Spielräume, Prärogativen und Kontrolldichte in der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle: Zum Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber [1 ed.] 9783428586561, 9783428186563

Das Bundesverfassungsgericht betont in Verfahren direkter oder inzidenter Normenkontrollen stets, dass dem Gesetzgeber b

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German Pages 360 [361] Year 2022

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Spielräume, Prärogativen und Kontrolldichte in der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle: Zum Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber [1 ed.]
 9783428586561, 9783428186563

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1484

Spielräume, Prärogativen und Kontrolldichte in der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle Zum Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber

Von

Matthias Möller

Duncker & Humblot · Berlin

MATTHIAS MÖLLER

Spielräume, Prärogativen und Kontrolldichte in der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1484

Spielräume, Prärogativen und Kontrolldichte in der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle Zum Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber

Von

Matthias Möller

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hat diese Arbeit im Jahr 2021 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D6 Alle Rechte vorbehalten

© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI Books GmbH, Leck Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-18656-3 (Print) ISBN 978-3-428-58656-1 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinem Vater

Vorwort Diese Arbeit wurde im Wintersemester 2020/2021 fertiggestellt und im Wintersemester 2021/2022 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster als Dissertation angenommen. Die mündliche Prüfung fand im November 2021 statt. Rechtsprechung und Literatur sind auf dem Stand von Ende 2020, darüber hinausgehende Veröffentlichungen konnten nur noch vereinzelt berücksich­ tigt werden, darunter insbesondere die bedeutenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz (März 2021) sowie zur Bundes­ notbremse im Rahmen der Corona-Pandemie (November 2021). Ich danke meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Fabian Wittreck, für die Unterstützung dieser Arbeit und die stets eingeräumte wissenschaftliche Frei­ heit. Herrn Prof. Dr. Oliver Lepsius danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Der Konrad-Adenauer-Stiftung möchte ich für die Gewäh­ rung eines Promotionsstipendiums danken. Schließlich danke ich meiner Familie, insbesondere meiner Mutter Heike Möller, die mich während der gesamten Studiums- und Promotionszeit stets liebevoll und vorbehaltlos unterstützt hat. Auch wenn er die meiste Zeit des Studiums sowie die Promotionszeit nicht miterleben durfte, war und ist mir mein Vater, Herr Dr. iur. Thomas Möller, nicht nur Vorbild, sondern auch steter Motivator. Ihm ist diese Arbeit in liebevoller Erinnerung und großer Dankbarkeit gewidmet. Oldenburg, im Februar 2022

Matthias Möller

Inhaltsübersicht Teil 1 Einleitung 

23

A. Problemaufriss  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Teil 2

Das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz 

32

A. Die Kontrollbefugnis des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 B. Grenzen der Kontrollbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Teil 3

Spannungsfelder bei der Einleitung der Normenkontrolle 

68

A. Art der Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 B. Umfang der Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Teil 4

Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang: Spielräume des Gesetzgebers 

78

A. Systematisierung der Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 B. Spielräume und Freiheiten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungs­ gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262

10 Inhaltsübersicht Teil 5

Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung: Spielräume des Bundesverfassungsgerichts  265

A. Vereinbarkeit mit der Verfassung: Verfassungskonforme Auslegung . . . . . . . . 267 B. Ausnahmen von der Nichtigkeitserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 C. Vorgaben an den Gesetzgeber: Appellentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Teil 6 Schlussbetrachtungen 

316

A. Das tatsächliche Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetz­ geber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 B. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 D. Unauflösbarkeit des Spanungsfeldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

Inhaltsverzeichnis Teil 1 Einleitung 

23

A. Problemaufriss  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Teil 2

Das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz 

32

A. Die Kontrollbefugnis des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 I. Demokratieprinzip und Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 II. Demokratischer Verfassungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1. Entscheidung für ein Verfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2. Formelles und materielles Prüfungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 III. Das Bundesverfassungsgericht als Verfassungsorgan in der Gewaltentei­ lung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 1. Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2. Die selbstbewusste Machtbehauptung als Verfassungsorgan . . . . . . . . 40 B. Grenzen der Kontrollbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Judicial Self-Restraint . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die richterliche Zurückhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Recht zur Zurückhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Political Question Doctrine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bundesverfassungsgerichts-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Materiell-rechtliche und funktionell-rechtliche Grenzen . . . . . . . . . . . . . . 1. Materiell-rechtliche Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auslegungskanon nach Savigny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Funktionell-rechtliche Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bundesverfassungsgericht und Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bundesverfassungsgericht als vierte Gewalt oder Legislativ­ organ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Einordnung als Judikativorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43 44 44 46 47 47 49 49 50 50 52 54 54 54 56

12 Inhaltsverzeichnis b) Bundesverfassungsgericht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gerichts-Typik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Systematisierung der verfassungsgerichtlichen Prüfung . . . . . . . . . . . . . . 1. Strukturierung des Überprüfungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kontextualisierung und Maßstabsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kritik am Maßstäbeteil des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . b) Notwendigkeit der Maßstabsbildung und Dogmatisierung . . . . . . . c) Richtig verstandene Kontextualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57 59 61 61 62 62 66 66

Teil 3

Spannungsfelder bei der Einleitung der Normenkontrolle 

68

A. Art der Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 B. Umfang der Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Prüfungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundrechts-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . 2. Kritik: Banalisierung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bewertung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71 71 71 71 73 75

Teil 4

Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang: Spielräume des Gesetzgebers 

78

A. Systematisierung der Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 I. Strukturelle und epistemische Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 II. Materiell-rechtliche und tatsächliche Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 B. Spielräume und Freiheiten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungs­ gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verantwortungsbewusstsein des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . II. Differenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Strukturelle und begriffliche Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Inhaltliche Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriffliches Vorverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Inhaltlicher Gehalt der Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Gestaltungsspielraum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Spielraum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Entscheidungsspielraum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Einschätzungsspielraum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Beurteilungs- und Prognosespielraum . . . . . . . . . . . . . . .

84 84 86 87 92 92 93 93 93 95 96 96 97

Inhaltsverzeichnis13 (6) Ausgestaltungsspielraum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 (7) Handlungsspielraum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 (8) Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum . . 98 (9) Spielraum politischen Ermessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 (10) Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum . . . . . . . . . . . . . 99 (11) Einschätzungs- und Prognosespielraum . . . . . . . . . . . . . . 99 (12) Regelungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 (13) Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum . . . . . . . . . . . 100 (14) Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum . . . . . . . . . . . . 100 (15) Beurteilungsspielraum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 (16) Prognosespielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 (17) Politischer Spielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 (18) Politischer Gestaltungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 (19) Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum . . . . . . . . . . . . 101 (20) Wertungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 (21) Bewertungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 (22) Einschätzungs- und Entscheidungsspielraum . . . . . . . . . . 102 (23) Einschätzungs- und Wertungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . 102 bb) Freiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 cc) Befugnisse  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 dd) Weitere Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 c) Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 aa) Keine differenzierende Verwendung von Begriffen . . . . . . . . . 104 bb) Maßstabsbildung als Ursache für die begriffliche Unschärfe . 105 3. Differenzierung nach Reichweite: Kontrolldichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur Ermittlung von Tatsa­ chen und Anstellung von Prognosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorfrage: Pflichten des Gesetzgebers hinsichtlich Tatsachen und Prognosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . aa) Erster Senat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zweiter Senat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Für Verfahrenspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Differenzierung nach Art der Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Begründungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Sachaufklärungspflicht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Abwägungspflicht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Transparenzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

112 112 112 115 115 117 119 119 120 120 120 121 122 122

14 Inhaltsverzeichnis bb) Verfassungsrechtliche Anknüpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 (1) Abgeleitet aus den Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 (2) Abgeleitet aus dem Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . . . . 124 (3) Abgeleitet aus dem Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . 126 c) Gegen Verfahrenspflichten: Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 aa) Ablehnung einer Begründungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 bb) Keine Pflichten an das Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 d) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2. Rechtliche Grundlage für das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . 133 a) Funktionell- und materiell-rechtliche Argumente . . . . . . . . . . . . . . 134 b) Korrelation mit fehlender gesetzgeberischer Tatsachenermitt­ lungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 3. Verfahrensmaßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 a) Ablehnende Haltung einer Obliegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 b) Obliegenheiten hinsichtlich des Tatsächlichen . . . . . . . . . . . . . . . . 137 c) Stellungnahme .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 II. Tatsachen in der Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Versuch einer Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2. Rechtliche Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 III. Prognosen in der Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 1. Gegenstand der Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 2. Bedeutung der Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 3. Prognose und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 IV. Systematisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 1. Das Mitbestimmungsurteil als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 a) Das Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 b) Die drei Stufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 aa) Evidenzkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 (1) Grundlagenvertrag, Güterkraftverkehr, Weinwirtschafts­ abgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 (2) Zwischenfazit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 bb) Vertretbarkeitskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 (1) Absicherungsgesetz, Mühlengesetz, Mühlenstrukturge­ setz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 (2) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 cc) Intensive Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 (1) Apotheken-Urteil, Kassenärzte, Arzneimittelgesetz . . . . . 156 (a) Die Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 (b) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 (2) Schwangerschaftsabbruch I, Lebenslange Freiheitsstrafe  158 (3) Der intensive Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

Inhaltsverzeichnis15 c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 aa) Erforderlichkeits-Evidenz und Zweck-Vertretbarkeit . . . . . . . . 160 bb) Sachverhalts-Dynamiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 cc) Neue Entwicklungen im Mitbestimmungsurteil . . . . . . . . . . . . 161 dd) Rezeption in der weiteren Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . 162 (1) Legitimer Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 (a) Rechtsprechung und Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . 163 (b) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 (2) Geeignetheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 (3) Erforderlichkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 (a) Rechtsprechungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 (b) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 (4) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . 170 2. Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 a) Die Möglichkeit der Bildung eines sicheren Urteils . . . . . . . . . . . . 171 b) Die Eigenart des Sachbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 aa) Außenpolitische und wirtschaftspolitische Fragen . . . . . . . . . . 172 bb) Staatsorganisationsrechtliche Fragen: Entscheidung in eige­ ner Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 (1) Die Sperrklausel-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 (a) Sperrklausel-Urteil Schleswig-Holstein . . . . . . . . . . . 175 (b) Fünf-Prozent-Sperrklausel EuWG . . . . . . . . . . . . . . . 177 (c) Drei-Prozent-Sperrklausel Europawahlgesetz . . . . . . 178 (2) Weitere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 180 (3) Bewertung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 cc) Irreversibilität der gesetzlichen Maßnahme . . . . . . . . . . . . . . . 183 dd) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 c) Die Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter . . . . . . 184 aa) Grundsätzliche Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 bb) Keine Vorrangstellung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . 185 cc) Rangordnung von Rechtsgütern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 dd) Irreversibilität als entscheidendes Kriterium . . . . . . . . . . . . . . 187 3. Zeitliches Moment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 a) Zeitpunkt der Prognosen- und Tatsachenkontrolle . . . . . . . . . . . . . 188 aa) Überprüfung ex ante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 bb) Überprüfung ex nunc . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 cc) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . 189 b) Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 aa) Nachbesserungspflicht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 (1) Voraussetzungen und Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 (2) Umfang und Geltendmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 bb) Beobachtungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

16 Inhaltsverzeichnis c) Eigener Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kritik an der Konturenlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Entscheidung für einen ex nunc Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

195 195 196 199

D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kontrolldichte und materiell-rechtliche Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfahren als verfassungsrechtliche Vorgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Obliegenheit im Hinblick auf materiell-rechtliche Spielräume . . . . b) Notwendigkeit einer differenzierenden Betrachtung . . . . . . . . . . . . 2. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bestimmung materiell-rechtlicher Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Vorfragen einer Systematisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Funktionell-rechtliche Unterscheidung von Handlungs- und Kontrollnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rangordnung von Rechtsgütern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verhältnis der Spielräume zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Systematisierung der Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Abwehrfunktion der Freiheitsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bestandsaufnahme der aktuellen Rechtsprechung . . . . . . . . . . (1) Abwehrrechte kollidieren mit bloß legitimen Zielen . . . (a) Bundesverfassungsgerichtsrechtsprechung . . . . . . . . (b) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Freiheitsrechte kollidieren mit verfassungsunmittel­ baren Rechtsgütern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Rechtsprechung des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Kollidierende Grundrechtspositionen . . . . . . . . (bb) Aufeinandertreffen mit einem Verfassungs­ prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Praktische Konkordanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Kritik am Optimierungsgedanken der prakti­ schen Konkordanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Praktische Konkordanz und Bundesverfas­ sungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Großer Spielraum bei der Herstellung prakti­ scher Konkordanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Freiheitsrechte kollidieren mit Schutzaufträgen . . . . . . . bb) Zusammenführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Abwehrfunktion der Freiheitsgrundrechte . . . . . . . . . . . . (2) Ausgleichsfindung durch den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . (3) Spielraum und legitimer Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

203 204 206 206 208 210 210 211 211 211 212 213 215 216 217 217 217 217 218 219 219 219 220 221 223 224 225 226 226 228 228 229 231

Inhaltsverzeichnis17 b) Schutzpflichten, Leistungsfunktionen und Einrichtungsgarantien  . 232 aa) Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 (1) Meinungsstand und Rechtsprechung des Bundesverfas­ sungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 (2) Spezifisch materiell-rechtlicher Spielraum . . . . . . . . . . . 233 (3) Ergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 bb) Leistungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 cc) Einrichtungsgarantien des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . 240 (1) Bestandsaufnahme der aktuellen Rechtsprechung . . . . . . 240 (2) Ergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 c) Gleichheitsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 aa) Ungleichbehandlung und Freiheitsgrundrechte . . . . . . . . . . . . 244 bb) Gewährende Staatstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 d) Verfassungsrechtliche Strukturprinzipien und andere Grund­ rechtsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 aa) Die rechtstaatliche Pflicht zu rationalen Gesetzen . . . . . . . . . . 246 (1) Systematische Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 (2) Verfassungsrechtliche Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 (a) Die rechtsstaatliche Pflicht zur Folgerichtigkeit und Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 (aa) Folgerichtigkeit und Gleichheitssatz . . . . . . . . . 248 (bb) Folgerichtigkeit und Freiheitsrechte . . . . . . . . . 249 (b) Bedeutung des Demokratieprinzips . . . . . . . . . . . . . . 251 (c) Bewertung: Bedeutung des Demokratieprinzips . . . . 253 bb) Art. 38 GG: Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 cc) Bedeutung des öffentlichen Diskurses für den Spielraum . . . . 257 III. Zusammenführung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 1. Bedeutung der materiell-rechtlichen Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 2. Systematisierung von Spielräumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Teil 5

Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung: Spielräume des Bundesverfassungsgerichts  265

A. Vereinbarkeit mit der Verfassung: Verfassungskonforme Auslegung . . . . . . . . 267 I. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 II. Grenzen der verfassungskonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 B. Ausnahmen von der Nichtigkeitserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 I. Unvereinbarerklärung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 1. Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274

18 Inhaltsverzeichnis 2. Anwendungsfälle der Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 3. Verfassungsrechtliche Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 a) Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 b) Gestaltungsfreiheit und Besonderheiten des Gleichheitssatzes . . . . 279 c) Rechtsfolgenargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 aa) Rechtsfolgenargument und Weitergeltung . . . . . . . . . . . . . . . . 281 bb) Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 II. Übergangsregelungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 1. Arten von Übergangsregelungen in der Rechtsprechung des Bundes­ verfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 2. § 35 BVerfGG als Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 3. Verstoß gegen Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 4. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 5. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 a) Unterscheidung zwischen echten Übergangsregelungen und modifizierten Fortgeltungsanordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 aa) Tenorierungen des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . 291 bb) Differenzierung in inhaltlicher Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 b) Systematik inhaltlicher Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 aa) Nichtigerklärung nicht möglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 bb) Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 III. Fristabläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 C. Vorgaben an den Gesetzgeber: Appellentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausdrückliche Appellentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Noch verfassungsgemäße Rechtslagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungswidrige Rechtslagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Präjudiz-Wirkung von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen . . . . . . 1. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bewertung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

302 302 304 306 307 308 309 312

D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Teil 6 Schlussbetrachtungen 

