch ist Marshall in seinen Äußerungen nicht so eindeutig, wie es zunächst den Anschein hat. Nimmt man etwa seine Behauptung, es sei "emphatically the province and duty of the judicial department to say what the Iaw is" und daß die jeweiligen Richter "who apply the rules to different cases, must of necessity expound and interpret that rule"40 , sieht dies stark nach einer besonderen, vielleicht sogar exklusiven Stellung der Gerichte als Hüter der Verfassung aus. Nichts anderes läßt sich aus dem folgern, was nach Marshalls Ansicht für den Fall eines Widerspruches zwischen einem Gesetz und einer einschlägigen Verfassungsvorschrift zu gelten habe: "The court must deterrnine which of these conflicting rules governs the case." Eben dies, also die autoritäre Auflösung juristischer, zuweilen eben auch verfassungsrechtlicher Konfliktflille, sei "the very essence of judicial duty"41 • Hält man die genannten Beispiele für genügend aussagekräftig, stellt sich die Frage, wie sich dieser Widerspruch beheben läßt. Aussagen Marshalls an anderer Stelle, in denen er sich eindeutiger auf die Seite derer stellt, die die bedeutendste Sicherung individueller Freiheit nicht in der Konstituierung von Gerichten sondern in der durch Abwahl revidierbaren parlamentarischen Repräsentation und der von ihr gewählten Gestaltung sehen, erleichtern die Entscheidung. In "McCulloch v. Maryland" etwa betonte Marshall im Zusammenhang von Überlegungen dazu, worin der beste Bürgerschutz gegen ungerechte Besteuerung liege: "In imposing a tax the legislature acts upon its constituents. This is 38

Marbury v. Madison, 5 U.S. (l Cranch), 137, 180 (1803).

39

Ebd., S. 179.

40 Ebd., S. 177. Dazu H Schwarz, Außenpolitik, S. 295 ff. Eher noch stärker A. Hamitton u.a., Federalist, No. 78, S. 492 (an dessen Ausführungen Marshall sich offensichtlich anlehnt). 41

Marbury v. Madison, 5 U.S. (l Cranch), 137, 178 (1803).

42

Erster Teil: Grundlagen der Kontrolle legislativer Akte

in generat a sufficient security against erroneous and oppressive taxation. " 42 Sozusagen die Kehrseite dieser Bürgerperspektive findet sich in späteren Ausfuhrungen Marshalls, in denen er den auf die Förderung individueller Freiheit gerichteten Druck beschreibt, der auf dem Gesetzgeber lastet: "The wisdom and discretion of Congress, their identity with the people, and the influence which their constituents possess at elections, are ... in many ... instances ... the sole restraints on which they have relied, to secure them from its (= Congress, d.Verf.) abuse. They are the restraints on which the people must often rely solely, iri all representative govemments." 43 Und in einem Brief an den von einem Impeachment-Verfahren bedrohten Richterkollegen Chase schlug Marshall vor, daß Gerichtsentscheidungen, die sich ohne stichhaltige Gründe über Einschätzungen der Legislative hinwegsetzen - "deemed unsound by the legislature" - vom Gesetzgeber, anstatt die erlassenden Richter ihres Amtes zu entsetzen, mit einfacher Mehrheit sollten korrigiert werden können. 44 Sogar noch deutlicher äußerte sich Marshall in "Fletcher v. Peck" zum Verhältnis des Gerichtes gegenüber dem (Staaten-)Gesetzgeber: "The question, whether a law be void for its repugnancy to the constitution, is, at all times, a question of much delicacy, which ought seldom, if ever, to be decided in the affirmative, in a doubtful case. The court, when impelled by duty to render such a judgment, would be unworthy of its station, could it be unmindful of the solemn obligations which that station imposes. But it is not on slight implication and vagtie conjecture that the legislature is to be pronounced to have transcended its powers, and its acts to be considered as void. The opposition between the constitution and the law should be such that the judge feels a clear and strong conviction of their incompatibility with each other."45 Was sich daraus fur Konsequenzen im Hinblick auf die These, Richter machten Recht anstatt es nur aufzudecken, ergibt, erklärte Marshall dann in "Osbom v. U.S. Bank": "Judicial power, as contradistinguished from the power of the laws, has no existence. Courtsare the mere Instruments ofthe law, and can will nothing. When they are said to exercise a discretion, it is a mere legal discretion, a discretion to be exercised in disceming the course prescribed by law; and, when 42 McCulloch v. Maryland, 17 U.S. (4 Wheat.) 316, 428 (1819). Beachte aber, daß dieser ebenso wie die folgenden Fälle, in denen Marshall sich äußert, keine Grundrechtsfragen betrifft.

43

Gibbons v. Ogden, 6 U.S. (9 Wheat.) 1, 9 (1824).

Nachw. bei A. Beveridge, John Marshall, Band 3, S. 177. Marshall nennt dies eine "appellate jurisdiction in the legislature". 44

45 Fleteher v. Peck, 10 U.S. (6 Cranch) 87, 128 (1810). Vom Supreme Court wurde die Entscheidung später häufig ohne den ersten, stark einschränkenden Satz zitiert. Siehe aber auch ebd., S. 133 ff., wo Marshall auf Naturrecht und "certain great principles of justice, whose authority is universally acknowledged", Bezug nimmt.

A. Die Rechtslage in den USA

43

that is discemed, it is the duty of the court to follow it. Judicial power is never exercised for the purpose of giving effect to the will of the judge; always for the purpose of giving effect to the will of the legislature; or, in other words, to the will ofthe law."46 Derlei Aussagen lassen im Hinblick darauf, wie nach Marshalls Ansicht gerichtliche Kontrollbefugnisse auszuüben sind, an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Mit einer weiten, gar exklusiven Rolle der Gerichte als Hüter der Verfassung sind sie nicht in Einklang zu bringen. Sie werden jedoch verständlich, wenn man anerkennt, daß Marshall ein engeres Verständnis gerichtlicher Kontrolle des Gesetzgebers zugrunde lag, als es sich heute mit Begriff und vor allem Praxis von judicial review verbindet. Während man heute allzu leicht geneigt ist anzunehmen, judicial review "calls upon the Court to go over the very social, political, and economic questions committed to the Congress and State legislatures"47, war in Marshalls Verständnisjudicial reviewein Problem von Verfassungsinterpretation im denkbar engsten Sinne, hatte also zu tun mit dem Erfassen von theoretisch erkennbaren und praktisch durchsetzbaren Regeln - in keiner anderen Bedeutung als für jeden "gewöhnlichen" Richter, der sich mit der Aufgabe, eine Rechtsvorschrift zu verstehen, konfrontiert sieht auch. 48 Nur deswegen konnte man ein Gericht wie den Supreme Court mit dieser Aufgabe betrauen: "Interpretation" war das tägliche Brot der Richter, dafür waren sie besonders ausgebildet, in dieser Hinsicht waren sie dem Gesetzgeber voraus. Aus dieser Perspektive wird verständlich, was Harnilton, an den sich Marshall in seinen Ausführungen stark anlehnte, mit seiner Unterscheidung von "will" und ,judgment" im Federalist Nr. 78 zum Ausdruck bringen wollte49 : Judicial reviewhat danach - wie man sagen könnte: nur - mit Rechtsverständnis, mit Interpretation (von Hamilton mit dem Begriff ,judgment" assoziiert) zu tun, nicht dagegen mit Rechtsschöpfung, mit Gesetzgebung (von ihm assoziiert mit dem Begriff "will"). 46

Osbom v. U.S. Bank, 6 U.S. (9 Wheat.) 251,282 (1803).

47

A. Cox, 50 Marquette L.Rev. 575, 582 (1967).

Vgl. T. Grey, 27 Stan.L.Rev. 703, 705 (1975); J Ely, Democracy and Distrust, S. 3, FN 11; E. Klein, ZaöRV 34 (1974), 83, 93. Nach heutiger Klassifizierung wäre Marshall danach ein "Interpretivist." - Da es an dieser Stelle nur darum geht, Marshalls Position zu verstehen, wird hier kein Urteil über die Tragfähigkeit der getroffenen Unterscheidung abgegeben. Vgl. statt dessen den Problemaufriß bei C. Ducat I H. Chase, Constitutional Interpretation, S. 60 f ; G. Stone u.a., Constitutional Law, S. 35 f. Siehe auch G. Gunther, Constitutional Law, S. 14. Zu Marshalls Interpretationsmethoden C. Wolfe, Modem Judicial Review, S. 41 ff. 48

49 A. Hamilton u.a., Federalist, No. 78, S. 490, 493. Vgl. für weitere Parallellen D. Currie, Constitution in the Supreme Court, S. 69 ff.

44

Erster Teil: Grundlagen der Kontrolle legislativer Akte

"Marbury v. Madison" betrat insoweit kein Neuland sondern drückte einen der Ära typischen Gedanken aus, nämlich: "That adjudication was somewhat free from politics."50 Nur so wird auch verständlich, weshalb Barnilton darauf vertrauen konnte, Übergriffe der Rechtsprechung in den Bereich der Legislative seien durch die im Bereich der Justiz "üblichen" Sicherungsmaßregeln Präjudizienbildung und das Aufstellen strenger Verfahrensregeln - praktisch ausgeschlossen. 51 Denknotwendig folgt daraus fiir die Aufgabe des Richters: "The task of the judge is not to determine what is best for the country or what general rule would most advance the good of the nations and its citizens in respect to a particular policy matter. Nor is his job to evaluate whether a given law is prudent or even just. In the exercise of judicial review, the judge is to determine not the wisdom of a law, but its constitutionality."52 Nur unter einem solchen Konzept von judicial review - auf Interpretation beschränkt und stets einen verfassungsrechtlichen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers im Auge - läßt sich sinnvoll auch erklären, wie Marshall seine Entscheidung auf die frappierend einfache Überlegung stützen konnte, judicial review habe nicht die Superiorität der Gerichte über den Gesetzgeber sondern den Vorrang des Volkswillens über beide zum Ergebnis: "That the people have an original right to establish, for their future govemment, such principles as, in their opinion, shall most conduce to their own happiness, is the basis, on which the whole American fabric has been erected."53 • Was zunächst wie ein simpler rhetorischer Schachzug aussieht, Erinnerungen an Bemühungen wachrufend, judicial review seine anti-demokratische Bedrohlichkeit zu nehmen54, erhält Sinn, wenn man die gerichtliche Kontrolltätigkeit als Interpretation im denkbar engsten Sinne und damit als bloßes Zur-Gel-

50

L. Tribe, Constitutional Law, S. 26 (§ 3-3).

A. Hamitton u.a., Federalist, No. 78, S. 496. Vgl. auch dies., Federalist, Nr. 81, S. 508, wo Hamilton ausfuhrt, daß ein Eindringen der Justiz in dem Gesetzgeber vorbehaltene Bereiche als unwahrscheinlich u.a. gefolgert werden könne "from the general nature of the judicial power; from the objects to which it relates." Dazu C. Wolfe, Modern Judicial Review, S. 102 f. 51

52

C. Wolfe, Modern Judicial Review, S. 101.

53 Marbury v. Madison, 5 U.S. (1 Cranch) 137, 176 (1803) et passim. Der Gedanke findet sich originär ausgearbeitet bei A. Hamilton u.a., Federalist, No. 78, S. 492 f. Gelegentlich wird er auch noch in modernen Supreme Court Entscheidungen angezogen, vgl. etwa United States v. Butler, 297 U.S. l, 62 (1936).

54 Vgl. A. Bicke/, Least Dangerous Branch, S. 16. - Zu diesem Mechanismus der Auflösung eines Widerspruches zwischen judicial review und demokratischem Prinzip R. Bork, in: L. Levy u.a. (Hrsg.), Encyclopedia, Bd. 3 (1986), S. 1061 ("Judicial Review and Democracy").

A. Die Rechtslage in den USA

45

tung-Bringen des Willens des pouvoir constituant über den des pouvoir constitue ansieht. 55 Vieles von dem, was über Marshall, sein Verständnis und seine praktische Handhabung vonjudicial reviewgesagt wurde, bliebe demnach unverständlich, wenn man ihn als den ersten "Aktivisten" des Supreme Court bezeichnen würden. Wie aber kann man vor diesem Hintergrund Marshalls anscheinend in gerade diese Richtung weisenden Äußerungen von soeben verstehen? Die Antwort ist einfach: Die Aussagen Marshalls mit dem Wissen um das behauptete eingeschränkte Verständnis von judicial review noch einmal gelesen, erscheinen sie plötzlich nur noch deskriptiv; ein klares Legat zu ausgreifender gerichtlicher Tätigkeit liefern sie jedenfalls nicht. Nichts Widersprüchliches läßt sich danach in diesen Äußerungen Marshalls finden. 3. Schlußfolgerung

Zurück am Ausgangspunkt und bei der dort gestellten Frage, ob sich Marshall mit seiner Vision vonjudicial reviewfür eine starke Rolle der Gerichte in Verfassungsfragen in Anspruch nehmen läßt, kann die Antwort nur negativ sein. Keiner derjenigen, die sich zur Begründung weitreichender Zuständigkeiten des Supreme Court bei der Überprüfung gesetzgeberischer Akte auf "Marbury v. Madison" oder John Marshall berufen56, tut dies zu Recht. Die Behauptung, es sei Marshalls Verdienst "to lay the basis for enormous judicial power in the future" 57 ist also nur vordergründig zutreffend; sicher unzutreffend ist sie indes, wenn damit impliziert wird, die konkreten, teilweise weit ausgreifenden Erscheinungsformen moderner Rechtsprechungspraxis fanden bereits in der damaligen Entscheidung ihre normative Wurzel.

55 C. Wolfe, Modern Judicial Review, S. 104 f.- Vgl. zusammenfassend auch ebd., S. 41 . Siehe auch A. Mason, Supreme Court, S. 12 f. 56

Etwa B. Caine, 56 Temple LQ. 297, 299 ff. (1983).

D. Currie, Constitution in the Supreme Court, S. 74. Ahnlieh bereits E. Corwin, 12 Mich.L.Rev. 538, 543 (1914). Gelegentlich findet sich auch in Supreme CourtEntscheidungen eine zumindest aggressiv klingende Inanspruchnahme Marshalls, etwa in Powell v. McCormack, 395 U.S. 486, 549 (1969). Vgl. demgegenüber C. Wolfe, Modern Judicial Review, S. I 0: "If federal judges had tried in the early years of American history to do many of the things they now do routinely, they would have been impeached (probably on grounds of insanity!)." Nicht sehr viel anders F. Frankfurter, 69 Harv.L.Rev. 217, 225 ff. (1955). Für eine kurze Bilanz der expandierenden Rechtsprechungstätigkeit L. Tribe, Constitutional Law, S. 32 ff. (§ 3-4). 57

46

Erster Teil: Grundlagen der Kontrolle legislativer Akte

Dabei ist es ganz ohne Bedeutung, für wie überzeugend man die getroffene Unterscheidung zwischen "will" und ,judgment" und die damit jeweils implizierten Ideen hält. Solange sie nur Marshall einleuchteten- woran kein vernünftiger Zweifel besteht - kann man ihn jedenfalls nicht als Kronzeugen für eine betont aggressive Ausübung vonjudicial review in Anspruch nehmen. 58

B. Die Rechtslage in Deutschland I. Die positive Entscheidung des Grundgesetzes für die Verfassungsgebundenheit des Gesetzgebers und die Kontrollbefugnis des BVerfG In Deutschland ist es nicht ein Gericht sondern der Verfassungsgesetzgeber selbst gewesen, der die Frage der Einrichtung einer zentralen Instanz für die Entscheidung von Grundrechtsfragen verbindlich geklärt hat. Das Grundgesetz hat nicht nur einen allgemeinen Vorrang der Verfassung statuiert, sondern in seinen Kompetenzbestimmungen zugleich zum Ausdruck gebracht, daß es dessen Realisierung dem BVerfG 59 anvertraue. Im Hinblick auf die Legitimität gerichtlicher Verfassungskontrolle liegt der deutsche Fall also ungleich einfacher als der amerikanische. Freilich ist damit noch nicht viel im Hinblick auf die sehr viel prekärere Frage nach den Grenzen des richterlichen Prüfungsrechts gewonnen. Gleichwohl sollte die ungeachtet der Besonderheiten eines Fallrechtssystems sehr unterschiedliche verfassungsrechtliche Verankerung der beiden Gerichte - ausdrückliche Anordnung hier, durch Richterrecht etablierte Stellung dort - im Hinblick auf die konkrete Ausübung ihrer Kontrollbefugnis nicht geringgeschätzt werden. Der Umstand, daß das BVerfG bisher weit weniger in das Schußfeld der die Freiheit des Gesetzgebers verteidigenden Kritik geraten ist als sein amerikanisches Pendant dürfte nicht zuletzt hierin eine Ursache finden. 60 Von Bedeutung ist die qualitativ unterschiedliche Fundierung des richterlichen Prüfungsrechts aber auch fiir die Struktur der in der Diskussion um die Verfassungsgerichtsbarkeit verwendeten Argumente: Die von John Marshall in 58 Zu Gründen, wieso sich Marshalls Idee eines "moderate judicial review" zu einem "natural justice review" ausweiten konnte, vgl. C. Wolfe, Modem Judicial Review, S. 108 ff. 59 Notabene: Zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Hoheitsakten ist in Deutschland, ebenso wie in den USA, jedes Gericht berufen. Im Unterschied zu den USA ist jedoch die Verwerfungskompetenz beim BVerfG monopolisiert. Unklar insoweit P. Kauper, 58 Mich.L.Rev. 1091 , 1093 (FN 5), 1114 (1960).

60 Vgl. die (freilich teilweise abweichende) Typologie bei B.-0. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 97 ff., 108 sowie BVerfGE 7, 377, 413.

8. Die Rechtslage in Deutschland

47

"Marbury v. Madison" eingeleitete Entwicklung hin zu einer gerichtlichen Kontrollkompetenz ist in den USA zwar heute eine unleugbare praktische Realität, wird aber dennoch immer wieder sowohl prinzipiell als auch im Hinblick auf die daraus abgeleiteten konkreten Auswirkungen im Einzelfall in Frage gestellt. Noch heute begegnet die amerikanische Verfassungsrechtsprechung dem Vorwurf, sie gründe sich auf einen demokratisch illegitimen coup de main der Justiz. 61 Modeme Supreme Court-Entscheidungen werden demgemäß häufig danach beurteilt, ob sie dem "richtigen" Kompetenzträger das letzte Wort erteilt haben. Ganz anders dagegen die Situation in Deutschland: Da das Grundgesetz die in den USA immer noch streitige Kompetenz-Frage unanfechtbar geklärt hat, tritt der Antagonismus der beiden Institutionen hier sehr viel mehr in den Hintergrund und wird durch eine stärker an den normativen Entscheidungsgrundlagen orientierten Diskussion und der aus ihnen abgeleiteten "richtigen" oder "falschen" Lösung verdrängt.

II. Die Bedeutung der positiv-rechtlichen Normierung im Grundgesetz für die Ausübung der richterlichen Kontrollbefugnis Anders als in den USA versetzt die positive Entscheidung des pouvoir constituant filr ein richterliches Prüfungsrecht den deutschen Verfassungsjuristen in die Lage, nach der konkreten Reichweite dieser Kontrollbefugnis zu fragen. Einmal mehr ist insoweit zwischen der Bandbreite der dem BVerfG zukommenden Befugnisse und der Intensität ihrer Inanspruchnahme zu unterscheiden. So wird man den Umstand, daß sich das BVerfG einer auch im internationalen Vergleich "einzigartigen"62 Fülle von Kompetenzen erfreut, allein auf die Vielzahl der dem Gericht zukommenden Zuständigkeiten beziehen dürfen. Sie ist in dieser Form unzweifelhaft Ausdruck der Erfahrungen der nationalsozialistischen Herrschaft und zugleich Ausgangspunkt der Hoffnung, daß sich "eine wesentliche Stärkung von Recht und Gerichtsbarkeit als Bollwerk gegen eine Wiederholung solchen Unrechts" erweisen würde. 63

61 F. Scharpf, Political Question, S. 2 f. Ebenso F.-C. Zeit/er, Völkerrechtlicher Vertrag, S. 118 f., jeweils mwN. 62 So übereinstimmend. K. Sch/aich, BVerfG, Rdz. I f.; H. Säcker, in: W. Fürst u.a. (Hrsg.), FS f. W. Zeidler, Bd. I (1987), S. 265, 265; B.-0. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 105, 107, 154; R. Schiffers, Grundlegung, S. VII; K. Zweigert, in: C. Starck (Hrsg.), BVerfG-FG, Bd. I (1976), S. 63,72 sowie das Gericht selbst in BVerfGE 2, 79, 84. 63

G. Robbers, in: D. Umbach I T. Clemens (Hrsg.), BVerfGG, S. 8 (Rdz. 22).

48

Erster Teil: Grundlagen der Kontrolle legislativer Akte

Deutschlands spezifische historische Erfahrungen werden jedoch immer wieder auch, nicht zuletzt vom BVerfG selbst64, als Rechtfertigung fiir eine besonders tiefe Eingriffsbefugnis gerade gegenüber dem Gesetzgeber herangezogen.65 Sofern diese Vorstellung auch von den Schöpfern der Verfassung geteilt worden wäre, läge in diesem Hinweis in der Tat ein starkes Argument fiir einen präsumptiv relativ schmalen Bereich gesetzgeberischer Gestaltungsbefugnis in Grundrechtsfragen. Ein kurzer Ausflug in die Geschichte des Prüfungsrechts66 erweist jedoch sehr schnell, daß der Schluß auf einen entsprechenden Handhabungsmodus nicht möglich ist. Wiewohl Staats- und Verfassungsgerichtshöfe der deutschen Rechtstradition in der einen oder anderen Form schon lange vertraut sind, ist das richterliche Prüfungsrecht eine fiir das deutsche Verfassungsleben sehr junge und nahezu vorbildlose Einrichtung. Das republikanische Weimar ist der Ort, an dem sich die kräftigsten Wurzeln einer der heutigen Praxis vergleichbaren gerichtlichen Normenkontrolltätigkeit fmden lassen. Sie beschreiben zugleich das vorläufige Ende einer Entwicklung, die mit dem Schlagwort einer Verschiebung vom gerichtlichen "Schutz durch" zum "Schutz vor dem Gesetzgeber" treffend versinnbildlicht ist. Obwohl das Problem richterlicher Kontrollkompetenz stets als ein solches der Gewaltenteilung verstanden wurde, hatte die dritte Gewalt im klassischen Anwendungsfall dieser Doktrin, der konstitutionellen Monarchie67, keinen eigentlichen Platz: Die politische Macht war einerseits auf die von BUrgerturn und Adel beherrschte und mit jeweiligen Veto-Rechten ausgestattete Legislative, andererseits auf die vom Monarchen dominierte Exekutive verteilt. Die Judikative hingegen war, wie schon Montesquieu sie beschrieben hatte, "en quelque facon nulle", jedenfalls in dem Sinne, daß sie vom politischen Kräftespiel ausgeschlossen blieb. Der Schutz der Untertanen schien in vollendeter Form bereits durch den Gesetzgeber gewährleistet. Erst allmählich brach sich der Gedanke Bahn, daß die Justiz auch gegen den Monarchen und die Verwaltungsspitze instrumentalisiert werden milsse und auch deren Akte auf ihre Übereinstimmung mit den Gesetzen zu überprüfen seien. Auch dieses Anliegen nahm freilich mit der Abdankung der Monarchie geradezu zwangsläufig eine andere Gestalt an. Denn von nun an sah sich der

64

So- zumindest mittelbar- BVerfGE 39, 1, 66 ff.

65

Zusammenfassend W Geiger, DÖV 1950, 193, 193 f.

66 Souveräne Zusarnmenfasung bei H. Steinberger, in: K. Stern (Hrsg.), 40 Jahre Grundgesetz ( 1990), S. 41, 64 ff.

67

Hierzu R. Wahl, Staat 20 (1981), S. 485,493 ff. m. zahlr. Nachw.

B. Die Rechtslage in Deutschland

49

Bürger einer von Parteien zersplitterten Legislative gegenüber, von deren Hand in Hand mit der Exekutive arbeitenden Mehrheit er nicht ohne weiteres die Respektierung seiner autonomen Interessen erwarten durfte. Konnte also das Anliegen des späten 19. Jahrhunderts allein im Schutz des Individuums vor der Exekutive liegen, blieb im 20. Jahrhundert als Usurpator individueller Freiheiten niemand übrig als der Geist, nach dem man hilfesuchend soeben noch gerufen hatte: der allmächtige, von der Majorität beherrschte Gesetzgeber, dessen Projekte Regierung und Verwaltung willfahrig exekutierten.68 In Konsequenz dessen verstärkte sich mit Beginn der Jahre nach 1919 nicht nur die theoretische Forderung nach richterlicher Kontrolle des parlamentarischen Gesetzgebers69, sie wurde in Form der Inanspruchnahme eines inzidenten materiellen Prüfungsrechts über Reichsgesetze durch das Reichsgericht auch tatsächlich realisiert: Gerichte jeder Art und Stufe konnten von nun an fllr sich beanspruchen, innerhalb eines anhängigen Rechtsstreits die Verfassungsmäßigkeit der einschlägigen gesetzlichen Grundlagen in formeller und materieller Hinsicht zu überprüfen. Angesichts heftiger Anfeindungen bedurfte es allerdings einiger Zeit, bis sich diese, in sachlich vollkommener Parallelle zu der viel älteren amerikanischen Entwicklung stehende Maxime70 zumindest theoretisch durchsetzen und behaupten konnte. 71 Der Idee, daß auch dem Gesetzgeber gerichtlich überprüfbare Schranken seiner Tätigkeit gesetzt sind, war freilich weder die Zeit beschieden, sich in der Praxis nachhaltig zu etablieren72, noch wurde von ihr seitens der Gerichte in nennenswertem Umfang Gebrauch gemacht. Das scheint, so kurios es klingt, einer der wichtigsten Gründe dafllr zu sein, weshalb im Anschluß an die Erfah68 Dazu R. Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, S. 338 ff.; C. Schmitt, Hüter der Verfassung, S. 24 ff ; H. Säcker, in: W. Fürst u.a. (Hrsg.), FS f. W. Zeidler, Bd. 1 (1987), s. 265, 270 f.

69 Zur Entwicklung: E.-R. Huber, Verfassungsgeschichte VI, §§ 38, 39; C. Schmitt, Hüter der Verfassung, S. 3 ff ; P. Badura, in: P. Obemdorfer I H. Schamheck (Hrsg.), FS f. L. Fröhler (1980), S. 321, 328 ff. K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 17 ff. yermutet hinter der Forderung nach dem materiellen Prüfungsrecht politische Motive. Ahnlieh A. Rinken, in: AK-GG, Rdz. 34 vor Art. 93. 70 I.) Mit der Stufenordnung der Rechtsordnung begründetes, 2.) materielles, 3.) bei den Gerichten der normalen Rechtszüge lokalisiertes und 4.) von diesen, und nicht durch den Gesetzgeber geschaffenes Prüfungsrecht Vgl. zum Ganzen H. Steinberger, in: K. Stern (Hrsg.), 40 Jahre Grundgesetz (1990), S. 41, 68 f. 71 Was das Reichsgericht angeht: Ausgehend von RGZ 102, 161, 164 über RGZ 107, 377, 379 st.Rspr. seit RGZ 111, 320, 322 f. Für die anderen (auch Unter-)Gerichte vgl. E.-R. Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 566 bei FN 22 mwN. 72 Unter dem Nationalsozialismus hat das richterliche Prüfungsrecht in Theorie (E. R. Huber, Verfassungsrecht, S. 282) wie Praxis (RG, ZAkDR 1937, S. 86, 87) selbstverständlich unverzüglich abgedankt.

4 Simons

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Erster Teil: Grundlagen der Kontrolle legislativer Akte

rungen der nationalsozialistischen Diktatur und nur wenige Jahre nach der überaus kritischen Diskussion der Weimarer Zeit73 das richterliche Prüfungsrecht in der noch jungen Bundesrepublik eine so eindrucksvolle Renaissance erleben konnte74 : Die gute Idee hatte sich bislang nur von ihrer besten Seite gezeigt; die Bewährungsprobe in der Krise dagegen war ihr vollkommen erspart geblieben. Nimmt man hinzu, mit welch hochgesteckten Erwartungen Verfassungsgerichte in der Nachkriegszeit überall in der Welt begrüßt wurden, erscheint die Behauptung nicht übertrieben, daß viele hierin eine Art "Wunderwaffe" gegen Barbareien von der Art des Natiomilsozialismus meinten entdeckt zu haben. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß das Bekenntnis des Grundgesetzes zu einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit die mit ihr verbundenen Gefahren für den politischen Prozeß nicht einfach aus dem Bewußtsein der an den Verfassungsberatungen Beteiligten hat verschwinden lassen. Dafür war freilich weniger der Nachklang der Weimarer Debatte als vielmehr die ebenfalls voller Hoffnung begrüßte Idee der Demokratie nach dem Vorbild der westlichen Siegermächte verantwortlich. Daß aber die Vorstellung von der autonomen Gestaltung durch den Gesetzgeber mit der gleichfalls favorisierten Vorstellung von der Kontrolle durch die Justiz konfligieren mußte, war nur zu evident. 75 Einzelne, in den Beratungen zum Grundgesetz gemachte Äußerungen erwecken freilich immer wieder den Eindruck, als sei es den Verfassungschöpfern darum gegangen, dem BVerfG möglichst weitgehende Eingriffsbefugnisse gegenüber dem Gesetzgeber zuzuschreiben. Durchaus nicht nur filr sich allein sprechend erklärte ein Abgeordneter, man wolle "einen Staatsgerichtshof, dem nicht nur ein Prüfungsrecht darüber zusteht, ob ein Gesetz in der vorgeschriebenen Form erlassen ist oder ob es mit dem Buchstaben oder dem Wortlaut der Verfassung in Einklang steht. Der von uns geforderte Verfassungsgerichtshof soll auch das Recht haben zu prüfen, ob ein Gesetz seinem Inhalt nach dem Geist und den naturrechtlichen, menschenrechtliehen Grundlagen der Verfassung entspricht, wie dies z.B. beim Bundesgerichtshof der Vereinigten Staaten 73 Vgl. hierzu nur H. Triepel und H. Kelsen, VVDStRL 5 (1929), 2 ff., 30 ff. sowie C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung ( 1931 ). Zahlreiche weitere Nachw. bei E. -R. Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 566 f. bei FN 23, 24. 74 H. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 20 f. Vgl. auch A. Rinken, in: AK-GG, Rdz. 40 vor Art. 93 sowie H. Säcker, in: W. Fürst u.a. (Hrsg.), FS f. W. Zeidler, Bd. I (1987), S. 265, 269 f.

75 Vgl. z.B. flir den Herrenchiemseer Konvent (dort im Zusammenhang der Richterwahl) H. Säcker, in: W. Fürst u.a. (Hrsg.), FS f. W. Zeidler, Bd. 1 (1987), S. 265, 274 ff. sowie U Scheuner, DVBI. 1952, 293, 295 ff. Für den parlamentarischen Rat H. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 52 f., 54 ff., 58 f., 82 f., 89 ff.

B. Die Rechtslage in Deutschland

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der Fall ist, welcher über den Willen des Gesetzgebers hinaus zum Hüter der Verfassung, zum Wahrer des Naturrechts und zum verkörperten Gewissen der Volksgesamtheit geworden ist."76 Nicht jeder der Abgeordneten war allerdings so hoffnungsfroh. Am Ende verhinderte vielmehr die "Angst vor der ... Gefahr ... einer ... justizförmigen Politik"77 und die Furcht vor dem Rechtsmißbrauch durch eine "richterliche Gewalt, über der keine andere Macht steht als das Gewissen des einzelnen Richters" 78, daß dieser stark auf naturrechtliehen Vorstellungen fußende (und die amerikanische Situation im übrigen durchaus vergröbernde) Standpunkt herrschend wurde. Schließlich sind die "spezifischen historischen Erfahrungen", auf denen gerade die deutsche Ausprägung von Verfassungsgerichtsbarkeit ganz offenkundig basiert, in erster Linie als Gewicht in der Waagschale des vielstimmigen Grundsatzstreits um den zuständigen Hüter der Verfassung, also die Frage des "wer" und des "was" (nicht aber des "wie" oder gar des "wie intensiv"), zu verstehen.79 Die breiter als je zuvor angelegten Kompetenzen des BVerfG im Hinblick auf Zugangsmöglichkeiten und Verfahrensarten liefern dafür das beste Beispiel. Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung für ein Verfassungsgericht vom Zuschnitt gerade des BVerfG demnach zunächst einmal eine Entscheidung nur für den Rechts- als Gerichtsstaat Dagegen sollten die Bestimmungen des Grundgesetzes nach allem was heute bekannt ist keinesfalls eine verbindliche Antwort auf die Frage nach der Intensität und Dichte der Kontrollbefugnisse des Gerichts geben. Einen Justizstaat mit weit zurückgedrängten Kompetenzen des Gesetzgebers zu kreieren, ist ersichtlich nicht Absicht der Verfassungsväter gewesen. Bei aller Einigkeit ansonsten ließ sich im parlamentarischen Rat gerade zur Frage der Stellung des BVerfG im Gefiige des Staatsganzen keine Einigung erzielen.80 Demnach ist auch die Berufung auf etwaige Kompetenzen des BVerfG als Antwort auf den erklärten Willen der Schöpfer des Grundgesetzes im Hinblick auf "spezifisch historische Erfahrungen" illegitim. 76 Abg. Süsterhenn (CDU), zitiert nach H. Wendenburg, Verfassungsgerichtsbarkeit und Methodenstreit, S. 234. 77

Ebd.

78

Abg. Menzel (SPD), ebd.

79

Vgl. z.B. R. Schiffers, Grundlegung, S. IX ff.

R. Schiffers, Grundlegung, S. XIV. Zum aus dieser Ungeklärtheit folgenden sog. "Statusstreit" von 1952 ebd., S. XL ff. Vgl. auch U. Scheuner, DVBI. 1952, 293 ff. sowie H. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 52; H. Wendenburg, Verfassungsgerichtsbarkeit und Methodenstreit, S. 233 ff. Bezeichnend auch, daß sich bereits im Jahr 1950 die Staatsrechtslehrertagung mit den "Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit" beschäftigte. 80

4*

52

Erster Teil: Grundlagen der Kontrolle legislativer Akte

C. Zusammenfassung Die Vorschriften des Grundgesetzes über die Nonnenkontrolle geben ebensowenig wie "Marbury v. Madison" für das amerikanischeRecht eine pauschale Antwort auf die Frage nach der Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat und ihre Eingriffsbefugnisse gegenüber dem Gesetzgeber. Relativ eindeutig läßt sich aber immerhin sagen, daß weder "Marbury v. Madison" noch die Vorschriften des Grundgesetzes die Spekulation auf einen prinzipiellen Vorrang der Gerichte gegenüber dem Gesetzgeber zulassen. Ein aus der unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Verankerung der gerichtlichen Kontrollbefugnisse resultierender Unterschied - gerichtliche Usurpation hier, formell-rechtliche Fundierung dort - soll damit jedoch nicht geleugnet werden.

Zweiter Teil

Die verfassungsgerichtliche Kontrolle legislativer Akte im Selbstverständnis von Supreme Court und BVerfG Trotz einer an Tiefpunkten und Bedrohungen unvergleichlich reichen Geschichte ist judicia/ review eine heute nicht mehr wegzudenkende Realität des amerikanischen Verfassungslebens. Im Ergebnis nicht anders steht es, ungeachtet einer ganz eigenen Tradition, um das BVerfG und seine Befugnis zur Normenkontrolle. Im folgenden soll versucht werden nachzuzeichnen, was judicial review durch den Supreme Court und Normenkontrolle durch das BVerfG heute praktisch bedeuten, d.h. welche Form das Prüfungsrecht in den Händen der beiden Gerichte konkret angenommen hat. Den Anfang machen einige Bemerkungen zu deren Selbstverständnis als Kontrolleure legislativer Akte.

A. Supreme Court I. Schlüsselbegriffe der Supreme Court-Praxis: judicial activism und judicial restraint

Kontrollbefugnis des Gerichts und Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers sind nur zwei Seiten derselben Medaille. Im amerikanischen Verfassungsrecht ist dieses Spannungsverhältnis punktgenau auf zwei in ihrer praktischen Bedeutung nicht zu überschätzende 1 Begriffe gebracht: judicial activism und judicial restraint. Allerdings ist ein Wort erforderlich zu der Bedeutung, die diese Termini nach amerikanischem Verständnis haben, und in der sie auch hier durchgängig verwendet werden. Gerade für eine grundsätzliche Betrachtung vor dem Hintergrund der deutschen Praxis ist es nicht ohne Pointe, daß die Begriffe einen klaren Antagonismus von Supreme Court und Gesetzgeber voraussetzen, also zunächst ohne Rücksicht auf die materielle verfassungsrechtliche Entscheidungsgrundlage nur die beiden betroffenen Verfassungsorgane als die geborenen institutionellen Antipoden in den Blick nehmen, und zwar ungeachtet der 1 Ebenso M. Kriele, Rechtsgewinnung, S. 16 f. mwN. Davon abweichend A. v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 162. Zusammenfassend C. Rau, Grenzen, S. 125 ff.

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Zweiter Teil: Selbstverständnis von Supreme Court und BVerfG

Tatsache, daß "ein Verfassungsgesetz angewandt wird, das keineswegs erheblich unpräziser ist als das Grundgesetz." 2 Die Ursache dafür liegt darin, daß "im Rahmen der amerikanischen Demokratiekonzeption ... Entscheidungen des Supreme Court, die legislative Akte für ungültig erklären, potentiell richterliche Anmaßungen dar(stellen)." Hieran knüpft sich die für das amerikanische Verfassungsverständnis grundlegende Schlußfolgerung, daß das Gericht "seine richterlichen Kompetenzen äußerst behutsam ... auszuüben" habe. 3 Demzufolge praktiziert der Supreme Court immer dann judicial restrainl, wenn er sein eigenes Urteil im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes hinter dasjenige des zuvor schon zu dieser Frage sprechenden Gesetzgebers zurückstellt oder doch zumindest unter Verzicht auf die volle Ausschöpfung des ihm zur Verfügung stehenden Interpretationsarsenals die eigenständige Verantwortung der kontrollierten Verfassungsorgane in die von ihm gewählte Interpretationsmethode miteinbezieht.5 Judicial restraint kennzeichnet demnach die Haltung einer Entscheidungsinstanz, die so weit wie eben möglich darauf verzichtet, ihre eigenen Wertvorstellungen gegenüber einem konkurrierenden Kompetenzträger durchzusetzen. Die materiell-verfassungsrechtliche Entscheidungsgrundlage ist hierfür zunächst ohne größere Bedeutung.

2

M. Krie/e, Staat 4 ( 1965), S. 195, 198.

W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 16. Vgl. auch ders., Persönlichkeitsentfaltung, S. 3 (bei FN 7), 40; ders., ZRP 1987, S. 52, 57 f. , 59 f. Ebenso K. Loewenstein, Verfassungsrecht, S. 436; H. Voss, Meinungsfreiheit, S. 114 ff.; H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, S. 463 . 3

4 Klassische Stellungnahme hierzu ist Ashwander v. Tennessee Valley Authority, 297 U.S. 288, 345 ff. (1936) (Brandeis, conc.). -Am denkbar allgemeinsten formuliert zieltjudicia/ restraint auf eine Vermeidung der Entscheidung von Verfassungsfragen im allgemeinen und von Konflikten mit dem Gesetzgeber im besonderen. Die verschiedenen dafür zur Verfügung stehenden Strategien (zusammenfassend W. van Alstyne, in: L. Levy u.a. (Hrsg.), Encyclopedia, Bd. 3 (1986), S. 1031 ff. ("Judicial Activism and Judicial Restraint")) erschöpfen sich allerdings nicht in der materiellen Prüfungspraxis, die Gegenstand dieser Arbeit ist.

5 P. Ducat, Constitutional Interpretation, S. 39; G. F. Schuppert, Auswärtige Gewalt, S. 161 ; R. Dolzer, Verfassungskonkretisierung, S. 21 ff. Besonders anschaulich auch ders., Stellung, S. 71 ff. mit FN 39. Vgl. auch W. van Alstyne, in: L. Levy u.a. (Hrsg.), Encyclopedia, Bd. 3 (1986), S. I 031 f. ("Judicial Activism and Judicial Restraint"): (The extreme model of judicial restraint) "is a court which decides virtually nothing at all: ... it avows deference to the superiority of other departments or agencies in construing the law." Ebenso F.-A. v.d. Heydte, in: G. Leibholz u.a. (Hrsg.), FS f. W. Geiger (1974), S. 909, 922 f. sowie (wenngleich ein solches Verständnis von judicial restraint für das deutsche Recht ablehnend) M. Krie/e, NJW 1976, S. 777, 777.

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Umgekehrt verdient ein Gericht dann die Charakterisierung als activist, wenn es den vom Gesetzgeber artikulierten Volkswillen durchkreuzt und ein Gesetz filr verfassungswidrig erklärt.6 Die amerikanische Verfassungsdoktrin setzt also beim Gebrauch der Begriffe sehr formal bei den am Vorgang der Verfassungskontrolle beteiligten Institutionen an, ohne daß dabei eine bestimmte Auffassung von der Reichweite der Verfassung7 als (zumindest nach deutscher Auffassung activism oder restraint letztlich steuernder) Prüfungsmaßstab eine große Rolle spielte. 8 "Aktivistisch" ist potentiell, d.h., soweit es an einem eindeutigen verfassungsrechtlichen Legat fehlt9 , jeder Gerichtsentscheid, der den Gesetzgeber korrigiert, "zurilckhaltend" potentiell jeder, der ihn bestätigt. 10

6 Vgl. W. van Alstyne, in: L. Levy u.a. (Hrsg.), Encyclopedia, Bd. 3 (1986), S. 1031 ("Judicial Activism and Judicial Restraint"): "The extreme model of judicial activism is of a court so intrusive and ubiquitous that it virtually dominates the institutions of government." Bsp. bei R. Dolzer, Stellung, S. 80 ff. 7 Zur theoretischen Irrelevanz des jeweiligen politischen Standpunktes ("liberal", "konservativ") für die amerikanische Diskussion vgl. R. Dolzer, Stellung, S. 72 f.; W. Brugger, JöR 42 (1994), S. 571, 571 f. Mißverständlich daher H. Bungert, AöR 117 (1992), S. 71, 74; J A. Frowein, AöR 105 (1980), S. 169, 170 f.; C. Rau, Grenzen, S. 135 f. Vgl. flir die deutsche Perspektive auch M. Kriele, in: J. lsensee I P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. StaatsR, Bd. V (1992), S. 104 f. (§ 110, Rdz. 5 f.); G. F. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen, S. 21 f., 23.

8 Vgl. z.B. United States v. Butler, 297 U.S. 1, 78 f. (1936) (Stone, diss.). Aus der Lehre K. Loewenstein, JöR 4 (1955), 1, 17, 23, 122; W. Haller, Supreme Court und Politik, S. 70 ff.; H. Voss, Meinungsfreiheit, S. 107 f., 110 ff; K. Hopt, Dritte Gewalt, S. 207 ff.; W. Brugger, Persönlichkeitsentfaltung, S. 19 ff. Vgl. aber auch ders. , ZRP 1987, s. 52, 53. 9 In der Annahme eines solches Legates sind amerikanische Juristen häufig äußerst zurückhaltend. Felix Frankfurter, einer der exponiertestenund einflußreichsten Verfechter vonjudicial restraint, war nicht der einzige, der vom Supreme Court selbst für den Bereich der Grundfreiheiten und Menschenrechte eine fast bis zur Selbstverleugnung gehende Zurückhaltung einforderte, vgl. insbesondere West Virginia State Board of Education v. Barnette, 319 U.S. 624, 646 ff. (1943) (Frankfurter, diss.). Lesenswert weiterhin Baker v. Carr, 369 U.S. 186, 266 ff. (1962) (Frankfurter, diss.); Arnerican Federation of Labor v. American Sash & Door Co., 335 U.S. 538, 553 ff. (1949) (Frankfurter, conc.); Dennis v. United States, 341 U.S. 494, 525 ff. (1951) (Frankfurter, conc.); Minersville School District v. Gobitis, 310 U.S. 586, 597 ff. (1940). Zu Frankfurter vor allem M. Kriele, in: J. Isensee I P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. StaatsR, Bd. V (1992), S. 106 f. (§ 110, Rdz. 11); ders., Staatslehre, S. 216 ff. ; ders., JZ 1965, S. 242 ff.; ders., Staat 4 (1965), S. 195, 200 ff.

10 Daraus folgt z.B., daß ein Gericht auch dannjudicia/ restraint üben kann, wenn es die Verfassung weit interpretiert, sofern dabei nur die gesetzgeberischen Vorstellungen nicht durchkreuzt werden. Und genauso gut kann ein enges Verfassungsverständnis aktivistisch anmutende Folgen zeitigen, vgl. W. van Alstyne, in: L. Levy u.a. (Hrsg.), Encyclopedia, Band 3 (1986), S. 1035 f. ("Judicial Activism and Judicial Restraint").

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Eine ganz andere Frage ist, welche Kriterien einen vom Gericht geübten activism bzw. restraint letztlich zu rechtfertigen vermögen. Verliert man jedoch auch hierbei den Ausgangspunkt nicht aus dem Blick, kann es nicht verwundern, daß es häufig funktionelle (im Gegensatz zu materiellen) Gesichtspunkte sind, die die Überlegungen des Supreme Court hierzu begleiten. Eben diese Rechtfertigungsstrategie ist Gegenstand der hier sogleich, vor allem am Beispiel der due process-Klausel in den Mittelpunkt gerückten Bekenntnisse.

II. Der rote Faden: ,judicial restraint' Was die Einschätzung des Supreme Court in seinem Verhältnis zum Gesetzgeber angeht, flillt die Bilanz so eindeutig aus, daß das Ergebnis gleich vorweggenommen werden kann: Judicial restraint ist durch alle Epochen und vor dem Hintergrund der unterschiedlichsten verfassungsrechtlichen Theorien und Entscheidungen das dominierende gerichtliche Bekenntnis gewesen. 11 Weder die Frage "activism oder restraint?" noch die subtilere danach, wann activism, wann restraint zu üben sei, ist also im Hinblick auf das Selbstverständnis des Supreme Court treffend gestellt. Ein ebenso berühmter wie verläßlicher Wegweiser durch das Dickicht der gerichtlichen Äußerungen zum judicial restraint ist die abweichende Ansicht von Justice Stone in "United States v. Butler" aus dem Jahr 1936, auf die im folgenden immer wieder Bezug genommen wird. Darin ließ Stone die Gerichtsmehrheit wissen, daß er nicht den Supreme Court sondern den Gesetzgeber dazu aufgefordert sehe, die Geschicke der Nation zu leiten und daß hierin fiir gewöhnlich auch die bestmögliche Freiheitssicherung zu sehen sei: "For the removal of unwise laws from the statute books appeal lies not to the courts but to the processes of democratic government." 12 Insoweit handelte es sich jedoch keineswegs nur um eine Privatansicht Stones, sie war vielmehr schon viel früher und in noch schärferer Form auch von der Gerichtsmehrheit geäußert worden: "In a free representative government", hatte es etwa in "Twining v. New Jersey" geheißen, "nothing is more fundamental than the right of the people through their appointed servants to govern themselves in accordance with their own will, except so far as they have restrained themselves by constitutional Iimits specifically established ... The power of the people of the state to make and alter their laws at pleasure is the greatest security for liberty and justice." 13 11

D. Adamany, in: J. Gates I C. Johnson (Hrsg.), American Courts (1991), S. 5, 13.

12

United States v. Butler, 297 U.S. I, 79 (1936) (Stone, diss.).

Twining v. New Jersey, 211 U.S. 78, 106 (1908). Ähnlich Missouri, Kansas & Texas Railway Co. v. May, 194 U.S. 267,270 (1904). 13

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Ist aber Freiheitssicherung in erster Linie Sache des Gesetzgebers, kann das Gebot der Stunde nur gerichtliche Zurückhaltung heißen: "1 could not more heartily agree", betont Justice Harlan dann auch in der berühmten Entscheidung "Griswold v. Connecticut", "that judicial "self restraint" is an indispensable ingredient of sound constitutional adjudication." 14 Regelmäßig wird aus Stellungnahmen wie diesen abgeleitet, daß dem Gesetzgeber bei der Wahl seiner Mittel ein Gestaltungsspielraum verbleibe, den er nach seinem Belieben und ohne gerichtliche Intervention beftlrchten zu müssen, ausftlllen könne. Keinesfalls versteht sich der Supreme Court also als ein Super-Gesetzgeber "to weigh the wisdom of legislation (or) to decide whether the policy it expresses offends the public welfare." 15 Das ist das erste von zwei Prinzipien, das Justice Stone vor jeder Verfassungswidrigerklärung eines Gesetzes als "never to be absent from judicial consciousness" empfohlen hatte: "Courts are concemed only with the power to enact statutes, not with their wisdom.'d 6 Wieder und wieder begegnet diese oder eine ähnliche Formulierung in Entscheidungen des Supreme Court. 17 Danach sind Nützlichkeits- und Opportunitätserwägungen, die im engeren Sinne "politischen" Aspekte eines Gesetzesvorhabens also, nicht Teil der gerichtlichen Prüfung. Aufgabe der Gerichte sei vielmehr nur "to lay the article of the Constitution which is invoked beside the 14 Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 479,501 (1965) (Harlan, conc.). Ygl. auch U.S. v. South Eastern Underwriter Ass. 322 U.S. 533, 594 (1943) (Jackson, diss. in part): "A judgment as to when the evil of a decisiona1 error exceeds the evil of an innovation must be based on very practical and in part upon po1icy considerations. When ... such practical and political judgments can be made by the political branches of the Govemment, it is the part of wisdom and self-restraint and good government for courts to leave the initiative to Congress."

15 Day-Brite Lighting Inc. v. Missouri, 342 U.S. 421 , 423 (1952).- Häufig wird das beschriebene Dilemma in der Alternative "Gericht oder Super-Gesetzgeber" zusammengefaßt Daran ist richtig, daß der Supreme Court vordergründig als "Konkurrent" des (Bundes- oder einzelstaatlichen) Gesetzgebers in Erscheinung tritt. Infolge der Wirkung der Supreme Court-Judikate lautet die Alternative zutreffender jedoch "Gericht oder Verfassungsgeber". Ygl. dazu aus deutscher Perspektive den Berichterstatter-Bericht, JöR 6 (1957), S. 120, 123 f. mwN.; I. Ebsen, Selbstregulierung, S. 142; 0. Depenheuer, Wortlaut, S. 12 f. sowie - schärfer noch - B.-0. Bryde, Verfassungsentwicklung,

s. 107. 16

United States v. Butler, 297 U.S. I, 63,78 (1936) (Stone, diss.).

Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 479, 482 (1965). Weiterhin Pollock v. Farmers' Loan & Trust Co., 158 U.S. 601, 679 f. (1895) (Harlan, diss.); Lochner v. New York, 198 U.S. 45, 69 (1905) (Holmes, diss.); Twining v. New Jersey, 211 U.S. 78, 106 f. (1908); Sproles v. Binford, 286 U.S. 374, 388 f. (1932); Nebbia v. New York, 291 U.S. 502, 537 f. (1934); Olsen v. Nebraska ex rel Western Reference and Bond Assn., 313 U.S. 236, 246 (1941); Ferguson v. Skrupa, 372 U.S. 726,731 (1963). 17

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statute which is challenged and to decide whether the latter squares with the fonner." 18 Um das ganze Pathos, das sich in Bekenntnissen wie diesen widerspiegelt, richtig einzuschätzen, ist indes dringend ein Wort zu deren realen Gehalt vonnöten. Schon auf einen flüchtigen Blick erweist sich nämlich das Versprechen der Kontrollabstinenz in Fragen gesetzgeberischer "Weisheit" als wenig weitreichend. Nach allem, was über die Autorität von Verfassungsgerichten bei der Überprüfung von Gesetzen bekannt ist, wäre es vielmehr ziemlich überraschend, wenn der Supreme Court zu einer solchen Zweckmäßigkeitsprüfung berechtigt wäre. Die scheinbar so einleuchtende Fonnel kaschiert aber noch dazu den Umstand, daß "das von der Zweckmäßigkeitssphäre Erfaßte erst nach Feststellung der vom Gericht als richtig angesehenen Verfassungsauslegung feststeht" 19 und damit das eigentlich zu lösende Problem insgeheim als bereits gelöst voraussetzt. Sie ist also bei genauer Betrachtung kaum mehr als ein wohlschmeckendes Beruhigungsmittel. Darüber hinaus entsprach aber auch die Vorstellung, daß Nonnenkontrolle sich in einem gleichsam semantischem Vergleich von Sätzen des einfachen mit solchen des Verfassungsrechts erschöpfte, wie es der zweite Teil der Stoneschen Aussage impliziert, schon im Jahr 1936 nicht mehr dem herrschenden Geist. Das Bekenntnis, sich des Urteils über die Weisheit eines Gesetzes zu enthalten, sollte aber möglicherweise die Einsicht zum Ausdruck bringen, daß einem Verfassungsgericht nicht mehr als die Kontrolle nur eines äußeren Verfassungsrahmeng obliege, innerhalb dessen der Gesetzgeber frei entscheiden könne. Anderen Aussagen des Supreme Court ist jedoch zu entnehmen, daß eine solche, dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum bewahrende Haltung offenbar nicht immer herrschende Gerichtspraxis war. Repräsentativ fiir eine Vielzahl ähnlicher Stellungnahmen ist die mit deutlicher 8: I-Mehrheit gefaßte Entscheidung "Ferguson v. Skrupa", die noch einmal den Abgesang auf die Phase des "economic due process", also die Serie von Entscheidungen, in denen wirtschaftliche Interessen eine herausgehobene Stellung in der Rechtsprechung des Supreme Court einnahmen, wiederholt: "The doctrine that prevailed in Lochner, Coppage, Adkins, Bums, and like cases - that due process authorizes courts to hold laws unconstitutional when they believe the legisla18 United States v. Butler, 297 U.S. 1, 63 (1936). Ähnlich bereits Adkins v. Children's Hospital, 261 U.S. 525, 544 (1923); Hepbum v. Griswold, 75 U.S. (8 Wall.) 603, 611 f. (1870) und vor allem Marbury v. Madison, 5 U.S. (I Cranch) 137, 177 (1803). Kritisch dazu V Barnett, 39 Mich.L.Rev. 213,217 f. (1940).

19 K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 169. Vgl. dazu auch W. Haller, Supreme Court und Politik, S. 167 f. ; R. Carp IR. Stidham, Federal Courts, S. 56 f.

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ture has acted unwisely- has long since been discarded. We have returned to the original constitutional proposition that courts do not substitute their social and economic beliefs for the judgment of legislative bodies, who are elected to pass laws." 20 Interessant an dieser Aussage ist, daß der Supreme Court hier zwar noch formal an einen "Fehler" erinnert, der soeben noch als unverzeihlich gebrandmarkt wurde- daß es Verfassungsgerichten an der Kompetenz mangelt, Gesetze allein ihrer politischen Untauglichkeit wegen zu kassieren -, daß das Gericht sein eigentliches Versäumnis aber offensichtlich in etwas anderem sieht: nämlich, sich auf einem Feld bewegt zu haben, das in kompetenterer Weise durch ein anderes Verfassungsorgan beackert worden wäre. Die sich aufdrängende Frage ist demnach die, wodurch genau sich die in "Ferguson v. Skrupa" genannten Fälle von den später entschiedenen abheben und wie das Gericht dort seine Rolle im Verhältnis zu den gesetzgebenden Körperschaften defmiert hat. Eine Lektüre der Entscheidungen fördert jedoch nichts zutage, was darauf schließen ließe, daß der Supreme Court seinen damaligen Auftrag auch nur eine Handbreit anders, "aktivistischer", verstanden hätte als dies heute der Fall ist. Einen eindrucksvollen Beleg fiir diese Vermutung liefert die berühmteste der genannten Entscheidungen, "Lochner v. New York" aus dem Jahr 1905. "This court", hatte dort das Gericht erklärt, "has recognized the existence and upheld the exercise of the police powers of the States in many cases which might fairly be considered as border ones, and it has ... been guided by rules of a very liberal nature, the application of which has resulted, in numerous instances, in upholding the validity of state statutes thus assailed."21 Es ist deshalb auch keineswegs verwunderlich, daß das Gericht als Kriterium dafiir, ob die Ausübung der gesetzgeberischen "Polizeigewalt" ungerechtfertigt in Grundrechte der Betroffenen eingegriffen habe, einen sehr großzügigen Prüfungsmaßstab zu wählen scheint. Stets laute die Frage:"ls this a fair, reasonable and appropriate exercise of the police power of the State, or is it an unnecessary and arbitrary interference with the right of the individual to bis personal liberty?"22

Es fügt sich in das bisher gewonnene Bild, daß dieser Standard - so milde er dem Gesetzgeber und so unverdächtig er dem auf judicial restraint dringenden Beobachter auch erscheinen mochte23 - in den Händen des Supreme Court zum

°Ferguson v. Skrupa, 372 U.S. 726, 730 (1962).

2

21

Lochner v. New York, 198 U .S. 45, 54 (1905).

22

Ebd., S. 56.

23

Gleiche Einschätzung bei L. Tribe, Constitutional Law, S. 568 f. (§ 8-3).

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Werkzeug einer rigorosen Prüfungspraxis gemacht wurde, der zahllose Bundes- und Staatengesetze zum Opfer fielen. 24 Gleichwohl betonte das Gericht im Zuge späterer Überlegungen noch in der "Lochner"-Entscheidung selbst ausdrücklich, daß es sich trotz seiner Prüfungsmacht der Gefahr bewußt sei und deswegen davor hüte, seinen Überlegungen Wertungen zugrunde zu legen, die nicht schon die Verfassung stellvertretend filr das Gericht getroffen habe: "This is not a question of substituting the judgment of the court for that of the legislature. lfthe act be within the power ofthe state it is valid, although the judgment of the court might be totally opposed to the enactment of such law." 25 Freilich kann nicht übersehen werden, daß "Lochner", "Coppage" und vielen anderen Entscheidungen dieser Zeit eines gemeinsam war: Sie hatten ein vom Gesetzgeber verfolgtes gesellschaftlich-soziales Anliegen zum Gegenstand und sind allesamt an der Elle einer vom Supreme Court damals mit Verfassungsrang ausgestatteten "Vertragsfreiheit" gemessen worden. Diese Vertragsfreiheit oder, allgemeiner noch: wirtschaftliche Interessen überhaupt, genießen jedoch heute im Supreme Court keinen besonderen Vorrang mehr. 26 Die Zeit des economic due process ist vorbei; fiir Fragen wirtschaftlicher und sozialer Art fiihlt sich das Gericht nicht mehr zuständig.27 Justice Blacks Stellungnahme in "Ferguson v. Skrupa", mit der er die neue Linie des Gerichts von "Lochner" und ähnlichen Fällen der Vergangenheit abzusetzen sucht, könnte also Sinn machen, wenn man sie als den Versuch, einen "bereichsspezifischen" restraint zu statuieren, versteht, etwa nach dem Grundsatz, daß jedenfalls in solchen Situationen Zurückhaltung zu üben sei, in denen 24 Zusammenfassung der Rspr. der "Lochner-Ära" bei L. Tribe, Constitutional Law, S. 560 ff. (Kap. 8). 25 Lochner v. New York, 198 U.S. 45, 56 f. (1905). -In Coppage v. Kansas, 236 U.S. I, 14 (1915) brachte das Gericht seine Zurückhaltung dem Gesetzgeber dadurch zum Ausdruck, daß es von einer "strong general presumption in favor of the validity of state laws" sprach. In Adair v. United States, 208 U.S. 161, 174 (1908), worauf "Coppage" im wesentlichen verweist, findet sich wieder der nur scheinbar großzügige Prüfungsmaßstab. Adkins v. Children's Hospital, 261 U.S. 525, 544 (1923) schließlich betonte, daß "the statute here in question has successfully borne the scrutiny of the legislative branch ofthe government, which, by enacting it, has affirmed its validity and that determination must be given great weight."

26 Vgl. I. Lupu, 77 Mich.L.Rev. 981,986 f. (FN 2~). 994 f. (1979). Beachte aber, daß selbst in den abweichenden Meinungen der Lochner-Ara durchaus die Ansicht zu finden ist, ein "right of contract" lasse sich aus dem 14. Amendment herauslesen. Vgl. etwa Coppage v. Kansas, 236 U.S. I, 28 (1915) (Day, diss.). Ein Grund mehr anzunehmen (so auch L. Tribe, S. 585 f. mit FN 37 (§ 8-7), S. 568 (§ 8-2)), diese Entscheidungen hätten den laissez faire/laissez aller-Geist ihrer Zeit geatmet. Entsprechendes dürfte ftir die moderne privacy-Rechtsprechung gelten, vgl. W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 135 ff.

27

Vgl. W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 54 ff.

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nur wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel stehen. Danach ist judicial restraint nicht dadurch gekennzeichnet, daß das Gericht dem Gesetzgeber gegenüber generell schonend prüft, sondern dadurch, daß diesem in bestimmten Sachbereichen ein größerer Gestaltungsspielraum offensteht, in anderen dagegen nicht. Zur Begründung eines solchen Kurswechsels sind theoretisch ganz verschiedene Erklärungen denkbar. Auf die fiir den deutschen Beobachter eigentlich am nächsten liegende, daß sich nämlich in der Verfassung keine genügenden Anhaltspunkte fiir einen herausgehobenen Schutz finden lassen oder daß jedenfalls am Gemeinwohl orientierte übergeordnete Gesichtspunkte einen Eingriff in die Vertragsfreiheit rechtfertigen, hat sich der Supreme Court jedoch nicht gestützt. Ganz auf der Linie der traditionell-amerikanischen Auffassung von gerichtlicher Zurückhaltung betonte das Gericht statt dessen, daß es sich fiir den Bereich wirtschaftlicher Freiheiten.fimktionell nicht berufen fiihle, einen vom Gesetzgeber vollzogenen Ausgleich konfligierender Werte nachzuvollziehen. 28 Die eben erwähnte Stellungnahme von Justice Black liefert fiir diese Haltung ein ebenso gutes Beispief9 wie Justice Stone mit seiner zweiten (und ungleich wichtigeren) Empfehlung in "Butler": Während die verfassungswidrige Ausübung von Staatsgewalt seitens der Legislative der Kontrolle des Richters unterliege, sei der einzige Damm, der der Ausübung von Staatsgewalt durch den Richter gesetzt sei, dessen "own sense of self-restraint." 30 Wer nun erwartet hätte, das Gericht werde sich eine solche Haltung auch in anderen Fällen zu eigen machen, mußte sich jedoch alsbald eines Besseren belehren lassen. Das irritierende Beispiel dafiir lieferte die privacy-Rechtsprechung der 60er Jahre. Gestützt auf dieselbe Verfassungsvorschrift wie seinerzeit die Entscheidungen der "Lochner"-Ära, nämlich das auch insoweit wenig ergiebige 14. Amendment, erklärte der Supreme Court zahlreiche Gesetze vornehmlich im Bereich der sexuellen Lebensgestaltung fiir verfassungswidrig. 31 28 Zu dieser Begründung und ihren denkbaren Alternativen L. Tribe, Constitutional Law, S. 583 ff. (§ 8-7). Weiterhin G. F. Schuppert, DVBI. 1988, S. 1191, 1192 f.

29 Siehe auch Lochner v. New York, 198 U.S. 45, 90 ff. (1905) (Holmes, diss.); Truax v. Corrigan, 257 U.S. 312, 342 ff. (1921) (Holmes, diss.) und die Auseinandersetzung mit Holmes' Argumenten in Olsen v. Nebraska, 313 U.S. 236,246 f. (1941). Vgl. aus der neueren (auch Gleichheits-)Rspr. Day-Brite Lighting Inc. v. Missouri, 342 U.S. 421, 423 ff. (1952); Williamson v. Lee Optical Co. 348 U.S. 483, 487 ff. (1955); City of New Orleans v. Dukes, 427 U.S. 297, 303 ff. (1976). Zu West Coast Hotel v. Parrish, 300 U.S. 379 (1937) siehe L. Tribe, Constitutional Law, S. 585 mit FN 33 (§ 87).

30

United States v. Butler, 297 U.S. 1, 78 f. (1936) (Stone, diss.).

31

Vgl. W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 106 ff.

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Dabei betonte das Gericht, daß es sich des Prinzips richterlicher Zurückhaltung nicht nur bewußt sei, sondern auch konsequent dieser Idee gemäß handele. Besonders deutlich wird das in den Stellungnahmen des Gerichtes, in denen es sich explizit von den offensichtlich als zu aktivistisch empfundenen Entscheidungen der "Lochner"-Ära abwandte: "Overtones of some arguments suggest", formulierte etwa Justice Douglas in "Griswold v. Connecticut" als der einschlägigen Leitentscheidung, "that Lochner v. New York should be our guide. But we decline that invitation."32 Was also unterscheidet "Griswold" von "Lochner"? In "Griswold" findet sich immerhin der Versuch einer Antwort auf diese Frage. Justice Goldberg wies dort darauf hin, daß es sich beim right ofprivacy um ein "fundamentales" und also besonders Schützenswertes Recht handele. Einer Position diese Qualität zuzuerkennen, habe jedoch nichts mit persönlichen Vorlieben der Richter zu tun: "The inquiry is whether a right involved 'is of such a character that it cannot be denied without violating those fundamental principles of liberty and justice which lie at the base of all our civil and political institutions. "'33 Gerade an dieser Stelle setzte freilich die Kritik der abweichenden Richter ein, von der man mit guten Gründen sagen kann, daß sie sich einer sehr viel vertrauteren Diktion bediente als die Äußerungen der Mehrheit. Justice Black bereits als Verfasser von "Ferguson v. Skrupa" mit seiner vehementen Ablehnung der "Lochner"-Philosophie bekannt - begann seine Ausführungen damit, daß er dem Gericht die alte Unterscheidung zwischen nur moralisch anstößigen und verfassungswidrigen Gesetzen ins Gedächtnis zurückrief: "The law"- es ging um ein strafbewehrtes Verbot der Aufklärung über empfängnisverhütende Maßnahmen - "is every bit of offensive to me as it is to my Brethren of the majority ... There is no single one of the graphic and eloquent strictures and criticisms fired at the policy ofthe Connecticut law either by the Court's opinion or those of my concurring Brethren to which I cannot subscribe - except their conclusion that the evil qualities I see in the law make it unconstitutional. " 34 Anschließend strich Black heraus, was das vom Gericht bevorzugte Jonglieren mit "fundamentalen" Werten bedeute: "The due process argument ... is based ... on the premise that this Court is vested with power to invalidate all state laws that it considers tobe arbitrary, capricious, unreasonable, or oppressive, or on this Court's beliefthat a particular state law under scrutiny has no ' rational or justifying' purpose, or is offensive to a 'sense of faimess and justice."' Was 32 Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 479,481 f. (1965). Scharfe Kritik daran in Roe v. Wade, 410 U.S. 113, 174 (1973) (Rehnquist, diss.). 33

Ebd., S. 493 (Goldberg, conc.). Krit. dazu ebd., S. 518 ff. (Biack, diss.).

34

Ebd., S. 507 (Biack, diss.). Ähnlich ebd., S. 527 (Stewart, diss.).

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Black an einer solchen Auffassung von der Ausübung des richterlichen Prüfungsrechts verkehrt fand, war das daraus resultierende funktionelle Ungleichgewicht zwischen Gericht und Gesetzgeber: "If these forrnulas based on "natural justice", or others which mean the same thing, are to prevail, they require judges to deterrnine what is or is not constitutional on the basis of their own appraisal of what Iaws are unwise or unnecessary. The power to make such decisions is of course that of a legislative body." 35 Black schloß seine Kritik mit der Konzession, den gerichtlichen Überlegungen (nur) dann volle Überzeugungskraft beizumessen, wenn in ihnen zugegeben würde, daß sie auf einer längst auch von der obsiegenden Mehrheit diskreditierten Gerichtsentscheidung beruhten, nämlich "Lochner v. New York."36 Den Supreme Court beim Wort genommen, ergibt sich somit ein verwirrendes Bild: Trotz des ständigen Bekenntnisses zu gerichtlicher Zurückhaltung hat sich das Gericht einerseits erfolgreich auch von solchen Entscheidungen abgesetzt, die es einst selbst gegen die Kritik, allzu intensiv in die Gestaltungsmacht des Gesetzgebers einzugreifen, in Schutz zu nehmen bereit war, andererseits hat es eine stark an eben diese Vergangenheit erinnernde neue Linie seiner Rechtsprechung eröffnet, ohne damit eine Kontinuität zu den Judikaten von früher behaupten zu wollen. Der heute allseits monierte Fehler des "Lochner"Gerichtshofes, so könnte man angesichts dieser Beobachtung sagen, scheint danach nicht der gewesen zu sein, eine falsche Methode der Rechtsfindung verwendet sondern sich selbst eine unpassende Rolle zugeschrieben zu haben: Was dem ökonomische Positionen garantierenden Supreme Court recht ist, 35 Ebd., S. 511 f. (Black, diss.). Siehe auch ebd., S. 520 f. In FN 4 faßt Black den von ihm abgelehnten Ansatz der Mehrheit zusammen: "Perhaps the clearest, frankest and briefest explanation of how this due process approach works is the Statement in another case handed down today that this court is to invoke the Due Process Clause to strike down state procedures or laws which it can ,not tolerate."' Siehe auch Roch in v. Califomia, 342 U.S. 165, 174 ff. (1952) (Black, conc.). Zustimmend R. Bork, 47 Ind.L.J. I, II f. (1971). Nüchtern L. Hand, Bill of Rights, S. 70. Vgl. auch Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 479, 531 (Stewart, diss.): "If, as I should surely hope, the law before us does not reflect the standards of the people of Connecticut, the people of Connecticut can freely exercise their true Ninth and Tenth Amendment rights to repeal it. That is the constitutional way to take this law off the books." Pikanterweise (Nachw. ebd., S. 531, FN 8) hatte die erste gesetzgebende Kammer in Connecticut dem Senat tatsächlich ein Gesetzesvorhaben zugeleitet, das die umstrittenen Vorschrifen abgeschafft hätte. Die in der Zwischenzeit ergangene Supreme Court-Entscheidung jedoch hat weitere gesetzgeberische Aktivität überflüssig gemacht. 36 Ebd., S. 514 f. (Biack, diss.). Vgl. auch ebd., S. 523 mit dem Hinweis, die "Lochner"-Formel sei "no less dangerous when used to enforce this Court's views about personal rights than those about economic rights."- Notabene: In der von der Mehrheit zitierten Entscheidung Meyer v. Nebraska, 262 U.S. 390, 399 (1923) werden (noch) in einem Atemzug "the right of the individual to marry, establish a home and bring up children" und "the right ofthe individual to contract" genannt.

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Zweiter Teil: Selbstverständnis von Supreme Court und BVerfG

muß ihm, wenn ein Gesetzesvorhaben privacy-Rechte berührt, noch lange nicht billig sein. Es bleibt also zunächst festzustellen, daß nur bei oberflächlicher, nämlich allein die Äußerungen des Gerichtes berücksichtigender Betrachtung die gesamte Praxis des Supreme Court als von gerichtlicher Zurückhaltung geprägt bezeichnet werden kann. Sein eindrucksvolles, auf funktionelle Gründe gestütztes Bekenntnis zu judicial restraint wird erheblich beeinträchtigt durch den Umstand, daß den Worten des Gerichtes sein Entscheidungsverhalten keineswegs immer entsprach (Stichwort: "Lochner") und trotz des verbalen Abschneidens alter Zöpfe auch heute noch nicht immer entspricht (Stichwort: "Griswold"). Nicht zuletzt das am Beispiel des Griswold-Falles zu beobachtende Phänomen, daß Gerichtsmehrheit und -minderheit sich gleichermaßen darum bewerben, Wahrer der Grundsätze gerichtlicher Zurückhaltung zu sein, zeigt zudem mit aller Deutlichkeit, daß hinter dem Bekenntnis zu Sensibilität und Rücksichtnahme verschiedene Vorstellungen von einer angemessenen gerichtlichen Rolle stehen. Einen besseren Eindruck davon, wie diese Rolle fiir den heutigen Supreme Court aussieht, wird später eine genauere, nach Kriterien von strenger und durchlässiger Kontrolle geordnete Analyse der wichtigsten Supreme Court-Entscheidungen liefern. Vor dem Hintergrund auch "aktivistisch" anmutender Sprüche des Gerichts ist allerdings zunächst von Interesse zu erfahren, ob sich nicht auch ausdrUckliehe Bekenntnisse des Gerichtes zu dieser Position finden Jassen. Gerade angesichts der dem Supreme Court häufig angetragenen Rolle, als Wahrer und Förderer individueller Rechte zu fungieren, wäre eine solche Aussage alles andere als verwunderlich. 111. Das gemiedene Bekenntnis: ,judicial activism" Dieser Vermutung sprechen allerdings die Bekenntnisse des Supreme Court in erstaunlicher Weise Hohn: Im Grunde läßt sich kaum eine Stellungnahme finden, in der das Gericht seinen Kontrollauftrag gegenüber dem Gesetzgeber in dieser Weise verstanden hätte. Das ist freilich zunächst kaum überraschend, war doch zu sehen, daß nicht einmal "Lochner" oder "Roe" das Gericht zu einem positiven Rollenbekenntnis hatten bewegen können. Indes wäre dasselbe von den sogenannten reapportionment-Entscheidungen nicht unbedingt zu erwarten gewesen. Von diesen Fällen, die die Angemessenheit der staatlichen Wahlkreiseinteilungen zum Gegenstand hatten, hatte sich der Supreme Court vielmehr lange Zeit ferngehalten und auf die angemessene Berücksichtigung der divergierenden Interessen im politischen Prozeß vertraut, bis er zu Beginn der 60er Jahre eine überraschende Kehrtwende vollzog. Von nun an sollten auch diese Fälle einer - noch dazu sehr strengen - gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden. Dieangesichts der im Vorfeld bereits spürbaren

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Kritik artikulierte Mehrheitsmeinung ließ freilich kaum erkennen, daß der Supreme Court mit dieser Rechtsprechung gerade eine funktionelle Streitfrage ersten Ranges gelöst hatte: "We are told", bemerkte Chief Justice Warren, "that the matter of apportioning representation in a state legislature is a complex and many-faceted one. We are advised that the States can rationally consider factors other than population in apportioning representation. We are admonished not to restriet the powers of the States to impose differing views as to political philosophy on their citizens. We are cautioned about the dangers of entering into political thickets and mathematical quagmires. Our answer is this: A denial of constitutionally protected rights demands judicial protection; our oath and our office require no less ofus."37 Gegen eine solche Logik ist schwer anzukämpfen, denn natürlich hatte niemand behauptet, daß der Supreme Court schweigend mitanzusehen hätte, wenn Grundsätze der Verfassung mit Füßen getreten werden. Aber schon die jahrelange Abstinenz des Gerichtes von genau dieser Art Fälle zeigt doch, daß erst eine "aktivistischere" Einstellung dieses schließlich in die Lage gesetzt hat, sich ihrer endlich anzunehmen. Wären die Dinge dagegen so simpel, wie Warren sie beschreibt, bliebe ganz und gar unerklärlich, warum diese einleuchtenden Grundsätze nicht schon vorher gegolten haben sollten. Demnach scheint alles darauf hinauszulaufen, daß nicht die zur Entscheidung stehenden Fälle ihren Charakter, sondern der Supreme Court seine Einstellung ihnen gegenüber geändert hätte. Den verdächtigen Begriff judicial activism in den Mund zu nehmen oder ihn der Sache nach zu beschreiben jedoch, weigerte sich das Gericht.38 Bei genauerer Untersuchung auch anderer Entscheidungen erweist sich, daß das bei den "reapportionment'-Fällen zu beobachtende Phänomen einer Zurückhaltung signalisierenden Stellungnahme trotz agrressiv anmutender Judikatur ganz typisch für die Haltung des Gerichts ist. Dabei liegt der Grund dafür 37 Reynolds v. Sims, 377 U.S. 533, 566 (1964). Bis Baker v. Carr, 369 U.S. 186 ( 1962) galten Fragen der Wahlkreiseinteilung als klassischer Anwendungsfall der political question-Doktrin. Typisch etwa Colegrove v. Green, 328 U.S. 549, 554 ff. (1946). Kritik an dem vollständigen Richtungswechsel in Baker v. Carr, 369 U.S. 186, 267 ff. (1962) (Frankfurter, diss.): "To charge courts with the task ofaccomodating the incommensurable factors of policy that underlie these mathematical puzzles is to attribute, however flatteringly, omnicompetence to judges ... There is not under our Constitution a judicial remedy for every political mischief, for every undesirable exercise of legislative power. The Framers carefully and with deliberate forethought refused so to enthrone the judiciary. In this situation, as in others of like nature, appeal for relief does not belong here. Appeal must be to an informed, civically militant electorate. In a democratic society like ours, relief must come through an aroused popular conscience that sears the conscience ofthe people's representatives." Siehe auch ebd., S. 333 (Harlan, diss.).

38

Vgl. insoweit Baker v. Carr, 369 U.S. 186, 209, 211 ( 1962).

5 Simons

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Zweiter Teil: Selbstverständnis von Supreme Court und BVerfG

durchaus nicht darin, daß ein Mangel an mit guten Gründen "aktivistisch" zu nennenden Supreme Court-Judikaten bestände. Die Schulgebets-39 und commercial speech-Entscheidungen40 , die Entscheidungen zur Diskriminierung von Frauen4 \ nichtehelichen Kindem42 und Ausländem43 sowie zur Rassentrennung im Schulwesen44 und zur rasseverschiedenen Ehe45 bis zu den Abtreibungsentscheidungen46 lassen sich ohne große Mühe im Sinne der hier verwendeten Definition so bezeichnen. Trotzdem sind ausdrückliche Stellungnahmen, die den Begriff ,Judicial activism" in einer das gerichtliche Handeln rechtfertigenden Weise verwenden, in diesen oder anderen Urteilen des Supreme Court nicht zu finden. 47 Seltene Ausnahmen von diesem Grundsatz finden sich in vereinzelten Äußerungen von Gerichtsmitgliedem. Chief Justice Taft etwa, der den Supreme Court durch die 20er Jahre fiihrte, eine Periode während der mehr Gesetzesvorhaben filr verfassungswidrig erklärt wurden als in dem halben Jahrhundert davor, war einer derjenigen, der dem Gericht ausdrücklich eine aktivere Rolle zuzuschreiben bereit war. Die Vorstellung, daß Richter aus der Verfassung die genauen Intentionen ihrer Schöpfer herauslesen sollten oder auch nur könnten, bezeichnete er als "theory of one who does not understand the proper administration of justice." Moderat nur im Ton, jedoch verbindlich in der Sache fuhr er fort: "Frequently, new conditions arise which those who were responsible for the written law could not have had in view, and to which existing common law principles have never before been applied, and it becomes necessary for the Court to make applications of both ... (Such an application) is not the exercise of legislative power ... (but) the exercise of a sound judicial discretion in supplementing the provisions of constitutions and laws and custom, which are 39

Bsp.: Engel v. Vitale, 370 U.S. 421 (1962).

40

Bsp.: Metromedia, Inc. v. City ofSan Diego, 453 U.S. 490 (1981).

41

Bsp.: County ofWashington v. Gunther, 452 U.S. 161 (1981).

42

Bsp.: Trimble v. Gordon, 430 U.S. 762 (1977).

43

Bsp.: Plyler v. Doe, 457 U.S. 202 (1982).

44

Bsp.: Brown v. Board ofEducation, 347 U.S. 483 (1954).

45

Bsp.: Loving v. Virginia, 388 U.S. 1 (1967).

46

Bsp.: Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (1973); Doe v. Bolton, 410 U.S. 179 (1973).