316

A. Das tatsächliche Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetz­ geber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 I. Direktwahl des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 II. Änderung des parteipolitischen Wahlverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 1. Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

Inhaltsverzeichnis19 2. Reformbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 B. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Aufgaben der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Aufgaben der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

325 327 328 331

C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 D. Unauflösbarkeit des Spanungsfeldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

Abkürzungsverzeichnis abw. abweichende Anl. Anlass AöR Archiv des öffentlichen Rechts Art. Artikel AtomG Atomgesetz Aufl. Auflage Bd.  Band BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGH Bundesgerichtshof BKA Bundeskriminalamt BverfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts BVerfGG Bundesverfassungsgerichtsgesetz BVerfGK Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BWahlG Bundeswahlgesetz bzw. beziehungsweise ca. circa CDU Christlich Demokratische Union Deutschlands d. des d. h. das heißt Diss. Dissertation DÖV Die öffentliche Verwaltung DStR Deutsches Steuerrecht DVBl Deutsches Verwaltungsblatt ebd. ebenda Ed. Edition et al. et alii = und andere EuGH Europäischer Gerichtshof f. folgende FDP Freie Demokratische Partei Festg. Festgabe ff. fortfolgende Fn. Fußnote

Abkürzungsverzeichnis21 gem. gemäß GG Grundgesetz GOBT Geschäftsordnung Deutscher Bundestag Hrsg. Herausgeber Hs. Halbsatz HStR Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland i. V. m. in Verbindung mit IHK Industrie- und Handelskammer IHKG Gesetz zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern i. S. e. im Sinne eines/r JuS Juristische Schulung JZ Juristenzeitung KiFöG-LSA Gesetz zur Förderung und Betreuung von Kindern in Tagesein­ richtungen und in Tagespflege des Landes Sachsen-Anhalt KJ Kritische Justiz KPD Kommunistische Partei Deutschlands KritV Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswis­ senschaft m. a. W. mit anderen Worten NJOZ Neue Juristische Online-Zeitschrift NJW Neue Juristische Wochenschrift NPD Nationaldemokratische Partei Deutschlands NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NZA Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht o. Ä. oder ähnliches o. g. oben genannt(en) PsychKG Psychisch-Kranken-Gesetz RdA Recht der Arbeit Rn. Randnummer RuP Recht und Politik S. Seite SGB Sozialgesetzbuch sog. sogenannte StGB Strafgesetzbuch stRspr ständige Rechtsprechung TKG Telekommunikationsgesetz TVG Tarifvertragsgesetz u. und

22 Abkürzungsverzeichnis u. a. unter anderen/m u. v. m. und viele mehr US United States VerwArch Verwaltungsarchiv vgl. vergleiche Vorb. Vorbemerkungen vs. versus VVDStRl Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechts­ lehrer VwVfG Verwaltungsverfahrensgesetz WRV Weimarer Verfassung Yale L.J. Yale Law Journal z. B. zum Beispiel ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht ZfRSoz Zeitschrift für Rechtssoziologie ZG Zeitschrift für Gesetzgebung ZGR Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht ZIP Zeitschrift für Wirtschaftsrecht ZJS Zeitschrift für das Juristische Studium ZParl Zeitschrift für Parlamentsfragen ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik

Teil 1

Einleitung A. Problemaufriss Charles de Montesquieu gehört wohl zu den bedeutendsten staatstheoreti­ schen Vordenkern der Aufklärung. In seinem 1748 veröffentlichten Werk „De l’esprit des lois“ prägte er maßgeblich den Begriff der Gewaltenteilung, den auch die heutige Staatswissenschaft weiterhin beschäftigt1. In der am 26. Au­ gust 1789 von der französischen Nationalversammlung verkündeten Erklä­ rung der Menschen- und Bürgerrechte heißt es in Art. 16: „Eine Gesellschaft, in der die Gewährleistung der Rechte nicht gesichert und die Gewaltenteilung nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung“2. Die Verpflichtung, den jeweiligen Kernbereich der Gewalten unangetastet zu lassen – und damit die Gewaltenteilung zu sichern –, gilt als eine der wesentlichen Voraussetzungen des freiheitlichen, rechtstaatlichen und demo­ kratischen Verfassungsstaats3. Im Grundgesetz wurde die Gewaltenteilung in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG, nach dem die staatliche Gewalt durch die besonderen Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird sowie in Art. 1 Abs. 3 GG, wonach die drei genannten Gewal­ ten an die nachfolgenden Grundrechte gebunden werden, kodifiziert4. Die 1  Weber-Fas, Freiheit durch Gewaltenteilung – Montesquieu und der moderne Ver­ fassungsstaat, JuS 2005, 882 (882); Grzeszick, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kom­ mentar, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 [Bundesstaatliche Verfassung; Widerstandsrecht] V. Rn. 4; in diesem Sinne ebenso Wittreck, Gewaltenteilung – Gewaltenverschrän­ kung – Gewaltengliederung, La división de poderes 5 (2009), S. 1 (2, 8), der jedoch darauf hinweist, dass die Anknüpfung an Montesquieu wohl zutreffend, aber dennoch „stark verkürzt“ sei. 2  Wißmann (Hrsg.), Europäische Verfassungen 1789–1990, 2015, S. 13. 3  Ossenbühl, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 75 (75); Degenhart, Staatsorganisationsrecht, 34. Aufl. 2018, S. 116. Die Aussage der französischen Men­ schenrechtserklärung, dass ein Staat ohne Gewaltenteilung schlechthin keine Verfas­ sung haben kann, bedarf damit einer Präzisierung. Eine Verfassung kann sich auch ein Despot zulegen, dazu Puhl, Gewaltenteilung, in: Kube (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts, 1/Staat und Verfassung, 2013, S. 249 (249 f.). 4  Zu weiteren die Gewaltenteilung näher regelnden Vorschriften im GG siehe Wittreck, Gewaltenteilung (Fn. 1), S. 4 f.

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Teil 1: Einleitung

Anknüpfung an diese beiden Normen führt zu einer Absicherung der Ge­ waltenteilung durch das Änderungsverbot des Art. 79 Abs. 3 GG, sodass die Aufgabenverteilungen auch durch Verfassungsänderung allenfalls graduell verschoben, der Kernbereich der Gewalten jedoch nicht angetastet werden darf5. Gegenstand der nachfolgenden Ausarbeitung ist die Frage, inwiefern das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die Gewaltenteilung in verfas­ sungsrechtlich problematischer Weise in Konflikt mit dem der Legislative vorbehaltenen Bereich kommt, wenn es Normen des Gesetzgebers kontrol­ liert. Während für Montesquieu die Gewaltenteilung die entscheidende Aufgabe hatte, durch Begrenzung des Staates die Freiheit des Einzelnen zu sichern6, wird dem Grundsatz der Gewaltenteilung nunmehr auch eine Rationalisie­ rungsfunktion im Sinne einer effizienten Staatsorganisation zugesprochen7. Die Gewaltenteilung ziele danach darauf ab, dass staatliche Entscheidungen von den Einrichtungen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Vorausset­ zungen verfügen8. Die im Folgenden vorzunehmende Funktionsabgrenzung zwischen dem Gesetzgeber von formellen Parlamentsgesetzen und dem Bun­ desverfassungsgericht hat damit das interne Spannungsfeld der Zuständig­ keitsabgrenzungen der Gewalten sowie den „sprichwörtlichen Leviathan“ insgesamt zu berücksichtigen, welcher sowohl durch „Fesselung gebremst“ als auch „rascher marschieren“ gelassen werden soll9. Die Aufgabe der Verabschiedung von formellen Parlamentsgesetzen kommt gem. Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG der gesetzgebenden Gewalt zu. Sie ist – wie es der Deutsche Bundestag selbst formuliert10 – die wichtigste Aufgabe11 5  Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd.  II, 3.  Aufl. 2015, Art. 79 III Rn. 50. 6  Wittreck, Gewaltenteilung (Fn. 1), S. 7; Puhl, Gewaltenteilung (Fn. 3), S. 250. 7  Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 98; Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 79 (2013) Rn. 146; Puhl, Gewaltenteilung (Fn. 3), S. 252, der jedoch davor warnt, diese demo­ kratische Wurzel zum „Einfallstor für organisationssoziologisch-rechtspolitische Effi­ zienzüberlegungen zu machen“. 8  Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar zum GG, 45. Ed. 2020, Art. 20 GG Rn. 156; BVerfG 1 BvR 781/21 u. a. (Rn. 140) – Bun­ desnotbremse I (Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen) (2021). 9  In diesem Sinne illustriert Wittreck, Gewaltenteilung (Fn. 1), S. 7 das Spannungs­ verhältnis. 10  Online-Glossar Deutscher Bundestag, https://www.bundestag.de/services/glossar /glossar/L/legislative-245488 (22.09.2020). 11  Weitere Aufgaben sind im Rahmen seiner demokratischen Gesamtleitungs-, Willensbildungs- und Kontrollfunktion die Wahl des Bundeskanzlers, Kontrolle der Bundesregierung, Einsetzung von Untersuchungsausschüssen, Ausübung des Haus­



A. Problemaufriss 25

der Legislative12. Der Erlass abstrakt-genereller Normen gehört zum typi­ schen „unveränderlichen Kernbereich“ des Gesetzgebers13. Das Bundesver­ fassungsgericht formuliert im Hinblick auf diesen Kernbereich, dass keine der Gewalten „ein von der Verfassung nicht vorgesehenes Übergewicht über eine andere Gewalt erhalten [darf] […]. Der Kernbereich der verschiedenen Gewalten ist unveränderbar. Damit ist ausgeschlossen, daß eine der Gewalten die ihr von der Verfassung zugeschriebenen typischen Aufgaben preisgibt“14. Der Gesetzgeber15 schafft also die Gesetze. Das Bundesverfassungsgericht hingegen kann neben dem Gesetzgeber selbst als einzige Institution Gesetze wieder abschaffen, es prüft die Vereinbarkeit von Gesetzen mit dem Grund­ gesetz (Art. 93 Abs. 1 GG) und erklärt Gesetze bei Unvereinbarkeit für nich­ tig (§ 78 S. 1 BVerfGG). Zweifelsohne steht das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf seine Normverwerfungskompetenz bei der Überprüfung von Gesetzen der Legisla­ tive daher in einem besonderen Spannungsverhältnis zum Gesetzgeber und dem der Legislative vorbehaltenen Kernbereich. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Bundesverfassungsgericht keine Superrevisions­ instanz – d. h. nur über verfassungsgerichtliche und nicht einfachrechtliche Fragen entscheiden darf – ist, ein Gericht seiner Natur nach aber möglichst umfassend entscheiden möchte. Da, wo das Gericht aber nicht – wie z. B. der US-amerikanische Supreme Court – über das einfache Recht entscheiden darf, unterläuft es schnell der Gefahr, das Verfassungsrecht zu extensiv aus­ zulegen (aus „Wo kein Verfassungsrecht, da kein Verfassungsgericht“ wird dann „Wo das Verfassungsgericht, da auch Verfassungsrecht“16). haltsrechts u. v. m., vgl. Benda, Das Verhältnis von Parlament und Bundesverfas­ sungsgericht, in: Thaysen (Hrsg.), US-Kongress und Deutscher Bundestag, 1988, S. 217 (219). 12  Wenngleich im Nachfolgenden häufig von Gesetzgeber gesprochen wird, so ist der Begriff „gesetzgebende Gewalt“ oder „Gesetzgebung“ zutreffender. Der Gesetz­ geber ist kein „weiser alter Mann mit Bart“, keine „mythische Figur“, sondern „Ge­ setzgebung ist ein verfassungsrechtlich geordnetes Verfahren, welches mehrere hierzu legitmierte und kompeten Organe im Wege der Interaktion zu einer Handlungseinheit zusammenfügt“, vgl. Ossenbühl, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 3), S. 88. 13  Puhl, Gewaltenteilung (Fn. 3), S. 255. 14  BVerfGE 34, 52 (Rn. 29) – Hessisches Richtergesetz (1972); BVerfGE 95, 1 (Rn. 73) – Südumfahrung Stendal (1996); zuletzt auch BVerfG 1 BvR 781/21 u. a. (Rn. 140) – Bundesnotbremse I (Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen) (2021). 15  Der Begriff des Gesetzgebers erfasst dabei insbesondere den Bundestag und Bundesrat, daneben aber auch bei weiter Betrachtung den Bundespräsidenten, vgl. Hölscheidt/Menzenbach, Das Gesetz ist das Ziel: Zum Zusammenhang zwischen gu­ tem Verfahren und gutem Gesetz, DÖV 2008, 139 (140). 16  Treffend Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, in: Jestaedt et al., Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsge­ richt, 2011, S. 77 (112); in diesem Sinne auch Jarass, Die Konstitutionalisierung des

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Teil 1: Einleitung

Die Diskussion darüber, ob das Bundesverfassungsgericht zu viel legisla­ tive Tätigkeiten übernehmen und damit Politik treiben würde, ist nicht neu. Mit am prominentesten ist wohl die Kritik von keinem geringeren als Bö­ ckenförde17, der die Gefahr der Entwicklung vom parlamentarischen Gesetz­ gebungsstaat zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat beschrieb18. Dem Gericht wird ferner vorgeworfen, durch seine Urteile würde es zum Ersatzgesetzgeber19 oder gar zum Ersatzverfassunggeber20 werden wollen. Es gibt Warnungen vor einer „totalen Verfassung“21 und es wird von einer „Götterdämmerung“22 gesprochen. Ebenso fallen die Schlagworte „Konstitu­ tionalisierung der Rechtsordnung“, „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“ (Schlink) oder „Entgrenzung von Recht und Politik“23. In Karlsruhe herrsche eine „Oligarchie“24, die „Maß und Mitte“ verloren hätte25, durch Maßstabs­ bildung mache sich Karlsruhe auf unzulässige Weise zur vierten Gewalt26. Immer wieder hat das Bundesverfassungsgericht hochpolitische Entschei­ dungen gefällt und damit erhebliche Kritik hinsichtlich der Reichweite der Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge auf sich Rechts, insb. durch Grundrechte, in: Wittreck (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz, Verfas­ sung mit Zukunft!?, 2010, S. 47 (49). 17  Ernst-Wolfgang Böckenförde war nicht nur angesehener Staatsrechtslehrer, son­ dern auch Richter am Bundesverfassungsgericht, vgl. Knies, Auf den Weg in den „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“?, in: Burmeister (Hrsg.), Verfassungs­ staatlichkeit, Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 1155 (1157). 18  Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1990, S.  61 f. 19  Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes im Deutschen Bundestag, „Das Bundesverfassungsgericht“, WD 1-3000-056/09, (07.05.2009), https://www.bundes tag.de/blob/411696/a9fa68af8c0222bbbd8e3296b68-b0887/wd-1-056-09-pdf-data.pdf (22.09.2020). 20  Hwang, Das Bundesverfassungsgericht im Schnittpunkt zwischen Recht und Politik: Ein unlösbares Problem?, Rechtstheorie 46 (2015), 179 (187). 21  Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII 2014, § 268 Rn. 61. 22  Großfeld, Götterdämmerung?, NJW 1995, 1719 (1719 ff.). 23  So die Zusammestellung bei Hwang, Bundesverfassungsgericht (Fn. 20), Rechtstheorie 46 (2015), 179 (179); Zum Begriff „entgrenzt“ siehe auch Jestaedt/ Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht 2011, S. 1 ff. 24  Lamprecht, Oligarchie in Karlsruhe – Über die Erosion der Gewaltenteilung, NJW 1994, 3272 (3272 ff.); den Begriff „oligarischen Richterstaat“ verwendet auch Rüthers, Demokratischer Rechtsstaat oder oligarchischer Richterstaat?, JZ 2002, 365 (371). 25  Hillgruber, Ohne rechtes Maß?, JZ 2011, 861 (861). 26  Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Jestaedt et al., Das entgrenzte Ge­ richt. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011, S.  159 (167 ff.).