Regelmäßig wird der Begriff judicial activism in abweichenden Ansichten und dort auch nur zum Zweck der Kritik an der Gerichtsmehrheit verwendet, vgl. United States v. Wade, 388 U.S. 218, 250 (1967) (Black, diss.); Teleprompter Corp. v. Columbia Broadcasting System, Inc., 415 U.S. 394, 419 (1974) (Douglas, diss.); Columbus Board of Education v. Penick, 443 U.S. 449, 487 (1979) (Powell, diss.); Wards Cove Packing Co. v. Atonio, 490 U.S. 642,663 (1989) (Stevens, diss.). 47

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necessarily incomplete or lacking in detail to their proper application, especially to new facts and situations constantly arising ... Indeed it is one of the highest and most useful functions that courts have to perform in making a govemment of law practical and uniformly just."48 Dies ist freilich nur eine (wenn auch die damalige Praxis zutreffend beschreibende) literarische Äußerung Tafts, wohingegen sich der Supreme Court sogar der "Lochner-Ära" eben stets bemüht hat, zumindest seinen Worten nach richterliche Zurückhaltung zu demonstrieren. Nur ganz selten ist den gerichtlichen Äußerungen unmittelbar ein Bekenntnis zu entschlossenem gerichtlichem Auftreten zu entnehmen. Einer dieser Fälle ist "Cooper v. Aaron", wo das Gericht zu seiner und der Rolle der anderen Gewalten bei der Entfaltung der Verfassung und mittelbar zum Verhältnis der Gewalten untereinander Stellung zu nehmen hatte49. Die Sprache des Gerichts war dabei an Deutlichkeit nicht zu überbieten: "In 1803, Chief Justice Marshall, speaking for a unanimous Court, referring to the Constitution as "the fundamental and paramount law of the nation" , declared in the notable case of Marbury v. Madison, that "it is emphatically the province and duty of the judicial department to say what the law is." This decision declared the basic principle that the federal judiciary is supreme in the exposition of the law of the Constitution ... lt follows that the interpretation of the Fourteenth Amendment enunciated by this Court ... is the Supreme Law ofthe land."50 Bei einem solchen Verständnis des richterlichen Prüfungsrechts und der institutionellen Rolle des Supreme Court ist in der Tat kaum zu erkennen, welcher legitime Platz den gesetzgebenden Körperschaften bei der Wahrnehmung ihrer Gestaltungsaufgabe verbliebe. Die markigen Worte des Gerichtes müssen jedoch vor dem tatsächlichen Hintergrund der Entscheidung gesehen werden: Exekutivorgane des Staates Arkansas hatten sich offen geweigert, die vom Supreme Court in der Leitentscheidung "Brown v. Board of Education" bereits Jahre zuvor angeordnete Oesegregation von Schwarzen und Weißen in den Schulen des Staates durchzu48 W Taft, Popular Government, S. 222 f. Ähnliche Stellungnahmen finden sich gelegentlich auch von Richtern, die man kaum in die Gruppe der activists einreihen kann, vgl. Southern Pacific Co. v. Jensen, 244 U.S. 205, 221 (1917) (Holmes, diss.); Truax v. Corrigan, 257 U.S. 312,357 (1921) (Brandeis, diss.). 49 Problemaufriß: G. Gunther, Constitutional Law, S. 21 ff. Vgl. auch Holmes Mehrheitsmeinungzum Verhältnis von Supreme Court und Gesetzgeber in Missouri, Kansas & Texas Railway Co. v. May, 194 U.S. 267, 270 (1904): "It must be remernbered that legislatures are ultimate guardians of the liberties and welfare of the people in quite as great a degree as the courts."

°Cooper v. Aaron, 358 U.S. 1, 17 f. (1958).

5

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Zweiter Teil: Selbstverständnis von Supreme Court und BVerfG

fUhren. 5 1 Dadurch sah sich das Gericht veranlaßt, mit aller Deutlichkeit auf die Autorität seiner Judikate hinzuweisen. Dabei schoß die Entscheidung jedoch um einiges über das Ziel hinaus. Ein einfacher Hinweis darauf, daß es den Staaten nicht zustehe, Akte der Bundesgewalt zu ignorieren, hätte bereits genügt, die Unhaltbarkeit der Position Arkansas aufzuzeigen. Das nimmt den vom Gericht angestellten Überlegungen nichts von ihrer juristischen Verbindlichkeit, hat filr die hier behandelte Frage jedoch die Folge, daß in einer derartigen "Notsituation" der forschen Äußerung des Gerichts kaum der Wert beigemessen werden kann, der ihr zunächst zuzukommen scheint. Diese Feststellung fUgt sich insoweit gut ins Bild, als sich der moderne Supreme Court ganz allgemein qualitativ sehr zurückhaltend und quantitativ nur sporadisch zu einem stärkeren gerichtlichen Engagement bekennt. 52 IV. Zusammenfassung Die Begriffe judicial activism und judicial restraint sind von fundamentaler Bedeutung fiir das Verständnis der amerikanischen Gerichtspraxis. Infolge ihrer primären Orientierung an den am Vorgang der Verfassungskontrolle beteiligten Institutionen stehen sie nicht nur filr den gerichtlichen Verzicht auf die Prüfung von Zweckmäßigkeit und Opportunität eines Gesetzes, sondern beinhalten zudem eine funktionell-rechtliche Komponente: In ihnen artikuliert sich die An- oder Aberkennung der Entscheidungsprärogative eines im Sinne einer Arbeitsteilung gleichgestellten anderen Verfassungsorgans. Das überwältigende gerichtliche Bekenntnis zu judicial restraint spiegelt dabei nur die auch in der amerikanischen Verfassungsdoktrin vorherrschende Auffassung vom Ausnahmezustand gerichtlichen Aktivismus - und zwar selbst im Bereich der Grundrechte - wider.

51 Die Vertreter Arkansas hatten erklärt, sie fühlten sich als am Streit Unbeteiligte durch die Entscheidung nicht gebunden. Ein Untergericht hatte jedoch später die Schulbehörde angewiesen, den Spruch des Supreme Court zu vollziehen. Zum Ganzen G. Gunther, Constitutional Law, S. 26 f. 52 Vgl. noch Powell v. McCormack, 395 U.S. 486, 549 (1969). In der Entscheidung ging es jedoch nicht um Grundrechtsfragen.

B. Bundesverfassungsgericht

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B. Bundesverfassungsgericht I. Der "Statusbericht" von 195253 Anders als jemals während seiner sehr viellängeren Geschichte der Supreme Court hat sich das BVerfG bereits in den ersten Jahren seines Bestehens abstrakt und umfassend zu Fragen sowohl eines Status als auch seines Selbstverständnisses geäußert: einmal gleich zu Beginn seiner Existenz, 1952, später dann in wiederholend-affmnativer Form aus Anlaß seines zehn-54 und schließlich seines zwanzigjährigen55 Jubiläums.56 Unmittelbarer Anlaß fiir den Versuch des BVerfG, seinen Status zu klären, war die noch aus der abgebrochenen Weimarer Debatte um die Stellung eines Staatsgerichtshofes herrührende57 Unsicherheit darüber, wie sich sein Verhältnis zu den anderen staatlichen Institutionen in Zukunft gestalten würde. Das betraf in erster Linie die Stellung seiner Richter, organisatorische und protokollarische Aspekte sowie Fragen des Haushaltsrechts.58 Parlamentarischer Rat und einfacher Gesetzfgeber hatten diese Fragen aus ihren Beratungen weitgehend ausgeklammert. 9 So sah es das BVerfG schon aus ganz handfesten praktischen Erwägungen als seine Aufgabe an, "seinen Status selbst im Rahmen des Gesamtgefiiges der Verfassung zu defmieren." 60 Der Statusbericht vertrat hier von Anfang an die Auffassung, daß es sich beim BVerfG um ein "mit höchster Autorität ausgestattetes Verfassungsorgan" handele, das berufen sei, "Bundestag, ... Bundesrat und ... Bundesregierung ebenbürtig zur Seite" stehend, an der "obersten Staatsgewalt" zu partizipie-

53 Der üblicherweise so bezeichnete "Statusbericht" meint vor allem die "Denkschrift" von 1952 (abgedruckt in JöR 6 (1957), S. 144 ff.). Er wird sachlich ergänzt durch den von G. Leibholz verfaßten "Bericht des Berichterstatters an das Plenum des BVerfG" (abgedruckt ebd., S. 120 ff.), die "Erwiderung des BVerfG auf ein vom Bundesjustizminister eingeholtes Rechtsgutachten die Stellung des BVerfG betreffend" von 1953 (abgedruckt ebd., S. 194 ff.) sowie einen die gesamte Edition einleitenden Aufsatz von G. Leibholz (ebd., S. 110 ff.). 54

G. Leibholz, in: BVerfG (Hrsg.), BVerfG I (1963), S. 61 ff.

55

G. Leibholz, in: BVerfG (Hrsg.), BVerfG II (1971), S. 31 ff.

R. Dolzer, Stellung, S. 43 nennt die Berichte "staatsrechtliche Dokumente von erstrangiger Bedeutung." Sehr zurückhaltend aber B. Großfeld, NJW 1998, S. 3544 ff. 56

57

Dazu H. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 270 ff.

Zusammenfassend H. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 306 ff.; K. Schlaich, BVerfG, Rdz. 27 ff. 58

59

H. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 12, 13, 57 ff., 102 ff., 114 ff., 124 ff.

60

G. Leibholz, JöR 6 (1957), S. 110, 113.

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Zweiter Teil: Selbstverständnis von Supreme Court und BVerfG

ren.61 Dabei entsprach diese Aussage zumindest im Hinblick auf die Verfassungsorgan-Qualität freilich exakt der Feststellung des § I BVerfGG und enthielt insoweit also nichts umwerfend Neues. Das BVerfG ging indes noch einen Schritt weiter und leitete diese Eigenschaft direkt aus "Wortlaut und Sinn des Grundgesetzes"62, also unmittelbar aus der Verfassung ab. Dies für nicht mehr als einen Streit um Worte zu halten63, hieße jedoch, die sich daran anschließende Auseinandersetzung darum, "welche Konsequenzen sich aus der Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen des Bonner Grundgesetzes unmittelbar für das geltende Verfassungsrecht ergeben"64, ungerechtfertigter Weise zu ignorieren. Eben diese Konsequenzen werden nämlich heute nicht mehr nur zur Klärung der längst beantworteten Kompetenzfragen von früher eingefordert, sondern um Reichweite und Grenzen der Rechtsprechungstätigkeit des BVerfG ausmessen zu können. In der "Apotheken-Entscheidung" aus dem Jahr 1958 hatte das BVerfG selbst angedeutet, daß es sich als Verfassungsorgan dem Vorwurf des unberechtigten Eingriffs in die Sphäre der Gesetzgebung weit weniger stark ausgesetzt sehe als die anderen Gerichte.65 Daran hatte sich verschiedentlich die Überlegung angeschlossen, ob nicht diese Qualifikation als "Verfassungsorgan" einen "Anteil an der obersten Staatsleitung"66 impliziere oder sogar einen "Kompetenztitel zur Überschreitung der Grenzen richterlicher Tätigkeit" 67 darstelle.68 61

Alle Zitate BVerjG-Denkschrift, JöR 6 ( 1957), S. 144, 144 f.

62 Ebd., S. 144.- Vgl. auch BVerfGE 6, 300, 304. 63 So aber H. Meyer (Diskussionsbeitrag), VVDStRL 39 (1981), S. 167. Dagegen K.

Schlaich, BVerfG, Rdz. 30. 64

BVerjG-Denkschrift, JöR 6 ( 1957), S. 144, 144.

BVerfGE 7, 377, 413: "Haben mithin schon bisher die Gerichte es als rechtlich geboten und tatsächlich möglich erkannt, zum Schutz der Freiheit des Bürgers Gesetze unter gewissen Voraussetzungen auf ihre Notwendigkeit zu prüfen, so kann eine solche Prüfung dem Bundesverfassungsgericht noch weniger entzogen sein; denn ihm ist ... der Schutz der Grundrechte gerade gegenüber dem Gesetzgeber anvertraut, und er ist kraft seiner allgemeinen Stellung als Verfassungsorgan und Gericht für verfassungsrechtliche Fragen dem Vorwurf unberechtigten Eingriffs in die Gesetzgebungssphäre weit weniger ausgesetzt als die anderen Gerichte." Vgl. demgegenüber flir den Supreme Court H. Schwarz, Außenpolitik, S. 293 f. 65

66

K. Hesse, Grundzüge, Rdz. 669 (§ 19 1).

67 So (freilich kritisch) K. Schlaich, BVerfG, vor Rdz. 30. 68 Nachw. bei K. Schlaich, VVDStRL 39 (1981), S. 99, 131. Prägnante Darstellung

dieser Position bei K. Vogel, BVerfG, S. 34 ff. Vgl. auch J. lpsen, Staatsorganisations-

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Es darf freilich nicht übersehen werden, daß sich das BVerfG an dieser Diskussion über die eben erwähnte, zudem als bloßes obiter dieturn gedachte Äußerung im "Apotheken-Urteil" hinaus nicht beteiligt hat; als Argumentationsfigur in verfassungsgerichtlichen Entscheidungen hat die Einordnung als Verfassungsorgan bisher kaum eine Rolle gespielt. 69 Daraus folgt, daß die Einzelheiten der Auseinandersetzung hier ignoriert werden können.

II. Die Abgrenzung von Recht und Politik und die political question-Doktrin Größere Beachtung verdient demgegenüber die bereits in den DenkschriftMaterialien zum Ausdruck gebrachte und später auch in einzelnen Entscheidungen immer wieder betonte Auffassung, das BVerfG klammere politische Aspekte aus und entscheide nur über Rechtsfragen. Daraus folge, daß das Gericht sich - nur - von solchen Streitigkeiten fernzuhalten habe, für deren Entscheidung es an einer handhabbaren Rechtsregel fehlt. "Ist dies aber nicht der Fall, und handelt es sich entweder um eindeutige oder doch - wie das vielfach bei den Grundrechtsbestimmungen der Fall ist - durch Auslegung und Ermittlung ihres Inhalts näher bestimmbare Normen, so können diese trotz ihres politischen Inhalts als echte Rechtssätze bezeichnet und kann und muß die Behauptung gewagt werden, daß die Entscheidungen des BVerfG auf rechtlicher Grundlage ergehen und echte Rechtsstreitigkeiten zum Gegenstand haben." 70 Echte Rechtsstreitigkeiten aber seien solche, "bei denen nicht etwa erfunden wird, was im Grundgesetz nicht enthalten ist, sondern bei denen das, was als Gehalt des Willens des Gesetzgebers tatsächlich vorentschieden schon vorhanden ist, gefunden wird."71 Wie ein roter Faden zieht sich dieses "subsumtionstechnische, apolitische" 72 Verständnis der Tätigkeit des BVerfG bereits durch den Statusbericht und die ihm zugrunde liegenden Materialien.73 Durch die Aufnahme des BVerfG in den recht, Rdz. 839 ff. sowie Berichterstatter-Bericht, JöR 6 (1957), S. 120, 128 mit der Feststellung, es könne nicht überraschen, "daß eine echte Verfassungsgerichtsbarkeit in einem gewissen Ausmaß zugleich auch Funktionen der Regierung und Gesetzgebung wahrnimmt." 69 Vgl. aber W. Geiger, BVerfDG-Kommentar, S. 4 (Anm. 1). Sehr viel zurückhaltender demgegenüber ebd., S. 56 f. (Anm. 2-4). Scharf ablehnend K. Schlaich, BVerfG, Rdz. 30 ff. Vgl. auch K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 22 f., 28 f. 70

Berichterstatter-Bericht, JöR 6 (1957), S. 120, 125.

71

BVerjG, Gutachten-Erwiderung, JöR 6 (1957), S. 194, 198.

R. Dolzer, Verfassungskonkretisierung, S. 24. Vgl. auch ders., Stellung, S. 56 f. sowie K. Hesse, Grundzüge, Rdz. 565 (§ 14 Ili 3 c). 72

73 Vgl. insbes. Berichterstatter-Bericht, JöR 6 (1957), S. 120 ff. Dazu R. Dolzer, Stellung, S. 45 ff.

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Zweiter Teil: Selbstverständnis von Supreme Court und BVerfG

Abschnitt über "Die Rechtsprechung" im Grundgesetz formal noch verstärkte Leitidee dessen ist die Vorstellung, Verfassungsrechtsprechung sei nichts anders als gewöhnliche Gerichtstätigkeit, habe es also mit einer Norm zu tun, die auf der Grundlage überkommener Interpretationsmethoden für den Einzelfall aufzubereiten sei. Die Vorstellung, hierbei komme auch eine politische Dimension ins Spiel, gar in der Form, daß Gerichte Politik machten, ist unter dieser Prämisse femliegend: "Ob ein Richter ... bei Streitigkeiten, Zweifeln oder Meinungsverschiedenheiten eines Verfassungsgesetzes oder eines anderen Gesetzes rechtsgestaltend zu entscheiden hat, ist nicht von Belang. Die Wertungen, die ein Verfassungsrichter bei der Urteilstindung einzuhalten hat, unterscheiden sich von denen des ordentlichen Richters nur dadurch, daß die ersteren gegenständlich an den in der Verfassung enthaltenen politischen Rechtsentscheidungen des Verfassungsgesetzgebers, die letzteren dagegen an dem in concreto auszulegenden Zivil-, Straf- oder Verwaltungsgesetz orientiert sind."74 Entscheidend für diese bundesverfassungsgerichtliche Sicht der Dinge ist also weniger eine "wesensmäßige" Trennung von Recht und Politik75 - dies schon deshalb nicht, weil Verfassungsrecht es eben mit "geronnener Politik" zu tun hat -, sondern die Scheidung einfacher politischer und politischer Rechtsstreitigkeiten, die auf der Annahme beruht, daß die einer Entscheidung zugrunde liegenden rechtlichen Fundamente ohne weiteres aufspürbar seien.76 Auf dieser Grundlage erweist sich die Abgrenzung des politischen Gestaltungsvom gerichtlichen Kontrollraum als geradezu simplistisch: Gestaltungsfreiheit genießt der Gesetzgeber danach solange und soweit ihm nicht rechtliche Grenzen gesetzt sind; erst wenn solche überhaupt existieren und der Gesetzgeber diese überschreitet, ist das Gericht zum Eingreifen ermächtigt. Dieses beliebten Argumentationsmusters hat sich das BVerfG immer wieder bedient, um Korrekturen des Gesetzgebers zu rechtfertigen, das erste Mal bereits im Jahr 1952, als es um ein Rechtsgutachten zur Vereinbarkeil der Verträge über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und die Beziehungen der Bundesrepublik zu den Drei Mächten mit dem Grundgesetz ging. Das Gericht weigerte sich anzuerkennen, daß ihm eine politische Entscheidung in die Hand gelegt sei; diese trage allein die einfache Mehrheit des Bundestages. Das BVerfG betonte statt dessen, daß es eine reine Rechtsent74 G. Leibholz, in: BVerfG (Hrsg.), BVerfG I (1963), S. 61, 69. Ebenso Berichterstatter-Bericht, JöR 6 (1957), S. 120, 123 ff.

75 Vgl. BVerjG-Denkschrift, JöR 6 (1957), 144, 145 sowie G. Leibholz in seinen sämtlichen Veröffentlichungen zur Verfassungsgerichtsbarkeit 76 Vgl. G. Leibholz, in: BVerfG (Hrsg.), BVerfG I (1963), S. 61, 64; ders. (Diskussionsbeitrag), VVDStRL 20 (1963), S. 117, 118; Berichterstatter-Bericht, JöR 6 (1957), S. 120, 125; BVerjG-Denkschrift, JöR 6 (1957), S. 144, 145. Zur jüngsten Diskussion H.-P. Schneider, NJW 1997, S. 2030 ff.

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scheidung treffe, zu der es als Gericht ohne weiteres legitimiert sei. Jede andere Auffassung bedeute eine Leugnung des richterlichen Prüfungsrechts und einen absoluten Vorrang der Entscheidung des Gesetzgebers." Damit war der richterlichen Kontrollbefugnis ein ebenso weites wie vermeintlich ungefahrliches Feld eröffnet: "Das BVerfG sorgt unter diesen Umständen nur dafiir, daß sich die übrigen Staatsorgane so verhalten, wie sie sich von Verfassung wegen ohnedies verhalten müßten. Es entscheidet nicht eigentlich, sondern bringt lediglich Vorentscheidungen zur Geltung. Verfassungsrechtsprechung bleibt ihrer Natur nach Rechtsanwendung", die dann "zwar immer noch einen Machtverlust fiir die traditionellen Staatsorgane (bedeutet), doch nur den Verlust der Macht, ungestraft gegen die Verfassung zu verstoßen."78 Immer wieder, auch außerhalb des engeren außenpolitischen Bereichs, hat das Gericht betont, daß nichts mehr, aber auch nichts weniger seines Amtes sei, als "in den gesetzlichen Verfahrensarten anband rechtlicher Maßstäbe darüber zu entscheiden, ob zumal bei Ausübung öffentlicher Gewalt - und sei es auch in hochpolitischen Angelegenheiten- die Verfassung beachtet worden ist"; es sei "indes nicht (seine) Aufgabe, ersatzweise politische Entscheidungen zu treffen." 79 Inzwischen ist die auf diese Weise vollzogene, scheinbar so leichte Trennung der Sphären des Gerichts ("Streit nach dem Recht") und der Gesetzgebung ("Streit um das Recht"8\ die dem vom BVerfG favorisierten Subsumtionsideal zugrunde liegt, freilich derart in die Kritik geraten, daß die eine ihrer Grundthesen - die Unterscheidung von einfachen politischen und politischen Rechtsstreitigkeiten - heute zumindest in ihrer Allgemeinheit als kaum noch haltbar angesehen wird. 81 77 BVerfGE 2, 79, 96 f. Dazu H. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 338 ff. § 97 BVerfGG, der die Möglichkeit solcher Gutachten vorsah, wurde I956 aufgehoben. Zur Situation in den USA vgl. ebd., S. 86 sowie allgemein zum Verbot sog. advisory opinions (mit funktionell-rechtlicher Begründung) Muskrat v. U.S., 2I9 U.S. 346, 356 f. (I91I); L. Tribe, Constitutional Law, S. 73 f. (§ 3-9); H.-J Schäfer, Richterliche Gewalt, S. 29 ff. 78 (Referierend) D. Grimm, in: W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Sozialwissenschaften, Bd. II ( I977), S. 83, 87. 79

BVerfGE 68, I, 77 f. Vgl. weiterhin BVerfGE 6, 132, 137; 39, I, 51.

80

Begriffe nach Berichterstatter-Bericht, JöR 6 (1957), S. 120, 125.

Nachw. bei R. Dolzer, Verfassungskonkretisierung, S. 12 ff., 19 f.; ders. , Stellung, S. 43 ff., 55 f.; G. F. Schuppert, Auswärtige Gewalt, S. I29 ff., I40 ff., I64; A. Rinken, in: AK-GG, Rdz. 87 ff. vor Art. 93; D. Grimm, in: W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Sozialwissenschaften, Bd. II ( I977), S. 83, 90 ff. 81

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Zweiter Teil: Selbstverständnis von Supreme Court und BVerfG

Vollends zweifelhaft ist heute zudem die Annahme geworden, das richterliche Erkenntnisvennögen könne Gewähr dafilr bieten, daß gerade die vom BVerfG gewählte Auslegungsalternative einer anderen, von einer der beteiligten, der Verfassung unterworfenen und im demokratischen Prozeß verantwortlichen Parteien favorisierten Auffassung überlegen sei. Und sie ignoriert schließlich die Erkenntnis, daß selbst dann, wenn es tatsächlich tägliches Brot eines jeden Richters und keine Besonderheit gerade des BVerfG ist, unbestimmte Rechtsbegriffe auszulegen 82, sich dennoch- dies ein Spezifikum gerade der Verfassungsgerichtsbarkeit- funktionelle Schieflagen zwischen Gericht und Gesetzgeber ergeben können, die von Verfassung wegen nicht erwünscht sind. 83 Von vereinzelten Ausnahmen abgesehen84 hat sich diese Erkenntnis in der Rechtsprechung des BVerfG jedoch nicht niedergeschlagen. Sie hat vielmehr das Gericht gerade in den Fällen in die Kritik gerückt, in denen dieses meinte, bloß "Recht" zu sprechen. Gerade dem Vorwurf, ein politischer Akteur zu sein, ist das BVerfG mit Blick auf seinen ausdrücklich erklärten "Verzicht, Politik zu treiben" 85 , jedoch immer ausdrücklich entgegengetreten. Es ist deshalb nicht übertrieben zu sagen, daß der Gegensatz von Recht und Politik und die mit ihm zusammenhängende Ideologie der "Auslegung" eines Gesetzestextes oder gar einer geschlossenen Kodifikation das Selbstverständnis des BVerfG, ganz anders als das des Supreme Court86, noch heute stark beeinflussen.87 Ziemlich eisern an dieser Position festhaltend, verwundert es nicht, daß das BVerfG sich gegenüber Versuchungen, die politica/ question-Doktrin in seine

82 SoG. Leibholz, in: BVerfG (Hrsg.), BVerfG I (1963), S. 61, 69. Ebenso Berichterstatter-Bericht, JöR 6 (1957), S. 120, 123 ff.

83 Für diesen Zusammenhang G. F. Schuppert, Auswärtige Gewalt, S. 164 f., 209. Vgl. auch J. lpsen, Norm und Einzelakt, S. 203 f.

84 Vgl. BVerfGE 49, 89, 131; 55, 349, 365 ff. mit R. Dolzer, Verfassungskonkretisierung, S. 3 ff. sowie W Zeidler (Diskussionsbeitrag), in: Frhr.v.Stein-Ges. (Hrsg.), Cappenberger Gespräch (1980), S. 43, 52 f. Neuerdings auch (flir den organisatorischen Teil der Verfassung) BVerfGE 62, I, 45. 85

BVerfGE 36, 1, 14.

86

Vgl. nur M. Kriele, Staat 4 (1965), S. 195, 198 f.

87 Ebenso C. Gusy, EuGRZ 1982, S. 93, 93, 95; K. Vogel, BVerfG, S. l3 ff.; D. Grimm, in: W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Sozialwissenschaften, Bd. II (1977), S. 83, 87 ff.; P. Häberle (Diskussionsbeitrag), VVDStRL 39 (1981), S. 159, 159; J. Burmeister (Diskussionsbeitrag), ebd., S. 205, 205 f.; B. Eisenblätter, JöR 29 ( 1980), S. 63, 65. Rechtsvergleichend aufschlußreich D. Kommers, Constitutional Jurisprudence, S. 45 ff.

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Rechtsprechung zu integrieren88, bisher weitgehend resistent gezeigt hat: Wer sich vennittels zuverlässig arbeitender Methoden rechtlich eindeutig handhabbarer Maßstäbe sicher weiß, hat keinen Anlaß, über das Ausscheiden politischer Fragen nachdenken. Dabei ist freilich bemerkenswert, daß diese meist sehr oberflächlich analysierte Argumentationsfigur unter ihrem aus deutscher Perspektive einzig sinnvollen Aspekt- als Musterbeispiel einer funktionell-rechtlich fundierten Verfassungsperspektive - nahezu unerwähnt bleibt89, während sie unter einem vollends fernliegenden Gesichtspunkt um so kritischer diskutiert wird. Diese Auseinandersetzung steht unter der unausgesprochenen Prämisse, mit der political question-Doktrin verfUge die amerikanische Praxis, aus der der Begriff entlehnt ist, über ein Allheilmittel zur Lösung problematischer Fallkonstellationen auf der Scheidelinie von Recht und Politik. Insbesondere hat es den Anschein, als gingen die Kommentatoren davon aus, bei ihr handele es sich um eine "generelle juristische Technik ... , welche es - ohne juristische Rechtfertigung - erlaube, politische Fragen in ihrem rechtlichen Aspekt ungelöst zu lassen."90 Selbst bei großzügiger Beurteilung der - im übrigen quantitativ eher bescheidenen - amerikanischen Kasuistik91 enthält die politica/ question-Doktrin aus dieser Perspektive indes nichts, was einen Ausweg aus dem Dilemma der in Deutschland als besonders problematisch angesehenen Fälle böte. Bei allem Streit um den randscharfen Inhalt dieser Lehre darf doch nicht übersehen werden, daß sie in erster Linie außenpolitische und ansonsten nur solche "innenpolitischen" Angelegenheiten zum Gegenstand hat, die allenfalls marginal lndivi88 Dafür R. Da/zer, Verfassungskonkretisierung, S. 27 ff. ; ders. , Stellung, S. 107 ff.; C. Landfried, in: C. Landfried (Hrsg.), Constitutional Review and Legislation (1988), S. 147, 165. Vgl. auch H. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53, 75 f.; F. Scharpf, Political Question, S. 350 (FN 145), 417 sowie W. Zeidler (Diskussionsbeitrag), in: Frhr.v.Stein-Ges. (Hrsg.), Cappenberger Gespräch (1980), S. 52 f. 89 Positive Ausnahmen: H. Schwarz, Außenpolitik, S. 304 ff.; W. Brugger, StaWiss u. Stafrax 1993, S. 319, 330 f.; R. Da/zer, Verfassungskonkretisierung, S. 29 f. et passim. Oberblick zur dogmatischen Einordnung bei ders., Stellung, S. 102 ff. ; C. Rau, Grenzen, S. 78 ff., 228 ff. Andeutungen auch bei B.-0. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 312; K. Chryssaganas, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 178 f. Vgl. auch F. Scharpf, Political Question, S. 404 ff. ; J Isensee, in: J. Isensee I P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. StaatsR, Bd. VII ( 1992), S. 152 (§ 162, Rdz. 88). Für eine empirische Untersuchung vgl. C. Landfried, BVerfG und Gesetzgeber, S. 151 ff. Aus amerikanischer Perspektive aufschlußreich N. Kamesar, 51 U. Chi.L.Rev. 366, 380 ff. ( 1984).

90 So (ohne dieser Ansicht anzuhängen) R. Da/zer, Stellung, S. 106. Mißverständlich etwa K. Stern, Außenpolitischer Gestaltungsraum, S. 10 f. 9 1 Vgl. W. Brugger, Einführung, S. 19 ff.; A. v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 126 f.

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dualrechtspositionen berühren. Oberste Leitlinie der amerikanischen Gerichtspraxis ist vielmehr, daß überall dort, "where important individual rights are at stake, the doctrine will not be applied.'.n Dementsprechend wird auch nirgends in der amerikanischen Diskussion, weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur, eine Anwendung der political question-Doktrin auf die Bill of Rights diskutiert. Eine ausschlaggebende Rolle filr die Begrenzung der Normenkontrollbefugnisse des Supreme Court spielt sie in diesem Bereich also selbst in den USA nicht. Die Fragen danach, ob diese Lehre genügend klar formuliert ist93 , ob sie auf das vorgeblich ganz anders strukturierte deutsche Verfassungssystem übertragen werden kann94 und ob ihre Anwendung Nutzen verspricht, stürmen demnach allesamt über den entscheidenden Aspekt einfach hinweg: daß nämlich die political question-Doktrin in ihren amerikanischen Ursprüngen zwar ein verwandtes Problem, dieses jedoch in einem von dem deutschen ganz verschiedenen Sachbereich betrifft.

111. BVerfG undjudicial se/frestraint Unabhängig von der filr sie jeweils vorgeschlagenen dogmatischen Begründung muß die po/itical question-Doktrin als Ausdruck der Überzeugung verstanden werden, daß dem Gesetzgeber in bestimmten Sachbereichen ein eigener, von gerichtlicher Kontrolle unbeeinträchtigter Gestaltungsspielraum zusteht. Es ist daher nicht ungewöhnlich, daß in den USA in diesem Zusammenhang auch häufig der Begriffjudicial restraint (bzw. se/frestraint) flillt. Wie gerade zu sehen war, hat dieser Terminus nach amerikanischen Verständnis jedoch eine über das enge Anwendungsfeld der politica/ question-Doktrin weit hinausweisende Bedeutung filr das Verhältnis des Supreme Court zum Gesetzgeber: Er bezeichnet ein umfassendes Konzept des Zurückstehens der einen gegenüber der anderen Gewalt als Folge der Anerkennung je eigenständiger Verant. he. 95 wortungsbere1c

92 F. Scharpf, 75 Yale L.J. 517, 584 (1966). Überblick: L. Tribe, Constitutional Law, S. 96 ff. (§ 3-13); W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 17 ff.

93 Vgl. z.B. K. Vogel, BVerfG, S. 25 ff.; W Heun, Funktionell-rechtliche Schranken, S. 11 f.; W-R. Schenke, NJW 1979, S. 1321, 1325. 94 K. Vogel, BVerfG, S. 27 ff.; W Heun, Funktionell-rechtliche Schranken, S. 11 f.; R. Zuck, JZ 1974, S. 361 , 363 f.

95

Zutreffend K. Stern, Außenpolitischer Gestaltungsraum, S. 9.

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Auch die Argumentationsfigur des judicial restraint hat mittlerweile beim BVerfG Einzug gehalten. Zwar schon früher, aber am nachhaltigsten im Urteil zum Grundlagenvertrag fiihrte das BVerfG aus: "Der Grundsatz des judicial self-restraint, den sich das Bundesverfassungsgericht auferlegt, bedeutet nicht eine Verkürzung oder Abschwächung seiner ... Kompetenz, sondern den Verzicht, "Politik zu treiben", d.h. in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen. Er zielt also darauf ab, den von der Verfassung fiir die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten."96 Der neuartige Topos ist von der Lehre begierig aufgegriffen und verarbeitet worden. Dabei hat er allerdings infolge der ihm vorgeworfenen Substanzlosigkeit und der mit ihm vorgeblich im~lizierten Bindungslosigkeit des Richters zumeist scharfe Ablehnung erfahren.9 Dieses Ergebnis allein ist freilich weit weniger erstaunlich als der Umstand, daß Rechtsprechung und Lehre den Begriff überhaupt in ihr Argumentationsarsenal aufgenommen haben. Legt man nämlich das subsumtionstechnisch-apolitische Verständnis von Verfassungskontrolle zugrunde, wie es exemplarisch im Statusbericht zum Ausdruck kommt, bleibt fiir judicial restraint oder activism in der von der amerikanischen Doktrin verwendeten funktionalen Bedeutung kein sinnvoller Raum: Der Umstand, daß das BVerfG den Gesetzgeber in seiner autonomen Entscheidung korrigiert oder nicht, ist dann Folge nicht irgendeiner Form richterlicher sondern verfassungsgesetzlicher Zurückhaltung oder, im umgekehrten Fall, Rigidität; von Selbstbeschränkung kann unter diesen Umständen schon gar keine Rede sein.98 Sinnvoll läßt sich fiir einen derart geschulten Juristen die Frage nur danach stellen -und in genau dieser Form wird sie in Deutschland gestellt -, wann die Verfassung in ihrer konkret zur Streitentscheidung berufenen Norm dem Ge96 BVerfGE 36, 1, 14 f. Vorher bereits BVerfGE 35, 257, 262 ("ständige Rechtsprechung"). Vgl. auch BVerfGE 59, 370, 377. 97 Zusammenfassend K. Sch/aich, BVerfG, Rdz. 469; C. Rau, Grenzen, S. 227 f. Für eine differenziertere Stellungnahme R. Dolzer, Verfassungskonkretisierung, S. 20 ff.; C. Starck, in: J. Isensee I P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. StaatsR, Bd. VII (1992), S. 198 (§ 164, Rdz. 15). Auf Parallellen zwischen amerikanischem und deutschem Verständnis weist D. Kommers, Constitutional Jurisprudence, S. 57 ff. hin.

98 Typisch für die in Deutschland geführte Diskussion etwa F.-A. v.d. Heydte, in: G. Leibholz u.a. (Hrsg.), FS f. W. Geiger (1974), S. 909, 923 f. Wie hier dagegen R. Dolzer, Verfassungskonkretisierung, S. 22; W-R. Schenke, NJW 1979, S. 1321 , 1325; H.-P. Schneider, in: H.-P. Schneider IR. Steinberg (Hrsg.), Wissenschaft und Richterkunst (1990), S. 39, 43 f. ; C. Starck, JbStVerwWiss 7 (1994), S. 43, 48.

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setzgeber im Verhältnis zum Individuum Schranken seiner Gestaltungsfreiheit setzt und wann nicht. Die Aussage, Justiziabilität sei "nicht eine Frage von judicial activism oder judicial restraint, sondern eine Frage, ob verfassungsrechtliche Nonnen existieren und wie weit deren Regelungsintensität reicht" 99 , ist angesichts venneintlich verläßlicher Interpretationswerkzeuge also nichts weniger als eine Reflexion über das richtige Verfassungsrecht. 100 Das BVerfG spielt als selbständiger, mit dem Gesetzgeber möglicherweise sogar konkurrierender Entscheidungsträger in diesem Szenario praktisch keine Rolle. Vielmehr ist unter diesen Umständen eben nur "die Verfassung selbst und nicht das Gericht ... in ihren Postulaten entweder zurückhaltend oder deutlich befehlend." 101 Demgegenüber wird der amerikanische Jurist versuchen, funktionell-rechtlich fundierte Erklärungen dafiir zu geben, wieso dem Richter als einem Verfassungsorgan ausnahmsweise eine Korrektur des Gesetzgebers als einem möglicherweise vorrangig zur Entscheidung berufenen anderen Verfassungsorgan erlaubt sein sollte (woraus dann wiederum eine spezifische Kontrollmethode resultiert) 102, während der deutsche Jurist, gerade umgekehrt, primär seine (materiell) verwurzelte Kontrollmethode zu rechtfertigen versuchen wird (die zwangsläufig eine bestimmte Korrekturbefugnis des einen gegenüber dem anderen Verfassungsorgan zur Folge hat). 103 Ohne das Spiel mit den Begriffen zu weit zu treiben, ist aus vergleichender Perspektive doch zweierlei an dieser spezifischen, nur sehr locker am amerikanischen Vorbild orientierten Verwendung des Tenninus judicial restraint 99

K. Stern, Außenpolitischer Gestaltungsraum, S. 12.

Vgl. etwa H. Schwarz, Außenpolitik, S. 47. Aus österr.eichischer Sicht K. Heller, Osterr.Z.öffti.R.u.VölkerR 39 (1988), S. 89, 125 ff. , 135. Ahnlieh für die schweizerische Perspektive E. Wolf, Verfassungstreue, S. 225. Vgl. auch P. Badura, in: FS f. E.-G. Mahrenholz (1984), S. 869, 884; W Brugger, Rundfunkfreiheit, S. 55 f. sowie die Andeutungen bei W van Alstyne, in: L. Levy u.a. (Hrsg.), Encyclopedia, Bd. 3 (1986), S. 1037 ("Judicial Activism and Judicial Restraint"). ..

100

101 H. Simon, in: E. Benda u.a. (Hrsg.), Hdb. VerfassungsR (1994), S. 1665 (§ 34, Rdz. 47). Ebenso K. Schlaich, BVerfG, Rdz. 469. Ganz deutlich auch ders. (Diskussionsbeitrag), VVDStRL 39 (1981), S. 156. Vgl. auch E. Benda, 19 Coi.J.Transnat.L. I, 11 f. ( 1981 ), der als entscheidenden Gesichtspunkt von judicial restraint den der Berücksichtigung der "allgemeinen" Folgen einer bestimmten Verfassungsauslegung ansieht (ebenso bereits Berichterstatter-Bericht, JöR 6 (1957), S. 120, 122). Nach amerikanischem Verfassungsverständnis ist judicial restraint dagegen Ausdruck eines bestimmten Demokratieverständnisses, vgl. R. Dolzer, Stellung, S. 72 f. mit FN 39. 102

Vgl. z.B. Barteis v. Iowa, 262 U.S. 404,412 (1923) (Holmes, diss.).

Zur Verdeutlichung: Es macht einen Unterschied, ob von einem Gericht j udicial restraint gefordert wird, weil es die vermeintlich falschen Werte zur Geltung gebracht hat, oder weil es- ganz unabhängig von der Qualität dieser Werte- als die vermeintlich falsche Instanz über sie entschieden hat. 103

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bemerkenswert: zum einen die stark materiell Verfassungs- anstatt funktionell Institutionen-bezogene Sichtweise 104, zum anderen das darin zum Ausdruck kommende, den amerikanischen Verfassungsjuristen recht eigentlich diskreditierende Mißverständnis, dieser unterliege einer irgendwie geringeren Verfassungsbindung als sein deutscher Kollege. 105 Dieses Mißverständnis, das sich zumeist in dem Hinweis auf die "Andersartigkeit" des amerikanischen Verfassungssystems entläde 06 , ist Folge davon, daß die beiden Bezugsobjekte des postulierten restraint-die für das Staat-Bürger-Verhältnis 107 unmittelbar einschlägige Grundrechtsnorm einerseits, die die funktionelle Zuordnung der Kompetenzen von Gesetzgeber und Gericht steuernden Strukturvorschriften andererseits - entweder nicht erkannt oder jedenfalls nicht genügend scharf unterschieden werden. Auf die damit implizierte Unterscheidung einer (jeweils verfassungsrechtlich determinierten oder jedenfalls determinierbaren) materiell- und einer funktionell-rechtlichen Perspektive wird im folgenden immer wieder rekurriert werden. Nur sie verhindert, judicia/ restraint als einen bloß normativ ungebundenen Appell zu verstehen, der besagt, daß, wie Leibholz es mißverständlich ausdrückt, "der Verfassungsrichter bei der Ausübung seiner Befugnisse sich weise selbst beschränken muß." 108 Die in genauem quantitativem Gegensatz zu dem für die USA beobachteten Phänomen stehende, inzwischen kaum noch spUrbare Verwendung des exakten (aber eben eigentlich systeminkonformen und deshalb aus verfassungsgerichtlicher Perspektive sinnlosen) Terminus se/f restraint 109 gibt jedenfalls einen deutlichen Hinweis darauf, daß die deutsche 104 Differenzierend auch G. F. Schuppert, Auswärtige Gewalt, S. 164 f. , 209, 219. Siehe au9h die Analyse der Supreme Court-Entscheidung in "Furman v. Georgia" bei W.-K. Geck, in FS f. F. Berber (1973), S. 165, 191 ff. mit der zumindest impliziten Unterscheidung von materiellen und funktionellen lnterpretationsprinzipien. 105 Typisch K. Vogel, BVerfG, S. 5. Ähnlich H. Simon, in: E. Benda u.a. (Hrsg.), Hdb. VerfassungsR (1994), S. 1665 (§ 34, Rdz. 47); E.-W. Böckenförde, Grundrechtsdogmatik, S. 64; K. Feldmann, in: B. Großfeld I H. Roth (Hrsg.), Verfassungsrichter (1995), S. 103, 121; R. Scholz, in: J. Burmeister u.a. (Hrsg.), FS f. K. Stern (1997), S.120 I, 1207. Demgegenüber zutreffend D. Grimm, in: W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Sozialwissenschaften, Bd. II (1977), S. 83, 107; R. Do/zer, Verfassungskonkretisierung, S. 21 ff.; ders., Stellung, S. 86, 95; G. F. Schuppert, Auswärtige Gewalt, S. 207 ff. 106 Alle Nachw. bei W. Heun, Funktionell-rechtliche Schranken, S. 11 (FN 8). Anders aber W.-R. Schenke, NJW 1979, S. 1321, 1325.

107 Der Begriff wird hier und im folgenden der Vereinfachung halber als Synonym für sämtliche den Grundrechten auf materiell-rechtlicher Grundlage abgewonnene Beziehungen verwendet. Auch umfaßt werden also z.B. die über das Staat-Bürger-Verhältnis hinausweisenden objektiven Grundrechtswirkungen. 108 Berichterstatter-Bericht, JöR 6 (1957), S. 109, 126. Dagegen R. Dolzer, Verfassungskonkretisierung, S. 20 ff.; A. v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 154 f. 109

Vgl. noch BVerfGE 36, 237, 248 f.; 53, 185, 196; 59, 360, 377.

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Rechtsprechung nicht in einem grundlegenden Wandel ihres Selbstverständnis. 110 ses begn"ffien 1st. Die erwähnten Unterschiede gegenüber der amerikanischen Doktrin vor Augen ergibt sich, daß in Deutschlandjudicia/ restraint und der "Verzicht, Politik zu treiben" in erster Linie darauf abzielen, dem Gesetzgeber innerhalb klar umrissener verfassungsrechtlicher Grenzen die Möglichkeit zur Verwirklichung eigener Vorstellungen von Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit zu erhalten. 111 Damit korrespondiert eine Großzügigkeit gegenüber Regelungen, die das Optimum verfassungsrechtlicher Zielverwirklichung verfehlt haben. 112 Schon in den Denkschrift-Materialien hatte das BVerfG betont, es werde "die artbestimmenden Tendenzen des modernen Staates respektieren" und sich "weise selbst beschränken." Darunter verstand das Gericht in erster Linie eine NichtVerpflichtung, "Entscheidungen der Regierung und Gesetzgebung etwa daraufhin zu überprüfen, ob diese von ihrem durch die Verfassung eingeräumten freien Ermessen einen weisen Gebrauch gemacht haben." Insbesondere könne es nicht "seine politisch-sachlichen Erwägungen an die Stelle der politischsachlichen Erwägungen von Regierung und Gesetzgebung setzen ... Lediglich wenn Regierung und Gesetzgebung ihr freies Ermessen mißbräuchlich gehandhabt hätten und der legislative Akt oder die sonstigen dem Gericht unterstellten Maßnahmen als willkürlich charakterisiert werden könnten", könne "von einer Verletzung des Rechts gesprochen werden, die vom Bundesverfassungsgericht . . " se1.. 113 zu korr1g1eren Dieses enge, nur einen unbedeutenden Teil des von Justice Stone artikulierten Gedankens umfassende Konzept vonjudicial restraint ist als Ausdruck der Inkompetenz von Verfassungsgerichten, auf der Grundlage reiner Zweckmässigkeitsüberlegungen Entscheidungen zu treffen, freilich ebenso unspektakulär114 wie nach dem beschriebenen Selbstverständnis des BVerfG konsequent: Wenn die überkommenen Interpretationskanones mechanisch-zuverlässige Ergebnisse verheißen, kann Verfassungskontrolle sich in der Tat auf die rein ju-

110 Grundsätzlich genau umgekehrte Schlußfolgerung demgegenüber bei R. Dolzer, Verfassungskonkretisierung, S. 20 ff. Vgl. aber auch ebd., S. 22 f. 111 BVerfGE 3, 162, 182. Vgl. auch BVerfGE II, 105, 123; 30, 250, 263; 31, 171, 189; 36, 174, 189; 50,290,336 f.

112

BVerfGE 3, 162, 182; 38, 187,205. Vgl. auch BVerfGE 39, I, 35 f., 44.

Berichterstatter-Bericht, JöR 6 (1957), S. 120, 125 f. (mit unangemessener Verwendung des "Ermessens"-Begriffes). 113

114 Ebenso K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 170. Vgl. auch H H v. Arnim, Gemeinwohl, S. 271 f.

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ristischen anstatt die pragmatisch-politischen Aspekte eines Gesetzes beschränken. Es ist daher nicht erstaunlich, daß sich die dezidierteste, unter Berufung auf das Demokratieprinzip und die verfassungsmäßige Kompetenzverteilung normativ begründete und daher dem amerikanischen Modell am ehesten vergleichbare Stellungnahme zur Ausübung gerichtlicher Zurückhaltung gerade in einem abweichenden Votum, nämlich dem der Richter Rupp-v. Brunneck und Simon zur Abtreibungsentscheidung fmdet. Unter judicial restraint wird dort "der sparsame Gebrauch ... (der) Befugnis des BVerfG" verstanden, "Entscheidungen des parlamentarischen Gesetzgebers zu annullieren"; dessen Ziel sei es, "eine Verschiebung der Gewichte zwischen den Verfassungsorganen" zu vermeiden. Das Gebot gelte vor allem, "wenn es sich nicht um die Abwehr von Übergriffen der staatlichen Gewalt handelt, sondern wenn dem vom Volk unmittelbar legitimierten Gesetzgeber im Wege der verfassungsgerichtlichen Kontrolle Vorschriften rur die positive Gestaltung der Sozialordnung gemacht werden sollen." Das BVerfG dürfe "nicht ... selbst die Funktion des kontrollierenden Organs ... übernehmen." 115 Gleichwohl sind nicht diese, sondern die vorher beschriebenen Grundsätze zum ehernen Bestand der Rechtsprechung des BVerfG geworden. 116 Freilich darf man sich von der Allgemeinheit und Pauschalität ihrer Formulierungen nicht blenden lassen: Die nicht selten heftige Kritik 117 an unter eben dieser Praxis gefaßten Entscheidungen ist Grund genug für die später noch auszudifferenzierende Vermutung, daß die faktische Wirksamkeit selbst dieser so einleuchtend klingenden Maximen bzw. die Überzeugungskraft der sie stützenden Prämissen geringer ist als es das stete Bekenntnis des Gerichts zu ihnen erwarten ließe. Ebenso wie beim Supreme Court kann man also auch beim BVerfG eine gewisse Scheu feststellen, auf die Möglichkeit des Einsatzes seiner faktisch unzweifelhaft vorhandenen Kontrollbefugnisse dem Gesetzgeber gegenüber als einer Tugend hinzuweisen. Völlig vorherrschend ist statt dessen das Bekenntnis zu Zurückhaltung und Selbstbeschränkung im Verhältnis zu ihm. 118 Erst eine 11 5 BVerfGE 39, I, 69 f. Dazu K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 172 f. Weniger deutlich, mit anderer Akzentsetzung, darüber hinaus den Begriff judicial restraint meidend BVerfGE 50, 290 ff. - Mitbestimmung. Vgl. auch BVerfG, NJW 1995, S. 2615, 2620 f. (Böckenförde, diss.)- Vermögenssteuer. 116

Rspr.-Nachw. bei K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 168 f.

117

Vgl. z.B. BVerfGE 35, 148, 150, 153, 155 f. ; 39, I, 72.

Ebenso 0. Bachof(Diskussionsbeitrag), in: H. Mosler (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit (1962), S. 853, 854 f.; D. Grimm, in: W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Sozialwissenschaften, Bd. II (1977), S. 83, 102 f. 118

6 Simons

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detaillierte Analyse der Gerichtspraxis und der in ihr zutrage tretenden Prämissen wird freilich erweisen, inwieweit dieses Bekenntnis die Realität zutreffend abbildet.

C. Zusammenfassung Judicial activism und restraint müssen als Schlüsselbegriffe des amerikanischen Verständnisses von Nonnenkontrolle angesehen werden. Angesichts der "majestic generalities of the Bill of Rights" 119 , der Anerkennung einer Vielzahl von Interpretationsmethoden sowie der Tatsache, daß es bei Verfassungskontrolle nicht um erstmalige Rechtsfindung sondern um die Überprüfung konkurrierender und eigenständig legitimierter staatlicher Organe geht, findet sich in ihnen die Vorstellung eines (später in seinen Einzelheiten näher beschriebenen) funktionell-rechtlich motivierten gerichtlichen Eingreifens bzw. Zurückstehens gebilndelt.

Eine Untersuchung der Selbstbekenntnisse des Supreme Court erweckt freilich den Eindruck, als spiele judicial activism, also das Phänomen eines Übergriffs in eigentlich dem Gesetzgeber überlassene Domänen, in der Praxis keine Rolle. Statt dessen betont das Gericht durchgängig, daß es, erstens, der Gesetzgeber sei, der die tur die Gestaltung des Gemeinwesens maßgeblichen Entscheidungen treffe und, zweitens, das Gericht nur die Einhaltung verfassungsrechtlicher Grenzen kontrolliere. In Fällen eines vom Gericht tatsächlich geübten activism wirkt sich diese Haltung so aus, daß das (wie das Gericht stets betont: durchaus anerkannte) Prinzip der Rücksichtnahme dem Gesetzgeber gegenüber an dem von der Verfassung selbst diktierten Ergebnis nichts habe ändern können. 120 E contrario erlaubt diese Beobachtung die Schlußfolgerung, daß gerichtliche Zurückhat-

119

West Virginia State Board ofEducation v. Bamette, 319 U.S. 624, 639 f. (1943).

Im wesentlichen lassen sich hier zwei Argumentationslinien verfolgen: Die erste, ältere, basiert auf der Annahme, daß es sich bei Verfassungsinterpretation um einen "mechanischen" Vorgang mit sicherem Anwendungsergebnis handele, der den Supreme Court überhaupt nicht in die Lage setze, "politische" Entscheidungen zu treffen. Diese Haltung ist, wie gesehen, ansatzweise schon bei Marshall zu finden. Der Gedanke ist zwar nicht mehr in dieser Form, wohl aber in der abgeschwächten, aber kaum praxisrelevanten Variante des sog. interpretivist approach gegenwärtig, dazu J. Ely, Democracy and Distrust, S. 3 f.; R. Bork, 47 Ind.L.J. 1, 3 f. (1971); T. Grey, 27 Stan.L.Rev. 703, 706 (1975). Die zweite, neuere Argumentationslinie erkennt zwar das Phänomen gerichtlicher Dezision an, erklärt aber im Einzelfall das Bedürfnis nach einem Eingreifen des Gerichtes von den strukturellen Prinzipien der Verfassung her fUr so dringend geboten, daß sich demgegenüber die - im übrigen anerkannte - Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers nicht durchzusetzen vermag. 120

C. Zusammenfassung

83

tung im Sinne der Bewahrung eines möglichst großen Entscheidungsspielraums des Gesetzgebers auch im Bereich der Grundrechte als eine grundsätzlich beherzigenswerte Tugend betrachtet wird. 121 Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen. Zum einen, daß im Supreme Court das Bewußtsein vorherrscht, seiner von ihm wahrgenommenen, im Wege der Interpretation ausgeübten Kontrollbefugnis seien Grenzen, unter anderem in der Form (wie auch immer realisierter) gerichtlicher Zurückhaltung, gesetzt. Zum anderen, daß das Gericht den hieraus resultierenden "Gestaltungsspielraum", ganz unabhängig davon, ob es ihn im Einzelfall beachtet oder nicht, in der Tendenz funktionell (und nicht etwa materiell), also auf der Grundlage eines bestimmten Rollenverständnisses von Gericht und Gesetzgeber, begründet. Das (hier auf der Basis der amerikanischen Terminologie gefällte) Urteil, das Gericht habe sich zumindest phasen- oder ausschnittweise "aktivistisch" gebärdet, verdient das BVerfG nach der Ansicht vieler Beobachter in nicht anderer Weise als der Supreme Court auch. 122 Und ebenso wie beim Supreme Court muß angesichts der Selbstbekenntnisse des BVerfG diese Kritik überraschen. Im Fall einer Beschneidung der Gestaltungsbefugnisse des Gesetzgebers verstecken sich beide Spruchkörper unisono hinter den vermeintlich zwingenden Anordnungen der Verfassung, die dem jeweiligen Gericht keine andere Wahl gelassen habe. Von dieser Gemeinsamkeit abgesehen, hat das vom BVerfG seiner Tätigkeit zugrunde gelegte Verständnis einer nur kontrollierenden, nicht politisierenden Praxis freilich eine ganz andere Wurzel als die beim Supreme Court vorhandene: Während das amerikanische Gericht unmittelbar auf sein verfassungsrechtlich-funktionales Verhältnis zum Gesetzgeber rekurriert, basiert der vom BVerfG formulierte restraint auf einer bestimmten Auffassung von Recht und Politik, die sich letztlich in einem materiell-apolitischen Subsumtionsideal artikuliert. Auf diese Weise reduziert sich das Bekenntnis des BVerfG, Zurückhaltung zu üben, im wesentlichen auf den Verzicht, die Zweckmäßigkeit und Qualität gesetzgeberischer Entscheidungen zu überprüfen. Demgegenüber reicht das ameri.kanische Konzept gerichtlicher Zurückhaltung, indem es eine eigenständige Verantwortung der kontrollierten Verfassungsorgane in seine Überlegungen miteinbezieht, ein ganzes Stück weiter.

6*

121

Vgl. K. Heller, Österr.Z.öffti.R.u.VölkerR 39 (1988), 89,90 ff., 125.

122

Vgl. etwa W Brugger, Persönlichkeitsentfaltung, S. 40 für die Abtreibungsfälle.

Dritter Teil

Gestaltungsfreiheit und Kontrollauftrag in der Praxis Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle Eine Verfassungsnorm ist nur selten aus sich selbst heraus operabel. Sie wird dies vielmehr erst durch ihre Umsetzung in handhabbare Kontrollinstrumente. Im Zentrum dieses und des nächsten Abschnitts stehen daher die Mittel, die Supreme Court und BVerfG einsetzen, um zu überprüfen, ob ein Gesetz in zulässiger Weise in verfassungsmäßig geschützte Individualpositionen eingreift1 oder nicht. Im Fünften Teil dann wird sich erweisen, in welchen Sachbereichen sich die Gerichte der verschiedenen, den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers einmal mehr, ein anderes Mal weniger verengenden Werkzeuge bedienen. Dem Sechsten Teil vorbehalten bleibt schließlich die Frage, welche Rechtfertigung die Gerichte fiir die Differenzierungen der von ihnen geübten Praxis anfUhren können, warum also Supreme Court und BVerfG bestimmten Grundrechten eine gegenüber anderen Positionen privilegierte Stellung einräumen, warum sie einmal diese, einmal jene Beweislastregel verwenden etc.

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe Auch in der amerikanischen Verfassung sind die Schutzbereiche der Grundrechte und ihre Schranken2 und Schranken-Schranken nicht so eindeutig beschrieben, daß sie ohne interpretatorischen Aufwand verständlich wären. Erst in der Rechtsprechung des Supreme Court haben sie klarere Konturen gewonnen. In den USA besteht darüber hinaus freilich die Besonderheit, daß es an 1 Zur Schrankensystematik der amerikanischen Verfassung vgl. N. Johnson, in: E. Grabitz (Hrsg.), Grundrechte, Bd. I (1986), S. 885, 943 ff.; W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 38 ff.; P. Kauper, 58 Mich.L.Rev. 1091, 1110 ff. (1960). 2 Für das Verhältnis von Supreme Court und Gesetzgeber relevant sind auch die hier außer Betracht bleibenden, zu Schutz und Förderung (nicht: zum Eingriff) ermächtigenden Klauseln der Amendments 13 Sec. 2, 14 Sec. 5 und 15 Sec. 2. Hier geht es zunächst um die Frage, auf welche Weise auch der Gesetzgeber die Reichweite von Grundrechten festlegen kann. Dazu Katzenbach v. Morgan, 384 U.S. 641, 651, FN 10 (1966); J. Barron I T Dienes, Constitutional Law, S. 457 ff. Darüber hinaus liegen in den Vorschriften vielfach ungelöste Föderalismus-Probleme begraben. Dazu W. Haller, in: W. Haller u.a. (Hrsg.), FS f. U. Häfelin (1989), S. 79, 88 ff.

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

85

einer die verschiedenen Grundrechte übergreifenden Dogmatik im Sinne "Allgemeiner Grundrechtslehren" weitgehend fehlt. Statt dessen hat der Supreme Court ein System gestaffelter Prüfungsmaßstäbe entwickelt, mit dessen Hilfe er untersucht, ob die öffentliche Gewalt die ihr gesetzten Grenzen respektiert. Mittlerweile steht dem Gericht ein ganzes Arsenal solcher Prüfungsmaßstäbe zur Verfilgung. Angesichts der nur marginalen Fixierung der Grundrechte im Verfassungstext kommt der Auswahl und der Qualität dieser Werkzeuge damit entscheidende Bedeutung filr die Lösung eines Rechtsfalles zu. Von der beschriebenen Lage in den USA nicht prinzipiell verschieden stellt sich die Situation filr das deutsche Verfassungsrecht dar. Auch hier wird der Schutzbereich der Grundrechte im Verfassungstext selbst oft nur mit wertausfilllungsbedürftigen Begriffen umschrieben3 , doch existiert immerhin ein relativ stark ausdifferenziertes System von Schranken und Gesetzesvorbehalten. Gleichwohl liegt auch der Schwerpunkt der Tätigkeit des BVerfG in der Entwicklung und Anwendung ungeschriebener Sätze des Verfasssungsrechts, die als Bestandteile einer allgemeinen Grundrechtsdogmatik das Korsett der geschriebenen Anforderungen ausfilllen bzw. ergänzen.4 Auch und vor allem sie sind als Teil des verfassungsgerichtlichen Prüfungsinstrumentariums zu begreifen. I. Die Rechtslage in den USA

Das zentrale und bei weitem wichtigste Mittel bei der Entscheidung von Verfassungsfragen im Grundrechtsbereich, stellt in den USA die Anwendung gestufter Prüfungsmaßstäbe, sog. tests, dar. Die amerikanische Doktrin kennt im wesentlichen drei tests, die vom Supreme Court über ein weites Spektrum verfassungsrechtlicher Fragen zur Anwendung gebracht werden5 : den großzügigen mere rationality- (oder auch ra3 Vgl. insoweit BVerfGE 12, I, 3 ("Glaube"); 12, 45, 54 ("Gewissen"); 30, 173, 188 ("Kunst"); 7, 377, 397 f. ("Beruf'). 4 Vgl. K.-D. Borchardt, in: E. Grabitz (Hrsg.), Grundrechte, Bd. I (1986), S. 115, 132. Zusammenfassend G. Schwerdtfeger, Fallbearbeitung, Rdz. 445 ff. (§ 32), 491 ff. (§ 33); B. Pieroth I B. Schlink, Grundrechte, Rdz. 212 ff. (§ 6), 471 ff. (§ II). Kritisch G. Barbey, Bundesverfassungsgericht und einfaches Gesetz, S. 9 ff.

5 Vgl. C. Sunstein, 84 Colum.L.Rev. 1689, 1689 (1984): "One of the most striking facts of modern constitutionallaw is the overlap - almost identity - of current tests under many ofthe most important clauses ofthe Constitution." Zu diesen zählt er equal protection, due process und (ebd., S. 1689, FN 2; 1732, FN 195) freedom of speech. Ebenso J Nowak/ R. Rotunda, Constitutional Law, S. 348 f. (§ 10.7); dies. , Treatise, Bd. 2, S. 370 f. (§ 14.7); S. Bice, in: U. Karpen (Hrsg.), Hochschulzugang (1978), S. 171, 171, 199 f.

86

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

tional basis-)Standard, sodann, als sein genaues Gegenstück, den scharfen strict scrutiny-Standard sowie den zwischen diesen beiden liegenden middle tier- (oder intermediate scrutiny-)Standard.6 Sowohl der strenge strict scrutinyals auch der nachlässige mere rationality- Test haben ihre spezifische Ausprägung bereits in den Auseinandersetzungen um die "Lochner"-Rechtsprechung während der 30er Jahre erhalten; der mittlere Kontrollmaßstab dagegen ist eine noch relativ junge Erscheinung der letzten Jahre. Im folgenden wird sich zeigen, in welcher Form diese Standards im Bereich der due process- und equal protection-Kiauseln sowie auf dem Gebiet der Meinungsfreiheit in Erscheinung treten. 1. Definition der Prüfungsmaßstäbe

a) Der mere rationality-Standard7 Von den drei vom Supreme Court verwendeten Standards ist am leichtesten dem sog. mere rationality- Test zu genügen. Danach hat eine vom Gesetzgeber verabschiedete Regelung Bestand, wenn sie zwei Erfordernisse kumulativ8 erfüllt: Sie muß ein legitimes Gemeinwohlziel verfolgen und zwischen dem dazu eingesetzten Mittel und dem besagten Ziel muß eine lose, zumindest im Ansatz nachvollziehbare Beziehung bestehen. Hat der Gesetzgeber einen "considered attempt" zur Problemlösung unternommen und stellt sich sein Projekt als "product of an orderly and rationallegislative decision" heraus, hat es alle Chancen, vom Supreme Court als "a reasonable exercise of (its) broad police powers"9 angesehen zu werden. Mit dem Begriff "Willkürkontrolle" 10 ist dieser Standard treffend umschrieben. 6 Immer wieder- freilich stets vergeblich - haben Mitglieder des Gerichts ihre Sympathie mit einem gleitenden Prüfungsmaßstab zum Ausdruck gebracht, vgl. z.B. Dandridge v. Williams, 397 U.S. 471 , 508 ff. (1970) (Marshall, diss.); San Antonio Independent School District v. Rodriguez, 411 U.S. I, 98 ff., 109, 124 ff. (1973) (Marshall, diss.); Beal v. Doe, 432 U.S. 438, 461 FN 6 (1977) (Marshall, diss.); Clebume v. Clebume Living Center, 473 U.S. 432, 460 (1984) (Marshall, diss.); Craig v. Boren, 429 U.S. 190, 211 f. (1976) (Stevens, conc.). - Unzutreffende Gleichsetzung von mittlerem und gleitendem Prüfungsmaßstab bei G. F. Schuppert, DVBI. 1988, 1191 , 1192; ders. , AöR 120 (1995), S. 32, 89; A. v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 165. 7 Dazu P. Brest, Constitutional Decisionmaking (3. Aufl.), S. 554 ff.. Prinzipiell kritisch zum rationality-Standard H Linde, 55 Neb.L.Rev. 197 ff. (1976). Weitere Nachw. bei G. Gunther, Constitutional Law, S. 608 f., FN I.

8

Evtl. abweichend W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 42.

Whalen v. Roe, 429 U.S. 589, 597 f. (1977). Vgl. des weiteren Nebbia v. New York, 291 U.S. 502,525, 537 (1934). 9

10

W Brugger, Einführung, S. 91.

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

87

Der mere rationality-Standard findet sich jedoch nicht nur in due processEntscheidungen wie "Whalen", sondern wird vom Supreme Court auch im Bereich des Gleichheitssatzes verwendet. Bin anschauliches Beispiel dafiir liefert die Entscheidung "Lindsey v. Natural Carbonic Gas Co.", in der es um ein vom Staat New York erlassenes gesetzliches Verbot der Gewinnung von Mineralwasser aus Felsgestein ging. Dem Vorwurf, der Gesetzgeber habe in unzulässiger Weise zwischen Felsquellwasser und solchem aus anderen Quellen unterschieden, trat das Gericht dadurch entgegen, daß es noch einmal seine Prüfungsmaßstäbe rekapitulierte: "1. The equal protection clause of the Fourteenth Amendmentdoes not take from the State the power to classify in the adoption of police laws, but admits of the exercise of a wide scope of discretion in that regard, and avoids what is done only when it is without any reasonable basis and therefore is purely arbitrary. 2. A classification having some reasonable basis does not offend against that clause merely because it is not made with mathematical nicety or because in practice it results in some inequality." 11 Schließlich begegnet der gleiche Standard in kaum modifizierter Form auch im Bereich der Meinungsfreiheit. Staatliche Eingriffe in dieses Grundrecht, die sich nicht gerade gegen den spezifischen Inhalt einer Meinung wenden und noch dazu die Äußerung an privaten Plätzen (und nicht etwa im öffentlichen Raum) betreffen, prüft der Supreme Court anhand einer Formel, fUr die "Pell v. Procunier" repräsentativ ist. Dort hatte das Gericht zu einer Verwaltungsvorschrift, nach der Interviews mit einzelnen Strafgefangenen nicht zu gestatten seien, gesagt: "Challenges to prison restrictions that are asserted to inhibit First Amendment interests must be analyzed in terms of the legitimate policies and goals ofthe corrections system ... We believe that, in drawing such lines, prison officials must be accorded latitude." Die Rolle der Gerichte unter einem solchen Standard sei folglich begrenzt: "Such considerations are peculiarly within the province and professional expertise of corrections officials, and, in the absence of substantial evidence in the record to indicate that the officials have exaggerated their response to these considerations, courts should ordinarily defer to their expert judgments in such matters.'.I 2 Summa summarum beschreibt der mere rationality-Standard ein extrem weites und fiir den Gesetzgeber äußerst großzügiges Konzept: Für gewöhnlich 11 Lindsey v. Natural Carbonic Gas Co., 220 U.S. 61, 78 (1911). Etwas strenger aber F.S. Royster Guano Co. v. Virginia, 253 U.S. 412, 415 (1920): "The classification must be reasonable, not arbitrary, and must rest upon some ground of difference having a fair and substantial relation to the object of the legislation, so that all persons similarly circumstanced shall be treated alike." Seit City of Mesquite v. Aladdin' s Castle, Inc., 455 U.S. 283, 294 (1982) ist nicht ganz klar, welchem Test sich das Gericht verpflichtet fühlt.

12

Pell v. Procunier, 417 U.S. 817, 822, 824, 826, 827 (1974).

88

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

wird jeder beliebige, die allgemeine Wohlfahrt fördernde Zweck vom Supreme Court als "legitim" anerkannt; das Vorliegen einer nachvollziehbaren, vernünftigen Beziehung zwischen verfolgtem Ziel und hierfUr eingesetztem Mittel verneint das Gericht nur dann, wenn der Gesetzgeber auf eine vollständig parteiische und willkürliche Weise gehandelt hat. b) Der strict scrutiny-Standard Am gerade entgegengesetzten Ende der Skala der vom Supreme Court eingesetzten tests befindet sich der strict scrutiny-Standard, der erheblich höhere Anforderungen statuiert. Seine Voraussetzungen erfUllt eine gesetzliche Regelung nur dann, wenn das von ihr verfolgte Gemeinwohlziel von überragender Bedeutung ist; zudem muß eine extrem enge Beziehung zwischen verfolgtem Ziel und eingesetztem Mittel bestehen: Erreicht das Mittel das Ziel nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, ist das Gesetz verfassungswidrig. Für die Formulierung dieses strengen Maßstabes liefert die berühmte Abtreibungsentscheidung "Roe v. Wade" mit ihrem vom Supreme Court als "fundamental" angesehenen privacy right ein gutes Beispiel: "Where certain "fundamental rights" are involved, the Court has held that regulation limiting these rights may be justified only by a "compelling state interest" and that legislative enactrnents must be narrowly drawn to express only the legitimate state interest at stake." 13 "Roe v. Wade" hat der Supreme Court als einen due process-Fall entschieden. Das ist freilich nicht die einzige Verfassungsvorschrift, in deren Zusammenhang sich das Gericht des strict scrutiny-Tests bedient. Ein anschauliches Beispiel fUr seine Formulierung im Bereich des Gleichheitssatzes bietet "Korematsu v. United States". Diesem 1944 entschiedenen Fall lagen staatliche Regelungen zugrunde, denen zufolge alle Einwohner der Westküste japanischer Abstammung sich verschiedenen Sonderregeln bis hin zu einer Umsiedlung in militärisch überwachte Lager zu unterziehen hatten. "All legal restrictions which curtail the civil rights of a single racial group", beschrieb der Supreme Court damals seinen Prüfungsmaßstab, "are immediately suspect. That is not to say that all such restrictions are unconstitutional. lt is to say that courts must subject them to the most rigid scrutiny. Pressing public necessity may sometimes justify the existence of such restrictions; racial antagonism never can.'d 4 Für das vom Gesetzgeber gewählte Mittel, seine Klassifizierung also, bedeutete das, daß sie 13

Roe v. Wade, 410 U.S. 113, 155 (1973).

Korematsu v. United States, 323 U.S. 214, 216 ( 1944). Etwas vorsichtiger Loving v. Virginia, 388 U.S. 1, 11 (1967). 14

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

89

"necessary, and not merely rationally related, to the accomplishment of a permissible state policy" 15 sein mußten. Schließlich findet sich der strenge Prüfungsmaßstab auch im Bereich der vom 1. Amendment geschützten Meinungsfreiheit. In "Carey v. Brown" ging es um ein Gesetz des Staates Illinois, nach dem das Aufstellen von Mahnwachen und Streikposten in Wohngegenden verboten war. Im Zuge von Überlegungen zur Rechtfertigung einer solchen Beschränkung der Meinungsfreiheit schlußfolgerte das Gericht, daß ohne ein als "compelling" bezeichenbares Gemeinwohlinteresse, das zudem in einem Gesetz, das "narrowly drawn" und ohne "adequate alternative" sei, von einer Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelung nicht ausgegangen werden könne. 16 Auch hier läßt also das Gericht Beschränkungen des Grundrechtes nur zu, wenn sie ein überragend wichtiges Gemeinwohlziel verfolgen, genügend eng gefaßt sind und ohne sie der angestrebte Zweck nicht zu erreichen wäre. c) Der middle tier-Standard Gleichsam zwischen den beiden beschriebenen Tests findet sich der sogenannte middle tier-Standard. Danach ist ein den Schutzbereich eines Grundrechtes berührendes Gesetz dann verfassungsgemäß, wenn es ein bedeutsames Gemeinwohlziel 17 verfolgt und die dafür eingesetzten Mittel das Erreichen dieses Zieles mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erwarten lassen. Es wird leicht erkennbar, daß beide Kriterien in den von ihnen aufgestellten Anforderungen irgendwo zwischen "überragend wichtig" und "legitim" hinsichtlich des verfolgten Zieles und irgendwo zwischen "lose" und "eng" hinsichtlich der Verknüpfung von Mittel und Zweck angesiedelt sind. Diesem Phänomen verdankt der middle tier Standard seinen Namen. Der middle tier-Standard ist eine relativ neue Entdeckung des Supreme Court. Über Jahrzehnte hatte sich das Gericht ausschließlich der zwei vorgenannten tests bei der Lösung von Grundrechtsfragen bedient. Nach und nach aber hat sich unter Federführung des Burger-Court der neue, mittlere Standard herausgebildet - freilich ohne daß das Gericht dies je ausdrücklich eingeräumt 15 McLaughlin v. Florida, 379 U.S. 184, 196 (1964). Vgl. auch Regents ofthe University ofCalifomia v. Bakke, 438 U.S. 265,290 f. (1978).

16 Carey v. Brown, 447 U.S. 455, 465 (1980). Vgl. auch die ebd., S. 461 f., im Zusammenhang der equal protection clause gebrauchte Definition: "Finely tailored to serve substantial state interests." Vgl. weiterhin Widmar v. Vincent, 454 U.S. 263, 269 f. (1981). 17 Varianten für dessen stets leicht variierende Formulierung (hier fiir die vom 1. Amendment geschützte Meinungsfreiheit) in United States v. O'Brien, 391 U.S. 367, 376 f. (I 968).

90

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

hätte. 18 Vor dem Hintergrund einer etablierten Praxis und angesichts der relativ klaren Konturen, die der midd/e tier-Standard inzwischen gewonnen hat, wäre es jedoch unangemessen, diesen test nur als irreguläre Abweichung von den überkommenen Standards zu verstehen. Ein Beispiel fiir den Einsatz des mittleren Prüfungsmaßstabes liefert "Craig v. Boren" aus dem Jahr 1976. Dort ging es um ein Gesetz des Staates Oklahoma, nach dem der Verkauf eines bestimmten Bieres an Männer unter 21 Jahren und Frauen unter 18 Jahren verboten war. Der Kläger reklamierte, das Gesetz verletze männliche Käufer zwischen 18 und 20 Jahren in ihrem Recht auf Gleichbehandlung. Die Regelung im Ergebnis fiir verfassungswidrig erklärend, formulierte das Gericht seinen Prüfungsmaßstab folgendermaßen: "To withstand constitutional challenge, previous cases establish that classifications by gender must serve important govemmental objectives and must be substantially related to achievement ofthose objectives." 19 Im Bereich der due process-Klausel hat das Gericht diesen Maßstab bisher nicht verwendet; wohl aber ist er auf dem Felde der free speech anzutreffen. Gesetzliche Regelungen, die sich nicht gegen den Inhalt bestimmter Rede als solche richten, sondern sog. "time, place and manner regulations" darstellen, unterwirft der Supreme Court der Sache nach ebenfalls dem mittleren Standard. Für die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes sei vor allem erforderlich, daß es "narrowly tailored to serve a significant govemmental interest" 20 sei. d) Zusammenfassung Für Grundrechtsprüfungen am Maßstab der equa/ protection- und due process-Kiauseln sowie der Meinungsfreiheit stehen dem Supreme Court drei Prüfungsstandards zur Verfiigung. Sie stellen gestufte Anforderungen an die vom Gesetzgeber anvisierten Ziele und die Beziehung zwischen diesen Zielen und den zu ihrer Verfolgung eingesetzten Mitteln. Jeder test unterwirft ein an ihm gemessenes Gesetz einer dreifachen Prüfung: im Hinblick auf die Bedeutung des verfolgten Zieles, die Auswirkungen des eingesetzten Mittels sowie das Verhältnis von Ziel und Mittel zueinander.

18

Vgl. nur G. Gunther, 86 Harv.L.Rev. 1, 17 f. (1972); ders., Constitutional Law,

s. 604 ff.

19 Craig v. Boren, 429 U.S. 190, 197 (1976) unter Verweis auf Reed v. Reed, 404 U.S. 71, 75 f. (1971). In "Reed" findet sich freilich eine Formulierung des mere rationality-Standard in seiner traditionellen Form (wenngleich die einzelnen Voraussetzungen einer strengeren Prüfung als üblich unterzogen wurden). 2° Clark v. Community for Creative Non-Violence, 468 U.S. 288, 293 (1984). Vgl. auch Metromedia v. City ofSan Diego, 453 U.S. 490, 507 (1981).

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

91

Im folgenden sollen diese Prüfungselemente einer genaueren Untersuchung unter dem Gesichtspunkt unterzogen werden, welcher Stellenwert jedem einzelnen von ihnen in den jeweils verwendeten Kontrollmaßstäben zukommt und welche Konsequenzen sich daraus fiir die Prüfungspraxis ergeben. 2. Prüfungsobjekte a) Ends eines Gesetzes: Ziele, Zwecke, Motive21 und Effekte Eine nicht einfach zu beantwortende Frage ist, was genau in der amerikanischen Doktrin unter den ends eines Gesetzes zu verstehen ist. Die Antwort ist an dieser Stelle vor allem fiir die Bestimmung des Kreises von Zielen bedeutsam, die der Gesetzgeber unter den einzelnen Prüfungsmaßstäben zu verwirklichen berechtigt ist. 22 So hat der Supreme Court wiederholt klargemacht, daß er etwa die Verfolgung eines "i/legitimate end" selbst unter dem großzügigsten Prüfungsmaßstab als verfassungswidrig ansieht. Vorrangig ist jedoch das Problem, wie sich diese Ziele überhaupt feststellen Jassen. aa) Feststellungsmodi Theoretisch denkbar ist, den Willen des Gesetzgebers oder das Gesetz selbst als Ausgangspunkt zu wählen. Aus einem anderen Blickwinkel wiederum kann man danach differenzieren, ob Prüfungsgegenstand das nur angestrebte oder das tatsächlich erreichte Ziel sein soll. In beiden Unterscheidungen spiegelt sich das Phänomen wider, daß es sich bei· den ends eines Gesetzes um ein Amalgam subjektiver und objektiver Faktoren handelt. Der Supreme Court hat zur Auflösung dieser Probleme23 freilich allenfalls marginale Hilfestellung geleistet. Gesichert erscheint aber zumindest das folgende: Auf die tatsächlich eingetretenen Folgen eines Gesetzes kann es zweifellos dann nicht ankommen, wenn es in dem Zeitpunkt, in dem der Supreme Court seine Verfassungsmäßigkeit überprüft, noch zu unerprobt ist, als daß ein gesichertes Urteil möglich wäre. In diesen Fällen kann nur das angestrebte Ziel Prüfungsgegenstand sein. Um einiges komplizierter ist der gerade umgekehrte Fall. Er betrifft die Situation, daß ein Gesetz ein bestimmtes "objektives", mög-

21 Die Begriffe "Ziel", "Zweck" und "Motiv" werden, obwohl sie sich allesamt in der Fachterminologie nachweisen lassen, im folgenden synonym verwendet. Für das vergleichbare Problem im deutschen RechtS. Huster, Gleichheitssatz, S. 129 ff. 22

Hierzu S. Bice, in: U. Karpen (Hrsg.), Hochschulzugang (1978), S. 171 , 172 ff.

Erster Überblick bei S. Bice, in: L. Levy u.a. (Hrsg.), Encyclopedia, Bd. 3 (1986), S. 1146 ff. ("Legislative Intent"). Ausführlich Note, 82 Yale L.J. 123, 128 mit FN 34, 132 ff. (1972). 23

92

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

lieherweise sogar verfassungswidriges Ziel erkennen läßt, das Gericht aber gleichwohl nicht dieses sondern ein anderes, mehr oder weniger fiktives Ziel seiner Verfassungsprüfung zugrunde legt - eine Praxis, die besonders unter dem nachlässigen Kontrollmaßstab gelegentlich zu beobachten ist und die später noch genauer zu analysieren sein wird. Von diesem Sonderfall abgesehen wird sich der Zweck in der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle indes ohne weiteres aus dem Wortlaut oder der (vermutlichen) Wirkungsweise des Gesetzes selbst oder den seine Geschichte dokumentierenden Materialien ob. k. Je t1v ergeben. 24 Das muß aber nicht so sein. Ausgehend von der im amerikanischen Recht verbreiteten subjektiven Interpretationsmethode und auf der Grundlage der Vermutung, das untersuchte Gesetz wolle gerade das ihm von seinen Schöpfern zugedachte Ziel erreichen, erfolgt fiir dessen Feststellung häufig ein über den objektiven Sinn des Gesetzes hinausgehender Rückgriff auf die Vorstellungen des Gesetzgebers. Eine wichtige, später noch in anderem Zusammenhang auftauchende Frage ist dann freilich, ob das Gericht die vom Gesetzgeber gelieferten Erklärungen fiir die von ihm verfolgten Ziele akzeptiert, oder ob es sie als vorgeschoben entlarvt und statt dessen die "wahren" Absichten erforscht und zur Grundlage seiner Prüfung macht. 25 Eine Fülle weiterer Probleme, die allesamt mit den generellen Schwierigkeiten bei der Erforschung eines subjektiven Tatbestandes zu tun haben, schließt sich an. 26 Ihre Beantwortung soll aber erst 24 Vgl. U.S. Railroad Retirement Board v. Fritz, 449 U.S. 166, 176 (1980): "The plain language marks the beginning and end ofour inquiry." 25 Knapper Überblick bei L. Tribe, Constitutional Law, S. 302 f. (§ 5-3).- Denkbarer Präzedenzfall ist McCulloch v. Maryland, 17 U.S. (4 Wheat.) 316, 423 (1819). Chief Justice Marshall deutete dort im Zusammenhang der .. Necessary and Proper"-Klausel (Art. I Sec. 8 Constitution) an, daß der Supreme Court seine Prüfung nicht nur auf die Angemessenheil des Zusammenhanges von Zweck und Mittel richten sondern gegebenenfalls auch nach den "wahren" Absichten des Gesetzgebers fragen könnte: "Should Congress, under the pretext of executing its powers, pass laws for the accomplishment of objects not entrusted to the government, it would become the painful duty of this tribunal ... to say that such an act was not the law of the land." Vgl. aber auch (wiederum Marshall) in Fleteher v. Peck, 10 U.S. (6 Cranch.) 87, 131 (1810). Ausdrücklich ablehnend United States v. Darby, 312 U.S. 100, 115 (1941): "The motive and purpose of a regulation of interstate commerce are matters for the legislative judgment upon the exercise of which the Constitution places no restriction and over which the courts are given no control." Vgl. für den Grundrechtsbereich Lochner v. New York, 198 U.S. 45, 63 f. (1905) sowie J. Ely, Democracy and Distrust, S. 125 ff.; Note, 82 Harv.L.Rev. 1065, 1077 ff. (1969).

26 Erörtert werden u.a. folgende Probleme (dazu Note, 82 Harv.L.Rev. 1065, 1077 f. (1969); W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 41 f.): l.) Bei Parlamenten handelt es sich um Kollektivorgane: Wer ist unter diesen Umständen für die Artikulation der Zwecke einer Regelung zuständig? Der einzelne Abgeordnete? Eine qualifizierte Minderheit? Die Mehrheit? 2.) Mit Hilfe welcher Materialien können Rückschlüsse auf die Zwecke eines Gesetzes angestellt werden? 3.) Was hat im

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

93

in dem Zusammenhang erfolgen, in dem dies auch in der amerikanischen Diskussion üblicherweise geschieht, nämlich im Abschnitt über die Überprüfung gesetzgeberischer Motive bei der Normenverabschiedung. bb) Wertigkeit

Damit sind zwar Umrisse der Methode gekennzeichnet, mit deren Hilfe der Supreme Court die Ziele des Gesetzgebers ermittelt, im Hinblick auf die Frage nach deren Qualität im Rahmen des jeweiligen Ptüfungsmaßstabes ("legitimate", "important", "compelling") ist damit jedoch noch nichts gewonnen. Angesichts des Schweigens der amerikanischen Verfassung ist es nicht erstaunlich, daß diese Frage zu einem Tummelplatz filr die an ihrer Beantwortung interessierten Verfassungsorgane "Gesetzgeber" und "Supreme Court" geworden ist. Der Ausgang dieser Kontroverse ist also filr die Frage nach dem Verhältnis der beiden Beteiligten zueinander von erheblichem Interesse. Hinsichtlich der unter dem mere rationa/ity-Standard verfolgbaren Ziele hat der Supreme Court bisher indes erhebliche Großzügigkeit walten lassen. Das hat vor allem damit zu tun, daß das Gericht die Berufung des einzelstaatlichen27 Gesetzgebers auf eine "allgemeine Polizeigewalt" zur Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs stets als ausreichend akzeptiert hat. Unter diesem Kompetenztitel finden sich legislative (und administrative) Regelungen auf den Gebieten der Sicherheit, der Gesundheit, der allgemeinen Wohlfahrt und sogar der Moratl8 vereinigt.Z9 Angesichts einer so großzügigen, weit über den engeren Bereich der Gefahrenabwehr hinausweisenden Rechtfertigungsmöglichkeit verwundert es nicht, daß seitens des Gesetzgebers eine buchstäblich unüberschauFall fehlender (Bsp.: Goesaert v. Cleary, 335 U.S. 464, 465 ff. (1948)), widersprüchlicher (Bsp.: U.S. Department of Agriculture v. Moreno, 413 U.S. 528, 534 mit FN 6 (1973)) oder vieldeutiger bzw. mehrfacher Zweckbestimmung (Bsp.: Metropolitan Life Insurance v. Ward, 470 U.S. 869, 875 (FN 5), 876 ff., 882 f. (1985)) zu geschehen? 27 Noch heute gibt es keine allgemeine Bundes-Polizeigewalt. Der Kongreß kann also nicht aus Gründen der öffentlichen Wohlfahrt die Grundrechte der Freiheit und des Eigentums beschränken. Mit Hilfe extensiver Auslegung der necessary and properKlausei (Art. I Sec.8 Cl. 18 Constitution) sind jedoch inzwischen einige klassische "Grundrechts"-Gegenstände in die Polizeigewalt des Bundes geraten.

28 Etwa Poe v. Ullman, 367 U.S. 497, 545 f. (1961) (Harlan, diss.). Vgl. auch McGowan v. Maryland, 366 U.S. 420 (1961)- Verkaufsverbot an Sonntagen; Carey v. Population Services International, 431 U.S. 678, 692 f. (1977)- Abgabe von Verhütungsmitteln an Minderjährige. Siehe - abweichend? - aber auch U.S. Department of Agriculture v. Moreno, 413 U.S. 528,535, FN 7 (1973).

29 Vgl. K. Loewenstein, Verfassungsrecht, S. 222 ff., 481 ff. Knapper Überblick bei W: Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 41. Zum historischen Hintergrund H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, S. 127 ff., 238 ff., 289 ff. , 362 ff. Aus der Rspr. Barbier v. Connolly, 113 U.S. 27, 31 (1885); Horne Building & Loan Association v. Blaisdell, 290 U.S. 398, 442 ff. (1934).

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

bare Vielzahllegitimer Zwecke mit Billigung des Supreme Court verfolgt werden darf. Gleichwohl hat diese Nachgiebigkeit nicht zu einem vollständigen Verzicht auf gerichtliche Prüfung geführt. Ein30 wichtiges Kriterium, ist stets gewesen, daß der staatliche Gesetzgeber fiir seine Grundrechtsbeschränkung einen dem öffentlichen Wohl dienenden Zweck vorbringen muß. 31 Kann der Staat für seinen Eingriff dagegen kein solches Ziel nennen, d.h. dient seine Regelung keinem irgendwie vertretbaren Gemeininteresse, wie es schon die Präambel der Verfassung programmatisch beschreibt, sondern stellt eine schlichte Präferenz, also die bloße, unter Gemeinwohlgesichtspunkten nicht näher begründbare Bevorzugung oder Benachteiligung dieser oder jener Person oder Gruppe gegenüber einer anderen dar, ist sie prima facie verfassungswidrig. Auf das Ganze gesehen bleiben die Beschränkungen, die der Supreme Court dem Gesetzgeber auferlegt, damit freilich außerordentlich gering. Im Ergebnis bedeuten sie dennoch eine Absage an einen ungebundenen Parlamentsabsolutismus und damit gleichzeitig eine selbst gewährte, wenn auch bescheidene, Ausweitung gerichtlicher Kontrollbefugnis. "lt is significant", bemerkt Tribe zusammenfassend, "that the Court never wholly abandoned the position that legislatures, at least in their regulatory capacity, must always act in furtherance of public goals transcending the shifting summation of private interests through the political process. The pluralist thesis that there exists no public interest beyond that summation never became judicial dogma in economic life any more than in other sectors of human concem. Thus, even when deferring to legislative actions, the Court continually pointed to reasons that could justify such actions in terms of the general public interest, and explained why the legislation under review could be viewed as "an exercise of judgment" rather than "a display of arbitrary power."32 30 Im übrigen wird der Strauß der vom Gesetzgeber verfolgbaren Ziele nur nach Maßgabe der folgenden Grundsätze beschränkt: 1.) Staatliche Regelungen, die von der Verfassung festgelegte Grundsätze oder Kompetenzen außer Acht Jassen, können auf verfassungsgemäße Weise (natürlich) nicht verfolgt werden: Allegheny Pittsburgh Coal Co. v. Webster County, 488 U.S. 336, 345 (1989). 2.) Das gleiche gilt für Regelungen, die allein das Ziel verfolgen, die Grundrechtsausübung mittelbar oder unmittelbar zu unterdrücken: Branti v. Pinkel, 100 S.Ct. 1287, 1295 (1980). 31

Typisch: Nebbia v. New York, 291 U.S. 502,537 (1934).

L. Tribe, Constitutional Law, S. 582 f. (§ 8-7); siehe auch ebd., S. 570 ff. (§ 8-4) sowie W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 42, 73 f., 168 f. , 208f.; C. Sunstein, 84 Colum.L.Rev. 1689, 1690ff., 1715 f., 1729ff. (1984). Für die equal protection-Klausel J Tussman I J ten Broek, 37 Cai.L.Rev. 341, 350 f., 358 (1949); L. Tribe, Constitutional Law, S. 1439 ff. (§ 16-2), S. 1451 (§ 16-5); Note, 82 Harv.L.Rev. 1065, 1081 (1969). Aus der Rspr. Mayflower Farms, lnc. v. Ten Eyck, 297 U.S. 266,274 (1936); U.S. Department of Agriculture v. Moreno, 413 U.S. 528, 534 f. ; 32

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

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In dem Bemühen, solche ",egitimen" Gemeinwohlaspekte herauszustreichen, hat der Supreme Court etwa eine Satzung der Stadt New Orleans aufrechterhalten, nach der in der Altstadt zwar der Betrieb bereits bestehender, nicht aber die Zulassung neuer Verkaufsstände gestattet war. Zur Begründung verwies die Mehrheit auf die einzigartige Schönheit der alten Stände, deren Anziehungskraft zum Wohl der wirtschaftlichen Entwicklung der ganzen Stadt sei.33 Und gerade umgekehrt hat das Gericht ein Gesetz, das Haushalte von nicht miteinander verwandten bzw. verheirateten Personen von bestimmten sozialen Begünstigungen ausschloß, verworfen, weil in ihm kein anderer Zweck als der, "Hippies" und deren Kommunen zu benachteiligen, erkennbar wurde: "A bare congressional desire to harm a politically unpopular group cannot constitute a Iegitimale govemmental interest. As a result, a purpose to discriminate against hippies cannot, in and of itself and without reference to some independent considerations in the public interest, justify the (law)."34 Tribes Äußerungen ebenso wie die genannten Fälle machen aber bereits deutlich, daß dem nackten Gesetz als solchem und den von ihm ausgelösten Veränderungen sein Beitrag zur Förderung des gemeinen Wohls nicht immer ohne weiteres anzusehen ist. Erst im Hinblick und mit Bezug auf das diesem zugrunde liegende Ziel oder Motiv kann darüber abschließend ein Urteil gefällt werden. 35 Sie spiegeln zudem die unter dem mere rationality-Standard gängige Praxis des Supreme Court wider, erst dann, wenn andere legitime Ziele, die theoretisch an die Stelle eines verbotenen Zweckes treten könnten, nicht auffindbar sind, eine Verfassungswidrig-Erklärung allein dieses Defektes wegen in Betracht zu ziehen. 36 Sind damit die Minimalanforderungen an die Qualität eines vom Gesetzgeber wählbaren Zieles umschrieben, ergibt sich die weitere Frage, wie beschaffen die Ziele unter den im Hinblick hierauf anspruchsvolleren middle tier- und strict scrutiny-Standards sein müssen, um als important bzw. significant vor dem Urteil des Supreme Court zu bestehen. Über wenig hilfreiche apodiktische 545 ff. (Rehnquist, diss.) (1973) mit W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 166 ff.; Energy Reserves Group v. Kansas Power & Light Co., 459 U.S. 400, 412 (1983); Metropolitan Life Ins. Co. v. Ward, 470 U.S. 869, 883 (1985). Unzutreffend daher P. Schanz, Richterliches Prüfungsrecht, S. 112 f. 33

New Orleans v. Dukes, 427 U.S. 297,304 f. (1976).

U.S. Department of Agriculture v. Moreno, 413 U.S. 528, 534 f. (1973). Weiterhin W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 168, 169. 34

35 Vgl. z.B. U.S. Department of Agriculture v. Moreno, 413 U.S. 528, 545 ff. (1973) (Rehnquist, diss.). 36 L. Tribe, Constitutional Law, S. 302 f. (§5-3). Nachw. auch in United States v. O'Brien, 391 U.S. 367,383 (1968).

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Äußerungen hinaus läßt sich das Gericht hierzu jedoch kaum einmal Substantielles entlocken. Ob der Supreme Court einem gesetzgeberischen Ziel eine solche Qualität zuspricht, erfährt der Beobachter zumeist erst dann, wenn das Gericht eine Entscheidung zu Gunsten oder zu Lasten des einen oder anderen Grundrechtes bereits getroffen hat. Dabei kann, was ein Beobachter im Hinblick auf die "überragende Wichtigkeit" eines Gemeinwohlzieles formuliert hat, Gültigkeit auch fiir den mittleren Prüfungsstandard beanspruchen: "The formula ... is much used and little explained. The Court is unable to defme "compelling state interest" but knows when it does not see it."37 Der Verdacht ist demnach nicht ganz unbegründet, daß dann, wenn der Supreme Court von dem Erfordernis eines wichtigeren als nur "legitimen" Zieles spricht, dies kaum mehr als ein Synonym fiir eine strengere Prüfung im Ganzen ist. 38 Zwei Gründe, einer methodischer, einer pragmatischer Art, lassen sich fiir diese Unklarheit in der Rechtsprechung anfuhren: Zum einen ergibt sich, da häufig bereits die Wahl des Prüfungsmaßstabes das Prüfungsergebnis präjudiziert, fiir den Supreme Court kaum je Veranlassung, die besondere Bedeutung eines gesetzgeberischen Zieles im einzelnen zu explizieren; zumindest unter strict scrutiny wird ein Hoheitsakt in den meisten Fällen ohnehin fiir verfassungswidrig erklärt.39 Da das Gericht schon deshalb selten in wirkliche Abwägungsvorgänge eintritt40, ist aber auch der äußere Zwang, eine in der Qualifizierung gesetzgeberischer Ziele zum Ausdruck kommende Werthierarchie zu offenbaren, gering. Der Frage, ob ein solches Wert-Denken überhaupt Anliegen des Supreme Court ist, wird freilich erst an späterer Stelle weiter nachgegangen. b) Gesetzgeberische Mittel Etwas weniger verwickelt gestaltet sich die gerichtliche Überprüfung der vom Gesetzgeber zur Verfolgung seiner Ziele eingesetzten Mittel. Der Klarheit halber sei indes darauf hingewiesen, daß der Begriff bei den untersuchten Grundrechten nicht stets dasselbe bedeutet: "Mittel" kennzeichnet im Zusammenhang der due process-Klausel und des 1. Amendment den Eingriff in das

37 K. Karst, in: L. Levy u.a. (Hrsg.), Encyclopedia, Bd. 1 (1986), S. 337 ("Compelling State Interest"). Vgl. auch N. Johnson, in: E. Grabitz (Hrsg.), Grundrechte, Bd. I (1986), S. 885, 945 f.

38 Vgl. Shapiro v. Thompson, 394 U.S. 618, 631 ff. (1969). Aus der Literatur Note, 82 Yale L.J. 123, 124 (FN 5). 39

Vgl. Note, 82 Harv.L.Rev. 1065, 1091, FN 86 (1969)- Rassen-Klassifizierung.

Vgl. N. Johnson, in: E. Grabitz (Hrsg.), Grundrechte, Bd. I (1986), S. 885, 944 f. Siehe aber (zum mittleren Prüfungsmaßstab) L. Tribe, Constitutional Law, S. 1602 f. (§ 16-32). 40

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

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geschützte Grundrecht; im Bereich der equal protection-Kiausel steht der Begriff fiir die vom Gesetzgeber gewählte Klassifizierung. Von vomeherein außer Reichweite bleiben fur den Gesetzgeber diejenigen Mittel, hinsichtlich derer die Verfassung selbst eine Verwendung ausdrücklich untersagt. Beispiele hierfiir liefern das 8. Amendment mit seinem Verbot der "cruel and unusual punishments" und Art. I Sec. 9 Constitution, der Parlamentsverurteilungen, sog. bills ofattainder, verbietet. Davon abgesehen hat der Supreme Court - egal, unter welchem Prüfungsmaßstab -jedes erlaubte, nicht gänzlich irrationale Mittel für vom Gesetzgeber verwendbar gehalten. Einmal mehr stammt die klassische Stellungnahme hierzu von John Marshall: "Let the end be legitimate, Iet it be within the scope of the constitution", betonte er in "McCulloch v. Maryland", "and all means which are appropriate, which are plainly adapted to that end, which are not prohibited, but consist with the Ietter and spirit of the constitution, are constitutional."41 Daraus ergibt sich das von der Praxis bestätigte Ergebnis, daß die Untersuchung eines gesetzgeberischen Mittels allein kaum je eine selbständige Bedeutung im Rahmen der vom Supreme Court verwendeten Prüfungsmaßstäbe erlangt. c) Mittel-Zweck-Relation aa) Allgemeines Das eigentliche Problem der vom Gesetzgeber zum Einsatz gebrachten Mittel ist, daß sie nach Maßgabe des Gerichts in einem bestimmten Verhältnis zu dem von ihnen verfolgten Zweck stehen müssen. 42 Die "Dichte" dieser Beziehung kennzeichnet der Supreme Court mit den Termini close, substantial und loose, die einen besonders "engen", immerhin noch "direkten" oder nur sehr "lockeren" Mittel-Zweck-Nexus beschreiben. Die geforderte Verknüpfung ist um so "dichter", je a) direkter und b) sicherer das eingesetzte Mittel den angestrebten Erfolg herbeifiihrt. In der Praxis des Supreme Court fmden diese beiden Aspekte der Mittel-Zweck-Relation jedoch keine genau gleichgewichtige Berücksichtigung. Während nämlich das Gericht ein Gesetz stets ausdrücklich daran gemessen hat, wie sicher es den angestrebten Erfolg verwirklicht, hat es sich zum Direktheitserfordemis in fiir die verschiedenen Grundrechte und Prüfungsmaßstäbe verallgemeinerungsflihiger Form bisher nicht geäußert. Seine

41

McCulloch v. Maryland, 17 U.S. (4 Wheat.) 316,421 (1819).

Aus der Unterscheidung zwischen unmittelbarem (Erreichen der gewollten Klassifizierung) und mittelbarem (erst mit dieser Klassifizierung angestrebten) Ziel ergibt sich, daß Bezugspunkt der Mittel-Zweck-Beziehung beim Gleichheitssatz nur das mittelbar verfolgte Ziel sein kann. Ansonsten wäre jede Klassifizierung unangreifbar, L. Tribe, Constitutional Law, S. 1439 f. (§ 16-2). Für das deutsche Parallelproblem R. Maaß, NVwZ 1988, S. 14,20 bei FN 87. 42

7 Simons

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Idee hat es freilich in einem begrenzten Anwendungsbereich der Sache nach bereits praktiziert. Einzelheiten hierzu sind allerdings nur dann verständlich, wenn man sich zunächst kurz das Wesentliche zu den beiden Punkte vergegenwärtigt. Unter "Sicherheit" des Erfolgseintritts versteht der Supreme Court die statistische Chance, daß genau der angestrebte (und nicht etwa nur ein weiterer oder ein minderer) Erfolg eintritt. Je nachdem, welcher Prüfungsstandard zur Anwendung kommt, genießt der Gesetzgeber also ein größeres oder geringeres Maß an gerichtlicher Toleranz bei der Durchfilhrung seiner Vorhaben. Im Hinblick auf die von ihm verfolgten Ziele können seine Gesetze einmal weiter und großzügiger gefaßt sein, ein anderes Mal sind sie enger und präziser zu formulieren. Hält man sich diesen Mechanismus vor Augen, wird die Hauptschwierigkeit klar, der sich das Gericht bei der Handhabung dieses Ausschnittes der erwähnten Standards ausgesetzt sieht: Es fragt sich, ob und ggfs. wann das Gericht dem Gesetzgeber insoweit die Freiheit der Voraussage, also einen "Prognosespielraum" einräumt oder ob und ggfs. wann es statt dessen selbst in Anspruch nimmt, eine Einschätzung der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts und seiner Verursachung vorzunehmen. Dabei geht es um die Fragen der Beweisbarkeit, des Maßes des zu liefemden Beweises und schließlich der Beweislast in puncto Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts. Auf diese Fragen sei hier nur hingewiesen; sie werden später in einem größeren Zusammenhang erörtert. Bereits an dieser Stelle aber läßt sich etwas zu den Voraussetzungen sagen, die das Kriterium der Direktheil des Erfolgseintritts als zweiter Pfeiler der Mittel-Zweck-Relation mit sich bringt. Theoretisch besagt dieses Erfordernis, daß ein zum Einsatz gebrachtes Mittel sein Ziel auf dem denkbar unmittelbarsten, d.h. filr die jeweiligen Betroffenen schonendsten Weg erreichen muß. Es konstituiert auf diese Weise eine Art "Verhältnismäßigkeitsgrundsatz."43 bb) Due process- und equal protection-Fälle

Obwohl in der vom Supreme Court verwendeten Definition zur MittelZweck-Beziehung durchaus Platz filr einen Verhältnismäßigkeitsgedanken der beschriebenen Art wäre, hat das Gericht ausdrücklich und in allgemeiner Form bisher nicht vom Gesetzgeber verlangt, daß dieser stets das Mittel benutzen müsse, das am geringsten in das jeweilige Grundrecht eingreift und nicht außer Verhältnis zu dem angestrebten Erfolg steht. Einen von der deutschen Doktrin 43 Genauer gesagt: (Nur!) die zweite Prüfungsstufe des vom deutschen Recht vertrauten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (die erste ist bereits im "Wahrscheinlichkeits"Urteil enthalten): 1.) Geeignetheit, 2.) Notwendigkeit, 3.) Verhältnismäßigkeit i.e.S. Für die amerikanische Sicht D. Currie, German Constitution, S. 309 f.

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

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vertrauten umfassenden allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kennt das amerikanische Verfassungsrecht nicht.44 Ausschnittweise freilich, nämlich bei Fragen, die der Supreme Court unter Heranziehung des strengen Prüfungsstandards zu beantworten pflegt, praktiziert das Gericht schon seit längerem eine solche Verhältnismäßigkeitsprüfung. In "Lochner" etwa wies der Supreme Court Vorhaltungen der Stadt New York, bei den von ihr verabschiedeten Maßnahmen handele es sich um solche zur Gesundheitsförderung, mit dem Argument zurück, dafilr sei über die bereits verabschiedeten Gesetze hinaus nicht auch noch die angegriffene Arbeitszeitregelung nötig. Sie greife angesichts des schon erreichten Zieles unverhältnismäßig stark in die betroffene Vertragsfreiheit ein und sei zu dessen Verwirklichung demnach nicht erforder/ich.45 Von diesem Diktum ausgehend hat das Gericht den Verhältnismäßigkeitsgedanken immer wieder zur Lösung von Verfassungsfragen herangezogen. Aufhänger daftir war dabei stets der Teil des strengen Prüfungsmaßstabes, der verlangt, daß das zum Einsatz gebrachte Mittel im Hinblick auf das anvisierte Ziel "narrowly tailored'46 oder, was in der Sache nichts anderes bedeutet, ,,specifically framed' 47 bzw. "substantially related'48 sein müsse. In "Wygant v. Jackson Board of Education" etwa strich der Supreme Court heraus, daß in Konsequenz dessen einer Regelung, zu der eine weniger einschneidende Maßnahme denkbar sei, die verfassungsrechtliche Anerkennung zu versagen sei. 49 In dieser Beziehung enthielt die Entscheidung freilich insofern nichts grundlegend Neues, als das Gericht bereits vorher ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, daß die Existenz von "less drastic means"50 eine unter strict scrutiny unbedingt zu erfilllende Notwendigkeit sei.

44 Ebenso W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 43; ders. Einführung, S. 91. Vgl. auch D. Currie, German Constitution, S. 309 f.

45

Lochner v. New York, 198 U.S. 45,61 f. (1905).

46

Fullilove v. Klutznick, 448 U.S. 448, 480 ( 1980).

47

Wygant v. Jackson Board ofEducation, 476 U.S. 267, 279 f. (1986).

48

Ebd., S. 287 (O'Connor, conc.).

Wygant v. Jackson Board ofEducation, 476 U.S. 267, 279 f. (1986). Das Gericht selbst (ebd., S. 280, FN 6) wies darauf hin, daß dieses Element seines strict scrutiny test nicht immer Prüfungsbestandteil war. Zur insoweit wechselvollen Geschichte der equal protection-Kiausei vgl. den aufschlußreichen Beitrag von G. Gunther, 86 Harv.L.Rev. I, 20 ff. (1972). 49

50 Vgl. für viele Shapiro v. Thompson, 394 U.S. 618, 637 (1969); Orr v. Orr, 440 U.S. 268,281 ff. (1979).

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Der Unterschied in den gestellten Anforderungen wird deutlich, wenn man sich im Vergleich dazu die Kriterien des nachlässigen Prtifungsmaßstabes vor Augen fUhrt. Da Maßstab für die reasonableness einer Klassifizierung unter dem Gleichheitssatz "the degree of its success in treating similarly those similarly situated"51 ist, hängt hier alles davon ab, wie viele Personen eine Klassifizierung ungerechtfertigterweise ein- ("over-inc/usiveness") bzw. ausschließen ("under-inc/usiveness") darf, um noch als rational angesehen zu werden. Unter dem mere rationa/ity-Standard hat sich der Supreme Court hier ausgesprochen großzUgig gezeigt. Mit der Begründung, dem Gesetzgeber stehe es frei, bei der Verwirklichung seiner Ziele Stück für Stück vorzugehen, hat das Gericht selbst evident unzureichend differenzierenden Gesetzen seine Aner. ht versagt.n kennung mc Kann man also feststellen, daß sowohl im Bereich des due process als auch in der Rechtsprechung zum Gleichheitssatz der Grundsatz der "Erforderlichkeit" einer staatlichen Maßnahme seinen Niederschlag gefunden hat - dann nämlich, wenn der strenge Prtifungsmaßstab zur Anwendung gelangt -, bleibt nur noch offen, auf einen Unterschied in dessen Umsetzung durch den Gesetzgeber hinzuweisen. Ist dieser nämlich aufgefordert, eine due process widersprechende Regelung neu zu fassen, so geschieht dies in den konventionellen Bahnen einer beliebigen Änderung. Dagegen führt der Umstand, daß es sich bei dem eingesetzten "Mittel" in equa/ protection-Fällen um die vom Gesetzgeber vorgenommene Klassifizierung selbst handelt, dazu, daß er eine neue, präzisere Klassifizierung vorzunehmen hat. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt hier also, daß der Gesetzgeber over- und/oder under-inclusiveness hinsichtlich des von seiner Regelung tatsächlich bzw. idealiter umfaßten Personenkreises so weit wie möglich vermeidet. Strict scrutiny duldet insoweit keine Abweichungen größeren Umfangs. cc) Freedom ofspeech-Fälle

"Wygant" ist insofern ein typischer Fall, als in neuerer Zeit gerade im Zusammenhang sog. affirmative action-Programme, also der ausgleichenden Bevorzugung bisher Benachteiligter, die Anwendung eines Verhältnismäßig-

51 So J Tussman I J ten Broek, 37 Calif.L.Rev. 341, 344 (1949). Ebd., S. 348 ff. auch die grundlegende Unterscheidung von "under-" und "over-inclusive laws." Vgl. weiterhin C. Sunstein, 84 Colum.L.Rev. 1689, 1695 ff. (1984); W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 163 ff., 172 f. 52 Vgl. Williarnson v. Lee Optical Co., 348 U.S. 483, 489 (1955). Zum Ganzen W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 165 f.

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

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keitsgrundsatzes der beschriebenen Art zu beobachten ist.53 Sie ist aber darauf durchaus nicht beschränkt. Richtig ist vielmehr, daß nicht dort, wo es um due process- oder equal protection-Fälle geht, sondern im Bereich der Meinungsfreiheit der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz seine ausgeprägtesten Konturen hat. Als dessen eine Ausdrucksform gehört der less restrictive means test zum gesicherten Bestand der Dogmatik im Bereich des 1. Amendment. Danach ist eine den Inhalt einer bestimmten Meinungsäußerung betreffende Grundrechtseinschränkung, die nicht zur Erreichung des staatlichen Ziels erforderlich ist, verfassungswidrig. Auf Einzelheiten wird sogleich zurückzukommen sein. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat im Bereich der Rede- und Meinungsfreiheit54 aber noch ein zweites Standbein55 in Form der sog. "overbreadthDoktrin". Sie besagt, daß eine gesetzliche Regelung auch dann verfassungswidrig ist, wenn sie zwar den im konkreten Fall umstrittenen Redebeitrag in zulässiger Weise einschränkt oder sogar untersagt, aber darüber hinaus weitere, wenn auch nicht zum Gegenstand des aktuellen Rechtsstreits gehörige Beiträge erfaßt, die einzuschränken verfassungswidrig wäre. In einer solchen Situation wird der Kläger, obwohl er selbst von dem bloß hypothetischen Fall nicht betroffen ist (und dies möglicherweise auch niemals sein wird), vom Supreme Court als befugt angesehen, die "Überweite"56 der streitgegenständlichen Regelung geltend zu machen. 57 53 Weitere Nachw. bei K. Greenawalt, 75 Colum.L.Rev. 559, 565, 578 f. (1975); J. Ely, 41 U.Chi.L.Rev. 723,727 mit FN 26 (1974). 54 Die im 1. Amendment enthaltenen Grundrechte sind nicht die einzigen, die der Supreme Court unter overbreadth-Gesichtspunkten prüft. Vgl. für ein right to travel Aptheker v. Secretary ofState, 378 U.S. 500, 515 ff. (1964). Andererseits verzichtet das Gericht auf die Anwendung der Doktrin in Teilbereichen des 1. Amendment, vgl. Bates v. State Bar of Arizona, 433 U.S. 350, 379 ff. (1977). Zusammenfassend Board of Trustees ofthe State University ofNew York v. Fox, 492 U.S. 469,475 ff. (1989). Ablehnend für die Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung Dandridge v. Williams, 397 u.s. 471, 484 f. (1970).

55 Der Zusammenhang von overbreadth-Doktrin, Verhältnismäßigkeits-Grundsatz und Mittel-Zweck-Relation wird in der amerikanischen Diskussion nicht immer deutlich. Vgl. demgegenüber M. Redish, 78 Nw.U.L.Rev. 1031, 1035 ff. (1983). 56 Nicht verwechselt werden darf die overbreq.dth- mit der vagueness-Doktrin. Nur ersterer liegen spezifische Verhältnismäßigkeits-Uberlegungen zugrunde (im Hinblick daraufa.A. W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 238 mwN), für letztere ist eine solche Relation, da die Reichweite des vom Gesetzgeber zum Einsatz gebrachten Mittels unklar - vague - bleibt, ausgeschlossen. Gemeinsam ist beiden Figuren neben ihrer nahezu identischen "Funktionsweise", daß sie i.w.S. "unangemessenen" Beschränkungen der Redefreiheit Grenzen setzen, Keyishian v. Board of Regents, 385 U.S. 589, 609 (1967). Zur prozessualen Situation W. Lockhart u.a., Constitutional Law, S. 737 f. (Kap. 8,1,IV,D). 57 Einführend zur overbreadth-Doktrin G. Gunther, Constitutional Law, S. 1191 ff.; W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 238 ff. ; L. Levy, in: L.

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Damit eröffnen sich dem Kläger wesentlich günstigere Perspektiven, den Rechtsstreit erfolfareich zu führen als im Fall der gewöhnlichen (as appliedoder on its face- 8) lnvalidation, bei der es allein darum geht, ob gerade die klägerische Aktivität vom 1. Amendment geschützt ist oder nicht. Er kann nun die Verletzung (i) nur möglicher Rechte (ii) nicht einmal notwendig klagewilliger Dritter (iii) in noch dazu ganz hypothetischen Situationen behaupten und damit in der Streitsache selbst dann noch obsiegen, wenn er in seiner eigenen Person eine verfassungswidrige Behandlung nicht erfahren hat. 59 Im Erfolgsfall erklärt der Supreme Court die angegriffene Regel in ihrer Gesamtheit, also auch in ihren der Verfassung entsprechenden Teilen für unanwendbar, invalid on its face. Die Vorschrift bleibt anschließend solange ohne Wirkung, bis sie mit den erforderlichen Modifikationen vom Gesetzgeber erneut verabschiedet oder von einem dazu autorisierten Gericht unter Berücksichtigung der legislativen Absichten entsprechend enger interpretiert wird.60 Vor diesem Hintergrund ist das Urteil eines Beobachters leicht nachvollziehbar, der von dem "restrained review of the as applied method and the more activist approach ofthe overbreadth doctrine" spricht.61 Über die prozessuale Besonderheit hinaus (daß nämlich das Gericht sich einer abstrakten, noch dazu von einem Beteiligten ohne eigenes RechtsschutzinLevy u.a. (Hrsg.), Encyclopedia, Bd. 3 (1986), S. 1352 ff. ("Overbreadth"). Für einen umfassenden Eindruck Note, 83 Harv.L.Rev. 844 ff. (1970). 58 Zur Klarstellung (vgl. G. Kauper, in: H. Mosler (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit (1962), S. 568, 610 f., 620 f.; mißverständlich C. Egerer, ZVglRWiss 88 (1989), 416, 425 ff.): Der flir den Kläger arn schwierigsten herbeiführbare Fall der Verfassungswidrig-Erklärung ist die on its face-Invalidation. Sie liegt dann vor, wenn die umstrittene Vorschrift keinen anderen denkbaren Anwendungsbereich hat als im gerade entschiedenen Fall bzw. jeder andere Anwendungsfall ebenso verfassungswidrig wäre, Viilage of Hoffman Estates v. Flipside, Hoffman Estates, Inc., 455 U.S. 489, 494, FN 5 (1982). Folge: Die Norm wird im konkreten und allen vergleichbaren (stare decisis) Fällen nicht angewendet. In der as applied-Situation bleiben alternative Anwendungsfälle von der Entscheidung des Gerichts unberührt.

59 Zu diesem Voneil sehr klar Coates v. City of Cincinnati, 402 U.S. 611 , 619 f. (1971) (White, diss.). Für ein anschauliches Beispiel vgl. Kunz v. New York, 340 U.S. 290 (1951). 60 Nach arnerikanischem Verfassungsrecht sind allein einzelstaatliche Gerichte befugt, einzelstaatlichen Gesetzen eine verbindliche Interpretation zu geben, vgl. Minnesota ex rel. Pearson v. Probate Court, 309 U.S. 270, 273 (1940). Dasselbe gilt für Bundesgesetze im Hinblick auf die Bundesgerichtsbarkeit Folge dessen ist, daß overbreadthEinwände vor dem Supreme Court wesentlich öfter gegenüber einzelstaatlichem als gegenüber Bundesrecht verfangen: (Nur) letzteres kann der Supreme Court enger interpretieren und damit der overbreadth-Attacke ihre Spitze nehmen. Vgl. für Staatengesetze demgegenüber Wainwright v. Stone, 414 U.S. 21, 22 (1973).

61

Note, 83 Harv.L.Rev. 844, 847 (1970).

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teresse aufgeworfenen Streitfrage stellt62) steht hinter der overbreadth-Doktrin offenbar der Gedanke, daß eine zu weit geratene Regelung nicht erforderlich ist - und zwar selbst dann, wenn gegen sie im Hinblick auf den Kläger und unter den Umständen des zur Entscheidung stehenden Einzelfalles nichts einzuwenden wäre: "A governmental purpose to control or prevent activities constitutionally subject to regulation may not be achieved by means which sweep unnecessarily broadly" hat der Supreme Court im Hinblick auf die overbreadth-Doktrin erklärt und sie damit dogmatisch der Mittel-Zweck-Beziehung zugeordnet. 63 Die mit diesem Kunstgriff verfolgte Absicht sieht das Gericht sowohl in der Öffnung des Rechtsweges fiir am Rechtsstreit eigentlich unbeteiligte und vor einer Klage daher zurückschreckende Dritte - dies der prozessuale Aspekt - als auch - dies der materielle Gesichtspunkt - in der beschleunigten Beseitigung der fiir diese Dritte hinderlichen Wirkungen des angefochtenen Gesetzes. 64 Die fiir den Rechtsschutz suchenden Bürger regelmäßig vorteilhafte Behandlung sei wegen der Bedeutung der kommunikativen Grundrechte geboten.65 Freilich genießt das I. Amendment in dieser Hinsicht einen singulären Schutz durch den Supreme Court; andere Grundrechte hat das Gericht mit der overbreadthDoktrin bisher nicht geadelt.66 62 Den Grundsatz, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen nicht als abstrakte Rechtsfrage zu entscheiden, hat das Gericht betont in United Public Workers v. Mitchell, 330 U.S. 75, 86 ff. (1947). Bei dem Problem handelt es sich um eine unter der Überschrift case or controversy bzw. ripeness abgehandelte Zulässigkeitsvoraussetzung. Dazu C. Rau, Grenzen, S. 57 ff. - Ein eigenes Rechtsschutzbedürfnis verlangt das Gericht etwa in N.A.A.C.P. v. Alabama, 357 U.S. 449, 459 (1958). Problemaufriß zu diesem Zulässigkeitserfordernis des standing bei G. Gunther, Constitutional Law, S. 1598 ff.; C. Rau, Grenzen, S. 55 ff.

63 N.A.A.C.P. v. Alabama, 357 U.S. 449, 461 (1958). Zustimmend W. Haller, Supreme Court, S. 178 f. Zu davon abweichenden dogmatischen Einordnungen G. Gunther, Constitutional Law, S. 1192 bei FN 5, S. 1198 bei FN 18 mwN sowie Secretary of State ofMaryland v. J. H. Munson Co., 467 U.S. 947, 965 f., FN 13 (1984). Hier wird davon ausgegangen, overbreadth habe prozessuale und substantielle lmplikationen. 64 Vgl. zu diesen beiden Aspekten L. Levy, in: L. Levy u.a. (Hrsg.), Encyclopedia, Bd. 3, S. 1352 ("Overbreadth"); Note, 83 Harv.L.Rev. 844, 853 ff. (1970). Aus der Rspr. Thornhill v. Alabama, 310 U.S. 88, 97 f. (1940); Dombrowski v. Pfister, 380 U.S. 479,487 (1965); Coates v. City ofCincinnati, 402 U.S. 611, 619 f. (1971) (White, diss.); Gooding v. Wilson, 405 U.S. 518, 521 (1972); Viilage of Schaumburg v. Citizens for a Better Environment, 444 U.S. 620, 634 (1980). Plastisch Arnett v. Kennedy, 416 U.S. 134, 231 (1974) (Marshall, diss.), wo die Drohung mit overbreadth als mit einem "sword ofDamocles" verglichen wird, dessen Wert darin bestehe "that it hangsnot that it drops." 65

Lautmalerisch Broadrick v. Oklahoma, 413 U.S. 601,611 (1973).

Vgl. U.S. v. Salerno, 481 U.S. 739, 745 (1987). Vgl. aber auch H.L. v. Matheson, 450 U.S. 398,427, FN 2 (1981) (Marshall, Brennan, Blackmun, diss.). 66

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Die wichtigste, vor dieser Praxis sich ergebende Frage ist, wie intensiv der Supreme Court nach anderen, denkbar verfassungswidrigen Fallgestaltungen "suchen" soll. Sie wirft einmal mehr ein Licht auf das Verhältnis des Gerichtes zum Gesetzgeber bei der Bewältigung von Grundrechtsfragen: Je mehr das Gericht sich als befugt ansieht, solche hypothetischen Fälle zu bedenken, je eher wird die in Frage stehende Regelung als verfassungswidrig fallen, obwohl sie, etwas enger gefaßt, eine einwandfreie Grundlage in den meisten anderen Fällen böte. Bedenkt man zudem, daß die overbreadth-Doktrin sich bereits über gerade auch richterliche Zurückhaltung garantierende Grundsätze wie das bereits erwähnte case or controversy-Prinzip oder das standing-Erfordernis hinwegsetzt, wird klar, welches machtvolle Instrument der Supreme Court mit dieser Doktrin in den Händen hält. 67 Im Arsenal eines verantwortungslosen Gerichtes bietet overbreadth die Handhabe fiir einen ausgeprägten richterlichen Interventonismus. Interessanterweise steht diese theoretisch unabweisliche Schlußfolgerung in einem nur schwer überbrückbaren Widerspruch zu den Überlegungen, die die Anwendung der overbreadth-Doktrin fiir das Gericht zunächst so verlockend erscheinen ließ: "Overbreadth analysis has been especially attractive to some Justices because it gives the appearance of leaving alternatives open to the legislature. By holding out the prospect that narrower means may be available to achieve legislative objectives, it conveys the appearance of intervening in legislative choices far more marginally than outright "balancing" would ... They purport to be concerned with means to legitimate ends, not ultimate quasi-legislative choices. " 68 Tatsächlich scheint overbreadth auch fiir den Gesetzgeber einen gewissen Reiz bereitzuhalten.69 Jedoch liegt die Annahme nicht fern, daß es in der Nach-Warren-Ära kaum zu signifikanten Einschränkungen dieser Doktrin gekommen wäre, wenn es sich dabei um ein dem Gesetzgeber gegenüber besonders schonend wirkendes Mittel gehandelt hätte. Grund genug also, zu der Ausgangsfrage zurückzukehren, die sich darauf richtete, mit welcher Intensität die Suche nach möglichen verfassungswidrigen Fallgestaltungen durch den Supreme Court erfolgt und welche Bedeutung solchen Fallgestaltungen fiir das Ganze einer Regelung zukommen muß, um diese 67 Die overbreadth-Doktrin ist eine Schöpfung des Supreme Court. Der Sache nach erstmalige Anwendung in Thornhill v. Alabama, 310 U. S. 88, 96 ff. ( 1940).

68 G. Gunther, Constitutional Law, S. 1193. Für ein Bsp. aus der Rspr. siehe United States v. Robe!, 389 U.S. 258, 268, FN 20 (1967). Kritisch zu der Entscheidung J Ely, Democracy and Distrust, S. 105 f. 69 Vgl. G. Gunther, 20 Stan.L.Rev. 1140, 1147 f. (1968). Aus funktionellen Gründen aber ablehnend M. Redish, 78 Nw.U.L.Rev. 1031, 1075 (1983). Vgl. auch Note, 78 Yale L.J. 464, 471 f. (1969).

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in ihrer Gesamtheit für verfassungswidrig erklären zu können. Hier ist der Supreme Court zu einer Einschränkung der overbreadth-Doktrin dadurch gekommen, daß er ein Gesetz nur dann als anstößig ansieht, wenn dessen verfassungswidrige Bestandteile einen erheblichen Anteil der Gesamtregelung ausmachen. Den Durchbruch in dieser Frage brachte die mit knapper Mehrheit gefaßte Entscheidung "Broadrick v. Oklahoma" aus dem Jahr 1973. Nachdem das Gericht die overbreadth-Doktrin zunächst als "manifestly, strong medicine"70 bezeichnet hatte, fuhr es anschließend fort: "We believe that the overbreadth of a statute must not only be real, but substantial as weil, judged in relation to the statute's plainly legitimate sweep." 71 In dieser Form kommt die inzwischen substantial overbreadth genannte Doktrin noch heute zur Anwendung.72 Der Antrieb, zu einer solchen Einschränkung zu gelangen, bestand freilich nicht nur bei externen Beobachtern, sondern war Gegenstand von Auseinandersetzungen immer auch im Supreme Court selbst. 73 Die insoweit interessanteste, weil den funktionell-rechtlichen Aspekt am deutlichsten herausstreichende Stellungnahme, stammt dabei von Justice Hugo Black - eigentlich einer der zähesten Verteidiger der aus dem 1. Amendment fließenden Rechte - in der Entscheidung "Younger v. Harris". Direkt im Anschluß an Äußerungen, die in ihrer Substanz die eben in "Broadrick" erwähnten Gedanken bereits vorwegnahmen (ohne daß diese damals im Gericht bereits eine Mehrheit gefunden hätten) räsonnierte Black: "Procedures for testing the constitutionality of a statute "on its face" ... are fundamentally at odds with the function of the federal courts in our constitutional plan. The power and duty of the judiciary to declare laws unconstitutional is in the final anlysis derived from its responsibility for resolving concrete disputes brought before the courts for decision ... But this vital responsibility, broad as it is, does not amount to an unlimited power to survey the statute books and pass judgment on laws before the courts are called upon to enforce them ... The task of analyzing a proposed statute, pinpointing its deficiencies, and requiring correction of these deficiencies before the statute is put into effect, is rarely if ever an appropriate task for the judiciary ... In light 70 Broadrick v. Oklahoma, 413 U.S. 601,613 (1973).

71 Ebd., S. 615. Ähnlich Hoffman Estates v. The Flipside, Hoffman Estates, lnc., 455 U.S. 489,494 (1982). Zur Kritik Broadrick v. Oklahoma, ebd. S. 621 f. (Brennan, diss.) sowie M. Redish, 78 Nw.U.L.Rev. 1031, 1056 ff. (1983). 72 City ofHouston v. Hili, 482 U.S. 451,458 ff. (1987); Board of Airport Commissioners v. Jews for Jesus, 482 U.S. 569, 574 ff. (1987). 73 Die genannten Einschränkungen in "Broadrick" wurden neben Blacks Mehrheitsmeinung in "Younger v. Harris" (dazu sogleich) vor allem vorbereitet von Coates v. City of Cincinnati, 402 U.S. 611, 617 ff. (1971) (White, diss.) und Gooding v. Wilson, 405 U.S. 518, 528 ff. (1972) (Burger, diss.).

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of this fundamental conception of the Framers as to the proper place of the federal courts in the govemmental processes of passing and enforcing laws, it can seldom be appropriate for these courts to exercise any such power of prior approval or veto over the legislative process." 74 Es ist vollauf gerechtfertigt, hier von einem "properly restrained approach" 75 zu sprechen: Im Wege rücksichtsvollen Einsatzes der overbreadth-Doktrin wird der Zuständigkeitsbereich des Gerichtes zugunsten eines erweiterten Spielraums des Gesetzgebers zurückgedrängt. Es lohnt, noch einmal kurz zum eingangs bereits erwähnten /ess restrictive means-Test zurückzukehren 76 , der ebenfalls als Ausdruck einer Art Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gekennzeichnet wurde. Der Test besagt, daß eine Regelung im Bereich vor allem des I. Amendment dann verfassungswidrig ist, wenn zu ihr bei gleichen Erfolgsaussichten eine für den Betroffenen weniger einschneidende Alternative denkbar ist. Landmark decision hierzu ist "Shelton v. Tucker", eine denkbar knappe 5:4-Entscheidung, in der der Supreme Court ein Gesetz des Staates Arkansas für verfassungswidrig erklärte, demzufolge jeder an einer öffentlichen Schule beschäftigte Lehrer die Namen aller Organisationen angeben mußte, denen er während der letzten fünf Jahre angehört hatte. Zweck dessen sollte es sein, näheren Aufschluß über die Qualifikation des Lehrkörpers zu erhalten. Die Mehrheit des Gerichts hielt diese Regelung fUr einen Verstoß gegen die Vereinigungsfreiheit: "Even though the govemmental purpose be legitimate and substantial, that purpose cannot be pursued by means that broadly stifte fundamental personal liberties when the end can be more narrowly achieved. The breadth of legislative abridgement must be viewed in the light of less drastic means for achieving the same basic purpose."77 Während der Supreme Court sich unter dem mittleren Prüfungsmaßstab nur der Diktion, nicht aber der Sache nach zu einer Verhältnismäßigkeitsprüfung bekenne8, verlangt der strenge Prüfungsmaßstab, der vom Gericht gerade im Be74 Younger v. Harris, 401 U.S. 37, 52 f. (1971). Vgl. auch Broadrick v. Oklahoma, 413 U.S. 601,610 f. (1973) sowie M. Redish, 78 Nw.U.L.Rev. 1031, 1040 (1983). 75 Gooding v. Wilson, 405 U.S. 518, 532 (1972) (Burger, diss.). Vgl. auch Note, 83 Harv.L.Rev. 844, 849, 852 (1970). 76 Zusammenfassend J Nowak / R. Rotunda, Constitutional Law, S. 952 (§ 16.10); G. Gunther, Constitutional Law, S. 1201 f. Einen umfassenden kritischen Uberblick gibt Note, 78 Ya1e L.J. 464 ff. (1969). 77 Shelton v. Tucker, 364 U.S. 479, 488 (1960). Der Fall betrifft die Vereinigungsfreiheit, die der Supreme Court als vom 1. Amendment mitgeschützt ansieht. 78 Vgl. Ward v. Rock Against Racism, 491 U.S. 781 , 796 f. (1989), wo das Gericht, obwohl es betont, die angegriffene Regelung müsse "narrowly tailored" sein, erklärt: "Our cases quite clearly hold that that restrictions on the time, place, or manner of protected speech are not invalid simply because there is some imaginable alternative that might be less burdensome on speech."

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reich des 1. Amendment so häufig zur Anwendung gebracht wird, also nicht nur das Vorliegen eines zwingenden gesetzlichen Zweckes sondern darüber hinaus auch die Wahl eines Mittels, das zu ihm in einem besonders engen Verhältnis steht. Das bedeutet konkret, daß das Mittel den Zweck zuverlässig und fiir die in ihren Rechten eingeschränkten Individuen auf möglichst schonende Art und Weise zu erreichen hat. Die eben erwähnte79 oder ähnliche 80 vom Supreme Court immer wieder verwendete Formulierungen legen die Frage nahe, in welchem Verhältnis less drastic means-Test und overbreadth-Doktrin als jeweils den Gedanken der Erforderlichkeit staatlicher Maßnahmen zum Ausdruck bringende Mittel zueinander stehen. Die traditionelle Antwort der amerikanischen Rechtswissenschaft geht hier dahin, daß der less drastic means-Test als Bestandteil des materiellen Rechts der Meinungsfreiheit zu verstehen sei, wohingegen es sich bei der overbreadthDoktrin um eine Ausnahme zu überkommenen prozessualen, die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Klage statuierenden Grundsätzen handele. 81 Andere haben dem widersprochen und betont, overbreadth bringe den Gedanken zum Ausdruck, daß jedermann ein Recht habe, von - in wessen Person auch immer- zu weit geratenen Gesetzen verschont zu bleiben. Demnach gebe overbreadth nicht etwa Antwort nur auf eine prozessuale Frage, sondern sei als zwingendes Gebot des materiellen Verfassungsrechts zu verstehen. Es gehe nicht um die Geltendmachung von Rechten. Dritter, sondern genau wie beim /ess drastic means-Test um die eigene materielle Grundrechtsposition.82 Von solchen und anderen 83 Differenzierungen hat sich der Supreme Court bisher wenig beeindrucken lassen. In seinen Urteilen finden sich vielmehr vereinzelte Stellungnahmen, die beide Instrumente miteinander zu verquicken 79 Neben Shelton v. Tucker, 364 U.S. 479, 488 (1960) vor allem United States v. Robe!, 389 U.S. 258, 268 (1967).

80 N.A.A.C.P. v. Button, 371 U.S. 415, 438 (1963): "precision of regulation"; Schneider v. Smith, 390 U.S. 17, 24 (1968): "reasonably drawn so that the precise evil is exposed." Vgl. weiterhin Cantweil v. Connecticut, 310 U.S. 296, 304 (1940); Virginia State Board of Pharrnacy v. Virginia Citizens Council, lnc., 425 U.S. 748, 770 (1976). 81

Vgl. etwa G. Gunther, Constitutional Law, S. 1201 f.

So insbesondere H. Monaghan, 1981 Sup.Ct.Rev. I ff. Nicht ganz so weitgehend M Redish, 78 Nw.U.L.Rev. 1031, 1039 (1983); J Nowak l R. Rotunda, Constitutional Law, S. 947 f. (§ 16.8). Kurze Zusammenfassung der Positionen bei G. Gunther, Constitutional Law, S. 1192, FN 5. 82

83

EtwaL. Tribe, Constitutional Law, S. 985 (§ 12-23), 1037 ff. (§ 12-33).

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

scheinen84 • Auf der anderen Seite läßt sich "Shelton v. Tucker", der eben erwähnte Musterfall des less restrictive means-Test, einigermaßen zwanglos auch als overbreadth-Entscheidung lesen. Tatsächlich hatte das Gericht in "Shelton" kaum Überlegungen dazu angestellt, welche Verpflichtung zur Offenlegung seiner Vereinsmitgliedschaften gerade diesen bestimmten Kläger treffen würde, sondern statt dessen viel allgemeiner ausgeführt, daß es nicht erforderlich sei, alle Lehrer über ihre sämtlichen Mitgliedschaften in den verschiedenen Organisationen zu befragen.85 Vor allem aus einer funktionellen Perspektive, die darauf abstellt, welche Aufgabe die beiden Werkzeuge in der Hand des Supreme Court erfüllen, ergeben sich in der Tat keine wesentlichen Unterschiede86 : Beide zwingen den Gesetzgeber zum Verzicht auf den Einsatz einer Regelung, zu der eine weniger drastische Alternative denkbar wäre. Demgegenüber fallen die konzeptionelle Unterscheidbarkeit der beiden Instrumente sowie die formale Differenz, daß in den Genuß einer overbreadth-Entscheidung, anders als in der less drastic means-Situation, auch derjenige kommen kann, der in eigenen Verfassungsrechten nicht verletzt ist87, kaum ins Gewicht. Hier wird deshalb darauf verzichtet, die Scharmützel auf diesem Feld der Dogmatik weiter zu verfolgen. dd) Zusammenfassung Overbreadth-Doktrin und less restrictive means-Test sind Werkzeuge, die den Gesetzgeber dazu zwingen, bei der Beschränkung vor allem der im I. Amendment genannten Rechte (aber auch anderer als wichtig erkannter Positionen) zu den jeweils schonendsten Mitteln zu greifen. Einen diesbezüglichen Defekt weist eine Regelung dann auf, wenn sie entweder Personen oder Situationen einschließt, die keine der Bedrohungen darstellen, die der Gesetzgeber zu bekämpfen beabsichtigt oder, wenn sie Maßnahmen vorsieht, die zwar die richtigen Personen und Situationen treffen, diese aber in allzu intensiver Form belastet. 88 Ermöglicht wird die Sanktion eines solchen Mangels dadurch, daß 84 Shetton v. Tucker, 364 U.S. 479, 488 f. (1960); United States v. Robel, 389 U.S. 258, 267 f. (1967); Viilage of Schaumburg v. Citizens for a Better Environment, 444 U.S. 620, 636 f. (1980). Klare Unterscheidung der beiden Instrumente dagegen in Centrat Hudson Gas & Electric Corp. v. Public Service Commission ofNew York, 447 U.S. 557, 565, FN 8 (1980); Board ofTrustees ofthe State University ofNew York v. Fox, 492 U.S. 469,475 ff., 48t ff. (1989). 85

Vgl. Shetton v. Tucker, 364 U.S. 479,487 ff. (1960).

86

Im Ergebnis zustimmend M Redish, 78 Nw.U.L.Rev. 1031, 1035 ff. mit FN 28.

87 Vgl. Centrat Hudson Gas & Etectric Corp. v. Pubtic Service Commission ofNew York, 447 U.S. 557, 565, FN 8 (1980); Board of Trustees of the State University of New York v. Fox, 492 U.S. 482 f. (1989). 88

Zu diesen beiden Aspekten M Redish, 78 Nw.U.L.Rev. 1031, 1036 ff. (1983).

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nicht das Interesse des Gesetzgebers, ein bestimmtes Ziel zu verwirklichen, sondern sein Interesse daran, dies gerade mit den von ihm zum Einsatz gebrachten Mitteln zu tun, in den vom Gericht verwendeten Kontrollstandard eingestellt wird. 89 Als Prüfungselemente im Rahmen der Mittel-Zweck-Relation konstituieren less restrictive means-Test und overbreadth-Doktrin damit im Ergebnis eine Art Verhältnismäßigkeits-Grundsatz90 : Stehen dem Gesetzgeber weniger einschneidende Mittel zur Verfügung, ist die Beziehung des Mittels zum verfolgten Zweck nicht dicht genug; das Gesetz ist als Ganzes verfassungswidrig. Freilich darf gerade der deutsche Beobachter nicht übersehen, daß diese spezifische amerikanische Verhältnismäßigkeilsprüfung deutlich kürzer greift als ihr vermeintliches Pendant. Insbesondere findet eine offene Proportionalitätskontrolle in den USA nicht statt.. 3. Handhabung der Prüfungsmaßstäbe

Es ist bereits angeklungen, daß die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe (mere rationality, strict und intermediate scrutiny) nicht nur einem einzigen Zweck dienen. Zwar liegt ihre primäre Aufgabe darin, einem Gericht die Maßstäbe an die Hand zu geben, vermittels derer es einen Rechtsfall im Kontext der Grundrechte löst; insoweit legen die Prüfungsmaßstäbe die Grenze fest, die zu überschreiten dem Bund oder den Einzelstaaten im Verhältnis zum Individuum nicht gestattet ist. Wie man sich immer vor Augen halten muß, definiert der Supreme Court durch die Wahl des Prüfungsmaßstabes jedoch zugleich das Maß der von ihm gegenüber dem Gesetzgeber ausgeübten Kontrolle. Je nachdem, welchen Spielraum das Gericht dem Gesetzgeber läßt, d.h., unter welchen Voraussetzungen es ihm korrigierend in die Zügel greift, ergibt sich eine relativ größere oder kleinere Ausdehnung des Zuständigkeitsbereichs des einen Verfassungsorgans zu Gunsten oder zu Lasten des anderen. 89 Vgl. Note, 78 Yale L.J. 464, 466 ff. (1969). Dort auch die Ansicht, der less drastic means-Grundsatz habe nur da eine unabhängige Berechtigung, wo es sich um ErsatzMittel handele, deren Verwendung mit Effizienzeinbußen einhergehe. Wo dagegen gleichwertige Alternativen zur Verfugung ständen, ergebe sich das Gebot, die am wenigsten einschneidende Maßnahme zu wählen, bereits aus allgemeinen Grundsätzen. Die Nachweise ebd., S. 468 ff., 471 machen jedoch deutlich, daß der Supreme Court den less drastic means-Test offenbar davon abweichend handhabt. Das erklärt nicht zuletzt der praktische Gesichtspunkt, der den less drastic means-Test (ebenso wie overbreadth) flir die Rechtsprechung so attraktiv macht: Folgte man der Note (ebd., S. 466 f.), ergäbe sich die Notwendigkeit des Ausbalancierens konkurrierender Werteein Ergebnis, das der less drastic means-Test, sofern man das gleiche Maß an Effizienz verlangt, gerade vermeidet. 90

Vgl. W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 43, 238 f.

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Damit ist übergeleitet zu einem Phänomen, das sich keineswegs zwingend aus der Existenz der Prüfungsmaßstäbe in der vom Supreme Court definierten Form, wohl aber aus ihrer praktischen gerichtlichen Handhabung ergibt: Nicht die sorgfaltige Anwendung der einzelnen Prüfungsstandards ist der entscheidende Schritt bei der Lösung eines Verfassungsfalles vor dem Supreme Court. Die Weichen hinsichtlich der Invalidation bzw. Aufrechterhaltung einer gesetzlichen Regelung werden vielmehr bereits bei der Auswahl unter den zwei zur VerfUgung stehenden Ausgangs-Standards - strict scrutiny- und rational basis-Test- gestellt.91 Eine gewisse Ausnahme von dieser Regel ergibt sich allein fiir den mittleren Prüfungsmaßstab. Da dann, wenn dieser Standard zur Anwendung gelangt, eine einigermaßen Ergebnis-offene Prüfung stattfindet92 , tritt hier die konkrete Ausübung gerichtlicher Kontrolle stärker als unter den beiden vorgenannten Standards in den Vordergrund. Dieses Phänomen ist indes keineswegs selbstverständlich. Denn zwar gibt, um ein Beispiel zu nennen, die Wahl des strengen Prüfungsmaßstabes dem Supreme Court offensichtlich eine sehr viel wirksamere Handhabe gesetzgeberischen Regelungen gegenüber als der eine bloße Willkürkontrolle statuierende mere rationality-Standard, aber dies allein müßte dem Gesetzgeber noch nicht zwingend den Weg zu einer gerichtlichen Anerkennung der von ihm verabschiedeten Regelung verstellen. Wieso sollte der Gesetzgeber nicht die Chance des Nachweises nutzen, daß das Gesetz auch den durch die Anwendung des strengen Prüfungsmaßstabes relativ höheren Anforderungen genügt? Und wieso etwa sollte er nicht zwingende Gründe des öffentlichen Wohls fiir seine Regelung nennen und nachweisen können, daß diese auf eine fiir die Betroffenen schonende Weise zuverlässig erreicht werden und also auch die genügend enge Mittel-Zweck-Beziehung besteht? Eine Analyse der unter den jeweiligen Prüfungsmaßstäben erzielten Ergebnisse verstärkt freilich nur den Eindruck, daß die genannten Verteidigungsstrategien dem Gesetzgeber faktisch nicht zugänglich sind: So hat sich der strenge Prüfungsmaßstab in den Händen des Supreme Court bisher als extrem scharfes Schwert bewiesen. Kaum einmal hat ein Gesetz den von ihm statuierten Anfor91 Ebenso J Seilers, 84 Dick.L.Rev. 363, 368 (1980); W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 43, 173; ders., Ein:f~hrung, S. 91; J. Kokott, Beweislast und Prognose, S. 196; C. Rau, Grenzen, S. 96 f. Ahnlieh Note, 82 Harv.L.Rev. 1065, 1088 ff., 1103 f. (1969); H.-S. Cho, Gleichheitsprüfung, S. 186, 190. Vgl. auch die Verteidigung eines gleitenden Prüfungsmaßstabes gerade deswegen, weil er die schematischen Ergebnisse des überkommenen Test-Tableaus vermeidet, in Beal v. Doe, 432 U.S. 438,461 , FN 6 (1977) (Marshall, diss.). 92

Für freedom ofspeech siehe J. Barron I T Dienes, First Amendment, S. 24.

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derungen genügen können. Demgegenüber hat sich der mere rationality-Standard als starker Beschützer der gesetzgebenden Gewalt (und damit als Feind des Rechtsschutz suchenden Individuums) herausgestellt; diesem Test unterworfen zu werden, bedeutete nahezu regelmäßig eine Zurückweisung der Klage (und also eine Aufrechterhaltung des von der Legislative verabschiedeten Gesetzes) - ein Umstand, der Anlaß zu der vielzitierten Äußerung gegeben hat, die Stellung der Gerichte in diesen Fällen gleiche "lunacy commissions sitting in judgment upon the mental capacity of legislators. " 93 Stets relativ offen war allein das Ergebnis des freilich auch recht jungen und nicht gerade häufig zur Anwendung kommenden middle tier-Standards.94 Völlig zutreffend konnte deshalb Gunther fiir den Bereich des Gleichheitssatzes die im wesentlichen noch heute gültige Rechtsprechung des Warren Court als "rigid two-tier attitude" beschreiben, deren eines Gesicht "strict in theory and fatal in fact'' sei, während das andere "minimal scrutiny in theory and virtually nonein fact" verheiße. 95 Was in dieser Hinsicht fiir den Gleichheitssatz gilt, hat in gleicher Weise Gültigkeit fiir die in den due process- undfreedom ofspeech-Fällen verwendeten Prüfungsmaßstäbe. Auch hier führt die Anwendung des strengen Tests regelmäßig zum Ausspruch der Verfassungswidrigigkeit der angegriffenen Regelung, die des nachlässigen Maßstabes zu ihrer Aufrechterhaltung. 96 Gerade der Gleichheitssatz macht die Bedeutung des jeweiligen Einsatzes der Prüfungsmaßstäbe fiir den Ausgang eines Rechtsstreits jedoch besonders anschaulich.97 Die Stellungnahme Gunthers etwa bezieht sich auf eine Phase der Rechtsprechung an der Schwelle der sogenannten "alten" zur "neuen" equal protection-Doktrin. Die "alte" Spruchpraxis war, nicht anders als die "neue", zunächst einmal durch eine klare Zwei-Teilung der Prüfungsmaßstäbe gekennzeichnet, die im Hinblick auf die Ergebnisse noch dazu sehr gleichmäßig gehandhabt wurde: Gesetze, die mere rationality unterworfen wurden, 93 So F. Cohen, ziti.~rt nach P. Brest, Constitutional Decisionmaking (1. Aufl), S. 1005 (Kap. 10 II A). Ahnlieh J Shaman, 35 U.Fia.L.Rev. 236, 247 (1983). 94 Vgl. University of California v. Bakke, 438 U.S. 265, 361 f. (1978) (Brennan, White, Marshall, Blackmun, conc./diss. in part). 95 G. Gunther, 86 Harv.L.Rev. 1, 8 (1972). Ebenso L. Tribe, Constitutional Law, S. 1451 ff. (§ 16-6); J Shaman, 35 U.Fia.L.Rev. 236,244,247 (1983).

96 Vgl. exemplarisch Duke Power Co. v. Carolina Environmental Study Group, Inc., 438 U.S. 59, 84 mit FN 27 ( 1978) - due process. 97 Hervorragender Überblick zum folgenden bei G. Gunther, Constitutional Law, S. 602 ff.; D. Kommers, in: C. Link (Hrsg.), Gleichheitssatz, S. 31, 37 ff. Vgl. aus deutscher Perspektive auch G. F. Schuppert, DVBI. 1988, S. 1191, 1193.

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

hatten flir gewöhnlich Bestand98, solche, die strict scrutiny ausgesetzt waren, wurden flir verfassungswidrig erklärt und fielen. Die Rechtsprechung zeichnete sich weiterhin dadurch aus, daß dem nachlässigen mere rationality-Standard, der im wesentlichen nur danach fragte, ob der Gesetzgeber vernünftige Gründe für die Annahme hatte, das von ihm eingesetzte Mittel werde das angestrebte Ergebnis erreichen, die weitaus meisten Klassifizierungen unterworfen wurden. Strict scrutiny hingegen, der Test, der fast immer zu einer Erklärung der Verfassungswidrigkeit führte, war für die Bekämpfung solcher Gesetze reserviert, für die die equal protection-Klausel nachweislich in der Verfassung verankert worden war, für Fälle von Rassendiskriminierung nämlich.99 Nach und nach wurde sie dann freilich auch bei Bedrohungen des Mehrheitsprinzips oder des demokratisch-repräsentativen Prozesses zum . Emsatz gebracht. 100 Die "neue" Rechtsprechung zum Gleichheitssatz dagegen hat eine nie gesehene Ausweitung gerichtlicher Intervention gebracht. Sie ist eine Frucht der letzten Amtsjahre des Chief Justice Warren und geboren aus der tiefen Überzeugung des Gerichts, daß der traditionelle rational basis-Test keine ausreichende Grundlage dafür biete, besonders wertvollen Interessen den verdienten Schutz zukommen zu lassen. Unter der neuen Doktrin kann man gegenüber der alten zwei Abweichungen von allerdings unterschiedlichem Gewicht und in gestaffelter zeitlicher Folge feststellen: Zunächst einmal entwickelte sich der alte mere rationality-Standard von einem völlig zahnlosen Vehikel ein Stück weit in Richtung auf einen wirklichen Test. Dem Minimum an Schärfe, das er jetzt aufwies, fiel gelegentlich schon einmal eine gesetzliche Regelung zum Opfer. 101 Noch weitaus wesentlicher aber war die zweite Neuerung, die durch die erste nur vorbereitet wurde. Mehr oder weniger plötzlich nämlich unterzog der Supreme Court immer weitere gesetzliche Regelungen seiner strengen Kontrolle, indem er entweder erklärte, in ihnen würden verdächtige Klassifizierungen vorgenommen (z.B. solche, in denen die Nichtehelichkeit als Differenzie-

98 Für eine Ausnahme vgl. Morey v. Doud, 354 U.S. 457 (1957), später overruled in City ofNew Orleans v. Dukes, 427 U.S. 297, 306 (1976). 99 Vgl. insoweit Slaughter-House Cases, 83 U.S. (16 Wall.) 36, 81 (1873). Zum historischen Verständnis des 14. AmendmentNote, 82 Harv.L.Rev. 1065, 1068 f. (1969).

100

D. Kommers, in: C. Link (Hrsg.), Gleichheitssatz (1982), S. 31, 38.

Bsp.: Logan v. Zimmerman Brush Co., 455 U.S. 442 (1982); Cleburne v. Cleburne Living Center, 473 U.S. 432 (1985). Zu älteren Entscheidungen G. Gunther, 86 Harv.L.Rev. I, 18 ff. (1972). Vgl. auch ders. , Constitutional Law, S. 605 mit FN 10. 101

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

113

rungskriterium fungierte) oder aber davon ausging, fundamentale Rechte und Interessen (wie das Stimmrecht etwa) ständen auf dem Spiel. Das wäre als solcher freilich noch kein ungewöhnlicher oder gar beunruhigender Schritt gewesen. Vor dem Hintergrund der konkreten Ausilbung strenger Kontrolle durch den Supreme Court jedoch und angesichts der schier unbegrenzten Möglichkeiten zur Analogiebildung 102 mußte dies die zumindest potentielle Verfassungswidrig-Erklärung einer ganzen Gruppe von Fällen, die bisher unter dem mere rationality-Standard einer großzUgigen Gestaltung durch den Gesetzgeber offengestanden hatte, bedeuten. Justice Harlan, prominent ausgewiesener Verfechter richterlicher Zurilckhaltung, hat diese Entwicklung im Bereich der equal protection-Klausel besorgt verfolgt. Dabei hielt er die Expansion des suspect classification-Stranges wegen ihres Mangels an verfassungshistorischer Verankerung nur für "unwise." 103 Um so schärfer jedoch fiel seine Kritik arnfondamental right-Zweig, dem jilngeren der beiden Standbeine der strengen Gleichheitsprilfung, aus: "1 think this branch of the "compelling interest" doctrine particularly unfortunate ... lt is unfortunate because it creates an exception which threatens to swallow the standard equal protection rule ... To extend the 'compelling interest' rule to all cases in which such rights are affected would go far toward making this Court a 'super-legislature."' 104 Was bisher von der der equal protection-Klausel berichtet wurde, gibt keineswegs ein vollständiges Bild von den Strömungen im Bereich dieses Grundrechts. So haben wieder neuere Entwicklun~en auch die neue Rechtsprechung zum Gleichheitssatz mittlerweile ilberholt. 10 Was durch den Exkurs allein klar geworden sein sollte, ist, daß viel mehr als die sorgfältige Anwendung die Auswahl des jeweiligen Prüfungsstandards durch den Supreme Court die entscheidende Weichenstellung bei der Adjudikation von Verfassungsfragen darstellt. Es ist die Zugehörigkeit zu der einen, strengen, oder anderen, großzUgigen Kategorie, die den Ausgang eines Rechtsstreits präjudiziert. 106

102 Hierin sieht G. Gunther, Constitutional Law, S. 603 die eigentliche Gefahr der "neuen" Gleichheitsrechtsprechung. Die vom Gericht selbst vorgenommene Ausweitung des Reigens "fundamentaler" Interessen dagegen bezeichnet er als "in fact quite modest." Vgl. demgegenüber die Einschätzung von D. Kommers, in: C. Link (Hrsg.), Gleichheitssatz, S. 31,41 (im Zusammenhang der "verdächtigen" Klassifizierungen). 103

Shapiro v. Thompson, 394 U.S. 618, 659 (1969) (Harlan, diss.).

104

Ebd., S. 661.

105

Näheres hierzu bei G. Gunther, Constitutional Law, S. 604 ff.

106 Vgl. die Auseinandersetzung um den angemessenen Prüfungsstandard innerhalb des Supreme Court in Wygant v. Jackson Board of Education, 476 U.S. 267, 301 ff.

8 Simons

114

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Das Bild wäre freilich unvollständig, wenn nicht das Zusammenwirken der übrigen den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers beeinflussenden Kontrollinstrumente in ihrem Zusammenspiel mit den gerade beschriebenen Prüfungsmaßstäben geschildert würde. Erst in dieser Synthese wird die Unausweichlichkeit des beschriebenen Phänomens voll verständlich. II. Die Rechtslage in Deutschland Die bei den untersuchten Grundrechten durchgängig zu beobachtende Konzentration der Verfassungskontrolle auf gestaffelt-einheitliche Prüfungsmaßstäbe ist eine auch im internationalen Vergleich beispiellose Spezialität des amerikanischen Rechts. 107 Das BVerfG hat eine die wichtigsten Grundrechte durchziehende, nach qualitativen Kriterien geordnete Abstufung seines Kontrollinstrumentariums, wie andere Verfassungsgerichte auch, bisher nicht entwickelt. 108 Eine Parallelle hierzu scheint sich am ehesten noch im Verhältnismäßigkeits-Grundsatz zu finden, dem nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG jedes mit einem Grundrecht konfligierende Gesetz zu genügen hat. Wie später noch genauer zu sehen sein wird, spielt dieses im deutschen Verfassungsrecht sich wucherartig ausbreitende Prinzip jedoch eine ganz andere Rolle als seine im amerikanischen Recht auffindbaren Rudimente. Von der Mitbestimmungs-Entscheidung abgesehen, hat die deutsche Praxis ansonsten nur filr den eng begrenzten Bereich des allgemeinen und der besonderen Gleichheitssätze spezifische Prüfungsmaßstäbe ausgebildet, die denen der amerikanischen Doktrin auch in funktioneller Hinsicht ähnlich scheinen. Zumindest ist in ihnen sowie dem eben erwähnten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz das praktisch weitaus bedeutsamste Inventar des verfassungsgerichtlichen Kontrollinstrumentariums zu sehen. 109

(1986) (Marshall, diss.). Vgl. auch Roe v. Wade, 410 U.S. 113, 116 ff. (1973) gegenüber ebd., S. 171 ff. (Rehnquist, diss.). Weiteres Bsp. bei W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 43, FN 24. Für einen modernen economic due processFall vgl. Duke Power Co. v. Carolina Environmental Study Group, Inc., 438 U.S. 59, 83 f. mit FN 27 (1978). 107 Vgl. hierzu vor allem A. v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 164 f. mit Länderberichten. 108

C. Rau, Grenzen, S. 251.

B.-0. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 328; E. Benda, Grundrechtswidrige Gesetze, S. II , 18; H Jarass, NJW 1997, S. 2545,2545 bei FN 1. 109

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

115

1. Der Verhältnismäßigkeilsgrundsatz als Prüfungsmaßstab 110

a) Allgemeines In schon seit langem ständiger Rechtsprechung folgt das BVerfG dem ungeschriebenen, wiewohl mit Verfassungsrang ausgestatteten 111 Grundsatz, daß eine Einschränkung von Grundrechten, auch wo sie dem Gesetzgeber ausdrücklich vorbehalten ist, nur nach dem sog. "Verhältnismäßigkeitsprinzip" 112 erfolgen darf. Das bedeutet, daß diese Einschränkung nur so weit gehen darf, wie sie im Hinblick auf das Erreichen eines vertretbaren Gemeinwohlzwecks geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist. 113 Als grundrechtliche SchrankenSchranke114 gewährleistet der Grundsatztrotz seines nach wie vor ungeklärten Ursprungs 115 die Abwehr von ungebührlich stark in verfassungsrechtlich geschützte Positionen eingreifenden Gesetzen. Er dient auf diese Weise vor allem der Effektuierung grundrechtliehen Freiheitsschutzes. In der bundesverfassungsgerichtliehen Judikatur spielt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mittlerweile eine "überragende Rolle"; seine praktische Bedeutung ist kaum zu überschätzen. 116 Im einzelnen verlangt der Grundsatz, daß 1.) sowohl der vom Staat verfolgte Zweck als auch das von ihm eingesetzte Mittel verfassungslegitim sind, 2.) das zum Einsatz gebrachte Mittel nicht nur tauglich ist, das verfolgte Ziel zu erreichen, sondern daß es dies auch mit dem denkbar mildesten Mittel tut und daß schließlich 3.) die Wertigkeit des verfolgten Zieles nicht außer Verhältnis zur Intensität des Eingriffs in das grundrechtlich geschützte Rechtsgut steht. 117 11 ° Für den Zusammenhang von deutscher Rechtsstaatsidee (in der nach h.M. der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wurzelt) und amerikanischem due process vgl. R. Bäum/in I H. Ridder, in: AK-GG, Rdz. 8 zu Art. 20 Abs. 1-3 III; U. Karpen, in: U. Karpen (Hrsg.), Hochschulzugang (1978), S. 1, 21; W. Fikentscher, Holmes, S. 27 f. jeweils mwN. Deutlich zurückhaltender E. Fraenke/, JöR 2 (1953), S. 35, 46 f.; H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, S. 87; T Giegerich, Privatwirkung, S. 3 mit FN 2. 111

So ausdrücklich BVerfGE 23, 127, 133.

112

Zur schwankenden Terminologie E. Grabitz, AöR 98 ( 1973), S. 568, 570 f.

113

BVerfGE 19, 342, 348 f.; 39, 210, 230, 234; 65, 1, 44.

114

Vgl. nur B. Pieroth I B. Sch/ink, Grundrechte, Rdz. 299 (§ 6 IV 4 a).