A. Problemaufriss 27

gezogen – prominente Beispiele sind die Entscheidungen zum Schwanger­ schaftsabbruch, zum Einsatz der Bundeswehr out of area, der SitzblockadenBeschluss, die Soldaten-sind-Mörder-Entscheidung oder der Kruzifix-Be­ schluss27. In jüngster Zeit standen insbesondere Entscheidungen zur inneren Sicherheit28, zum menschenwürdigen Existenzminimum29 zum Wahlrecht30 und die Entscheidung zum Klimaschutzgesetz31 im Fokus der gesellschaftli­ chen und politischen Diskussion. Aber die Kritik zielt auch in die umgekehrte Richtung, wie zuletzt die Diskussion um die Entscheidungen des Bundesver­ fassungsgerichts zur sog. Bundesnotbremse zeigte, in denen das Gericht grundrechtseingriffsintensive gesetzgeberische Maßnahmen bestätigte32. Diese und ähnliche Vorwürfe sollen zum Anlass dieser Arbeit genommen und das Verhältnis von Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht zueinan­ der und in der grundgesetzlichen Systematik untersucht werden. Insbeson­ dere anhand der bundesverfassungsrechtlichen Rechtsprechung der vergange­ nen Jahre soll geklärt werden, ob die Vorwürfe, das Bundesverfassungsgericht mische sich ungerechtfertigterweise in ihm nicht zustehende gesetzgeberische Entscheidungen ein, zutrifft.

27  Haltern, Demokratische Verantwortlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 35 (1996), 551 (552). 28  Im BVerfGE 141, 220 (Abw. Meinung 1 Rn. 5) – BKA-Gesetz (2016) kritisierte eine abweichende Meinung, dass dem Gesetzgeber zu detaillierte Vorgaben gemacht würden; auch in der jüngsten Entscheidung zur sicherheitspolitischen Geetzgebung (BVerfG NJW 2020, 2253 – BND-Ausland-Ausland-Aufklärung [2020]) wurden dem Gesetzgeber ausführliche Vorgaben zur Neugestaltung der nachrichtendienstlichen Kontrolle gemacht. 29  BVerfGE 152, 68 – Sanktionen im Sozialrecht (2019). 30  Kritik zum Beispiel zusammengefasst in „Bundesverfassungsgericht macht sich bei der Union unbeliebt“ (15.04.2015) auf www.faz.net, https://www.faz.net/aktuell/ politik/inland/kritik-an-urteilen-bundesverfassungsgericht-macht-sich-bei-der-unionunbeliebt-13546410.html (22.09.2020). 31  BVerfG BeckRS 2021, 8946 – Klimaschutz (2021); kritisch dazu zum Beispiel Müller, Die Welt ist nicht genug (29.04.2021), FAZ.net, https://www.faz.net/aktuell/ politik/inland/bundesverfassungsgericht-zum-klimaschutz-die-welt-ist-nicht-ge­ nug-17318117..htm (29.01.2022), der kommentiert, dass die „Entscheidung durchaus auf der Karlsruher Linie [liegen würde], nicht nur den (Verfassungs-)Gesetzgeber beim Wort, sondern ihn auch an die Hand zu nehmen. Man kann es aber auch über­ treiben“. 32  BVerfG 1 BvR 781/21 u. a. – Bundesnotbremse I (Ausgangs- und Kontaktbe­ schränkungen) (2021); BVerfG 1 BvR 971/21 u. a. – Bundesnotbremse II (Schul­ schließungen) (2021); kritisch dazu zum Beispiel Lepsius, Der Rechtsstaat wird um­ gebaut (10.12.2021), FAZ.net, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/corona-not bremse-entscheidung-des-bundesverfassungsgerichts-17676024.html?premium (29.01.2022), der den Entscheidungen eine weitgehende „verfassungsrechtliche Ab­ stinenz“ entnimmt, sie stünden unter dem Motto „Parliament can do no wrong“.

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Teil 1: Einleitung

Dabei liegt es in der systematischen Eigenart des Bundesverfassungsge­ richts und des Grundgesetzes, welches Durchbrechungen vom Grundsatz der Gewaltenteilung vorsieht,33 begründet, dass das Spannungsverhältnis wohl nie aufzulösen sein wird34 und grundsätzlich auch nicht schädlich, sondern „durchzuhalten ist“35. Aktuelle gesetzgeberische Initiativen und Entscheidun­ gen des Bundesverfassungsgerichts üben jedoch stets neuen Druck auf den Spannungsbogen aus. Zudem scheinen Fragen hinsichtlich der Tatsachen­ überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht noch dogmatisch unge­ klärt36, ebenso wenig ist eine Systematik unterschiedlich strenger Kontroll­ maßstäbe ausgearbeitet37. Damit der Spannungsbogen zwischen Gesetzgeber und Bundesverfas­ sungsgericht nicht überspannt – oder anders ausgedrückt: das „labile Gleich­ gewicht“ zwischen „Demokratie und Verfassungsgerichtsbarkeit“ gewahrt bleibt38 – und mit nicht absehbaren Folgen für die bundesrepublikanische Verfassungsordnung zerreißt, ist es daher stets aufs Neue notwendig, aktuelle Entwicklungen zu diskutieren und zu systematisieren39: Die „Juridifizierung der Politik und Politisierung der Rechtsprechung, Verschiebung der demo­ kratischen Ordnung in die Richtung eines Jurisdiktionsstaates, Verkürzung der Bedeutung des ‚einfachen Rechts‘, besonders des Privatrechts, Inflatio­ nierung der Grundrechte und Perpetuierung alles dessen durch die erhöhte Bindungswirkungen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen“ ist „heute und in Zukunft das Hauptproblem der Verfassungsgerichtsbarkeit“40. Nicht zu­ 33  Dazu Schorkopf, Gesetzgebung durch Höchstgerichte und Parlamente, AöR 144 (2019), 202 (206). 34  So auch Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 495; Benda, Verhältnis (Fn. 11), S. 219; Mahrenholz, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: Ba­ dura/Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 23 (32); Klein, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: ebd., S. 49 (56); Drossel, Das letzte Wort des Bundesverfassungsgerichts – Ein undemokratischer Mechanis­ mus?, in: Elser/Baumann (Hrsg.), Das letzte Wort – Rechtsetzung und Rechtskon­ trolle in der Demokratie, 2014, S. 255 (273); Britz, Das Verhältnis von Verfassungs­ gerichtsbarkeit und Gesetzgebung, Jura 2015, 319 (319). 35  Isensee, Bundesverfassungsgericht – quo vadis?, JZ 1996, 1085 (1087). 36  Haberzettl, Die Tatsachenfeststellung in Verfahren vor dem BVerfG, NVwZExtra 2015, 1 (3). 37  Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 93 Rn. 35; Hofmann, Abwägung im Recht, 2008, S. 482. 38  Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, 2021, S. 49. 39  In diesem Zusammenhang weist Bullinger, Fragen der Auslegung einer Verfas­ sung, JZ 2004, 209 (213) darauf hin, dass Ermahnungen zur verfassungsgerichtlicher Zurückhaltung immer wieder Erfolg gehabt hätten, z. B. in der Entscheidung zum Kopftuchverbot 2003 (BVerfGE 108, 282). 40  Hesse, Verfassungsrechtsprechung im geschichtlichen Wandel, JZ 1995, 265 (272).



A. Problemaufriss 29

letzt zeigen auch die aktuellen Beispiele der europäischen Nachbarn die Fragilität der Verfassungsgerichtsbarkeit und wie schnell die politische Kritik an der Juridifizierung durch Gerichte in eine politische Dienstbarmachung der Justiz führen kann41. Wenngleich es als unmögliches Unterfangen tituliert wird, die Abgrenzung zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber nach rationalen Krite­ rien vorzunehmen42, soll diese Arbeit dennoch zumindest einen Beitrag dazu leisten, die Diskussion und Argumente zu ordnen. Die Arbeit soll daher über die Betrachtung der Einzelfälle hinausgehen und insbesondere anhand der aktuellen Entscheidungen eine übergreifende Systematik herausarbeiten. Aufgrund der Kompetenz-Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts gehört die kritische Auseinandersetzung mit dem Bundesverfassungsgericht schließ­ lich geradezu zum „Lebenselixier“ der freiheitlich-demokratischen Grund­ ordnung43. Es käme einer Kapitulation vor dem Gericht gleich und erwiese diesem einen Bärendienst, unternähme man nicht zumindest den Versuch, dessen Schranken zu bestimmen44.

41  Diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass der Europäische Gerichtshof im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens festgestellt hat, dass die Republik Polen dadurch, dass sie zum einen vorgesehen hat, dass die Herabsetzung des Ruhestandsal­ ters für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) auf amtierende Richter Anwendung findet, die vor dem 3. April 2018 an dieses Gericht berufen worden wa­ ren, und zum anderen dem Präsidenten der Republik die Befugnis verliehen hat, den aktiven Dienst der Richter dieses Gerichts über das neu festgelegte Ruhestandsalter hinaus nach freiem Ermessen zu verlängern, gegen Art. 47 der Charta der Grund­ rechte der Europäischen Union und damit gegen das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht verstoßen hat, vgl. EuGH C-619/18 – Kommission/Polen (2019). 42  Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 33 (53). 43  Isensee, Bundesverfassungsgericht (Fn. 35), JZ 1996, 1085 (1087). 44  Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, NJW 1980, 2103 (2104).

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Teil 1: Einleitung

B. Gang der Untersuchung Die Arbeit wird zunächst das Bundesverfassungsgericht und seine syste­ matische Stellung im Konzept des Grundgesetzes sowie seine grundsätz­ lichen Grenzen im Verhältnis zum Gesetzgeber erläutern (Teil 2). Anhand der konkreten Kontrollentscheidungen der vergangenen Jahre wird untersucht, wie es um das Spannungsverhältnis zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht bestellt ist und inwiefern präzisere Abgrenzungs­ konzepte zu finden sind. Ziel ist es dabei, die wichtigen sowie insbesondere aktuellen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf das Spannungsverhältnis zum Gesetzgeber zu systematisieren. Einerseits wird die Rechtsprechung darauf hin untersucht, inwiefern sich aus ihr eine gewisse Systematik ableiten lässt. Andererseits wird eine neue Systematik zur Darstellung des Problems entwickelt. In diese Systematik werden die Rechtsprechung des Gerichts sowie bestehende Literaturmeinun­ gen eingeordnet. Ziel ist es, dem Bundesverfassungsgericht einen Vorschlag zur besseren Systematisierung seiner Entscheidungen zu machen. Dies schafft mehr Vorhersehbarkeit und Akzeptanz, die wichtigsten Währungen des Ver­ fassungsgerichts. Die differenzierende Betrachtung beginnt mit einer Dreiteilung. Zunächst werden Spannungsfelder bei der Einleitung des Verfahrens untersucht. Inso­ fern das Bundesverfassungsgericht nur auf Antrag und unter bestimmten Voraussetzungen tätig wird, ist zu untersuchen, inwieweit das Gericht da­ durch, dass es bestimmte Gesetze überhaupt zur Prüfung annimmt, Grenzen überschreitet (Teil 3). Der inhaltliche Schwerpunkt liegt sodann auf den Gesetzgeber zustehen­ den Spielräumen und Freiheiten, die das Bundesverfassungsgericht im Nor­ menkontrollvorgang zu beachten hat, d. h. bei der Beantwortung der Frage, ob ein Gesetz verfassungsgemäß ist, oder eben nicht (Teil 4) – dabei wird zu differenzieren sein zwischen materiell-rechtlichen und tatsächlich-prognosti­ schen Spielräumen. Im Anschluss an den Normenkontrollvorgang hat das Bundesverfassungsgericht eine Normenkontrollentscheidung zu treffen, d. h. eine Entscheidung darüber, welche konkreten Folgen die Feststellung der Verfassungsgemäßheit oder Verfassungswidrigkeit der Norm hat. Hier stellt sich gewissermaßen umgekehrt die Frage nach den Spielräumen des Bundes­ verfassungsgerichts, d. h. inwiefern das Gericht bestimmte Entscheidungen treffen kann, die Auswirkungen von Gesetzeskraft haben. Unter dem Stich­ wort Spielräume des Bundesverfassungsgerichts wird auch hier untersucht werden, welchen Grenzen das Gericht diesbezüglich unterliegt (Teil 5).



B. Gang der Untersuchung 31

In einer Schlussbetrachtung (Teil 6) werden neben einer Untersuchung des tatsächlichen Verhältnisses zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetz­ geber die Forschungsergebnisse zusammengefasst, um sodann auf die ein­ gangs erwähnte Kritik am Bundesverfassungsgerichts zurückzukommen und die damit aufgeworfene Frage, ob sich das Gericht eines übergriffigen Ver­ haltens dem Gesetzgeber gegenüber schuldig macht, zu beantworten.

Teil 2

Das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz A. Die Kontrollbefugnis des Bundesverfassungsgerichts Möchte die Frage eine Beantwortung finden, wie das Verhältnis von Bun­ desverfassungsgericht und Gesetzgeber im Hinblick auf die Verfassungsge­ mäßheit von Gesetzen ausgestaltet ist, ist es zunächst notwendig, sich des Rechtes des Bundesverfassungsgerichts, überhaupt Gesetze auf die Verein­ barkeit mit der Verfassung zu prüfen, zu vergewissern. Dass das Bundesver­ fassungsgericht Gesetze des demokratisch unmittelbar legitimierten Organes, des Gesetzgebers, überprüfen und verwerfen kann, ist zwar durch das Grund­ gesetz abgesichert, in seiner legitimatorischen Herleitung jedoch keine Selbstverständlichkeit, sondern sieht sich vielmehr demokratietheoretisch und im Hinblick auf die Gewaltenteilung vor Probleme gestellt1.

I. Demokratieprinzip und Verfassungsgerichtsbarkeit Insofern das Bundesverfassungsgericht Gesetze des unmittelbar vom Volk gewählten demokratischen Gesetzgebers aufheben darf, wird die Diskussion akut, ob nicht das mit dem parlamentarischen Gesetzgeber unmittelbar ver­ bundene Demokratieprinzip der Einrichtung eines Bundesverfassungsgerichts strukturell entgegensteht2. Entscheidend für die Beantwortung der Frage nach der Vereinbarkeit von Demokratie und Verfassungsgerichtsbarkeit ist es, welche Bedeutung der demokratischen Mehrheitsentscheidung zugesprochen wird. Sieht man die absolute Mehrheitsentscheidung als das schlechthin konstituierende Herz­ stück der Demokratie, dann wäre eine Unterscheidung zwischen Verfassung­ 1  Benda, Das Verhältnis von Parlament und Bundesverfassungsgericht, in: Thaysen (Hrsg.), US-Kongress und Deutscher Bundestag, 1988, S. 217 (218) weist darauf hin, dass eine Verfassungsgerichtsbarkeit mit der klassischen von Montesquieu entwickel­ ten Gewaltenteilung nicht vereinbar wäre; auch nach Puhl, Gewaltenteilung, in: Kube (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts, 1/Staat und Verfassung, 2013, S. 249 (251) er­ schien Montesquieu dieser Vorrang der Verfassungsgerichtsbarkeit „nicht vorstellbar“. 2  Zu den antidemomkratischen Legitimationsmodellen der Verfassungsgerichtsbar­ keit siehe u. a. Haltern, Demokratische Verantwortlichkeit und Verfassungsgerichts­ barkeit, Der Staat 35 (1996), 551 (557).



A. Die Kontrollbefugnis des Bundesverfassungsgerichts 33

geber und einfachem Gesetzgeber nicht möglich. Es gäbe keine speziellen Entscheidungen des Verfassunggebers, die gar nicht oder nur mit einer quali­ fizierenden Mehrheit abzuändern wären, sodass auch keine Notwendigkeit bestünde, diese qualifizierende Mehrheit durch ein Verfassungsgericht vor der einfachen Mehrheit zu schützen. Ein Verfassungsgericht wäre vielmehr obsolet, die Demokratie und Verfassungsgerichtsbarkeit wären in diesen Fall schlechthin unvereinbar3.

II. Demokratischer Verfassungsstaat Der demokratische Verfassungsstaat hat sich jedoch für eine Unterschei­ dung von verfassungsänderndem Gesetzgeber, der mit einer qualifizierten Mehrheit entscheidet, und einfachem Gesetzgeber entschieden und damit von der Vorstellung des absoluten Postulates der Mehrheitsentscheidung verab­ schiedet. Dadurch, dass einfache Gesetze mit einfacher Mehrheit geschaffen werden können, die Verfassung jedoch nur mit einer qualifizierenden Mehr­ heit geändert bzw. in einigen Fällen gar nicht geändert werden kann, befindet sich der demokratische Verfassungsstaat in einem Spannungsverhältnis ­zwischen der „Bindung der Lebenden durch die Toten“ (Verfassung) und der volkslegitimierten Entscheidung des Gesetzgebers (einfache Gesetze)4. Hinter der volkslegitimierten Entscheidung, hinter „dem Majoritätsprinzip“, steckt damit „ein Organisationsgrundsatz, keine Gewähr materieller Rich­ tigkeit“5. Die Verfassung dient damit insbesondere der Absicherung der Rechte der Minderheit und das Verfassungsgericht sowie die Gesetzeskon­ trolle zur Kontrolle dieser und damit rechtlichen Durchsetzung dieser Ab­ sicherung. 1. Entscheidung für ein Verfassungsgericht Eine Grundsatzentscheidung für einen solchen Verfassungsstaat führt je­ doch keineswegs zwingend dazu, dass jene Kontrolle von Gesetzen von ei­ nem Verfassungsgericht durchgeführt werden müsste – die Frage nach der Notwendigkeit einer Verfassungsgerichtsbarkeit ist insofern keine „prinzi­ pielle, sondern eine pragmatische“6. Während die Weimarer Verfassung von 1919 noch keine Vorschrift enthielt, die ein explizites richterliches Prüfungs­ 3  Steffani, Demokratischer Entscheidungsprozeß, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungs­ gerichtsbarkeit, 1976, S. 374 (380); Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bun­ desverfassungsgericht, 1985, S. 26. 4  Gusy, Gesetzgeber (Fn. 3), S. 18. 5  Lepsius, Rechtswissenschaft in der Demokratie, Der Staat 52 (2013), 157 (169). 6  Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, 2021, S. 64.

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Teil 2: Das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz

recht vorsah7, – was dazu führte, dass sich Reichskanzler Hitler als „wahrer Hüter der Verfassung“ empfand8 – hat sich das Grundgesetz bewusst für ein starkes Bundesverfassungsgericht entschieden9. Vorbild für das Zubilligen eines richterlichen Prüfungsrechtes, dem viele moderne Verfassungsstaaten gefolgt sind, ist die Marbury vs. Madison Recht­ sprechung des US-amerikanischen Supreme Courts aus dem Jahr 180310. Der Blick in die europäischen Nachbarstaaten zeigt, dass eine solche Kontrolle von Gesetzen durch Verfassungsgericht aber nicht selbstverständlich ist, und offenbart damit ein unterschiedliches Demokratieverständnis und Verständnis einer Verfassungsgerichtsbarkeit: Nach englischer Tradition trägt grundsätz­ lich die Letztentscheidungsbefugnis das Parlament11, nach französischer Tradition kommt diese machtvolle Stellung dem Staatspräsidenten zu Gute12 und auch die niederländische Verfassung schließt eine Kontrolle von Geset­ zen durch den Richter explizit aus13. Auch das Grundgesetz hätte somit eine solche Gestaltung finden, d. h. zum Beispiel mit einer (umfassenderen) exe­ kutiven Kontrolle durch den Staatspräsidenten ausgestattet werden können14. 7  Kessel, Die Kontrolldichte der Normenkontrolle in Skandinavien aus deutscher Sicht, 2011, S. 218; Lücke, Die Allgemeine Gesetzgebungsordnung, ZG 16 (2001), 1 (2). 8  Steffani, Entscheidungsprozeß (Fn. 3), S. 385; zum Reichspräsidenten als Hüter der Verfassung auch Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1984, § 34 Rn. 7. 9  Steffani, Entscheidungsprozeß (Fn. 3), S. 385; Herzog, Offene Fragen zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber, ZG 2 (1987), 290 (292); Stern, Verfassungsge­ richtsbarkeit und Gesetzgeber, 1997, S. 11. 10  Heun, Normenkontrolle, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundes­ verfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 615 (616); Starck, Das Bundesverfassungsgericht in der Verfassungsordnung und im politischen Prozess, in: ebd., S. 1 (2). 11  Ein bekannter Ausspruch in der englischen Verfassungsrechtslehre ist das Bon­ mot, dass das englische Parlament alles könne, nur nicht einen Mann in eine Frau verwandeln; vgl. u. a. Jacobsen, Max Weber und Friedrich Albert Lange, 1999, S. 227; Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), 630 (630); dieses Prinzip der „Souveränität des Gesetzgebers“ (­Lücke, Gesetzgebungsordnung [Fn. 7], ZG 16 [2001], 1 [2]) hat mittlerweile auch im Vereinigten Königreich durch die Einführung des Supreme Court im Jahr 2004 erheb­ liche Einschränkungen erfahren; instruktiv dazu Sydow, Der geplante Supreme Court für das Vereinigte Königreich im Spiegel der britischen Verfassungsreform, ZaöRV 64 (2004), 65 (65 ff.). 12  Isensee, Diskussionsbeitrag, in: Stern (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber, 1997, S. 39 (40). 13  Art. 120 der Verfassung der Niederlande: „De rechter treedt niet in de beoorde­ ling van de grondwettigheid van wetten en verdragen“ (Der Richter greift nicht in die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verträgen ein). 14  Gusy, Gesetzgeber (Fn. 3), S. 33.



A. Die Kontrollbefugnis des Bundesverfassungsgerichts 35

Der Parlamentarische Rat hätte damit dem Bundesverfassungsgericht die Überprüfung von Gesetzen insgesamt entziehen können. Ob die häufig genannten Unterschiede des Grundgesetzes im Vergleich zur Weimarer Reichverfassung tatsächlich zu einer Stärkung freiheitlich-demo­ kratischen Grundordnung in der Bundesrepublik geführt haben, oder ob hierzu auch noch andere Faktoren eine wichtige Rolle spielten und ob umge­ kehrt die Weimarer Verfassung Ursache für die Krise dieser Republik war, mag umstritten sein, kann an dieser Stelle jedoch dahingestellt bleiben. Je­ denfalls hatte der Parlamentarische Rat beim Verfassen des Grundgesetzes auch die Weimarer Verfassung im Blick15. Die Einrichtung eines starken Bundesverfassungsgerichts kann damit auch als Abgrenzung zu Weimar und als Votum des Misstrauens gegenüber dem Parlament und der Regierung verstanden werden16. Die Möglichkeit der Überprüfung von Gesetzen, ver­ bunden mit einer Verwerfungskompetenz durch das Bundesverfassungs­ gericht (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) ist dementsprechend der besonderen Konzeption des Grundgesetzes in Reaktion auf den Unrechtsstaat der Natio­ nalsozialisten geschuldet. Durch die Schaffung des Bundesverfassungsge­ richts einigte sich der Parlamentarische Rat auch insbesondere darauf, dass es sich bei der Verfassung des Grundgesetzes um – so banal es klingen mag – „Recht“ und nicht bloße Programmsätze oder gemeinsame Wertvor­ stellungen handelt17. Nur wenn die Verfassung anerkennt, dass sie als positi­ ves Recht von Menschen erschaffen wird und als dieses auch (unter gewissen Voraussetzungen) abänderbar ist, wird erst die Legitimation geschaffen, dass der Gesetzgeber an der Verfassung zu messen ist.

15  Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Hand­ buch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1984, § 34 Rn. 17; Wahl, Elemente der Verfassungsstaatlichkeit, JuS 2001, 1041 (1044); Herbert, Was nützt eine Historisierung des Bundesverfassungsgerichts?, in: Meinel (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bonner Republik. Aspekte einer Geschichte des Bundesverfassungsgerichts, 2019, S. 15 (15). 16  Steffani, Entscheidungsprozeß (Fn. 3), S. 385; Gusy, Gesetzgeber (Fn. 3), S. 39; Isensee, Diskussionsbeitrag (Fn. 12), S. 40; Möllers, Die drei Gewalten, 2008, S. 137 weist darauf hin, dass auch in anderen post-totalitären oder -autoritären Staaten ein Prozess zu einem besonderen den demokratischen Prozess absichernden und starken Verfassungsgericht zu beobachten war, zum Beispiel in Italien, Spanien, Polen, Un­ garn oder Südafrika; auch Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 6), S. 84 betont, dass Staaten, die über eine lange demokratische Tradition und Achtung des Rechts­ staats verfügen, eher auf ein Verfassungsgericht verzichten können. 17  Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, in: Jestaedt et al., Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 77 (99).

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Teil 2: Das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz

2. Formelles und materielles Prüfungsrecht Neben der Frage, ob ein Verfassungsgericht überhaupt Gesetze des demo­ kratisch legitimierten Gesetzgebers überprüfen können soll, muss ein Verfas­ sunggeber festlegen, ob dem Verfassungsgericht nur ein formelles (d. h. aus­ schließlich das Verfahren sichernde) oder auch ein materielles Prüfungsrecht zukommen soll. Diese Frage ist zu beantworten, in dem das Verhältnis von Mehrheitswil­ len und Volkswillen untersucht wird. Versteht man die Demokratie derart, dass es sich bei dem durch Abstimmung gebildeten Mehrheitswillen notwen­ dig auch um den Volkswillen handelt, wird ein solches Demokratiemodell zu dem Schluss kommen, dass der Minderheitswille keines besonderen Schutzes bedarf (absolute Demokratie18) und die Verfassungsgerichtsbarkeit somit le­ diglich dazu dient, das formelle Verfahren, in dem dieser Mehrheits- und Volkswille zu Stande kommt, abzusichern19. Die Kontrollkompetenz eines Verfassungsgerichts würde sich demnach auf ein formelles Prüfungsrecht gegenüber Gesetzen beschränken20, die Mehrheit wäre rechtlich indes nicht daran gehindert, das Mehrheitsprinzip durch Mehrheitsentscheidung abzu­ schaffen21. Dem Parlamentarischen Rat war es von dem Hintergrund des nationalsozi­ alistischen Unrechtsregimes jedoch wichtig, den Vorrang der Verfassung durch ein materielles Prüfungsrecht abzusichern. Dieser Vorrang der Verfas­ sung und die Grundrechtsbindung werden somit explizit in Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 1 Abs. 3 GG beschrieben22. Dem Grundgesetz liegt demnach ein Demokratiemodell zu Grunde, welches den Mehrheitswillen lediglich als Teil des Volkswillens ansieht, den Minderheitswillen aber eben auch Teil des Volkswillens versteht und daher auch die Rechte der Minderheit normativ absichern möchte23 (konstitutionelle Demokratie24). Unter dieser Demokratie versteht man „Herrschaft des gesamten Volkes, nicht allein der im politischen Prozess sich durchsetzenden Mehrheiten“25. Dadurch wird es möglich, dass 18  Merten, Demokratischer Rechtsstaat und Verfassungsgerichtsbarkeit, DVBl. 1980, 773 (774). 19  Steffani, Entscheidungsprozeß (Fn. 3), S. 382 f.; Gusy, Gesetzgeber (Fn. 3), S. 26. 20  Gusy, Gesetzgeber (Fn. 3), S. 28. 21  Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 6), S. 66. 22  Gusy, Gesetzgeber (Fn. 3), S. 31; Hwang, Verfassungsordnung als Rahmenord­ nung, 2018, S. 1. 23  Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRl 5 (1929), 30 (80); Gusy, Gesetzgeber (Fn. 3), S. 27. 24  Merten, Rechtsstaat (Fn. 18), DVBl. 1980, 773 (774). 25  Jarass, Die Konstitutionalisierung des Rechts, insb. durch Grundrechte, in: Wittreck (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz, Verfassung mit Zukunft!?, 2010, S. 47 (53).



A. Die Kontrollbefugnis des Bundesverfassungsgerichts 37

die Verfassungsgerichtsbarkeit niederrangiges Recht und damit auch das ein­ fache Gesetz formell und materiell auf die Verfassung hin überprüfen und verwerfen kann. Das grundgesetzliche Demokratieprinzip sowie die ebenso vom Grundge­ setz gewollte Verfassungsgerichtsbarkeit stehen sich aufgrund dieses Ver­ ständnisses dann nicht mehr konflingent gegenüber, sondern können neben­ einander existieren26. Die Verfassungsgerichtsbarkeit bekommt eine demo­ kratische Funktion, in dem der demokratische einfache Gesetzgeber an einen Akt erhöhter demokratischer Legitimation wirkungsvoll gebunden wird27. Der Verfassungsstaat hat zum Ziel die „Antithese“ zwischen dem demokrati­ schen Gesetzgeber und der Justiz zu überwinden, in dem keine Gewalt der anderen übergeordnet ist, sondern allein das Verfassungsrecht28. Das in dieser Arbeit zu diskutierende Spannungsverhältnis besteht damit konkret zwischen der demokratisch legitimierten einfachen Mehrheit (mit ihrem politischen Gestaltungswillen) und der verfassungsgerichtlichen Auslegung der demo­ kratisch höher legitimierten Verfassung29. Insbesondere die Grundrechte ha­ ben sich damit in ihrer Funktion gewandelt von der Begrenzung der monar­ chischen Exekutive zu Begrenzung der parlamentarischen Majorität30. Den Höhepunkt der materiellen Absicherung der Minderheitenrechte bietet das Grundgesetz freilich in Art. 79 Abs. 3 GG, durch den die in Art. 1 und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätzen einer Änderung selbst durch den verfas­ sungsändernden Gesetzgeber vollends entzogen werden31.

26  Gusy,

Gesetzgeber (Fn. 3), S. 19. Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVD­ StRl 39 (1981), 7 (46); Heusch, Verfassungsgerichtliche Gesetzeskontrolle, in: Kluth/ Augsberg (Hrsg.), Gesetzgebung. Rechtsetzung durch Parlamente und Verwaltungen sowie ihre gerichtliche Kontrolle, 2014, S. 909 (917); dazu auch Kreuter-Kirchhof, Verfassungsgerichtsbarkeit im Dienst der Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 272 Rn. 31. 28  Stern, Die Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Stern (Hrsg.), Staatsorgane, Staats­ funktionen, Finanz- und Haushaltsverfassung, Notstandsverfassung, 1980, S. 933 (957). 29  Starck, Bundesverfassungsgericht (Fn. 10), S. 7. 30  Gusy, Gesetzgeber (Fn. 3), S. 148 mit Verweis auf Tocqueville, Über die Demo­ kratie in Amerika. 31  Drossel, Das letzte Wort des Bundesverfassungsgerichts – Ein undemokratischer Mechanismus?, in: Elser/Baumann (Hrsg.), Das letzte Wort – Rechtsetzung und Rechtskontrolle in der Demokratie, 2014, S. 255 (261). 27  Korinek,

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Teil 2: Das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz

III. Das Bundesverfassungsgericht als Verfassungsorgan in der Gewaltenteilung Um der dem Bundesverfassungsgericht übertragenen Aufgabe gerecht zu werden, einfache Gesetze sowohl formell als auch materiell zu überprüfen, braucht das Gericht eine entsprechende institutionelle Absicherung. Das Bundesverfassungsgericht ist heute unumstrittenes Verfassungsorgan. In der Öffentlichkeit wird ihm hohe Bekanntheit, Anerkennung und Vertrauen ent­ gegengebracht32. Als das Bundesverfassungsgericht am 28. September 1951 eröffnet wurde, hatte es jedoch noch längst nicht diese Bedeutung und das hohe Ansehen. 1. Ausgangslage Ebenso wie das Grundgesetz lediglich als Provisorium eilig erstellt wurde, hatte der Parlamentarische Rat das Bundesverfassungsgericht eingerichtet, ohne schon eine klare und abschließende Vorstellung davon zu haben, wel­ che Aufgaben ihm zukommen sollten33. Deutlich wird dies auch dadurch, dass das Grundgesetz bereits 1949 in Kraft trat und damit schon zwei Jahre das Verfassungsleben in Deutschland prägte, ehe die Bundesregierung das Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) sowie alle organisatorischen Maßnahmen zur Errichtung des Bundeverfassungsgerichts auf den Weg ge­ bracht hatte. Die heutige Bedeutung war mit der bloßen Errichtung des Gerichts jedoch noch nicht erreicht. Zwar hatte man sich im Gegensatz zur Weimarer Reichs­ verfassung bewusst für ein gestärktes Bundesverfassungsgericht entschieden. Nichtsdestotrotz war sich weder der Parlamentarische Rat einig darüber, wie sich diese gestärkte Position konkret im Grundgesetz abbilden sollte34, noch war bei Verabschiedung des Grundgesetzes klar, wie sich das Gericht in der neuen Bundesrepublik entwickeln würde35. Zu unklar war, welche Funktion das Gericht in der neuen bundesrepublikanischen Verfassungsordnung ein­ nehmen sollte, zu unbekannt und neu war das Modell der Verfassungsge­ richtsbarkeit. 32  Schlink, Abschied von der Dogmatik. Verfassungsrechtsprechung und Verfas­ sungsrechtswissenschaft im Wandel, JZ 2007, 157 (157); Heun, Verfassung und Ver­ fassungsgerichtsbarkeit im Vergleich, 2014, S. 1. 33  Darnstädt, Verschlusssache Karlsruhe, 2018, S. 18 f. 34  Dazu Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen. Besteuerung und Eigentum, VVDStRl 39 (1981), 99 (101). 35  Klein, Gedanken zur Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Burmeister (Hrsg.), Verfas­ sungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 1135 (1135); Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 10.