Vgl. z.B. BVerfGE 23, 127, 133 ("Rechtsstaatsprinzip"); G. Schwerdtfeger, Fallbearbeitung, Rdz. 96 ("Freiheitsrechte"); BVerfGE 19, 342, 348 f. (beides). Zusammenfassend E. Grabitz, AöR 98 ( 1973), S. 568, 584 ff. 115

116 E. Grabitz, AöR 98 (1973), S. 568, 569. Ebenso H. Jarass I B. Pieroth, GG, Rdz. 56 zu Art. 20. 117 Vgl. B. Pierothl B. Schlink, Grundrechte, Rdz. 300 (§ 6 IV 4); /. Richter i G. F. Schuppert, Casebook, S. 23 ff.- Eine besondere Ausprägung hat der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für den Bereich der Berufsfreiheit mit der vom BVerfG entwickelten

s•

116

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

b) Prüfungsobjekte, insbesondere die Mittel-Zweck-Beziehung Die Verhältnismäßigkeitsprüfung vollzieht sich anband der Kriterien der "Geeignetheit", "Notwendigkeit" und "Proportionalität", wobei unter diesen wiederum das letztgenannte das praktisch bedeutsamste und interessanteste ist. Ein Wort vorab muß jedoch dem Zweckgesetzgeberischen Handeins gelten. aa) Zweck

Erfolgt ein Grundrechtseingriff durch Gesetz, ermittelt das BVerfG zunächst, welches Ziel der Gesetzgeber mit der belastenden Norm verfolgt. Dieses kann sich aus dem Gesetz selbst ergeben; womöglich sind die im Zusammenhang seiner Genese angefallenen Materialien hinzuzuziehen. Ein geänderter Zweck kann an die Stelle des ursprünglichen treten. 118 Im Hinblick auf dessen Verfassungslegitimität ist zu beachten, daß der Gesetzgeber in der Wahl seiner Ziele, nicht anders als in den USA, grundsätzlich frei ist. 119 Das gilt mutatis mutandis selbst fiir den Fall, daß das BVerfG - etwa bei der Errichtung objektiver Berufszugangsbeschränkungen im Rahmen des Art. 12 GG - die Verfolgung eines "überragend wichtigen Gemeinschaftsgutes" verlangt. Denn "schutzwürdig können" - sofern sie "nicht .. . nur ... schlagwortartig bezeichnet werden" 120 - "nicht nur allgemein anerkannte, sondern auch solche Gemeinschaftswerte sein, die sich erst aus den besonderen wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitischen Zielen des Gesetzgebers ergeben."121 Verfassungswidrige Zwecksetzungen sind demnach selten. bb) Mittel-Zweck-Beziehung (1) Eignung

Im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes "geeignet" ist ein vom Gesetzgeber eingesetztes Mittel dann, wenn "der Zustand, den der Staat durch den "Drei-Stufen-Theorie" gefunden. Sie macht sich das vom "Notwendigkeits"-Kriterium aufgestellte Erfordernis des mildesten Eingriffs zunutze und gebietet, daß der Gesetzgeber eine eingriffsintensivere Handlungsstufe (Berufsausübung I subj.- I obj. Berufswahl) erst dann betritt, wenn er seinen Zweck auf der Stufe des weniger intensiven Eingriffs nicht erreichen kann. Innerhalb jeder einzelnen Stufe findet allerdings wiederum der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit strikte Anwendung, vgl. E. Grabitz, AöR 98 (1973), S. 568, 592 ff. Grundlegend BVerfGE 7, 377, 405 ff. Konzise Zusammenfassung bei G. Schwerdtfeger, Fallbearbeitung, Rdz. 527 ff. (§ 36 I). 118

G. Manssen, StaatsR I, Rdz. 626.

119

BVerfGE 77, 84, 106.

120

BVerfGE 7, 377, 411 f.

BVerfGE 13, 97, 97 f. (Leitsatz 2). Dazu T. Maunz I G. Dürig - R. Scholz, GG, Rdz. 319 zu Art. 12 mwN. 121

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

117

Eingriff schafft, und der Zustand, in dem der verfolgte Zweck als verwirklicht zu betrachten ist, in einem durch bewährte Hypothesen über die Wirklichkeit vermittelten Zusammenhang stehen." 122 Hierbei sind allerdings den Gesetzgeber begünstigende Einschränkungen gleich in doppelter Hinsicht zu berücksichtigen: Zum einen läßt das BVerfG auch eine nur teilweise bzw. nicht optimale Verwirklichung des gesetzgeberischen Zieles genügen 123, zum anderen verlangt es infolge der von ihm angestellten ex ante-Beurteilung nicht, daß das Mittel den Zweck gerade im Zeitpunkt der Entscheidung tatsächlich fördert 124; in bestimmten Grenzen kann sich der Gesetzgeber also folgenfrei irren. Unzweifelhaft verfassungswidrig ist danach nur eine solche Maßnahme, die "objektiv" 125 oder "schlechthin ungeeignet"126 oder "untauglich" 127 ist, das anvisierte Ziel zu verwirklichen. (2) Erforderlichkeit

Ein vom Gesetzgeber eingesetztes Mittel ist dann "erforderlich", wenn er "nicht ein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder doch weniger fühlbar einschränkendes Mittel hätte wählen können." 128 Hieraus wie aus dem soeben über die Verfassungslegitimität der vom Gesetzgeber wählbaren Ziele Gesagten ergibt sich, daß das BVerfG damit einer vom üblichen Sprachgebrauch durchaus abweichenden Formel folgt: Darauf nämlich, daß das gesetzgeberische Projekt in einem politischen Sinn "nötig" wäre, kommt es nicht an. Entscheidend ist vielmehr, daß es zu dem vom Gesetzgeber gewählten Mittel angesichts des von ihm verfolgten (und als solchem vom BVerfG hinzunehmenden) Zwecks keine weniger einschneidende, aber ebenso wirksame und auch nicht teurere 129 Alternative gibt. Die "Erforderlichkeit" ist also nur eine relative, nämlich auf den jeweils frei gewählten Gesetzeszweck bezogene. 130 122

B. Pieroth / B. Schlink, Grundrechte, Rdz. 304 (§ 6 IV 4 b). Vgl. auch BVerfGE

30,292,316;33, 171,187.

123 BVerfGE 16, 147, 183. 124 BVerfGE 25, 1, 12 f.; 30, 250, 263. 125 BVerfGE 17,306, 317.

126 BVerfGE 19, ll9, 127. 127 BVerfGE 16, 147, 181. 128 BVerfGE 30, 292,316. 129 Dazu G. Manssen, StaatsR I, Rdz. 630 f. 130 E. Grabitz, AöR 98 (1973), S. 568, 573 f. Vgl. auch G. Schwerdtfeger, Fallbearbeitung, Rdz. 463 (§ 32 II 3 b).

118

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Auch bei der Beurteilung der Erforderlichkeit des von ihm gewählten Mittels soll der Gesetzgeber einen Beurteilungsspielraum von der soeben im Zusammenhang der "Geeignetheit" beschriebenen Art haben. Danach ist es "vornehmlich Sache des Gesetzgebers, auf der Grundlage seiner wirtschafts-, arbeitsmarkt-und sozialpolitischen Vorstellungen und Ziele und unter Beachtung der Sachgesetzlichkeiten des betreffenden Gebiets zu entscheiden, welche Maßnahmen er im Interesse des Gemeinwohls ergreifen will. Auch bei der Prognose und Einschätzung gewisser der Allgemeinheit drohender Gefahren, zu deren Verhütung der Gesetzgeber glaubt tätig werden zu müssen, billigt ihm die Verfassung einen Beurteilungsspielraum zu, den er nur dann überschreitet, wenn seine Erwägungen so offensichtlich fehlsam sind, daß sie vernünftigerweise keine Grundlage für gesetzgeberische Maßnahmen abgeben können." 131 (3) Proportionalität Schließlich darf das Ziel, das der Gesetzgeber fördert, in seiner Wertigkeit "nicht außer Verhältnis" zur Intensität des Eingriffs in das grundrechtlich geschützte Rechtsgut stehen. 132 Es hat also eine Güterahwägung zweier Variabler, des Zwecks und des Mittels, stattzufinden, die sich in ihrer jeweiligen Bedeutung in etwa entsprechen müssen: Je intensiver das gewählte Mittel in das Grundrecht eingreift, desto gewichtiger muß auch das Rechtsgut sein, das auf diese Weise gefördert werden soll. Vor dem Hintergrund einer Entfaltung der Grundrechte als "objektiver Grundsatznormen" durch das BVerfG ergibt sich freilich gegenüber dem herkömmlichen Prüfungsschema, für das es auf das Verhältnis zwischen Gesetzeszweck und individuell betroffenem Grundrecht ankommt, eine Modifikation insofern, als statt dessen eine Vielzahl verschiedener Grundrechtspositionen mit- und gegeneinander auszugleichen sind. Richtschnur für jede Art von Güterahwägung sollen idealiter nicht die subjektiven Einschätzungen des BVerfG, sondern stets nur die objektiven Entscheidungen der Verfassung selbst sein. Wo das Grundgesetz solche Entscheidungen nicht trifft, dürfe das Gericht dem Gesetzgeber demnach auch nur dann entgegentreten, wenn die von diesem getroffenen Abwägungen "offensichtlich fehlsam sind oder der Wertordnung des Grundgesetzes widersprechen." 133 Zu einer positiven Entscheidung, nämlich darüber, ob der Gesetzgeber den betei131

BVerfGE 77, 84, 106.

132 BVerfGE 7, 377, 407; 17, 108, 117; 25, 236, 247; 28, 66, 88. Gegen diese st.Rspr. und h.L. B. Pieroth I B. Sch/ink, Grundrechte, Rdz. 310 ff. (§ 6 IV 4 b). 133

BVerfGE 24,367, 406. Vgl. auch BVerfGE 50, 50, 51 ; 13, 97, 105, 107.

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

119

ligten Rechtsgütern auch zu angemessener oder sogar optimaler Wirksamkeit verholfen habe, will sich das Gericht dagegen nicht verstehen. 134 In neueren Entscheidungen hat das BVerfG den Akzent in dieser Frage insoweit leicht verschoben, als es nun darauf abstellt, ob "bei der Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit" fiir den Grundrechtsträger "noch gewahrt" sei. 135 Ob damit auch eine Abwendung von der "offensichtlich fehlsam"-Forrnel intendiert ist, erscheint allerdings fraglich. 2. Der allgemeine und die besonderen Gleichheitssätze als Prüfungsmaßstab

a) Allgemeines 136 Daß Gerichte nicht nur Maßnahmen der Verwaltung sondern auch solche der Legislative am Gleichheitssatz messen, ist eine fiir den deutschen Rechtskreis relativ neue Erfahrung. Noch heute legt die traditionsreiche Wortwahl des Art. 3 Abs. 1 GG die Vorstellung nahe, die Vorschrift gewährleiste Gleichheit nur in der Rechtsanwendung, nicht dagegen in der Rechtssetzung. In eben diesem Sinne war etwa der ganz ähnliche Art. 109 Abs. 1 WRV zunächst auch verstanden worden. 137 Mit Art. 1 Abs. 3 GG und seiner ausdrücklichen Anordnung einer Bindung auch des Gesetzgebers an die "nachfolgenden Grundrechte" wird eine solche Auffassung heute jedoch überwiegend 138 fiir unvereinbar gehalten. In der Rechtsprechung des BVerfG hat die Vorschrift denn auch eine ebensolche Richtung genommen wie lange vor ihr der Gleichheitssatz der amerikanischen Verfassung (der ja ebenfalls nur formelle RechtsanwendungsGleichheit zu versprechen scheint) in der Lesart des Supreme Court. Das Diktum des amerikanischen Gerichts, wonach die verfassungsrechtliche Garantie "des gleichen Schutzes der Gesetze ... ein Versprechen des Schutzes gleicher Gesetze" sei 139, gilt demnach heute ohne Abstriche auch fiir das deutsche 134

Dazu E. Grabitz, AöR 98 (1973), S. 568, 576.

135

BVerfGE 30, 292, 316. Vgl. BVerfGE 61 , 291, 312; 68, 155, 171; 68, 272, 282.

Zusammenfassung - aus typisch amerikanischer Perspektive - bei D. Currie, 1989 Sup.ct.Rev. 333, 363 ff. 136

137 Erhellend K. Hesse, AöR I 09 (1984), S. 174, 176 ff. Für die zeitgenössische Literatur auch G. Anschütz, Verfassung des Deutschen Reiches, Vorbem. Sb vor Art. 109 (S. 511). Nachw. auch beiM. Sachs (Hrsg.) I L. Oster/oh, GG, Rdz. 3, FN 4 zu Art. 3.

138 Zum Streitstand I. v. Münch I P. Kunig (Hrsg.) - M Gubelt, GG, Rdz. 8 zu Art. 3. Vgl. auch C. Starck, in: C. Linck (Hrsg. ), Gleichheitssatz ( 1982), S. 51, 52 f.

120

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Recht. Was "gleich" und was "ungleich" ist, läßt sich freilich in vielen Fällen nicht ohne weiteres beantworten. Die Frage nach dem Kontrollmaßstab erhält hier somit ein besonderes Gewicht. Praktisch von Beginn an wurde der allgemeine Gleichheitssatz vom BVerfG, in etwa so, wie dies in den USA noch heute gängiger Praxis entspriche 40, als reines "Willkürverbot" verstanden. Dabei sollte die Beschränkung der Kontrollbefugnis auf die Frage, ob "wesentlich Gleiches willkürlich ungleich" bzw. "wesentlich Ungleiches willkürlich gleich" 141 behandelt wird, die Gewährung eines großzügig bemessenen Gestaltungsspielraums anzeigen: Verfassungswidrig sei ein Gesetz erst dann, "wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden" 142 lasse oder "die fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft" 143 verletzt seien. Diese seither ständig festgehaltene 144 Umschreibung des Gleichheitssatzes ist in neuester Zeit freilich durch eine alternative, in vereinzelten Sondervoten145 auch im BVerfG selbst vorbereitete Formel (zumindest) ergänzt worden, die nicht wenige für den "entscheidenden Durchbruch zur partiellen Verabschiedung der bloßen "Willkür"-Rechtsprechung" halten. 146 Danach soll, um eine gängige Formulierung aufzugreifen, eine Ungleichbehandlung nur dann verfassungsrechtlich erlaubt sein, wenn zwischen zwei Gruppen "Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen.'" 47 Der Verstoß gegen den Gleichheitssatz wird damit nicht 139 Skinner v. Oklahoma, 316 U.S. 535, 541 (1942) unter Verweis auf Yick Wo v. Hopkins, 118 U.S. 356, 369 f. (1886). Für Deutschland st.Rspr. seit BVerfGE I, 14, 16 (Leitsatz 18), 52. Fingerzeig auf die in Weimar als vorbildlich empfundene amerikanische Entwicklung bei K. Hesse, AöR 109 (1984), S. 174, 177. Zusammenfassend R. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 357 ff.

140 Hinweis auf diese Parallelle bereits bei_(). Leibholz, Gleichheit, S. 76. Vgl. aber auch ebd., S. 238 ff., 251 f. sowie P. Lerche, Obermaß und Verfassungsrecht, S. 40 ff.; K. Schweiger, in: BayVerfGH-FS (1972), S. 55, 57. 141 BVerfGE 49, 148, 165; 86, 81, 87. 142 BVerfGE I, 14, 16 (Leitsatz 18), 52. Ähnlich BVerfGE 71 , 39, 58; 76, 256, 329. 143 BVerfGE 42, 64, 72. 144

Vgl. nur BVerfGE 3, 162, 183; 13, 181, 203.

145 BVerfGE 36, 237, 247 ff. (Rupp-v. Brünneck, diss.); 62, 249, 289 f. (Katzenstein,

diss.).

146 Vgl. nur F. Schach, DVBI. 1988, S. 863,875. 147 BVerfGE 55, 72, 88. Vgl. auch BVerfGE 85, 238, 244; 360, 383. Bezeichnung

als "ständige Rechtsprechung" bei C Koenig, JuS 1995, S. 313, 315 (FN 23); T.

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

121

mehr als Problem der Evidenz, sondern der verfassungsrechtlichen Abwägung formuliert. Was genau die inhaltlichen Implikationen sind, die mit dieser sog. "Neuen Formel" einhergehen, ist indes noch keineswegs klar. Einig sind sich die Beobachter nur insoweit, als in ihr sehr viel deutlicher als zuvor ein Begründungsschema hervortritt, das dem der eben erörterten Verhältnismäßigkeitsprüfung bei den Freiheitsrechten entspricht. 148 Auch wenn der analytische Rahmen zumindest der "alten" Formel und des in den USA verwendeten rational basis-Test fast vollkommen übereinstimmen, ist damit noch nicht gesagt, daß auch die mit ihrer Hilfe erzielten Ergebnisse genau identisch wären. Richtig ist vielmehr, daß eine so großzügige Praxis, wie sie seitens des Supreme Court noch heute geübt wird, dem BVerfG selbst unter der Herrschaft der alten Formel fremd war und ist. 149 Zum einen scheint das BVerfG davon auszugehen, daß die einzelnen Prüfungselemente, an denen sich das Mittel-Zweck-Geflecht eines Gesetzes messen zu lassen hat, auch mit Kriterien materieller Gerechtigkeit angereichert sind, zum anderen neigt es dazu, die Anforderungen an die Ausfiillung der "Tatbestandsmerkmale" höher zu setzen als man dies vom Supreme Court gewohnt ist. In letztgenanntem Phänomen handelt es sich freilich systematisch nicht um ein Problem der (übereinstimmenden) qualitativen Anforderungen der jeweiligen Prüfungsmaßstäbe, sondern um ein solches der (einem späteren Abschnitt vorbehaltenen) Ausfiillung dieser Maßstäbe mit den dafiir einschlägigen Tatsachen. An dieser Stelle geht es also zunächst nur um die einzelnen unter dem Gleichheitssatz maßgeblichen Prüfungsobjekte. b) Prüfungsobjekte aa) Differenzierungskriterium (Mittel)

Ob ein Zustand der Gleich- bzw. Ungleichheit besteht, kann immer nur im Hinblick auf ein bestimmtes, zum Vergleichsmaßstab erhobenes Kriterium gesagt werden. Auch die staatliche Normsetzung erfaßt den einzelnen nicht in Maunz I G. DUrig- R. Herzog, GG, Anh. zu Art. 3, Rdz. 7 sowie (f\lr den 1. Senat) F. Schoch, DVBI. 1988, S. 863, 875 f. Zusammenfassend zur divergierenden Praxis der beiden Senate des BVerfG K. Hesse, in: P. Badura IR. Scholz (Hrsg.), FS f. P. Lerche (1993), S. 121, 123 ff. 148 Grundlegend M Kloepfer, Gleichheit als Verfassungsfrage, S. 54 ff. et passim; S. Huster, Gleichheitssatz, S. 58 ff. Ansonsten B. Pieroth I B. Schlink, Grundrechte, Rdz. 484 f. (§ II III 1); I. Richter I G. F. Schuppert, Casebook, S. 136 ff.; P. M Huber, Konkurrenzschutz, S. 520 ff. (dort auch zu ähnlichen Ansätzen in der Rechtsprechung des EuGH). Vgl. auch die Parallele zum kapitalgesellschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, hierzu U. Hüffer, AktG, §53 a, Rdz. 10 mwN. 149 Ebenso D. Kommers, in: C. Link (Hrsg.), Gleichheitssatz (1982), S. 31, 35 ff.; D. Currie, German Constitution, S. 332 ff.

122

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

seiner Gesamtheit, sondern nimmt in ihrem Tatbestand auf bestimmte persönliche Merkmale Bezug. Das "Differenzierungskriterium" ist das Merkmal, an das der Gesetzgeber zum Zwecke dieser Unterscheidung anknüpft. Bereits in der Wahl des Differenzierungskriteriums kann ein Verfassungsverstoß liegen, dann nämlich, wenn der Gesetzgeber ein vom Grundgesetz explizit erwähntes Gleichbehandlungsgebot außer Acht läßt. Solche Gebote zu statuieren ist Aufgabe der "besonderen" Gleichheitssätze 150, die vom BVerfG als "Konkretisierungen des (allgemeinen) Gleichheitssatzes durch die Verfassung"151 verstanden werden: Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG etwa verbietet, Frauen gegenüber Männern (ebenso allerdings auch Männer gegenüber Frauen) zu benachteiligen. Und entsprechend erschien es dem Verfassungsgeber notwendig, Differenzierungen nach Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat, Herkunft, Glauben sowie religiöser oder politischer Anschauung zu verbieten. Das bedeutet indes nicht, daß eine Anknüpfung an die in den Abs. 2 und 3 des Art. 3 GG genannten Merkmale absolut unzulässig wäre. Unter Umständen darf vielmehr auch etwa auf das Geschlecht (z.B. in Fragen des Mutterschutzes), die Sprache (wo es auf deren Beherrschung ankommt) oder eines der anderen Merkmale als Unterscheidungskriterium zurückgegriffen werden. Nur muß der Gesetzgeber filr eine solche Differenzierung gewichtige Gründe vorbringen können. 152 Damit ist ein strenger Prüfungsmaßstab etabliert, der bemerkenswerterweise eine Reihe genau der Fälle umfaßt, die in der amerikanischen Praxis unter der (insoweit undifferenzierten 153) equal protection-Klausel am strict scrutinyStandard gemessen werden. 154 Im übrigen aber verbleibt unter dem allgemeinen Gleichheitssatz eine unendlich große Zahl möglicher Vergleichsbeziehungen, die der Gesetzgeber zum Anlaß fiir eine Gleich- oder Ungleichbehandlung nehmen kann. Sofern kein

150

Dazu I. v. Münch I P. Kunig (Hrsg.) - M. Gubelt, GG, Rdz. 9, 20 zu Art. 3.

151

BVerfGE 3, 225, 239 f.

Vgl. T Maunz! R. Zippelius, Staatsrecht, S. 203 (§ 25 I 1), 210 (§ 25 III 2); K. Hesse, Grundzüge, Rdz. 436 (§ 1211 2). 153 Ein im Jahr 1972 initiierter und von Senat und Repräsentantenhaus bereits mit den erforderlichen Quoren gebilligter Verfassungszusatz, der Bund und Gliedstaaten eine Gleichbehandlung der Geschlechter vorschreiben sollte, ist nicht von der erforderlichen Mehrheit von Gliedstaaten ratifiziert worden. 152

154 K. Hesse (Diskussionsbeitrag}, in: C. Link (Hrsg.), Gleichheitssatz (1982}, S. 75, 75 f.; J. Kokott, Beweislast und Prognose, S. 196.

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

123

Verstoß gegen eines der bereits genannten Verbote 1ss besteht, ist gegen eine entsprechende Differenzierung als solche nichts einzuwenden. bb) Differenzierungsziel (Zweck)

Gesetze differenzieren nicht um der bloßen Unterscheidung willen; sie verfolgen vielmehr ein bestimmtes Ziel. Ob der Gesetzgeber an das von ihm gewählte Differenzierungskriterium anknüpfen durfte, läßt sich nur im Hinblick auf das von ihm verfolgte Ziel sagen. Dabei stellt sich, ebenso wie in der amerikanischen Praxis, zunächst die Frage, woraus dieser zumeist ungenannte Zweck einer gesetzlichen Regelung zu entnehmen ist. Da der Gleichheitssatz weder Ungleichbehandlungen, die nur mit einem unzulässigen Zweck begründet werden können, noch solche, die aus einem zulässigen Zweck zu begründen unterlassen worden ist, gestattet, ist dessen präzise Feststellung ftlr den Ausgang des Verfassungsstreits vorentscheidend. Letztendlich ist dieses Problem ein solches der gewählten lnterpretationsmethode. Mit der Entscheidung des BVerfG ftlr die sog. "objektive" Auslegung von Gesetzen 156, die "zugleich eine Entscheidung über die Rolle des Bundesverfassungsgerichts im Verfahren der Rechtsgewinnung" 1s7 ist, ist der Ort markiert, an dem nach den vom Gesetzgeber verfolgten Zwecken zu suchen ist: Sie können den ausdrücklichen Bestimmungen des Gesetzes, implizit auch dessen "objektivem" Gehalt oder - allerdings eben nur, soweit dies in der Norm selbst genügenden Anhalt findet- dem Willen des historischen Gesetzgebers entnommen werden. 158 An das so gefundene Differenzierungsziel werden aber vom Gericht keine höheren Anforderungen als die ihrer Verfassungsmäßigkeit "im übrigen" gestellt. Der allgemeine Gleichheitssatz selbst ge- oder verbietet keine Ziele; über sie entscheidet vielmehr der Gesetzgeber im Rahmen des von ihm gewählten Regelungszwecks in eigener Vollkommenheit. 1s9 Die Einschränkung der Verfassungsmäßigkeit "im übrigen" impliziert jedoch, daß sich eine Verfassungs155 Für das (ungeschriebene) Differenzierungsverbot beim Zählwert der Wahlstimme vgl. noch BVerfGE I, 208, 247. Dazu auch BVerfGE 24, 300, 340. 156 Vgl. nur BVerfGE I, 299, 312. Rechtsvergleichend D. Kommers, Constitutional Jurisprudence, S. 49 mit FN 58. 157

G. F. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen, S. 6.

Dazu BVerfGE 9, 291, 294 f. sowie I. v. Münch I P. Kunig (Hrsg.)- M. Gubelt, GG, Rdz. 18 zu Art. 3. 158

159 P. M. Huber, Konkurrenzschutz, S. 529. Vgl. auch G. Schwerdtfeger, Fallbearbeitung, Rdz. 458 ff. (§ 32 II).

124

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

widrigkeit des Regelungszwecks auch aus den sonstigen Vorschriften des Grundgesetzes, insbesondere den Staatszielbestimmungen und den Freiheitsrechten ergeben kann. Auf diese Weise sind "eine Reihe materieller Rechtswerte des Grundgesetzes ... zusätzlich mit dem Schutz des Gleichbehandlungsgebots bewehrt." 160 cc) Mittel-Zweck-Beziehung

Erwähnt das BVerfG im Zusammenhang des Gleichheitssatzes die "Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers" 161 , ist damit nahezu immer die Mittei-ZweckBeztehung angesprochen. 162 0

Sie muß nach der gängigen Praxis so beschaffen sein, daß das eingesetzte Mittel im Verhältnis zu dem verfolgten Zweck nicht "willkürlich" erscheint, es also an sachlichen Gründen fiir die vom Gesetzgeber fiir vorzugswürdig gehaltene Klassifikation mangelt. Noch dazu soll eine Verfassungswidrigerklärung erst dann erfolgen, wenn die Unsachlichkeit der getroffenen Regelung "evident"163 ist. Es sei "primär Aufgabe des Gesetzgebers zu beurteilen, ob und unter welchen Gesichtspunkten zwei Lebensbereiche einander so gleich sind, daß Gleichbehandlung zwingend geboten ist, welche Sachverhaltselemente andererseits so wichtig sind, daß ihre Verschiedenheit eine Ungleichbehandlung rechtfertigt." Nur die Einhaltung "der äußersten Grenzen dieser gesetzgeberischen Freiheit" könne das BVerfG nachprüfen. 164 Das ist unzweifelhaft ein großzügiger Maßstab, der, beim Wort genommen, dem Gesetzgeber einen breiten Gestaltungsraum läßt. Eine gewisse Einschränkung darf dabei jedoch nicht übersehen werden: Nach Ansicht des BVerfG ist das Merkmal der Willkür nicht etwa erst dann erfiillt, wenn der Gesetzgeber im Hinblick auf die unsachgemäße Differenzierung eine irgendwie verwerfliche subjektive Haltung hat erkennen lassen - "bei einer solchen Willkürinterpretation wäre das Gleichheitsgebot nur ein stumpfes Schwert zur Kontrolle des Gesetzgebers" 165 -, sondern bereits im Falle einer objektiven "tatsächliche(n) und eindeutige(n) Unangemessenheit der Regelung in bezug auf den zu ord160 D. Kommers, in: C. Link (Hrsg.), Gleichheitssatz, S. 31, 34. Vgl. auch I. v. Münch I P. Kunig (Hrsg.)- M. Gubelt, GG, Rdz. 21 zu Art. 3. 161 BVerfGE 3, 162, 182; 55, 72, 89. 162 E. Stein, Staatsrecht, S. 252 (§ 26 V); I. Richter I G. F. Schuppert, Casebook,

S. 130 f.; I. v. Münch I P. Kunig (Hrsg.)- M. Gubelt, GG, Rdz. 22 zu Art. 3; F. Schach, DVBI. 1988, 863, 874.

163 BVerfGE 12, 326, 333; 18, 121, 124; 23, 135, 143; 55, 72, 90. 164 BVerfGE 12, 326, 333, 337 f. 165I. Richter I G. F. Schuppert, Casebook, S. 130.

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

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nenden Gesetzgebungsgegenstand.'.t 66 Stets müsse der Gesetzgeber "seine Auswahl sachgerecht treffen." 167 Welche Konsequenzen sich daraus für den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ergeben, wird noch zu sehen sein. Das grundsätzliche Problem des allgemeinen Gleichheitssatzes besteht freilich darin, daß er in seiner formalen Ausgestaltung und inhaltlichen Unbestimmtheit nicht erkennen läßt, welche Differenzierungen im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel begründet werden können und welche nicht. 168 Dieser Verfassungssatz ist damit offen wie kaum ein zweiter für einen ganzen Strauß von Anschauungen und Interpretationen. Entgegen dem ersten Anschein weisen aus diesem Dilemma auch die vom BVerfG ständig verwendeten Formeln keinen wirklichen Ausweg. Sie verschieben vielmehr nur das Problem auf eine andere Ebene. Von den materiellrechtlichen Streitfragen abgesehen besteht ihre grundsätzliche Schwierigkeit in dem überaus weiten Spielraum, den sich das BVerfG als Herr über das zugestandene Entscheidungsspektrum auf diese Weise bewahrt. 169 In der Rechtsprechung des BVerfG wird dies freilich, wenn schon nicht immer eindeutig gesehen, dann doch zumindest nicht offen bekannt. 170 Vor allem in Gestalt der zum Maßstab für eine Gleich- bzw. Ungleichbehandlung erhobenen Standardformel von der "am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise"171 unter steter "Berücksichtigung des jeweiligen Lebens- und Sachbereich(s)" 172 haben deshalb immer wieder auch subjektiv-wertende, jedenfalls in der Verfassung nur ganz unzureichend präformierte Gesichtspunkte in die Judikatur Einlaß gefunden. So ist Art. 3 Abs. 1 GG in der Deutung des BVerfG zu einem (hier nur beispielhaft genannten) "Grundsatz der Steuer-" 173 und der "Wehrgerechtigkeit" 174 bis hin zu einem Postulat allgemeiner, d.h. von dem Erfordernis einer Diffe166 BVerfGE 4, 144, 155. 167 BVerfGE 90, 145, 195. 168 Vgl. C. Starck, in: C. Link (Hrsg.), Gleichheitssatz (1982), S. 51, 62 f.; P. M. Huber, Konkurrenzschutz, S. 520 ff.

169 H.-H. Rupp, in: C. Starck (Hrsg.), BVerfG und GG II (1976), S. 364, 371 ff. 170 Ebd., S. 371 f. 171 BVerfGE 9, 124, 129. Ähnlich BVerfGE 3, 58, 135; 18, 38, 46. Neuerdings BVerfGE 86, 81, 87. Vgl. z.B. BVerfGE 25, 269, 292; 35, 348, 357; 37, 342, 353. 173 BVerfGE 13, 290, 295, 298; 26, 302, 310. 172

174 BVerfGE 48, 127, 162 f.

126

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

renzierung überhaupt absehenden Gerechtigkeie 75 weiterentwickelt und konkretisiert worden. 176 Mit der "Neuen Formel" scheint diese eindimensionale Mittel-Zweck-Prüfung nunmehr in einen komplexen Verhältnismäßigkeitstest erwachsen zu sein. Art. 3 Abs. 1 GG ist danach verletzt, "wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten." 177 Und umgekehrt verlangt der allgemeine Gleichheitssatz, "Ungleiches (dann) ungleich zu behandeln ... , wenn die Ungleichheit in dem jeweils in Betracht kommenden Zusammenhang so bedeutsam ist, daß ihre Betrachtung nach einer am Gerechtigkeitsdenken orientierten Betrachtungsweise geboten erscheint." 178 Danach muß die Ungleichbehandlung nicht nur einem legitimen Regelungszweck dienen, sondern auch ein geeignetes, erforderliches und vor allem proportionales Mittel zu dessen Förderung darstellen. Auch wenn dies vielfach nicht gesehen wird, ist hierin eine qualitativ wesentliche Änderung - oder zumindest Ergänzung - der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG zu sehen, die im Ergebnis einen neuen, deutlich strengeren Kontrollmaßstab statuiert. 179 Die durch Art. 3 Abs I GG vormals starr gesetzten Grenzen reichen folglich heute "vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitsanforderungen." 180 Dementsprechend variiert die gerichtliche Kontrolldichte. 181

175 BVerfGE 42, 64, 72 ff. (mit Geiger, conc., S. 79 ff.). Ähnlich BVerfGE 46, 325, 333 f. Dazu auch die Diskussionsbeiträge von W Geiger, G. Leibholz und H. Heußner, in: C. Link (Hrsg.), Gleichheitssatz (1982), S. 100 ff., 105 ff., 107 f. Zusammenfassend I. v. Münch I P. Kunig (Hrsg.)- M Gubelt, GG, Rdz. 12 zu Art. 3 GG. 176 Zusammenfassend R. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 364 f; U. Battis I C. Gusy, Staatsrecht, Rdz. 523 f. (§ l3 IV).

171

BVerfGE 55, 72, 81, 91.

178

BVerfGE 67, 70, 85 f.

Ebenso R. Maaß, NVwZ 1988, S. 14, 15 f; I v. Münch I P. Kunig (Hrsg.)- M Gubelt, GG, Rdz. 14 zu Art. 3; M. Sachs (Hrsg.) I L. Osterloh, GG, Rdz. 14 zu Art. 3. Aus der Rechtsprechung- nur beispielhaft- BVerfGE 88, 87, 96; 89, 15, 22; 89, 365, 375; 90, 46, 56. 179

180

BVerfGE 88, 87, 96; 89, 15, 22 f.

Zusammenfassend H. Jarass I B. Pieroth, GG, Rdz. 15 ff. zu Art. 3; A. Söllner, Gleichberechtigungsgrundsatz, S. 10 f. Vgl. auch P. M. Huber, Konkurrenzschutz, s. 526 ff. 181

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

127

111. Bedeutung der Prüfungsmaßstäbe für die Aufgaben- und Funktionsverteilung zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber I. Die (potentielle) Doppelfunktion der Prüfungsmaßstäbe

Wie zu sehen war, eröffnen die zwei (bzw. drei) vom amerikanischen Recht bekannten Prüfungsmaßstäbe ebenso wie das Willkürverbot des allgemeinen und die Differenzierungsverbote der besonderen Gleichheitssätze dem Gesetzgeber sehr unterschiedliche Chancen, die von ihm favorisierten Interessen durchzusetzen; in genau komplementärem Verhältnis hierzu steht das Maß des dem Individuum zukommenden Schutzes. Das amerikanische Beispiel ist hier besonders anschaulich: Der strenge Prüfungsmaßstab stellt höhere Anforderungen an einen Eingriff des Gesetzgebers in Grundrechte als der middle tierStandard; gleichzeitig bietet er dem Bürger eine relativ größere Wahrscheinlichkeit, in der von ihm reklamierten Freiheitssphäre unversehrt zu bleiben als jener. Der middle tier-Standard wiederum ermächtigt den Supreme Court zu mehr als einer bloßen Willkürkontrolle, wie sie unter dem mere rationality-Test erfolgt, und der der Gesetzgeber fast immer genügen kann; entsprechend ist, sobald das Gericht zu diesem nachgiebigen Standard greift, die Chance des Bürgers, von einem Eingriff verschont zu bleiben, nur minimal. Der Schutz des Individuums vor hoheitlicher Beeinträchtigung ist demnach um so größer, je strenger und um so geringer, je durchlässiger der zur Anwendung kommende Prüfungsmaßstab ist; umgekehrt-entsprechend verhält es sich mit den seitens des Gesetzgebers artikulierten öffentlichen Interessen. Neben dieser ganz auf das Rechtsschutz suchende Individuum und den regulierenden Gesetzgeber zugeschnittenen materiell-rechtlichen Perspektive, die etwa - um beim Beispiel des Gleichheitssatzes zu bleiben - "Gleichheit als Ausprägung formaler Gerechtigkeit ... durch die Vermeidung von Willkür" 182 anstrebt, darf aber die bereits kurz erwähnte funktionell-rechtliche Perspektive der Prüfungsmaßstäbe nicht übersehen werden. In diesem, Aspekte der Gewaltenteilung und des Demokratieprinzips in sich aufnehmenden Zusammenhang geht die Frage dahin, ob die seitens hier des Gesetzgebers, dort des Supreme Court bzw. des BVerfG jeweils in Anspruch genommenen Kompetenzen eine angemessene, d.h. vor allem funktionsgerechte Aufgabenverteilung zwischen Legislative und Judikative bei der Verwirklichung des Grundrechts-Schutzes gewährleisten. Hier gilt fiir die Auswahl unter den dem Gericht zur Verfügung stehenden Kontrollmaßstäben: Je weiter das Feld verfassungsgerichtlicher Nachprüfung 182 U. Battis I C. Gusy, Staatsrecht, Rdz. 521 (§ 13 111). Vgl. auch K. Hesse (Diskussionsbeitrag), in: C. Link (Hrsg.), Gleichheitssatz (1982), S. 75, 76 f.; ders., AöR 109 (1984), S. 174, 186f. ·

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

reicht und je intensiver das Gericht innerhalb dieser Grenzen seine Kontrollgewalt ausübt, kurzum: je strenger der von BVerfG oder Supreme Court zur Anwendung gebrachte Prüfungsmaßstab ist, desto geringer sind die Chancen des Gesetzgebers, daß eine von ihm verabschiedete Regelung vor dem Auge des Gerichts Bestand hat. Aus funktioneller Perspektive liegt hierin eine -je nach Sichtweise-gerechtfertigte Ausweitung oder illegitime Usurpation des Zuständigkeitsbereiches eines Kompetenzträgers zu Lasten des anderen. Je nachgiebiger auf der anderen Seite der verwendete Prüfungsstandard ist, desto kürzer greift auch die Bevormundung des Gesetzgebers durch das Gericht bei der Verwirklichung der Grundrechte. In der Auswahl des jeweiligen Prüfungsmaßstabes trifft ein Gericht, ob es dies will oder nicht, demnach auch eine Aussage über sein Verhältnis zum Gesetzgeber und die von ihm insoweit fiir richtig angesehene Rollenverteilung. 183 Für den allgemeinen Gleichheitssatz 184 hat Hesse diese Janusköpfigkeit der Prüfungsmaßstäbe zutreffend wie folgt beschrieben: "Materiellrechtlich geht die Grundfrage dahin, welchen Inhalt das allgemeine verfassungsrechtliche Gleichheitsgebot fiir den Gesetzgeber hat. Funktionellrechtlich geht es um die kaum minder wichtige Grundfrage, inwieweit das Bundesverfassungsgericht bei der Kontrolle der Einhaltung des Gleichheitssatzes dem Gesetzgeber entgegentreten kann, ohne sich damit Funktionen anzumaßen, welche nach dem Gewaltenteilungsgrundsatz dem Gesetzgeber zugewiesen sind." 185 Das beschriebene Phänomen ist indes durchaus kein Spezifikum gerade des Gleichheitssatzes oder etwa nur des deutschen Verfassungsrechts. Auch und, wie sich zeigen wird, besonders dem amerikanischen Recht ist die funktionell183 Materielle und funktionelle Perspektive stehen gleichsam quer zueinander: Diejenigen Interessen, die darauf drängen, die Prüfungsmaßstäbe in dem einen Verhältnis auf eine bestimmte Weise festzulegen, sind nicht notwendig dieselben, die in dem anderen Verhältnis das gleiche Ergebnis befördern, vgl. J Kokott, Beweislast und Prognose, S. 61; R. Wahl, Staat 20 (1981 ), S. 485, 487; (ftir den Gleichheitssatz) J Tussman I J. ten Broek, 37 Calif.L.Rev. 341,365 ff. (1949) sowie sogleich im Text. 184 Die Bedeutung, die dem funktionell-rechtlichen Aspekt in der deutschen Diskussion gerade beim Gleichheitssatz zugemessen wird, ist, verglichen mit den übrigen Grundrechten, freilich singulär. Breiter dagegen vor allem G. F. Schuppert (in: ZRP 1973, S. 257, 259 f. ; DVBI. 1988, S. 1191, 1192 f. ; Funktionell-rechtliche Grenzen (1980); Diskussionsbeitrag, VVDStRL 47 (1989), S. 97 f. und AöR 120 (1995), S. 32, 69 ff., 89 ff. ).

185 K. Hesse, AöR 109 (1984), S. 174, 185. Ebenso ders. (Diskussionsbeitrag), in: C. Link (Hrsg.), Gleichheitssatz, S. 76 f.; R. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 363. Vgl. auch S. Huster, Gleichheitssatz, S. 48 ff., 58 f., 120 f. ; P. Schneider, in: E. v. Caemmerer u.a. (Hrsg.), FS f.d. Dt. Juristentag (1960), Bd. II, S. 263, 286; C. Starck, in: C. Link (Hrsg.), Gleichheitssatz, S. 61 , 63; P. Kirchhof, in: J. Isensee I P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. StaatsR, Bd. V (1992), S. 944 f. (§ 124, Rdz. 237 f.); W Geiger, Recht und Politik, S. 14 ff.; H-S. Cho, Gleichheitsprüfung, S. 5.

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

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rechtliche Dimension des (verfassungs-)richterlichen Prüfungsrechts neben der vertrauten materiell-rechtlichen Sichtweise wohlvertraut Von der Literatur formulierte Sätze wie der, daß dem Supreme Court die Aufgabe gestellt sei "to safeguard constitutional values while at the same time maintaining proper respect for the legislature as a coordinate branch of government" 186 machen dies nur zu deutlich; auch die Supreme Court-Rechtsprechung steht dem gegenüber nicht zurück. 187 Für diese Untersuchung von Bedeutung sind die Konsequenzen, die sich aus dieser Beobachtung für das verfassungsgerichtliche Kontroll-Arsenal ergeben. Zum einen folgt daraus, daß jeder Prüfungsmaßstab als ein Instrument begriffen werden muß, durch das sowohl der materiell-rechtliche als auch der funktionell-rechtliche Aspekt von Verfassungsadjudikation im Grundrechtsbereich zum Ausgleich gebracht werden. Daraus wiederum ergibt sich die Chance ebenso wie die Notwendigkeit, die filr die Auswahl- und Ausgestaltungsentscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte den beiden Koordinaten systematisch zuzuordnen. 188 Zum anderen ist von Bedeutung, daß damit auch jede Verschiebung der diesen Prüfungsmaßstäben immanenten Standards bzw. jede Umgruppierung der unter sie subsumierten Fälle nolens-volens Auswirkungen in nicht nur eine, sondern zwei Richtungen zeitigt - was wiederum filr die Beurteilung der ihnen zugedachten Funktion von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Denn mit der Wahl eines bestimmten Prüfungsmaßstabes wird nach dem Vorgesagten ja nicht nur "über das "Regelschicksal" nachzuprüfender Gesetze entschieden", sondern zugleich auch "die funktionale Zuordnung von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung gesteuert." 189 Inwiefern überhaupt und auf welche Weise sich diese beiden Aspekte verfassungsgerichtlicher Adjudikation in den von BVerfG und Supreme Court entwickelten Kontrollmaßstäben aufspüren lassen, ist Gegenstand des folgenden Abschnitts.

186 Note, 82 Harv.L.Rev. 1065, 1078 (1969). Vgl. auch T. Sandalow, 75 Mich.L.Rev. 1162, 1195 (1977); W Knapp, JöR 23 (1974), S. 421, 477 f.; L. Tribe, Constitutional Law, S. 1451 (§ 16-6). 187 Vgl. nur Schneider v. State, 308 U.S. 147, 161 (1939); Loving v. Virginia, 388 U.S. I, 9 (1967); Shapiro v. Thompson, 394 U.S. 618,661 f. (1969) (Harlan, diss.); Roe v. Wade, 410 U.S. 113, 174 (1973) (Rehnquist, diss.). 188 Vgl. für giesen Zusammenhang M. Raabe, in: C. GrabenwarteT u.a. (Hrsg.), Assistententagung OR (1994), S. 83, 88 ff. 189 G. F. Schuppert, DVBI. 1988, S. 1191, 1193. Vgl. auch ders., Auswärtige Gewalt, S. 207 ff.

9 Simons

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

2. Verfassungsgerichtliche Argumentation und Auswahl bzw. Ausgestaltung der Prüfungsmaßstäbe

Herauszustreichen, daß jede Form verfassungsgerichtlicher Kontrolle eine Aussage stets fiir zwei analytisch unterscheidbare Beziehungen trifft, bedeutet noch nicht, auch etwas dazu gesagt zu haben, auf welche Weise sich dieser Umstand in den zum Zweck dieser Kontrolle gewählten Prüfungsmaßstäben tatsächlich widerspiegelt. Schon gar nicht ist damit eine Aussage dazu getroffen, nach welchen Kriterien sich eine Zuordnung der einzelnen Fälle auf die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe gestaltet. Im Hinblick darauf läßt sich aber immerhin feststellen, daß ein Prüfungsmaßstab, der sein konkretes Erscheinungsbild vornehmlich funktionell-rechtlichen Gesichtspunkten verdankt, auch zur Lösung nur solcher Fälle herangezogen werden kann, die gegenüber funktionell-rechtlichen Argumenten offen sind. Das bedeutet, daß ein System von Kontrollstandards, das dem Gesetzgeber etwa einen weiten Gestaltungsspielraum beläßt, zur Entscheidung nur solcher Fälle nutzbar ist, die sich im Hinblick auf ein solches Zurückstehen des Gerichts funktionell rechtfertigen lassen. Andererseits kann ein System von Prüfungsmaßstäben, das sich vornehmlich auf materiell-rechtliche Aspekte gründet, nur fiir die Fälle dienlich sein, in denen es nach der Meinung des jeweiligen Interpreten nicht auf die Frage der Entscheidungskompetenz, sondern die eines möglichst gerechten Ausgleichs in dem durch das spezifische Grundrecht geprägten Staat-Bürger-Verhältnis ankommt. Kurzum: Ein funktionell-rechtlich orientierter Prüfungsmaßstab vermag als "Rechtsfolge" immer auch nur ein nach funktionell-rechtlichen Kriterien geordnetes System der Verfassungskontrolle zu etablieren, ein materiellrechtlich orientierter Prüfungsmaßstab dementsprechend nur ein nach materiell-rechtlichen Kriterien geordnetes. Demnach hängt alles davon ab, wie der konkrete Prüfungsmaßstab strukturiert ist. Das ist die Frage danach, welche Argumente fiir seine Ausgestaltung maßgeblich sind. Die Prüfungsmaßstäbe präsentieren sich freilich selten in einer Eindeutigkeit von der beschriebenen Art; kaum einmal scheinen sie rein funktionell- oder rein materiell-rechtliche Überlegungen widerzuspiegeln. Die verfassungsgerichtlichen Judikate selbst schweigen sich in dieser nur vordergründig betrachtet theoretischen Frage fiir gewöhnlich aus. 190 Nach dem eben Gesagten kann sich eine kritische Analyse damit aber nicht begnügen. Denn erst sie ermöglicht, die Gesichtspunkte transparent zu machen, die von den jeweiligen Verfassungsgerichten fiir die Ausgestaltung der Prüfungsmaßstäbe und damit letztendlich fiir die Entscheidung eines Verfassungsstreits als sachgerecht angesehen werden. Dabei ist evident, daß von einem vornehmlich die funktionell190 Vgl. dazu K. Hesse, AöR 109 (1984), S. 174, 186; F. Schach, DVBI. 1988, S. 863, 864; S. Huster, Gleichheitssatz, S. 49; R: Maaß, NVwZ 1988, S. 14, 19.

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

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rechtlichen Aspekte von Verfassungskontrolle bedenkenden Gericht andere Argumente fUr die Ausgestaltungs- und Auswahlentscheidung als bedeutsam angesehen werden als von einem Gericht, das sein Hauptaugenmerk auf die materiell-rechtlichen Aspekte seiner Kontrolltätigkeit richtet. Wer etwa, um ein Beispiel aus dem Bereich des allgemeinen Gleichheitssatzes zu nennen, "die weite Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in den Vordergrund rückt, dem BVerfG besondere Zurückhaltung anempfiehlt, die gerechteste, zweckmäßigste und vernünftigste Regelung nicht zum Richtpunkt gesetzgeberischen Bemühens erhebt, sondern eine vage am Gerechtigkeitsdenken orientierte Betrachtungsweise bevorzugt, die sich schon zufriedengibt, wenn auch nur ein sachlicher Grund fUr die (Un-)Gleichbehandlung benannt bzw. nach verfassungsgerichtlicher Suche gefunden werden kann, weist dem BVerfG eine bloße Evidenzkontrolle zu" 191 -ein Ergebnis, das erkennbar aus funktionell-rechtlichen Überlegungen gespeist ist. Wer sich dagegen auf die Suche nach den genaueren Maßstäben der vom Gleichheitssatz versprochenen Inhalte von Gerechtigkeit, also der gerade erwähnten "gerechteste(n), zweckmäßigste(n) und vernünftigste(n) Lösung" macht und sich dafür einer eben nicht nur "vage" sondern streng "am Gerechtigkeitsdenken orientierte Betrachtungsweise" 192 verschreibt, für den steht offenbar der materiell-rechtliche Aspekt sehr viel stärker im Vordergrund; er erflihrt aus ihm, nicht aus der Kompetenzfrage, die filr seine Wahl entscheidenden Impulse. Im Hinblick auf die beiden untersuchten Rechtsordnungen hat die zunächst auffallende semantische Parallelle des grundgesetzliehen Willkürverbotes auf der einen, des amerikanischen mere rationality-Standards auf der anderen Seite Beobachter immer wieder dazu veranlaßt, auch deren strukturelle Übereinstimmung zu konstatieren. 193 Die eben beschriebene Doppelfunktion der Prüfungsmaßstäbe gibt jedoch Gelegenheit, dieses Urteil genauer aufzuschlüsseln: Wirklich gleich wären die beiden Standards nach dem Vorgesagten nur dann, wenn sie ihren Einsatz auch identischen Argumenten verdankten, d.h., wenn 191 So anschaulich F. Schach, DVBI. 1988, S. 863, 876 f. -Die unbedingt weiterfuhrende (kritisch insoweit aber S. Huster, G1eichheitssatz, S. 121) Frage, welches die Gründe dafür sind, daß das BVerfG den Gesetzgeber gerade in Gleichheitsfragen nur selten korrigiert (korrigieren soll?), stellt Schoch freilich ebensowenig wie G. F. Schuppert, DVBI. 1988, S. 1191 ff. 192 F. Schach, DVBI. 1988, S. 863, 876. Nachw. zu dieser st. Rspr. und h.M. bei M. Sachs (Hrsg.) I L. Osterloh, GG, Rdz. 3 zu Art. 3. Vgl. auch K. Hesse (Diskussionsbeitrag), in: C. Link (Hrsg.), Gleichheitssatz (1982), S. 76 f. sowie W Knapp, JöR 23 (1974), S. 421,477 f.

193 Vgl. nur K. Hesse, AöR 109 (1984), S. 174, 193, 196 ff.; W Knapp, JöR 23 (1974), S. 421 , 483 f.; D. Kommers, in: C. Link (Hrsg.), Gleichheitssatz, S. 31, 35, ff. Hinweis auf diese Parallelle bereits bei G. Leibholz, Gleichheit, S. 76. Vgl. aber auch ebd., S. 238 ff., insbes. S. 251 f.

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

ihre Funktion im Verfassungsprozeß dieselbe wäre. Eine Analyse der Gerichte und ihrer Praxis wird freilich durch deren bereits erwähnte Weigerung, die verwendeten Rechtfertigungsstrategien offenzulegen, nicht unerheblich erschwert. Für das deutsche Recht entspricht es dieser Unsicherheit zum Trotz gleichwohl gefestigter Ansicht, daß der Willkür-Formel - wo sie denn noch zur Anwendung kommt - "zwei Funktionen zu(fallen). Materiellrechtlich ist es diejenige ... , angesichts der Unmöglichkeit, den Begriff der Gerechtigkeit zu definieren und des Fehlens eines einheitlichen Rechtsbewußtseins ... , einen klaren und möglichst eindeutigen Maßstab für die Beurteilung der Frage eines Verstoßes gegen den Gleichheitssatz zu schaffen. Funktionellrechtlich markiert der Willkürbegriff die Grenze, bis zu der das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Gesetzgebers, aber auch der Gerichte hinzunehmen hat; er ist sozusagen ein Vehikel richterlicher Zurückhaltung." 194 Schon ein ganzes Stück schwerer fällt ein entsprechendes Urteil zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Zwar wird in der Lehre immer wieder betont, daß seine konkrete Ausgestaltung als Prüfungsmaßstab, insbesondere seine Zurücknahme auf "evidente" oder "schlechthin untaugliche" bzw. "unzumutbare" Übertretungen sowie die "Beschwörung" 195 der Verantwortung des Gesetzgebers nicht anders als mit funktionell-rechtlichen Überlegungen zu erklären sei. 196 Nicht zu übersehen ist dabei jedoch, daß diese Generosität - dabei durchaus dem Charakter des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als einem echten, gerichtlich voll überprüfbaren Rechtsprinzip entsprechend - keineswegs ein durchgängiges Charakteristikum der beschriebenen Prüfungspraxis ist. Vielmehr variiert hier die Kontrolldichte auf der Grundlage vom BVerfG im einzelnen festgelegter Kriterien, und zwar in erster Linie "nach dem Gewicht des von der gesetzlichen Regelung betroffenen Grundrechts." 197 Dem Gesetzgeber muß also nicht, es "kann (ihm) bei der Einschätzung der Auswirkungen einerneuen Regelung ein beträchtlicher Spielraum zustehen." 198 Nach Ansicht des BVerfG soll dies wiederum, neben dem erwähnten Gewicht des betroffenen Grundrechts, vor allem "von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, 194 K. Hesse, AöR 109 ( 1984), S. 174, 186 f. Ebenso J. lpsen, Norm und Einzelakt, S. 202. Vgl. auch S. Huster, Gleichheitssatz, S. 49, 58; F. Schach, DVBI. 1988, S. 863, 875; M. Sachs (Hrsg.) I L. Oster/oh, GG, Rdz. 7, 10 ff. zu Art. 3. 195

K. Sch/aich, BVerfG, Rdz. 495.

Vgl. nur K. Schlaich, BVerfG, Rdz. 482; E. Grabitz, AöR 98 (1973), S. 568, 573, 576,604,615 f.; K. Hesse, Grundzüge, Rdz. 320 (§ 10 II 2 b). 196

197

K. Schlaich, BVerfG, Rdz. 482.

H. Jarass I B. Pieroth, GG, Rdz. 62 zu Art. 20. Vgl. auch H. Schneider, in: C. Starck u.a. (Hrsg.), BVerfG und GG II (1976), S. 390, 397 ff.; E.-W Böckenförde, Grundrechtsdogmatik, S. 70 bei FN 141. 198

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

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den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter" abhängen 199 - allesamt kaum Kriterien, die ihren Ursprung funktionell-rechtlichen Überlegungen verdanken, sondern die ihre Quelle in der fiir das deutsche Verfassungsrecht spezifischen Wertordnungslehre haben, und die deshalb auch dem Vorwurf ausgesetzt sind, das BVerfG halte sich nicht durchgängig an die von ihm selbst zugunsten des Gesetzgebers installierten Beschränkungen.200 Daß diese Beschränkungen zudem "gesicherte Maßstäbe bislang nur bedingt erkennen" lassen201, steht auf einem wieder anderen Blatt. Ein anschauliches Beispiel filr die vornehmlich materiell- und nicht funktionell-rechtliche Verankerung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes liefert die bundesverfassungsgerichtliche Praxis der Kontrolle wirtschaftsregulierender und sozialgestaltender Gesetze. Es ist insoweit besonders lehrreich als hier bei vordergründiger Betrachtung die Parallelle zur Spruchtätigkeit des Supreme Court angesichts der erklärten Zurückhaltung beider Gerichte zunächst besonders deutlich scheint. Daß dem Gesetzgeber in diesem Bereich vergleichsweise große Freiheiten verbleiben, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz also nicht mit der ihm sonst innewohnenden Schärfe zur Anwendung komme02, erklärt das BVerfG aber gerade nicht mit Erwägungen, die sein spezifisches Verhältnis zum Gesetzgeber betreffen, sondern die sich direkt aus dem materiellen Verfassungsrecht, vor allem den gegenüber dem Gemeinwohl insoweit nur geringe Anforderungen stellenden Einzelgrundrechten ergeben203 und damit unmittelbar nur fiir das Staat-Bürger-Verhältnis von Belang sind. Man braucht also gar nicht so weit zu gehen, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der vom BVerfG gehandhabten Weise als ein Instrument zu qualifizieren, mit dessen Hilfe "dem Gesetzgeber die ihm von der Verfassung verliehene Kompetenz, zum Schutz der öffentlichen Interessen nach Maßgabe der 199 BVerfGE 50, 290, 332 f. Vgl. auch BVerfGE 57, 139, 159; 62, I, 50; 76, 1, 51 sowie flir die LehreR. Wendt, AöR 104 (1979), S. 414, 457 ff.

200 G. Schwerdtfeger, Fallbearbeitung, Rdz. 466 (§ 32 II 3 c). Siehe auch W Rupp-v. Brünneck, AöR 102 (1977), S. 1, 15, wo gerade der Verhältnismäßigkeilsgrundsatz"trotz fast stereotyper Betonung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers - als wirksames Instrument flir "zum Teil recht einschneidend(e)" Eingriffe "in das Wie der gesetzgeberischen Regelung" bezeichnet wird. Vgl. demgegenüber B. Schlink, Abwägung, s. 68 ff. 201 K. Hesse, Grundzüge, Rdz. 320 (§ I0 II 2 b ). V gl. U. Battis I C. Gusy, Staatsrecht, Rdz. 472 ff. (§ 12 lii 3); P. Lerche (Nachwort), in: E.-W. Böckenförde, Grundrechtsdogmatik, S. 77 ff. 202

Nachw. bei E. Grabitz, AöR 98 (1973), S. 568,590 f.

203 Vgl. BVerfGE 29, 260, 267; 50, 290, 338.

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

verfassungsrechtlich zulässigen Grundrechtseinschränkung in Besitzstände einzugreifen ... , wieder entwunden" werde204, um zu dem Ergebnis zu gelangen, daß darin funktionell-rechtliche Kriterien kaum zu Buche schlagen. Daß viele Beobachter schon in der prinzipiellen Nutzbarmachung des Verhältnismäßigkeitsprinzips das zur Überschreitung solcher Grenzen dienende Übel zu erkennen meinen, sei hier nur am Rande erwähnt?05 An dieser Einschätzung vermag auch das ständig wiederholte Bekenntnis des BVerfG zu der von ihm vorgeblich anerkannten "Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers" nichts zu ändern. Sie ist mangels ausreichender normativer Fundierung praktisch ohne jede Struktul06 , in ihrer konkreten Ausprägung lediglich ein Reflex der vom BVerfG festgelegten Reichweite des jeweiligen Grundrechts und scheint damit dem Gericht häufig zu kaum mehr als bloßer Gewissensberuhigung zu dienen. Sicheres Indiz dafür ist die von amerikanischer Seite mit einigem Erstaunen gemachte Beobachtung, daß es dem BVerfG vermittels des "both for substantive due process and for the necessity and propriety of federal legislation" herangezogenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gelungen sei, Ergebnisse zu erzielen "reminiscent of those reached by the Supreme Court during the Lochner period."207 Demgemäß will es auch nicht als Zufall erscheinen, daß im die Freiheit des Gesetzgebers sehr viel stärker betonenden amerikanischen Verfassungsrecht aus dem Spektrum des Übermaßverbots nur der Erforderlichkeits-Grundsatz, und dieser auch nur "in certain instances of strict scrutiny" 208 seinen Platz hat. Aber zurück zum allgemeinen Gleichheitssatz, für dessen Willkür-Formel dem Beobachter das Urteil über seine Doppelfunktion - materiell-rechtliche Gewähr auf der einen, funktionell-rechtliche Garantie auf der anderen Seite wesentlich leichter gefallen war. Eben diese Willkür-Rechtsprechung209 ist in204 R. Bäum/in I H. Ridder, in: AK-GG, Rdz. 71 zu Art. 20 Abs. 1-3 III. Vgl. auch G. Barbey, Bundesverfassungsgericht und einfaches Gesetz, S. 33 ff. Zurückhaltender aber H. Simon, in: E. Benda u.a. (Hrsg.), Hdb. VerfR (1994), S. 1167 f. (§ 34, Rdz. 50 f.). 205 Vgl. E. Forsthoif; Staat der Industriegesellschaft, S. 137 f.; G. Barbey , Bundesverfassungsgericht und einfaches Gesetz, S. 13 ff. et passim; E.-W Böcknförde, Grundrechtsdogmatik, S. 52 ff., 69 ff. (ftir den obj.-rechtl. Gehalt der Grundrechte); ders. (Diskussionsbeitrag)" VVDStRL 39 (1981), 200, 201 f. Siehe auch K. Hesse, in: P. Badura u.a. (Hrsg.), FS f. H. Huber (1981), S. 261 , 269 zu FN 31 i.V.m. S. 270. 206 Vgl. (ftir die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte) E.-W Böcknförde, Grundrechtsdogmatik, S. 69.

207

D. Currie, 1989 Sup.Ct.Rev. 333, 348, 354 f.

208

D. Currie, German Constitution, S. 309 f.

Nachweise zur Kritik an ihr bei F. Schach, DVBI. 1988, S. 863, 874; E. Klein, in: T. Koopmans(Hrsg.), Equality (1975), S. 69,80 f. 209

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

135

zwischen freilich derart stark in den Sog der "Neuen Formel" geraten210, daß es erforderlich erscheint, danach zu fragen, ob nicht dem Gleichheitssatz im Hinblick auf seine aktuelle Funktion möglicherweise ein anderes als das noch für die Willkür-Formel gültige Verständnis zugrunde zu legen ist. Auch wenn die genaue Reichweite dieses Neuansatzes noch nicht endgültig ausgelotet ist, scheint doch sicher, daß mit seiner Hilfe das Willkür- durch das Übennaßverbot zumindest ergänzt, wenn nicht sogar ersetzt worden ist. Wesentliche Folge dessen ist, daß die Intensität der Prüfung nun bereits unter dem allgemeinen Gleichheitssatz sehr unterschiedlich ausfallt und von einem "blossen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitsanforderungen" reicht. 211 Trotz mancher Berührungspunkte der beiden Verbote212 kann freilich nicht übersehen werden, daß der Prüfung am Maßstab des allgemeinen Gleichheitssatzes damit ein Prinzip implantiert wird, das, wie gerade zu sehen war, mit funktionell-rechtlichen Gründen kaum zu rechtfertigen ist. Während mit der Willkür-Formel nämlich nur ein äußerer Rahmen aufgezeigt wurde, innerhalb dessen der Gesetzgeber sich frei bewegen konnte, statuiert das Verhältnismäßigkeitsprinzip ein permanentes, letztlich gerichtlicherseits zu realisierendes Optimierungsgebot Damit hat dieses Prinzip aber auch die Tendenz, bei der Lösung von Verfassungsfragen die Wertungsoffenheit des allgemeinen Gleichheitssatzes zu beschneiden und, allen anderslautenden Versicherungen zum Trotz213 , gesetzgeberische Gestaltungsspielräume unbeachtet zu lassen? 14 Man mag dies bedauern oder nicht: Zu Zeiten unangefochtener Geltung der Willkür-Formel bestand jedenfalls Einigkeit darüber, daß jeder Schritt über sie hinaus den Richter zum Gesetzgeber zu machen drohe. 215 Damit soll nicht gesagt sein, daß es sich bei der "Neuen Formel" nicht um eine prinzipiell begrüßenswerte Präzisierung der bisher nur begrenzt rationalisierbaren Willkür-Rechtsprechung handelt. Vor dem Hintergrund eines materiell-rechtlichen Zugangs zu Problemen von Gleich- und Ungleichheit ist dies

210

Motive dafllr bei S. Huster, Gleichheitssatz, S. 58 ff.

211

BVerfGE 88, 87, 96. Ebenso BVerfGE 89, 15,22 f. ; 89, 365, 375; 95,267,316.

212

Vgl. P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 31, 41 f., 52, 162.

213

BVerfGE 55, 72, 90; 81, 108, 117 f.

K. Hesse, AöR 109 (1984), S. 174, 189 f. (mit FN 57), 191 f; ders., in: P. Badura/R. Scholz (Hrsg.), FSf. P. Lerche (1993), S.121, 129f.; M. Sachs (Hrsg.)/L. Osterloh, GG, Rdz. 15 zu Art. 3. 214

215 Vgl. nur BVerfGE 48, 185, 199 ff. (Hirsch, diss.) sowie C. Starck (Schlußwort), in: C. Link (Hrsg.), Gleichheitssatz ( 1982), S. I 09, 110 f. ; K. Hesse, ebd., S. 75, 76; M Sachs, Diskriminierungsverbot, S. 486, FN 425. Weitere Nachw. bei H. Dreier (Hrsg.) I W. Heun, GG, Art. 3, Rdz. 18.

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

womöglich sogar kaum zu bestreiten. Erstaunlich ist allein, daß in dem neuen Kontrollmaßstab der Stellenwert des vormals offenbar fiir nicht ganz unwichtig erachteten funktionell-rechtlichen Kriteriums nur noch schwer auszumachen ist. Das ist das eigentlich Neue an der "Neuen Formel". Die beschriebene Entwicklung hin zu einer auch im Ergebnis strengeren216 Gleichheitsprüfung ist freilich weniger überraschend als es zunächst erscheinen mag. Schon unter der alten Formel nämlich hatte das BVerfG zu bereichsweise ausdifferenzierten, je nach dem Gewicht der betroffenen Interessen einmal größeren, einmal kleineren Gestaltungsspielräumen fiir den Gesetzgeber gefunden217, die das als funktionell-rechtliche Kompensation in den Prüfungsmaßstab eingelassene "Willkür"-Eiement oft nur schemenhaft zu erkennen gaben. Von einer Eindeutigkeit, geschweige denn Einheitlichkeit der Rechtsanwendung in dem Ausmaß, wie sie anläßlich des amerikanischen Beispiels zu beobachten war, das als "binäres System der Kontrolle oder Nichtkontrolle" 218 nicht unzutreffend beschrieben ist, konnte in Deutschland also schon vor Entdeckung der "Neuen Formel" nicht die Rede sein. Immer wieder haben vor allem amerikanische Kommentatoren wie etwa Donald Kommers darauf hingewiesen, daß in Deutschland der rational basis-Standard, also der denkbar durchlässigste Prüfungsmaßstab, "mit einem viel höheren Grad an Prüfungsstrenge gehandhabt worden" sei. Kommers erschien es höchst unwahrscheinlich, "daß der Supreme Court - wie dies das Bundesverfassungsgericht getan hat - solche Gesetze fiir nichtig erklärt hätte wie etwa das Baden-Württembergische Feuerwehrgesetz oder Bundesgesetze im Sozialbereich - (betreffend) etwa Kindergeld oder gemeinsame Einkommensteuererklärung von Ehegatten. Der Supreme Court würde normalerweise auch keinen strengeren Prüfungsmaßstab anlegen, wenn es in einem Fall nicht um die Gewährung von Leistungen, sondern um Eingriffe des Staates geht ... Die deutschen Kriterien der Sachgerechtigkeit und der Systemgerechtigkeit" - Verstöße

216 So auch K. Hesse, Grundzüge, Rdz. 439 (§ 12 II 3); F. Schoch, DVBI. 1988, S. 863, 875 ff.; I. v. Münch I P. Kunig (Hrsg.)- M Gubelt, GG, Rdz. 14 zu Art. 3; A. v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 122 f.; C. Fuchsloch, Geschlechtsdiskriminierung, S. 105; C. Rau, Grenzen, S. 201 ff. Aus der Rspr. BVerfGE 74, 9, 30 (Katzenstein, diss. ).

217 Nachw. bei K. Hesse, Grundzüge, Rdz. 440 mit FN 91 (§ 12113); ders., AöR 109 (1984), S. 174, 190 f., 193 f. ; K. Schlaich, BVerfG, Rdz. 481; H Weber-Grellet, Beweislast, S. 140 ff.; F. Schoch, DVBI. 1988, S. 863, 877 bei FN 224; D. Jarass I B. Pieroth, GG, Rdz. 18 ff. zu Art. 3; E.-W Fuss, JZ 1959, S. 329, 332 ff. Für die amerikanische Perspektive D. Currie, German Constitution, S. 332 ff. Vgl. auch D. Kommers, in: C. Link (Hrsg.), Gleichheitssatz (1982), S. 31 , 34 f. ; E. Klein, in: T. Koopmans (Hrsg.), Equality (1975), S. 69, 80 f. 2 18

So K. Vogel, BVerfG, S. 144 (jedoch nicht ftir das amerikanische Recht).

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

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hiergegen indizieren nach ständiger Rechtsprechung die Verletzung des Gleichheitssatzes219 - "beinhalten ... nicht nur einen strengeren Prüfungsmaßstab, sondern ... führen in manchen Fällen sogar zu einer anderen Art der Überprüfung."220 Ausgehend von der Beobachtung, daß das BVerfG zwar "von Gleichheit (spricht), als ob damit keinerlei positiver Inhalt verbunden sei", aber ungeachtet dessen davon auszugehen scheine, "daß der Gleichheitsgrundsatz Prinzipien materieller Gerechtigkeit beinhalte", kommt Kommers zu dem Ergebnis, daß viele der Entscheidungen des BVerfG für amerikanische Ohren "sehr nach dem (klingen), was heute - manchmal abschätzig - als sogenannte materielle oder substantive equal protection-Analyse bezeichnet" werde. 221 Wer auch nur eine ungefiihre Ahnung davon hat, welch verschreckende Assoziationen richterlichen Aktivismus sich für den amerikanischen Verfassungsjuristen mit den Begriffensubstantive equal protection bzw. -due process verbinden222, muß sich wundem, wie deutsche Beobachter über eben dieselbe, wohlgemerkt: alte "Willkür"-Rechtsprechung sagen können, "die Inflationierung des Unrechtsempfindens sub specie "Gieichheitssatz" geh(e) mit einer sukzessiven Entwertung desselben einher"223 , "eine Gleichheitsprüfung (werde) in Wahrheit nicht mehr vorgenommen." 224 Das mag für die Leibholzsehe Vorstellung von Willkür als "radikale, absolute Vemeinung" der Idee von Gerechtigkeie25 zwar noch angehen, ist für die bundesverfassungsgerichtliche Judikatur jedoch kaum aufrechtzuerhalten. Von seiten amerikanischer Beobachter jedenfalls werden zahlreiche der Entscheidungen, die das BVerfG unter dem allgemeinen Gleichheitssatz getroffen hat, denn auch keineswegs mit der unter dem rational basis-, sondern allenfalls mit der unter dem strict scrutiny-Test geübten Praxis verglichen; immer wieder wird dabei das Schreckbild des "Lochner"-Falles sowie des BVerfG als eines 219 BVerfGE 59, 36, 49. Dazu I. Richter I G. F Schuppert, Casebook, S. 132; C. König, JuS 1995, S. 313, 317 f.; U. Battis I C. Gusy, Staatsrecht, Rdz. 523 f. (§ 13 IV); M. Sachs (Hrsg.) I L. Osterloh, GG, Rdz. 98 ff. zu Art. 3. 220

D. Kommers, in: C. Link (Hrsg.), Gleichheitssatz, S. 31, 36 mwN.

221 Ebd., S. 37. Zustimmend D. Currie, German Constitution, S. 332, 337 f. Abwei-

chend offenbar K. Hesse (Diskussionsbeitrag), in: C. Link (Hrsg.), Gleichheitssatz (1982), S. 75, 76 f. Anders aber ders., AöR 109 (1984), S. 174, 194. Ebenso J. Pietzcker, in: J. Jekewitzu.a(Hrsg.), FS f. K. J. Partsch (1989), S. 471,478. 222

Rechtsvergleichend D. Currie, 1989 Sup.Ct.Rev. 333, 335 f. et passim.

223

F Schach, DVBI. 1988, S. 863, 864.

224 I. v. MUnch I P. Kunig (Hrsg.) - M. Gubelt, GG, Rdz. 13 zu Art. 3. Vgl. auch F

Schach, DVBI. 1988, S. 863, 875; G. Müller, VVDStRL 47 (1989), S. 37, 44.

225 G. Leibholz, Gleichheit, S. 72. Dazu G. Müller, VVDStRL 47 (1989), S. 37, 42 ff. ("minimale Gerechtigkeit").

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

"ultimate censor of the reasonableness of all govemmental action" beschwo226 ren. Zumindest vor dem Hintergrund der amerikanischen Praxis konnte man sich also schon unter der überkommenen Willkür-Formel des Eindrucks nicht erwehren, daß "trotz vielfacher Betonung des politischen Entscheidungsspielraums des Gesetzgebers ... die Grenzen der Entscheidungsfreiheit der Legislative von kaum vorhersehbaren Gerichtsentscheidungen" abhingen und deshalb schon immer die Gefahr bestand, "daß die entscheidenden Richter ihre eigenen subjektiven Wertungen an die Stelle derjenifen des Gesetzgebers setzen und so den politischen Prozeß einengen" würden?2 Schlüssel dazu war vor allem die "am Gerechtigkeitsgedanken orientierte Betrachtungsweise"228 , derer sich das BVerfG "zur Sicherung eines Mindeststandards allgemeiner Gerechtigkeit" 229 schon in der Vergangenheit gern bedient hat, und die dann konsequent zur Neuen Formel weiterentwickelt wurde. Bereits damals war von nur "formelhafte(r) Selbstbeschränkung"230 die Rede. Fingerzeig darauf, daß die deutsche Doktrin funktionell-rechtliche Argumente nie wirklich in die von ihr benutzten Kontrollmaßstäbe hat einfließen lassen, ist schließlich auch die in der Lehre populäre Unterscheidung von Handlungs- und Kontrollnorm231 , die aus einem offenbar tiefsitzenden Unbehagen an der behaupteten Konturlosigkeit der Willkür-Formel in der spezifi-

226

D. Currie, German Constitution, S. 332 ff., 335, 337 f.

U. Battis / C. Gusy, Staatsrecht, Rdz. 526 (§ 13 IV). Vgl. auch I. v. MünchiP. Kunig (Hrsg.)- M... Gubelt, GG, Rdz. 13 zu Art. 3 GG. Für die ältere Literatur und Praxis P. Lerche, Ubermaß und Verfassungsrecht, S. 40 ff. sowie K. Schweiger, in: BayVerfGH-FS (1972), S. 55, 57,67 ff. 227

228 BVerfGE 9, 124, 129. Ähnlich BVerfGE 3, 58, 135; 18, 38, 46. Grundlage dessen ist die bereits von G. Leibholz (Gleichheit, S. 72) formulierte These, Willkür sei der "gegensätzliche Korrelatbegriff von Gerechtigkeit." Willkür und Gerechtigkeit erscheinen danach nur als zwei Seiten derselben Medaille, vgl. F. Schach, DVBI. 1988, S. 863, 877 bei FN 227; R. Dreier, in: R. Dreier I F. Schwegmann (Hrsg.), Verfassungsinterpretation (1976), S. 13, 39 mit FN 114. 229 K. Hesse, AöR 109 (1984), S. 174, 193 mit interessantem statistischen Zahlenmaterial in FN 70. 230

M. Sachs (Hrsg.) I L. Osterloh, GG, Rdz. 12 zu Art. 3.

Vgl. nur P. Schneider, in: E. v. Caemmerer u.a. (Hrsg.), FS f.d. Dt. Juristentag, Bd. li (1960), S. 263, 283; K. Hesse, Grundzüge, Rdz. 439 (§ 12 li 3); K. Schlaich, BVerfG, Rdz. 479 ff.; B.-0. Bryde, Verfassungsentwick1ung, S. 304 ff. sowie für die Schweiz G. Müller, VVDStRL 47 (1989), S. 37, 44. Ablehnend etwa H. Dreier (Hrsg.) I W Heun, GG, Art. 3, Rdz. 40. Das BVerfG hat sich bisher außerordentlich reserviert gezeigt, vgl. E. Klein, in: T. Koopmans (Hrsg.), Equality (1975), S. 69, 100 f. mwN. 231

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

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sehen Handhabung durch das BVerfG geboren scheint. 232 Nach diesem Modell soll Art. 3 Abs. 1 GG zwar dem Gesetzgeber die Aufgabe stellen, Gesetze zu schaffen, die "in jeder Hinsicht sachgemäß und gerecht sind" 233 , als Maßstab richterlicher Kontrolle unterliege die Vorschrift jedoch einer Beschränkung auf das Willkür-Verbot. Im Wege dieses Kunstgriffs sei also "nicht der Verfassungssatz als solcher, sondern (nur) die Kognitionsbefugnis des Gerichts ... eingeschränkt."234 Es ist wenig erstaunlich, daß dieser überaus künstlich anmutende Spagat zwischen aufgeblähtem, aber nicht justiziablem verfassungsrechtlichen Gehalt auf der einen, auf zurückgezogener Linie operierendem Kontrollauftrag auf der anderen Seite in der Supreme Court-Praxis überhaupt nicht und auch in der amerikanischen Doktrin nur vereinzele35 nachvollzogen wird. Nach den vorerwähnten Stellungnahmen ist es nur logisch, daß der amerikanischen Praxis (die immerhin einst das von Leibholz schmackhaft gemachte Vorbild fiir die Willkür-Formel geliefert hatte) Tendenzen von der filr Deutschland beschriebenen Tragweite weitgehend fremd sind. Ein "once loosed, the idea ofEquality is not easily cabined"236 - geflügeltes Wort des amerikanischen Verfassungsrechts - scheint dabei stets im Hintergrund zu stehen. Hält man sich zudem das völlige Fehlen eines gleitenden Prüfungsmaßstabes, die Absenz eines umfassenden Verhältnismäßigkeitskonzepts sowie die äußerst rigide (strict scrutiny) bzw. äußerst großzügige237 (mere rationa/ity) Handhabung der beiden Haupt-Tests vor Augen, ist es kein weiter Weg mehr zu der These, daß in Amerika sowohl die Ausgestaltung der Prüfungsmaßstäbe als auch die Einordnung der verschiedenen Sachverhalte unter sie in erster Linie funktionell-rechtlichen Überlegungen folgen. Diese Schlußfolgerung ist filr den mere rationality-Standard wenig überraschend; seine um einiges großzOgigere Handhabung238 als die fiir Deutschland selbst unter der Willkür-Formel beobachtete Praxis läßt eine andere Deutung kaum zu. Das bedeutet indes nicht, daß man in den USA der Ansicht wäre, Postulate materieller Gerechtigkeit ließen sich auf diesem niedrigsten Prüfungsniveau gar nicht mehr formulieren. Nur soll diese Formulierung aus funktio232 Ähnlich C. Starck, in: J. Isensee I P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. StaatsR, Bd. VII (1992), S. 197 f. (§ 164, Rdz. 14). 233

K. Hesse, Grundzüge, Rdz. 439 (§ 12 II 3).

234

So (ohne Sympathie ftir die Idee) S. Huster, Gleichheitssatz, S. 49.

235

W Lockhart u.a., Constitutional Law, S. 1148 f. (Kap. 10,2,1) mwN.

236

A. Cox, 80 Harv.L.Rev. 91,91 (1966).

237

Für Ausnahmen vgl. R. Bennett, 67 Cal.L.Rev. 1049, 1051 ff. (1979).

238

Vgl. z.B. J Shaman, 35 U.Fia.L.Rev. 236,247 (1983).