A. Die Kontrollbefugnis des Bundesverfassungsgerichts 39

Damals wie heute lassen sich die Modelle der Verfassungsgerichtsbarkeit trennen, einerseits in solche Systeme, in denen das Verfassungsgericht – wie der amerikanische Supreme Court – an der Spitze der (ordentlichen) Bundes­ gerichtsbarkeit steht und anderseits in die Systeme mit einer – neben den obersten Bundesgerichten stehenden – spezialisierten Verfassungsgerichts­ barkeit. Vorbild für dieses Modell ist die Einrichtung des österreichischen Verfassungsgerichtshof im Jahr 192036. Für dieses österreichische, von Kel­ sen beeinflusste Modell entschied sich das Grundgesetz37. Diese Entschei­ dung hat ebenso die historischen Erfahrungen zum Hintergrund: Ein einziges, mächtiges nicht bloß auf Verfassungsfragen beschränktes Gericht sollte ver­ hindert werden38. In der deutschen Verfassungsgerichtshistorie finden sich erste Elemente einer Verfassungsgerichtsbarkeit in der nie in Kraft getretenen Paulskirchen­ verfassung von 1849 durch den dort vorgesehenen Staatsgerichtshof. Diese Verfassung rückte erstmals die Grundrechte in eine exponierte Stellung und sicherte diese u. a. durch die Möglichkeit, Verfassungsbeschwerden vor dem Staatsgerichtshof zu erheben, ab39. Genau diese – im Grundgesetz des Parla­ mentarischen Rates noch nicht vorgesehene – Verfassungsbeschwerde sollte zum Aushängeschild des „Bürgergerichts“40 Bundesverfassungsgericht wer­ den41. In der mittlerweile über 70-jährigen Grundgesetz-Geschichte hat sich das Bundesverfassungsgericht zu einem äußerst machtvollen Gericht entwickelt und dem Rechtsstaat eine ganz neue Dimension verliehen42, die „Dritte Ge­ walt ist wirkliche Staatsgewalt“ geworden43. Das neue einmalige Konstrukt 36  Voßkuhle, Kritik am Verfassungsgericht: Karlsruhe Unlimited?, Frankfurter All­ gemeine Zeitung, 27. 2.2020, S. 8. 37  Heun, Verfassung (Fn. 32), S. 1; Hwang, Kontextualisierung statt Rechtsanwen­ dung? Überlegungen zur aktuellen Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, Rechtstheorie 47 (2016), 165 (165). 38  Herbert, Historisierung (Fn. 15), S. 16. 39  Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Hand­ buch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1984, § 34 Rn. 5; Willoweit/Schlinker, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl. 2019, S. 255. 40  Voßkuhle, Der Rechtsanwalt und das Bundesverfassungsgericht – Aktuelle He­ rausforderungen der Verfassungsrechtsprechung, NJW 2013, 1329 (1335). 41  Die Reichverfassung von 1871 orientierte sich dagegen daran, dass Verfassungs­ fragen mit politischen Mitteln zu entscheiden seien und auch in der Weimarer Repu­ blik waren die Grundrechte lediglich Programmsätzer, als Hüter der Verfassung galt der Reichspräsident, vgl. Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/­ Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1984, § 34 Rn. 5 ff. 42  Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 10. 43  Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, 1980, S. 10.

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Teil 2: Das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz

Bundesverfassungsgericht sollte daher auch Vorbild werden für viele andere westliche Verfassungsgerichtsbarkeiten, wenngleich die Macht- und Kompe­ tenzfülle des Bundesverfassungsgerichts wohl unübertroffen ist44. 2. Die selbstbewusste Machtbehauptung als Verfassungsorgan Das Bundesverfassungsgericht war zunächst weder ganz Gericht noch ganz Verfassungsorgan45. Der Gesetzgeber und die Bundesregierung hatten wohl eher eine untergeordnete Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit vor Augen46. Von eher symbolischer Bedeutung ist, dass man das Gericht ledig­ lich in Karlsruhe ansiedelte, weil bereits der mächtige BGH dort im Erb­ großherzoglichen Palais seinen Sitz hatte – und nicht umgekehrt etwa den BGH in Karlsruhe ansiedelte, weil dort auch das Bundesverfassungsgericht sitzt. Organisatorisch kam dies insbesondere dadurch zum Ausdruck, dass das Gericht unter die Dienstaufsicht des Justizministeriums gestellt wurde und ihm keine eigene Finanz- und Personalausstattung gestattet wurde47. Protokollarisch wurde der Präsident des Gerichts bei Staatsempfängen im zweiten Rang bei den Präsidenten der anderen obersten Bundesgerichte platziert48. 1952 formulierte das Gericht sodann seinen eigenen Anspruch: Es sei Ge­ richt und machtvolles Verfassungsorgan zugleich49. Die verfassungsrecht­ liche Grundlage hierfür war nicht eindeutig50. Während den anderen Verfas­ sungsorganen (Bundestag, Bundesrat, Bundespräsident, Bundesregierung) im 44  Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Hand­ buch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1984, § 34 Rn. 9; Heun, Verfassung (Fn. 32), S. 2. 45  Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, in: Jestaedt et al., Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 9 (44). 46  Konrad Adenauer wird das Zitat zugeschrieben: „Dat ham wir uns so nich vor­ jestellt“, vgl. Honsell, Wächter oder Herrscher – Die Rolle des Bundesverfassungsge­ richts zwischen Recht und Politik, ZIP 2009, 1689 (1690); Schönberger, Anmerkun­ gen (Fn. 45), S. 26; Raab, Einführungsvortrag, in: Robbers/Raab (Hrsg.), Die Kon­ trolle parlamentarischer Gesetzgebungsakte durch das Bundesverfassungsgericht, 2014, S. 7 (9); Darnstädt, Verschlusssache (Fn. 33), S. 19 f. 47  Schönberger, Anmerkungen (Fn. 45), S. 24. 48  Auch Protokollfragen sind damit Machtfragen, vgl. Lamprecht, Vom Untertan zum Bürger – Wie das Bonner Grundgesetz an seinem Karlsruher „Über-Ich“ ge­ wachsen ist, NJW 2009, 1454 (1454). 49  Schlaich, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 34), VVDStRl 39 (1981), 99 (101); Schönberger, Anmerkungen (Fn. 45), S. 25; Payandeh, Judikative Rechtserzeugung, 2017, S. 375. 50  Jestaedt, Phänomen (Fn. 17), S. 89.



A. Die Kontrollbefugnis des Bundesverfassungsgerichts 41

Grundgesetz jeweils ein eigener Abschnitt gewidmet ist und diesem eine explizite Berechtigung zum Erlass eigner Geschäftsordnungen eingeräumt wird, fehlt dies für das Bundesverfassungsgericht51. Im Ergebnis konnte sich die Auffassung, dass das Gericht auch Verfassungsorgan ist, jedoch durchset­ zen52 – wenngleich es auch andere Auffassungen gibt53 und andere Auffas­ sungen auch insbesondere im Parlamentarischen Rat vertreten waren. Eine dortige Strömung wollte primär einen einheitlichen Obersten Gerichtshof errichten und lediglich für besonders politische Streitfragen eine gesonderten Verfassungsgerichtshof. Diese Auffassung konnte sich nicht durchsetzen, hatte aber immerhin dahingehenden Einfluss, dass dem Bundesverfassungs­ gericht dieser eigene Abschnitt gerade nicht eingeräumt wurde54. Abgesehen vom fehlenden eigenen Abschnitt im Grundgesetz erfüllt das Bundesverfassungsgericht jedoch inhaltlich alle Voraussetzungen, die für ein Verfassungsorgan allgemein als konstituierend erachtet werden: Existenz, Status, die wesentlichen Kompetenzen und die Beziehungen zu den übrigen Verfassungsorganen ergeben sich unmittelbar aus der Verfassung55. Die be­ rühmte Denkschrift des Gerichts von 1952 führte daher konkret nur zu Ver­ änderungen im Hinblick auf die organisatorischen und personellen Kompe­ tenzen des Gerichts (eigene Personal- und Finanzausstattung), welche dem Gericht die für ein Verfassungsorgan notwendige Unabhängigkeit sichert56. Unmittelbare rechtliche Konsequenzen im Hinblick auf die Verfassungsaus­ legung waren nicht auszumachen57. Vielmehr waren dem Gericht die grund­ sätzlichen Überprüfungsrechte und die damit verbundene machtvolle Stellung

51  Siedler, Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1999, S. 48; Ipsen, Staats­ recht 1, 31. Aufl. 2019 Rn. 849. 52  Payandeh, Rechtserzeugung (Fn. 49), S. 375. 53  Zuck, Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge, DVBl. 1979, 383 (384). 54  Schlaich, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 34), VVDStRl 39 (1981), 99 (101 f.); Starck, Bundesverfassungsgericht (Fn. 10), S. 6 hingegen führt das Regelungsdefizit der Verfassung hinsichtlich der Einrichtung, Organisation, Zuständigkeit und Verfah­ ren des Bundesverfassungsgerichts in der Verfassung (in Bezug auf andere Verfas­ sungsorgane gibt es explizite Regelungen) darauf zurück, dass das gerichtsförmige Verfahren so umfangreich sei, dass es schlechterdings nicht in der Verfassung geregelt werden konnte, man könne an dieser Stelle daher ohne inkonsequent zu sein den Verfassungsorgan-Status des Gerichtes annehmen. 55  Starck, Verfassungen, 2009, S. 111. 56  Starck, Verfassungen (Fn. 55), S. 112. 57  Zuck, Stellung (Fn. 53), DVBl. 1979, 383 (385); Payandeh, Rechtserzeugung (Fn. 49), S. 375; Klein, Verfahrensgestaltung durch Gesetz und Richterspruch, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 507 (509).

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Teil 2: Das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz

bereits bewusst und mit großer Mehrheit durch den Parlamentarischen Rat zugewiesen worden58. Gleichwohl ist nicht zu bestreiten, dass die Einordnung des Bundesverfas­ sungsgerichts als Verfassungsorgan das Ansehen und den Respekt, mit dem ihm entgegengetreten wird, gestärkt hat. Auf der anderen Seite hat genau diese Einordnung jedoch auch zur Folge, dass das Gericht näher an die Poli­ tik gerückt ist59 und Bezeichnungen erfahren hat, die von der „Vierten Ge­ walt“, über „Ersatzgesetzgeber“, „Honoratiorenparlament“, „Schattenkabi­ nett“, „Superrevisionsinstanz“, „Richtersouverän“ bis zum „Konterkapitän“ reichen60. Die Spannungen zwischen Recht und Politik, die Spannung zwi­ schen dem „reinen und unbefleckten Gericht und dem politischen Verfas­ sungsorgan, auch als Janusköpfigkeit des Bundesverfassungsgerichts be­ schrieben, wurden größer61.

58  Schenke, Der Umfang der bundesverfassungsgerichtlichen Prüfung, NJW 1979, 1321 (1321). 59  Payandeh, Rechtserzeugung (Fn. 49), S. 373. 60  Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1984, § 34 Rn. 29. 61  Schönberger, Anmerkungen (Fn. 45), S. 50.



B. Grenzen der Kontrollbefugnis 43

B. Grenzen der Kontrollbefugnis Die grundsätzliche Befugnis des Bundesverfassungsgerichts zur Überprü­ fung von Gesetzen in formeller als auch materieller Hinsicht sagt noch nichts über den konkreten Umfang der Kontrolltätigkeit aus. Es besteht zunächst Einigkeit darüber, dass die Kontrollbefugnis des Bundesverfassungsgerichts nicht unbegrenzt sein kann, sondern dass der Gesetzgeber bestimmte Berei­ che hat, in dem ihm eine eigene Entscheidung vorbehalten ist1, in denen das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsinterpretation des Gesetzgebers zu achten hat2. Am deutlichsten bringen dies diejenigen Vertreter zum Aus­ druck, die die Verfassung als Rahmenordnung verstehen3, nach der die Verfassung viele Angelegenheiten dem Gesetzgeber zur politischen Entschei­ dung freistellt und dem Gesetzgeber nur äußere Grenzen setzt4. Bildlich gesprochen ist die Verfassung damit der „äußerste Festungsring um die Hochburg der Freiheit, auf deren Höfen und Wiesen das politische Leben ungehemmt von jeder Bevormundung laut und kraftvoll pulsieren kann“5. Dem Konzept der Rahmenordnung wird das Konzept der Verfassung als Grundordnung, welche vom Gesetzgeber durch einfache Gesetze zu konkre­ tisieren ist, gegenübergestellt6. Im Ergebnis formulieren jedoch auch die Vertreter des Grundordnungsbegriffes, dass nur die fundamentalen (Grund-) Fragen der Gemeinschaft durch die Verfassung entschieden werden7. In beiden Fällen kommt man zu der Erkenntnis, dass es solche von der Verfas­ sung geregelte sowie freigestellte Bereiche gibt. Gleichwohl ist es vorzugs­ würdig, die Verfassung als Rahmenordnung zu verstehen, zielt dieses Ver­ ständnis doch bewusst darauf ab, Gestaltungsspielräume und damit sowohl den Vorrang der Verfassung als auch die Trennung von Verfassungsrecht und 1  Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane, 1988, S. 115; Sodan, Staat und Verfassungsgerichtsbarkeit, 2010, S. 39; Isensee, Verfas­ sungsrecht als „politisches Recht“, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 268 Rn. 28; Walter, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 93 (2017) Rn. 105. 2  Möllers, Die drei Gewalten, 2008, S. 137; Borowski, Subjekte der Verfassungsin­ terpretation, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 274 Rn. 28. 3  So Starck, Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichte, JZ 1996, 1033 (1038 f.); Kreuter-Kirchhof, Verfassungsgerichtsbarkeit im Dienst der Verfassung, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 272 Rn. 28; Hwang, Verfassungsordnung als Rahmenordnung, 2018, S. 1 ff. 4  Starck, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 3), JZ 1996, 1033 (1038); Isensee, Ver­ fassungsrecht als „politisches Recht“, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 268 Rn. 55. 5  Darnstädt, Verschlusssache Karlsruhe, 2018, S. 86. 6  Dazu Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), 485 (505 f.). 7  Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRl 61 (2002), 7 (15).

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Teil 2: Das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz

einfachem Recht aufzudecken8. Das komplizierte Gefüge der Verfassung kann allerdings nur schwer auf eine Kurzformel gebracht werden9, sodass diese Arbeit den Versuch unternehmen will, diese Abgrenzung zu präzisieren. Das Verfassungsgericht unterliegt Grenzen, dem Gesetzgeber stehen ei­ gene Entscheidungen zu. Dies wurde lange Zeit mit dem Begriff des gesetz­ geberischen Ermessens zu umschreiben versucht10. Da hierdurch das gesetz­ geberische Ermessen jedoch in die Nähe des verwaltungsrechtlichen Er­ messens rückt, wurde der Begriff des Ermessens nach und nach zugunsten des Begriffs der „Freiheit“ aufgegeben11. Mittlerweile steht der Begriff des „Spielraums“ im Fokus der Diskussion12. Zur Bestimmung dieser Spiel­ räume werden verschiedene Konzepte vertreten.

I. Judicial Self-Restraint Der US-amerikanische Supreme Court löst die Diskussion um die Spiel­ räume und Freiheiten des Gesetzgebers maßgeblich über die Figur des Judicial Self-Restraint13. Danach solle sich das Gericht bei der Ausübung seiner Verfassungsrechtsprechung weitestgehend in Zurückhaltung üben. 1. Die richterliche Zurückhaltung Richterliche Zurückhaltung meint dabei mehr als die bloße Maxime, dass das Verfassungsgericht nicht seine Kompetenzen überschreiten und nicht Politik üben soll. Dies ist so selbstverständlich, dass hierauf nicht hingewie­ 8  Wahl,

Vorrang (Fn. 6), Der Staat 20 (1981), 485 (507). Die Verfassung als Quelle von Optimierungsgeboten, in: Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 197 (204). 10  Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen unter besonderer ­Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1966, S. 64; Burmeister, Stellung und Funktion des Bundesverfassungsgerichts im System der Gewaltengliederung, in: Koenig (Hrsg.), Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit in Frankreich und in der Bundesrepublik Deutschland, 1985, S. 33 (37); Doehring, Zur Erstreckung gerichtlicher Kontrolle des Gesetzgebers und der Regierung, in: Bur­ meister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Ge­ burtstag, 1997, S. 1059 (1059, 1062). 11  Für den Begriff des „legislativen Ermessen“ in neuerer Literatur noch Erbguth, Und der Gesetzgeber schuldet wirklich nichts als das Gesetz?, JZ 2008, 1038 (1041). 12  Kirchhof, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 5 (16 f.). 13  Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Hand­ buch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1984, § 34 Rn. 11; Lange, Grundrechtsbindung des Gesetzgebers, 2010, S. 258. 9  Lerche,



B. Grenzen der Kontrollbefugnis 45

sen werden muss14. Die richterliche Zurückhaltung – Judicial Self-Re­straint  – geht vielmehr von einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber dem Verfas­ sungsgericht aus und dass dieses zu schnell versucht sei, seine Grenzen zu überschreiten und daher verpflichtet sei, sich zurückzuhalten. Dem Umstand, dass gerade verfassungsrechtliche Normen einer weiten Auslegung zugäng­ lich sind, müsse durch die Figur des Judicial Self-Restraint insofern Rech­ nung getragen werden, dass die verfassungsrechtlichen Vorschriften mög­ lichst zurückhaltend auszulegen seien15. In der Literatur wird der Figur im Hinblick auf das Gewalteinteilungsprin­ zip eine verbindliche rechtliche Funktion zugesprochen16 oder jedenfalls als allgemeiner Appell an die Verfassungsrichter als „sinnvoll und geboten“ be­ zeichnet17. Es wird betont, dass dieser Grundsatz nicht „politisch“ verstan­ den wird, sondern Judicial Self-Restraint rechtliche Begrenzungsmöglichkei­ ten gibt18. Eine solche Zurückhaltung kann jedoch – so die Kritik – auch dazu führen, dass das Bundesverfassungsgericht bestimmte Fragen, für die es eigentlich zuständig wäre, aus falsch verstandener Zurückhaltung nicht ent­ scheidet19. Das sei von der Verfassung gerade nicht gewollt, das Bundesver­ fassungsgericht sei insofern nicht „Herr der Ergebnisse“, ihm stehe kein Er­ messen zu, welches es beliebig ausüben könnte20. Es hat nicht nur eine Entscheidungskompetenz, sondern auch eine Entscheidungspflicht21.

14  Merten, Demokratischer Rechtsstaat und Verfassungsgerichtsbarkeit, DVBl. 1980, 773 (779). 15  Siedler, Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1999, S. 62. 16  Schenke, Der Umfang der bundesverfassungsgerichtlichen Prüfung, NJW 1979, 1321 (1325); Schneider, Die Vollstreckungskompetenz nach § 35 BVerfGG, NJW 1994, 2590 (2593); wohl auch Bertrams, Verfassungsgerichtliche Grenzüberschrei­ tungen, in: Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 1027 (1035); Siedler, Gesetzgeber (Fn. 15), S. 61 ff.; Honsell, Wächter oder Herrscher – Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts zwi­ schen Recht und Politik, ZIP 2009, 1689 (1695). 17  Drossel, Das letzte Wort des Bundesverfassungsgerichts – Ein undemokratischer Mechanismus?, in: Elser/Baumann (Hrsg.), Das letzte Wort – Rechtsetzung und Rechtskontrolle in der Demokratie, 2014, S. 255 (272). 18  Schenke, Umfang (Fn. 16), NJW 1979, 1321 (1325). 19  Hesse, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Wahrnehmung grundrecht­ licher Schutzpflichten des Gesetzgebers, in: Däubler-Gmelin (Hrsg.), Gegenrede, Festschrift Mahrenholz, 1994, S. 541 (542). 20  Merten, Rechtsstaat (Fn. 14), DVBl. 1980, 773 (779). 21  Heusch, Verfassungsgerichtliche Gesetzeskontrolle, in: Kluth/Augsberg (Hrsg.), Gesetzgebung. Rechtsetzung durch Parlamente und Verwaltungen sowie ihre gericht­ liche Kontrolle, 2014, S. 909 (920).

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Teil 2: Das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz

2. Bewertung Die Anwendung des Judicial Self-Restraint führt zu der nicht zu unter­ schätzenden Gefahr, dass das Bundesverfassungsgericht den Begriff derge­ stalt interpretieren könnte, dass es auf verfassungswidrige Weise Kompeten­ zen unterschreitet. Dies könnte insbesondere dort, wo Grundrechte – deren Schutz eine der wichtigsten Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts ist – bedroht werden, zu problematischen Ergebnissen führen. Der Umfang der Figur bleibt zudem konturlos, was eine praktische Handhabung erschwert. Die Figur kann auch nicht verfassungsrechtlich hergeleitet werden. Der Ver­ weis auf die Gewalteinteilung und das Demokratieprinzip bleibt sehr pau­ schal und bietet keine normative Festlegung22. Voraussetzung für eine richterliche Zurückhaltung wäre zudem, dass dem Bundesverfassungsgericht ein Recht zustehen müsste, welches es nicht aus­ übt23. Eine solche Handhabung würde jedoch gegen rechtsstaatliche Grund­ sätze verstoßen. Das Bundesverfassungsgericht zieht das Recht zur Normen­ kontrolle nicht selbst an sich, sondern wird durch das Grundgesetz dazu er­ mächtigt24; nicht „das Gericht, sondern die Verfassung […] ist entweder zurückhaltend, oder deutlich greifend“25. Wird das Bundesverfassungsge­ richt nur dort tätig, wo es tätig werden soll, d. h. dort, wo die Verfassung ihm Funktionen zuweist, so ist es gerade nicht notwendig, sich dort zurückzuhal­ ten, sondern es hat vielmehr dort genau das zu tun, was die Verfassung ver­ langt. Eine grundgesetzliche und damit rechtliche Funktion für die Bundes­ verfassungsgerichtsbarkeit kann und darf dem Grundsatz des Judicial SelfRestraint damit nicht zukommen26. 22  Scholz, Karlsruhe im Zwielicht, in: Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 1201 (1207); Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, 2014, S. 508. 23  Stuttmann, Gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit und verfassungsrechtliche Kontrolle, 2014, S. 179. 24  Kessel, Die Kontrolldichte der Normenkontrolle in Skandinavien aus deutscher Sicht, 2011, S. 62; Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 505. 25  Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen. Be­ steuerung und Eigentum., VVDStRl 39 (1981), 99 (112). 26  So die ganze herrschende Meinung, siehe dazu nur Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Huber (Hrsg.), Recht als Prozess und Gefüge, 1981, S. 261 (264); Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, Der Staat 29 (1990), 1 (26); Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbar­ keit, 1992, S. 12; Scholz, Verfassungsgerichtsbarkeit im gewaltenteiligen Rechtsstaat, in: Karpen/Limbach (Hrsg.), Der Richter als Ersatzgesetzgeber, 23. Tagung der Deut­ schen Gesellschaft für Gesetzgebung (DGG) im Bundesverfassungsgericht in Karls­ ruhe, 2002, S. 15 (24); Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 268 Rn. 113.



B. Grenzen der Kontrollbefugnis 47

3. Recht zur Zurückhaltung Wenn keine Pflicht des Bundesverfassungsgerichts besteht, sich in richter­ licher Zurückhaltung zu üben, so ist zu fragen, ob das Bundesverfassungsge­ richt dennoch ein Recht hierzu hat. Dies wird (zumindest in Bezug auf die Ermittlung der Tatsachengrundlage und der damit in Zusammenhang stehen­ den Kontrolldichte) damit begründet, dass das Bundesverfassungsgericht keine Pflicht zur Sachverhaltsermittlung treffe und aus diesem Grund aus Opportunitätsgründen lediglich die Sachverhaltsermittlungen des Gesetzge­ bers zu Grunde legen und damit seine Kontrolldichte einschränken könne27. Dieser Auffassung ist jedoch kritisch entgegenzutreten. Auch das Recht, sich aus beliebigen Gründen aus Opportunitätsaspekten zur Mäßigung zu ermahnen, würde gerade das Recht des Einzelnen auf wirksamen Rechts­ schutz vor verfassungswidriges Recht verletzen28. Das Bundesverfassungs­ gericht versteht sich selbst als „Bürgergericht“29. Mit diesem Selbstver­ ständnis ist eine quasi willkürliche Einschränkung des Prüfungsumfanges nicht vereinbar. Das Bundesverfassungsgericht darf daher nicht selbst entscheiden, wo sein Prüfmaßstab beginnt und aufhört, der Maßstab orientiert sich vielmehr allein an der Verfassung. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht die Wahl, ob es den Gesetzgeber beanstandet, d. h. ob es die ihm eingeräumten Kompetenzen wahrnimmt oder nicht30. Das Bundesverfassungsgericht muss vielmehr überprüfen, ob sich die gesetzgeberische Entscheidung in den Maßstäben bewegt, die die unkonkrete Verfassung als zulässig erachtet. Wird eine Grenze überschritten, so muss das Bundesverfassungsgericht eingreifen. 4. Political Question Doctrine Eng verwandt mit der Frage nach der richterlichen Zurückhaltung ist die Political Question Doctrine des US-amerikanischen Supreme Courts. Vor dem Hintergrund, dass gerade verfassungsgerichtliche Entscheidungen im­ 27  Stuttmann,

Gestaltungsfreiheit (Fn. 23), S. 196. Grenzen (Fn. 26), S. 264; Austermann, Die rechtlichen Grenzen des Bundesverfassungsgerichts im Verhältnis zum Gesetzgeber, DÖV 2011, 267 (268); Bickenbach, Einschätzungsprärogative (Fn. 22), S. 508. 29  Vorwörter von Präsident Andreas Voßkuhle zu den Jahresstatistiken 2016 und 2014 des Bundesverfassungsgerichts, abrufbar unter https://www.bundesverfassungsge richt.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/2016/gb2016/vorwort.html (22.09.2020), https:// www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/2014/gb2014/vor wort.html (22.09.2020). 30  Heun, Schranken (Fn. 26), S. 12. 28  Hesse,

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Teil 2: Das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz

mer wieder von der Gefahr geprägt sind, dass diese zu politisch sind, hat der US-amerikanische Supreme Court die Political Question Doctrine entwickelt, die als Unterfall des Judicial Self-Restraint zu qualifizieren ist31. Ausgehend von der Ansicht, dass der Supreme Court in außenpolitischen Fragen lediglich die US-amerikanische Seite beurteilen kann, hat sich der Supreme Court zunächst insbesondere aus der Entscheidung von außenpoliti­ schen Fragen zurückgezogen32. Nach und nach wurde die Anwendung der Doctrine auch auf innenpolitische Fragen erweitert, so z. B. in Notstandsfra­ gen und Fragen des Wahlrechts33. Auch in diesen Entscheidungen seien politische Faktoren von solch großer Bedeutung, dass sie durch rechtliche Maßstäbe nicht entschieden werden können34. Die ganz herrschende Meinung lehnt die Übertragung der Political Question Doctrine auf die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit ab35. Die Doctrine gerät bereits in Konflikt mit der Rechtswegegarantie des Art. 19 Abs. 4 GG und der Entscheidungspflicht aus Art. 93 GG, der dem Bundesverfassungs­ gericht enumerativ bestimmte Verfahren zuordnet36. Danach steht es dem Bundesverfassungsgericht gerade nicht frei, ob es entscheidet oder nicht, sondern es muss entscheiden37. Die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit ist vielmehr darauf angelegt, auch gerade politische Fragen zu entscheiden – dies zeigt sich zum Beispiel auch an der Zuständigkeit im Organstreitverfah­ ren38.

31  Schenke, Umfang (Fn. 16), NJW 1979, 1321 (1325); Siedler, Gesetzgeber (Fn. 15), S. 68. 32  Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 55; Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Hand­ buch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1984, § 34 Rn. 11. 33  Gusy, Gesetzgeber (Fn. 32), S. 55. 34  Austermann, Grenzen (Fn. 28), DÖV 2011, 267 (268). 35  Böckenförde, Grundrechte (Fn. 26), Der Staat 29 (1990), 1 (26); Burmeister, Stellung (Fn. 10), S. 44; Benda, Wirklich Götterdämmerung in Karlsruhe?, NJW 1995, 2470 (2471); Siedler, Gesetzgeber (Fn. 15), S. 73; Heun, Normenkontrolle, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 615 (617); Starck, Das Bundesverfassungsgericht in der Verfassungsordnung und im politischen Prozess, in: ebd., S. 1 (9); Burchardt, Grenzen verfassungsgerichtlicher Erkenntnis, 2004, S. 62; Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: Isen­ see/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 268 Rn. 113. 36  Breuer, Legislative und administrative Prognoseentscheidungen, Der Staat 16 (1977), 21 (36). 37  Heun, Schranken (Fn. 26), S. 12. 38  Voßkuhle, Der Rechtsanwalt und das Bundesverfassungsgericht – Aktuelle He­ rausforderungen der Verfassungsrechtsprechung, NJW 2013, 1329 (1332).



B. Grenzen der Kontrollbefugnis 49

5. Bundesverfassungsgerichts-Rechtsprechung In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben diese Figu­ ren – zumindest in terminologischer Hinsicht – kaum Eingang gefunden. Der Begriff des Judicial Self-Restraint wurde bisher lediglich in der Entschei­ dung zum Grundlagenvertrag explizit verwandt. Das Gericht verpflichtete sich dort, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garan­ tierten politischen Gestaltungsfreiraum zu achten und sich richterlich zurück­ zuhalten39. Diese Entscheidung blieb die Ausnahme. Eine erneute Verwen­ dung des Begriffes erfolgte nicht. Zwar lassen sich wenige weitere Entschei­ dungen des Bundesverfassungsgerichts finden, in denen der Begriff des Judicial Self-Restraint diskutiert wird, dies jedoch entweder in der Begründung des Antragsstellers40, oder (häufig) in der abweichenden Meinung eines Richters41. Es wäre daher verfehlt, darauf abzustellen, dass sich das Gericht die Zurückhaltung zu Eigen gemacht hätte42, wenngleich es sicherlich rich­ tig ist, dass sich bestimmte Wendungen des Gerichts als eine Erinnerung zur Zurückhaltung verstehen lassen43. Betont das Gericht jedoch seine politische Zurückhaltung, so erfolgt der Verzicht nicht freiwillig, sondern es handelt dann lediglich im Rahmen seiner Kompetenz44.