140

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

nell-rechtlichen Gründen dem Gesetzgeber überlassen bleiben: "The underlying idea is, first, that courts Iack the capacity to review the factual determinations of other branches of govemment and, second, that vigorous judicial scrutiny ... would be inconsistent with what is taken to be the central constitutional commitrnent to representative democracy." 239 Für die These einer funktionellrechtlichen Fundierung des rational basis-Standards läßt sich in der amerikanischen Literatur demgemäß ein erstaunlicher Rückhalt finden: "To the extent ... that the Court defers to the Iegislature's choice of goals or its determination of whether the classification relates to those goals", ist etwa in einem fUhrenden verfassungsrechtlichen Lehrbuch als Beschreibung dieses Prüfungsstandards zu lesen, "the Justices have in fact taken the position that it is the function of the legislature, rather than the judiciary, to make the equal protection determination as to the particular Iaw."240 Dabei sei alles überragender Zweck einer solchen Ausgestaltung dieses Prüfungsmaßstabes "to mitigate the "countermajoritarian difficulty" ofjudicial review." 241 Kaum schwerer fiillt es der amerikanischen Rechtsprechung und Literatur allerdings, die komplementäre Schlußfolgerung auch auf den strengen Prüfungsmaßstab zu erstrecken - worin sich zeigt, daß nicht jede Steigerung der Prüfungsanforderungen ihren Grund immer in materiell-rechtlichen Erwägungen finden muß. Sofern damit nämlich keine argumentative Strukturveränderung einhergeht, kann ein solcher Umstand auch dazu dienen, nur einen anderen Entscheidungsträger kenntlich zu machen und damit statt der materiellrechtlichen die Kompetenz-Frage zu beantworten. Ganz dem entsprechend kann man denn auch in dem eben erwähnten Lehrbuch von Nowak und Rotunda über den strengen Prüfungsmaßstab lesen: "To the extent that the Justices independently determine whether the law has a purpose which conforms to the Constitution and whether the classification in fact relates to that purpose, the Justices are taking the position that the Court is able to assess these issues in a manner superior to, or at least different from, the determination of the Iegislature." Aus der jeweiligen Haltung zum Gesetzgeber wiederum folge eine bestimmte Entscheidungssituation: "Thus, the Court must decide whether it will engage in any realistic scrutiny of legislative classifications, and thereby assume the power to override democratic process, or whether, by deferring to that 239 C. Sunstein, 84 Colum.L.Rev. 1689, 1700 (1984). Weiterhin W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 211 ff. sowie Oregon v. Mitchell, 400 U.S. 112, 247 (1970) (Brennan, White, Marshall, conc./diss. in part): "(The) Iimitation on judicial review of state legislative classifications is a Iimitation stemming not from the Fourteenth Amendment itself, but from the nature of judicial review."

240 J Nowak I R. Rotunda, Constitutional Law, S. 573 (§ 14.3). Vgl. H.-S. Cho, G1eichheitsprüfung, S. 68 f.; W Knapp, JöR 23 (1974), S. 421,477 f., 480 ff. 241

P. Brest, Constitutional Decisionmaking (1. Aufl.), S. 1005 (Kap. 10 II A).

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

141

process, it will Iimit the concept of a unique judicial ftmction." 242 Darin zeigt sich sehr deutlich, daß der Supreme Court "den von ihm gewährten verstärkten Gleichheitsschutz ... durchweg als eine Ausdehnung seines Prüfungsrechts, als eine Aufgabe des von ihm sonst im Interesse der Wahrung der Gewaltenteilung und -balance geübten ,judicial self-restraint" erachtet. Die Legitimität der schärferen Überprüfung ... erweist sich damit als Teilaspekt der grundsätzlicheren Frage ... der Gewaltenteilung."243 Nach alldem kann es kaum noch überraschen, daß sich bei einem anderen Beobachter die Funktion der Prüfungsmaßstäbe in der amerikanischen Praxis auf eine Weise beschrieben findet, die den durch sie zur Geltung gebrachten materiellen Gehalt der einzelnen Verfassungsvorschriften praktisch überhaupt nicht mehr wahrnimmt: "The question ... is whether it is better to have the dominant lawmaking function vested in the legislative branch or in the judicial branch. lt is in the choice of a standard of review that the judiciary effectively supplies the answer tothat question." 244 Mit dieser Formulierung ist die funktionell-rechtliche Idee auf den Begriff gebracht. Aus ihrer Perspektive ist die Gewährleistung und Effektuierung der Grundrechte eine Aufgabe, die von zwei prinzipiell gleichrangigen Abteilungen der Staatsverwaltung - Supreme Court und Gesetzgeber - arbeitsteilig zu erfilllen ist. 245 Folgerichtig erscheint es als das vorrangige Problem richterlicher Entscheidung, den beiden Kompetenzträgem ihre jeweiligen Verantwortungsbereiche zuzuweisen. Dies wiederum geschieht in Form der Ausbildung und Handhabung zweier Haupt-Prüfungsmaßstäbe. Und demgemäß beziehen sich die Auseinandersetzungen im Bereich der Rechtsgleichheit in den USA "hauptsächlich auf die Frage, wie streng der vom Gericht anzuwendende Prüfungsmaßstab sein so11" 246 . Daß hierin ein erheblicher Unterschied zu dem dem deutschen Verfassungsjuristen vertrauten gerichtlichen Kontroll-Modell auf der Grundlage einer zur Justiziabilität aufbereiteten Verfassungsnorm liegt, braucht nicht besonders herausgestrichen zu werden. 242 J Nowak l R. Rotunda, Constitutional Law, S. 573 (§ 14.3). Vgl. auch W Knapp, JöR23 (1974), S. 421 , 477 f., 480 ff. 243 W Knapp, JöR 23 (1974), S. 421, 478. Nicht gefolgt wird Knapp insoweit, als er damit die Richtigkeit des Handlungs-/Kontrollnorm-Axioms impliziert. 244 R. Lee, 25 Ariz.L.Rev. 805, 810 (1983). Vgl. auch ders., 7 Harv.J.L.Pub.Pol. 35, 39 (1984). 245 Darstellung dieses amerikanischen Phänomens aus deutscher Perspektive bei G. F. Schuppert, DVBI. 1988, 1191, 1195 ff. 246

M Schefer, Konkretisierung von Grundrechten, S. 48.

142

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Damit aber scheint die Einschätzung, daß der Streit um den angemessenen Prüfungsmaßstab "eng mit unterschiedlichen Vorstellungen der Richter von repräsentativer Demokratie verbunden ist, die wiederum zu Meinungsunterschieden über die Rolle des richterlichen Prüfungsrechts im Verfassungsstaat führen" 247, sehr viel stärker für das amerikanische als das deutsche Verfassungsrecht zuzutreffen. Bei ersterem steht dieser Aspekt in Fragen der Grundrechtsadjudikation in der Tat ganz im Vordergrund, letzteres scheint ihm allenfalls eine Rolle am Rande zuzuweisen. 3. F o/gerungen

Das Phänomen der Doppelfunktion der Kontrollmaßstäbe, deren in den USA stark funktionell-rechtliche Fundierung sowie der Umstand, daß die dortigen Gerichte die ihnen angetragenen Aufgaben mit gerade einmal zwei, allenfalls drei Prüfstandards bewältigen, führt zurück zu einem Aspekt, der am Anfang dieses Abschnitts bereits kurz erwähnt wurde: dem Grund für die vergleichsweise auffallende Simplizität des vom Supreme Court herangezogenen Kontrollinstrumentariums. Dies hat maßgeblich damit zu tun - so jedenfalls gibt es gute Gründe anzunehmen -, daß die Frage, vor die sich der Supreme Court bei der Prüfung eines Gesetzes am Maßstab des Gleichheitssatzes gestellt sieht, dem Gericht eine strukturell - einfache Alternative vorgibt: Sollen wir als Gericht oder sollte nicht lieber der Gesetzgeber sich mit seiner Vorstellung von "gerechter" oder "ungerechter" Differenzierung durchsetzen? Im ersten Fall greift das Gericht zum strengen, im zweiten zum nachlässigen Prüfungsstandard. 248 Dieser bipolare Mechanismus macht den Paradigmenwechsel deutlich, den das BVerfG mit der sich offenbar ausweitenden Anwendung seiner "Neuen Formel" vollzogen hat. Sie "hat den sachlichen Differenzierungsgrund für die Ungleichbehandlung nicht nur von der Verkürzung auf ein ... Willkürverbot befreit. Vielmehr hat sie vor allem den Weg für eine ... Prüfung der Sachangemessenheit zwischen Differenzierungsziel und Differenzierungskriterium geöffnet" und damit das Feld für eine "abgestufte Prüfungsintensität nach Maßgabe einer Gewichtung der beteiligten Rechtsgüter" 249 bereitet. Selbst wenn 247 D. Kommers, in: C. Link (Hrsg.), Gleichheitssatz (1982), S. 31, 33. Vgl. auch ebd., S. 47 ff. 248 Vgl. G. F. Schuppert (Diskussionsbeitrag), VVDStRL 4 7 ( 1989), S. 97, 97 f. Weiterhin E.-W. Böckenförde, Grundrechtsdogmatik, S. 72 f. 249 C. Koenig, JuS 1995, S. 313, 315. Differenzierte Kasuistik bei H. Jarass I B. Pieroth, GG, Rdz. 15 ff. zu Art. 3.

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

143

sich in einem solchen System fur die Willkürformel noch ein Plätzchen fände, wie dies in der Rechtsprechung des BVerfG immer wieder anklingt, würde deren Aufgabe über die einer "selten erforderlichen Auffangfunktion" 250 doch offenbar kaum hinauskommen. . 1st . aber mc . ht eme . H.m-251 , sondem eme . dez1.d.1erte Abwend ung252 von Darm

der in den USA zu beobachtenden Praxis vollzogen. Zeichnet sich nämlich erstgenanntes Prüfungssystem nun sogar im Fall des allgemeinen253 Gleichheitssatzes durch eine den Gesetzgeber zumindest potentiell in die Pflicht nehmende Optimierungstendenz aus254, ist dem letzteren eine solche Qualität gerade nicht zu eigen. Ganz im Gegenteil steckt hinter der Wahl des nachlässigen Prüfungsmaßstabes durch den Supreme Court immer auch "das Bestreben des Gerichts, sich von komplexen Abwägungsfragen femzuhalten, in denen das verfassungsrechtlich nicht quantifizierbare Gewicht legitimer Gemeinwohlinteressen mit diversen Kosten auf der Individualseite in Einklang zu bringen ist."255 Wer den Supreme Court immer wieder davon sprechen hört, daß unter dem rational basis-Test geprüfte Gesetze selbst dann, wenn sie "a needless, wasteful requirement in many cases" darstellen, nicht verworfen werden, weil es dem Gesetzgeber und nicht den Gerichten übertragen sei "to balance (their) advan250

R. Maaß, NVwZ 1988, S. 14, 21 .

Andeutungen in diese Richtung bei G. F. Schuppert (Diskussionsbeitrag), VVDStRL 47 (1989), S. 97, 97 f.; ders., AöR 120 (1995), S. 32, 89 f.; R. Maaß, NVwZ 1988, S. 14, 17 f., 21 (mit Verzerrungen in der Darstellung der amerikanischen Praxis); I v. Münch I P. Kunig (Hrsg.)- M Gubelt, GG, Rdz. 14 zu Art. 3; H.-S. Cho, Gleichheitsprüfung, S. 156; H. Jarass, NJW 1997, S. 2545,2547. 251

252 H. Dreier (Hrsg.) I W. Heun, GG, Art. 3, Rdz. 28. Auf die Parallelle - allenfallszur alten Formel weisen hin P. Kauper, 58 Mich.L.Rev. 1091 , 1115 ff. (1960); K. Hesse (Diskussionsbeitrag), in: C. Link (Hrsg.), Gleichheitssatz (1982), S. 75, 76 f. ; ders., AöR 109 (1984), S. 174, 192, 196ff. Etwas großzügiger aber ders., in: P. BaduraiR. Scholz (Hrsg.), FS f. P. Lerche (1993), S. 121, 126 f., 131. 253 Es scheint übersehen zu werden, daß die "Neue Formel" als Prüfungsmaßstab nur im Bereich des allgemeinen Gleichheitssatzes zur Anwendung kommt. Wie insoweit die dem mere rationality-Standard eigene Großzügigkeit eine Parallelle finden soll (Erfolgschance der Kläger unter der "Neuen" Formel bis 1988: 48%, R. Maaß, NVwZ 1988, S. 14, 15) bleibt unerklärlich. Zutreffend K. Hesse, AöR I 09 ( 1984), S. 174, 190; ders., in: P. Badura IR. Scholz (Hrsg.), FS f. P. Lerche (1993), S. 121, 127, 131. 254 Einschränkend C. König, JuS 1995, S. 313, 316 f. V gl. auch I. v. Münch I P. Kunig (Hrsg.)- M Gubelt, GG, Rdz. 14 zu Art. 3.

255 W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 166. Ebenso S. Bice, in: U. Karpen (Hrsg.), Hochschulzugang (1978), S. 171, 199 f. ; G. Zöllner, ZUM 1997, S. 719, 731. Abweichend (für den strict scrutiny-Standard) M Sachs, Diskriminierungsverbot, S. 216 ff. Vgl. auch R. Bennett, 61 Cai.L.Rev. 1049, 1065 (1979); H.S. Cho, Gleichheitsprüfung, S. 190 ff.

144

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

tages and disadvantages" 256, kann kaum zu dem Ergebnis gelangen, daß sich hier eine Parallelle zu der vom BVerfG bekannten Prüfungspraxis zeigt. Die Art und Weise, auf die Paul Brest den mere rationality-Standard charakterisiert, dürfte deshalb fiir den allgemeinen Gleichheitssatz des Grundgesetzes auch nicht im entferntesten eine Parallelle finden: "This standard", schreibt Brest, "demands no balancing of costs and benefits, no accomodation of competing interests. A regulation may impose great burdens on some persons with little benefit to others. But so long as it is positively (however weakly) related to a conceivable legitimate purpose (however trivial), it passes scrutiny." 257 Eine kaum andere Kennzeichnung wird man - insbesondere, wenn man dessen rigide Handhabung im Auge behält258 - der Aufspaltung des Prüfungsinstrumentariums in gerade einmal zwei (Haupt-)Kontrollmaßstäbe geben müssen; erst sie ermöglicht, die bereits vom Gesetzgeber vollzogenen Wertungen vollständig aufrechtzuerhalten oder eben vollständig zu verwerfen und entbindet damit den Supreme Court in den allermeisten Fällen von der Notwendigkeit einer offenen Konfrontation mit dem Gesetzgeber. Von dem schmalen Segment von Fällen abgesehen, in denen das Gericht zum intermediate test greift, muß der Grund dafiir darin gesehen werden, "that balancing is perceived as a more "activist" standard ofreview, and that there is an understandable reluctance generally to expand activist judicial review to substantive due process and equal protection. Balancing involves the court in openly evaluating competing values and in ranking their importance. lt is commonly viewed as a rather open-ended standard in which judicial attitudes and preferences heavily influence the outcome."259 Nicht umsonst ist der von Justice Marshall immer wieder propagierte gleitende Prüfungsmaßstab, unter dem das Abwägen widerstreitender Interessen unausweichlich wäre, nie herrschende Gerichtspraxis geworden.Z60 Dahinter steht der treffende Gedanke, daß es etwas grundsätzlich anderes ist, ein Gesetz einmal an diesem (außerordentlich nachlässigen), einmal an jenem (außerordentlich strengen) Standard zu messen, als sämtliche Gesetze einem einzigen, gleitend verlaufenden, noch 256

Williamson v. Lee Optical, 348 U.S. 483,487 (1955).

P. Brest, Constitutional Decisionmaking (1. Aufl.), S. 1004 f. (Kap. 10 II A). Vgl. auch D. Ortiz, 41 Stan.L.Rev. 1105, 1149 (1989). 257

258 Vgl. hierzu C. Rau, Grenzen, S. 251 ("schematisch wirkende Zwei- bzw. Dreiteilung", "Alles-oder Nichts-approach").

259 S. Bice, in: U. Karpen (Hrsg. ), Hochschulzugang ( 1978), S. 171, 200. Ebenso D. Ortiz, 41 Stan.L.Rev. 1105, 1149f. (1989); A. Aleinikoff, 96 Ya1e L.J. 943, 962f., 984 ff. ( 1987). 260 Vgl. flir diesen Zusammenhang D. Ortiz, 41 Stan.L.Rev. 1105, 1149 f. ( 1989); W Haller, in: W. Haller u.a. (Hrsg.), FS f. U. Häfelin (1989), S. 79, 85 f.

A. Die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe

145

dazu durchgängig an Kriterien der materiellen Gerechtigkeit orientierten Test zu unteiWerfen. Für eine sachgemäße Beurteilung der - unzweifelhaft der zweiten Kategorie angehörenden - "Neuen Formel" ist zudem zu bedenken, daß die Anforderungen an das Willkürverbot, dessen Bedeutung gerade darin liegt, daß ihm bereits dann entsprochen ist, wenn sich nur ein sachlicher Grund für die Gleich- oder Ungleichbehandlung finden läßt, weder steiger- noch reduzierbar sind. Der Versuch, dem Willkürverbot höhere Anforderungen zu entnehmen, ist damit nichts anderes als die Sprengung des überkommenen Maßstabes bei gleichzeitiger Etablierung eines neuen, mit dem alten begrifflich nicht mehr verbundenen Prinzips.261 Dabei ist nicht zu übersehen, daß "die in Konkretisierungs- und Abwägungsentscheidungen des Gerichts immer stärker hervortretende Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips keine Ermessens- und Gestaltungsbereiche freisetzt, sondern - dem Charakter der Verhältnismäßigkeit als Rechtsprinzip entsprechend - auf die eine richtige, die verschiedenen verfassungsrechtlichen Positionen und Gesichtspunkte angemessen-verhältnismäßig berücksichtigende Lösung abzielt"262 und dadurch "die verfassungsgerichtlichen Entscheidungsspielräume ... erheblich eiWeitert."263 Viel spricht dafür, daß sich damit nicht zuletzt ein Stückweit die der Unterscheidung von Handlungs- und Kontrollnorm innewohnende Tendenz, eine zunächst nur an den Gesetzgeber gerichtete Forderung auchjustiziabel zu machen264, veiWirklicht. All dies wird nur um so deutlicher, wenn man sich die vom BVerfG vollzogene Trendwende in ihrem systematischen Standort vergegenwärtigt. Sie läßt sich, wie ein Beobachter scharfsinnig bemerkt hae65, mit materiell-rechtlichen EIWägungen in der Tat nicht angreifen: Wer wollte eine schärfere inhaltliche Konturierung des Gleichheitssatzes, ein "Mehr an Gerechtigkeit", nicht für wünschenswert halten? Das Potential möglicher Kritik ist damit jedoch keineswegs erschöpft. Die Gretchen-Frage, die die Neue Formel aufwirft ist vielmehr funktionell-rechtlicher Natur: Vermag die Formel auch die Grenze festzulegen, bis zu der "das Bundesverfassungsgericht bei der Kontrolle des Gleichheitssatzes dem Gesetzgeber entgegentreten kann, ohne sich damit Funktionen 261

Vgl. dazu K. Hesse, in: P. Badura IR. Scholz (Hrsg.), FS f. P. Lerche (1993),

s. 121, 128, 130.

262 E.-W Böckenförde, Grundrechtsdogmatik, S. 70 (im Zusammenhang der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte).

263

W Heun, Funktionell-rechtliche Schranken, S. I 0.

Vgl. etwa die Schwierigkeiten, die K. Schlaich, BVerfG, Rdz. 481 damit hat, die "Neue Formel" in sein System von Handlungs- und Kontrollnorm zu integrieren. 264

265

F. Schoch, DVBI. 1988, S. 863, 876 f.

10 Simons

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

anzumaßen, welche nach dem Gewaltenteilungsgrundsatz dem Gesetzgeber zugewiesen sind(?)" 266 Eine Antwort auf diese Frage ist naturgemäß schwierig. Sie muß hier auch nicht gegeben werden. An Bedenkenswertern hält die Aussage gleichwohl einiges bereit: Zunächst einmal die Bestätigung, daß die amerikanische Verfassungsdoktrin, zumindest der "neuen" deutschen Praxis genau entgegengesetzt, ihre Prüfungsmaßstäbe vornehmlich auf funktionell-rechtliche Überlegungen stützt; des weiteren, daß sich aus einer solchen Differenzierung auf ein unterschiedliches Rollenverständnis der Gerichte beider Länder rückschließen läßt. 267 Und schließlich, drittens, die Anregung, den fUr Deutschland gezogenen Schluß von der zupackenden Rechtsprechung bei den Freiheits-Grundrechten auf die Unhaltbarkeit der Willkürformee68 noch einmal zu überdenken: Das amerikanische Verfassungsrecht scheint auf einen extrem durchlässigen (Basis!-)Kontrollmaßstab vom Schlage des mere rationality-Tests jedenfalls nicht verzichten zu wollen. Kann also, anders herum betrachtet, der Umstand, daß "grundlegende Wertungsprobleme bei der Anwendung aller Grundrechtsnormen gelöst werden" müssen269, nicht auch den Gedanken nahelegen, bei allen Grundrechten dem Gesetzgeber gegenüber eine Rücksicht von der durch die Willkür-Formel gewährleisteten Art zu üben?270 Und sollten die Freiheitsrechte (und mit ihnen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz) nicht überhaupt in ähnlicher Weise wie der Gleichheitssatz prädestiniert sein, Kompetenzprobleme in sich aufzunehmen?271 In der praktischen Anwendung könnte dies dazu fUhren, "die getroffene Entscheidung nur da aufzugeben, wo sie mit hoher Wahrscheinlichkeit soviel unbefriedigender ist als die konkurrierend angebotene Alternative, 266

K. Hesse, AöR 109 (1984), S. 174, 185.

Vgl. F. Schoch, DVBI. 1988, S. 863, 876: "Die ... Fragestellung läßt sich dahin zuspitzen, ob das GG mehr als Gesetz und das BVerfG eher als Gericht begriffen werden oder ob dem Verfassungsorgan BVerfG im Konzert der an der Staatsleitung Beteiligten eher die Rolle eines Moderators ... zugewiesen wird." 267

268 So F. Schoch, DVBI. 1988, S. 863, 876 f. Vgl. auch R. Ale.xy, Theorie der Grundrechte, S. 375 f. Zusammenfassend M. Sachs (Hrsg.) I L. Osterloh, GG, Rdz. 12 zu Art. 3. 269 So (mit allerdings umgekehrter Schlußfolgerung) I. v. Münch I P. Kunig (Hrsg.)M Gubelt, GG, Rdz. 16 zu Art. 3. Ebenso F. Schoch, DVBI. 1988, S. 863, 876 f. 270 Nachw. bei E. Klein, in: T. Koopmans (Hrsg.), Equality (1975), S. 69, 80 f. Andeutungen auch bei BVerfGE 90, 145, 200, 203 (Graßhoff, diss.) sowie B.-0. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 330. Wenig überzeugend in der Ablehnung dieser Position P. Schneider, in: E. v. Caemmerer u.a. (Hrsg.), FS f.d. Dt. Juristentag, Bd. II (1960), S. 263, 285 ff. 271 Für die Freiheitsrechte wird diese Frage sehr viel seltener diskutiert. Für eine Ausnahme vgl. F. Ossenbühl, in : W. Erbguth u.a. (Hrsg.), Abwägung im Recht (1996), S. 25, 36 ff.

B. Vermutungen, Darlegungslast, Beweislast und Beweismaß

147

daß sie im Vergleich mit dieser geradezu unhaltbar wird." 272 Dieser "Lösungsschlüssel", dessen Verwendung durch das BVerfG über den Bereich des Gleichheitssatzes hinaus auch "bei allen Verfassungsproblemen gleich schwacher rechtsnormativer Ausformung"273 in Erwägung zu ziehen wäre, fUhrt freilich bereits auf das Feld der Vermutungen, um die es im folgenden Abschnitt geht.

B. Vermutungen, Darlegungslast, Beweislast und Beweismaß Ein weiteres, zumindest theoretisch wichtiges Instrument zur Adjudikation von Verfassungsfragen ist das Mittel der Beweislastverteilung. Vermutungen der Verfassungsmäßigkeit bzw. Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes können fllr eine entsprechende Zuschreibung die Weichen stellen. I. Allgemeines

"Vermutung" und "Beweislast" sind Rechtsinstitute, die ihre Entwicklung sowohl in den USA als auch in Deutschland in erster Linie der Zivilrechtsdogmatik verdanken. Vom BVerfG sowie vom Supreme Court werden sie allerdings in ständiger, wenngleich stiefmütterlicher Praxis auch auf verfassungsrechtliche274 Sachverhalte zur Anwendung gebracht. Das ist fllr den Supreme Court freilich sehr viel weniger bemerkenswert als fllr das BVerfG. Denn zumindest seiner institutionellen Stellung nach ist jener kein spezifischer Verfassungsgerichtshof, sondern ein am Ende der jeweiligen Bundes- bzw. Staatengerichtszüge stehendes höchstes Revisionsgericht Das mag einer der Gründe dafllr sein, daß sich in Supreme Court-Entscheidungen sehr viel häufiger als beim BVerfG Hinweise auf die zentrale Bedeutung prozessualer Aspekte im Bereich der Grundrechte finden. 275 Daß sich damit die Ausgangssituation wesentlich vereinfacht hätte276, läßt sich gleichwohl nicht behaupten.

272

G. Meder, Rechtmäßigkeitsvermutung, S. 62.

273

Ebd., S. 62, FN 83.

Die arnerikanische Praxis kennt nur die Unterscheidung von civi/ und criminal (und nicht etwa public, administrative oder constitutional) actions. Gerade im Beweisrecht besteht zwischen beiden jedoch eine enge Verwandtschaft. Dazu J. Kokott, Beweislast und Prognose, S. 10 mit FN 20. 274

10*

275

Beispielhaft Speiser v. Randall, 357 U.S. 513, 520 f. ( 1958).

276

So aber anscheinend H. Thierfelder, JurAnalysen 1971, S. 879, 879.

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Im folgenden sind zunächst die zivilrechtliehen Fixpunkte der beiden Rechtsordnungen zu markieren, um bei Gelegenheit die verfassungsrechtlichen Besonderheiten herauszustreichen und zu entfalten.

1. Die Rechtslage in den USA 277 a) Beweislast (burden ofproof> Ebenso wie das deutsche nimmt das amerikanische System der Beweislast (burden of proof> im wesentlichen zwei Risikozuweisungen vor: Zum einen auferlegt es einer der im Streit befmdlichen Parteien die Last, mit einem schlüssigen Sachvortrag aufzuwarten (burden of pleading) und dafiir gegebenenfalls Beweis anzubieten (burden of producing evidence oder burden of goingforward), zum anderen bestimmt es, welche der Parteien den Rechtsstreit verliert, wenn weder der vom Kläger noch der vom Beklagten behauptete Geschehensablauf vom Gericht als festgestellt angesehen werden kann ( burden of persuasion). 278 Dabei entspricht die erste Risikozuweisung in etwa unserer subjektiven-, die zweite unserer objektiven Beweislast

aa) Burden ofpleading und burden ofproducing evidence/goingforward Der subjektiven Beweislast (oder Beweisfiihrungslast) ist nach deutschem Recht bereits dann genügt, wenn der Beweisbelastete überhaupt Beweis für seine Behauptung angeboten hat. Das amerikanische Recht stellt hier infolge seiner auf Jury und Gericht verteilten Aufgaben bei der Streitentscheidung279 sehr viel höhere Anforderungen: Der burden of producing evidence kann die mit ihr belastete Partei in einem gewöhnlichen Zivilrechtsstreit nur dann genü277 1.) Die Federal Ru/es of Evidence (F.R.E.), die u.a. Regeln über die Bedeutung (nicht aber das Eingreifen) von Beweislastregeln und die Wirkung (nicht aber das Eingreifen) von Vermutungen enthalten (etwa in Rule 301 F.R.E.), finden trotz des mißverständlichen Wortlauts von Rule 101 und I 101 (a) F.R.E. auch in Verfahren vor dem Supreme Court Anwendung: Die Regeln sind insoweit von Bedeutung als der Supreme Court in seiner Rolle als Revisionsgericht ihre Beachtung durch die Bundesgerichte (nur fUr sie sind die F.R.E. verpflichtend) in den Vorinstanzen überprüft. Inwieweit die Rules fUr den Supreme Court von unmittelbarer Bedeutung sind, ergibt sich aus dem Text. 2.) Die F.R.E. finden, von Ausnahmen (z.B. Rule 302 F.R.E.) abgesehen, vor Bundesgerichten selbst dann Anwendung, wenn nach dem Grundsatz in Erie Railroad Co. v. Tompkins, 304 U.S. 64 (1938) materielles Staatenrecht zur Anwendung kommt. Hierzu und zu der davon abweichenden Situation in den Gerichten der Einzelstaaten vgl. C. Fishman, Evidence, S. 16 ff. (§ I: 10). 278 M. Graham, Evidence, S. 43 f. (§ 301.3); R. Pine, 136 U.Pa.L.Rev. 655, 706 bei FN 227 (1988). Vgl. auch Wards Cove Packing Co., lnc. v. Atonio, 490 U.S. 642, 659 f. ( 1989). 279

Dazu W. Schwering, System der Beweislast, S. 55 ff.

B. Vermutungen, Darlegungslast, Beweislast und Beweismaß

149

gen, wenn die über die Tatsachen entscheidende Instanz, im Regelfall also die Jury, nach dem Urteil eines der beweisbelasteten Partei wohlgesonnenen Betrachters zu einem fiir diesen günstigen Ergebnis kommen könnte. In allen anderen Fällen trifft das Gericht die Entscheidung. Die burden of producing evidence sorgt damit fiir eine funktionale Abgrenzung der Entscheidungs-Zuständigkeit von Jury und Gericht. Es existiert also ein zweigeteilter, einmal auf den Richter (burden of producing evidence), einmal auf die Jury ( burden of persuasion) bezogener Beweislastbegriff?80 Ist die Entscheidung über das Vorliegen bestimmter Tatsachen (wie etwa der später noch bedeutsamen legislative facts) von vorneherein dem Richter vorbehalten281 oder fmdet das Verfahren ohne Jury statt, tritt diese Unterscheidung nicht offen hervor; sie bleibt aber fiir den Fortgang des Prozesses gleichwohl von Bedeutung.282 Grundregel filr die Verteilung der burden of producing evidence in Zivilrechtsstreitigkeiten ist der Satz, daß die subjektive der objektiven Beweislast folgt. 283 Die filr die objektive Beweislast geltende Regel wiederum besagt, daß derjenige die Last des mißglückten Nachweises zu tragen hat, der eine Veränderung des Status Quo anstrebt. 284 Freilich können die beiden das erste Standbein der burden of proof ausmachenden Elemente, also sowohl die Last, ausreichende Tatsachen vorzutragen (burden of pleading) als auch die Last, hierfilr erforderlichenfalls Beweis anzubieten ( burden of producing evidence/going forward), nur in kontradiktorischen, also dem sog. adversary system unterliegenden Verfahren, eine Rolle spielen; im Anwendungsbereich des Untersuchungsgrundsatzes dagegen besteht fiir eine Zuweisung dieser Lasten keine Notwendigkeit. Gerade im Hinblick auf die fiir die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes allein entscheidenden legislative facts filhlen sich amerikanische Gerichte an einen Vortrag der Parteien jedoch nicht gebunden. Sie bedienen sich vielmehr einer eigenartigen Mischform aus Verhandlungs- und Untersuchungsgrundsatl85 , die den Partei280 Vgl. M Graham, Evidence, S. 44; R. Pine, 136 U.Pa.L.Rev. 655, 706, FN 227 ( 1988). AusfUhrlieh dazu W. Schwering, System der Beweislast, S. 64 ff. 281 Vgl. im Hinblick auf die Iegislativefacts R. Keeton, 73 Minn.L.Rev. l , 41 (1988); P. Freund, in: E. Cahn (Hrsg.), Supreme Court (1954), S. 47, 48. 282

W Schwering, System der Beweislast, S. 67.

283

Ebd., S. 69.

284

R. Pine, 136 U.Pa.L.Rev. 655, 706 f. (1988); V. Haak, Normenkontrolle, S. 187.

Hinsichtlich der legislative facts gilt der Verhandlungsgrundsatz des amerikanischen Prozeßrechts (H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, S. 112 (FN 6), 459 ff.; F. Scharpf, Political Question, S. 359; ders., 75 Yale L.J. 517, 527 f. (1966)) allenfalls in modifizierter Form, vgl. J Kokott, Beweislast und Prognose, S. 43. Weiterhin A. Miller I J Barron, 61 Va.L.Rev. 1187, 1233 ff. (1975); K. Karst, 1960 Sup.Ct.Rev. 75, 84, 285

!50

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

en die Verfügungsmacht über den Tatsachenstoff weitgehend entzieht. Zwar auferlegen die Gerichte den Parteien gelegentlich auch hier die Verantwortung für die Beschaffung des entscheidungserheblichen Materials (was für das Verfahren vor dem Supreme Court die Folge haben kann, daß die Klage zurück-286 oder sogar abgewiesen wird), für gewöhnlich aber treffen sie eigene Feststellungen und entscheiden auf dieser Grundlage über den Fall. 287 Bei den sog. adjudicative facts dagegen geht es um Tatsachen, die für die Verfassungsfragen irrelevant sind; obwohl sie streng nach dem Verhandlungsgrundsatz ermittelt werden, sind sie an diesem Punkt daher ohne Interesse. Zusammengefaßt: Der subjektiven Beweislast genügt eine Partei dann, wenn sie Tatsachen von einer Qualität vorträgt, die das mit der Sache befaßte Gericht zu der Überzeugung kommen lassen, die Jury könne zugunsten der belasteten Partei befinden. Diese Überlegung gilt (wenn auch weniger augenfällig) selbst für den Fall, daß es zu einer Entscheidung der Jury gar nicht kommen kann, sei es, daß es sich - wie bei den legislative facts - um Tatsachen handelt, die der Entscheidung durch den Richter vorbehalten sind, sei es, daß das Verfahren von vomeherein ohne Jury stattfmdet. Da im Hinblick auf die für Verfassungsfragen allein maßgeblichen legislative facts der Beibringungsgrundsatz jedoch weitgehend außer Kraft gesetzt ist, spielt insoweit auch die subjektive Beweislast keine Rolle. bb) Burden ofpersuasion Das zur Beweisführungslast Gesagte bedeutet freilich nicht, daß damit auch das für den hier behandelten Zusammenhang wichtigere zweite Element der Beweislast, die burden ofpersuasion, bedeutungslos wäre. In jedem denkbaren Verfahren, egal ob von Verhandlungs- oder Untersuchungsmaxime bestimmt, muß es Regeln für den Fall geben, daß der umstrittene Sachverhalt Fragen offen läßt. Diese Fälle der Nichtaufklärbarkeit bilden das Anwendungsfeld der objektiven Beweislast Im Gegensatz zur subjektiven Beweislast, die sich in Abhängigkeit von der Qualität des gegnerischen Vortrages verschieben kann 288, liegt die objektive Beweislast für die Dauer des Rechtsstreits fest. 289 Damit ist ihre originäre Zu109; A. Chayes, 89 Harv.L.Rev. 1281, 1298 (1976); H. Bikte, 38 Harv.L.Rev. 6, 12 ff. (1924); H. Baade, 23 J. ofPol. 421 , 430 (1961). 286

Vgl. Note, 36 Colum.L.Rev. 283,290 bei FN 38 (1936).

287

Vgl. F. Scharpf, Political Question, S. 359 f. bei FN 189 f. mwN.

288 W. Schwering, System der Beweislast, S. 62, 77 f. Für das deutsche Recht J. Kokott, Beweislast und Prognose, S. 13. 289

W. Schwering, System der Beweislast, S. 62.

B. Vermutungen, Darlegungslast, Beweislast und Beweismaß

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weisung streitentscheidend. Bereits im vorangegangenen Abschnitt wurde die Grundregel der Beweislastverteilung, wonach gewöhnlich den Kläger das Unterliegensrisiko trifft, kurz erwähnt. Beweislastregeln begegnen in der Praxis des Supreme Court in entweder impliziter290 oder ausdrücklicher291 Form. Von Bedeutung ist weiterhin, daß nach amerikanischer Auffassung jede Regel über die Beweislast neben der Zuweisung des Unterliegensrisikos das Beweismaß bestimmt, dem die beweisbelastete Partei zu genügen hat, will sie ein Eingreifen der Beweislastregel zu ihren Ungunsten vermeiden. 292 In einem gewöhnlichen Zivilrechtsstreit ist dies der filr den Nachweisruhrenden günstigste der drei verwendeten Maßstäbe, nämlich die "überwiegende Wahrscheinlichkeit" (preponderance ofthe evidence); geht es dagegen um Verfassungsfragen, wird in der Regel ein wie auch immer gesteigertes Beweismaß verlangt. Bei Eingriffen in "fundamentale" Rechte etwa fordert der Supreme Court einen "klaren und überzeugenden Beweis"; mit bloßen Mutmaßungen, Behauptungen und Spekulationen gibt er sich hier nicht zufrieden? 93 Etwas unübersichtlicher ist die Situation dagegen in dem Fall, daß ein Gesetz unter dem rational basis-Test überprüft wird. Hier ist nicht ganz klar, ob die einfache preponderance of the evidence bereits genügt. In der Regel fordert das Gericht aber auch in diesen Fällen einen klaren Beweis.294 Das Problem ist unter dem losen Prüfungsstandard jedoch nur von geringer Bedeutung. Dem Beweisfiihrer dürfte es in der Regel schon schwer genug fallen, es auch nur als "wahrscheinlich" erscheinen zu lassen, daß ein Gesetz unter "keinem irgendwie denkbaren Umstand" als verfassungsgemäß angesehen werden kann. Die Frage eines eventuell höheren Beweismaßes stellt sich in diesen Fällen daher meist gar nicht. 290 Vgl. Minneapolis Star & Tribune Co. v. Minnesota Commissioner of Revenue, 460 U.S. 575, 585 (1983). 291 Vgl. Lochner v. New York, 198 U.S. 45, 68 (1905) (Harlan, White, Day, diss.); Hobbie v. Unemployment Appeals Commission of Florida, 480 U.S. 136, 141 (1987); Kadrmas v. Dickinson Public Schools, 487 U.S. 450,463 (1988); New York State Club Association, lnc. v. City ofNew York, 487 U.S. I, 17 (1988). 292 M. Graham, Evidence, S. 46 f. ; W Schwering, System der Beweislast, S. 79 f., 83 ff. ; R. Pine, 136 U.Pa.L.Rev. 655, 706 mit FN 227 (1988). Aus der Rspr. In re Winship, 397 U.S. 358, 370 (1970) (Harlan, conc.). 293 Vgl. Addington v. Texas, 441 U.S. 418,425 ff. (1979); Palmer v. Thompson, 403 U.S. 217, 260 (1971) (White, diss.); Healy v. James, 408 U.S. 169, 184, 190 (1972) sowieJ Kokott, Beweislast und Prognose, S. 19 ff., 22, 69; J. Shaman, 35 U.Fla.L.Rev. 236,245 f. (1983); R. Pine, 136 U.Pa.L.Rev. 655,707 f. (1988). 294 Vgl. aus der Rspr. z.B. Pension Benefit Guarantee Corp. v. Gray & Co., 467 U.S. 717, 729 (1984). Weiterhin bereits J. Thayer, 7 Harv.L.Rev. 129, 140 (1893) sowie P. Brest, Constitutional Decisionmaking (I. Aufl.), S. 1008 ff. (Kap. 10 II C).

152

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Im Hinblick auf die Beweislast ist wichtig, daß deren potentieller Anwendungsbereich um so weiter reicht, je höher das geforderte Beweismaß ist. Das folgt daraus, daß die non liquet-Situation, in der eine Beweislastregel in ihre Rechte tritt, sich um so eher ergibt, je höher die dem Beweisführer aufgebürdeten Anforderungen an die Qualität seines Nachweises sind. 295 b) Vennutungen (presumptions) Eine weitere, wesentlich häufiger anzutreffende Kategorie innerhalb des Instrumentariums zur Überwindung tatsächlicher Zweifel bilden die Vennutungen (presumptionl 96). Wiederum geht es zunächst darum, die im Zivilrecht ausgebildete Systematik aufzuzeigen, um bei Gelegenheit auf die Besonderheiten des Verfassungsprozesses hinzuweisen. Bei einer Vennutung handelt es sich um eine Regel, nach der entweder eine Tatsache oder ein Recht als gegeben angesehen wird, sofern die Existenz einer bestimmten Basisvoraussetzung feststeht. Während bei der Rechtsvennutung sämtliche für den Eintritt der Rechtsfolge erforderlichen Umstände als existent vennutet werden, ist es bei der Tatsachenvennutung nur ein einziger. Wichtigster Effekt der Vennutung ist, daß die Beweislast für die umkämpfte(n) Tatsache(n) denjenigen trifft, zu dessen Nachteil die Vennutung besteht. Sie ist demnach ein Rechtssatz, der die Beweislast regelt. Ist die Möglichkeit, den Gegenbeweis zu führen, ausgeschlossen, handelt es sich um eine unwiderlegbare, ansonsten um eine widerlegbare Vennutung.Z97 In Fragen der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes könnte sich eine Vennutung demnach theoretisch auf jedes "Tatbestandsmerkmal" beziehen, das der Supreme Court seiner Kontrolle unterwirft: Die vom Gesetzgeber anvisierten Ziele, die von ihm zu deren Verfolgung eingesetzten Mittel sowie das Verhältnis zwischen ihnen könnten jeweils einzeln oder in ihrer Gesamtheit mit der Vennutung der Verfassungsmäßigkeit bzw. Verfassungswidrigkeit ausgestattet werden. Die Vennutungen,- von denen in der Praxis des Supreme Court die Rede ist, sind jedoch solche sehr viel generellerer Art. Sie beziehen sich auf die Verfas-

.• 295 Addington v. Texas, 441 U.S. 418, 423 (1979). Ein strengeres Maß richterlicher Uberzeugung statuieren die beyond a reasonable doubt- (>95%) bzw. clear and convincing evidence- (>70%) Standards. Nicht einmal die "überwiegende Wahrscheinlichkeit" (>50%) macht eine Regelung der objektiven Beweislast jedoch überflüssig, J. Kokott, Beweislast und Prognose, S. 16 ff. mit FN 40. 296

Zu ihnen allgemein M Graham, Evidence, S. 47 ff. (§§ 301.6 ff.).

297

Dazu Borden's Farm Products Co. v. Baldwin, 293 U.S. 194,209 (1934).

B. Vermutungen, Darlegungslast, Beweislast und Beweismaß

153

sungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes298 im Ganzen. 299 Für gewöhnlich äußert das Gericht also nicht, daß es die Existenz eines bestimmten "Tatbestandsmerkmals" vermute. 300 Aber selbst wenn es erkennen ließe, worauf genau sich die verwendete Vermutung bezieht, wären in ihr doch schwerlich nur Tatsachen (verstanden als dem Beweis zugängliche Umstände), sondern auch Wertungen und prognostische Elemente enthalten. Darüber hinaus ist nicht erkennbar, auf welche Basis-Tatsache sich die Vermutung gründen sollte. Strenggenommen scheinen sich solche Vermutungen daher weder den Tatsachen- noch den Rechtsvermutungen zuordnen zu lassen. 301 All das hat freilich den Supreme Court nicht davon abgehalten, Vermutungen der Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes nicht als "sui generis" sondern wie ganz gewöhnliche Vermutungen zu deklarieren und entsprechend der vom Zivilrecht übernommenen Dogmatik zu behandeln. 302 Diese generöse Praxis legt den Gedanken nahe, daß Vermutungen im Bereich des Verfassungsrechts die gleiche Wirkung entfalten wie solche aus dem Zivilrecht. Dort allerdings war lange umstritten, ob eine Vermutung dem Gegner der von der Vermutung begünstigten Partei nur die Beweisfilhrungs- oder auch die objektive Beweislast aufbürde. 303 Rule 301 F.R.E. hat diesen Streit in ihrem Anwendungsbereich insoweit entschärft, als sie eindeutig festlegt, daß eine Vermutung die ursprüngliche Verteilung der objektiven Beweislast unberührt läßt. Obwohl diese Vorschrift theoretisch auch für den hier erörterten Fall Bedeutung hätte, ist keine Äußerung des Supreme Court, der sich eine Bindung des Gerichts an diese Anordnung entnehmen ließe, bekannt. Eine Auswirkung nur auf die subjektive Beweislast bei einem die Tatsachengrundlage im wesentlichen selbst ermittelnden Gericht wäre freilich auch praktisch bedeutungs298 Die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit wird vom Supreme Court neben Gesetzen auch anderen Hoheitsakten zugesprochen, Pacific States Box & Basket Co. v. White, 296 U.S. 176, 185 f. (1935). 299

Vgl. K. Karst, 1960 Sup.Ct.Rev. 75, 88.

Vgl. zu diesen Fällen Note, 82 Harv.L.Rev. 1065, 1078 ff., 1101 (1969). Aus der Rspr. F.S. Royster Guano Co. v. Virginia, 253 U.S. 412, 420 (1920) (Brandeis, diss.); United States v. Carolene Products Co., 304 U.S. 144, 152 ff. (1938); Goesaert v. Cleary, 335 u.s. 464, 466 f. (1948). 300

301 M Graham, Evidence, S. 49 f. (§ 301.6). Vgl. aber auch J. Kokott, Vermutung und Beweislast, S. 52 ff. Für die vergleichbare Situation im deutschen Recht H WeberGrel/et, Beweislast, S. 53.

302 Vgl. Borden's Farm Products Co. v. Baldwin, 293 U.S. 194, 209 (1934). Ebenso P. Kauper, in: H. Mosler (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit ( 1962), S. 568, 609 f. mwN. Vgl. auch J. Kokott, Beweislast und Prognose, S. 52 ff. 303 Nachw. bei W. Schwering, System der Beweislast, S. 144 ff. ; M Graham, Evidence, S. 47 ff. (§ 301.6).

154

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

los. Damit ist davon auszugehen, daß die Verwendung einer Vermutung durch den Supreme Court zu einer Verschiebung auch der objektiven Beweislast führt. Vermutungen der Verfassungsmäßigkeit und Verfassungswidrigkeit tauchen in der Praxis des Supreme Court in vielfaltiger Formulierung auf, von denen hier nur einige kurz erwähnt werden. Einmal heißt es, ein Gesetz genieße die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit, solange sich Beweise von Befürwortem und Gegnern desselben die Waage hielten.304 Ein anderes Mal- schon etwas ungünstiger für den Bürger - wird formuliert, die Vermutung bestehe so lange, wie es keinen genügenden tatsächlichen Anlaß für das Gegenteil, die Verfassungswidrigkeit also, gebe?05 Besonders stark ist schließlich eine Vermutung der Verfassungsmäßigkeit, die bis zum Nachweis vom Gesetzgeber geübter Willkür Bestand hat. 306 Offenbar spielt bei den verschiedenen Formulierungen auch eine Rolle, welches Beweismaß die Vermutung fordert, welcher Methoden der Tatsachenfeststellung sich das Gericht bediene07 und welchen Prüfstandard es zur Anwendung bringt. In einem späteren Abschnitt wird auf diesen Zusammenhang zurückzukommen sein. Aufflillig ist, daß der Supreme Court in Verfassungsfragen Vermutungen als das maßgebliche Vehikel für die Zuschreibung der Beweislast verwendet. Anders als im Zivilrecht fmdet sich in der Rechtsprechung denn auch keine Grundregel einer verfassungsrechtlichen Beweislast, wohl aber eine GrundVermutung (der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes nämlich). Damit erweisen sich die Vermutungen als der Dreh- und Angelpunkt des verfassungsrechtlichen Beweislast-Konzeptes. Nach alldem kann aber auch nicht zweifelhaft sein, daß es sinnvoll ist, Beweislast und Vermutung trotz ihrer theoretisch klaren Unterscheidbarkeil im folgenden zusammen zu behandeln. 308 Abgesehen von der häufig synonymen Verwendung beider Begriffe stimmen die Instrumente nicht nur in ihrer Wirkungsweise überein, gemeinsam ist ihnen auch die non liquet-Situation, in der sie eingreifen. Demgegenüber fallen konstruktive Unterschiede nicht weiter ins Gewicht.

304

Laure! Hili Cemetery v. San Francisco, 216 U.S. 358,365 f. (1910).

O'Gorman and Young, Inc. v. Hartford Fire Insurance Company, 282 U.S. 249, 257 f. (1931). Dazu Note, 36 Colum.L.Rev. 283, 287 f. (1936). 305

306

Lindsley v. Natural Carbonic Gas Co., 220 U.S. 61,78 f. (1911).

307

Dazu Note, 36 Colum.L.Rev. 283,286 ff., 292 (1936).

308

Ganz in diesem Sinne Note, 31 Colum.L.Rev. 1136, 1136, FN 1 (1931).

B. Vermutungen, Darlegungslast, Beweislast und Beweismaß

155

c) Exkurs: "Tatsachen" und Supreme Court Wie selbstverständlich war bisher von Vermutungen und Beweislast im Hinblick auf das Vorhandensein oder Fehlen bestimmter "Tatsachen" die Rede. Um deren ganz eigene Qualität zu verstehen, muß man sich vor Augen halten, daß die Funktion, die der Supreme Court in den hier untersuchten Fällen ausübt, nicht die eines von ihm prinzipiell zwar ebenfalls in Anspruch genommenen Revisions- sondern eines - freilich nicht besonders institutionalisierten J:. • h . 309 Ver.assungsgenc ts 1st. Diesem Funktionen-Dualismus entsprechend lassen sich zwei verschiedene, nicht immer leicht trennbare310 Kategorien von Tatsachen -jede fiir einen anderen Streitgegenstand von Bedeutung - ausmachen: solche, die die in Frage stehende Rechtsvorschrift auf den konkreten Fall anwendbar erscheinen lassen und solche, die das Urteil über ihre Verfassungsmäßigkeit bestimmen. Anders als Teile der Praxis311 trägt die amerikanische Rechtswissenschaft diesem Phänomen dadurch Rechnung, daß sie sog. adjudicative und legislative facts unterscheidet. 312 Die maßgebliche Beschreibung der jeweiligen Charakteristika von adjudicative und legislative facts stammt von Kenneth Davis. "When a court or an agency finds facts conceming the immediate parties - who did what, where, when, how, and with what motive or intent", faßt Davis zusammen, "the court or agency is performing an adjudicative function, and the facts are conveniently called adjudicative facts. When a court or an agency develops law or policy, it is acting legislatively; ... and the facts which inform the tribunal's legislative judgment are called legislative facts. Stated in other terms, the adjudicative

309 Zu diesem Funktionendualismus F. Scharpf, 15 Yale L.J. 517, 527 ff., 532 (1966); W Loh, Social Research, S. 96, FN 8; G. Kauper, in: H. Mosler (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit ( 1962), S. 568, 572, 577 f. Zur Einbindung von Verfassungsfragen in die "gewöhnliche" Revisionsarbeit vgl. G. Kauper, ebd., S. 616 sowie W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 2, FN 4. 310

Bsp. bei K. Davis, Administrative Law (Suppl.), S. 528 f. (§ 15.03).

Kritisch daher Florida v. Riley, 488 U.S. 445, 465 (1989) (Brennan, diss.); Concemed Citizens of Southem Ohio, Inc. v. Pine Creek Conservancy District, 429 U.S. 651, 657 (1977) (Rehnquist, diss.). Nachw. zur älteren Rspr. bei K. Davis, Administrative Law, S. 361 ff. (§ 15.03), zu den Untergerichten bei R. Pine, 136 U.Pa.L.Rev. 655, 663 f. (1988). 311

312 Zum folgenden K. Karst, 1960 Sup.Ct.Rev. 75, 76 f.; ders., in: L. Levy u.a. (Hrsg.), Encyclopedia, Bd. 3 (1986), S. 1145 f. ("Legislative Facts"); D. Alfange, 114 U.Pa.L.Rev. 637, 639 f. (1966).- Die Differenzierung ist keineswegs nur von theoretischem Interesse: Rule 201 (a) F.R.E. - Gerichtsbekanntheit von Tatsachen- etwa findet nur auf adjudicative facts Anwendung, R. Stern, Appellate Practice, S. 318 f.; J. Kokott, Beweislast und Prognose, S. 43 ff.

156

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

facts are those to which the law is applied in the process of adjudication. They are the facts that nonnally go to a jury in a jury case. They relate to the parties, their activities, their properties, their businesses. Legislative facts are the facts which help the tribunal detennine the content of law and of policy and help the tribunal to exercise its judgment or discretion in detennining what course of action to take. Legislative facts are ordinarily general and do not concem the . d"1ate part1es. . ..313 Imme Der Unterschied zwischen beiden Arten von Tatsachen liegt darin, daß nur letztere das Gericht in die Lage versetzen, sich retrospektiv in die Schuhe des Gesetzgebers zu stellen. Erst sie erlauben ein Urteil über die Verfassungsmäßigkeit seines Vorgehens und nur im Hinblick auf diese Art von Tatsachen ist der Supreme Court in seiner Funktion als Verfassungsgericht gefordert. Wie ohne weiteres einleuchtet, wäre es indes kaum sachgerecht, die Feststellung gerade der Umstände, die Auswirkungen weit über den Kreis der unmittelbar am Streit Beteiligten hinaus zu zeitigen vennögen, dem Beibringungsgrundsatz zu unterwerfen und damit in die ausschließliche Verfiigungsbefugnis der Parteien zu stellen.314 Damit müssen die Gerichte und letztlich auch der Supreme Court nolens-volens selbst in die Rolle der Feststellungsinstanz rükken.m Daß sich die Auflösung dieses impossibilium in Fonn einer großzügigen gerichtlichen "Kenntnisnahme" (judicial notice) auch solcher Tatsachen, die die Parteien (so) nicht vorgetragen haben, kaum mit den sonst geltenden Maximen des amerikanischen Prozeßrechts verträgt, muß dabei nicht weiter interessieren.

2. Die Rechtslage in Deutschland Anders als fiir die USA kann man sich im Hinblick auf die Rechtslage in Deutschland angesichts der bereits angedeuteten Unterschiede und Parallellen 313 K. Davis, Administrative Law, Bd. 2, S. 353 f. (§ 15.03). Ebenso ders., 55 Harv.L.Rev. 364, 402 ff. (1942). -Der beschriebenen Charakteristika wegen sprechen P. Brest, Constitutional Decisionmaking (1. Aufl.), S. 938 ff. (Kap. 811) und J. Shaman, 35 U.Fia.L.Rev. 236, 236 (1983) anstatt von legislative anschaulich von constitutionalfacts.

314 Vgl. H. Baade, 23 J. of Pol. 421, 428 f. (1961 ). Aus deutscher Perspektive Berichterstatter-Bericht, JöR 6 (1957), S. 120, 123; E. Benda / E. Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rdz. 204 (§ 13 I 1); H. Seiter, in: W. Grunsky u.a. (Hrsg.), FS f. F. Baur (1981), s. 573,589. 315 Überblick bei Note, 36 Colum.L.Rev. 283, 285 ff. (1936). Für die deutsche Perspektive H. Seiter, in: W. Grunsky (Hrsg.), FS f. F. Baur (1981), S. 573, 575, 591 f. Vgl. aber auch F. Scharpf, 75 Yale L.J. 517, 528 f. (1966) sowie Baker v. Carr, 369

u.s. 186, 204 (1962).

B. Vermutungen, Darlegungslast, Beweislast und Beweismaß

157

sowie einer sehr viel übersichtlicheren Ausgangslage mit einigen knappen Bemerkungen begnügen. Dabei ergibt sich zunächst, daß die Beweisführungslast auch im bundesverfassungsgerichtliehen Verfahren, hier freilich schon de lege lata, bedeutungslos ist. Denn anders als ein Revisionsgericht hat das BVerfG eine aus seiner Funktionsbestimmung resultierende, in § 26 BVerfGG näher beschriebene Kompetenz zur Tatsachenermittlung.316 Diese Vorschrift, nach der es das BVerfG selbst ist, das "den zur Erforschung der Wahrheit erforderlichen Beweis" erhebt317, hat mit der Etablierung des Untersuchungsgrundsatzes das Problem der Beweisführungslast erledigt: In seinem Anwendungsbereich kann es schon qua definitione keine Rolle spielen.318 Infolge der klaren institutionellen Trennung des BVerfG von den ordentlichen Gerichten sowie der ausdrücklichen Normierung des Untersuchungsgrundsatzes ist die deutsche Praxis aber auch vom Zwang der das Geschäft des Supreme Court erst plausibel machenden Unterscheidung legislativer und adjudikativer Tatsachen befreit. Obwohl die Begriffe auch in der deutschen Doktrin gelegentlich Erwähnung finden 319, macht ihre Unterscheidung hier schon deshalb wenig Sinn, weil sich das BVerfG als ein spezialisiertes Verfassungsgericht des "konzentrierten" Typs ohnehin nur mit den legislative facts, also den für die Entscheidung einer Verfassungsfrage maßgeblichen Umständen befaßt.320 Jede Form adjudikativer Tatsachen ist für diesen Spruchkörper ohne Interesse. Auch in einer vom Untersuchungsgrundsatz bestimmten Verfahrensordnung ist es freilich ein vertrautes Phänomen, daß die ermittelte Tatsachengrundlage 316 Dazu K. Enge/mann, Prozeßgrundsätze, S. 55 f. Vgl. auch H Lechner I R. Zuck, BVerfGG, Rdz. I zu§ 26. 317 W Geiger, Verfassungsgerichtlicher Prozeß, S. 22: "(Das BVerfG) selbst und allein bestimmt, was es sich im Wege einer Beweisaufnahme beschaffen will." 318 Gleich doppelt mißverständlich daher BVerfGE 1, 299, 316, weil das verfassungsgerichtliche Verfahren 1.) nicht "nach der Offizialmaxime" (sondern dem Untersuchungsgrundsatz) gefilhrt wird (ebenso unzutreffend daher BVerfGE 48, 127, 203 (Hirsch, diss.)) und 2.) auch nicht "keine Regeln über die Beweislast" kennt: Der Untersuchungsgrundsatzmacht nur die subjektive (nicht aber die objektive) Beweislast obsolet. Zutreffend G. Zöbeley , in: D. Umbach I T. Clemens (Hrsg.), BVerfGG, Rdz. 2 zu § 26; A. Rinken, in: AK-GG, Rdz. 28 zu Art. 94. 319 J. Kokott, Beweislast und Prognose, S. 40 ff.; K. J. Philippi, Tatsachenfeststellung, S. 6 ff., insbes. S. 7.

320 (Nur) das meint § 81 BVerfGG. Vgl. auch BVerfGE 18, 186, 192 und dazu H Weber-Grelle!, Beweislast, S. 22 ff. -Praktische Bedeutung kann die Unterscheidung in den Fällen erlangen, in denen sich ein "Fachgericht" mit der Verfassungsmäßigkeit einer entscheidungserheblichen Norm befaßt.

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

ein eindeutiges Urteil nicht gestattet. Theoretisch nicht weniger bedeutsam als filr das amerikanische ist daher filr das deutsche Recht eine Regelung der objektiven Beweislast.321 Allerdings ist hier zu beobachten, daß sich das BVerfG kaum einmal zu der Frage der von ihm filr angemessen erachteten Beweislastverteilung, geschweige denn der dieser zugrunde liegenden umfassenden Ordnung hat vernehmen lassen. Von den wenigen Bruchstücken sowie den Gründen filr diesen schmalen Befund wird später noch die Rede sein. Im Hinblick auf das Beweismaß, von dem, wie gesehen, die Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer non-liquet-Situation und damit die theoretische Reichweite einer Beweislastregel entscheidend abhängt, geht das deutsche Recht im Prinzip vom Grundsatz der vollen richterlichen Überzeugung, einer sehr strengen Anforderung also, aus. 322 Allerdings ist nicht zu übersehen, daß gerade in und um diesen Bereich herum eine nicht anders als babylonisch zu nennende Verwirrung323 herrscht: Erwähnt das BVerfG etwa, es werde die Überlegungen des Gesetzgebers respektieren, solange sie nur "vertretbar"324 oder sogar "nicht eindeutig widerlegbar oder offensichtlich fehlsam" 325 seien, wie dies im Mitbestimmunfsurteil geschehen ise 26, so ist dies den einen eine Regelung der "Beweis-"32 , den anderen eine solche der "Argumentationslast"328; wieder andere wollen hierin eine Festlegung des Beweismaßes oder eine Mischung aus alldem auf der Ebene der Wertungen sehen.329 Mehr spricht jedoch dafilr, daß es bei solchen Äußerungen um den Grad der vom BVerfG für nötig gehaltenen Tatbestandsausfüllung und damit letztlich,

321

Für viele E. Benda I E. Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rdz. 217 (§ 13 II).

J. Kokott, Beweislast und Prognose, S. 16 ff. (fllr Modifikationen im Bereich der Prognosen ebd., S. 30 ff., 34); E. Benda I E. Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rdz. 207 (§ 13 I 1), 217 (§ 13 II); F. Klein, in: T. Maunz I B. Schmidt-Bleibtreu I F. Klein, BVerfGG, Anm. 9 zu§ 26. Vgl. auch BVerfGE 1, 299,316. 322

323

Ebenso H. Weber-Grel/et, Beweis1ast, S. 19 f.

324

Etwa BVerfGE 25, 1, 12 f., 17; 30,250, 263; 39,210, 225; 50,290,333 f.

325

BVerfGE 24,367, 410; 30,292, 317; 37, 1, 20; 40, 196,223.

BVerfGE 50, 290, 333. Dazu auch D. Lorenz, in: C. Starck I K. Stern (Hrsg.), in: Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Bd. III (1983), S. 193, 216 f. 326

327 So vor allem M Krie/e, NJW 1976, S. 777, 781; ders., in: J. Isensee I P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. StaatsR, Bd. V (1992), S. 123 ff. (§ 110, Rdz. 44 ff.). 328 H. Weber-Grellet, Beweislast, S. 19, 55 ff.; E.-W. Fuss, JZ 1959, S. 329, 331. Zusammenfassend R. Dechsling, Verhältnismäßigkeitsgebot, S. 28 f. - Nach der hier vertretenen Ansicht hat der Begriff keinen über die bereits vom Zivilrecht bekannten Termini und Implikationen hinausweisenden Erkenntniswert 329

Vgl. J. Kokott, Beweislast und Prognose, S. 47 ff.

B. Vermutungen, Darlegungslast, Beweislast und Beweismaß

159

komplementär dazu, um die Intensität geht, mit der das Gericht die seinem Urteil über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zugrunde liegenden Tatsachen und Prognosen überprüft. 330 Ist das richtig, handelt es sich bei "Inhalts-", "Evidenz-" und "Vertretbarkeitskontrolle" freilich nur um Synonyme für das jeweilige Maß der - hier an anderer Stelle behandelten - materiellen Kontrolldichte. Die Aufgabe, in der Rechtsprechung des BVerfG selbst Aussagen über das für erforderlich gehaltene Beweismaß aufzuspüren, macht das nicht unbedingt leichter. Zumindest theoretisch ist auch für das deutsche Verfassungsrecht anerkannt, daß die Funktion von Beweislastregeln materiell-rechtliche Vermutungen übernehmen können. 331 Und ebenso wie beim Supreme Court, wenngleich quantitativ ungleich schwächer ausgeprägt, läßt sich auch in der Praxis des BVerfG ein Operieren mit einem Vermutungsbegriff feststellen. 332 Genauerer Untersuchung bedarf indes die Frage, ob Bezugspunkt einer solchen Vermutung ausschließlich Tatsachen oder auch juristische Bewertungen und Rechtsansichten sind, ob also der Vermutungs-Eegriff allein in seiner vom Zivilrecht vertrauten und in den USA favorisierten Gestalt als Beweislast-333 oder aber als Interpretationsregel Verwendung findet. Weitgehend Einigkeit besteht zumindest insoweit, als sich die als Gegenstand solcher Vermutungen dienenden legislativen Tatsachen wegen ihrer erschwerten Beweisbarkeit nicht ohne weiteres in das vertraute Schema der Vermutungsobjekte einordnen las334 sen. Von einer Vermutung "sui generis" oder dergleichen hat das BVerfG, ebenso wie der Supreme Court, ausdrücklich gleichwohl nie gesprochen.

330 Zur Verdeutlichung: Die im vorangegangenen Abschnitt erwähnten Prüfungsmaßstäbe stellen bestimmte materielle Anforderungen ("Geeignetheit", "enge MittelZweck-Beziehung", "überragend wichtiges Ziel" etc.) an ein Gesetz. Deren Vorliegen zu ermitteln, kann sich das Gericht verschieden intensiver Methoden bedienen (,,Prüfungsdichte"). Eine davon zu unterscheidende Frage ist, wie deutlich die genannten Anforderungen hervortreten müssen ("nicht offensichtlich fehlsam", "vertretbar" etc.), damit das Gericht sie akzeptieren kann (,,Beweismaß"). Erst wenn das Gericht eine Anforderung unter diesen Umständen nicht als bewiesen ansieht, greift die Beweislastregel ein. Vgl. K. J. Philippi, Tatsachenfeststellung, S. 187 f. 331

Vgl. nur E. Benda I E. Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rdz. 219 (§ 13 II).

332

Etwa in BVerfGE 2, 266, 282.

Für eine mögliche Ausnahme i.S. einer Interpretationsregel vgl. P. Brest, Constitutional Decisionmaking (I. Aufl.), S. I 008 (vor Kap.l 0 II C). 333

334 R. Dubischar, JuS 1971, S. 385, 388. A.A aber G. Meder, Rechtmäßigkeitsvermutung, S. 33 ff.

160

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

II. Vermutungenlpresumptions und Beweislast/burden ojproof in der Praxis von BVerfG und Supreme Court 1. Die Rechtslage in den USA

a) Dogmatische Ausgestaltung Die denkbar einfachste Regelung der Beweislast wäre zweifellos die, das Risiko der Unerweislichkeit einer Tatsache immer dieser oder immer jener Partei aufzuerlegen. Der vom amerikanischen Zivilrechtsstreit bekannte Grundsatz, nach dem stets den Kläger als die auf eine Veränderung des status quo dringende Partei die Nachweispflicht trifft, ist dafür ein Beispiel. Ungeachtet des Umstandes, daß auch Verfassungsfragen in den USA im Prinzip im Rahmen einfacher Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten behandelt werden335 , ist ein solcher Grundsatz gleichwohl nie herrschende Gerichtspraxis geworden. Seine Realisierung scheitert schon daran, daß im inzident geführten Normenkontrollverfahren prima facie unvorhersehbar ist, auf der Seite welcher Partei sich das vermeintlich verfassungswidrige Gesetz zeigt; spezifisch verfassungsrechtliche Belange blieben also vollkommen außer Betracht. Ein anderer Grundsatz kaum minderer Simplizität wäre damit freilich immer noch denkbar336, nämlich der, in Fragen eines möglichen Grundrechtsverstoßes ausnahmslos die Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit des Gesetzes zu vermuten. Zumindest überschlägig betrachtet stehen freilich auch dieser Regel kaum überwindliehe Hindernisse im Wege: Zu unterschiedlich scheinen die denkbaren Fallsituationen, die auf dem Spiel stehenden Interessen und die den verschiedenen Konstellationen zugrunde liegenden rechtspolitischen Überlegungen. Um so erstaunlicher ist es, daß sich in der Rechtsprechung des Supreme Court Phasen nachweisen lassen, in denen das Gericht Zweifel über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes unter Anwendung einer einzigen Beweislastregel zu lösen vermochte - oder zumindest vorgab, dies zu tun. Diese Regel besagte, daß ein jeglicher Hoheitsakt mit der Vermutung seiner Verfassungsmäßigkeit ausgestattet sei, sofern er nur nicht ein ausdrücklich geschütztes 335 Dem betroffenen Hoheitsträger gestatten die Gerichte jedoch in aller Regel, einen sog. amicus brief(dazu P. Heidenberger, RIW 1996, S. 918 f.) zu verfassen oder sogar an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Dazu R. 36 Sup.Ct.Rules sowie R. Stern u.a., Supreme Court Practice, S. 568 ff. (13.13); F. Scharpf, 75 Yale L.J. 517, 527 (1966). Aus der Praxis Regents v. Bakke, 438 U.S. 265,316 f., 321 ff. (1978); San Antonio School District v. Rodriguez, 411 U.S. 1, 56 f., FN 111 ( 1973 ). 336 Vgl. Florida v. Riley, 488 U.S. 445, 465 f. (1989) (Brennan, diss.). Ähnlich R. Carp I R. Stidham, Federal Courts, S. 55; J. Barron I T. Dienes, Constitutional Law, S. 25 (Kap. I C 2).

B. Vermutungen, Darlegungslast, Beweislast und Beweismaß

161

Verfassungsrecht betraf.337 Im Ergebnis hätte dies dazu fiihren müssen, daß im Zweifelsfall stets der im Gesetz zum Ausdruck gebrachte Wille des Kongress bzw. der jeweiligen Staatengesetzgeber zu respektieren gewesen wäre. Tatsächlich legen einige forsche Bemerkungen des Gerichts eine durchgängige Praxis dieses Inhalts gelegentlich nahe: "This Court, by an unbroken line of decisions from Chief Justice Marshall to the present day" bemerkte das Gericht etwa bereits in der Entscheidung "Adkins v. Children's Hospital" aus dem Jahr 1923, "has steadily adhered to the rule that every possible presumption is in favor of the validity of an act of Congress until overcome beyond rational doubt." 338 Daran ist richtig, daß es in der Tat bereits Marshall war, der den Gedanken einer durchgehenden Vermutung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen formuliert hatte. 339 Mit deren faktischer Wirksamkeit war es freilich nicht immer weit her. Schon zu Zeiten ihrer Anwendung gelegentlich kaum mehr als ein Lippenbekenntnis340, ist der klare Grundsatz der Sache nach vielmehr immer weiter durchlöchert worden. Die erste Ausnahme von der Regel findet sich in der economic due processDoktrin vom Beginn dieses Jahrhunderts. Gelang es dem Kläger zu zeigen, daß es in dem umstrittenen Gesetz um seine Vertragsfreiheit ging, konnte von einer vermuteten Verfassungsmäßigkeit keine Rede mehr sein. Das angegriffene Gesetz hatte in diesem Fall vielmehr die Vermutung der Verfassungswidrigkeit gegen sich: "An interference with this liberty so serious as that now under consideration, and so disturbing of equality of right", erklärte der Supreme Court, "must be deemed tobe arbitrary, unless it be supportable as a reasonable exer337 Vgl. Ogden v. Saunders, 25 U.S. (12 Wheat.) 213, 270 (1827) (Washington); Legal-Tender Cases, 79 U.S. (12 Wall.) 457, 531 (1870); Sinking-Fund Cases, 99 U.S. 700, 718 (1878); The PipeLine Cases, 234 U.S., 548, 575 (1914) (McKenna, diss.). Ähnlich kategorisch O'Gorman and Young, lnc. v. Hartford Fire Insurance Co., 282 U.S. 249, 257 f. (1931); Hardware Dealers Mutual Fir Insurance Co. v. Glidden Co., 284 U.S. 151, 158 (1931); Alaska Packers Assn. v. Industrial Accident Commission of California, 294 U.S. 532, 543 (1935); Metropolitan Casualty Ins. Co. v. Brownell, 294 U.S. 580, 584 (1935); Pacific States Box & Basket Co. v. White, 296 U.S. 176, 185 (1935); Parharn v. Hughes, 441 U.S. 347,351 (1979). 338

Adkins v. Children's Hospital, 261, U.S. 525,544 (1923).

Trustees of Dartmouth College v. Woodward, 4 U.S. (4 Wheat.) 463, 483 (1819). Vgl. auch Fleteher v. Peck, 2 U.S. (6 Cranch) 328,331 (1810). 339

340 Vgl. etwa Coppage v. Kansas, 236 U.S. 1, 14 (1915); Adkins v. Children's Hospital, 261 U. S. 525, 527 gegenüber 544 ( 1923 ); Concordia Fire lnsurance Co. v. Illinois, 292 U.S. 535, 558 (1934) (Cardozo, diss.). Siehe weiterhin Note, 31 Colum.L.Rev. 1136, 1137 mit FN 6 (1931); W. Hurst, in: E. Cahn (Hrsg.), Supreme Court (1954), S. 140, 156; E. Wolf, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 212 f.

II Simons

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

eise of the police power of the State ... Freedom of contract is ... the general rule and restraint the exception."341 Trotz des Rückzuges des Supreme Court von der economic due processRechtsprechung342 ist der Grundsatz von einst, also die generelle Vermutung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, gleichwohl nicht wieder wirksam geworden; der Sache nach hat er sich vielmehr weiter verwässert. Die vormals bevorzugt geschützte Vertragsfreiheit ist nur anderen Rechten gewichen. Heutzutage etwa weigert sich der Supreme Court, Gesetze, die in sogenannte

preferred rights eingreifen, mit einer für ihre Wirksamkeit streitenden Vermu-

tung auszustatten - wenn er sie nicht sogar mit dem Stigma vermuteter Verfassungswidrigkeit versieht. Zu den davon betroffenen, als fundamental bezeichneten Rechten zählt das Gericht alle diejenigen Positionen, vor die es schützend auch seinen strengen Prüfungsstandard aufbaut, also etwa die im 1. Amend343 . Fre ihetten. . ment genannten k ommun ikatlven Berühmt gemacht hat den Gedanken einer Verbindung von bevorzugtem Grundrecht und Schutz bietender Vermutung Justice Stone in der Entscheidung "United States v. Carolene Products Co." aus dem Jahr 1938, die mit ihrer Fußnote 4 die bekannteste Anmerkung der amerikanischen Verfassungsgeschichte bereithält. Dabei war die Entscheidung selbst (in der es um die Zulässigkeit eines Handelsverbotes für ein vom Bundesgesetzgeber als ungesund angesehenes Milchprodukt ging) von eher untergeordneter Bedeutung, referierte sie doch im wesentlichen nur noch einmal, was nach dem kurz zuvor erfolgten Abschied von der economic due process-Ära bereits gesicherter Bestand der amerikanischen Rechtspraxis geworden war: "The existence of facts supporting the legislative judgment is to be presumed, for regulatory legislation affecting ordinary commercial transactions is not to be pronounced unconstitutional unless ... 341 Adkins v. Children's Hospital, 261 U.S. 525, 546 (1923). Vgl. auch Lochner v. New York, 198 U.S. 45, 68 (1905) (Harlan, White, Day, diss.). Abweichend im Hinblick auf diese Entscheidung aber H. Bik/e, 38 Harv.L.Rev. 6, 8, FN 4 (1924). 342 Für die damit einhergehenden Konsequenzen im Hinblick auf die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit vgl. Nebbia v. New York, 291 U.S. 502, 537 f. (1934); West Coast Hotel Co. v. Parrish, 300 U.S. 379, 397 f. (1937); City ofNew Orleans v. Dukes, 427 U.S. 297, 303 (1976). Zusammenfassung der heutigen Praxis in Kadrmas v. Dickinsan Public Schools, 487 U.S. 450, 462 f. (1988). 343 Vgl. etwa Near v. Minnesota, 283 U.S. 697 (1931); Tinker v. Des Moines Independent Community School District, 393 U.S. 503, 509, 511 (1969). Aus der Literatur W. Haller, Supreme Court und Politik, S. 40; H. Hausheer, Rechtsgleichheit, S. 29 f.; P. Kauper, in: H. Mosler (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit (1962), S. 568, 619 f. Abriß der preferred rights-Rechtsprechung in Kovacs v. Cooper, 336 U.S. 77, 90 ff. (1949) (Frankfurter, conc.). Theoretische Grundlegung bei C. Black, People and the Court, S. 215 ff. Zusammenfassend C. Stalder, Preferred Freedoms, S. 90 f., 97 f.

B. Vermutungen, Darlegungslast, Beweislast und Beweismaß

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it is of such a character as to preclude the assumption that it rests on some rational basis within the knowledge and experience ofthe legislators."344 Ohne daß die Entscheidung selbst dies nahegelegt hätte, kam Stone dann jedoch auf Fälle zu sprechen, fiir die nach seiner Ansicht eine andere Vermutungsregel eingreifen könnte. Dazu zählte er in einem ersten Absatz der Fußnote - noch relativ unspektakulär - alle Gesetze, die ein in den ersten zehn Verfassungszusätzen genau spezifiziertes Recht zum Gegenstand haben. Interessanter sind denn auch die in den später außerordentlich wirksam gewordenen Absätzen 2 und 3 genannten Fälle, tur die Stone eine genau identische Rechtsfolge vorsah. Sie betrafen einerseits Störungen des demokratischen Prozesses, andererseits diskriminierende Benachteiligungen "isolierter Minderheiten". Ohne den damit einhergehenden lmplikationen an dieser Stelle weiter nachzugehen, wird doch deutlich, daß auf diese Weise eine tiefe Bresche in die vormals so einheitliche Vermutungsregel geschlagen wurde. Diese Abweichungen von der eindeutigen Ausgangsregel zugunsten des Gesetzes sind freilich auch im Supreme Court selbst nicht ohne Kritik geblieben. Sie spiegelt sich in der Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit - einer der nach Stone "bevorzugten Freiheiten" - besonders gut wieder. Dabei hat vor allem der Umstand, daß das Gericht hier sehr schnell bereit war, den Grundrechtsträger von der Beweislast zu befreien345, Anstoß erregt. Einmal mehr sind bei Justice Frankfurter, dem großen Verfechter richterlicher Zurückhaltung, die insoweit eindrucksvollsten Worte hören: "My brother Reed", mahnte er in "Kovacs v. Cooper" an den Sprecher der Gerichtsmehrheit gewandt, "speaks of 'the preferred position of freedom of speech' ... This is a phrase that has uncritically crept into some recent opinions of this Court. I deem it a mischievous phrase, if it carries the thought ... that any law touching communication is infected with presumptive invalidity. It is not the frrst time in the history of constitutional adjudication that such a doctrinaire attitude has disregarded the admonition most to be observed in exercising the Court's reviewing power over legislation, 'that it is a constitution we are expounding' ." 346

344 United States v. Carolene Products Co., 304 U.S. 144, 152 (1938). Zum weiteren Schicksal des Filled Milk Act vgl. G. Gunther, Constitutional Law, S. 457, FN 1. 345 Vgl. Herndon v. Lowry, 301 U.S. 242, 258 (1937); Schneider v. State, 308 U.S. 147, 161 (1939); Sweezy v. New Hampshire, 354 U.S. 234,265 (1957) (Frankfurter, conc.); N.A.A.C.P. v. Alabama, 357 U.S. 449,464 (1958); Talley v. California, 362 U.S. 60, 66 (1960) (Harlan, conc.); Minneapolis Star & Tribune Co. v. Minnesota Commissioner of Revenue, 460 U.S. 575, 585 (1983); Clark v. Community for Creative Non-Violence, 468 U.S. 288,293 bei FN 5 (1984). 346

!!•

Kovacs v. Cooper, 336 U.S. 77, 90 (1949) (Frankfurter, conc.).

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Von derlei Kritik hat sich der Supreme Court indes letztlich kaum beeindrucken lassen. Ein gewisser Wandel in der Praxis ist nur insoweit festzustellen, als die zunächst vom Gericht vermutete Verfassungswidrigkeil47 , von der Frankfurter sprach, gelegentlich einer bloßen Nicht-Anwendung des Grundsatzes vermuteter Verfassungsmäßigkeit weichen mußte. 348 Der Bedeutung, die die im 1. Amendment genannten Rechte in der Einschätzung des Supreme Court genießen, hat dies freilich keinen Abbruch getan. Sie macht sich etwa darin bemerkbar, daß das Gericht die Beweislast filr ein Fehlen weniger einschneidender Mittel unter der overbreadth- bzw. less drastic means-Doktrin ebenfalls dem Hoheitsträger auferlegt (anstatt den Nachweis ihres Bestehen dem Bürger).349 Wie später noch genauer zu sehen sein wird, unterfallen dem strengen Prüfungsmaßstab aber nicht nur die erwähnten kommunikativen Freiheiten des I. Amendment und die im Rahmen von due process und equal protection geschützten "fundamentalen" Rechte350 sondern auch alle "verdächtigen", insbesondere rassischen Klassifizierungen im Bereich des Gleichheitssatzes. Auch hier ist zu beobachten, daß die Zuschreibung einer Vermutung (in diesem Fall diejenige der Verfassungswidrigkeit) bzw. die Verteilung der Beweislast (hier zu Lasten des Gesetzgebers) parallel zur Gruppierung unter die Prüfungsmaßstäbe erfolgt. 351 Abschließend sind noch kurz die Fälle zu erwähnen, in denen der Supreme Court einen mittleren Prüfungsstandard anwendet. Typisches Beispiel dafilr sind gesetzliche Regelungen, die nach der Geschlechtszugehörigkeit differenzieren. "Mississippi University for Women" etwa hatte ein Gesetz des Staates Mississippi zum Gegenstand, das die Aufnahme von Männem an einer Schule filr Kinder"mädchen" auch bei gleicher Qualiftkation untersagte. Nachdem das 347

Vgl. Thomas v. Collins, 323 U.S. 516,529 f. (1945).