II. Materiell-rechtliche und funktionell-rechtliche Grenzen Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit lassen sich damit nicht aus einer Selbstbeschränkung des Gerichts, sondern vielmehr nur aus der Be­ schränkung des Gerichts durch die Verfassung herleiten. Es stellt sich somit die Frage nach der Interpretation des Grundgesetzes. Dabei werden im We­

39  BVerfGE 36, 1 (Rn. 51) – Grundlagenvertrag (1973); bemerkenswert ist, dass gerade dieser Entscheidung ein Mangel an Selbstbeschränkung vorgeworfen wurde, vgl. Dopatka, Das Bundesverfassungsgericht und seine Umwelt, 1982, S. 165; Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfas­ sungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1984, § 34 Rn. 47. 40  BVerfGE 46, 160 (Rn. 9) – Schleyer (1977). 41  BVerfGE 39, 1 (222) – Schwangerschaftsabbruch I (1975); BVerfGE 93, 121 (Rn. 86)  – Vermögenssteuer (1995); BVerfGE 115, 320 (Rn. 185) – Rasterfahndung (2006); BVerfGE 125, 260 (Rn. 326) – Vorratsdatenspeicherung (2010). 42  So aber Schneider, Vollstreckungskompetenz (Fn. 16), NJW 1994, 2590 (2593); Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 271 Rn. 16. 43  Dazu Dopatka, Bundesverfassungsgericht (Fn. 39), S. 165. 44  Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 268 Rn. 110.

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sentlichen materiell-rechtliche und funktionell-rechtliche Ansätze der Verfas­ sungsinterpretation unterschieden45. Die materiell-rechtliche Betrachtung will in Rückgriff auf die klassischen Auslegungsregeln „sachliche Entscheidungsregeln“ entwickeln46 und stellt damit die reine Interpretation des Normtextes der Verfassung und der sich aus jenem ergebenden Dichte der Kontrollnorm in den Vordergrund. Die funktionell-rechtliche Betrachtungsweise47 grenzt die Zuständigkeiten zwi­ schen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber danach ab, welche Funk­ tionen den jeweiligen Organen im grundgesetzlichen Gefüge hinsichtlich der Organisation, Zusammensetzung, Verfahrensweise (Informationsgewinnung, Problemverarbeitung, Urteilsfindung) und Legitimation zukommen48, kurz­um nach einer „sachgemäßen Rollenverteilung zwischen den Staatsorganen“49. 1. Materiell-rechtliche Verfassungsinterpretation Der materiell-rechtliche Ansatz der Verfassungsinterpretation beschäftigt sich mit der Auslegung der Verfassung und der hieran anzusetzenden Krite­ rien. a) Auslegungskanon nach Savigny Die Auslegung von Rechtstexten erfolgt grundsätzlich anhand der vier klassischen Auslegungsmethoden von Savigny (Wortlaut, Systematik, histo­ risch, telelogisch). Diese finden ihren Niederschlag insbesondere in der fort­ währenden Auslegung des einfachen Rechts. Ist dieser Auslegungskanon für das einfache Recht weithin anerkannt, wird darauf hingewiesen, dass Verfas­ sungsauslegung jedoch etwas anderes als Gesetzesauslegung sei50. Die Ver­ 45  Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRl 20 (1963), 54 (102); Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980, S. 8; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 93 Rn. 37; Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 506. 46  Ehmke, Prinzipien (Fn. 45), VVDStRl 20 (1963), 54 (73). 47  Schuppert, Grenzen (Fn. 45), S. 1  ff.; grundlegend Hesse, Grenzen (Fn. 26), S.  261 ff. 48  Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, NJW 1980, 2103 (2104); Gusy, Gesetzgeber (Fn. 32), S. 92; Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), 630 (643); Austermann, Grenzen (Fn. 28), DÖV 2011, 267 (269). 49  Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 507. 50  Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, in: Jestaedt et al., Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 77 (141).



B. Grenzen der Kontrollbefugnis 51

fassung sei dem einfachen Gesetz übergeordnet und daher ausschließlich aus sich selbst heraus auszulegen51. Dies zeige sich auch daran, dass die SavignyKriterien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht ­erkennbar seien und daher kein fester Kanon der Auslegungsmethoden exis­ tieren würde52. Die überwiegende Auffassung will die klassischen Ausle­ gungsmethoden jedoch grundsätzlich auch bei der Verfassungsauslegung zur ­Anwendung bringen53 und sieht das Bundesverfassungsgericht hierzu als verpflichtet an, um die Unbestimmtheit gerade vieler Verfassungsbestimmun­ gen einzufangen54. Insbesondere die systematische Auslegung könne dabei helfen, die Grenzen der Verfassungsinterpretation zu präzisieren. Dem Ausle­ gungskanon der systematischen Auslegung seien insofern weitere spezielle Prinzipien der Verfassungsinterpretation, insbesondere die Einheit der Verfas­ sung sowie die Herstellung von praktischer Konkordanz zuzuordnen55. Nach der Auslegungsmaxime der Einheit der Verfassung ist eine einzelne Verfas­ sungsvorschrift nicht isoliert auszulegen, sondern stets nur in Zusammenhang mit den anderen verfassungsrechtlichen Regeln56, zum Beispiel in dem Sinne, dass verfassungsrechtliche Spezialnormen der generellen Verfassungsnorm vorgehen57. Treffend formuliert geht es „um die Notwendigkeit, die Verfas­ sung jeweils als einen in sich sinnvollen, zwar vielseitigen und keineswegs spannungslosen, aber doch immer auf die Einheit des politischen Gemeinwe­ sens gerichteten Ordnungszusammenhang zu interpretieren“58. Ebenso als 51  Gusy,

Gesetzgeber (Fn. 32), S. 94. Gesetzgeber (Fn. 15), S. 62. 53  Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, 1980, S. 17; Gusy, Gesetzgeber (Fn. 32), S. 94; Bertrams, Grenzüberschreitungen (Fn. 16), S. 1035; Herdegen, Verfassungsinterpretation als methodische Disziplin, JZ 2004, 873 (875); Sodan, Staat (Fn. 1), S. 51; Ossenbühl, Die Interpretation der Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1976, 2100 (2106); Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 271 Rn. 19; Kreuter-Kirchhof, Verfassungsgerichtsbarkeit im Dienst der Verfassung, ebd., § 272 Rn. 48. 54  Sodan, Staat (Fn. 1), S. 50; Heusch, Gesetzeskontrolle (Fn. 21), S. 920, 924; Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 271 Rn. 4 ff. weist darauf hin, dass die Verfassung in ihrer Gesamtheit sicher­ lich unbestimmter sei als die einfachen Gesetze, gleichwohl einige Verfassungsnor­ men durchaus bestimmter sein könnten als einfache Gesetze. 55  Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 271 Rn. 20. 56  Dazu Schenke, Umfang (Fn. 16), NJW 1979, 1321 (1323); Starck, Bundesverfas­ sungsgericht (Fn. 35), S. 19; Herdegen, Verfassungsinterpretation (Fn. 53), JZ 2004, 873 (876). 57  Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 271 Rn. 20. 58  Ehmke, Prinzipien (Fn. 45), VVDStRl 20 (1963), 54 (77). 52  Siedler,

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Teil 2: Das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz

Unterfall der systematischen59, anderer Auffassung nach als Bestandteil der teleologischen Auslegung60, wird die Auslegung danach, Grundrechten zu größtmöglicher Wirksamkeit zu verhelfen, mithin eine praktische Konkor­ danz herzustellen, verstanden. Dieses Prinzip könne aber nur dort Anwen­ dung finden, wo mehrere Grundrechte aufeinander treffen61. Dort, wo nur ein Grundrecht betroffen ist, müsste im Ergebnis – um größtmögliche Wirksam­ keit zu entfalten – jeder Eingriff verworfen werden oder nur ganz geringe Eingriffe als zulässig erachtet werden. b) Bewertung Die Verfassung ist als Rahmenordnung ausgestaltet und nimmt als solche einen sehr langen Geltungszeitraum in Blick. Allein dies führt zu einer beson­ deren Offenheit der Grundgesetznormen. Weiter ist zu berücksichtigen, dass bei der Verfassungsgebung durch den Parlamentarischen Rat, in denen zwei gleich starke politische Gruppierungen aufeinandertrafen, als auch bei einer Verfassungsänderung, die eine zwei Drittel Mehrheit erfordert, ein breiter Kompromiss gesucht werden musste bzw. gesucht werden muss, was ebenso zwangsläufig zu einer eher offenen Gestaltung des Normtextes führt62. Die klassischen Auslegungsmethoden mögen helfen, die Unbestimmtheit der Verfassungsnormen einzufangen, stoßen zugleich aber gerade aufgrund der Unbestimmtheit der Verfassungsnormen an ihre Grenzen63. Verfassungs­ normen folgen nicht dem klassischen Modell einer generellen, aber immerhin abschließenden Vorentscheidung, welche einen Obersatz liefert, unter dem sodann eine Subsumtion erforderlich wäre64: „Eine Verfassung ist kein Zivilgesetzbuch“65. Das dogmatische und theoretische Fundament der Ver­ 59  Dafür Starck, Bundesverfassungsgericht (Fn. 35), S. 19; Sodan, Staat (Fn. 1), S. 52.

Herdegen, Verfassungsinterpretation (Fn. 53), JZ 2004, 873 (875). Bundesverfassungsgericht (Fn. 35), S. 19. Zur konkreten Bedeutung der praktischen Konkordanz siehe unten unter Teil 4 D. II. 2. 62  Gusy, Gesetzgeber (Fn. 32), S. 94; Schenke, Umfang (Fn. 16), NJW 1979, 1321 (1322); Benda, Das Verhältnis von Parlament und Bundesverfassungsgericht, in: Thaysen (Hrsg.), US-Kongress und Deutscher Bundestag, 1988, S. 217 (222). 63  Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 299; Ossenbühl, Verfassungsgerichts­ barkeit und Gesetzgebung, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 75 (85); Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokra­ tie, 2003, S. 301; Roellecke, Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 67 Rn. 63. 64  Ossenbühl (Fn. 53), NJW 1976, 2100 (2105  f.); nach Darnstädt, Verschluss­ sache (Fn. 5), S. 21 war in der Gründerzeit nicht „Subsumtion“ Mehtode des Gerich­ tes, sondern „Intergration“ (Begriff von Smend). 65  Zweigert, Einige rechtsvergleichende und kritische Bemerkungen zur Verfas­ sungsgerichtsbarkeit, in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz: 60  Dafür

61  Starck,



B. Grenzen der Kontrollbefugnis 53

fassungsauslegung ist damit eher gering und die interpretatorische Beliebig­ keit hoch66. Selbst auf den ersten Blick sehr bestimmte Normen (wie Art. 22 GG: „Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold“), die als eindeutige „Verfassungs­ befehle“67 normiert sind und bei denen hinsichtlich der gestaltenden konkre­ ten Umsetzung daher auf den ersten Blick kein weiterer Spielraum zu beste­ hen scheint, weisen häufig noch einen Rahmencharakter auf: während der Gesetzgeber an „schwarz-rot-gold“ nicht vorbeikommt, gibt es keine Aus­ sage zur konkreten Anordnung der Farben. Die Auslegungsmethoden helfen in solchen Rahmenfragen meist nicht weiter. In den fließenden Grenzen von Auslegung und Fortbildung des Rechtes wird das Bundesverfassungsgericht vielmehr immer eine Methode finden, die zum gewünschten Ergebnis führt68. Damit kommt dem Bundesverfassungsgericht eine faktische Kompe­ tenz-Kompetenz und damit ein Auslegungsmonopol zu. Gleichzeitig wäre es falsch, aus diesem Grund, die Auslegung der Verfassung auf ein enges Textund historisches Verständnis der Verfassung herunterzubrechen. Die Verfas­ sung muss heute Fragen beantworten (Digitalisierung, EU, Globalisierung, Pluralisierung der Gesellschaft), die die Väter und Mütter des Grundgesetzes so noch nicht voraussehen konnten – hierzu muss sie sich verhalten, möchte sie ihre Integrationsfunktion nicht verlieren, sie „wird unweigerlich in die Zeit gezogen“69. Versteht man die Verfassung als solche Rahmenordnung, reicht es nicht aus, die Verfassung bloß auszulegen. Sie ist durch Gesetzgebung vielmehr zu konkretisieren als auch politisch zu gestalten. Der Frage nach dem Sinnge­ halt der Verfassungsnorm ist in diesen Gestaltungsfragen die Frage vorgela­ gert, in welchen Bereichen die Verfassung einer Auslegung überhaupt nicht zugänglich ist, weil nichts normativ vorausbestimmt ist70. Diese Spielräume können mit dem materiell-rechtlichen Ansatz nicht aufgedeckt werden. Es ist Festgabe aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. I, 1976, S. 63 (64). 66  Honsell, Wächter (Fn. 16), ZIP 2009, 1689 (1692). 67  Kirchhof, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 12), S. 17; eine ähnliche Differenzie­ rung auch bei Hesse, Kontrolle (Fn. 19), S. 542. 68  Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 48), NJW 1980, 2103 (2104); Ko­ rioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 506. 69  Voßkuhle, Verfassungsinterpretation und Verfassungswandel. Die Rolle des Bun­ desverfassungsgerichts, 2018, https://www.kas.de/documents/252038/3346186/Ver fassungsinterpretation+und+Verfassungswandel-Festvortrag+KAS+Berlin.pdf/2779c 5a1-f31e-2d45-e900-0ce4db789456?version=1.0&t=1543847127152, S.  19 f. 70  Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 271 Rn. 22; im Ergebnis auch Hofmann, Abwägung im Recht, 2008, S.  389 f.

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Teil 2: Das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz

damit nach weiteren Kriterien zu suchen, die helfen, die Reichweite des Rah­ mens und damit eben das, was nicht normativ vorbestimmt ist, zu bestimmen. 2. Funktionell-rechtliche Verfassungsinterpretation Die funktionell-rechtliche Vorgehensweise fragt danach, was der typischen Charakteristik eines legislativen bzw. judikativen Organs entspricht71. Die entsprechenden Organe der Gewalten dürfen nur im Rahmen dieser typischen Charakteristika tätig werden. a) Bundesverfassungsgericht und Gewaltenteilung Damit ist zunächst zu entscheiden, welche der Gewalten das Bundesver­ fassungsgericht zuzuordnen ist. Naheliegend ist, das Bundesverfassungsge­ richt als „Gericht“ und damit als Judikativorgan zu verstehen. aa) Bundesverfassungsgericht als vierte Gewalt oder Legislativorgan Aufgrund der besonderen Stellung des Bundesverfassungsgerichts auch im Vergleich zu anderen Gerichten wird die Ansicht vertreten, dass diese offen­ sichtliche Zuordnung zur Judikative nicht möglich sei und sich die Verfas­ sungsgerichtsbarkeit nicht in das normale Gewaltenteilungsschema einordnen ließe72. Insbesondere sei das Bundesverfassungsgericht nicht so sehr wie andere Gerichte auf juristische Argumente beschränkt und das Gericht könne die Folgen seiner Entscheidung nicht außer Acht lassen. Weiterhin sei das Gericht nicht an seine eigenen Entscheidungen gebunden, sondern könne diese korrigieren. Ebenso sei das Bundesverfassungsgericht schon dadurch nicht politisch neutral, dass es in einem besonderen „politischen“ Wahlver­ fahren (durch den Bundestag und Bundesrat) gewählt würde und die öffent­ lichen Diskussionen hierüber insbesondere die Richter in die Öffentlichkeit ziehe. Weiterhin würden Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht nicht gerichtsförmig ablaufen, sondern gestalteten sich als „parlamentarische Hea­ rings“. Schlussendlich würden dem Bundesverfassungsgericht im Gegensatz 71  Siedler, Gesetzgeber (Fn. 15), S. 15; Austermann, Grenzen (Fn. 28), DÖV 2011, 267 (269). 72  Roellecke, Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, in: Schäfer/Roellecke (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politi­ sche Führung, 1980, S. 24 (32); Roellecke, Aufgaben und Stellung des Bundesverfas­ sungsgerichts im Verfassungsgefüge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 67 Rn. 40.