K. Karst, 1960 Supr.Ct.Rev. 75, 87 bei FN 44; D. Alfange, 114 U.Pa.L.Rev. 637, 658 f. (1966). Vgl. aber Pittsburgh Press Co. v. Pittsburgh Commission on Human Relations, 413 U.S. 376,396 (1973) (Burger, diss.). 348

349 Schneider v. State, 308 U.S. 147, 162 f. (1939); Thomhill v. Alabama, 310 U.S. 88, 98 (1940); Talley v. Califomia, 362 U.S. 60, 66 f. (1960) (Harlan, conc.); Sherbert v. Vemer, 374 U.S. 398, 407 (1963). 350 Vgl. Roe v. Wade, 410 U.S. 113, 156 (1973). Ähnlich Skinner v. Oklahoma, 316 U.S. 535, 544 (1942) (Stone, conc.); Kramer v. Union Free School District No. 15, 395 U.S. 627 f. (1969). Vgl. auch L. Tribe, zitiert bei W Lockhart u.a., Constitutional Law, S. 502 (Kap. 7,2). 351 Vgl. Alexander v. Louisiana, 405 U.S. 625, 631 f. (1972); City ofNew Orleans v. Dukes, 427 U.S. 297, 303 (1976); Carey v. Population Service International, 431 U.S. 678, 701 f. (1977); Harris v. McRae, 448 U.S. 297,312 (1980); Mobile v. Bolden, 446 U.S. 55, 76 (1980). Deutlich auch Note, 82 Harv.L.Rev. 1065, 1101 (1969).

B. Vermutungen, Darlegungslast, Beweislast und Beweismaß

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Gericht betont hatte, der Gleichheitssatz fmde auf Männer und Frauen gleichennaßen Anwendung, fonnulierte es den Prüfungsmaßstab wie folgt: "The party seeking to uphold a statute that classifies individuals on the basis of their gender must carry the burden of showing an exceedingly persuasive justification for the classification. The burden is met only by showing at least that the classification serves important governmental objectives and that the discriminatory means employed are substantially related to the achievement of those objectives."352 Auch wenn das Gericht hier nicht ausdrücklich von einer Vermutung der Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung sprach, machte es doch hinreichend deutlich, daß auch in diesen Fällen die Beweislast für die vom Prüfungsmaßstab etablierten Anforderungen nicht beim Betroffenen sondern bei dem Hoheitsträger, aus dessen Bereich die umstrittene Regelung stammt, liegen soll. Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß die Beweislast in puncto Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes als Folge einer prinzipiell allumfassenden presumption of constitutionality demjenigen zugewiesen ist, der diese in Frage stellt. Dieser Grundsatz fmdet jedoch keine Anwendung oder wird sogar umgekehrt, wenn das angegriffene Gesetz eine "verdächtige" Klassifizierung vornimmt oder in Rechte eingreift, die der Supreme Court als "bevorrechtigt" bezeichnet.353 Dasselbe gilt ftlr gewöhnlich dann, wenn es um vom mittleren Prüfstandard geschützte Positionen geht. Im Ergebnis kommt die Vennutung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes damit nur in den (allerdings überaus zahlreichen) Fällen zum Tragen, in denen der Gesetzgeber Regelungen sozialen oder allgemein-wirtschaftlichen Inhalts verabschiedet. Hier gilt dann freilich auch eine besonders starke Vennutung, die nur mit klaren Beweisen und deshalb nicht durch die bloße preponderance ofthe evidence zu überwinden ist. 354 Vom Ergebnis her gesehen ist die Einschätzung deshalb nicht unbegründet, daß die Vennutung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes in ihrem Anwendungsbereich praktisch zur Unwiderlegbarkeit erstarkt.355 Ebenfalls erhebliche Anforderungen an die Qualität des Beweises - nun freilich nicht an die Adresse des Betroffenen sondern letztlich des Hoheitsträgers gerichtet - werden zur Rechtfertigung eines Eingriffes in eine preferred

352

Mississippi University for Women v. Hogan, 458 U.S. 718, 724 (1981).

Zusammenfassend K. Loewenstein, Verfassungsrecht, S. 433 f.; W Loh, Social Research, S. 93 ff. Vgl. auch W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S.59(FN33), 170(FN31). 353

354

P. Brest, Constitutional Decisionmaking (I. Aufl.), S. 1008 (Kap. 10 II B a.E.).

So J Shaman, 35 U.Fia.L.Rev. 236, 247 (1983). Vgl. auch H. Baade, 23 J. of Pol. 421,429 (1961). 355

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

positionoder bei Klassifizierungen nach "verdächtigen" Kriterien gestellt. Auf diese Weise ergibt sich eine besonders starke Vermutung der Verfassungswidrigkeit, die ihrerseits ebenfalls kaum widerlegbar ist. 356 Es gibt demnach nicht die Vermutung schlechthin, sondern nur eine Vermutung, die einmal fiir, ein anderes Mal gegen die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes streitet. 357 Beide Erscheinungsformen sind in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich besonders stark ausgestaltet. Dabei ist im Hinblick auf die Zuordnung der verschiedenen Fälle zu den einzelnen Vermutungen eine Orientierung an den jeweils zur Anwendung gebrachten Prüfungsmaßstäben unübersehbar: Während der mere rationa/ity-Standard regelmäßig mit einer Vermutung der Verfassungsmäßigkeil der umstrittenen Regelung verknüpft wird, ist zugleich eine Tendenz erkennbar, jeder Form qualitativ gesteigerter Verfassungsprüfung eine fiir den Gesetzgeber strengere Vermutung bis hin zu derjenigen der Verfassungswidrigkeit beizugeben. b) Praktische Bedeutung Gemeinhin gelten Beweislastregeln als eine Species von Rechtssätzen, die im Bereich gerichtlicher Streitentscheidung praktisch unverzichtet ist. Die Annahme liegt demnach nicht fern, daß dies im Hinblick auf den Verfassungsprozeß mitsamt den dort verwendeten Vermutungen nicht anders ist. Eine genaue Untersuchung stützt diese Hypothese allerdings nicht. Nur allzu oft gelangen die vom Supreme Court verwendeten presumptions über die Bedeutung bloß scheppemder "rhethorica/ devices" 358 kaum hinaus. Ihr Wirk-Potential ist damit freilich nur unzureichend beschrieben. Auffällig ist zunächst bereits, daß es im "Normalfall" des verfassungsgerichtlichen Rechtsstreits weder der Vermutung noch der Beweislast bedarf, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Das liegt daran, daß der Supreme Court das Entstehen einer non liquet-Situation, in der die genannten Institute in ihre Funktion treten, praktisch nicht zuläßt. Das Gericht sieht sich vielmehr in der Lage, aufgrundvon ihm ermittelter359 und bewerteter Fakten die Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes positiv zu begründen. So 356 Healy v. James, 408 U.S. 169, 184, 190 (1972). Weiterhin J. Kokott, Beweislast und Prognose, S. 19, 22; R. Pine, 136 U.Pa.L.Rev. 655, 707 f. (1988). 357 Gelegentlich spricht der Supreme Court selbst von einer "strong presumption of constitutionality", etwa in Schweiker v. Hogan, 457 U.S. 569, 591 (1982); Mathews v. De Castro, 429 U.S. 181, 185 (1976). Vgl. auch K. Karst, 1960 Supr.Ct.Rev. 75, 87; D. Alfange, 114 Pa.L.Rev. 637,657 (1966). 358

J Shaman, 35 U.Fla.L.Rev. 236, 244 (1983).

Wozu auch ein sog. hypothesizing offacts gehört. In diesem Fall wird die nur hilfsweise Bedeutung der Vermutung besonders deutlich. Vgl. insoweit Note, 36 Colum.L.Rev. 283,286 f. bei FN 21 (1936). 359

B. Vennutungen, Darlegungslast, Beweislast und Beweismaß

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kommt es, daß der Supreme Court auf die Bedeutung einer Vermutung verweisen kann, um noch im selben Atemzug zu betonen "(that) affirmative evidence also sustains the statute." 360 Ein Kunstgriff wie der, von einer Partei vorgetragene Tatsachen, deren Existenz vom Gericht geleugnet wird, ausdrUcklieh oder stillschweigend zum Beweis ihres Gegenteils zu verwenden, ist dabei nur einer der Wege, den Bereich tatsächlicher Unsicherheit zu verkleinern. 361 Sind aber die Tatsachen vollständig aufgehellt, ist eine Beweislastregel überflüssig. Sie dient dann allenfalls der Stützung eines Ergebnisses, das der Supreme Court längst auf andere Weise bereits gefunden hat. 362 Das Insistieren auf einer "Vermutung der Verfassungsmäßigkeit" eines Gesetzes etwa enthält also häufig nicht mehr als eine bloße Absichtserklärung dahingehend, der Supreme Court werde dem Gesetzgeber den nötigen Respekt erweisen und die von ihm verabschiedeten Regelungen nicht willkürlich filr verfassungswidrig erklären.363 Auf dieser Linie liegt auch die beim Supreme Court zu beobachtende Neigung, selbst dann auf die von ihm vorgeblich respektierte Vermutung der Verfassungsmäßigkeif eines Gesetzes hinzuweisen, wenn später trotz Fehlens der filr deren Widerlegung erforderlichen Voraussetzungen die Erklärung der Verfassungswidrigkeif erfolgt.364 Überhaupt sind Stellungnahmen des Gerichts, in denen ausdrUcklieh auf die Geltung einer Vermutung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes Bezug genommen wird, erheblich zahlreicher anzutreffen als der umgekehrte Fall vermuteter Verfassungswidrigkeit Auch heute noch erweckt das Gericht gerne den, wie zu sehen war, unzutreffenden Eindruck, unabhängig von ihrem Gegenstand hätten sämtliche Gesetze die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit 360 United States v. Carolene Products Co., 304 U.S. 144, 148 (1938). Ebenso Lindsley v. Natural Carbonic Gas Co., 220 U.S. 61, 79 f. (1911). Vgl. flir das l. Amendment Bates v. Little Rock, 361 U.S. 516, 523 ff. (1960); Talley v. Califomia, 362 U.S. 60, 63 f. (1960) mit K. Karst, 1960 Sup.Ct.Rev. 75, 93. Für den Gleichheitssatz Yick Wo v. Hopkins, 118 U.S. 356, 374 (1896); Queenside Hills Realty Co., lnc. v. Saxl, 328 u.s. 80,84 (1946). 361

Nachw. beiJ. Shaman, 35 U.Fla.L.Rev. 236,239 f. (1983).

Zustimmend Note, 36 Colum.L.Rev. 283, 286, 288 (1936); Note, 31 Colum. L.Rev. 1136, 1137 (1931). Vgl. auch A. Miller I J. Barron, 61 Va.L.Rev. 1187, 1234 f., FN 121 (1975); K. Karst, 1960 Supr.ct.Rev. 75, 93 f. (vgl. aber auch ebd., S. 87 f.); P. Freund, in: E. Cahn (Hrsg.), Supreme Court, S. 47, 49; ders., Supreme Court, S. 87; L. Tribe, Constitutional Law, S. 1442 f. (§ 16-2). Zum Zusammenhang von Beweiswürdigung und Beweislast J. Kokott, Beweislast und Prognose, S. 22 ff. 362

363 Ebenso H.-J. Schäfer, Richterliche Gewalt, S. 55 f. Weniger skeptisch offenbar J. Shaman, 35 U.Fla.L.Rev. 236, 243 f. (1983). 364

Vgl. flir die "Lochner"-Ära V. Barnett, 39 Mich.L.Rev. 213, 232 ( 1940).

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

für sich. 365 All dem liegt offensichtlich eine Scheu zugrunde, dem Gesetzgeber -zumindest verbal- allzu forsch in die Parade zu fahren. Indiz für die geringe Bedeutung von Vermutung und Beweislast ist schließlich, daß diese Instrumente in der Praxis des Supreme Court bisher keine spezifisch verfassungsrechtliche Begriffsbildung erfahren haben. Weder erfolgtwas zweifellos möglich wäre - eine Abgrenzung beider Instrumente voneinander, noch läßt die Rechtsprechung erkennen, welche Rechtsfolge genau die Zuschreibung einer Vermutung auslöste. Der Grund dafür dürfte freilich weniger in einem Mangel an dogmatisch-begrifflicher Schärfe als darin zu sehen sein, daß gerade den Vermutungen ihre praktische Bewährungsprobe bisher weitgehend erspart geblieben ist. Für die Praxis muß eine wichtige Folge dessen darin gesehen werden, daß die beiden Instrumente heute eher als Indikator für eine strengere oder nachlässigere Kontrolle nach Maßgabe der jeweiligen Prüfungsmaßstäbe fungieren, als daß ihnen eine selbständige Bedeutung zukäme. 366 In dieser spezifischen Verbindung mit den Prüfungsmaßstäben wiederum scheint die begrenzte praktische Funktion der durch die Vermutungen zugeschriebenen Beweislastverteilung darin zu liegen, daß, je nachdem, Bürger oder Gesetzgeber gegenüber, bestimmte Anforderungen an die Qualität der von ihnen zu leistenden Argumentation gestellt werden367 : Ein wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten regulierender Gesetzgeber kann sich auch nach Darlegung eines prima facieFalles durch den betroffenen Bürger erlauben, weniger stichhaltige Argumente zur Stützung eines Gesetzes zu liefern als derjenige, der die Vermutung der Verfassungswidrigkeit zu überwinden hat, weil er etwa in eine als bevorrechtigt angesehene Rechtsposition eingegriffen oder entlang "verdächtiger" Merkmale klassifiziert hat. Da die Weichen hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes in der Regel jedoch bereits mit der Auswahl der jeweiligen Kontrollmaßstäbe, spätestens aber mit deren Anwendung auf der Grundlage der entscheidungserheblichen Tatsachen gestellt werden, sind "echte" Beweislastentscheidungen auch insoweit selten. Gleichwohl kann nicht übersehen werden, daß im amerikanischen Recht vor allem die Vermutungen in nahezujedem Fall verfassungsrechtlichen Zuschnitts gleichsam "Gewehr bei Fuß" im Hintergrund stehen; ein Zurücktreten der ihre Wirkung praktisch substituierenden Prüfungs365 Vgl. Shapiro v. Thompson, 394 U.S. 618, 675 (1969) (Harlan, diss.); Regan v. Time, lnc., 468 U.S. 641, 704 (1984) (Stevens, conc./diss. in part); U.S. Railroad Retirement Board v. Fritz, 449 U.S. 166, 184 (1980).

366 Vgl. J. Kokott, Beweislast und Prognose, S. 61 (ebenso S. 70, 290 f., 299) mit dem Hinweis, "daß im öffentlichen Recht die Beweislastfrage stark von der Problematik angemessener Kontrollmaßstäbe überlagert wird." 367

Vgl. dieBspiele bei K. Karst, 1960 Supr.Ct.Rev. 75, 88.

B. Vermutungen, Darlegungslast, Beweislast und Beweismaß

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techniken würde ihnen daher sogleich einen erheblichen Bedeutungszuwachs verschaffen. Schon damit ist angedeutet, daß solche Regelungen einen praktisch sehr viel höheren Stellenwert haben könnten oder - angesichts der überragenden Bedeutung für sämtliche anderen Verfahrensordnungen - sogar haben müßten. Da sich diese Erörterung indes allein auf die vom Supreme Court tatsächlich geübte Praxis bezieht, ist damit noch nichts über die Legitimität z.B. eines ein non Iiquet überwindenden hypothesizing offacts, wie es später noch zu beschreiben sein wird, gesagt; daß diese Technik den Anwendungsbereich einer Beweislastregel nachhaltig beschneidet, kann freilich nicht übersehen werden. Nur mit dieser Einschränkung, also von einer theoretisch durchaus stärkeren Bedeutung der Beweislastregeln für die Arbeit des Supreme Court her gedacht, sollten demnach auch alle späteren Ausführungen verstanden werden. 2. Die Rechtslage in Deutschland Für eine Vermutung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen hatte sich schon während der Weimarer Zeit Carl Schmitt stark gemacht. Im Rahmen normenkontrollierender Tätigkeit sei stets davon auszugehen, "daß im Zweifelsfalle die Vermutung für die Gültigkeit des Gesetzes spricht, daß der Gesetzgeber und nicht der Richter die politische Entscheidung zu treffen hat und die Sphäre der Gesetzgebung unbedingt respektiert werden muß." 368 Diese unter ausdrücklichem Hinweis auf Chief Justice Marshall369 gemachte Aussage begründete Schmitt damit, daß ein Gericht, "indem (es) einen zweifelhaften Inhalt mit Gesetzeskraft außer Zweifel stellt, selber als Gesetzgeber fungiert." 370 Eine solche Tätigkeit sei "ihrem Wesen nach nicht mehr richterliche Entscheidung."371 Demnach könne aber auch in der weitaus überwiegenden Zahl von Fällen, in denen die Verfassungsmäßigkeit einer Norm nicht eindeutig feststehe, unmöglich ein Gericht gegenüber dem Gesetzgeber das letzte Wort haben; ein Legat zu gerichtlichem Eingreifen bestehe vielmehr nur in der

368 C. Schmitt, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 63, 88. Vgl. auch ebd., S. 95. Daß sich Schmitts noch unter der WRV ausgearbeitete Position auch unter dem GG nicht wesentlich verändert hat, ergibt sich aus seiner Anmerkung, ebd., S. 100, 106 f., 108. 369 Ebd., S. 88 bei FN 52. Vgl. auch ebd., S. 89 bei FN 53. Kritik der amerikanischen Praxis aber ebd., S. 81 , 92. 370

Ebd., S. 81.

371

Ebd., S. 80.

170

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

äußerst seltenen Situation eines klaren Widerspruchs zwischen Verfassungsund einfachem Gesetz.372 Damit scheint man bei Carl Schmitt die in den USA als "klassisch" angesehenen Gedanken von James Thayer373 zu den gerichtlichen Kontrollbefugnissen wiederzufinden. Dabei wird freilich leicht übersehen, daß im Wege der Verwendung einer Vermutung der Schmittschen Art offensichtlich weder das Vorliegen bestimmter Tatbestandsmerkmale noch das Bestehen oder NichtBestehen eines Rechtsverhältnisses, sondern ein Drittes, nämlich die Rechtmäßigkeit einer getroffenen Entscheidung als gegeben angenommen wird.374 So besehen gehört eine solche "Vermutung" aber nicht zur Gruppe der hier allein interessierenden Beweislast- sondern zu derjenigen der Auslegungs- oder Interpretationsregeln375 , für die nach dem iura novit curia-Grundsatz eine Regelung auf den Zweifelsfall entbehrlich376 ist. In diesem Fall handelt es sich um eine Frage der Zuständigkeit zur inhaltlichen Bestimmung von Rechtssätzen377, in jenem um das sehr viel bescheidenere Problem einer "Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers bei der normativen Bewertung von Fakten."378 Allenfalls könnte man also daran denken, dem iura novit curia-Satz einen abweichenden

372

Ebd., S. 85 f.

373

J. Thayer, 7 Harv.L.Rev. 129 ff. (1893).

374

Zutreffend insoweit G. Meder, Rechtmäßigkeitsvermutung, S. 34.

Zu oberflächlich daher die Behandlung der Vermutung der Verfassungsmäßigkeit bei H. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53, 86 f. sowie K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 159 f.: Bei ihr geht es eben nicht nur um "Zweifel bei der Verfassungsauslegung" , sondern um Zweifel über das Vorliegen der ftir die Verfassungsmäßigkeit maßgeblichen tatsächlichen Umstände. Es ist daher verfehlt, gegen sie "dieselben Bedenken wie gegen die Freiheitsvermutung" ins Feld zu führen. Zutreffend demgegenüber J Kokott, Beweislast und Prognose, S. 52 ff., 84; F. Ossenbühl, in: C. Starck (Hrsg.), ~VerfG und GG, Bd. I (1976), S. 458, 486 f. sowie (allerdings ablehnend) P. Lerche, Ubermaß und Verfassungsrecht, S. 332 f. Vgl. auch W. Berg, Ungewisser Sachverhalt, S. 90 ff., 190 f. - Um eine wieder andere Art einer "Vermutung der Verfassungsmäßigkeit" handelt es sich bei § 15 II 4 BVerfGG. Noch weniger mit der hier erörterten Vermutung zu tun hat der Grundsatz, daß "ein Gesetz so lange als verfassungsmäßig zu behandeln ist, bis es durch ein Verfassungsgericht ftir verfassungswidrig erklärt worden ist", G. Meder, Rechtmäßigkeitsvermutung, S. 59. - Vgl. auch D. Leipold, Beweislastregeln, S. 196; J Ipsen, Richterrecht, S. 155 f. 375

376 Zutreffend R. Breuer, Staat 16 (1977), S. 21 , 37; K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 159 f. 377 H. Weber-Grellet, Beweislast, S. 53. Siehe auch H. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53, 68. 378 H.-P. Schneider, NJW 1980, S. 2103, 2108. Bei J Thayer, 7 Harv.L.Rev. 129, 144 (1893) scheint die Vermutung die Funktion sowohl einer Auslegungs- als auch einer Beweislastregel zu haben. Vgl. auch J Kokott, Beweislast und Prognose, S. 52 ff.

B. Vermutungen, Darlegungslast, Beweislast und Beweismaß

171

Inhalt, im Sinne eines "Konkretisierungsprimates des Gesetzgebers" etwa379, zu geben. Indes ändert auch dies nichts daran, daß es sich hierbei, nicht anders als bei der vom BVerfG betonten "Vermutung fur die Zulässigkeit der freien Rede"380, um ein Problem nicht der Tatsachenfeststellung sondern der Interpretationsbefugnis handelt. Wie immer man es also dreht und wendet: Was bei Schmitt zunächst wie eine Beweislastregel aussieht, ist in Wahrheit gar keine. Nur als Beweislast-, nicht als Auslegungsregel aber entzieht sich eine Vermutung der Kritik, sie biete holzschnittartig vergröbernde Lösungen an, wo richterliche Erkenntnisbildung und die Gesetze der Methodik greifen sollten. Allerdings ist zu beobachten, daß in der deutschen Doktrin, anders als in der amerikanischen381 , die Eigenschaft einer Vermutung, als vermeintlich nur prozessual bedeutsames Mittel materiell-rechtlich effektive Präjudizien zu schaffen, theoretisch wie praktisch kaum erkannt ist. Eine Behauptung wie die, "in der Rechtsprechung des BVerfG (fände) sich eine ganze Skala von abgestuften Vermutungsregeln"382, geht an der Realität aufrätselhafte Weise vorbei. 383 Tatsächlich hat sich das BVerfG, in schroffem Gegensatz zur Praxis des Supreme Court, bisher erst zweimae84 ausdrücklich, noch dazu eher undifferenziert und ohne jede systematische Verortung zu einer Vermutung der Verfassungsmäßigkeit bekannt. Ansonsten hat es das Gericht bei mehr oder weniger vagen Andeutungen385 bewenden lassen oder sich in Analogien zur verwaltungsrechtlichen Ermessenslehre386 geflüchtet. Mit solcherart "Vermutungen" wird freilich kaum mehr erreicht, als eine Partei den "favor iudicis" spüren zu lassen. 387 Angemessener wäre es daher, in diesem Falle von einem "Grundsatz der 379 So etwa H. H. V. Arnim, Staatslehre, s. 380, 382 f. Genau umgekehrt aber offenbar H. Quaritsch (Diskussionsbeitrag), in~ Frhr. v. Stein-Ges. (Hrsg.), Cappenberger Gespräch (1980), S. 63, 63 f.; E. Benda, DÖV 1979, S. 465, 469. 380 BVerfGE 85, 1, 16 unter Berufung auf BVerfGE 7, 198, 212. Zustimmend D. Grimm, NJW 1995, S. 1697, 1703 f. Kritisch K. Redeker, NJW 1995, S. 2613,2613. 381

Vgl. K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 161, FN 44.

382 M Kriele, NJW 1976, S. 777, 781, leider ohne Nachweise. 383

Zustimmend H. Weber-Greller, Beweislast, S. 20.

BVerfGE 2, 266, 282; 9, 338, 350. Zu optimistisch daher wohl E. Friesenhahn, ZSchwR 73 (1954), S. 129, 150. 384

385 BVerfGE 3, 225, 233 mit P. Schneider, in: E. v. Caemmerer u.a. (Hrsg.), FS f.d. Dt. Juristentag, Bd. II (1960), S. 263, 264 einer-, R. Dubischar, JuS 1971, S. 385, 388 andererseits.

386 Nachw. bei P. Schneider, in: E. v. Caemmerer u.a. (Hrsg.), FS f.d. Dt. Juristentag, Bd. II (1960), S. 279 ff. 387 R. Dubischar, JuS 1971, S. 385, 388. Undifferenziert auch M Drath, VVDStRL 9 (1952), S. 17, 92. Vgl. auch M Nierhaus, AöR 120 (1995), S. 447,451.

172

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Rechtsbeständigkeit der Gesetze" 388 zu sprechen. Mit einer Beweislastregel im eigentlichen, rechtlichen Sinne haben die vom BVerfG verwendeten Maximen jedoch nichts zu tun. Kaum weniger ernüchternd fallt eine Analyse der vom BVerfG ansonsten zum Einsatz gebrachten Beweislastregeln aus. Verfolgt man die Rechtsprechung des BVerfG, möchte man meinen, dem Verfassungsrecht seien Beweislastregeln und -entscheidungen fremd? 89 Eine "aktuelle Analyse der Rechtsprechung des Gerichts zu der Frage, wen ... die Folgen fehlender Überzeugung von der Richtigkeit bestimmter Tatsachen treffen, steht" also nicht nur deshalb "aus"390, weil sich fiir diese Arbeit niemand bereit flinde, sondern vor allem deshalb, weil es hierzu schon an qualitativ und quantitativ bemerkenswerten Äußerungen des BVerfG selbst mangelt. Bei der Untersuchung der Beweislast im Rahmen des Gleichheitssatzes etwa flillt auf, daß kaum eine Entscheidung existiert, in der das Vorliegen eines Sachverhaltes in den Augen des BVerfG zweifelhaft geblieben und somit eine Beweislastentscheidung erforderlich geworden wäre. 391 Das hat offenbar vor allem damit zu tun, daß dem Gericht infolge der Abstraktheit zumindest des allgemeinen Gleichheitssatzes ein ganzes Bündel von Möglichkeiten zur VerfUgung steht, ungesicherte Sachverhaltslagen und damit ein non liquet zu vermeiden. Gleichwohl entspricht das Aufkommen an aufgrund der Beweislast getroffenen Entscheidungen in keiner Weise dem, was man aufgrundder auch unter diesen Umständen noch bestehenden Möglichkeiten zu Sachverhaltszweifeln sowie der enormen praktischen Bedeutung der Verfassungsvorschrift hätte erwarten können. Überdies kann von einer einheitlichen Handhabung der wenigen erkennbaren Regeln keine Rede sein.392 Was den praktisch zumindest ebenso wichtigen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angeht, an dem sich jede Beschränkung eines Freiheitsrechtes (und neuerdings auch jede Gleich- oder Ungleichbehandlung) messen lassen muß,

388

0. Bachof, in: J. Esser u.a. (Hrsg.), Summum Ius ( 1963), S. 41, 48.

Zustimmend H. Weber-Greller, Beweislast, S. 19; U Langheineken, Verhältnismäßigkeit, S. 120 f., 129; M Nierhaus, AöR 120 (1995), S. 447, 447 f. Vgl. F. Ossenbühl, in: C. Starck (Hrsg.), BVerfG und GG, Bd. I (1976), S. 458, 516 f.- BVerfGE 1, 299, 316meint nur die subjektive Beweislast, BVerfGE 15, 249, 253 betrifft einen hier nicht erheblichen Fall, bei BVerfGE 39, 1, 78 handelt es sich um eine abweichende Ansicht. 389

390

R. Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rdz. 806.

391

Ebenso H. Weber-Grel/et, Beweislast, S. 119.

Vgl. z.B. BVerfGE 17, 381, 388 f.; 31, 255, 267 f. (mit H. Weber-Greller, Beweislast, S. 120 gegenüber J. Kokott, Beweislast und Prognose, S. 195). 392

B. Vennutungen, Darlegungslast, Beweislast und Beweismaß

173

sieht die Bilanz kaum anders aus. Auch wenn hier vor geraumer Zeit eine gewisse Aktivität in der verfassungsrechtlichen Literatur zu beobachten war393 , hat doch das BVerfG von ihr bisher kaum Kenntnis genommen. 394 Darin liegt der Grund dafür, daß sich diese Untersuchung zunächst weitgehend mit aus Einzelentscheidungen herausgelesenen Mutmaßungen begnügen muß. Daß freilich auch die Literatur sich aus den gerichtlichen Judikaten eher das gerade Passende zusammenzusuchen scheint, als daß sie sich um eine konzise Bestandsaufnahme der geübten Praxis bemüht, mag in diesem Zusammenhang nur als ein weiteres Indiz für die Richtigkeit der Beobachtung dienen. So scheint das BVerfG im Bereich des Art. 12 GG die Beweislast jedenfalls für die Erforderlichkeit und im Ergebnis wohl auch die Verhältnismäßigkeit i.e.S. dem die Freiheit der Berufswahl einschränkenden Gesetzgeber zuweisen zu wollen. Anders lassen sich Äußerungen wie die, die Prüfung eines entsprechenden Gesetzes gebiete, "an den Nachweis der Notwendigkeit objektiver Zulassungsvoraussetzungen ... besonders strenge Anforderungen zu stellen", die nur in der Form "nachweisbare(r) oder höchst wahrscheinliche(r) Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut"395 zu erbringen seien, nicht verstehen. 396 Allerdings kann nicht übersehen werden, daß eine solche Verteilung der Beweislast keinesfalls die stets eingehaltene Regel ist. In anderen Entscheidungen scheint das BVerfG dem genau umgekehrten Grundsatz, daß also Zweifel zu Lasten des Bürgers gehen, folgen zu wollen. 397 Ansatzpunkt dafür ist der bereits im Apotheken-Urteil formulierte Grundsatz, daß "die Erfahrungsgrundlagen, Erwägungen und Wertungen des Gesetzgebers für das Bundesverfassungsgericht stets von größter Bedeutung" seien und dort "wo sie nicht entkräftet werden . .. die Vermutung der Richtigkeit für sich in Anspruch nehmen" dürfen. 398 Diese Unsicherheit ist ein Grund dafür, daß auch Beobachtern häufig 393 M. Gentz, NJW 1968, S. 1600, 1606 f.; E. Grabitz, AöR 98 (1973), S. 568, 604ff., 616; M. Kriele, NJW 1976, S. 777, 781; ders., in: J. lsensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. StaatsR, Bd. V (1992), S. 123 ff. (§ 110, Rdz. 44 ff.); H. Weber-Grellet, Beweislast, S. 106 ff. Für das schweizerische Recht A. Wolffirs, ZBJV 113 (1977), S. 297,304 ff.; U. Zimmerli, ZSR 97111 (1978), S. I, 118 ff. 394

Berechtigte Zweifel daher bei J. Dürig, Beweismaß und Beweislast, S. 109.

395

BVerfGE 7, 377, 408. Ähnlich BVerfGE 21 , 245, 258; II, 168, 188.

Zustimmend T. Maunz I G. Dürig- R. Scholz, GG, Rdz. 321 zu Art. 12. Daran anschließend J. Kokott, Beweislast und Prognose, S. 292 ff. 396

397 Vgl. etwa BVerfGE 40, 196, 223, wo keine der zu dem angegriffenen Gesetz denkbaren Alternativen die Voraussetzungen der Erforderlichkeit "so eindeutig erfüllt, daß ein Gericht in der Lage wäre auszuspr~~hen, der Gesetzgeber habe dieses Mittel anstatt des von ihm gewählten einzusetzen." Ahnlieh BVerfGE 25, I, 20; 77, 84, 107. 398

BVerfGE 7, 377, 412.

174

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

nicht klar ist, ob überhaupt und bejahendenfalls welche Beweislastregel den Äußerungen des BVerfG entnommen werden kann.399 Außerhalb des Art. 12 GG hat das BVerfG gelegentlich darauf hingewiesen, daß bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes "Zurückhaltung geboten" sei. "Solange man mit guten Gründen darüber verschiedener Meinung sein" könne, lasse "sich von Gericht wegen nicht feststellen, daß der Grundsatz verletzt" sei.400 In anderen Fällen wiederum hat sich das BVerfG freilich auch hier zu einer grundsätzlichen Beweislast der öffentlichen Hand bekannt.401 Aufflillig ist hierbei, daß der alles entscheidende Lösungsansatz immer wieder in einem Rückgriff auf den Topos des "Ermessens" bzw. des gesetzgeberischen "Beurteilungs-" oder "Gestaltungsspielraums" gesucht wird402 , der für die Frage der Beweislast jedoch von nur geringem Erkenntniswert ist und bei genauer Betrachtung auf einen Nebenschauplatz verweist. Denn auch in der Situation, in der ein Gesetz unter mehreren denkbaren Sachverhaltsannahmen verfassungsgemäß ist- dies der hinter der Gestaltungsspielraum-Idee stehende Gedanke -, ergibt sich doch gleichwohl die Notwendigkeit, eine Regelung für den Fall des Zweifels im Hinblick auf das Vorliegen zumindest einer solchen Annahme aufzustellen. Daraus folgt zum einen, daß es - u.a. - der spezifische Modus der Beweislastverteilung ist, der einen Gestaltungsspielraum konstituiert (und nicht umgekehrt403), zum anderen, daß die Vorstellung eines "Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers" systematisch in den Bereich der Tatsachenfeststellung und -bewertung gehört, dessen Darstellung einem späteren Abschnitt vorbehalten ist. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß sich das BVerfG auf dem Feld der Vermutungen bzw. der Beweislast bisher nur sehr ungeordnet bewegt. Das zeigt sich vor allem darin, daß das Gericht keinerlei Anstalten macht, ein irgendwie geartetes System der Beweislast zu entfalten und seinem Prüfungsinstrumentarium einzufügen. Die statt dessen nur sehr vereinzelten, noch dazu meist wenig eindeutigen Äußerungen des Gerichts wiederum lassen sich nur 399 Vgl. z.B. M Gentz, NJW 1968, S. 1600, 1607 gegenüber H. Weber-Grellet, Beweislast, S. 116 f. gegenüber M Kriele, in: J. Isensee I P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. StaatsR, Bd. V (1992), S. 126 (§ 110, Rdz. 49 f.). 400

BVerfGE 38, 139, 153.

401

Nachw. bei U Langheineken, Verhältnismäßigkeit, S. 123 f.

Vgl. M Raabe, in: C. Grabenwarter u.a. (Hrsg.), Assistententagung ÖR (1994), S. 83, 83 f. mit FN 1.- Notabene: Die Verwendung dieser Topoi ist nicht auf gesetzgeberische Prognosen beschränkt. 402

403 Insoweit zustimmend C. Gusy, JöR 33 (1984), S. 105, 109 f. Gerade umgekehrt R. Breuer, Staat 16 (1977), S. 21 , 37.

B. Vennutungen, Darlegungslast, Beweislast und Beweismaß

175

schwerlich zu einem konsistenten Ganzen zusammenfügen. Daß auch im deutschen Verfassungsprozeß ein prinzipiell starkes praktisches Bedürfnis nach zuverlässigen Beweislastregeln existiert, steht dazu in einem kaum erklärlichen Widerspruch. 111. Vermutungen und Prüfungsstandards

Die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes ist denknotwendig ebensowenig mit dem mere rationality- oder einem vergleichbar großzügigen Standard verknüpft wie die der Verfassungswidrigkeit mit dem strict scrutinyoder einem beliebigen anderen strengen Prüfungsmaßstab. 404 Beide Konzepte sind theoretisch vielmehr klar voneinander geschieden: Der Nachweis flir das Vorhandensein (oder in diesem Falle: das Fehlen) eines überragend wichtigen Gemeinwohlzieles oder einer engen Mittel-Zweck-Relation, wie sie der strict scrutiny-Standard fordert, könnte statt des Gesetzgebers ebensogut dem Rechtsschutz suchenden Bürger auferlegt werden. 405 Genauso könnte in dem am anderen Ende der Skala angesiedelten Fall, daß das Vorhandensein eines nur legitimen gesetzgeberischen Zieles oder das Bestehen einer bloß losen Verbindung des eingesetzten Mittels zum angestrebten Zweck zweifelhaft ist, zu Lasten des Gesetzgebers entschieden werden. Und auch umgehrt ist nicht einzusehen, wieso das Bestehen einer bestimmten Vermutung die Anwendung stets desselben Kontrollmaßstabes verbindlich machen sollte. Von einem Kontrollmaßstab gesteuerte Prüfungsanforderung und von einer Vermutung bereitgestellte Entscheidungshilfe sind, theoretisch betrachtet, vielmehr zweierlei; ein zwingender Zusammenhang zwischen ihnen besteht nicht. Um so überraschender ist es, sowohl fiir den Fall des deutschen wie des amerikanischen Rechts Stellungnahmen zu finden, in denen eine solche Verknüpfung hergestellt wird. Kenneth Karst etwa bemerkt zur Funktionsweise des strengen Prüfungsmaßstabes, daß dieser zu einer "inversion of the presumption of constitutionality" fiihre. "The state must justify its imposition of a racial inequality, for example, by showing that the law is necessary to achieve a compelling state interest."406 Eine ganz ähnliche Gesetzmäßigkeit, nunmehr am an404 Vgl. für mere rationality die Äußerungen bei J. Shaman, 35 U.Fla.L.Rev. 236, 249 (1983) sowie P. Brest, Constitutional Decisionmaking (1. Aufl.), S. 1005 ff. (Kap. 10 II B), S. 1008 ff. (Kap. 10 II C).

405 Vgl. z.B. Tinker v. Des Moines Independent Community School District, 393 U.S. 503, 511 (1969) ggü. ebd., S. 526 (Harlan, diss.). 406 K. Karst,)n: L. Levy u.a. (Hrsg.), Encyclopedia, Bd. 4 (1986), S. 1721 ("Standard of Review"). Ahnlieh J Tussman / J ten Broek, 37 Cal.L.Rev. 341, 356 (1949); J Seilers, 84 Dick.L.Rev. 363, 368 (1984); W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 59 (FN 33), 178.

176

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

deren Ende der Prüfskala, sehen Nowak und Rotunda, wenn sie die starke Vermutung der Verfassungsmäßigkeit wirtschaftspolitischer Gesetze als "provided by the rational basis test" beschreiben.407 Auch wenn keine Veranlassung besteht, einer derartigen Automatik zu huldigen, beschreiben die vorgenannten Stellungnahmen die Praxis des Supreme Court gleichwohl auf zutreffende Weise. In der Tat verknüpft das Gericht die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes ebenso regelmäßig mit dem mere rationality-Standard wie es die Vermutung seiner Verfassungswidrigkeit an den strict scrutiny-Test bindet. Von seiten der Lehre ist eine entsprechende Konvergenz von Prüfungsmaßstab und Beweislastverteilung auch für das deutsche Recht konstatiert worden. Die Praxis des BVerfG lege den Eindruck nahe, daß eine strikte richterliche Kontrolle eine Verteilung des Nichtaufklärbarkeitsrisikos im Bereich des Tatsächlichen zu Gunsten, eine großzügige dagegen zu Lasten des Betroffenen impliziere.408 Im praktischen Ergebnis hat diese Haltung der Gerichte bedeutende Folgen, die für BVerfG und Supreme Court freilich durchaus verschieden ausfallen. Für das amerikanische Recht ergibt sich daraus vor allem die Konsequenz einer noch weiter verstärkten Polarisierung der beiden (Haupt-)Prüfungsmaßstäbe: Was den mit der Vermutung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gekoppelten, ohnehin schon sehr großzügig gehandhabten mere rationality-Standard angeht, läuft dieser im praktischen Ergebnis auf eine "fast unwiderlegbare Vermutung der Verfassungsmäßigkeit der staatlichen Regelung und das heißt auch: eine fast völlige Abdankung verfassungsgerichtlicher Kontrolle im Bereich der Wirtschaftsgesetzgebung hinaus. Gleiches gilt für die allgemeine Sozialgesetzgebung, soweit sie nicht in ein "fundamentales Recht" eingreift oder eine "verdächtige Klassifizierung" benutzt."409 Kommt dagegen der strenge Prüfungsmaßstab zur Anwendung, zeitigt die Verbindung mit der Vermutung der Verfassungswidrigkeit das gerade umgekehrte Ergebnis: Die Chance, daß ein Gesetz die sowieso schon sehr unnachgiebige Prüfung besteht, sinkt vor dem Hintergrund einer solchen Beweisbelastung des Hoheitsträgers praktisch gegen Null. Weit von solch übersichtlich Bipolarität entfernt stellt sich die Situation im deutschen Recht dar. Hier erhebt sich bereits die Frage, welche der verschiede407 J. Nowak / R. Rotunda, Constitutional Law, S. 379 (§ 11.4). Vgl. auch G. Gunther, Constitutional Law, S. 20; W. Haller, Supreme Court und Politik, S. 40, 161 ff.; W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 59, FN 33. 408 J. Kokott, Beweislast und Prognose, S. 61 f., 290 f., 306 et passim. Ähnlich U. Langheineken, Verhältnismäßigkeit, S. 123 f., 129 f. 409

W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 59 f.

B. Vennutungen, Darlegungslast, Beweislast und Beweismaß

177

nen, noch dazu sehr variabel gehandhabten Prüfungsmaßstäbe die Bezeichnung "großzügig", welche das Prädikat "streng" verdienen. Daß aber ein System gleitender Kontrollstandards den Vermutungen sehr viel sperriger gegenübertritt als ein zweistufiges Prüfschema, zumindest nichts zu dessen schärferer Konturierung beiträgt, leuchtet ohne weiteres ein. Einmal an den gleitenden Standard angekoppelt, besteht für die verschiedenen Modi der Beweislastverteilung zudem die Gefahr, in einem - funktionell betrachtet - ähnlich diffusen Licht zu erscheinen wie dieser selbst. Insbesondere im Hinblick auf die von ihnen idealiter auch zu gewährleistende "Balance zwischen Grundrechtsstaat und Demokratie"410 geraten die Beweislastregeln damit in den Verdacht, sich als ebenso unergiebig zu erweisen wie die verwendeten Prüfstandards selbst. IV. Vermutungen, Beweislast und Rollenverteilung zwischen Supreme Court und Gesetzgeber Nachdem nunmehr der Zusammenhang aufgezeigt ist, in dem Beweislastregeln und Prüfungsmaßstäbe nach Auffassung der untersuchten Gerichte stehen, liegt die Annahme nicht fern, daß der Einsatz auch dieser Normen funktionellrechtlich bedeutsam ist, und daß das Wissen um diesen Mechanismus BVerfG und Supreme Court in der Wahl ihrer Mittel beeinflußt.411 Zunächst einmal ist leicht einzusehen, daß etwa die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes (oder eine entsprechende Beweislastverteilung) den Bürger in die Situation bringt, bei unzureichender Beweislage den Prozeß zu verlieren und den Eingriff in sein Grundrecht dulden zu müssen. Umgekehrt versetzt die Vermutung der Verfassungswidrigkeit den Hoheitsträger in die Lage, trotz nicht nachgewiesenen Verfassungsverstoßes den Prozeßverlust gewärtigen zu müssen.412 Auf diese Weise dienen Vermutung und Beweislast als Mittel, das Risiko der Beweislosigkeit unter den vom Ausgang eines Rechtsstreits unmittelbar Betroffenen zu verteilen. Daraus folgt, daß ein Gericht den Schutzbereich der verfassungsmäßigen Rechte und damit den Gehalt und die Reichweite einer freiheitlichen Rechtsordnung auch in Abhängigkeit von den Folgen eines beweismäßigen Patts zu bestimmen vermag. Beweislastregeln sind aber nicht nur ein Instrument der Ausbalancierung materiell-rechtlich geschützter Interessen, sie verkörpern de facto auch ein Mittel, unter zwei um das letzte Wort in Verfassungsfragen ringenden Hoheitsträ410 M. Kriele, in: J. Isensee I P. Kirchhof(Hrsg.), Hdb. StaatsR, Bd. V (1992), S. 102 (§ 110, vorRdz. 1). 4 11

R. Carp l R. Stidham, Federal Courts, S. 55; K. Karst, 1960 Sup.Ct.Rev. 75, 88 ff.

41 2

Vgl. ftir diesen Zusammenhang J. Kokott, Beweislast und Prognose, S. 54.

12 Simons

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

gern - Gericht und Gesetzgeber - eine angemessene Funktionsverteilung zu gewährleisten. Zumindest der Supreme Court hat diesen Gedanken schon sehr früh zum Ausdruck gebracht: "One branch ofthe government cannot", erklärte das Gericht zur Rechtfertigung des Grundsatzes vermuteter Verfassungsmäßigkeil, "encroach on the domain of another without danger. The safety of our institutions depends in no small degree on a strict observance of this salutary rule."4I3 Entsinnt man sich der "Carolene Products"-Entscheidung mit ihrer differenzierten Zuschreibung der Vermutungen und versteht man spätere Äußerungen des Supreme Court nur als Variationen auf diese Grundmelodie verfassungsgerichtlicher Kontrolle, erschließt sich noch deutlicher die Funktion, die den Vermutungen nach amerikanischem Verständnis zukommt. "Kramer v. Union Free School District No. 15" ist dafiir ein gutes Beispiel. Dort ging es um ein Gesetz des Staates New York, demzufolge einem Bürger die Wahlberechtigung in einem Schulbezirk nur dann zustehen sollte, wenn er in diesem Bezirk entweder ein Grundstück besaß oder schulpflichtige Kinder hatte. Das Gericht verwarf die Vorschrift, nachdem es sie streng am Gleichheitssatz gemessen hatte. Zu der "Grundregel" vermuteter Verfassungsmäßigkeit gesetzgeberischer Akte bemerkte Chief Justice Warren fiir die Gerichtsmehrheit: "The presumption of constitutionality ... (is) based on an assumption that the institutions of state government are structured so as to represent fairly all the people. However, when the challenge to the statute is in effect a challenge of this basic assumption, the assumption can no Ionger serve as the basis for presuming constitutionality."414 Daraus wird deutlich, daß vermutete Verfassungsmäßigkeit und -widrigkeit eines Gesetzes ihren Grund allein in funktionell-rechtlichen Überlegungen fmden, die einmal den Gesetzgeber, einmal das Gericht in der Vorhand sehen; die in der Person des Grundrechtsträgers sowie der öffentlichen Gewalt konzentrierten materiellen Interessen spielen demgegenüber offenbar kaum eine Rolle. So ist es nur konsequent, daß die Zuweisung einer Vermutung der Verfassungsmäßigkeit im amerikanischen Verfassungsrecht wegen der mit ihr in Verbindung gebrachten Entlastung des Gesetzgebers vor allem als ein Mittel, die.. 413 Sinking-Fund Cases, 99 U.S. 700, 718 (1878)- allerdings kein GrundrechtsfalL Ahnlieh schon Cooper v. Telfair, 4 U.S. (4 Dall.) 14, 17 (1800); Nebbia v. New York, 291 U.S. 502, 537 f. (1934); City of Rome v. United States, 446 U.S. 156, 207 (1980) (Rehnquist, diss.). Vgl. auch J Choper, Judicial Review, S. 79; A. Mason, Supreme Court, S. 142; Note, 31 Colum.L.Rev. 1136, 1147 FN 48 (1931); D. Alfange, 114 U.Pa.L.Rev. 637, 661 (1966). 414 Kramer v. Union School District No. 15, 395 U.S. 621, 628 (1969). Vgl. demgegenüber ebd., S. 639 (Stewart, diss.). Vgl. in diesem Zusammenhang auch N. Komesar, 51 U.Chi.L.Rev. 366,373, FN II (1984).

B. Vermutungen, Darlegungslast, Beweislast und Beweismaß

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semgegenüber richterliche Zurückhaltung zu üben, angesehen wird: "The presumption of constitutionality", bemerkt daher zutreffend ein Beobachter, "permits the Supreme Court to extend to legislatures ... the deference that courts are normally expected to concede to their policy determinations."415 Damit ist die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit eines der Instrumente "which serve really as a form of self-restraint in dealing with the constitutional questions." 416 Trotz ihrer geringen praktischen Bedeutung scheint die presumption-Doktrin als "comer-stone for (a) theory ofthe roJe ofjudicial review" also nach wie vor zutreffend beschrieben.417 Ganz anders stellt sich demgegenüber die Funktion von Vermutungen und Beweislastregeln aus deutscher Sicht dar. Dabei ist auch bei uns die doppelte, einmal funktionell-, einmal materiell-rechtliche Wirkungsweise dieser Normen theoretisch durchaus erkannt. Ganz zu Recht wird darauf hingewiesen, daß es dabei - hier für den Fall einer den Hoheitsträger begünstigenden Beweislastregelung - um das Recht des Gesetzgebers gehe, "von mehreren in Betracht kommenden unsicheren empirischen Sätzen einen auszuwählen (und) dem grundrechtsbeschränkenden Gesetz zugrunde zu legen." In einer solchen Formulierung lassen sich die durch das umstrittene Grundrecht miteinander verbundenen Parteien zwanglos hinzudenken: Offenbar geht es neben dem ausdrücklich erwähnten Gesetzgeber in erster Linie um die konkreten Auswirkungen einer solchen Auswahl ftlr den betroffenen Grundrechtsträger. Schon wenig später erweitert sich jedoch die Optik über diese beiden Beteiligten hinaus auch auf die einbezogene Kontrollinstanz. Die Beweislastregel gebe dem Gesetzgeber nämlich damit auch das Recht, den empirisch ungesicherten Satz verbindlich "als eine bei der Grundrechtsprüfung zu verwendende Prämisse festzusetzen. Der entscheidende Punkt hierbei ist, daß die Festsetzung dieser Prämisse ftlr den Rechtsanwender, der das Gesetz am Maßstab der Grundrechte prüft, also insbesondere für das Bundesverfassungsgericht, verbindlich ist, wenn diese Festsetzung in den Entscheidungsspielraum flillt." So betrachtet gehe es bei dem Problem der Beweislastverteilung also letztendlich um eine Frage der "Kompetenz".418 415 D. Alfange, 114 U.Pa.L.Rev. 637, 661 (1966). Ebenso P. Kauper, in: H. Mosler (Hrsg. ), Verfassungsgerichtsbarkeit ( 1962), S. 568, 608, 609 f., 624 f. ; K. Loewenstein, Verfassungsrecht, S. 433 f. Vgl. auch Tinker v. Des Moines Independent Community School District, 393 U. S. 503, 515 (Biack, diss. ). 416

P. Kauper, in: H. Mosler (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit (1962), S. 568,608.

417

Vgl. N. Komesar, 51 U.Chi.L.Rev. 366,373, FN II (1984).

M Raabe, in: C. Grabenwarter u.a. (Hrsg.), Assistententagung ÖR (1994), S. 83, 84. Vgl. auch P. Schneider, in: E. v. Caemmerer u.a. (Hrsg.), FS f.d. Dt. Juristentag, Bd. II (1960), S. 263, 273, 281 ; J Kokott, Beweislast und Prognose, S. 2, 50 f.; K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 161; E. Benda I E. Klein, Verfassungsprozeß418

12•

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Vor dem Hintergrund des äußerst zurückhaltenden Gebrauchs, den das BVerfG von Beweislastregeln macht, verwundert es indes nicht, daß der beschriebene Zusammenhang gerade dort kaum Erwähnung findet. Das mag mit der Zivilistischen Tradition der Beweislastregeln (die im gesamten Verfassungsrecht ein nur kümmerliches Schattendasein führen) zusammenhängen, hat aber wohl mehr noch mit der im Zivil- wie im Strafrecht naturgemäß fehlenden "zweiten Dimension" der Beweislastfrage zu tun: Dort trifft der Richter eine originäre Entscheidung, die, weil sie eben nicht in der Überprüfung der Akte eines konkurrierenden Hoheitsträgers besteht, über die unmittelbar am Rechtsstreit Beteiligten hinaus für niemanden von Interesse ist. Dabei darf indes nicht übersehen werden, daß eine solche Überlegung für das amerikanische Verfassungsrecht, für das die Beweislastfrage nur infolge anderer, noch effektiverer Instrumente nicht von der zentralen Bedeutung ist, eigentlich um so nachhaltiger Geltung beanspruchen müßte: Daß dort materiell das Verhältnis des Gerichts zu einem Hoheitsträgers in Frage steht, läßt sich häufig nicht einmal an der Stellung der Prozeßparteien erkennen. Mit dem Schweigen des BVerfG zum Zusammenhang von materiell- und funktionellrechtlichen Aspekten der Beweislastfrage ist indes noch nicht gesagt, daß nicht dennoch die Gründe dafür, die eine oder andere Beweislastregel zu verwenden, funktionell-rechtlich fundiert wären. Auch davon kann jedoch keine Rede sein. Die Äußerungen des BVerfG lassen vielmehr ein stark materiell-rechtlich geflirbtes Begründungsmuster erkennen. Besonders anschaulich dafür ist die vom BVerfG im Verfahren über die lebenslange Freiheitsstrafe angesichts eines Expertenstreits um mögliche Haftschäden geäußerte Sorge, "daß auch dann, wenn schwere Grundrechtseingriffe in Frage stehen, Unklarheiten in der Bewertung von Tatsachen zu Lasten des Grundrechtsträgers gehen" sollten.419 Damit ist neben der Eingriffsintensität auf die in anderen Entscheidungen wiederholt auftauchenden Kriterien der Bedeutung und des Rangs der betroffenen Grundrechte, des Gewichts der den Eingriff rechtfertigenden Gründe und ähnliche materiell-rechtliche Maßstäbe verwiesen. 420 Offenbar sind sie es, die den Ausschlag geben, ob sich das in dubio pro libertate- oder das in dubio pro auctoritate-Prinzip in einer konkreten Verfassungsfrage letztlich durchsetzt. Nicht weiter verwunderlich ist vor diesem Hintergrund, daß das den Beweislastregeln innewohnende Potential, auch als ein Mittel richterlicher recht, Rdz. 1200 (§ 36 III 6); M. Krie/e, in: J. Isensee I P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. StaatsR, Bd. V (1992), S. 102 (§ 110, Rdz. 1), 122 (§ 110, Rdz. 43). 419

BVerfGE 45, 187,238.

Typisch etwa A. Hamann, NJW 1955, S. 969, 969 ff.; P. Schneider, in: E. v. Caemmerer u.a (Hrsg.), FS f.d. Dt. Juristentag, Bd. II (1960), S. 263, 265; J. Kokott, Beweislast und Prognose, S. 54, 112. 420

B. Vermutungen, Darlegungslast, Beweislast und Beweismaß

181

Zurückhaltung zu dienen, schon einmal leichtfertig als "Verschleierung" des dem grundrechtlich betroffenen Bürger vorgeblich entzogenen Schutzes diffamiert wird. 421 Die Struktur dieses Begründungsmusters wird um so klarer, wenn man sich im Vergleich dazu den schon angedeuteten Argumentationsmechanismus des amerikanischen Modells vor Augen führt: Dort dient die verbreitete Vermutung der Verfassungsmäßigkeit nicht etwa dazu, vom Staat repräsentierte Allgemeininteressen gegenüber schutzwürdigen Individualbelangen auszubalancieren, sondern vor allem dazu - was nach den bereits erwähnten Äußerungen zur Funktionsweise der Vermutungen freilich kaum noch überraschen kann-, einen Bereich gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit gegen den Supreme Court abzuschirmen. Nahezu alle zur Rechtfertigung fiir das generelle Bestehen als auch die konkrete Ausgestaltung einer solchen Vermutung gebrauchten Argumente weisen in diese Richtung. Das gilt für die an Justice Frankfurter gemahnende Einschätzung, der Supreme Court sei die filr Interessenahwägungen denkbar ungeeignetste lnstani22 in ebensolcher Weise wie fiir die Erörterung einer Pflicht zur Rücksichtnahme auf die demokratisch stärker legitimierte und damit vorrangig zur Entscheidung berufene Legislative423 und schließlich genauso filr die Vorstellung einer fiir die Gesetzgebung charakteristischen und damit "gerichtsfesten" Kompetenz zur Verabschiedung auch widersprüchlicher oder sogar ungerechtfertigt anmutender Projekte424 • Damit erweist sich, daß die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, so wie sie vom Supreme Court verstanden wird, und der als Gegensatz zur Freiheitsvermutung gedachte und vom BVerfG theoretisch verwendbare "in dubio pro auctoritate"-Satz425 nicht identisch sind: Während nämlich jene ihre Grundlage in den jeweiligen Kompetenzen von Gesetzgeber und Verfassungsgericht findet, gründet sich dieser auf das - ganz anders gelagerte - Verhältnis von Staat und Bürger.

421

So T. Maunz I G. Dürig- R. Scholz, GG, Rdz 322 (Qei FN 1) zu Art. 12. Ähnlich

U. Zimmerli, ZSR 97 II (1978), S. 1, 119. Wohlgemerkt: Uber die "Richtigkeit" der ei-

nen oder anderen Beweislastregel ist damit nichts gesagt.

422 Oregon v. Mitchell, 400 U.S. 112, 247 f. ( 1970) (Brennan, White, Marshall, conc./ diss. in part). 423

Ebd., S. 202 ff. (Harlan, conc./diss. in part).

P. Brest, Constitutional Decisionmaking (3. Aufl.), S. 573 f.: "It may be perfectly rational for the legislature to make a decision based on facts that it recognizes are likely not to exist ... The high presumption of constitutionality Ieaves such judgments in the hands ofthe 'political' branches." 424

425

Zusammenfassend J. Kokott, Beweislast und Prognose, S. 86 ff.

182

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

V. Zusammenfassung Mit den Mitteln der Vennutung und der Beweislastverteilung stehen Supreme Court und BVerfG theoretisch äußerst effektive Instrumente zur Lösung verfassungsrechtlicher Streitfragen zur Verfiigung. Vor allem dadurch, daß ein Gericht Gesetze mit der Vennutung der Verfassungsmäßigkeit bzw. Verfassungswidrigkeit ausstatten kann, ist es in der Lage, fiir die unmittelbar Prozeßbeteiligten oft streitentscheidende Risikozuweisungen vorzunehmen. Vennutung und Beweislastverteilung sind de facto aber auch in funktionellrechtlicher Hinsicht von Bedeutung. Besonders der Supreme Court hat immer wieder darauf hingewiesen, daß es sich bei ihnen um Instrumente handele, "whereby a court can sharply Iimit both its power of review and the volume of constitutional Iitigation, particularly where attacks are made on legislative acts, and thereby keep within more modest Iimits its important power of judicial review." 426 . Der praktischen Hochätzung von Vennutung und Beweislast in anderen Bereichen der untersuchten Rechtsordnungen zum Trotz ist die unmittelbare Bedeutung der Institute fiir das Verfassungsrecht jedoch eher gering. Die Gründe dafiir sind in den beiden Rechtsordnungen indes jeweils unterschiedlicher Natur: Die geringe Effizienz von Beweislastregeln im amerikanischen Recht ist Folge vor allem einer extensiven Tatsachenfeststellungs-Praxis, die das Entstehen eines non liquet kaum zuläßt. Sind die beschriebenen Zusammenhänge fiir das amerikanische Recht damit aber immerhin von potentiell praktischem Interesse, muß den Vennutungen und Beweislastregeln in der Handhabung durch das BVerfG selbst diese eingeschränkte Bedeutung abgesprochen werden. 427 Vor dem Hintergrund einer im Grunde nicht vollzogenen dogmatischen Aufarbeitung läßt der nur ganz vereinzelt gebliebene, noch dazu überaus unpräzise gerichtliche Umgang mit den Begriffen einen anderen Schluß kaum zu. Für die Struktur der verfassungsrechtlichen Argumentation von besonderer Bedeutung sind die von Supreme Court bzw. BVerfG angezogenen Gründe fiir die eine oder andere Verteilung der Beweislast Hier ist auffällig, daß sich die amerikanische Doktrin hauptsächlich funktionell-, die deutsche dagegen primär materiell-rechtlicher Überlegungen zur Rechtfertigung der von ihr gewählten Beweislastregeln bedient. Während erstere also vor allem an die verschiedenen aus dem Gericht-Gesetzgeber-Verhältnis sich ergebenden Besonderheiten anknüpft, wählt letztere spezifisch grundrechtsbezogene Aspekte wie etwa die

426

P. Kauper, in: H. Mosler (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit (1962), S. 568, 610.

Mögliche Gründe dafür bei P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 333, FN 51; W Berg, Ungewisser Sachverhalt, S. 78 f. (für das Verwaltungsrecht). 427

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

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Schwere des vom Gesetzgeber durchgefiihrten Eingriffs oder die Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechte zum Bezugspunkt.

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen I. Allgemeines

Es ist selbstverständliche Aufgabe eines Gerichtes, sich im Wege eigener Feststellungen oder mit Hilfe der am Streit beteiligten Parteien die Tatsachen zu beschaffen, die nötig sind, um den umstrittenen Sachverhalt unter eine Rechtsvorschrift zu subsumieren. Das Sammeln der entscheidungserheblichen Tatsachen ist geradezu das Herzstück richterlicher Tätigkeit. Im Verfassungsprozeß, d.h. dort, wo es um die Verfassungsmäßigkeit von Normen geht, gilt im Grundsatz nichts anderes. Gegenüber dem gewöhnlichen Rechtsstreit verschiebt sich hier allerdings die Perspektive. Im Vordergrund steht nun nicht mehr die Frage der Subsumtion eines bestimmten Lebenssachverhaltes unter eine einschlägige Rechtsvorschrift, als vielmehr diejenige ihrer Vereinbarkeit mit einer Norm höherer Ordnung. Entgegen dem ersten Eindruck, hierbei handele es sich um ein reines Rechtsproblem, ist indes auch fiir die Beantwortung dieser Frage die Feststellung von "Tatsachen" nötig. Für das bundesverfassungsgerichtliche Verfahren folgt dies ungeachtet des irritierenden Wortlauts des § 81 BVerfGG428 aus dem Wesen der Normenkontrolle selbst. Denn in ihr geht es nicht- wie oft verkürzt formuliert wird429 - um ein schlichtes Vergleichenzweier Normen, sondern "um das Verhältnis eines Gesetzes zu dem ihm vorgegebenen Problem am Maßstab der Verfassung."430 Nichts anderes gilt trotz einer davon verschiedenen verfassungsrechtlichen Ausgangslage fiir den amerikanischen Fall. 431 Welch sensibles Feld damit freilich betreten ist, verdeutlichen noch heute die Reaktionen auf eine Bundestags-Initiative des Abgeordneten Dichgans aus dem

428

Nicht weniger irritierend BVerfGE 18, 186, 192.

429

Vgl. z.B. H. Lechner, BVerfGG, Anm. 2 zu§ l3 Nr. 6.

430 H. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53, 95 f. Ebenso F. Ossenbühl, in: C. Starck (Hrsg.), BVerfG und GG, Bd. I (1976), S. 458, 468; H. Peters (Diskussionsbeitrag), VVDStRL 9 (1952), S. 117, 117. Zusammenfassend H. Weber-Grelle/, Beweislast, S. 23 f. (Normenkontrolle), 25 (Verfassungsbeschwerde). 431 Vgl. nur O'Gorman & Young, Inc. v. Hartford Fire Insurance Company, 282 U.S. 251,257 (1931); Speiser v. Randall, 357 U.S. 513, 520 (1958), aber auch Marbury v. Madison, 5 U.S. (I Cranch) 137, 176 f. (1803) sowie R. Pine, 136 U.Pa.L.Rev. 655, 658 ff. (1988); A. Mason, Supreme Court, S. 30 ff.

184

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Jahr 1970, die gerade diese Facette verfassungsgerichtlicher Kontrolltätigkeit zum Gegenstand hatte. 432 Erbost über eine allzu weit ausgreifende Judikatur des BVerfG hatte Dichgans sich dafur stark gemacht, das Gericht "an Tatsachenfeststellungen des Gesetzgebers und seine Annahmen über die zukünftige Entwicklung" zu binden, sofern deren Heranziehung nicht "mißbräuchlich" und "offenbar unrichtig" sei. Der in eine Novellierung des BVerfGG mündende Vorschlag verfiel jedoch vor allem unter den als Sachverständigen hinzugezogenen Verfassungsrichtern einhelliger, bis zum Verdikt "absoluter Verfassungswidrigkeit" reichender Kritik. Mit der schon nach kurzer Diskussion erfolgten Zurückweisung der Initiative scheint aber nicht nur - vorerst verbindlich - geklärt worden zu sein, daß die selbständige Feststellung von Tatsachen prinzipiell unantastbares Terrain des BVerfG im Bereich der Normenkontrolle ist. Sie wird auch als unumgänglich zur Erfullung der verfassungsgerichtlichen Aufgaben angesehen. "The alternative", so formuliert man zumindest in den USA, "is the renunciation of judicial review itself, and acceptance of the intolerable principle that each Ievel or branch of government is the judge of its own powers."433 Damit ist das Problem gerichtlicher Tatsachenfeststellung freilich nicht gelöst, sondern überhaupt erst aufgeworfen. Die eigentliche Frage, die sich angesichts der offenbar nur schwer bestreitbaren Feststellungskompetenz stellt, ist die nach der Dichte und Intensität der verfassungsgerichtlichen Kontrolle434 • Hier geht es darum, ob ein Gericht bei seiner Ermittlungstätigkeit so rigide verfahren darf, daß es nur die von ihm selbst fur richtig erkannten Tatsachen bzw. die nur ihm selbst am einleuchtendsten erscheinenden Kausalverläufe als verfassungsrechtlich gefordert akzeptiert, oder ob nicht auch alternative Einschätzungen des Gesetzgebers die Verfassungsprüfung bestehen. Tatsachenfeststellung im Bereich der Normenkontrolle ist indes keine in dieser Hinsicht mit den anderen Gerichtsbarkeiten vergleichbare, exakte Wissenschaft. "Legislative" und "adjudikative Tatsachen" weisen dafur allzu markante 432 Zum folgenden vgl. die Dokumentation von W K. Geck (Vorwort), in: K. J. Philippi, Tatsachenfeststellung ( 1971 ), S. V ff. 433 K. Karst, 1960 Sup.Ct.Rev. 75, 86. Ebenso L. Hand, Bill of Rights, S. 27 ff.; R. Pine, 136 U.Pa.L.Rev. 655, 661 f. (1988); H. Baade, 23 J. of Pol. 421, 424 f. (1961). Für Deutschland J. Kokott, Beweislast und Prognose, S. 50 f., II 0 f. 434 Im Zusammenhang dieses Problems ist häufig von der "Überprüfung von Tatsachenfeststellu.!Jgen und Prognoseentscheidungen" die Rede. Genaugenommen ist der Begriff der "Uberprüfung" jedoch nur dann treffend, wenn der Gesetzgeber zu entsprechenden Feststellungen verpflichtet wäre. Ob dies der Fall ist, wird erst im Zusammenhang der "Motivkontrolle" Thema sein. Vgl. einstweilen (eine solche Pflicht ablehnend) K. Korinek, in: K. Stern (Hrsg.), 40 Jahre GG (1990), S. 107, III ff., 117.

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

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Unterschiede auf. Im Verfassungsprozeß ist nicht nur der Kreis potentiell einschlägiger Tatsachen ungleich weiter gezogen und ihre Existenz sehr viel schwerer feststellbar. Vielmehr sind auch die aus ihrem Bestehen zu ziehenden Folgerungen häufig mehrdeutig oder ungewiß. 435 Der abstrakt-generelle Charakter von Gesetzen bewirkt gerade in komplexen Regelungsbereichen, daß sehr vielfältige Informationen mit oft sehr allgemeinem Charakter zu erheben sind. Bei der Weite und Offenheit von Gesetzesbegriffen wird die Feststellung empirischer Grundlagen und Wirkungszusammenhänge freilich schnell zum praktischen Problem. Dabei scheint gerade in Verfassungsfragen das Bedürfnis nach einer zuverlässigen Tatsachengrundlage besonders groß zu sein. 436 Richter am Supreme Court haben sich von ihren Kritikern jedenfalls nicht selten den Vorwurf gefallen lassen müssen, die von ihnen festgestellten Tatsachen seien "unfounded" , "speculative", "questionable", "facile", "improbable" oder sogar ~ . . .437 "tantastJc. Erschwerend kommt hinzu, daß für das Urteil über die Verfassungsmäßigkeil eines Gesetzes nicht nur die Feststellung gegenwärtiger-, sondern auch die Einschätzung zukünftiger Umstände erforderlich sein kann. 438 Solche Prognosen mitsamt den ihnen zugrunde liegenden legislativen Tatsachen sind aber noch weniger dem Beweis zugänglich als die bereits erwähnten gegenwärtigen Umstände. Zuverlässiges dazu, ob etwa eine bestimmte Abtreibungsregelung die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche senkt oder eine Höchstarbeitszeitregelung der Gesundheit der von ihr Betroffenen nützt, läßt sich zum Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung zumeist nicht sagen. Die Lösung dieses Konflikts kann nur in Maß und Modus der gerichtlichen Kontrolle liegen. In ihr wiederum macht sich das funktionell-rechtliche Problem erneut in aller Deutlichkeit bemerkbar. 435 V gl. hierzu nur E. Benda I E. Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rdz. 217 bei FN 34 (§ 13 II). 436 Vgl. K. Davis, Administrative Law, S. 354 ff. (§ 15.03); H. Bikle, 38 Harv.L.Rev. 6, 7 (1924); K. Karst, 1960 Sup.Ct.Rev 75, 84ff., 105ff.; A. Miller / J Barron, 61 Va.L.Rev. 1187, 1226 ff. (1975); J Ely, Democracy and Distrust, S. 53 f. Für Deutschland J Kokott, Beweislast und Prognose, S. 46 f. ; C. Gusy, Gesetzgeber, S. 169 ff. 437 Nachw. bei J Shaman, 35 U.Fia.L.Rev. 236, 237 (1983). Anschaulicher Einblick in die tägliche Praxis des BVerjG bei W. Geiger, Verfassungsgerichtlicher Prozeß, S. 21 ff. sowie bei G. Zöbeley, in: D. Umbach I T. Clemens (Hrsg.), BVerfGG, Rdz. 5 f. zu§ 26. 438 Gleichsetzung gegenwärtiger und zukünftiger "legislativer Tatsachen" bei K. J Philippi, Tatsachenfeststellung, S. 5; F. Ossenbühl, in: C. Starck (Hrsg.), BVerfG und GG, Bd. I ( 1976), S. 458, 466; K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 192; K. Vogel, BVerfG, S. 169 ff.

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

II. Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen in der Praxis von Supreme Court und BVerfG 1. Die Rechtslage in den USA

a) Die Befugnis des Supreme Court zur Tatsachenfeststellung und Folgeneinschätzung aa) Der juristisch-prozessuale Aspekt: adversary proceedinl39 , Revisionstätigkeit und legislative facts

Die Befugnis des Supreme Court zur eigenständigen Ermittlung von Tatsachen ist im Hinblick sowohl auf seine funktionelle Stellung als auch auf das US-amerikanische Verfahrensrecht alles andere als eine Selbstverständlichkeit: Von einem höchsten Revisionsgericht erwartet man eigentlich nur die verbindliche Entscheidung von Rechtsfragen; darüber hinaus scheint der Verhandlungsgrundsatz (adversary proceeding) jede Form selbständiger Tatsachenermittlung zu blockieren.440 Geschriebene Rechtsquellen freilich liefern zu keinem der beiden Aspekte weiteren Aufschluß. Sowohl die amerikanische Verfassung als auch die Supreme Court-eigenen Verfahrensregeln441 sowie schließlich Title 28 U.S.C. 442 sind hierzu vielmehr vollständig unergiebig. Jedoch ist in den ersten Problemkreis- der bestehenden Verwirrung in der amerikanischen Rechtswissenschaft zum Trotz - noch relativ einfach Ordnung zu bringen; die Basis dafiir ist mit der Unterscheidung von adjudicative und legislative facts und der Betonung zweier verschiedener, vom Supreme Court insoweit wahrgenommener Funktionen bereits gelegt. Hinsichtlich der adjudicative facts, also der Tatsachen, die dafiir maßgeblich sind, ob ein bestimmter Lebenssachverhalt die Voraussetzungen einer bestimmten Norm erfiillt, entspricht die Tätigkeit des Supreme Court in der Tat exakt dem Bild eines traditionellen Revisionsgerichts. Hier enthält sich das Gericht im Prinzip jeglicher Kontrolle der von der Vorinstanz getroffenen Feststellungen; ungeprüft übernimmt es statt dessen den von der letzten Tatsacheninstanz vorgefundenen Sachverhalt.443

439 Grundlegender Überblick zum Verfahrensgang bei K. Heller, EuGRZ 1985, S. 685,691 ff.; S. Müller, in: B. Großfeld/H. Roth (Hrsg.), Verfassungsrichter (1995), S. 89, 91 ff. . 440

Vgl. H. Baade, 13 J. ofPol. 421, 425, 426 f. (1961).

Die Rufes ofthe Supreme Court ofthe United States finden sich abgedruckt bei R. Stern u.a., Supreme Court Practice, S. 871 ff. (Appendix A). 441

442

Abgedruckt ebd., S. 909 ff. (Appendix B).

R. Stern u.a., Supreme Court Practice, S. 564 f. (13.11 ), 599 ff. (14.16); R. Stern, Appellate Practice, S. 317 f. (7.30); C. Wright, Federal Courts, S. 759 f. (§ 108); P. 443

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

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Dasselbe ist im Hinblick auf die sog. legislative facts, also die Umstände, die fiir die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm maßgeblich sind, nicht der Fall. Selbst wenn es gemeinhin auch in diesem Fall als prozeßtaktisch günstiger angesehen wird, sie bereits in der Tatsacheninstanz zu erwähnen444, bleibt ein entsprechendes Versäumnis gleichwohl in aller Regel sanktionslos. Hier zieht sich der Supreme Court nicht auf die Position zurück, die Feststellungen hätten bereits vorher zur Kenntnis des Gerichtes gebracht werden müssen. Der überkommenen Aufgabenverteilung zwischen Tatsachenund Rechtsinstanz zum Trotz folgt das Gericht hier also anderen Grundsätzen als bei den adjudicative facts. 445 Ist der Supreme Court entschlossen, über die verfassungsrechtliche Frage zu befinden, eröffnet ihm dies die Möglichkeit446, eine Entscheidung auf der Grundlage selbst ermittelter legislativer Fakten zu treffen; der im Wege der Zurückverweisung erfolgenden Einschaltung eines Tatsachengerichtes bedarf es dafiir nicht. Die Kompetenzfrage ist damit indes noch nicht beantwortet. Denn der Entscheidung des Supreme Court fiir den Weg eigener Tatsachenfeststellung folgt die Frage nach dem anwendbaren Beweisrecht auf dem Fuß. Dabei geht es um das Verfahren, dem sich das Gericht bei der Sammlung der maßgeblichen Fakten zu unterwerfen hat. Insoweit scheint vor allem das adversary eroceeding, der Verhandlungsgrundsatz des amerikanischen Verfahrensrechts 7, dem Supreme Court enge Fesseln filr eine selbständige Feststellungstätigkeit anzulegen. Die Gerichtspraxis bietet zur Bestätigung dieser Vermutung freilich nicht den geringsten Anhalt. Sie läßt vielmehr keinen anderen Schluß zu als den, daß fiir die Ermittlung legislativer Fakten weder die allgemeinen Beweisregeln448 noch die in den F.R.E. niedergelegten, die Faktenermittlung limitierenden Bator u.a., Federal Courts, S. 591 ff. (Kap. V 2 C); P. Kauper, in: H. Mosler (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit (1962), S. 568, 634; F. Scharpf, Political Question, S. 359.

444 Einzelheiten dazu bei R. Stern u. a., Supreme Court Practice, S. 565 ( l3 .11 ). Vgl. auch D. Alfange, 114 U.Pa.L.Rev. 637, 667 f. (1966); H. Baade, 23 J. ofPol. 421, 429 (1961).

445 K. Davis, Administrative Law (Suppl.), S. 528 (§ 15.03); Note, 36 Colum.L.Rev. 283, 285, 286 (1936). Zusammenfassend P. Brest, Constitutional Decisionmaking (1. Aufl.), S. 938 ff. (Kap. 8 II).

446 Zu Alternativen K. Karst, 1960 Sup.Ct.Rev. 75, 95; J. Weinstein/ M. Berger, Evidence, Bd. I, S. 200-16 (§ 200(03)). Vgl. auch Note, 61 Harv.L.Rev. 692, 700 (1948).

447 Dazu J. Weinstein I M. Berger, Evidence, Bd. I, S. 200-17 ff. (§ 200(03)); F. Scharpf, Political Question, S. 359 ff.; ders., 75 Yale L.J. 517, 527 ff. (1966). 448 R. Keeton, 73 Minn.L.Rev. I, 31 f. (1988).

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Grundsätze über die Gerichts- oder Allgemeinbekanntheit von Tatsachen (judicia/ notice)449 gelten. Statt dessen nimmt der Supreme Court, nach Anregung durch die Parteien oder auf eigene Initiative, von solchen Tatsachen schlicht "Kenntnis". Diese Praxis bedeutet vor allem, daß das Gericht unter Umgehung sonst geltender, letztlich auf den Verhandlungsgrundsatz rückfuhrbaren Beweisregeln auch streitige legislative Tatsachen seiner Entscheidung zugrunde legen kann. 450 Damit hat sich das amerikanische dem deutschen, vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verfassungs-Verfahrensrecht auf eine ebenso erstaunliche Weise angenähert, wie es sich von den eigenen Wurzeln im adversary proceeding entfernt hat. Denn fiir die Feststellung legislativer Tatsachen durch den Supreme Court gelten heute faktisch keine anderen Grundsätze als die, die Edmund Morgan schon 1944 fiir die Ermittlung des anwendbaren Rechts aufgestellt hatte: "With regard to legislative facts, too", könnte man demgemäß mit gutem Gewissen ergänzen, "the judge is unrestricted in his investigation and conclusion. He may reject the propositions of either party or of both parties ... He may make an independent search for persuasive data or rest content with what he has or what the parties present ... If he is a trial judge, his conclusion is subject to review. If he is a judge of a court of last resort ... his conclusion is final though contrary to the contentions of the parties and to theretofore accepted postulates, principles, and rules. In all this he is entitled to the assistance of the parties and their counsel ... But the parties do no more than to assist; they control no part ofthe process."451 Die Parallele zu der ausschließlichen gerichtlichen Zuständigkeit in Fragen der Rechtsfindung ist fiir die legislativefactsjedoch auch insoweit hilfreich, als sie deren Charakteristika treffend herausstreicht. So scheint die Frage des Vorliegens oder Nicht-Vorliegens einer bestimmten legislativen Tatsache häufig nahezu identisch mit der Frage nach der Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit einer bestimmten Norm zu sein. Grundlegend ist fiir beide zudem, daß die Disposition über sie, schon· ihrer weit über die unmittelbar 449

Ebd., S. 29 ff.

K. Davis, 55 Colum.L.Rev. 945, 955 (1955); R. Stern u.a. , Supreme Court Practice, S. 565 (13.11); M. Graham, Evidence, S. 29f. (§ 201.1); H. Baade, 23 J. of Pol. 421, 425 ff., 429 (1961). 450

451 E. Morgan, 57 Harv.L.Rev. 269, 270 f. (1944). Für den Umgang mit Iegislativefacts ebenso A. Miller I J Barron, 61 Va.L.Rev. 1187, 1234 f. (1975); K. Karst, 1960 Sup.Ct.Rev. 75, 109; M Graham, Evidence, S. 35. Nur theoretisch richtig daher F. Scharpf, Political Question, S. 358 ff.; ders., 75 Yale L.J. 517, 527 ff. (1966); K. J Philippi, Tatsachenfeststellungen, S. 188.

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

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Beteiligten hinausweisenden Bedeutung wegen452 , jedenfalls nicht den streitbeteiligten Parteien überlassen bleiben kann. Ob all dies auch den Schluß auf eine identische rechtliche Behandlung zuläßt453 , braucht hier nicht entschieden zu werden. Klar ist jedenfalls, daß beide faktisch schon jetzt - einmal freilich systematisch-offen, einmal unsystematisch-versteckt - aus dem Raster der überkommenen amerikanischen Verfahrensdoktrin herausfallen. Als besonders bedenkenswert gerade im Hinblick auf die legislativen Tatsachen wird dies in der amerikanischen Doktrin indes nicht empfunden. 454 Aus den vorgenannten Charakteristika der legislative facts sowie ihrer Nähe zur "Rechtsfrage" ergibt sich schließlich, daß auch die Instanzgerichte zu ihrer Feststellung berechtigt und verpflichtet sind. Das ist unumgänglich, sofern diese Gerichte -was neben dem Supreme Court in vollem Umfang ihre Aufgabe ist455 - über Verfassungsfragen befinden. Gerade in Fragen der Tatsachenermittlung und des Beweises werden Möglichkeiten und praktischer Sachverstand der Feststellungsinstanzen sogar vielfach fiir größer gehalten als der der Revisionsgerichte. Verfassungsprozessuale Geltung verschafft sich diese Vorstellung von Zeit zu Zeit in Form der Zurückverweisung eines Rechtsstreites an die mit der Angelegenheit vorbefaßten Untergerichte. 456 Gleichwohl besteht eine Bindung des Supreme Court an entsprechende Feststellungen der Vorinstanzen - in Anlehnung an das fiir die adjudicative facts geltende System - nach . Ans1c . ht mc . ht. 457 allgememer Jede andere Lösung würde den Supreme Court in Fragen verfassungsrechtlichen Gehalts seiner herausgehobenen Stellung berauben. Die anwaltliehe Praxis hat daraus freilich nicht selten die pragmatische Konsequenz gezogen, das ganze Bouquet legislativer Tatsachen erst im Verfahren vor dem Supreme Court zu öffnen.458 452 Vgl. K. Karst, 1960 Sup.Ct.Rev. 75, 75 ff.; H. Baade, 23 J. of Pol. 421 , 426 f. (1961); W Loh, Social Research, S. 96 f.; J. Kokott, Beweislast und Prognose, S. 43; F. Scharpf, 75 Yale L.J. 517, 523 f. (1966). 453 So etwa J. Monahan I L. Walker, 134 U.Pa.L.Rev. 477 ff. (1986). Vgl. weiterhin J. Kokott, Beweislast und Prognose, S. 60 ff. 454 Vgl. nur M Graham, Evidence, S. 29 f. (§ 201.1); J. Weinstein / M Berger, Evidence, S. 200-16 (§ 200(03)). 455 Vgl. Minnesota v. Clover LeafCreamery Co., 449 U.S. 456 (1981) mit der Prozeßgeschichte ebd., S. 460 f.

456 K. Karst, in: L. Levy u.a. (Hrsg.), Encyclopedia, Bd. 3 (1986), S. 1145 f. ("Legislative Facts"); Note, 61 Harv.L.Rev. 692, 700 (1948); A. Mi/ler / J. Barron, 61 Va.L.Rev. 1187, 1233 ff. (1975). 457

Vgl. J. Monahan I L. Walker, 134 U.Pa.L.Rev. 477, 485 f., 497 f., 513 (1986).

458

R. Stern u.a., Supreme Court Practice, S. 565 (13.11 (1)), 601, FN 40 (14.16).

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Geradezu sprichwörtliche Berühmtheit hat diese Vorgehensweise durch den forensischen Kunstgriff des sog. Brandeis Brie/ 59 erlangt, der seinen Namen dem später berühmten Justice Louis Brandeis verdankt. Dieser hatte im Jahre 1908, damals noch als Rechtsanwalt des wegen einer Arbeitszeitbeschränkung für Frauen verklagten Staates Oregon tätig, dem Supreme Court einen Schriftsatz präsentiert, der sich kaum Mühe gab, die Rechtslage aufzuhellen und die dafür einschlägigen Präjudizien nachzuweisen, sondern statt dessen eine Vielzahl soziologischer, medizinischer und ökonomischer Daten enthielt, mit deren Hilfe Brandeis die Vernünftigkeit, die rational basis, des angegriffenen Gesetzes nachzuweisen trachtete.460 Offensichtlich wollte er damit die Richter weg von den (seiner Wunsch-Entscheidung entgegenstehenden) Präjudizien zu den die Verfassungsfrage tatsächlich beeinflussenden Umständen locken. "The legislation and opinions referred to in the margin", bemerkte die Mehrheit im Supreme Court dementsprechend zu Brandeis Einlassungen, "may not be, technically speaking, authorities, and in them is little or no discusssion of the constitutional question presented to us for determination, yet they are significant of a widespread beliefthat woman's physical structure, and the functions she performs in consequence thereof, justify special legislation restricting or qualifying the conditions under which she should be permitted to toil." Daran knüpfte das Gericht die Folgerung: "When a question of fact is debated and debatable, and the extent to which a special constitutional Iimitation goes is affected by the truth in respect to that fact, a widespread and long continued belief concerning it is worthy of consideration. We take", schloß der Supreme Court, ,judicial cognizance of all matters of general knowledge."461 Das Gericht hatte sich damit einem nachgerade seherischen Diktum seines Mitgliedes Oliver Wendeli Holmes angeschlossen, der bereits im Jahre 1897, damals noch als Richter beim höchsten Gericht des Staates Massachusetts tätig, prophezeit hatte: "For the rational study of law the black-letter man may be the 459 Zum "philosophischen" Hintergrund K. Karst, in: L. Levy u.a. (Hrsg.), Encyclopedia, Bd. 1 (1986), S. 144 f. ("Brandeis Brief'); R. Pine, 136 U.Pa.L.Rev. 655, 658 ff. (1988). Vgl. auch E. Stein, in: AK-GG, Einl. II, Rdz. 18.

460 Muller v. Oregon, 208 U.S. 412 (1908). Zum Inhalt des Schriftsatzes Note, 36 Colum.L.Rev. 283, 285 f., FN 16 (1936). Vgl. auch Jay Bums Baking Co. v. Bryan, 264 U.S. 504, 519 ff. (1924) (Brandeis, Holmes, diss.). 461 Muller v. Oregon, 208 U.S. 412, 420 f. (1908). Weiterhin Paris Adult Theatre I v. Slaton, 413 U.S. 49, 63 (1973); Frontiero v. Richardson, 411 U.S. 677, 684 ff. (1973); Grayned v. Rockford, 408 U.S. 104, 118 f. (1972); Brown v. Board of Education, 347 U.S. 483,493 ff. (1954); Jay Bums Baking Co. v. Bryan, 264 U.S. 504, 517 ff. (1924). Zurückhaltender aber Adkins v. Children's Hospital, 261 U.S. 525, 560 (1923); Borden's Farm Products Co. v. Baldwin, 293 U.S. 194, 208 ff. (1934).

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

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man of the present, but the man of the future is the man of statistics and the master of economics." 462 Allerdings hat sich der Supreme Court gegenüber dem parteiseitigen Vorschlag, legislative und vor allem soziale Fakten bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen, nicht immer so offen gezeigt wie in "Miller". Die Grundhaltung zumindest in den ersten zwei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts war vielmehr die, den wissenschaftlichen Erkenntnissen anderer Disziplinen ein allenfalls aufgeschlossenes Interesse entgegenzubringen, ihnen nicht aber streitentscheidende Bedeutung beizumessen. Genau genommen muß man die in "Miller" zutage getretene Konzilianz des Supreme Court fiir die damalige Praxis sogar als fast einzigartig betrachten: "Lochner", zwei Jahre vorher entschieden, war ganz ohne Rückgriff auf sozialwissen-schaftliche Erkenntnisse ausgekommen, und noch in "Adkins v. Children's Hospital", im Jahr 1923 entschieden, hatte sich die Gerichtsmehrheit geweigert, ein nahezu einstimmig verabschiedetes Mindestlohngesetz fiir Frauen und Kinder aufrechtzuerhalten463 , obwohl der spätere Supreme Court-Justice Frankfurter fiir den beklagten District of Columbia einen Schriftsatz genau nach dem Vorbild Brandeis', noch dazu in einer ganz ähnlichen Frage vorgelegt hatte. Schon typischer flir die Praxis zu Beginn dieses Jahrhunderts ist daher die Stellungnahme von Justice White, der, nachdem er mit einem Brandeis Brief in "Adams v. Tanner" konfrontiert worden war, sarkastisch angemerkt haben soll: "1 could compile a brief twice as thick to prove that the legal profession ought to be abolished."464 Durchgesetzt hat sich diese Skepsis freilich nicht. Heute kann nicht ernsthaft bestritten werden, daß die gerichtliche Feststellung legislativer Fakten jeglicher Couleur unan··465 " htsprax1s fihb ec t are Genc 1st. Aus einer umfangreichen Gerichtspraxis erkennbar ist zudem, daß der Supreme Court heute prinzipiell bereit ist, die in einem Schriftsatz Brandeis'schen Typs angeführten Tatsachen seiner Entscheidung zugrundezulegen. Damit wird aber zugleich die wesentliche Beschränkung deutlich, der eine solche Verfahrensweise unterliegt466 : Der Brandeis Briefist eine Methode, die sich allein auf schriftliche Zeugnisse stützt; sie ist auf diese Weise zwar besonders kostensparend und ressourcenschonend, die Vorzüge der nur in der Tatsacheninstanz erhältlichen Beweismittel bleiben dem Supreme Court seines besonderen Ver462

0. W Holmes, 10 Harv.L.Rev. 457, 469 (1897).

463

Adkins v. Children's Hospital, 261 U.S. 525, 554 ff., 559 f. (1923).

Zitiert nach L. Tribe, Constitutional Law, S. 569, FN 3 (§ 8-3) bzw. A. Mason, Supreme Court, S. 31. 464

465

R. Pine, 136 U.Pa.L.Rev. 655, 663 bei FN 27 mwN (1988).

466

Vgl. nur K. Karst, 1960 Sup.Ct.Rev. 75, 100 ff. mwN.

192

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

fahrens wegen unter diesen Umständen jedoch verschlossen. Gerade im Hinblick auf die häufig umstrittenen legislative facts mag man dies bedauern. Das kompliziert amutende Zusammenspiel von adjudicative und legislative facts verdeutlicht am besten die Situation, in der der Supreme Court ein Gesetz nicht glattweg, also ,. on its face ", für verfassungswidrig erklärt, sondern nur in seiner spezifischen Anwendung- ,. as app/ied" - auf einen bestimmten Einzelfall. Hier hat das Gericht zunächst die Tatsachen festzustellen, die die Heranziehung der streitgegenständlichen einfach-gesetzlichen Rechtsvorschrift auf den Kläger rechtfertigen. Bei der Ermittlung dieser adjudicative facts sieht sich das Gericht an die in den Vorinstanzen getroffenen Feststellungen traditionell gebunden; aus ihnen ergibt sich, ob die Rechtsanwendung als solche fehlerfrei erfolgt ist. Wenn man so will, nimmt das Gericht diese Aufgabe in seiner Funktion als gewöhnliches Revisionsgericht wahr. In einem nächsten Schritt hat das Gericht dann -jetzt in seiner Funktion als Verfassungsgericht tätig - zu überprüfen, inwieweit die in Frage stehende Rechtsvorschrift in der spezifischen Auslegung, die sie im vorangehenden Arbeitsgang erfahren hat, mit der Verfassung vereinbar ist. Hier nun können legislative facts von Bedeutung sein, etwa bei der Frage, ob eine vernünftige Basis für die vom Gesetzgeber gemachten Annahmen besteht oder ob der vom ihm angeordnete Eingriff den Bürger so schonend wie möglich trifft. 467 Von den für die Beantwortung dieser Fragen maßgeblichen Tatsachen erfiihrt der Supreme Court vollständig freilich häufig erst in den ihm eingereichten Schriftsätzen der Parteien. Haben die Vorinstanzen hierzu bereits Feststellungen getroffen, besteht eine Bindung des Supreme Court an sie gleichwohl nicht. bb) Der praktisch-kompetenzie/le Aspekt: Gericht, Gesetzgeber und legislative facts

Schon am Rande ist angeklungen, daß dem amerikanischen System des Verfassungsrechtsschutzes eine originäre Tatsachenfeststellungs-Instanz nicht zur Verfügung steht. Andererseits hat es der Supreme Court unausweichlich mit eben diesen Tatsachen zu tun. Gewichtige Stimmen haben dieses Manko zum Anlaß genommen, dem höchsten amerikanischen Gericht die Kompetenz zur Ermittlung legislativer Fakten dem Grunde nach abzusprechen. Von Bedeutung ist diese Kritik vor allem für das Verhältnis des Supreme Court zum Gesetzgeber: Wenn nämlich, so lautet die Überlegung, das Urteil über die Verfassungsmäßigkeit einer Norm einerseits entscheidend auf "Tatsachen" beruhe, andererseits aber dem Gericht ein nur bescheidenes Instrumentarium zu deren Feststellung zur Verfügung stehe, müsse sich letztlich diejenige Instanz mit ihrer Ein467 Vgl. flir die overbreadth-Fälle R. Pine, 136 U.Pa.L.Rev. 655, 699 f. mit FN 193 (1988).

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

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schätzung durchsetzen, die auf die vergleichsweise besseren Möglichkeiten zu einer solchen Feststellung zurückgreifen könne, nämlich der Gesetzgeber. 468 In "Furman v. Georgia", einer Entscheidung, in der die rechtsstaatliehen Voraussetzungen für die Auswahl von zur Todesstrafe Verurteilter näher spezifiziert wurden, läßt sich eine gerichtlicher Tatsachenfeststellung gegenüber kritische Stimme sogar aus dem Supreme Court selbst vernehmen. Chief Justice Burger bemerkte dort in einer abweichenden Ansicht, daß die Frage, ob die gegen die Todesstrafe sprechenden Tatsachen zutreffend seien oder nicht, in einem Gerichtsverfahren herkömmlichen Musters nicht geklärt werden könne. Effektivere Erkenntnismittel ständen demgegenüber dem Gesetzgeber zur Verfiigung, dem das Gericht in dieser Entscheidung folglich den Vortritt zu lassen habe. 469 Obwohl auch einem in puncto Tatsachenfeststellung sehr autoritär agierenden Gericht Wege offenstehen, Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers anzuerkennen470 - "Muller v. Oregon, der Brandeis Brief-Fall, ist dafilr ein gutes Beispiel -, ist doch das Motiv der Skeptiker einer solchen Praxis nur allzu deutlich. Sie gehen nicht ohne Grund davon aus, daß ein möglichst weitreichendes Zurückstehen des Supreme Court bei der Tatsachenfeststellung sich prinzipiell hemmend auf die richterliche Verfassungs-Rechtsfortbildung und deshalb zugunsten des Gesetzgebers auswirken werde. Es ist kein Zufall, daß der Schluß von der fehlenden Möglichkeit auf die fehlende Kompetenz zur richterlichen Tatsachenfeststellung ein Produkt gerade der amerikanischen Kritik ist. Denn im dortigen Verfassungsprozeß werden die institutionellen Defizite des Supreme Court als eine Tatsachen feststellende Instanz in der prinzipiellen (wenn auch, wie zu sehen war: faktisch eingeschränkten) Geltung des Verhandlungsgrundsatzes sowie dem Fehlen eines beim Gericht selbst verankerten Mechanismusses zur Beweiserhebung besonders deutlich. Wie begründet auch immer diese Vorbehalte sein mögen, so haben sie doch in der Mehrheits-Rechtsprechung des Supreme Court keinen prinzipiellnachhaltigen Niederschlag gefunden. Da sie zudem nicht normativ, erst recht nicht verfassungsrechtlich, sondern ausschließlich pragmatisch-institutionell 468 Nachw. bei D. Alfange, 114 U.Pa.L.Rev. 637, 639 ff. (1966); R. Lee, 7 Harv.J.L.Pub.Pol. 35, 39 (1974); H. Voss, Meinungsfreiheit, S. 149 ff.; J Kokott, Beweis1ast und Prognose, S. 57 ff. Vgl. auch J Shaman, 35 U.F1a.L.Rev. 236, 245 ff. (1983). 469 Purman v. Georgia, 408 U.S. 238, 383 f., 385 ff., 395 f., 403 ff. (1972) (Burger, diss.). Zur Praxis der Tatsachenfeststellung W K. Geck, in: D. Blumenwitz I A. Randelzhofer (Hrsg.), FS f. F. Berber (1973), S. 165, 193 ff. Siehe auch Oregon v. Mitchell, 400 U.S. 112, 247 f. (1970) (Brennan, White, Marshall, diss.). Vgl. auch Clebume v. C1ebume Living Center, Inc., 473 U.S. 432, 442 f. (1985).

470 Vgl. flir diesen oft übersehenen Zusammenhang K. J Philippi, Tatsachenfeststellung, S. 187 f.

13 Simons

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

fundiert sind, scheint es gerechtfertigt, ihnen an dieser Stelle keine weitere Aufmerksamkeit zu schenken.471 Bleibendes Verdienst dieser Kritik ist indes, daß sie veranschaulicht, welche Bedeutung der konkreten Ausübung der Tatsachenfeststellungs-Kompetenz durch den Supreme Court beizumessen ist. Deren Formen sind Gegenstand des folgenden Abschnitts. b) Die Praxis des Supreme Court aa) Tatsachenfeststellungen

Tatsachenfeststellungen spielen in der Praxis des Supreme Court vor allem bei der Frage eine Rolle, ob zwischen dem vom Gesetzgeber gewählten Mittel und dem von ihm anvisierten Ziel ein genügend enger Zusammenhang besteht. Dabei sind zwei Aspekte zu unterscheiden: Zum einen der, worin genau der "Ertrag" eines Gesetzes besteht, vorausgesetzt, es erreichte sein Ziel vollständig, zum anderen, als wie groß die Chance zu veranschlagen ist, daß es zu einem solchen vollständigen (oder nur teilweisen) Erfolg kommt. Darüber hinaus kann das Problem legislativer Fakten auch bei der Frage, ob es sich bei der verabschiedeten Regelung um die für den Betroffenen denkmöglich schonendste Lösung handelt, auftauchen. Dazu genau komplementäre Fragen lassen sich aus der Perspektive des von dem Gesetz betroffenen Individuums formulieren: Für dieses ist in erster Linie von Bedeutung, welches Maß an Einbußen individueller Freiheit es mit welcher Wahrscheinlichkeit zu befilrchten hat, aber auch, wieviel weniger es zu erdulden hätte, wenn vom Gesetzgeber eine andere Regelung verabschiedet worden wäre. 472 Die Antworten erst aus beiden Fragenkomplexen ergeben, ob das Interesse des Gesetzgebers an der Verabschiedung eines Gesetzes dasjenige des Bürgers, von diesem nicht belästigt zu werden, nach Maßgabe des jeweiligen Kontrollmaßstabes überwiegt. Überschlägig gesprochen, hat der Supreme Court stets betont, daß er prinzipiell bereit sei, den speziellen Sachverstand des Gesetzgebers bei der tatsächlichen Einschätzung der von diesem verabschiedeten Regelungen anzuerkennen. In seinen Urteilen hat diese Haltung darin Ausdruck gefunden, daß das Gericht sich bei der Beurteilung der Richtigkeit bestimmter Annahmen des Gesetzgebers streng zurückgehalten und statt dessen nur untersucht hat, ob seiner Anordnung vor dem Hintergrund der objektiv bestehenden oder ihm sogar nur subjektiv vorschwebenden473 Fakten eine irgendwie vernünftige 471 Positive Würdigung der Supreme Court-Praxis z.B. bei P. Brest, Constitutional Decisionmaking (I. Autl.), S. 938 (Kap. 8 li); S. Wright, 54 Com.L.Rev. l, 3 ff. (1968); K. Karst, 1960 Sup.ct.Rev. 75, 76 f.; H. Seibert, EuGRZ 1978, S. 386, 386. 472

Zusammenfassung bei K. Karst, 1960 Supr.Ct.Rev. 75, 84.

P. Freund, Supreme Court, S. 88 f.; W Loh, Social Research, S. 96, FN 6 (L. Brandeis). Dazu J. Tussman I J. ten Broek, 37 Cai.L.Rev. 341, 367 f. (1949): (To ap473

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

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Überlegung zugrunde gelegen hat oder jedenfalls - dazu sogleich - zugrunde gelegen haben könnte. Der in diesem Zusammenhang gebrauchte Terminus reasonableness, von dem nachlässigsten der vorn Gericht verwendeten Prüfungsmaßstäbe bekannt, mutiert damit bei der Tatsachenkontrolle zum Synonym für constitutionality. "There is cornrnon agreernent", formuliert Karst zutreffend für den Großteil der vorn Suprerne Court entschiedenen Fälle, "that a court normally exarnines legislative facts not to determine their "truth", but to determine whether a reasonable legislative judgrnent could have been rnade supporting the statute in its enacted form. " 474 Der eben erwähnte Brandeis Brief ist geradezu das Musterbeispiel einer Begründungstechnik, vermittels derer dem Gericht genau diese Annahme erleichtert werden sollte. Der in "Muller" verwendete Schriftsatz konnte und wollte475 natürlich gar nicht den Nachweis führen, daß die in ihm genannten soziologischen, psychologischen und ökonomischen Annahmen absolut zutreffend seien, wohl aber vermochte er als Beleg dafür zu dienen, daß die vom Gesetzgeber angestellten Überlegungen nicht völlig willkürlich waren, die verabschiedete Regelung also eine gute Chance hatte, die anvisierte Verbesserung der Gesundheit arbeitstätiger Frauen auch tatsächlich zu erreichen. Der Ausgang des Verfahrens - die Aufrechterhaltung des Gesetzes - ebenso wie seine Begründung waren denn auch für die damalige Situation ebenso überraschend wie für die heutige Perspektive selbstverständlich. Ein Beispiel für den modernen Umgang mit legislative facts liefert die Entscheidung "Minnesota v. Clover Leaf' aus dem Jahr 1981. Darin ging es um ein Umweltgesetz des Staates Minnesota, demzufolge der Verkauf von Milch (nur) in Plastik-Einwegverpackungen verboten sein sollte. Vor dem trial court legten die Kläger - verschiedene, mit der Herstellung und dem Vertrieb von Plastikbehältern befaßte Unternehmen - umfangreiches Material vor, dessen einziger Zweck darin bestand zu zeigen, daß die statt dessen verwendeten Kartonverpackungen weitaus schädlichere Umwelteinwirkungen als das Plastikmaterial zeitigen würden. 476 Verfassungsrechtlich "übersetzt" versuchten die Kläger also nachzuweisen, daß es dem umstrittenen Gesetz an einer ausreiproach the problern this way) "suggests an attitude of deference to legislative judgment of fact. The Court ... may refuse to challenge it on the ground that the determination offact is peculiarly a legislative function." 474 K. Karst, 1960 Supr.Ct.Rev. 75, 84 f. Anschaulich South Carolina Highway Department v. Barnwell Brothers, Inc., 303 U.S. 177, 191 f. (1938).

13*

475

P. Brest, Constitutional Decisionmaking (I. Aufl.), S. 1006 f. (Kap. 10 li B).

476

Minnesota v. Clover LeafCreamery Co., 449 U.S. 456, 463 f. (1981).

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

chend engen Mittel-Zweck-Beziehung fehle. Dabei bestand unter den Parteien durchaus Einigkeit darüber, daß in dieser unter dem Gleichheitssatz zu entscheidenden Frage der nachlässige mere rationality-Standard zur Anwendung komme. Nur waren die Kläger der Ansicht, jedes einzelne Element der Prüfung müsse in tatsächlicher Hinsicht überzeugend unterfüttert sein, um dem staatlichen Hoheitsträger eine Rechtfertigung für die von ihm vorgenommene Ungleichbehandlung zu geben. Der Argumentation des Gerichtes gegenüber vermochten diese Überlegungen jedoch nicht zu verfangen: Sobald nicht absolut ausgeschlossen sei, daß die gesetzgeberischen Annahmen vor dem Hintergrund des für den Umweltschutz relevanten Wissens zutreffend seien, solange sich also, mit anderen Worten, auch nur die geringste Basis für deren reasonableness finden lasse, müsse die verabschiedete Regelung Bestand haben, ohne daß das Bestehen des erforderlichen Kausalzusammenhangs sicher nachgewiesen sei. Ansonsten bestehe die Gefahr, daß der Supreme Court seine Präferenzen an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setze.477 Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang freilich der Umstand, daß, je nach zum Einsatz gebrachtem Prüfungsstandard, die Gründlichkeit, genauer gesagt: die Stoßrichtung der vom Supreme Court durchgeführten Tatsachenfeststellung wechselt: Kommt der strenge Prüfungsstandard zur Anwendung, stellt der Supreme Court für gewöhnlich einige Anforderungen an die Qualität, d.h. vor allem die Zuverlässigkeit der vorgetragenen oder als gegeben angenommenen Tatsachen; im Zweifelsfall setzt er- was weit über die Heranziehung einer bloßen Beweislastregel hinausgeht - seine eigene, dem Gesetzgeber nahezu regelmäßig nachteilige Beurteilung der legislative facts 478 ohne zu zögern an dessen Stelle. Unter dem nachlässigen Prüfungsstandard dagegen ist das Gericht bereit, eine erheblich größere tatsächliche Unsicherheit in Kauf zu nehmen oder, aus einem funktionellen Blickwinkel betrachtet, die tatsächliche Einschätzung des Gesetzgebers eher als verbindlich zu akzeptieren.479 Ein Beispiel dafür ist "Minnesota v. Clover Leaf'. Sogar noch weitergehend entspricht es einer ständigen Gerichtspraxis, im Falle unsicherer Faktengrundlage die zur Stützung eines Gesetzes erforderlichen tatsächlichen Annahmen schlicht zu fmgieren 477

Ebd., S. 464, 469, 470.

Nachw. bei K. Karst, 1960 Sup.ct.Rev. 75, 107; R. Pine, 136 U.Pa.L.Rev. 655, 667 f. ( 1988). Vgl. auch die Einschätzung der gerichtlichen Praxis während der "Lochner"-Ära durch P. Rosen, Social Science, S. 90. 478

479 Vgl. auch Powell v. Pennsylvania, 127 U.S. 678, 686 (1888); Standard Oil Company v. Marysville, 279 U.S. 582, 584 (1929).

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

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und zwar selbst für den Fall, daß der Gesetzgeber sich hinsichtlich der vom Gericht konkret angenommenen Umstände nachweislich keinerlei Gedanken gemacht hat, er sein Vorhaben also jedenfalls nicht auf der angenommenen Basis angelegt haben kann. 480 Diese, allerdings nur unter dem mere rationality-Standard zu beobachtende Großzügigkeit wird schön verdeutlicht durch die bereits erwähnte "Carolene Products"-Entscheidung, die das Verbot eines bestimmten Milchprodukts zum Gegenstand hatte. Ohne den Nachweis eines Zusammenhanges zwischen dem Handel mitjilled milk und dem Auftreten bestimmter Gesundheitsschäden- so lautete das Monitum der Kläger - stelle die Regelung einen Verstoß u.a. gegen die due process-Klausel des 5. Amendment dar. 481 Das hielt der Supreme Court freilich gleich in doppelter Hinsicht für falsch: Zum einen sah das Gericht schon den bestrittenen Nexus als bewiesen an482, zum anderen konnte es sich aber auch den Hinweis nicht verkneifen, daß selbst im Falle des Fehlens von diese Annahme tragenden Fakten deren Bestehen fingiert würde: "Even in the absence of such aids the existence of facts supporting the legislative judgment is to be presumed, for regulatory regulation affecting ordinary commercial transactions is not to be pronounced unconstitutional unless in the light of the facts made known or generally assumed it is of such a character as to preclude the assumption that it rests upon some rational basis within the knowledge and experience ofthe legislators."483 Bei einem bloßen obiter dieturn wie in "Carolene Products" ist der Supreme Court indes nicht stehengeblieben. In späteren Entscheidungen hat das Gericht dem Gesetzgeber die Mühe der (Gegen-)Beweisführung vielmehr häufig praktisch vollständig abgenommen. Um einen solchen Fall ging es in "Williamson v. Lee Optical": Ein Gesetz des Staates Oklahoma sah vor, daß Optiker nur dann (auch alte) Brillengläser in die dazugehörigen Rahmen einpassen dürften, wenn ihnen ein ärztliches Rezept vorgelegt würde. Das Untergericht hatte diese Regelung als "not reasonably and rationally related to the health and welfare of the people"484 und damit als 480

Dazu P. Brest, Constitutional Decisionmaking (I. Aufl.), S. 1010 ff. (Kap. 10 III).

481

United States v. Carolene Products Co., 304 U.S. 144, 149, FN 2,3 (1938).

482

Ebd., S. 148.

Ebd., S. 152. Nicht immer spricht der Supreme Court in diesem Zusammenhang von presumptions, vgl. etwa ebd., S. 154: "lnquiries, where the legislative judgment is drawn in question, must be restricted to the issue whether any state of facts either known or which could reasonably be assumed affords support for it." 483

484

Zitiert in Williamson v. Lee Optical, 348 U.S. 483, 486 (1955).

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einen ungerechtfertigten Eingriff in die von der due process-Kiausel des 14. Amendment geschützte Freiheit der Berufsausübung angesehen. Und in der Tat hatte sich der Gesetzgeber, legt man die tastenden gerichtlichen Äußerungen zugrunde, auch nicht die geringste Mühe gemacht, die Tatsachen und Beweismittel zu nennen, die sein Gesetz als einen gerechtfertigten Grundrechtseingriff hätten ausweisen können. Diese Arbeit nahm ihm nun der Supreme Court ab, indem er verschiedene, rein hypothetische Überlegungen dazu anstellte, unter welchen Umständen das umstrittene Gesetz aufrecht erhalten werden könnte. "The legislature might have concluded', räsonnierte dementsprechend das Gericht, "that the frequency of occasions when a prescription is necessary was sufficient to justify this regulation ... or the legislature may have conc/uded that eye examinations were so critical ... that every change in frames and every duplication of a lense should be accompanied by a prescription from a medical expert."485 Eine Fülle weiterer Spekulationen wäre denkbar gewesen. Dabei wird deutlicher noch als in dem eben erwähnten "Carolene Products"Beispiel, daß ein solches Mutmaßen über die einem Gesetz zur Verfassungsmäßigkeit verhelfenden legislative facts sehr viel weiter reicht als eine erst den Zustand der Beweislosigkeit überwindende Vermutung (in diesem Fall: der Verfassungsmäßigkeit). Wäre der Supreme Court nämlich von einer solchen Vermutung ausgegangen, hätten sich mit seinen Reflexionen zum Sachverhalt, also den tatsächlichen Umständen, notwendig solche zur Beweislast verbinden müssen. Statt dessen aber ließen seine Äußerungen erkennen, daß das Gericht den hypothetisch vorgestellten Sachverhalt seinen im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes angestellten Überlegungen "tatsächlich" zugrunde zu legen gedachte und die Verfassungsfrage auf dieser Grundlage fiir eindeutig beantwortbar hielt. 486 Es ist offensichtlich, daß bei einer solchen Haltung die Erfolgsaussichten des von einem vorgeblich verfassungswidrigen Gesetz Betroffenen erheblich geschmälert sind: Er hat nun nicht nur Beweis dafiir anzutreten, daß die vom Gesetzgeber realiter angestellten Überlegungen jeder Grundlage entbehren, sondern auch dafiir, daß das Gleiche auf alle nur irgendwie denkbaren, im Extremfall rein hypothetischen Umstände zutrifft. Da indes gerade diese hypotheti-

485

Ebd., S. 487. (Hervorhebung vom Verf.)

486 Zur grundsätzlichen Problematik vgl. Note, 36 Colum.L.Rev. 283, 286 f. , FN 21: "The line between the facts presumed and facts judicially noticed is sometimes very difficult to draw. The difference would seem to be one in the degree of probability of the truth of the Statement, dependent on the amount of pertinent knowledge which the COUrt has."

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

199

sehen Umstände regelmäßig erst im Urteil selbst zutage treten, besteht fiir den Kläger de facto kaum eine Chance, seine Einwände zu artikulieren. 487 Die vom Supreme Court geübte Praxis, die fiir den Mittel-Zweck-Zusammenhang erforderlichen Tatsachen zu fmgieren, setzt das Bestehen eines klar definierten gesetzlichen Zweckes oder Zieles ("end') voraus. Gelegentlich hatte (und hat) es das Gericht aber auch mit Fällen zu tun, in denen ein solcher Zweck nicht deutlich erkennbar war - sei es, daß es an ihm nach Ausschöpfung aller Erkenntnismethoden scheinbar überhaupt fehlte, sei es, daß er mehrdeutig oder unklar formuliert war. Dies (also die Identifizierung des genauen Zwekkes) ist ungleich weniger wichtig fiir die- wie zu sehen war: in aller Regel zu bejahende - Frage danach, ob dieser Zweck verfassunggemäß ist, als im Hinblick darauf, daß die eingesetzten Mittel in ihrer Korrelation gerade zu diesem Zweck zu untersuchen sind. Je nachdem, worin das Gericht den konkreten Zweck eines Gesetzes sieht, kann also auch die Verfassungsprüfung verschiedene Wege nehmen. Nach der unter dem mere rationality-Standard vorherrschenden Praxis488 wählt der Supreme Court unter den vom Gesetzgeber ausdrücklich genannten Zielen freilich regelmäßig dasjenige aus, das die streitgegenständliche Regelung als verfassungsgemäß erscheinen läßt. Das gilt selbst dann, wenn nur eines von ihnen den Test auf seine Verfassungsmäßigkeit besteht, die anderen etwa, weil sie verboten489 oder nur ungenügend auf das eingesetzte Mittel bezogen sind490 - dagegen nicht. Darüber hinaus ist das Gericht sogar bereit, verfassungsrechtlich legitime Ziele zu fingieren, sofern die ihm zur VerfUgung stehenden Beweismittel ein solche Ziele nicht zutage fördern. Nicht erforderlich ist dabei, daß von seiten der die gesetzliche Regelung verteidigenden Partei hierzu irgendein Hinweis an das Gericht gegeben würde. In der Logik dessen liegt schließlich, daß auch solche Ziele in die gerichtlichen Überlegungen eingeschlossen werden, die aller Wahrscheinlichkeit nach ohne jeden aktuellen 487 So J Nowak/ R. Rotunda, Constitutional Law, S. 375 (§ 11.4). Vgl. auch Ferguson v. Skrupa, 372 U.S. 726,731 f. (1963). L. Tribe, Constitutional Law, S. 582 (§ 8-7) meint, das Gericht habe das in "Ferguson" umstrittene Verbot des debt-adjusting tur Nicht-Juristen aufrechterhalten "for virtually no substantive reason at all ... The Court almost appeared to treat pure political interest-balancing and log-rolling compromise as normative acceptable." 488 Zu ihr G. Gunther, Constitutional Law, S. 456 ff., 462 ff.; J Shaman, 35 U.Fla.L.Rev. 236, 248, FN 111 (1983) sowie (fl.ir den Gleichheitssatz) Note, 82 Harv.L.Rev. 1065, 1077 ff. (1969). 489

Goesaert v. Cleary, 335 U.S. 464, 465, 467 (1948).

Vgl. Two Guys from Harrison-Allentown, Inc. v. McGinley, 366 U.S. 582, 590 ff. (1961) sowie (als Ausnahme) F.S. Royster Guano Co. v. Virginia, 253 U.S. 412, 418 (1920) (Brandeis, diss.). 490

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Einfluß auf die Entscheidung des Gesetzgebers geblieben sind - eine Praxis, die Tribe zu der treffenden Einschätzung provoziert hat, unter dem mere rationality-Standard seien "the possibilities for inventing plausible purposes ... limited only by the Court's imagination." 491 Was zuvor zum gerichtlichen Umgang mit dem rational basis-Test der due process-Kiausel gesagt wurde, gilt in genau gleicher Weise fiir die unter equal protection-Gesichtspunkten entschiedenen Fälle. Auch hier findet sich sowohl die Bereitschaft, ungenannte492 oder sogar andere als die ausdrUcklieh formu493 494 I . . he z·Je Ie zu fimg1eren . . Ne1gung, . das Vor1Jerten gesetzgebensc a s auch eme liegen derjenigen Tatsachen zu vermuten, die zur Ausfiillung der MittelZweck-Relation erforderlich sind495 . Ein weites Feld verfassungsrechtlich bedeutsamer Fälle ist damit diesem Modus von Verfassungskontrolle eröffnet. Dabei dokumentieren die referierten Entscheidungen eine bemerkenswerte Entwicklung: Boten nämlich zunächst noch die von den Verteidigern eines Gesetzes angebotenen Tatsachen und Beweise eine vom Gericht nur gelegentlich 491 L. Tribe, Constitutional Law, S. 302 f. (§ 5-3) mwN. Ebenso Note, 95 Harv.L.Rev. 91, 157 (1981). Vgl. auch Kotch v. Board ofRiver Port Pilot Commissioners, 330 U.S. 552, 555 (1947). 492 Eine Ausnahme zu bilden scheint McGinnis v. Royster, 410 U.S. 263, 276 (1973), wo das Gericht andeutet, es werde sich weigern, ein verfassungsmäßiges gesetzgeberisches Ziel zu fingieren, sofern dieses nicht von einem der das Gesetz verteidigenden Beteiligten ausdrücklich artikuliert wurde (Nachweise auch bei U.S. Railroad Retirement Board v. Fritz, 449 U.S. 166, 187 ff. (1980) (Brennan, diss.)). Die Verbindlichkeit der Entscheidung ist allerdings heftig umstritten. Die h.M. geht davon aus, daß es bei der großzügigen, d.h. keine ausdrückliche Artikulation verlangenden Gerichtspraxis bleiben werde, vgl. Note, 95 Harv.L.Rev. 91, 157 ff. (1981). Interessant ist an dem Meinungsstreit, daß für beide Ansichten in erster Linie funktionelle Argumente ins Feld geflihrt werden. Während G. Gunther, 86 Harv.L.Rev. I, 44 ff. (1972) meint, das Insistieren auf einem ausdrücklich artikulierten Gesetzeszweck fördere die Qualität des politischen Prozesses, beflirchten L. Tribe, 87 Harv.L.Rev. I, 5 f. mit FN 28 (1973) und Note, 95 Harv.L.Rev. 91, 159 f. (1981) anti-demokratische Bevormundung im Stile von "Lochner".

493

W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 165 mwN.

Vgl. Kotch v. Board ofRiver Pilot Commissioners, 330 U.S. 552,557 ff. (1947); McDonald v. Board ofEiection, 394 U.S. 802, 807 ff. (1969); U.S. Railroad Retirement Board v. Fritz, 449 U.S. 166, 179 (1980). Aus der Literatur L. Tribe, Constitutional Law, S. 1443 ff. (§ 16-3 f.); Note, 82 Harv.L.Rev. 1065, 1077 ff. (1969); J. Ely, Democracy and Distrust, S. 125 ff. 494

495 McGowan v. Maryland, 366 U.S. 420, 425 f. (1961): "A statutory discrimination will not be set aside if any state offacts reasonably may be conceived to justify it." Weiterhin Lindsley v. Natural Carbonic Gas Co., 220 U.S. 61, 78 (1911); Flemming v. Nestor, 363 U.S. 603,611 (1960). Aus der Literatur Note, 82 Harv.L.Rev. 1065, 1082 f. (1969); Note, 95 Harv.L.Rev. 91, 157 (1981); W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 165.

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

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wahrgenommene Möglichkeit, dessen Rationalität anzunehmen, ist es infolge der Bereitschaft des Supreme Court, die zur Stützung des Gesetzes erforderlichen Umstände zu unterstellen, den Angreifern inzwischen nahezu unmöglich geworden, ein Gesetz zu Fall zu bringen. Im Grunde verzichtet der Supreme Court für die dem mere rationa/ity-Standard unterliegenden Fälle auf eine selbständige Tatsachenfeststellung. Damit nimmt das Gericht dem Betroffenen praktisch jede realistische Chance, die Irrationalität der von ihm angegriffenen Regelung unter Beweis zu stellen.496 Für einen großen Bereich verfassungsrechtlicher Streitigkeiten hat sich damit verwirklicht, was Louis Brandeis - wiederum in einem seiner berühmten Schriftsätze - zur Rolle des Supreme Court ausgeführt hatte. "Each one of these Statements contained in the brief in support of the contention that this is wise legislation", hatte er dort zur Verteidigung eines Minimallohn-Gesetzes gesagt, "might upon further investigation be found to be erroneous, each conclusion of fact may be found afterwards to be unsound - and yet the constitutionality of the act would not be affected thereby. This court is not burdened with the duty of passing upon the disputed question whether the legislature ... was wise or unwise, or probably wise or unwise, in enacting this law. The question is merely whether ... you can see that the legislators had no ground on which they could, as reasonable men, deem this legislation appropriate to abolish or mitigate the evils believed to exist or apprehended." 497 Wie bereits angedeutet, ist die Bereitschaft des Supreme Court, eine ausreichende Tatsachengrundlage zu unterstellen oder sich den Einschätzungen des Gesetzgebers zu beugen, deutlich schwächer ausgeprägt, wenn das Gericht den strengen Prüfungsmaßstab zur Anwendung bringt. Weder die Suche nach hypothetischen Zwecken noch die Übernahme vom Gesetzgeber als bestehend angenommener Tatsachen gehört hier zum Prüfungsalltag. Dementsprechend akzeptierte die Gerichtsmehrheit in "Lochner" von den zwei vom Gesetzgeber genannten Zielen der umstrittenen Arbeitszeitregelung im Ergebnis nicht eines: Während die hoheitliche Herstellung eines Verhandlungsgleichgewichts als Förderung eines rein privaten Interesses per se verfassungswidrig sei, könne in puncto Gesundheitsförderung von einer Schutzwürdigkeit gerade der Bäcker und vom Bestehen eines entsprechenden Kausalzusammenhanges keine Rede sein. Darüber hinaus machte das Gericht klar, daß es bloße Schutzbehauptungen im Hinblick auf das verfolgte Ziel ohnehin nicht akzeptiere; wenn der 496 Vgl. J Shaman, 35 U.Fla.L.Rev. 236, 249 (1983); H. Baade, 23 J. of Pol. 421, 429 (1961). 497 Unter Bezugnahme auf Stettler v. O'Hara, 243 U.S. 629 (1917) zitiert nach W Loh, Social Research, S. 96, FN 6. Vgl. auch P. Bresl, Constitutional Decisionmaking (3. Aufl.), S. 572 ff.

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Gesetzgeber erkläre, ihm gehe es um das gesundheitliche Wohl der Bäcker, sei das schlechthin unglaubwürdig. 498 Diese Rigorosität findet ihre Ursache freilich auch darin, daß das dem Gesetzgeber unter strict scrutiny abverlangte Beweismaß ein sehr hohes ist; schon dadurch vergrößert sich der Zwang, nur fiir den Fall wirklich überzeugender Tatsachen eine in Grundrechte eingreifende Regelung zu erlassen. Auch ist der so krass anmutende Kontrast zwischen den beiden Kontrollstandards zu einem guten Teil nur die notwendige Folge davon, daß zwischen Rücksichtnahme gegenüber dem Gesetzgeber einerseits und selbständiger gerichtlicher Tatsachenfeststellung andererseits für ein vermittelndes Drittes kein Platz ist: Will das Gericht in seiner unabhängigen Kontrollfunktion gegenüber dem Gesetzgeber nicht vollständig abdanken, bleibt ihm gar nichts anderes übrig als eigene Tatsachenfeststellungen zu treffen. 499 Das eigentlich Erstaunliche allerdings ist, daß die Praxis des Supreme Court hier noch einen Schritt weiter geht. In den genannten Fällen nämlich maßt das Gericht sich nicht selten an, eine eigene Einschätzung der Situation auch auf für seine Entscheidung unzureichender oder zumindest zweifelhafter Tatsachengrundlage und selbst für den Fall vorzunehmen, daß gute oder sogar überwiegende Gründe fiir die davon abweichenden Annahmen des Gesetzgebers zu sprechen scheinen.500 Auch erstaunt die Einmütigkeit der unter dem strengen Prüfungsmaßstab erzielten Ergebnisse. In "Loving v. Virginia" etwa, um einen unter dem Gleichheitssatz entschiedenen Fall zu nennen, bestand der beklagte Staat Virginia, der die Eheschließung zwischen Schwarzen und Weißen verboten hatte, auf der (damals möglicherweise ftlr zutreffend gehaltenen) Einschätzung, es sei wissenschaftlich unwiderlegbar, daß gemischt-rassige Ehen für das gesellschaftliche Zusammenleben nachteilige Folgen auslösen könnten; insbesondere befürchtete der staatliche Gesetzgeber bei einer stärkeren Vermischung von Schwarzen und Weißen eine Vernichtung des (sowohl Schwarzen als auch Weißen eigenen) "rassischen Stolzes." In einem solchen Fall, so lautete die Argumentation des beklagten Staates, habe die Einschätzung des Gerichtes hinsichtlich der Wirkung eines Gesetzes gegenüber derjenigen des Gesetzgebers zurückzutreten. Dieser Ansicht folgte 498

405

Lochner v. New York, 198 U.S. 45, 58 ff. (1905). Vgl. auch Eisenstadt v. Baird,

u.s. 438, 447 ff. (1972).

499

Vgl. J. Tussman I J. ten Broek, 37 Cai.L.Rev. 341, 367 f. (1949).

Vgl. J. Shaman, 35 U.Fia.L.Rev. 236, 238 ff., 245 f. (1983); H. Baade, 23 J. of Pol. 421,429 (1961); K. Karst, 1960 Sup.Ct.Rev. 75, 96. 500

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

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das Gericht jedoch nicht. Statt dessen betonte es, ein solches Gesetz sei zur Förderung keines irgendwie denkbaren legitimen Zweckes geeignet. Es diene allein der Perpetuierung der Superiorität der weißen Rasse. 501 Zahllose weitere Beispiele lassen sich fiir diese sehr viel rigidere Praxis der Tatsachenfeststellung unter dem strengen Prüfungsmaßstab nennen. So hat der Supreme Court es z.B. als einen Verstoß gegen die vom 1. Amendment geschützte Religionsfreiheit angesehen, Kinder aus Amish-Gemeinden zu zwingen, über das 16. Lebensjahr hinaus zur Schule zu gehen, obwohl erwiesenermaßen viele dieser Kinder später ihre Geburtsorte verlassen und dann häufig schlechter ausgebildet dastehen als ihre Altersgenossen. 502 Weiterhin hat das Gericht angenommen, das Verbot der Abgabe von empfängnisverhütenden Mitteln an Minderjährige sei ungeeignet, das Sexualverhalten von Jugendlichen zu beeinflussen (sondern fördere statt dessen das Schwangerschafts- und Krankheitsrisiko). 503 Und ebenso hat es schon früher, während der "Lochner"Ära, dem Gesetzgeber in seiner Einschätzung widersprochen, Frauen würden im Arbeitsalltag benachteiligt und bedürften deshalb des Schutzes von Mindestlohnvorschriften. 504 Natürlich drängt sich die Frage auf, worin die tiefere Begründung dafiir liegt, daß der Supreme Court bei verfassungsrechtlichen Fragen, die er seinem strengen Prüfungsmaßstab unterwirft, eine so viel größere Beurteilungskompetenz in Anspruch nimmt als bei den nur am mere rationality-Standard gemessenen. Der Versuch, darauf eine Antwort zu finden, wird jedoch Gegenstand eines späteren, eigenen Kapitels sein. Demgegenüber kann eine erkenntnistheoretisch-verfahrensmäßige Spekulation schon jetzt angestellt werden. Gefolgschaft erhält dabei Kenneth Karst, der gemeint hat, die Bereitschaft eines Gerichtes, sich hinter den Einschätzungen des Gesetzgebers zu verstecken, sei "weakest in those areas in which there is the least difference between the competence of lay judgment and that of expert judgment. In the expansive areas of human freedom and equality, social science experts have not yet devised methods of measurement which are precise enough to give them a significant advantage over the judge's own ability to measure. A court which paid great deference to the legislative judgment in the 501 Loving v. Virginia, 388 U.S. 1, 8 ff. (1967) mit Note, 82 Harv.L.Rev. 1065, 1102 (1969). 502

Wisconsin v. Yoder, 406 U.S. 205,245, FN 2 (1972) (Douglas, diss.).

Carey v. Population Services International, 431 U.S. 678, 695 f. (1977) (Brennan, conc.), 714 (Stevens, conc.). 503

504 Adkins v. Children's Hospital, 261 U.S. 525, 552 ff. (1923). Vgl. demgegenüber die Argumente des Revisionsklägers ebd., S. 526 ff.

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

school segregation cases would be just as deserving of criticism as one which paid great deference to the social science brief which dealt with the probable effects ofimmediate segregation."505 Worauf hier mit den school segregation cases Bezug genommen wird, ist vor allem die praktisch und theoretisch bedeutsame Entscheidung "Brown v. Board of Education", die zusammen mit der Abtreibungsentscheidung "Roe v. Wade" zu den berühmtesten Sprüchen des Supreme Court zählt. Beide Fälle bieten eindrucksvolle Beispiele daftlr, wie selbständig der Supreme Court unter dem strengen Prüfungsmaßstab legislative facts ermittelt und bewertet. Es ist kein Zufall, daß gerade diese beiden Entscheidungen in besonderem Maße die Diskussion über die Legitimität richterlicher Normenkontrolle in einer Demokratie entfacht haben. 506 "Brown" hatte zu tun mit der Zulässigkeit nach Rassen getrennter öffentlicher Schulsysteme, die durch die gesetzgebenden Körperschaften in mehreren Einzelstaaten etabliert worden waren. Als Reaktion hierarauf hatten Eltern schwarzer Kinder verschiedene, nur ftlr Weiße geöffnete Schulen auf Zulassung verklagt. Die Hauptschwierigkeit des Falles bestand darin, daß auf die Frage, ob Schwarze in integrierten Schulen größere Lernfortschritte machen und damit bessere Bildungschancen haben als in getrennten, ansonsten aber qualitativ gleichwertigen Einrichtungen, keine Einigung unter den maßgeblichen Fachleuten bestand. Durchaus konsequent hatten deshalb die mit "Brown" und den Paralleitalien befaßten Instanzgerichte die zum Beweis angebotenen sozialwissenschaftliehen Erkenntnisse zumeist ignoriert und die gesetzlich angeordnete und in einer früheren Entscheidung507 akzeptierte separate but equal-Doktrin sanktioniert. Der mit einer Stimme sprechende Supreme Court dagegen war nicht bereit, sein Urteil in dieser Frage hinter dasjenige der jeweiligen Gesetzgeber zurückzustellen. Auf der Grundlage selbständig bewerteter soziologischer und psychologischer Beweismitteeos erklärte das Gericht entgegen dem einschlägigen Präzedenzfall und gegen die entsprechenden Beweisangebote der Beklagten, daß auch dann, wenn alle äußeren Faktoren in den von Schwarzen und in den 505 K. Karst, 1960 Sup.Ct.Rev. 75, 107. Zustimmend J. Tussman I J. ten Broek, 37 Cal.L.Rev. 341, 373 (1949). 506 Ebenso M Perry, in: L. Levy u.a. (Hrsg.), Encyclopedia, Bd. I (1986), S. 5 (,,Abortion and the Constitution"). 507

Plessy v. Ferguson, 163 U.S. 537 (1896).

Brown v. Board of Education, 347 U.S. 483, 494 bei FN 11 (1954). Der dem Schriftsatz der Kläger beigelegte social science briefist abgedruckt in 37 Minn.L.Rev. 427 ff. ( 1953 ). 508

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

205

von Weißen besuchten Schulen gleich seien, die Schwarzen dennoch eine zumindest psychische Erniedrigung zu erleiden hätten. 509 Dabei handelte es sich bei einem der vom Gericht als maßgeblich herangezogenen Beweismittel um einen psychologischen Test, bei dem sechzehn schwarzen Kindern Zeichnungen zweier bis auf die Hautfarbe völlig identischer Puppen - eine schwarz, die andere weiß - gezeigt wurden, über die die Kinder sagen sollten, welche ihnen besser gefiele, welche die "böse" und welche die "gute" sei usw. Qualität und Ergebnis der Untersuchung, die nach Ansicht der Richter ein schwarzes MinderwertigkeitsgefUhl offenbarte, waren freilich schon damals heftig umstritten. Heute würden wohl selbst BefUrworter der Entscheidung sie nicht mehr als taugliches Beweismittel fUr einen Richterspruch von solcher Tragweite ansehen: "The study, obviously limited in size. and structure", merken Zeisel und Kaye daher ganz zu Recht an, "today would hardly survive cross-examination. Most likely its major ftmction was to buttress a position the Justices had reached on their own."510 "Roe v. Wade", die Entscheidung, die Frauen eine durch die Verfassung abgesicherte Wahlfreiheit im Hinblick auf die Entscheidung abzutreiben eingeräumt hat, hat Kritik511 unter anderem deshalb erfahren, weil der Supreme Court selbständig mit medizinischen, soziologischen und psychologischen Daten umging, ohne dabei dem auf ebendiese Daten setzenden Gesetzgeber den nötigen Respekt zu erweisen. Das Gericht etwa konzedierte ausdrücklich, daß in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen Streit darüber bestehe, wann ein Fötus als "lebend" (und damit staatlichem Schutz anvertrautes Verfassungsrechtssubjekt) anzusehen sei. Gleichwohl verbot es dem Gesetzgeber, sich in dieser Frage auf der Grundlage eines unabhängig gewonnenen Urteils auf die Seite der einen oder anderen Theorie zu schlagen und seine Strafgesetzgebung entsprechend einzurichten. Statt dessen traf im Ergebnis das Gericht selbst die Entscheidung - freilich ohne dies ausdrücklich einzugestehen. 512 Mit solcher 509 Ebd., S. 490 ff. Kritisch J Weinstein IM. Berger, Evidence, Bd. 1, S. 200-24, FN 11 (§ 200(04)); E. Cahn, 30 N.Y.U.L.Rev. 150, 157 ff. (1955): "I would not have the constitutional rights of Negroes - or of other Americans - rest on such flimsy foundation as some of the scientific demonstrations in these records." Gegen Cahn aber K. Clark, 5 Villanova L.Rev. 224 ff. (1959). 510 H. Zeisel I D. Kaye, in: L. Levy u.a. (Hrsg.), Encyclopedia, Bd. 4 (1986), S. 1703 ("Social Science in Constitutional Litigation").

511 G. Gunther, Constitutional Law, S. 514 f. mit FN 2; W Lockhart u.a., Constitutional Law, S.483ff. (Kap. 7,2); A. MilleriJ Barron, 61 Va.L.Rev. 1187, 1193ff. (1975); W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 341 bei FN 65. 512 Roe v. Wade, 410 U.S. 113, 156 ff. (1973). Vgl. zu dieser Frage auch die Auszüge aus der mündlichen Verhandlung (abgedruckt bei W Lockhart u.a., Constitutional Law, S. 473 f. (Kap. 7,2)).

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Entschlußfreudigkeit einher ging die allein von medizinischen Gesichtspunkten geleitete Einteilung der Schwangerschaft in drei verschiedene Zeitabschnitte (die ersten drei Monate, die Phase vom Beginn der Lebensfähigkeit an und der Zeitraum zwischen beiden), für die durch das Gericht eine je unterschiedliche juristische Behandlung angeordnet wurde. 513 Zu solchen, eigentlich eher dem Gesetzgeber angesonnenen Detaillösungen hielt sich der Supreme Court aufgrund seiner Einschätzung für berufen, eine Frau übe bei der Abtreibungsentscheidung ein besonders wichtiges und deshalb der letztverantwortlichen Beurteilung einer parlamentarischen Mehrheit entzogenes right ofprivacy aus. Historischer Ausgangspunkt dieser Entwicklung514 ist einmal mehr die (due process-)Entscheidung "Lochner v. New York." Wie bereits erwähnt hatte sich die Mehrheit der Richter hier ebenfalls geweigert, der Einschätzung des Gesetzgebers zu folgen, das umstrittene Arbeitszeit-Gesetz werde die Gesundheit im Bäckereigewerbe nachhaltig fördern. Genau das aber hatte der Staat New York nicht nur behauptet sondern dafür auch, worauf Justice Harlan in seiner abweichenden Ansicht hinwies~ 15 , keineswegs leicht widerlegbaren Beweis angeboten. Dem Gericht reichte dies für die Aufrechterhaltung des Gesetzes jedoch nicht aus. Statt dessen ignorierte es die bekannten Tatsachen und setzte, indem es zu einer Verwerfung des Gesetzes gelangte, seine eigene Schlußfolgerung an deren Stelle.516 Eine weitere Besonderheit der dem strengen Prüfungsmaßstab unterworfenen Gesetze besteht darin, daß der Supreme Court sie auf das Bestehen einer ebenso effektiven, aber für den Betroffenen weniger einschneidenden Alternative hin untersucht. Auch diese Prüfung ist ohne Rückgriff auf Tatsachen nicht zu bewältigen. Und auch hier kann man eine dem Gesetzgeber gegenüber sehr rigide Gerichtspraxis feststellen. Im "Lochner"-Fall etwa verwies das Gericht auf bestehende Regelungen, die das Ziel größerer Hygiene in den Backstuben auch ohne die als überflüssig angesehene Arbeitszeitregelung verwirklichen würden. 517 Überflüssig zu erwähnen, daß der Gesetzgeber hier anderer Ansicht 513 Roe v. Wade, 410 U.S. 113, 163 f., 164 f. (1973). Kritisch A. Cox, Supreme Court, S. 113 f. ; K. Karst, in: L. Levy u.a. (Hrsg.), Encyclopedia, Bd. 3 (1986), S. 1603 ("Roe v. Wade"). 514

Zum folgenden sehr klar L. Tribe, Constitutional Law, S. 568 ff. (§ 8-3).

515

Lochner v. New York, 198 U.S. 45,68 ff. (1905) (Harlan, diss.).

Ebd., S. 59 ff. Ebenso Jay Bums Baking Co. v. Bryan, 264 U.S. 504, 517 (1924), wo mit der Behauptung, ftir den Konsumenten seien ein "10-Unzen-" und ein " I-PfundBrot" nicht verwechselbar, ein entsprechendes Auszeichnungsgesetz für verfassungswidrig erklärt wurde. Dagegen aber ebd., S. 527 ff. (Brandeis, Holmes, diss.). Weitere Fälle bei K. Davis, 55 Harv.L.R. 945, 955 ff. (1955). 516

517

Lochner v. New York, 198 U.S. 45,61 f. (1905).

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war. Nicht anders fiel die Entscheidung in "McLaughlin v. Florida" aus, wo es um das Verbot des Zusammenwohnens von Partnern verschiedener Hautfarbe ging. Der Supreme Court sah zwar die Verhinderung von Ehen zwischen Schwarzen und Weißen als- möglicherweise518 -legitimes verfassungsrechtliches Ziel an, betonte aber, daß eine Anwendung der bestehenden rassen-neutralen Sittengesetze dem genannten Ziel auf ebenso effektive Weise dienen würde. Einer speziellen Regel fUr den Fall eines Zusammenlebens von Schwarzen und Weißen bedürfe es nicht. 519 Auch hier kann man also wieder das bekannte Phänomen einer sehr intensiven und im praktischen Ergebnis überaus strengen Kontrolle feststellen. Ohne Parallele fli.r den strengen Prüfungsmaßstab ist schließlich das vom rational basis-Test bekannte Forschen nach rein hypothetischen Rechtfertigungsmöglichkeiten fUr die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes.520 Unter diesem Test übt sich der Supreme Court weder in der Suche nach normerhaltenden Gesetzeszwecken noch verschwendet er Mühe auf die Ermittlung bloß fiktiver Mittel-Zweck-Relationen. An die Stelle dessen setzt das Gericht fUr einen Teil dieser Fälle eine Prüfung der Motive des Gesetzgebers. Wegen der damit einhergehenden spezifischen Probleme wird diesem Phänomen in einem separaten Abschnitt nachgegangen. Im Hinblick auf die Tatsachenfeststellung wie erwartet zwischen den beiden beschriebenen Tests liegen die wenigen dem mittleren Prüfungsmaßstab unterworfenen Fälle. Keineswegs ist der Supreme Court hier so nachgiebig, wie das in den mere rationality-Situationen üblicherweise der Fall ist; ein hypothesizing offacts ist hier in aller Regel ebenso undenkbar wie eine Erörterung unartikulierter bzw. fiktiver gesetzgeberischer Ziele.521 Statt dessen ist, genau wie unter strict scrutiny, eine gründliche Suche nach den vom Gesetzgeber "in Wahrheit" 518 McLaughlin v. Florida, 379 U.S. 184, 195 f. (1964). Es wird nicht ganz klar, ob das Gericht davon ausgeht, ein solches Ziel sei verfassungsgemäß. 519

Ebd., S. 196.

Vgl. Eisenstadt v. Baird, 405 U.S. 438, 448 f. (1972) sowie dazu L. Tribe, Constitutional Law, S. 1608 f. (§ 16-32). Für die vom 1. Amendment geschützte Religionsfreiheit Edwards v. Aguillard, 482 U.S. 578, 585 f. (1987) gegenüber ebd., S. 626 (Scalia, diss.). Vgl. auch Note, 82 Harv.L.Rev. 1065, 1102 (1969). 520

521 Vgl. z.B. Trimble v. Gordon, 430 U.S. 762, 776 (1977); Califano v. Goldfarb, 430 U.S. 199, 212 f. (1977); Mississippi University for Women v. Hogan, 458 U.S. 718, 730 (1982); Hampton v. Mow Sun Wong, 426 U.S. 88, 115 (1976). ygl. aber auch United States v. O'Brien, 391 U.S. 367, 378 ff. (1968), wo das Gericht Uberlegungen dazu anstellt, aus welchen Gründen ein Y.erbot der Unbrauchbarmachung von Einberufungsbescheiden sinnvoll sein könnte. Oberblick und weitere Nachw. bei L. Tribe, Constitutional Law, S. 1604 ff. (§ 16-32), 1681 f. (§ 17-2).

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

verfolgten Zielen zu beobachten, die der Supreme Court im Erfolgsfall ohne weiteres an die Stelle der vom Gesetzgeber behaupteten setzt. 522 Nicht immer ist die Prüfung freilich so streng wie in "Craig v. Boren", wo das Gericht sich trotz des Vorliegens von Unfall- und Polizeistatistiken zur Trunkenheit im Verkehr weigerte, ein nach Alter und Geschlecht differenzierendes Verbot des Bierverkaufes aufrechtzuerhalten. 523 Der Gesetzgeber hat jedoch prinzipiell mit einer ebenso gründlichen wie selbständigen Tatsachenfeststellung und -bewertung durch den Supreme Court zu rechnen. bb) Folgeneinschätzungen

Bereits bei einigen der im vorangegangenen Abschnitt erörterten Fälle spielten "Tatsachen" eine Rolle, deren Wahrheitsgehalt zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht abschätzbar war. So ist etwa die Frage, ob ein Gesetz das von ihm anvisierte Ziel tatsächlich und, bejahendenfalls, auf welche Weise erreicht, ohne einen Blick in die Zukunft häufig kaum zu beantworten. Nicht anders steht es um die Fälle, in denen der Supreme Court darüber zu befinden hat, ob zu einer Norm eine weniger einschneidende, indes meist nur hypothetische Alternative denkbar ist. Diese und andere Fälle werfen die Frage auf, ob und in welchem Umfang der Gesetzgeber ein "Recht zu experimentieren" für sich in Anspruch nehmen kann. Von der Seite des von solcher Gesetzgebung betroffenen Bürgers tritt dem freilich das Interesse, nicht über Gebühr zum Gegenstand zweifelhafter Sozialgestaltung gemacht zu werden, entgegen. In der amerikanischen Rechtswissenschaft wird auch dieses Problem unter der Überschrift legislative facts diskutiert. Für den Bereich sozialer und wirtschaftlicher Normsetzung entspricht es inzwischen herrschender Anschauung, daß der Gesetzgeber auch im Hinblick auf die Gestaltung der Zukunft praktisch freie Hand hat. "Legislative bodies", hat der Supreme Court daher gerade für diesen Bereich immer wieder betont, "have broad scope to experiment with economic problems, and this Court does not sit to 'subject the State to an intolerable supervision hostile to the basic principles of our Govemment and wholly beyond the protection which the general clause of the Fourteenth Amendment was intended to secure. "'524 Dabei beinhaltete diese im Zusammenhang eines Berufsverbotes für private Schuldenverwalter getroffene Aussage zweierlei: Sie enthielt nämlich nicht nur 522 Bsp.: Mississippi University for Women v. Hogan, 458 U.S. 718, 730 (1982). Dazu L. Tribe, Constitutional Law, S. 1606 ff. (§ 16-33). 523 Craig v. Boren, 429 U.S. 190, 200 ff. (1976). Vgl. auch den bei K. Davis, 55 Co1um.L.Rev. 945, 953 f. (1955) mitgeteilten Fall. 524 Ferguson v. Skrupa, 372 U.S. 726, 730 (1963) unter Verweis auf Sproles v. Binford, 286 U.S. 374, 388 (1932).

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

209

das gerichtliche Anerkenntnis, daß der Gesetzgeber aus einem Strauß möglicher Gestaltungsmöglichkeiten die ihm genehmste aussuchen könne, sondern besagte zudem, daß er weder die am zuverlässigsten, noch überhaupt eine mit empirischer Sicherheit zum Ziel fuhrende Gestaltung wählen müsse. Ein gutes Beispiel fur gerichtliche Großzügigkeit gerade in letztgenanntem Punkt liefert die bereits erwähnte "Clover Leaf'-Entscheidung, die ein Verkaufsverbot fur Milch in Plastik-Einwegflaschen zum Gegenstand hatte. Die Verteidiger des Gesetzes hatten u.a. angefuhrt, diese Maßnahme werde zum Umweltschutz dadurch beitragen, daß die Industrie aufgrund ihrer Abneigung gegenüber den nach wie vor erlaubten Pappcontainern mittelbar gezwungen würde, andere, weniger schädliche Behältnisse herzustellen525 - eine Einschätzung, die das in der Vorinstanz mit dem Fall befaßte Staatengericht freilich als "speculative and illusory" bezeichnet hatte. 526 Angesichts der noch ausstehenden Erfahrungen mit dem Umgang des Gesetzes war das rein empirisch betrachtet sicher richtig. Gleichwohl erklärte der Supreme Court, daß er bereit sei, eine solche Spekulation auf die Zukunft zu dulden: "The Equal Protection Clause", fuhrte das Gericht aus, "is satisfied by our conclusion that the Minnesota Legislature could rationally have decided that its ban on plastic nonreturnable milk jugs might foster greater use of environmentally desirable alternatives." 527 Ob sich diese Annahme später als richtig herausstelle, sei demgegenüber ohne Bedeutung. Ein ganz ähnliches Beispiel bietet "Massachusetts Board of Retirement v. Murgia." Darin erklärte der Supreme Court ein Gesetz des Staates Massachusetts fur verfassungsgemäß, das dessen uniformierte Polizeikräfte dazu zwang, bei Erreichen der Altersgrenze von funfzig Jahren den Dienst zu quittieren. Das hielt das Gericht im Hinblick auf eine optimale physische Verfassung der Beamten fur unanfechtbar. 528 Dabei setzte es sich gleich über zwei Einwände souverän hinweg: zum einen, daß nicht sicher sei,ob die Grenze bei funfzig Jahren nicht generell zu tief angesetzt sei, zum anderen, daß einzelne, möglicherweise mehrere oder sogar alle von der konkreten Regelung Betroffenen bei Erreichen der Altersgrenze noch in einem einsatzfaltigen Zustand sein könnten, daß also, mit anderen Worten, eine individuelle Entscheidung vorzuziehen sei.529 Auch diese Entwicklung 525

Minnesota v. Clover LeafCrearnery Co., 449 U.S. 456,465 (1981).

526

Zitiert ebd., S. 466. Vgl. auch ebd., S. 460 f.

527

Ebd., S. 466.

528

Massachusetts Board ofRetirement v. Murgia, 427 U.S. 307, 314 ff. (1976).

529

Ebd., S. 315 f.

14 Simons

210

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

konnte natürlich vom Gesetzgeber ebensowenig wie vom Gericht vorhergesehen werden. Gleichwohl erklärte der Supreme Court, er beuge sich der vom Gesetzgeber gezogenen Grenzlinie: Selbst wenn es eine bessere Lösung gebe, bestehe doch immerhin die Chance, daß sich die gefundene Lösung als brauchbar erweise. Brauchbarer als die gerichtliche sei sie schon wegen der größeren Sachnähe des Gesetzgebers.530 Die hier festgestellte Großzügigkeit des Supreme Court erinnert stark an die bei den Tatsachenfeststellungen beobachtete Praxis gerichtlicher Zurückhaltung. Ging es dort darum, fiir einen insoweit schweigenden Gesetzgeber die Umstände oder sogar Zwecke zu fingieren, die sein Gesetzesprojekt als eine vernünftige Ausübung seiner Gestaltungsmacht erscheinen ließen, handelt es sich hier um die Bereitschaft des Gerichts, unbeweisbare Zukunftsaussagen, soweit nur irgend nachvollziehbar, zu tolerieren. Auch hier ist alleiniges Ziel, das umstrittene Gesetz aufrechtzuerhalten und den Spielraum des Gesetzgebers zu respektieren. Ist der Supreme Court aber bereit, derart vage Zukunftsaussagen zu tolerieren, impliziert dies zugleich die Billigung solcher gesetzgeberischer Lösungen, die, wie sich freilich oft erst später herausstellt, nicht perfekt sind, d.h. die das anvisierte Ziel nicht filr alle Beteiligten optimal verwirklichen. In der Tat erklärt das Gericht diese Gesetze in aller Regel auch später nicht fiir verfassungswidrig. Angesichts dessen ist es nicht erstaunlich, daß der Supreme Court sich geneigt zeigt, auch solche Gesetze aufrechtzuerhalten, von denen bereits bei ihrer Verabschiedung feststeht, daß sie eine nur imperfekte Lösung darstellen sofern nur der Wille des Gesetzgebers erkennbar wird (oder ihm zumindest zu unterstellen ist), es nicht dauerhaft bei einer solchen "Ungerechtigkeit" zu belassen. Das Gericht duldet also, daß der Gesetzgeber bei der Förderung öffentlicher Interessen oder bei der Ausräumung allgemeiner Gefahren und Mißverhältnisse Stück fiir Stück vorgeht. Sein Vorhaben muß nicht alle Probleme auf einmal lösen. Es ist deshalb auch nicht mit der Begründung angreifbar, eine andere 530 Ebd., S. 316 f. Ebenso Vance v. Bradley, 440 U.S. 93, 108 f. (1979)- Zwangspensionierung ftir im Auswärtigen Dienst Beschäftigte mit Erreichen des 60. Lebensjahres - mit Kritik von J Shaman, 35 U.Fia.L.Rev. 236, 248 f. (1983) (im Auswärtigen Dienst sind ältere Beamte oft bessere Mitarbeiter als junge); Railway Express Agency v. New York, 336 U.S. 106, 110 (1949)- kein Verstoß gegen den Gleichheitssatz, mit Fremd-, aber nicht mit Eigenwerbung beschriftete Autos aus Gründen der Verkehrssicherheit aus dem Straßenverkehr zu verbannen. Vgl. demgegenüber - strenger Prüfungsmaßstahl- Metromedia, Inc. v. San Diego, 453 U.S. 490, 512 ff. (1981) (White, conc.) - Verfassungswidrigkeit einer Gemeindesatzung, die nur nicht-kommerzielle Werbung auf öffentlichen Reklametafeln aus Gründen der Verkehrssicherheit verbietet.

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Fo1geneinschätzungen

211

Regelung würde die verfolgten öffentlichen Interessen besser verwirklichen oder die betroffenen individuellen Positionen weniger beeinträchtigen. 531 Dahinter steht, ebenso wie bei der sonst beobachteten Praxis der Folgeneinschätzung, offensichtlich die den mere rationa/ity-Standard leitende Idee, der Gesetzgeber möge nicht allzusehr in seinem Recht zu experimentieren eingeschränkt werden, und zwar selbst dann nicht, wenn dies zu Lasten vollständiger Gerechtigkeit geht. 532 "The "piecemeal" approach to a general problem, permitted by under-inclusive classifications", bemerken mit Tussman und ten Broek dementsprechend die fuhrenden Theoretiker zum Gleichheitssatz, "appears justified when it is considered that legislative dealing with such problems is usually an experimental matter. lt is impossible to tell how successful a particular approach may be, what dislocations might occur, what evasions might develop, what new evils might be generated in the attempt to treat the old. Administrative expedients must be forged and tested. Legislators, recognizing these factors, may wish to proceed cautiously, and courts must allow them to do ..533 so. Vorbildlich vom Supreme Court selbst formuliert fmdet sich dieser Gedanke in "Bunting v. Oregon", einer Entscheidung, die dadurch Berühmtheit erlangt hat, daß sie mitten in der economic due process-Ära den in "Lochner" formulierten Grundsatz von der Verfassungswidrigkeit einer Arbeitszeitregelung fiir nicht mehr gültig erklärte: "It is enough for our decision", betonte dort das Gericht, "if the legislation under review was passed in the exercise of an admitted power of government; and that it is not as complete as it might be, not as rigid in its prohibitions as it might be, gives perhaps evasion too much play, is lighter in its penalties as it might be, is no impeachment of its legality. This may be a blemish, giving opportunity for criticism and difference in characterization, but the constitutional validity of legislation cannot be determined by the degree of exactness of its provisions or remedies. New policies are usually tentative in their beginnings, advance in fmnness as they advance in acceptance. They do not at a particular moment of time spring full-perfect in extent or means from the legislative brain. Time may be necessary to fashion them to precedent customs and condi531 Hierzu für die equal protection-K1ause1 Note, 82 Harv.L.Rev. 1065, 1082 ff. (1969); W Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 165 f. Für due process ebd., S. 58 ff.

532 So z.B. Note, 82 Harv.L.Rev. 1065, 1085 (1969). Vgl. aber auch ebd., S. 1086 f. Vgl. auch American Federation of Labor v. American Sash & Door Co., 335 U.S. 538, 553 (1949) (Frankfurter, conc.). 533

14*

J Tussman I J ten Broek, 37 Cal.L.Rev. 341 , 349 (1949).

212

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

tions and as they justify themselves or otherwise they pass from militancy to triumph or from question to repeal."534 In der Rechtsprechung des Supreme Court lassen sich zahlreiche Beispiele für diesen im Bereich des Gleichheitssatzes sog. one step at a time-approach535 nachweisen: So hat das Gericht einer Stadt erlaubt, in ihren Verkehrsbetrieben aus Sicherheitsgründen keine (auch nicht ehemalige) Drogenabhängigen zu beschäftigen, obwohl mit der gleichen Begründung auch andere, potentiell nicht weniger verkehrsgeflthrdende Gruppen wie z.B. Alkoholiker und Epileptiker hätten ausgeschlossen werden müssen. 536 Des weiteren hat es eine Strassenverkehrsvorschrift für verfassungsgemäß befunden, die aus Gründen der Verkehrssicherheit Fremd-Werbung auf Fahrzeugen verbot, Werbung für ein Produkt des Wagen-Eigentümers dagegen gestattete. Obwohl die Differenzierung vor dem erklärten Ziel der Regelung, die Verkehrsteilnehmer vor Ablenkung zu schützen, nicht den geringsten Sinn machte, erklärte der Supreme Court, es sei "no requirement of equal protection that all evils of the same genus be eradicated or none at all." 537 Auf den ersten Blick damit unvereinbar scheint freilich "City of Clebume v. Clebume Living Center." Dort sah eine örtliche Bauvorschrift das Erfordernis einer besonderen Nutzungserlaubnis für den Betrieb eines Heims für geistig Behinderte vor. Den zum Schutz seiner Bewohner gedachten Zweck dieser Vorschrift erläuterte die beklagte Stadt u.a. dahin, daß in diesem Teil des Ortes eine allzu dichte Population vermieden werden solle, vor allem deshalb, weil es sich um ein überschwemmungsgefährdetes Gebiet handele. Den üblicherweise in solchen Situationen platzgreifenden one step at a time-Einwand ("Die Gruppe geistig Behinderter ist auch dann schützenswert, wenn andere Gruppen (noch) nicht geschützt werden") ließ der Supreme Court dieses Mal jedoch 534 Bunting v. Oregon, 243 U.S. 426, 437 f. (1917). Vgl. auch die klassische Passage in New State Iee Co. v. Liebmann, 285 U.S. 262, 309 ff. (1932) (Brandeis, diss.): "To stay experimentation in things social and economic is a grave responsibility. Denial of the right to experiment may be fraught with serious consequences to the Nation. lt is one of the happy incidents of the federal system that a single courageous State may, if its citizens choose, serve as a laboratory and try novel social and economic experiments without risk to the rest ofthe country." 535 Vgl. die diesen Grundsatz der Sache nach zum Ausdruck bringenden Entscheidungen Missouri, K. & T. Railway v. May, 194 U.S. 267,270 (1904); Keokee Coke Co. v. Taylor, 234 U.S. 224,227 (1914); Buck v. Bell, 274 U.S. 200,208 (1927). 536

New York City Transit Authority v. Beazer, 440 U.S. 568, 592 f. (1979).

537 Railway Express Agency v. New York, 336 U.S. 106, 110 (1949). Weiterhin Minnesota v. Clover Leaf Creamery Co., 449 U.S. 456, 466 (1981); New Orleans v. Dukes, 427 U.S. 297, 303 (1976); Williamson v. Lee Optical, 348 U.S. 483, 489 (1955).

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

213

nicht gelten. Da es nach der umstrittenen Bauvorschrift anderen Großgruppen einer Studentenverbindung oder einem Krankenhausbetrieb etwa - gestattet sei, das GrundstUck auch ohne besondere Genehmigung zu nutzen, müsse ungeachtet des reklamierten Schutzzweckes gleiches Recht auch für den Betrieb eines Heimes für geistig Behinderte gelten. 538 In seiner teilweise abweichenden Meinung monierte Justice Marshall diese Haltung der Mehrheit. Ihr Umgang mit den vom Gesetzgeber behaupteten Tatsachen zeige, daß das Gericht genaugenommen nicht den ausdrücklich filr anwendbar erklärten539 mere rationality-Standard benutze sondern einen mit weit höheren Anforderungen versehenen Test.540 In der Tat gesteht der Supreme Court dem Gesetzgeber das Recht zu experimentieren eigentlich nur für die Fälle zu, in denen der nachlässige Prüfungsmaßstab zur Anwendung kommt. Dagegen schränken bereits der mittlere und erst recht der strenge Prüfungsmaßstab den Gestaltungsspielraum oder, hier vielleicht besser: das Experimentierfeld des Gesetzgebers weiter ein. "Skinner v. Oklahoma", nur den Worten, nicht aber der Sache nach unter dem rational basis-Test entschieden, verdeutlicht diese sehr viel unnachgiebigere541 Haltung des Gerichtes im Umgang mit einem experimentierfreudigen Gesetzgeber. Dort erklärte der Supreme Court ein Gesetz für verfassungswidrig, das die Sterilisation von Berufsverbrechern ermöglichte, die mindestens zweimal wegen moralisch besonders verwerflicher Verbrechen verurteilt worden waren. "The power to sterilize, if exercised", urteilte das Gericht, "may have subtle, far-reaching and devastating effects. In evil or reckless hands it can cause races or types which are inimical to the dominant group to wither and disappear. There is no redemption for the individual whom the law touches. Any experiment which the State conducts is to his irreparable injury."542 Als für das Urteil über die Verfassungswidrigkeit entscheidend sah das Gericht an, daß der Gesetzgeber wesentliche Teile der sog. white col/ar-De!ikte von der Strafdrohung ausgenommen hatte, die gewöhnliche Kleinkriminalität, wie etwa Sachbeschädigung oder Diebstahl, dagegen nicht. Ohne weitere Hinweise auf die Quelle seiner Erkenntnis erklärte der Supreme Court eine solche Differenzierung für unter genetischen Gesichtspunkten nicht rechtfertigbar. Im übrigen existierten "Iimits to the extent to which a legislatively represented majority 538

City ofClebume v. Clebume Living Center, Inc., 473 U.S. 432,448 ff. (1985).

539

Ebd., S. 442 ff.

540 Ebd., S. 459 ff. (Marshall, conc./diss. in part).

541 Vgl. aber Skinner v. Oklahoma, 316 U.S. 535, 541 (1942): "We give Oklahoma that !arge deference which the rule ofthe foregoing case requires." 542 Ebd., S. 541.

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Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

may conduct biological experiments at the expense of the dignity and personality and natural powers of a minority."543 Einen one step at a time-approach zu dulden war das Gericht hier nicht bereit. Die unter dem strengen Prüfungsmaßstab geübte Praxis, Experimente nicht zu dulden, findet eine spezifische Ausprägung schließlich darin, daß der Supreme Court die Frage der Verfassungsmäßigkeit nicht ex ante sondern aus einer rückschauenden ex post-Perspektive stellt. Das wiederum hat zur Folge, daß Gesetze, die wegen der bei ihrer Verabschiedung herrschenden Umstände noch als verfassungsgemäß zu betrachten waren, aufgrund einer veränderten tatsächlichen Situation u.U. als verfassungswidrig zu beurteilen sind. "To permit a state to meet its heavy burden by relying on previously assumed facts when actual facts are available for judicial review and when the state fails to establish that its interests are in fact served by the Iaw", faßt Rache I Pine diese Rechtsprechung zusammen, "would be inconsistent with the principles of hightened scrutiny."544 Auch hier erweist sich also, daß der Gesetzgeber, will er die von ihm verabschiedete Regelung vor der Verfassungswidrig-Erklärung auch in Zukunft bewahren, diese unter Umständen sehr viel präziser fassen muß als dies von ihm fiir den Regelfall, also unter mere rationality, verlangt wird. 2. Die Rechtslage in Deutschland a) Die Befugnis des BVerfG zur Tatsachenfeststellung und Folgeneinschätzung Die Überprüfung von Tatsachenfeststellungen des Gesetzgebers bei der Normenkontrolle ist in Deutschland essentieller Bestandteil der verfassungsgerichtlichen Kontrollkompetenz. Demgemäß wird jedes Rütteln an dieser Befugnis gemeinhin als Generalangriff auf die Normenkontrolle selbst verstanden.545 Schon das erledigt die in der Lehre546 gelegentlich geäußerte Vorstel-

543 Ebd., S. 546 (Jackson, conc.). Ebenso Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 479, 496 (1965) (Goldberg, conc.); Pointer v. Texas, 380 U.S. 400, 413 (1965) (Goldberg, conc.).- Im Ergebnis abweichend allerdings Hirabayashi v. United States, 320 U.S. 81 (1943) und Korematsu v. United States, 323 U.S. 214 (1944). 544 R. Pine, 136 U.Pa.L.Rev. 655, 711 (1988). Bsp.: Carey v. Population Services International, 431 U.S. 678, 695 f. (1977). Vgl. aber auch Leary v. United States, 395 U.S. 6, 38 (1969) mit P. Brest, Constitutional Decisionmaking (1. Aufl.), S. 1007 f. (Kap. 10 II B a.E.).- Der Grundsatz bedeutet nach h.M. indes nicht, daß Untergerichte vom Supreme Court ermittelte Fakten in einem neuen Verfahren beliebig anzweifeln dürften. Dazu, teils kritisch, R. Pine, 136 U.Pa.L.Rev. 655, 718 f., 720 ff. (1920). 545

F. Ossenbühl, in: C. Starck (Hrsg.), BVerfG und GG, Bd. I (1976), S. 458, 462 f.,

467 ff.

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

215

lung von einem auf den besseren "Apparat" gestützten Vorrang des Gesetzgebers bei der Ennittlung und Bewertung von Tatsachen. Überdies haben empirische Untersuchungen gezeigt, daß von einer qualitativen Unterlegenheit des BVerfG hierbei keine Rede sein kann. 547 Mit der ausdrücklichen Nonnierung des Untersuchungsgrundsatzes in § 26 BVerfGG beantwortet sich zugleich die Frage, von wem die Initiative zur Tatsachenennittlung auszugehen hat. Hier gilt, daß das Gericht "Herr aller Entschließungen ist, die die Beweiserhebung und ihre Grenzen betreffen ... Eine Partei mag einen Beweisantrag stellen; ... sie hat keinen Anspruch auf fönnliche Bescheidung durch das Gericht. Für das Gericht ist ein 'Beweisantrag' nicht mehr als Anstoß zur Erwägung, ob eine Beweiserhebung erforderlich ist; es genügt ja schon zur Entbehrlichkeit einer Beweisaufnahme, daß die das Gericht interessierenden Tatsachen und Umstände gerichtsbekannt sind; und das ist eine ganze Menge!"548 Infolge des Umstandes, daß es sich beim BVerfG um ein Verfassungsgericht des sog. konzentrierten Typs handelt, entfallt schließlich auch eine denkbare Bindung an die Tatsachenfeststellungen anderer, bereits vorher mit dem Fall befaßter Gerichte, wie sie fiir das amerikanische Beispiel naheliegt. In Fragen der Verfassungsmäßigkeit von Maßnahmen der hoheitlichen Gewalt ist das BVerfG die mitunter einzige, immer aber letzte Tatsacheninstanz. Damit ist auch die fitr die Tätigkeit des Supreme Court fundamentale Unterscheidung von adjudicative und legislative facts fiir den deutschen Verfassungsprozeß zwar theoretisch erkenntnisfördemd, aber praktisch ohne Bedeutung.549 Trotz der im Hinblick auf die Kompetenz zur Tatsachenfeststellung bestehenden Unterschiede zwischen deutschem und amerikanischem System scheint jedoch der These, "daß eine genaue gesetzliche Verfahrensregelung ein gewisses Korrektiv fiir die doch sehr weitgehende inhaltliche Gestaltungsmöglichkeit der Verfassungsgerichte sein kann und damit eine im gewaltenteilenden demokratischen Rechtsstaat wertvolle machtbegrenzende Funktion hat" 550, für das 546 Vgl. H. Dichgans, Vom Grundgesetz zur Verfassung, S. 176 ff. In diese Richtung auch C. Landfried, BVerfG und Gesetzgeber, S. 161 ff. ; K. Vogel, BVerfG, S. 186 ff. 547 Grundlegend hierzu K. J Philippi, Tatsachenfeststellung, S. 183 et passim. Daran anschließend C. Gusy, Gesetzgeber, S. I65; D. Lorenz, in: C. Starck I K. Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Bd. III (1983), S. 193, 216.

548

W Geiger, Verfassungsgerichtlicher Prozeß, S. 22 f.

Zum Ganzen F. Ossenbühl, in: C. Starck (Hrsg.), BVerfG und GG, Bd. I (1976), S. 458, 465, 467 f., 488 ff. mwN. 549

550 K. Korinek, in: K. Stern (Hrsg.),..40 Jahre GG (1990), S. 107, 115 f. Ebenso ders. , VVDStRL 39 (1982), S. 7, 35 ff. (für Osterreich).

216

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

hier erörterte Problem die rechte Überzeugungskraft zu fehlen: Selbst starke verfahrensmäßige Behinderungen haben den Supreme Court schließlich nicht davon abgehalten, eine prinzipiell umfassende Feststellungspraxis zu etablieren. Erst eine Analyse der konkreten Ausübung dieser Kompetenz durch das BVerfG macht demnach einen Vergleich mit dem amerikanischen System möglich. b) Die Praxis des BVerfG § 26 BVerfGG hat mit der Normierung des Untersuchungsgrundsatzes dem Gesetzgeber die Vollmacht zur Tatsachenermittlung erteilt, ohne deren Reichweite und Grenzen festzuschreiben. Inwieweit das BVerfG von diesem "Blankoscheck"551 bisher Gebrauch gemacht hat, ist Gegenstand der folgenden Analyse.

aa) Tatsachenfeststellungen Von Beginn seiner Tätigkeit an hat das BVerfG die Kompetenz zur selbständigen Überprüfung von Tatsachen in Anspruch genommen. 552 Ausgangspunkt dessen waren zwei frühe Entscheidungen aus dem Jahr 1957, in denen das Gericht umfassende Sachverhaltsfeststellungen traf, ohne auch nur mit einem Wort auf die möglicherweise problematischen Aspekte der von ihm geübten Praxis einzugehen. Dabei ging es in dem einen (vom BVerfG nicht als verfassungswidrig angesehenen) Fall um die strafrechtlich unterschiedliche Behandlung männlicher und weiblicher Homosexualität553 , in dem anderen (einer Verfassungsbeschwerde stattgebenden) Fall um die verfassungswidrige Gleichsetzung einer bestimmten NS-Forschungsinstitution mit der Gestapo im Hinblick auf die beamtenrechtliche Versorgung ihrer Mitglieder554 . In beiden Fällen erholte das Gericht umfangreiche Gutachten. Eine Begründung für seine Vorgehensweise lieferte das BVerfGE erst mit der Apothekenentscheidung im Jahr 1958. Dort bezog das Gericht sich im wesentlichen auf seine Tätigkeit zum "Schutz der Grundrechte gegenüber dem Gesetzgeber", der es sich um deren Effektivität willen nicht entziehen dürfe. Wenn andere Gerichte eigene Sachverhaltsermittlungen anstellten, müsse das BVerfG dies "zum Schutz der Freiheit des Bürgers" erst recht tun. Zudem sei es "kraft seiner allgemeinen Stellung als Verfassungsorgan und Gericht für ver-

551

K. J. Philippi, Tatsachenfeststellung, S. 12.

Rechtstatsächlich K. J. Phi/ippi, Tatsachenfeststellung ( 1971 ). Vgl. weiterhin H. Thierfelder, Juristische Analysen 1970, S. 879 ff. 552

553

BVerfGE 6, 389, 398 ff.

554

BVerfGE 6, 282, 284 f. Weitere Nachw. bei K. J. Philippi, S. 15 ff.

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

217

fassungsrechtliche Fragen dem Vorwurf unberechtigten Eingriffs in die Gesetzgebungssphäre weit weniger ausgesetzt als die anderen Gerichte."555 Im weiteren Verlaufwar die Entwicklung freilich nicht immer so stetig, wie es diese selbstbewußten Äußerungen, von denen das Gericht auch später nie abgerückt ist, hätten erwarten lassen. Vielmehr folgte der eben beschriebenen Phase intensiver Tatsachenfeststellung eine solche vorsichtigerer Aktivität während der sechziger Jahre. Das Urteil zum Hamburger Deichordnungsgesetz aus dem Jahr 1968 endlich steht für den Beginn der praktisch folgenreichen Unterscheidung von real-tatsächlichem Befund auf der einen-, darauf aufbauendem Wertungsakt auf der anderen Seite. Von nun an sollte die Tatsachenbasis stets intensiv überprüft556 und ein Gesetz bei fehlerhafter Sachverhaltsaufklärung für nichtig erklärt557 werden. Die eigentlichen Schwierigkeiten entstanden regelmäßig erst auf der Stufe der vom Gesetzgeber auf dieser Basis vollzogenen Einschätzungen und Bewertungen. Sollte nämlich noch im Deichordnungsfall eine Verwerfung dieser Wertungen durch das BVerfG nur dann erfolgen, wenn sie sich als "eindeutig widerlegbar oder offensichtlich fehlsam" herausstellen würden558, ließen sich in der Folge Schwankungen beobachten, die die Allgemeingültigkeit dieser einprägsamen Formel nachhaltig in Frage stellten.559 Eine überaus großzügige gerichtliche Haltung etwa kennzeichneten nicht nur Entscheidungen, die, wie der Deichordnungsfall, den Vorrang gesetzgeberischer Wertungen bis zu deren eindeutig "nachweisbarer" Fehlerhaftigkeit betonten560, sondern auch solche, die diese Wertungen trotz ihrer ausgesprochen zweifelhaften Berechtigung unangetastet ließen561 , sowie solche, die sozusagen als Gipfel der Generosität - die Sachabwägung des Gesetzgebers als "der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung" überhaupt "entzogen" erklärten562 • Auf der anderen Seite sind freilich deutlich strengere Judikate, die sich auch beim Fehlen der genannten Voraussetzungen über die gesetzgeberischen Annahmen hinweggesetzt haben, nicht zu übersehen. 563 555 BVertDE 7, 377, 410, 413. In BVertDE 24, 367, 406 fehlt der Hinweis auf die Eigenschaft des BVertD als "Verfassungsorgan."

556

Bsp.: BVertDE 39, 210, 226 ff.; 50, 50, 51.

557

Vgl. z.B. BVerfGE 36, 47, 60 ff.

558

BVertDE 24, 367, 406.

559

Zum folgenden K. Vogel, BVertD, S. 175.

560

BVertDE 43,291, 347. Ebenso BVertDE 37, 104, 118; 47, 109, 119.

561

BVerfGE 41, 360, 372.

562

BVertDE 56,298,315.

563

Dazu zählt K. Vogel, BVerfG, S. 175 etwa BVerfGE 45, 187 ff.

218

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Der Grund dafiir, weshalb das BVerfG bei der Tatsachenkontrolle einmal diesen, ein anderes Mal jenen Maßstab anlegt, ist in den Entscheidungen selbst kaum einmal deutlich ausgedrückt. Eine in diesem Zusammenhang immer wieder genannte Erklärung knüpft an ein Begründungsmuster von der Art des in der Mitbestimmungs-Entscheidung - dort freilich im Zusammenhang der Prognosekontrolle - entfalteten Schemas an, das sogleich vorgestellt wird. Eine zusammenfassende Analyse der wenigen gerichtlichen Äußerungen wird aber vor allem deshalb auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, weil man sich von ihr mit gutem Grund weiteren Aufschluß über das grundsätzliche Verständnis von Verfassungskontrolle in den untersuchten Rechtsordnungen versprechen kann. bb) Folgeneinschätzungen

Ebenso wie die Tatsachenfeststellung gehörte auch die Folgeneinschätzung von Beginn an zur Praxis des BVerfG. Argumentativer Ausgangspunkt dessen war auch hier wieder die Apotheken-Entscheidung aus dem Jahr 1958. Dort hatte das Gericht betont, daß es sich bei der "Beurteilung hypothetischer Kausalverläufe, die den Normierungen des Gesetzgebers zugrunde liegen" um eine Aufgabe handele, "die ihrer Art nach auch vom Richter erfiillbar" sei; wo indes die "Erfahrungsgrundlagen, Erwägungen und Wertungen des Gesetzgebers ... nicht entkräftet werden" könnten, dürften sie "die Vermutung der Richtigkeit fiir sich in Anspruch nehmen."564 Da die Begründung der Praxis gerichtlicher Folgeneinschätzung der der Tatsachenfeststellung entspricht, kann an dieser Stelle auf Wiederholungen verzichtet werden. Erinnert sei nur an die Stichworte "Grundrechtseffektuierung", "Verfassungsorgan-" und "Gerichts-Qualität." Immer wieder genannte /andmark-decision fiir die modeme565 Praxis der Folgeneinschätzung ist das Mitbestimmungsurteil aus dem Jahr 1976.566 Auch hier findet sich die schon von der Tatsachenfeststellung bekannte und bereits im Apothekenurteil zum Ausdruck gebrachte Unterscheidung zwischen der faktischen Basis - die hier wie dort einer gründlichen Überprüfung unterzogen wird - einerseits und der auf ihrer Grundlage fußenden Einschätzungen und Prognosen andererseits. Dabei stehen letztere ganz im Mittelpunkt der Mitbestimmungs-Entscheidung sowie der ihr folgenden Judikate. Für sie statuiert das BVerfG ein differenziertes Prüfungsinstrumentarium, das von der Evidenzüber die Vertretbarkeits- bis hin zur Inhalts-Kontrolle reicht. 567 Mit dieser "Drei-Stufen-Formel" ist indes- so will es zumindest das gerichtliche Selbst564

BVerfGE 7, 377, 412.

565

Überblick zu älteren Entscheidungen bei K. Vogel, BVerfG, S. 176 ff.

566

BVerfGE 50, 290.

567

Zur Drei-Stufen-Prüfung neuerdings zurückhaltend aber BVerfGE 88, 203, 262.

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

219

verständnis - nicht etwa ein Neubeginn, sondern nurmehr eine klarere Systematisierung der in der Vergangenheit bereits gültigen Praxis vollzogen. Nach den Kriterien der Mitbestimmungs-Entscheidung findet die intensivste Überprüfung der vom Gesetzgeber angestellten Prognosen sub titulo "Inhaltskontrolle" statt. Bei ihr fühlt sich das BVerfG prinzipiell nicht an die durch Tatsachen unterfütterten Ansichten der Legislative gebunden. Auf der Grundlage auch vom Gesetzgeber nicht berücksichtigten Materials stellt das Gericht hier vielmehr eigene Prognosen an, die es für den Fall, daß es die vom Gesetzgeber vorgenommene Einschätzung für widerlegt hält, an deren Stelle setzt.568 Als typische Fälle einer intensiven Kontrolle werden gemeinhin das Apothekenenurteil569 sowie zwei Entscheidungen, die auch in den USA strengerer Prüfung unterzogen wurden, nämlich die Sprüche zur Abtreibung570 und zur Zulässigkeil der lebenslangen Freiheitsstrafe571 , genannt. Andere Entscheidungen freilich lassen den Beobachter mit einer Erklärung dafür, weshalb es gerade hier zu einer besonders intensiven Sachverhaltsaufklärung kommt, allein. Beispiele dafiir sind die Entscheidungen zum gemeinsamen Sorgerecht der Eltern572 und zu den "eigentlich" nur an der "Willkür"-Latte des Art. 3 Abs. 1 GG zu messenden Kündigungsfristen bei Arbeitern und Angestellten. 573 Interessanterweise wies das BVerfG bei der letzgenannten Entscheidung einen one step at a time-approach, wie er vom Supreme Court im Umgang mit dem Gleichheitssatz vertraut ist, ausdrücklich zurück. Da sich "aus der Entstehungsgeschichte des § 622 Abs. 2 BGB" nicht ergebe, "daß das Recht der länger beschäftigten ... Arbeiter stufenweise an das Recht der Angestellten angeglichen werden sollte", könne dieser Einwand die gesetzgeberische Regelung nicht vor der Beurteilung als "unsachgemäß" bewahren. 574 Auch die von seitender Verteidiger des Gesetzes zu seiner Rechtfertigung genannten, nicht ohne weiteres von der Hand zu weisenden Argumente dafiir, daß es zumindest momentan bei der Ungleichbehandlung bleiben könne575 , hielt das Gericht nach selbständig 568

BVerfGE 45, 187, 238.

569

BVerfGE 7, 377 ff.

BVerfGE 39, 1 ff. Zu BVerfGE 88, 203 ff., der zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch, vgl aber sogleich im Text. 570

571

BVerfGE 45, 187 ff.

512

BVerfGE 61, 358, 371, 375 ff.

BVerfGE 62, 256, 275 ff. Wie Katzenstein (diss.), ebd., S. 289 f. klar macht, handelt es sich hier, da es "um den sozialen Schutz von Arbeitnehmern" gehe, um einen Anwendungsfall der- strengeren- "Neuen Formel." 573

574

Ebd., S. 286 f.

575

Zusammenfassend ebd., S. 290 ff. (Katzenstein, diss.).

220

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

getroffener Einschätzung flir nicht zugkräftig. Dabei hatte es in einer früheren Entscheidung noch ausdrücklich betont, daß im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit die Zubilligung einer bestimmten Vergünstigung an nur vereinzelte Personengruppen zumindest fiir eine Übergangszeit toleriert werde, sofern nur "eine Tendenz zur allmählichen Ausweitung des begünstigten Personenkreises erkennbar" sei. 576 Andererseits werden Gesetze, bei denen wegen der "Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter" eine intensive inhaltliche Überprüfung zu erwarten gewesen wäre, keineswegs immer einheitlich behandelt. So ließ das zweite Urteil zum Schwangerschaftsabbruch es mit der Feststellung bewenden, der Gesetzgeber habe die betroffenen Rechtsgüter "ausreichend berücksichtigt und seinen Einschätzungsspielraum in vertretbarer Weise gehandhabt." Auch wenn die vom Gesetzgeber getroffenen Maßnahmen nicht "gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich" sein dürfen, genüge es doch, daß er eine "verläßliche" Prognose getroffen und sich einer "vertretbaren Einschätzung" angeschlossen habe. 577 Vereinzelt ist die Befiirchtung geäußert worden, daß damit die in der Drei-Stufen-Formel zu findenden "Ansätze von Rationalität" bereits wieder "verspielt" seien.578 Schon ein gutes Stück weitmaschiger als die "Inhalts-" ist die vom BVerfG sogenannte "Vertretbarkeitskontrolle". Nach ihr muß der Gesetzgeber die Sachlage auf der Grundlage des von ihm erreichbaren Materials angemessen beurteilt haben. Erst dann, wenn die Annahmen des Gesetzgebers sich als objektiv unhaltbar herausstellen, kann das BVerfG ihnen entgegentreten. Obwohl es sich bei dieser Kontrolle prinzipiell um eine solche inhaltlicher Art handelt, kann sie sich von Fall zu Fall darauf beschränken, nur die Einhaltung bestimmter, als unabdingbar angesehener Verfahrensanforderungen zu überprüfen. So hat das BVerfG etwa das Mitbestimmungsurteil schon deshalb filr verfassungsgemäß erklärt, weil sich der Gesetzgeber "an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung des erreichbaren Materials orientiert" und "die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen ausgeschöpft" habe, "um die voraussichtlichen Auswirkungen seiner Regelung so zuverlässig wie möglich abschätzen zu können und einen Verstoß gegen Verfassungsrecht zu vermeiden. " 579 Zwei Einschränkungen sind bei einer solchen Vorgehensweise freilich immer mitzubedenken: Zum einen muß eine solche Verfahrensprüfung dann 576

BVerfGE 39, 148, 153.

577

BVerfGE 88, 203, 262 f.

578

K. Schlaich, BVerfG, Rdz. 502.

579

BVerfGE 50,290, 333 f. Auch BVerfGE 55, 37, 66; 65, 1, 55; 68, 193,220.

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

221

schwerfallen, wenn über das geprüfte Gesetz und die Methodik seiner Verabschiedung zu wenig bekannt ist. Zum anderen wird das BVerfG eine Norm schwerlich noch an Verhaltenspflichten des Gesetzgebers messen dürfen, wenn sie schon seit längerer Zeit in Kraft ist. 580 Die vergleichsweise größte Freiheit genießt der Gesetzgeber im Bereich der "Evidenzkontrolle". Dabei wird nur geprüft, ob die Prognosen des Gesetzgebers so offensichtlich fehlsam sind, daß sie vernünftigerweise keine Grundlage für legislative Maßnahmen abgeben konnten.581 Auch hier gilt, und zwar stärker noch als unter dem Vertretbarkeits-Maßstab, daß die Einhaltung bestimmter Verfahrensmodi das BVerfG für gewöhnlich bereits zufriedenstellt So hat das Gericht die Befolgung der wesentlichen Empfehlungen einer Expertenkommission und die Durchführung umfangreicher Anhörungen durch den Gesetzgeber genügen lassen, ohne in eine inhaltliche Prognoseprüfung einzusteigen.582 Es ist einleuchtend, daß bei einer so überschlägigen Kontrolle nur selten die Notwendigkeit einer Verwerfung der seitens des Gesetzgebers angestellten Überlegungen besteht. Gebrauch gemacht hat das BVerfG von diesem Maßstab z.B. im Urteil zum Grundlagenvertrag583 , dessen Auswirkungen auf die Möglichkeiten einer Wiedervereinigung weithin den Einschätzungen der politischen Akteure überlassen wurden. Ein anderes Beispiel ist die Entscheidung zum Stabilisierungsfonds, wo dem Gesetzgeber ein weiter "Regelungsspielraum" nicht nur für die Frage, "ob", sondern auch "wie" er "eine bestimmte Aufgabe in Angriff nehme", zugestanden wurde. Zudem seien die Einschätzungen des Gesetzgebers im Hinblick auf die Geeignetheil und Erforderlichkeil des von ihm eingesetzten Mittels nur dann angreifbar, wenn "eindeutig feststeh(e), daß (ihm) ein gleich wirksames, aber den Freiheitsspielraum der wirtschaftlich tätigen Individuen weniger einschränkendes Mittel zur Verfügung" stehe.584 Abschließend ist das Augenmerk noch auf zwei miteinander zusammenhängende, vor allem im Bereich der Prognosekontrolle auftauchende Probleme zu richten, die aus der Praxis des Supreme Court bereits vertraut sind: zum einen das der nachträglich unrichtigen, zum anderen das der nur subjektiv zutreffenden Prognose.

580 Ebenso K. Schlaich, BVerfG, Rdz. 497. Statt der Verwerfung kommt u.U. aber eine Nachbesserung in Betracht. 581

BVerfGE 30,292, 317; 37, 1, 20.

582

BVerfGE 50, 290, 335. Ebenso BVerfGE 57, 139, 160.

BVerfGE 36, 1, 17. Insoweit kritisch aber G. F. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen, S. 34 f. 583

584

BVerfGE 37, 1, 20 f.

222

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Im Hinblick auf erstgenanntes Phänomen ist es für das BVerfG kennzeichnend, daß das Gericht auch eine erst später sich als falsch erweisende Prognose nur dann als verfassungswidrig ansieht, wenn sie schon im Zeitpunkt der Entstehung des Gesetzes evident unrichtig und dies dem Gesetzgeber überdies erkennbar war. Das liege daran, daß "die Entwicklung sich nicht genau vorausberechnen" lasse und "aus den verschiedensten Gründen der erwartete Geschehensablauf eine unvorhergesehene Wendung nehmen" könne. 585 Allerdings ist diese in Kontrollabstinenz sich ausdrückende Großzügigkeit durchaus nicht grenzenlos: "Anlaß zur verfassungsrechtlichen Beanstandung" gebe es vielmehr selbst bei komplexen Sachverhalten immer dann, "wenn der Gesetzgeber eine spätere Überprüfung und fortschreitende Differenzierung trotz ausreichenden Erfahrungsmaterials für eine sachgerechtere Lösung unterläßt."586 Damit bürdet das BVerfG dem Gesetzgeber die letztlich sehr viel nachhaltiger als eine nur einmalige Kontrolle wirkende Last auf, ein von ihm erlassenes Gesetz nach seiner Verabschiedung ständig zu beobachten. Trotz des zunächst sehr ähnlich anmutenden Ausgangspunktes geht das BVerfG mit seiner konkreten Pflicht zum "Nachfassen" über die eine solche Bereitschaft abstrakt unterstellende Praxis des Supreme Court also weit hinaus: Während hier bereits die Hypothese einer subjektiv tragfähigen Tatsachengrundlage zur Aufrechterhaltung des Gesetzes ausreicht, ist dort eine objektiv feststellbare Beziehung zwischen eingesetztem Mittel und verfolgtem Zweck auf kurz oder lang unumgänglich. 587 Wie das amerikanische Beispiel zeigt, muß das Abstellen auf die "Gültigkeit" (anstatt der "Richtigkeit") einer Prognose also nicht notwendig Nachbesserungs-Pflichten auslösen. Die zur Begründung einer begrenzten Experimentierfreiheit immer wieder auftauchende Aussage, es komme allein darauf an, ob "der Gesetzgeber aus seiner Sicht davon ausgehen durfte, daß die Maßnahmen zur Erreichung des gesetzten Ziels geeignet waren" 588, scheint dabei zugleich eine Antwort auf die zuvor gestellte zweite Frage, nämlich danach, ob es für das Vorhandensein einer ausreichenden Tatsachengrundlage auf die subjektive Einschätzung des Gesetzgebers oder auf die objektive Sachlage ankommt, zu geben. Jedoch bietet

585

BVerfGE 30, 250, 263.

BVerfGE 37, 104, 118. Ebenso BVerfGE 33, 171, 189 f.; 37, 38, 56 f.; 49, 89, 130; 50, 290, 335; 57, 139, 162 f.; 68, 287, 309; 73, 40, 94. 586

587

Zusammenfassend W-R. Schenke, in: BK-GG, Rdz. 369 zu Art. 19 Abs. 4; P.

Badura, in: 1. lsensee I P. Kirchhof (Hrsg. ), Hdb. StaatsR, Bd. VII ( 1992), S. 180, 182 f. (§ 163, Rdz. 26, 30); K. Grupp, in: J. Burmeister (Hrsg.), FS f. K. Stern (1997), S. 1099,

1101 ff. Für den Gleichheitssatz D. Kommers, in: C. Link (Hrsg.), Gleichheitssatz (1982), S. 31, 35 f. 588

BVerfGE 30, 250, 263 (Hervorhebung vom Verf.).

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

223

die vom BVerfG ständig geübte Praxis, im Rahmen der Gleichheitsprüfung auf "objektive Willkür" abzustellen ebenso wie ein Schwanken im Bereich des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes589 sowie schließlich das gerichtliche Bemühen, stets nur den objektiven Gehalt eines Gesetzes zu ermitteln, einigen Anlaß, diese These in Zweifel zu ziehen. Fest steht zumindest, daß die auf seiten des Supreme Court zu beobachtende Übung, vernünftige Gründe, auf die der Gesetzgeber seine Entscheidung gestützt haben könnte, im Fall ihres objektiven FehJens zu fingieren, der bundesverfassungsgerichtlichen Praxis fremd ist. 590

111. Legislativefacts, Vermutung der Verfassungsmäßigkeit und Prüfungsmaßstäbe Bei alldem darf freilich nicht übersehen werden, daß die jeweilige Praxis der Tatsachenfeststellung und Folgeneinschätzung allein noch keinen Rückschluß auf deren Funktion im Verfassungsprozeß zuläßt. Tatsachenfeststellung und Folgeneinschätzung als solche sind vielmehr nur insoweit etwa eine Bedrohung fiir die gesetzgebenden Körperschaften als ihnen das Potential zu selbständiger gerichtlicher, von der Einschätzung des Gesetzgebers abweichender Determination innewohnt. Ihr eigentliches Profil gewinnen sie daher erst durch die Verbindung mit den Prüfungsmaßstäben.591 Was die USA angeht, wäre es ein Irrtum anzunehmen, daß im Gefolge der Entwicklung differenzierter Kontrollmaßstäbe durch den Supreme Court auch eine Tendenz zur verstärkten Tatsachenfeststellung zu vermelden gewesen wäre. Beide Entwicklungen sind vielmehr praktisch und theoretisch scharfvoneinander zu trennen. Prüfungsmaßstäbe sind, wie nicht zuletzt eine jahrelange Praxis des Supreme Court bis in unser Jahrhundert hinein bewiesen hat, auch ohne Feststellung legislativer Fakten operabel. 592 Und umgekehrt bedürfen legislative Fakten nicht notwendig ausdifferenzierter Prüfungsmaßstäbe, um ihre Be589

Typisch etwa BVerfGE 38, 61, 87 f. Ebenso BVerfGE 30, 250, 263.

Nachw. bei F. Ossenbühl, in: C. Starck (Hrsg.), BVerfG und GG, Bd. I (1976), S. 458, 484 f. (mit freilich unzutreffender Gleichsetzung von deutscher und amerikanischer Praxis). 590

591 Vgl. K. J. Philippi, Tatsachenfeststellungen, S. 187, 189; K. Karst, in: L. Levy u.a. (Hrsg.), Encyclopedia, Bd. 3 (1986), S. 1145 ("Legislative Facts"): "The courts' treatment of issues of legislative fact is thus seen as a function of the standard of review used to test a law's validity." 592 Vgl. für diesen Zusammenhang K. J. Philippi, Tatsachenfeststellung, S. 187 f. Zu pauschal daher W. K. Geck, in: D. Blumenwitz I A. Randelzhofer (Hrsg.), FS f. F. Berber (1973), S. 165,201.

224

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

deutung unter Beweis zu stellen; ihren Dienst können sie vielmehr auch unter einem starren Prüfungsmaßstab verrichten. Das gilt ftlr die Rechtslage in Deutschland nicht anders als ftlr die USA. Allerdings ist die Handhabung der Prüfungsmaßstäbe eine andere, wenn ein Gericht seiner Entscheidung legislative facts zugrunde legt. Hierzu liefert die amerikanische Praxis, stellvertretend auch ftlr die deutsche Situation, reiches AnschauungsmateriaL Das in "Lochner"593 aufgestellte Erfordernis einer Mittel-Zweck-Beziehung, die "real and substantiat' zu sein habe, etwa, hat der Supreme Court vollkommen ohne Feststellung legislativer Fakten überprüftund letztlich als nicht erftlllt angesehen. Dem dort benutzten strengen Prüfungsmaßstab haben während der economic due process-Ära eine Vielzahl von Gesetzen nicht standgehalten.594 Möglicherweise jedoch hätten selbst viele der vom Gericht nur dem mere rationa/ity-Standard unterworfenen Gesetze die Verfassungswidrig-Erklärung zu beftlrchten gehabt, wenn dem Gericht nicht vermittels legislativer Fakten gelegentlich die "Vernünftigkeit" der gesetzgeberischen Absichten augenscheinlich gemacht und damit einem unabhängig davon gefundenem Urteil ein Riegel vorgeschoben worden wäre. Im Ergebnis naturgemäß in die gleiche Richtung gewirkt hat die vom Gericht geübte Praxis der Fiktion gesetzesstützender Tatsachen. Ohne die genannten Helfer wäre der mere rationalityStandard des Supreme Court ein anderer, strengerer gewesen. Andererseits hätte sich auf der Basis legislativer Fakten wahrscheinlich sehr viel öfter das Vorliegen der vom strengen Prüfungsmaßstab geforderten Voraussetzungen beweisen lassen als dies unter der statt dessen mit juristischen Präjudizien operierenden Praxis letztlich der Fall gewesen ist.595 "Muller v. Oregon", der Brandeis Brief-Fall, ist ftlr diese Hypothese ein gutes Beispiel. Es ist diese nicht immer leicht erklärliche Inkonsistenz, die einen Beobachter mit Blick auf die Praxis der Tatsachenfeststellung hat resumieren lassen, daß 593

Lochner v. New York, 198 U.S. 45, 56,64 (1905).

Beispiele fllr wirtschaftslenkende Gesetze, die yom Supreme Court entgegen seiner üblichen Praxis in der substantial due process-Ara aufrechterhalten wurden, sind Miller v. Oregon, 208 U.S. 412 (1908); McLean v. Arkansas, 211 U.S. 539 (1909); Stett1er v. O'Hara, 243 U.S. 629 (1909); Bunting v. Oregon, 243 U.S. 426 (1917). Vgl. dazu auch P. Freund, Supreme Court, S. 86 ff. ; L. Tribe, Constitutional Law, S. 568 ff. (§ 8-3). 594

595 Vgl. P. Freund, in: E. Cahn (Hrsg.), Supreme Court, S. 47, 49 f.; E. Cahn, 30 N.Y.U.L.Rev. 150, 153 f. (1955) im Zusammenhang von Brown v. Board ofEducation: "If statistics, expert opinions, graphs, and similar data are sufficient to establish that the legislature or administrative authorities h~ve acted rationally, then is it ever possible to prove that they have acted otherwise?" Ahnlieh Jay Bums Baking Co. v. Bryan, 264 U.S. 504, 533 f. (1924) (Brandeis, Holmes, diss.).

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

225

"when the Court wished to uphold social welfare measures, it generally accepted the validity of facts contained in Brandeis briefs. But whenever it chose to reject such legislation, the Court found extra-legal data spurious and unconvincing. " 596 Zusammengefaßt ergibt sich: Die Prüfstandards hätten, so wie sie defmiert sind, eine Praxis der Tatsachenfeststellung, wie sie vom Supreme Court (und im übrigen auch vom BVerfG) heute bekannt ist, nicht erforderlich gemacht. Kontrollmaßstab und Kontrolldichte sind vielmehr sauber zu unterscheiden597, denn: "Facts can be used to provide the basis for the constitutionality, as weil as the unconstitutionality, of legislation."598 Das gilt nicht nur fiir die Frage, unter welchem Prüfungsmaßstab Tatsachen festgestellt werden, sondern auch fiir die Verwendung der festgestellten Tatsachen innerhalb der Prüfungsmaßstäbe selbst. Besteht aber ein solcher Zusammenhang zwischen dem zur Anwendung gebrachten Prüfungsmaßstab und der geübten Praxis der Tatsachenfeststellung, bedenkt man zudem, daß Tatsachenfragen in Deutschland insbesondere bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung und im Rahmen des Gleichheitssatzes aktuell werden599, und vergegenwärtigt man sich schließlich, auf welche mehr oder weniger unvorhersehbare Weise diese Prüfungsmaßstäbe vor einer materiellrechtlich fundierten "Wert(rang)ordnung" gehandhabt werden600, ergibt sich, daß die bei uns geübte Praxis auch der Tatsachenfeststellung ebenso wenig systematisierbar ist wie die Prüfungsmaßstäbe selbst. Entsprechend zahlreich sind die zu ihrer Rechtfertigung herangezogenen Argumentations-Topoi und Erklärungsmuster. Für den amerikanischen Fall ergibt sich demgegenüber eine ganz andere Schlußfolgerung. Dort zeigt die Koppelung von intensiver Tatsachenkontrolle und (ohnehin relativ unnachgiebig gehandhabtem) strengen Prüfungsmaßstab auf der einen, von großzügiger Tatsachenfeststellung und (ohnehin relativ 596

P. Rosen, Social Science, S. 90.

Vgl. für die Schwierigkeit dieser Aufgabe F. Ossenbühl, in: C. Starck (Hrsg.), BVerfG und GG, Bd. I (1976), S. 458, 478 f. Zustimmend D. Lorenz, in: C. Starck I K. Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Bd. III (1983), S. 193,201. 597

598

D. Alfange, 114 U.Pa.L.Rev. 637, 643 (1966). Vgl. K. Karst, 1960 Sup.Ct.Rev.

75, 86 f.

599 K. Korinek, in: K. Stern (Hrsg.), 40 Jahre GG (1990), S. 107, 110; F. Ossenbühl, in: C. Starck (Hrsg.), BVerfG und GG, Bd. I (1976), S. 458, 516; P. Badura, in: J. Isensee I P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. StaatsR, Bd. VII (1992), S. 179 (§ 163, Rdz. 25). 600 Dazu im Zusammenhang der Tatsachenfeststellung K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 190. "Resignierend" demgegenüber K. Stern, Staatsrecht, Bd. IIII2, S. 1353 (§ 91 V 3 a).

15 Simons

226

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

nachlässig gehandhabtem) mere rationality-Standard auf der anderen Seite die Tendenz, in d~m _eine_n Fall die ?ülti§feit e~es Ge~etze~,. in dem_ anderen sei~e Verfassungswidrigkeit zu erweisen. Das m den JeWeiligen Prüfungsmaßstäben bereits enthaltene Aufrechterhaltungs- bzw. Verwerfungs-Potential wird also infolge der Ergänzung durch die eigene Art der Tatsachenfeststellung noch weiter verstärkt. Was schließlich die Praxis der Tatsachenfeststellung einerseits, die Vermutungen der Verfassungsmäßigkeit bzw. Verfassungswidrigkeit andererseits angeht, so stehen diese in genau umgekehrtem Verhältnis zueinander602 : Je intensiver ein Gericht umfassende Tatsachenfeststellung betreibt und je selbstbewußter es sich daran macht, die Fall-Relevanz solcher Tatsachen zu beurteilen, desto weniger bedarf es für die Lösung eines Rechtsstreites einer den Zustand der Beweislosigkeit überwindenden Vermutung. Und umgekehrt ist das Bedürfnis nach einer Vermutung um so größer, je weniger das Gericht sich in der Lage sieht, selbst den Tatsachenstoff zu sammeln und zu bewerten.603 Das soeben beobachtete Phänomen einer eher geringen oder sogar nur Putativ-Bedeutung der Vermutungen paßt demnach gut zu der Erscheinung einer bereichsweisen Ausweitung oder Zurücknahme der Ermittlungstätigkeit durch den Supreme Court. Sie stimmt auch überein mit der gelegentlich geäußerten Befürchtung, mit expandierender Tatsachenfeststellung durch das Gericht werde die vom und für den Gesetzgeber in Anspruch genommene Vermutung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze unterlaufen. 604 Sie wird dies freilich nur durch einen sie an Effektivität noch überbietenden Prüfungsmodus. IV. Legislativefacts und Funktionenordnung Daß der Modus der Tatsachenfeststellung über den Ausgang eines Rechtsstreits zwischen Grundrechtsträger und hoheitlicher Gewalt entscheidet, ist ein offenkundiger Umstand. Nach allem, was bisher über die Charakteristika sowie den gerichtlichen Umgang mit legislative facts gesagt wurde, ist es deren funk-

601

K. J Philippi, Tatsachenfeststellung, S. 187 f. mwN.

Zum folgenden Note, 36 Colum.L.Rev. 283, 291 f. (1936). Vgl. auch D. Alfange, 114 U.Pa.L.Rev. 637,678 f. (1966). 602

603

Vgl. zu diesem Phänomen K. Karst, 1960 Sup.Ct.Rev. 75,93 ff.

Andeutungen hierzu bei P. Freund, in: E. Cahn (Hrsg.), Supreme Court, S. 47, 49. Vgl. auch R. Pine, 136 U.Pa.L.Rev. 655,664 f. (1988); D. Alfange, 114 U.Pa.L.Rev. 637,678 f. (1966). 604

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

227

tionell-rechtliche Dimension freilich in kaum geringerer Weise. Einige grobe Pinselstriche mögen daher an dieser Stelle genügen.

Wohl am deutlichsten wird das funktionell-rechtliche Phänomen, wenn man sich Tatsachenfeststellung als eine von Gericht und Gesetzgeber auf methodisch vergleichbare Weise vollzogene Tätigkeit vorstellen.605 Damit tritt die Konkurrenzsituation, in der sich die beiden Institutionen befinden, sehr viel klarer in den Vordergrund als die Steuerungsfunktion, die Tatsachenfeststellung im Hinblick auf den Ausgleich divergierender öffentlicher und individueller Interessen unzweifelhaft auch hat. Hält man sich weiterhin vor Augen, "wie innig Tatsachenermittlung und Normauslegung auch im Verfassungsrecht miteinander verwoben sind"606 und ruft man sich schließlich den spezifischen Frontverlauf im Gefolge des Dichganssehen Reformvorschlages in Erinnerung, kann über die Bedeutung, die der praktischen Tatsachenfeststellung auch fiir die Funktionsverteilung zwischen Gericht und Gesetzgeber zukommt, kein Zweifel bestehen. Damit ist indes noch nicht die Frage beantwortet, welches die GrUnde dafiir sind, daß BVerfG und Supreme Court im Rahmen der Tatsachenfeststellung einmal zu dieser, einmal zu jener Ermittlungs- oder Bewertungsmethode greifen. Einmal mehr steht dabei das Problem im Vordergrund, ob es vornehmlich funktionell- oder materiell-rechtliche Argumente sind, derer sich die Gerichte bei der Auswahlentscheidung bedienen. Insoweit erweist sich fiir die Rechtslage in den USA relativ deutlich, daß das Maß der verfassungsgerichtlichen Tatsachenfeststellung entscheidend von der jeweiligen Auffassung über die von Supreme Court und Gesetzgeber wahrzunehmenden Aufgaben abhängt. Wenn "arguments about the proper judicial approach to the factual premises of legislation" weithin als "arguments about the proper role of the judiciary in the govemmental system" 607 angesehen werden, folgt daraus mit einer gewissen Notwendigkeit, daß der Modus gerichtlicher Tatsachenfeststellung und Folgeneinschätzung nurmehr als Funktion einer spezifischen Rolle des Supreme Court zu verstehen ist. In der Antwort auf 605

Vgl. D. Alfange, 114 U.Pa.L.Rev. 637, 639 (1966).

So F. Ossenbühl, in: C. Starck (Hrsg.), BVerfG und GG, Bd. I (1976), S. 458, 461 mwN. 606

607 K. Karst, in: L. Levy u.a. (Hrsg.), Encyclopedia, Bd. 3 (1986), S. 1145 ("Legislative Facts"), A. Miller I J. Barron, 61 Va.L.Rev. 1187, 1229 f. (~975) weisen darauf hin, daß fllr die ursprUngliehe ~eschränkung des Genchtes auf em~ Rolle als Schiedsrichter (nur) zwischen den Parteien grundlegend war, "that the Court ts confined to the facts as found by the trial court or as found through a rigidly restricted use of judicial notice." Rspr.-Nachw. bei P. Brest, Constitutional Decisionmaking (I. Aufl.), S. 941 f. (Kap. 8 li B).

15*

228

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

diese Frage liegt fiir den amerikanischen Verfassungsjuristen also offenbar der Schlüssel zum Verständnis der vom Supreme Court geübten Praxis. Besonders anschaulich wird diese typisch funktionell-rechtliche Sichtweise in der modernen Handhabung des nachgiebigen rational basis-Test mit seiner charakteristischen Praxis hypothetischer Sachverhaltsfeststellung. Fragt man amerikanische Verfassungsjuristen nach der Rechtfertigung einer solchen zumindest in ihrem großzügigen Ergebnis an die mit Empörung zurückgewiesenen Dichganssehen Reformvorschläge erinnernde - Übung, erhält man üblicherweise Antworten, die sich nur vor dem Hintergrund eines spezifischen Verteilungsmodellsvon gerichtlicher und gesetzgeberischer "Regierungs"-Verantwortung verstehen lassen. "This permissive approach", kann man denn ganz folgerichtig bei Lusky und Botein im Zusammenhang des Gleichheitssatzes lesen, "reflected recognition that nearly all legislation involves classification of one kind or another, that classifications often result from expedient compromise rather than logical principle, that articulation of a coherent legislative purpose is frequently impossible because different legislators have had different reasons for approving the result reached, and that the difficult business of assembling legislative majorities would be paralyzed by a requirement of rigid consistency. Moreover, the electorate has ultimate power to bring about the repeal or improvement of statutes which deviate too far from the ideal of equality, and the availability of a political remedy lessens the Court's responsibility."608 Nur dann also, muß man im Gegenschluß folgern, wenn der politische Korrekturmechanismus blockiert und eine zuverlässige Einsichtnahme in den bargaining-Prozeß stattfinden kann, ist dem Supreme Court das Legat zu einer Form intensivierter Tatsachenfeststellung zuzusprechen. Hält man sich vor Augen, daß es vom Ergebnis her unerheblich ist, ob die vom Gesetzgeber zugrundegelegten Tatsachen erst gar nicht überprüft oder nach mehr oder weniger gründlicher Prüfung unter Einbeziehung auch hypothetischer und ganz entfernt liegender Möglichkeiten als wahr unterstellt werden, steht man vor dem erstaunlichen Phänomen, daß die filr die weitaus überwiegende Zahl der Fälle maßgebliche, mit dem rational basis-Test operierende amerikanische Gerichtspraxis im Wissen um eben die Umstände gerechtfertigt wird, um deretwillen sie im deutschen Fall als diskreditiert gilt. Es ist gerade deshalb von einigem Interesse, einen Blick auf die Kriterien zu werfen, die aus der Sicht des BVerfG fiir die Auswahl der verschiedenen Feststellungsmodi maßgeblich sein sollen. Dabei ist sedes materiae fiir Tatsachen und Prognosen gleichermaßen das Mitbestimmungsurteil mit seinem gestaffelten Kontrolldichtesystem. Vor allem drei Gesichtspunkte erklärte das BVerfG 608

L. Lusky I M Bote in, in: T. Koopmans (Hrsg.), Equality ( 1975), S. II , 30.

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

229

dort für erheblich: Neben der "Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs"609 und "den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden" sei dies "die Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter", zu denen das Gericht jedenfalls das "Leben" und die "Freiheit der Person" zählt. 610 Von der Literatur ergänzt wird dieser Kanon durch einen Strauß weiterer die Prüfungsdichte regulierende Kriterien. So soll es auf die Existenz und Art der materiellrechtlichen Normierung des betroffenen Sachgebiets61 \ auf die Intensität des gesetzgeberischen Eingriffs612 und die Möglichkeit späterer Korrektur613 sowie auf die besondere gesetzgeberische Entscheidungssituation und -struktur614 ankommen. Dabei fällt auf, daß damit - von der gerichtlichen Unflihigkeit, sich ein eigenes Urteil zu bilden, einmal abgesehen - ausschließlich inhaltliche, also materiell-rechtliche Kriterien angesprochen sind.615 Wie sonst sollen Aussagen wie die, "daß das BVerfG in besonders gewichtigen Fällen besonders intensiv" prüft616, die Hinweise auf eine bundesverfassungsgerichtlich economical-611 bzw. pedagogical question-doctrine618 oder die Erklärung, "nicht das Bundesverfassungsgericht (sei) deutlich greifend oder zurückhaltend, sondern die Verfassung"619, und "allein nach der Kontrollnorm bestimme sich ... die Intensität 609

Ebenso BVerfGE 57, 139, 159.

BVerfGE 50, 290, 332 f.; 73, 40, 92. Zusammenfassend C. Gusy, Gesetzgeber, S. 176 f. Angesichts des Umstandes, daß die Kriterien "schwerlich auf eine Linie zu bringen" seien, "resignierend" K. Stern, StaatsR, Bd. III/2, S. 1353 (§ 91 V 3a). 610

611

H. Jarass I B. Pieroth, GG, Rdz. 4 zu Art. 93; G. F. Schuppert, DVBI. 1988,

s. 1191, 1194.

612 E. Benda I E. Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rdz. 216 (§ 13 I 3). Betont auch von P. Lerche, in: K. Vogel (Hrsg. ), Grundrechtsverständnis ( 1979), S. 24, 40 ff. 6 13

E. Benda I E. Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rdz. 216 (§ 13 I 3 ).

G. F. Schuppert, DVBI. 1988, S. 1191, 1194. Vgl. aber auch ders., Funktionellrechtliche Grenzen, S. 56 f. 614

615 In der Analyse der Rechtsprechung des BVerfG insoweit zutreffend K. Schlaich, BVerfG, Rdz. 502; W Heun, Funktionell-rechtliche Grenzen, S. 37; C. Rau, Grenzen, S.232 f. Vgl. auch R. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 496 f.; M. Raabe, in: C. Grabenwarter u.a. (Hrsg.), Assistententagung ÖR (1994), S. 83, 85 (FN 8), 87 f. sowie U. Seetzen, NJW 1975, S. 429, 431 ff. Unentschieden K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 188 ff. 61 6

K. Schlaich, BVerfG, Rdz. 500.

617

H. Spanner, DÖV 1972, S. 217, 220.

618

F. Hufen, JA 1978, S. 39, 42.

6 19

C. Gusy, Gesetzgeber, S. 179. Ebenso K. Sqhlaich, BVerfG, Rdz. 491 et passim;

M. Brenner, AöR 120 (1995), S. 248, 255 ff. Ahnlieh C. Starck, in: J. Isensee I P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. StaatsR, Bd. VII (1992), S. 216 f. (§ 164, Rdz. 42); ders.,

230

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

der gerichtlichen Kontrolle" 620, sonst verstanden werden? Wie anders als im Sinne einer materiell-rechtlichen Begründung könnte die Feststellung, daß "die Frage nach der Kontrollintensität nicht von der Art der Kompetenz oder davon abhängt, gegen welche der klassischen Staatsgewalten der Kontrollakt gerichtet ist"621 gedeutet werden? Und welchen Sinn machte schließlich die vom BVerfG betonte Anhindung der ftir die Tatsachenfeststellung maßgeblichen Modi an die jeweiligen Kontrollmaßstäbe622, wo diese doch ihrerseits vornehmlich von eben materiell-rechtlichen Gesichtspunkten bestimmt sind? All das bietet wenig Anlaß, an der Gültigkeit des auf die bundesverfassungsgerichtliche Praxis gemünzten Satzes zu zweifeln, daß um so "höhere Anforderungen ... an die Rechtfertigung des Eingriffs zu stellen" seien, ,je gewichtiger das betroffene Grundrecht und je höher die Intensität des Eingriffs ist."623 Eine auch nur ansatzweise funktionell-rechtliche Deutung der vom BVerfG praktizierten "lnhaltskontrolle" als gerichtliches Mittel der "Identifizierung der (Grundrechts-)Bereiche, die dem gesetzgeberischen Experimentieren verschlossen sein sollen"624 (und dementsprechend der "Evidenzkontrolle" als dem Gesetzgeber zur freien Gestaltung überlassenes Terrain), hat deshalb vor der ganz h.M. 625 auch keine Anerkennung gefunden. Die MitbestimmungsEntscheidung mit ihrem ausgeklügelten Kontrollinstrumentarium einen "Kronzeugen ftir funktionell-rechtliches Denken" zu nennen626, ist daher- so verlokkend dies zunächst erscheinen mag - nicht wirklich überzeugend: Funktionellrechtlich beachtliche Auswirkungen können schließlich auch solche EntscheiVVDStRL 34 (1976), S. 43, 75; ders. (Diskussionsbeitrag), in: ebd., S. 139 mit dem (allerdings nur im Hinblick auf die Folgen zutreffenden: B.-0. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 328 f., FN 187) Hinweis auf eine preferredfreedoms-Doktrin auch in der Praxis des BVerfG (insoweit ebenso M. Kriele, Staatslehre, S. 210 ff.). Vgl. auch P. Badura, in: P. Oberndorfer I H. Schamheck (Hrsg.), FS f. L. Fröhler (1980), S. 321 , 328 ff. 620 D. Lorenz, in: C. Starck I K. Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Bd. III (1983), S. 193,206 f. Vgl. auch BVerfGE 62, I, 51; 66, 39,60 f.; 68, I, 80. 621 K. Korinek, VVDStRL 39 (1982), S. 7, 27. Dagegen aber F. Ossenbühl, in: C. Starck (Hrsg.), BVerfG und GG, Bd. I (1976), S. 458,470,472 et passim.

622

Dazu BVerfGE 88, 87, 97.

623

W Heun, Funktionell-rechtliche Schranken, S. 38.

624

So E. Benda I E. Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rdz. 216 (§ 13 I 3).

625

Für sie K. Schlaich, BVerfG, Rdz. 496, FN 94.

626 So K. Schlaich, BVerfG, Rdz. 496 (freilich ohne Sympathie für die funktionellrechtliche Idee: Rdz. 501). Dgl. W Heun, Funktionell-rechtliche Grenzen, S. 36. Für eine funktionell-rechtliche Deutung H.-P. Schneider, NJW 1980, S. 2103, 2104 f. ; K. Hesse, in: P. Badura u.a. (Hrsg.), FS f. H. Huber (1981), S. 261, 267 f.; F Ossenbühl, in: C. Starck (Hrsg.), BVerfG und GG, Bd. I (1976), S. 458, 469 f., 472 ff. Differenzierend C. Rau, Grenzen, S. 232 f.

C. Gerichtliche Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen

231

dungen haben, die originär funktionell-rechtlichem Denken weit entfernt stehen. Badura trifft daher den Nagel auf den Kopf des BVerfG, wenn er schreibt, daß "die dem Gesetzgeber ... abgeforderte Einschätzung bei Prognosen", obwohl "mit Formeln der Reichweite richterlicher Überprüfung des Gesetzes ausgedrückt ... im Kern eine Frage des einschlägigen materiellen Verfassungsrechts" ist. 627 Vor dieser Bestandsaufnahme verbietet sich jede kategorische Gleichsetzung628 von amerikanischerund deutscher Feststellungspraxis. Die materiell-rechtliche Sicht der bundesverfassungsgerichtliehen Judikatur in Sachen Tatsachenfeststellung muß angesichts des das Nachdenken über sie überhaupt erst auslösenden funktionell-rechtlichen Problemimpulses629 erstaunen. Ein Blick auf den schon vertrauten Dichganssehen Reformvorschlag, der die deutsche Diskussion überhaupt erst in Gang gebracht hat, ist hier wiederum lehrreich. Denn seine Idee von der Bindung des BVerfG an die Feststellungen des Gesetzgebers verfolgte doch in erster Linie das Ziel, diesem seine Gestaltungsfreiheit so weit als möglich zu erhalten und auf diese Weise das institutionelle Gleichgewicht zwischen den beiden Gewalten zu bewahren. Mit der Nennung der beiden Hauptakteure - Gericht und Gesetzgeber - sowie der für sie maßgeblichen "Arbeitsbedingungen" bei der Tatsachenfeststellung wäre also eigentlich der Boden dafür bereitet gewesen, auch in puncto Prüfungsdichte eine "Kompetenz"-Diskussion zu führen, wie sie im Hinblick auf die Aufgabenverteilung etwa zwischen BVerfG und Fachgerichten durchaus typisch ist. Daß diese Debatte im Verhältnis BVerfG - Gesetzgeber statt dessen nur als Resultante von Erörterungen der materiellen Rechtslage wahrnehmbar ist, ist demnach mehr als überraschend. Mit all dem soll gar nicht geleugnet werden, daß die Mitbestimmungs-Entscheidung den Keim der Einbeziehung funktionell-rechtlicher Gesichtspunkte in die Lösung einer Verfassungsfrage durchaus in sich trägt. Die gerichtlicherseits ausgebreiteten Prüfungsverfahren scheinen nachgerade darauf hinauszulaufen, die jeweils betroffenen Grundrechte auf ihre funktionell-rechtliche Relevanz hin zu untersuchen und zu kategorisieren. 630 Dafür spricht nicht zuletzt die zur Ausbildung der drei Stufen führende, eigentlich kompetenz-rechtliche Ausgangsfrage nach der Zuständigkeit zur letztverbindlichen Feststellung von Tatsachen bzw. Aufstellung von Prognosen. Mit der Zuordnung der verschie627 P. Badura, in: J. Isensee I P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. StaatsR, Bd. VII ( 1992), S. 181 (§ 163, Rdz. 27).

628

Etwa bei P. M. Huber, Konkurrenzschutz, S. 531.

629

Dazu C. Gusy, Gesetzgeber, S. 167 f. mwN.

Vgl. G. F. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen, S. 40: "Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Fakten oder der Einschätzung zukünftiger Entwicklungen." 630

232

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

denen Prüfungsverfahren zu rein materiell unterschiedlich zu bewertenden Interessen ist dieser Zusammenhang freilich nahezu vollständig verloren gegangen. Damit im Zusammenhang zu sehen ist der Umstand, daß die MitbestimmungsEntscheidung zwar ein enormes akademisches Echo ausgelöst, aber eine systematisch-qualitative Durchdringung und Fortentwicklung in der Rechtsprechung des BVerfG selbst nicht gefunden hat. Daß funktionell-rechtlichen Bedürfnissen vermittels der in ihr entwickelten Stufenleiter, dieser "Hilfskonstruktion zur Bestimmung der Maschenweite des Prüfungsnetzes"631 , durchaus wirksam Rechnung getragen werden könnte, steht auf einem anderen Blatt. V. Zusammenfassung

Die Untersuchung legislativer Tatsachen und das Anstellen von Prognosen ist eine von Supreme Court und BVerfG in ständiger Rechtsprechung vollzogene Realität. Dabei hat der Supreme Court infolge ihm angeborener prozessualer Hindernisse mit weit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen als das BVerfG: Den das Verfahren vor den Bundesgerichten beherrschenden Verhandlungsgrundsatz hat das Gericht freilich ebensowenig als Hindernis angesehen wie seine auf die Überprüfung von Rechtsfragen beschränkte Stellung als Revisionsgericht Nicht anders ist es im Hinblick auf die Kompetenz zur Tatsachenfeststellung dem auch auf das BVerfG erstreckten Einwand ergangen, der Gesetzgeber und nicht ein Gericht sei das primär zuständige Gestaltungsorgan. Aber auch die Überlegung, BVerfG bzw. Supreme Court seien institutionell nicht dazu in der Lage, eigene Tatsachenfeststellungen zu treffen bzw. Prognosen anzustellen, haben beide Gerichte souverän beiseite geschoben. Was die amerikanische Rechtslage angeht, treffen sich die Ansichten von Kritikern und Gericht jedoch weitgehend in den dem nachgiebigen Prüfungsstandard unterworfenen Fällen. Faktisch verzichtet der Supreme Court bei den an diesem Test gemessenen Gesetzen darauf, die Richtigkeit der vom Gesetzgeber zugrunde gelegten Annahmen zu überprüfen. Statt dessen begnügt er sich mit einer großzügigen, ex ante-perspektivischen, noch dazu subjektivierten Rationalitätskontrolle, die dem Gesetzgeber einen nahezu ungeschmälerten Gestaltungsspielraum läßt. Sofern seine Einschätzung sich auf irgendwie nachvollziehbare Tatsachen gründet, ist diesem Prüfungsmaßstab genügt. Diese ausgesprochene Großzügigkeit findet in der Bereitschaft des Supreme Court, ein Gesetz stützende Tatsachen im Falle ihres FehJens zu fingieren, weitere Verstärkung. Immer stehen die Gerichte bereit, "to assume any reasonably conceiv631

G. F. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen, S. 40.

D. "Administrative convenience" und "Ökomomie der Verwaltung"

233

able state of facts that relates the regulation to any reasonably conceivable pennissible objective." 632 Sofern also nur in etwa plausible Umstände vorstellbar sind, die dem umstrittenen Gesetz zu verfassungsrechtlicher Wirksamkeit verhelfen - egal, ob sie dem Handeln des Gesetzgebers aktuell zugrunde gelegen haben oder nicht -, erteilt das Gericht sein Placet und stellt jede weitere Untersuchung ein. Unter dem strengen Prüfungsmaßstab dagegen bleibt von einer solchen Entscheidungsprärogative angesichts umfassender gerichtsseitiger Tatsachenfeststellungen und Folgeneinschätzungen kaum etwas übrig. Hier maßt sich der Supreme Court an, klüger zu sein als der Gesetzgeber. Er scheut dementsprechend auch nicht davor zurück, sein Urteil an die Stelle desjenigen des Gesetzgebers zu setzen: Nur dann kann der Gesetzgeber seine Regelung hoffen aufrechtzuerhalten, wenn die von ihm festgestellten legislative facts und die von ihm abgegebenen Folgeneinschätzungen sich mit den entsprechenden Erkenntnissen des Supreme Court decken - eine nach aller Erfahrung nur selten erfüllte Voraussetzung. "Richtigkeit", nicht "Nachvollziehbarkeit" der gesetzgeberischen Annahmen ist hier die Devise. Von entscheidender Bedeutung ist, daß als Begründung für die amerikanische Praxis funktionell-rechtliche Argumente ins Feld geführt werden, d.h. die konkrete Ausübung der Tatsachenfeststellung durch den Supreme Court wird als Funktion seiner spezifischen Rolle im amerikanischen system ofgovernment angesehen. Das steht in auffälligem Gegensatz zur Praxis des BVerfG mit seiner vor allem auf materiell-rechtliche Überlegungen gestützten Argumentation. Die in der Mitbestimmungs-Entscheidung anzutreffenden funktionell-rechtlichen Ansätze haben eine konsequente Fortschreibung in der Judikatur bisher nicht erfahren.

D. "Administrative convenience" und "Ökomomie der Verwaltung" Gelegentlich taucht der Begriff administrative- oder, seltener, legislative convenience in der Rechtsprechung des Supreme Court auf. Von der ein Gesetz verteidigenden Partei ins Gespräch gebracht, soll er dem Gericht als Hebel dazu dienen, ein hinsichtlich seiner Verfassungsmäßigkeit umstrittenes Gesetz mit der Begründung aufrechtzuerhalten, seine als verfassungswidrig angegriffenen Teile hätten ausschließlich oder zumindest vorrangig aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung gerade diesen Inhalt. Der Supreme Court soll auf diese Weise dazu bewegt werden, verfahrensmäßige Praktikabilitätserwägungen als Rechtfertigungsgrund für ein verfassungsrechtlich zweifelhaftes Gesetz 632

P. Brest, 1971 Sup.Ct.Rev. 95, 106.

234

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

anzuerkennen und damit Gesichtspunkten materieller Gerechtigkeit überzuordnen. Wie sogleich zu sehen sein wird, ist der Supreme Court in bestimmten Grenzen bereit, eine solche Argumentation anzuerkennen. Im Ergebnis bedeutet diese Rechtsprechung das Zugeständnis eines gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums mit Rücksicht auf verwaltungspraktische Fragen selbst für den Fall einer ansonsten möglicherweise ungerechtfertigten Einschränkung von Grundrechten. 633 Trotz gelegentlich anders anmutender Äußerungen des Gerichts634 hat diese Formel jedoch effektive Ausnahmen, die nicht übersehen werden dürfen. Den Grundsatz allerdings, um mit ihm zu beginnen, verdeutlicht anschaulich "Carmichael v. Southem Coal Co." Dort hatte der Staat Alabama ein Gesetz zur Unterstützung von Arbeitslosen verabschiedet, das u.a. nur Arbeitgeber mit mehr als sieben Beschäftigten verpflichtete, Beiträge an die Arbeitslosenkasse zu leisten. Gegen diese Bestimmung hatte einer der Verpflichteten u.a. mit der Begründung geklagt, die Grenze der Beschäftigtenzahl gerade bei sieben zu ziehen, sei unter Gleichheits-Gesichtspunkten willkürlich; es fehle an einem nachvollziehbaren Verhältnis zwischen Mittel und Zweck. Obwohl das Gericht weder ein Wort an den bereits erwähnten one step at a time-approach verschwendete635, noch Überlegungen zu einer sachlichen, d.h. unmittelbar auf die Betroffenen bezogenen Rechtfertigung anstellte, kam es zu dem Ergebnis, daß gegen die umstrittene Grenzziehung von Verfassung wegen nichts einzuwenden sei. "Administrative convenience and expense in the collection or measurement of the tax", führte der Supreme Court aus, "are alone a sufficient justification for the difference between the treatment of small incomes or small taxpayers and that meted out to others. We cannot say that the expense and inconvenience of collecting the tax from small employers would not be disproportionate to the revenue obtained ... It would hardly be contended that the state, in order to tax payrolls, is bound to assume the administrative cost and burden of taxing all employers having a single employee. But if for that or any other reason it may exempt some, whether it should draw the line at one, three, or seven, is peculiarly a question for legislative decision." 636 Materielle Ungleichbehandlung, so kann man die Lehre aus diesem Fall zusammen-

633

Vgl. J Tussman I J ten Broek, 37 Cai.L.Rev. 341, 349, 351 (1949).

634

Vgl. etwa Mathews v. Lucas, 427 U.S. 495, 509 ff. (1976).

635

Vgl. aber Califano v. Goldfarb, 430 U.S. 199, 235 (1977) (Rehnquist, diss.).

Carrnichael v. Southern Coal Co., 301 U.S. 495, 511 (1937). Vgl. auch Packer Corporation v. Utah, 285 U.S. 105, 109 f. mit FN 6 (1932); South Carolina State Highway Department v. Barnwell Brothers, Inc., 303 U.S. 177, 192 f. (1938); U.S. v. Carolene Products Co., 304 U.S. 144, 154 (1938). 636

D. "Administrative convenience" und "Ökomomie der Verwaltung"

235

fassen, ist also jedenfalls dann kein Verwerfungsgrund, wenn diese Lösung für die Verwaltung mit einem vergleichsweise geringeren praktischen Aufwand verbunden ist. Mit derselben Begründung hat das Gericht auch dem Gesetzgeber unmittelbar unter die Arme gegriffen, indem es legislative convenience als ein zur Rechtfertigung eigentlich "ungerechter" Gesetzgebung gültiges "secondary objective" anzuerkennen bereit war. 637 Sich auf administrative convenience zu berufen, ist indes keine durchgängig wirksame Argumentationsstrategie. Ausdrücklich ausgeschlossen hat das Gericht eine solche Verteidigung etwa in allen dem l. Amendment unterliegenden Fällen.638 Davon sind in diesem Bereich aber vielfach ohnehin nur Sachverhalte betroffen, die vom Supreme Court schon nach der overbreadth-Doktrin nicht als verfassungsgemäß anerkannt werden. Insoweit sind diese beiden Argumentationsfiguren also deckungsgleich. Für andere Fälle dagegen hätte die administrative convenience-Doktrin theoretisch eigenständige Bedeutung - nur findet sich das Gericht in ihnen eben nicht zu ihrer Anwendung bereit. Anschauungsmaterial hierfür liefert der bereits zum less restrictive meansTest erwähnte Fall "Shelton v. Tucker", wo es um die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes des Staates Arkansas ging, demzufolge jeder an einer staatlich subventionierten Schule beschäftigte Lehrer jährlich eine Auflistung der von ihm unterstUtzten Vereinigungen bei der Schulbehörde abzuliefern hatte. Das Gericht erklärte das Gesetz wegen des Vorhandenseins weniger einschneidender, wenn auch verwaltungstechnisch aufwendiger Mittel zur Feststellung der staatsbürgerlichen Loyalität der Lehrer für verfassungswidrig, bemerkte aber zugleich, daß dem Gesetzgeber außerhalb des 1. Amendment ein großzügigerer Gestaltungsspielraum zur Verfügung stehe: "In other areas, involving different constitutional issues, more administrative leeway has been thought allowable in the interest of increased efficiency in accomplishing a clearly constitutional central purpose."639 Im Hinblick auf die durch das 1. Amendment geschützten Rechtspositionen dagegen bleibe es bei einer von solchen Überlegungen unbeeinflußten Sachprüfung. Berührt der Gesetzgeber den Schutzbereich des 1. Amendment, muß er freilich schon nach allgemeinen Grundsätzen damit rechnen, daß der Supreme Court seine Regelung strenger Prüfung unterzieht und daher ein besonderes Augenmerk auf deren Angemessenheit lenkt. Insoweit ist es nicht verwunderlich, daß administrative convenience - anders als unter dem rational basis-Test-

637

Vance v. Bradley, 440 U.S. 93, 109 (1979).

638

Nachw. bei J. Ely, Democracy and Distrust, S. 105 f.

639

Shelton v. Tucker, 364 U.S. 479, 488, FN 8 (1960).

236

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

eine inakzeptable Begründung flir die getroffene Einschränkung des Grundrechtes darstellt. 640 Prinzipiell nichts anderes gilt indes auch für den mittleren Prüfungsmaßstab. Der Hinweis auf eine vereinfachte Verwaltungsmöglichkeit vermag also in allen Fällen einer qualitativ gesteigerten Prüfung nicht zu verfangen. "Wengler v. Druggists Mutual lnsurance Co." etwa betraf den Fall eines Rentengesetzes, nach dem Männer bei berufsbedingtem Tod ihrer Ehefrauen einen Anspruch auf Hinterbliebenen-Versorgung erst im Anschluß an einen dokumentierten Nachweis ihrer Bedürftigkeit haben sollten, während filr den umgekehrten Fall, den Tod des Ehemannes also, ein solcher Nachweis nicht verlangt wurde. Dagegen hatte ein ansonsten anspruchsberechtigter Witwer, der freilich zugegeben hatte, nicht bedürftig zu sein, mit der Begründung geklagt, die Regelung verletze den Gleichheitssatz. Nachdem der Supreme Court festgestellt hatte, daß in Fällen einer Differenzierung nach dem Geschlecht ein mittlerer Prüfungsmaßstab zur Anwendung komme641 , erklärte er das Gesetz wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz für verfassungswidrig. Die Vermutung, Frauen seien stets bedürftig, Männer dagegen für gewöhnlich nicht, entbinde den Gesetzgeber selbst dann nicht von der Notwendigkeit der Verabschiedung einer Regelung, die dem Einzelfall gerecht werde, wenn filr die Richtigkeit der Vermutung gute tatsächliche Gründe sprächen. Schiere Verwaltungsvereinfachung, betonte das Gericht, sei kein Grund für eine Ungleichbehandlung der Geschlechter: "It may be that there is empirical support for the proposition that men are more Iikely to be the principal supporters of their spouses and families, but the bare assertion of this argument falls far short of justifying gender-based discrimination on the grounds of administrative convenience ... lt may be that there are Ievels of administrative convenience that will justify discriminations that are subject to high640 Vgl. allgemein zu dieser Argumentationsfigur, wenn der strenge Prüfungsmaßstab zur Anwendung kommt Frontiero v. Richardson, 411 U.S. 677, 690 (1973) (Brennan, conc.): "Our prior decisions make clear that, although efficacious administration of govemmental programs is not without some importance, the Constitution recognizes higher values than speed and efficiency. And when we enter the realm of 'strict judicial scrutiny', there can be no doubt that 'administrative convenience' is not a shibboleth, the mere recitation of which dictates constitutionality. On the contrary, any statutory scheme which draws a sharp line between the sexes so/ely for the purpose of achieving administrative convenience, necessarily commands 'dissimilar treatment for men and women who are ... similarly situated', and therefore involves the 'very kind of arbitrary legislative choice forbidden by the Constitution. "' Ebenso Stanley v. Illinois, 405 U.S. 645,656 (1972). Vgl. auch Shapiro v. Thompson, 394 U.S. 618,633 ff. (1969); Rinaldi v. Yeager, 384 U.S. 305,309 (1966). 641 Wengier v. Mutual Druggists Insurance Co., 446 U.S. 142, 150 (1980) sowie hierzu L. Tribe, Constitutional Law, S. 1568, FN 24 (§ 16-27).

D. "Administrative convenience·' und "Ökomomie der Verwaltung"

237

tened scrutiny under the Equal Protection Clause, but the requisite showing has not been made here by the mere claim that it would be inconvenient to individualize determinations about widows as weil as widowers." 642 In späteren Entscheidungen hat das Gericht die administrative convenienceDoktrin als Rechtfertigungsgrund auch in anderen dem mittleren Prüfungsmaßstab unterliegenden Fällen, etwa bei einer Differenzierung zwischen In- und Ausländern, verworfen. Ebenso wie in "Druggists Mutual" ging dabei die Begründung stets dahin, daß bloße Verwaltungsvereinfachung als solche niemals einen ausreichenden Grund ftir eine wegen der daraus resultierenden Vergröberung sachlich-materielle Ungleichbehandlung liefern könne. 643 Ungeachtet der unterschiedlichen Zusammenhänge, in denen der administrative convenience-Topos in der Rechtsprechung auftaucht644, erweist er sich doch durchgehend als ein Mittel, um einen auch im Verfahrensmäßigen effektiven Gestaltungsspielraum zu begründen. Die in seinem Zusammenhang auftauchenden Überlegungen erinnern freilich stark an Erklärungsmuster, die bereits vom rational basis-Test bekannt sind, etwa in den Fällen, in denen das Gericht verlauten ließ, es sei "not concerned with the wisdom of this legislation or the need for it."645 Nur mußten bisher wisdom und need so verstanden werden, als beträfen sie ausschließlich die materiell-sachliche Seite einer gesetzlichen Regelung. Indes beweist die administrative convenience-Doktrin, daß der Supreme Court unter dem losesten Prüfungsstandard auch rein praktisch-verfahrensmäßige Bemühungen des Gesetzgebers anzuerkennen bereit ist. Wie die genannten Beispiele zeigen, kommt dieser Gesichtspunkt unter dem mittleren oder strengen Test indes nicht zum Tragen. Die innere Begründung ftir ein solches Stufenverhältnis ist leicht einsehbar: "As the Court's assessment of the weight and value of the individual interest escalates, the less likely it is that mere administrative convenience ... will be sufficient to justify what otherwise would appear to be irrational discriminations. " 646 Aufs Ganze gesehen erweist 642 Ebd., S. 151 f. - Für die Frage, ob von nun an die Vermutung der Bedürftigkeit für Männer und Frauen gleichermaßen gelten solle oder beide den Nachweis der Bedürftigkeit zu erbringen hätten, verwies das Gericht den Fall an das oberste Gericht des Staates Missouri zurück. Dazu G. Gunther, Constitutional Law, S. 756, FN I. 643 Exemplarisch Hampton v. Mow Sun Wong, 426 U.S. 88, 115 f. (1976). Dazu N. Komesar, 51 U.Chi.L.Rev. 366, 384 ff. Weiterhin Frontiero v. Richardson, 411 U.S. 677, 689 f. (1973) (Brennan); Reed v. Reed, 404 U.S. 71, 76 (1971); Califano v. Goldfarb, 430 U.S. 199,219 f. (1977) (Stevens, conc.). 644 Vgl. neben den bereits genannten Fällen noch Note, 82 Harv.L.Rev. 1065, 1085 (1969); J Tussman/ J ten Broek, 37 Cai.L.Rev. 341,350 (1949). 645

Queenside Hills Realty Co., lnc. v. Saxl, 328 U.S. 80, 82 (1946).

Vlandis v. Kline, 412 U.S. 441, 458 f. (1973) (White, conc.). Ebenso Hampton v. Mow Sun Wong, 426 U.S. 88, 115 f. (1976). 646

238

Dritter Teil: Mittel und Modi verfassungsgerichtlicher Kontrolle

sich die administrative convenience-Doktrin somit als eine moderate Ausweitung der unter mere rationality ohnehin bestehenden Großzügigkeit - wenn sie nicht überhaupt ganz unter die allgemeinen Charakteristika dieses Kontrollmaßstabes einzuordnen ist. 647 Ihre Nicht-Anwendung in den strict scrutiny unterworfenen Fällen wiederum paßt gut in das diesem Prüfungsmaßstab eigene Bild einer denkbar engen, nur von unmittelbar sachbezogenen Kriterien bestimmten Mittel-Zweck-Beziehung. Anders als dem amerikanischen Recht ist der deutschen Verfassungsdoktrin ein "Primat der Verwaltungs-Ökonomie" als verfassungsrechtlicher Rechtfertigungsgrund fremd. Das schließt freilich nicht aus, daß in einzelnen Entscheidungen nicht dennoch ein hiermit vergleichbares Begründungsmuster nachweisbar wäre. Auf der Suche danach liegt es nahe, eine Parallelle gerade im Bereich der Regelungen zu vermuten, die auch in Deutschland gemeinhin einer großzügigen Prüfung unterzogen werden. In Betracht kommt insoweit vor allem der allgemeine Gleichheitssatz. In der Tat hat das BVerfG hier schon sehr früh, in einer Entscheidung zur Ehegattenbesteuerung, betont, daß "verwaltungstechnische Erwägungen ... z.B. die leichtere Erfaßbarkeit der ehelichen Gemeinschaft im Vergleich zu anderen Haushaltsgemeinschaften und die Verhinderung einer steuerlichen Manipulation unter Ehegatten" dann nicht "ohne Bedeutung sein müßten, wenn ein Steuergesetz ausschließlich am Maßstab des Art. 3 Abs. I GG, also auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der allgemeinen Steuergerechtigkeit, zu prüfen" sei.648 Freilich handelte es sich bei dieser Äußerung um ein klassisches obiter dictum, da das Gericht die umstrittene Regelung - den damaligen § 26 EStG bereits wegen Unvereinbarkeit mit Art. 6 Abs. l GG, fiir den die entsprechenden Aussagen gerade "nicht maßgeblich sein" sollten649 , fiir nichtig erklärt hatte. In einer späteren Entscheidung zur sozialversicherungsrechtlichen Gleichstellung verheirateter und unverheirateter Paare hat das BVerfG eine solche Überlegung freilich auch als tragenden Grund anerkannt. Dabei fiihrte das Gericht aus, daß "die Berechtigung typisierender Regeln bei der Bedürftigkeitsprüfung ... aus praktischen Erfordernissen der Verwaltung" folge, "die einerseits in jedem Einzelfall das Bestehen der Anspruchsvoraussetzung festzustellen, andererseits gerade in der Arbeitslosenhilfe unter Umständen zahlreiche Fälle in kurzer Zeit zu bewältigen (habe). In einem solchen Rechts- und 647 Vgl. auch L. Tribe, Constitutional Law, S. 1602 f. (§ 16-32); W. Knapp, JöR 23 (1974), s. 421,434 f. 648

BVerfDE 6, 55, 83 f.

649

Ebd., S. 83.- Vgl. (zu Art. 131 GG) auch BVerfGE 7, 305, 318.

D. "Administrative convenience" und "Ökomomie der Verwaltung"

239

Verwaltungsgebiet (sei) es sachdienlich, der Verwaltung die Möglichkeit zu einer in gewissen Grenzen vereinfachten Bearbeitung zu geben und ihr durch leicht zu handhabende Vorschriften umfangreiche und zeitraubende Prüfungen von Einzelf