B. Grenzen der Kontrollbefugnis 55

zu anderen Gerichten Vollstreckungsbefugnisse fehlen73. Darüber hinaus würde das Bundesverfassungsgericht nicht die Schädigung von Personen oder die Beeinträchtigung von Gütern, sondern die Verletzung abstrakter Verfassungsnormen prüfen. Auch die Rechtsfolgen seien „politisch“, da sie nicht in Schadenersatz oder Bestrafung bestünden, sondern in der Kassation von Gesetzen und dem Verlust von politischem Einfluss74. Dieser Ansatz überzeugt nicht. Das Bundesverfassungsgericht ist ebenso wie alle anderen Gerichte auf juristische (aus der Verfassung abgeleitete) Argumente beschränkt. Was die Verfassung konkret als Argument hergibt, ist gerade streitig und Gegenstand der nachfolgenden Erörterung. Es wäre je­ doch zirkelschlüssig, aus der streitigen Debatte hierüber zu schließen, dass das Gericht nicht der Judikative zugeordnet werden könne. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass nicht nur das Bundesverfassungsgericht seine eigenen Entscheidungen korrigiert. Auch bei den obersten Bundesgerichten ist regel­ mäßig festzustellen, dass es zu einer Änderung der Rechtsprechung kommt. Gleiches gilt für die Feststellung, dass die Rechtsfolgen unterschiedlich seien. Auch das ist keine Besonderheit des Bundesverfassungsgerichts: Das Zivilgericht kann ebenso wenig Verwaltungsakte kassieren wie das Verwal­ tungsgericht Freiheitsentzug als Strafmaßnahme anordnen kann. Andere Auffassungen wiederum wollen aus der Befugnis, Gesetze für nichtig zu erklären, in einem Umkehrschluss schließen, dass das Bundesver­ fassungsgericht negative Gesetzgebung betreibe und daher dritte Kammer der Legislative und damit Teil der der gesetzgebenden Gewalt sei75. Darüber hinaus wird der gesetzgeberische Status des Bundesverfassungsgerichts da­ mit begründet, dass die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts for­ mal zwar an Anträge gebunden seien, de facto durch die Masse der Verfahren und der vergleichsweise geringen Dichte der Verfassungsnormen aber jede politische Entscheidung auch vor dem Bundesverfassungsgericht diskutiert werden könne76. Die grundsätzliche Möglichkeit, dass alle Normen vor dem Bundesverfas­ sungsgericht überprüft werden können, führt jedoch nicht dazu, dass es kei­ nes Antrages an das Gericht mehr bedarf. Das Gericht darf sich nicht selbst ermächtigen, gesetzgeberische Entscheidungen zu prüfen. Bei der Entschei­ dung selbst entscheidet das Gericht zudem nicht politisch, weder „bundes73  Roellecke,

Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 72), S. 31 f. Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 72), S. 34. 75  Zuck, Das Bundesverfassungsgericht als Dritte Kammer, ZRP 1978, 189 (189); zum Begriff der negativen Gesetzgebung auch bei Starck, Bundesverfassungsgericht (Fn. 35), S. 9. 76  Zuck, Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge, DVBl. 1979, 383 (386). 74  Roellecke,

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Teil 2: Das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz

noch landesfreundlich, weder parlaments- noch regierungsfreundlich, weder staats- noch bürgerfreundlich, sondern allein rechtsfreundlich“77. Die Ge­ waltengliederung des Grundgesetzes begrenzt die Rechtsprechung des Bun­ desverfassungsgerichts in verfahrens- und organisationsrechtlicher Hinsicht, begrenzt aber nicht die Auslegung materieller Rechtsfragen78. Daher führt jede noch so absurde Auslegung des materiellen Rechts nicht dazu, dass das Gericht legislativ tätig wird79. Das Bundesverfassungsgericht betreibt somit keine Gesetzgebung. bb) Einordnung als Judikativorgan Daher ist und bleibt das, wo Gericht draufsteht, auch Gericht80. Das Bun­ desverfassungsgericht ist weder Gesetzgebung noch Zwischengewalt. Schließlich nennt es sich nicht nur Gericht, sondern wird im Grundgesetz auch unter dem Abschnitt „Rechtsprechung“ behandelt und auch im BVerfGG als „Gerichtshof“ (§ 1) bezeichnet81. Wie für alle anderen Gerichte finden auch auf das Bundesverfassungsgericht die charakteristischen Kriterien An­ wendung, dass es kein Initiativrecht hat, sondern vielmehr eingebunden ist in ein geordnetes gerichtsförmiges Verfahren82. Es wird nur auf Antrag tätig, entscheidet lediglich im Einzelfall und ist gesetzes- bzw. verfassungsgebun­ den, unabhängig und überparteilich83. Es ist lediglich dem besonderen An­ tragsgegenstand geschuldet, dass das Bundesverfassungsgericht auch in ma­ terielle Gesetzgebungsfragen eingreifen kann. Ein Vorrang der Legislative für solche materiellen Gesetzgebungsangelegenheiten kann auch nicht mit Verweis auf die Volkssouveränität und der unmittelbar demokratischen Wahl des Bundestages abgeleitet werden84. Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG verlangt inso­ 77  Merten,

78  Möllers,

Rechtsstaat (Fn. 14), DVBl. 1980, 773 (776). Dogmatik der grundgesetzlichen Gewaltengliederung, AöR 132 (2007),

493 (531 f.). 79  Möllers, Dogmatik (Fn. 78), AöR 132 (2007), 493 (532). 80  Merten, Rechtsstaat (Fn. 14), DVBl. 1980, 773 (776); Schlaich, Verfassungsge­ richtsbarkeit (Fn. 25), VVDStRl 39 (1981), 99 (113); Austermann, Grenzen (Fn. 28), DÖV 2011, 267 (269); Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 510; Kreuter-Kirchhof, Verfassungsgerichtsbarkeit im Dienst der Verfas­ sung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 272 675. 81  Häberle, Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: ders. (Hrsg.), Ver­ fassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 1 (8). 82  Siedler, Gesetzgeber (Fn. 15), S. 20; Möllers, Dogmatik (Fn. 78), AöR 132 (2007), 493 (532). 83  Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit – Strukturfragen, Organisation, Legiti­ mation, NJW 1999, 9 (11); Siedler, Gesetzgeber (Fn. 15), S. 37. 84  Gusy, Gesetzgeber (Fn. 32), S. 90; Benda, Verhältnis (Fn. 62), S. 220; Lange, Grund­ rechtsbindung (Fn. 13), S. 262; Bickenbach, Einschätzungsprärogative (Fn. 22), S. 512.



B. Grenzen der Kontrollbefugnis 57

fern nur, dass jede Staatsgewalt demokratisch legitimiert sein muss. Genau das ist das Bundesverfassungsgericht durch die Richterwahl über den Bun­ desrat und den Richterwahlausschuss des Bundestages sowie die Bindung an das Grundgesetz85. Die Organe bleiben damit den Gewalten eindeutig zugeordnet, das Prinzip der Gewaltenteilung wird jedoch durch Gewaltenüberschneidungen und -ver­ schränkungen durchbrochen86. Diese Überschneidungen und Verschränkun­ gen zeigen sich dabei insbesondere im Spannungsfeld zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der Normenkontrolle87. Die nega­ tive Gesetzgebungsfunktion ist mit der Stellung eines echten Gerichts verein­ bar88 – gleiches gilt sogar für die positiven Beiträge der verfassungskonfor­ men Auslegung, der Unvereinbarerklärung und Appellentscheidungen89. Das Bundeserfassungsgericht bleibt somit Teil der Judikative, steht aber in Bezug auf die Anwendung des Verfassungsrechts und damit in Bezug auf die Gültigkeit des einfachen Rechts auf einer Stufe mit der Legislative. Im Ge­ gensatz zur Gültigkeit bleibt die Schaffung des einfachen Rechts jedoch der Legislative zugeordnet. Hinsichtlich des Verfassungsrechts steht der Gesetz­ geber jedoch eindeutig über dem Verfassungsgericht, insofern dieser in den Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG jederzeit dem Verfassungsgericht neue Maß­ stäbe setzen kann90. b) Bundesverfassungsgericht und Politik Das Bundesverfassungsgericht ist damit ein rechtliches Organ, während die Gesetzgebung ein politisches Organ ist. Um die funktionell-rechtlichen Grenzen zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber zu bestimmen, könnte es somit helfen, eine Abgrenzung zwischen Politik und Recht vorzu­ nehmen. Die Frage, was grundsätzlich unter „Politik“ zu verstehen ist, ist 85  Gusy, Gesetzgeber (Fn. 32), S. 137; in diesem Sinne auch BVerfGE 49, 89 (Rn. 74) – Kalkar I (1978). 86  Statt vieler Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 75. 87  Als „wichtigste Abweichung“ von der strengen Gewaltenteilung bezeichnet Wittreck, Gewaltenteilung – Gewaltenverschränkung – Gewaltengliederung, La divi­ sión de poderes (5) 2009, S. 1 (5) das Parlamentarische Regierungssystem, in dem der Bundeskanzler regelmäßig auch Mitglied des Bundestages ist; in diesen Sinne auch Burchardt, Grenzen (Fn. 35), S. 31. 88  Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRl 5 (1929), 30 (56). 89  In diesem Sinne Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11.  Aufl. 2018 Rn. 529; zu diesen Rechtsfolgenanordnungen ausführlich siehe Teil 5. 90  Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 63), S. 269.

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Teil 2: Das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz

jedoch bereits kaum einer einheitlichen Definition zugänglich91. Definiert man Politik spezifisch in Abgrenzung zum „Recht“, so scheint eine ver­ meintlich einfache Grenzziehung möglich, besteht sie doch darin, dass recht­ liche Entscheidungen solche sind, die nach dem Recht ergehen und politische Entscheidungen solche sind, die um das Recht gehen92. Politik schafft Recht, die Justiz spricht Recht. Dass Recht damit das Produkt und Werkzeug des politischen Prozesses ist93, zeigt jedoch sogleich, dass zumindest eine zu­ sammenhanglose Trennung zwischen Recht und Politik prima facie gar nicht möglich ist – vielmehr besteht eine gegenseitige Wechselbeziehung. Selbst im Hinblick auf das einfache Gesetz wäre ein Gesetz nur dann los­ gelöst vom Politischen zu betrachten, wenn sich das Gesetz derart vom poli­ tischen Prozess abstrahieren würde, dass der Maßstab seiner Auslegung le­ diglich der Normtext wäre. Insofern ein Gesetz aber immer eine Willensäu­ ßerung des Gesetzgebers darstellt, kann diese Abstrahierung nur dann erfol­ gen, wenn sich aus dem Wortlaut der Norm der Wille des Gesetzgebers vollständig erschließen lassen könnte94. Der Gesetzgeber ist jedoch nicht in der Lage, alle denkbaren Konstellationen vorauszusehen, sodass es auch (zumeist) nicht sein Anspruch sein wird, diese mit einer Norm vollumfäng­ lich zu regeln. Daher fließt in die Auslegung einer Norm auch der Wille des Gesetzgebers ein. Die Trennung von Recht und Politik ist jedenfalls aber im Hinblick auf den Rechtsprechungsbereich des Bundesverfassungsgerichts, das Verfas­ sungsrecht, nicht durchführbar, da es einzige Aufgabe des Bundesverfas­ sungsgerichts ist, sich mit dem Verfassungsrecht zu beschäftigen, welches von Grunde auf bereits dadurch politisch ist, dass das Verfassungsrecht im Gegensatz zum einfachen Recht gerade nicht (nur) am Ende eines politischen Prozesses steht, sondern zugleich und insbesondere auch überhaupt erst die Voraussetzungen determiniert, in denen die Politik stattfinden kann95. Das Recht ist in diesem Fall nicht nur Ergebnis, sondern vielmehr auch Basis von Politik96. Verfassungsrecht ist somit stets politisch97, verfassungsrechtliche Entscheidungen wirken immer politisch98. 91  Isensee, Diskussionsbeitrag, in: Stern (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber, 1997, S. 39 (39); Burchardt, Grenzen (Fn. 35), S. 18. 92  Gusy, Gesetzgeber (Fn. 32), S. 44. 93  Gusy, Gesetzgeber (Fn. 32), S. 47; Burchardt, Grenzen (Fn. 35), S. 27. 94  Gusy, Gesetzgeber (Fn. 32), S. 48. 95  Steffani, Demokratischer Entscheidungsprozeß, in: Häberle (Hrsg.), Verfas­ sungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 374 (386); Gusy, Gesetzgeber (Fn. 32), S. 42; Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 83), NJW 1999, 9 (12). 96  Siedler, Gesetzgeber (Fn. 15), S. 8. 97  Schenke, Umfang (Fn. 16), NJW 1979, 1321 (1322); Schneider, Verfassungsge­ richtsbarkeit (Fn. 48), NJW 1980, 2103 (2104); Burmeister, Stellung (Fn. 10),



B. Grenzen der Kontrollbefugnis 59

Die Unterscheidung zwischen Recht und Politik vermag daher nicht die Grenzen zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber in funktionellrechtlicher Hinsicht zu begründen. Damit die „Gerichtsbarkeit über das Poli­ tische“ nicht umschlägt in eine „politische Gerichtsbarkeit“99, bedarf es an­ derer Kriterien, die dem Bundesverfassungsgericht Grenzen aufzeigen. c) Gerichts-Typik Die funktionell-rechtlichen Grenzen liegen vielmehr konkret in den typi­ schen, einem Gericht zugewiesenen Aufgaben. Während die Möglichkeiten der gesetzgebenden Organe zur Gesetzgebung grundsätzlich unbegrenzt sind, sie stets tätig werden können und dabei nur durch das Grundgesetz negativ limitiert werden, ist das Bundesverfassungsgericht durch das Grundgesetz erst positiv legitimiert100. In funktionell-rechtlicher Sicht muss sich das Bundesverfassungsgericht als Organ der Judikative darauf beschränken, lediglich auf Antrag tätig zu werden, lediglich retrospektiv kassatorische Entscheidungen zu treffen, die auf den jeweiligen Fall begrenzt sind und ohne Zweckmäßigkeitserwägungen auskommen101. Die Legislative hingegen ist mit einem Initiativrecht ausge­ stattet, soll die grundlegenden Fragen des Gemeinwesens entscheiden und ist darüber hinaus durch einen Aushandlungsprozess102 sowie die Öffentlichkeit und Offenheit des Gesetzgebungsprozesses geprägt103. Die Legislative hat – durch die Regierung – hohe „Wissens- und Kooperationsressourcen“104. Zu­ dem zeichnet sich die Legislative dadurch aus, dass sie wiedergewählt wer­ den kann (und will) und sich daher politisch verantwortlich zeichnen muss,

S.  42 ff.; Isensee, Diskussionsbeitrag (Fn. 91), S. 40; Grimm, Verfassungsgerichtsbar­ keit, 2021, S. 78. 98  Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Hand­ buch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1984, § 34 Rn. 46; Bertrams, Grenzüberschreitungen (Fn. 16), S. 1029. 99  Auf diesen Unterschied zwischen „Gerichtsbarkeit über das Politische“ und „politischer Gerichtsbarkeit“ weist Stern, Die Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Stern (Hrsg.), Staatsorgane, Staatsfunktionen, Finanz- und Haushaltsverfassung, Notstands­ verfassung, 1980, S. 933 (957) zutreffend hin. 100  Gusy, Gesetzgeber (Fn. 32), S. 138. 101  Austermann, Grenzen (Fn. 28), DÖV 2011, 267 (269); Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 512. 102  Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 97), S. 81. 103  Gusy, Gesetzgeber (Fn. 32), S. 97; Siedler, Gesetzgeber (Fn. 15), S. 16. 104  Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 97), S. 81.

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Teil 2: Das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz

Richter sind dagegen unabhängig105. Die Spielräume des Gesetzgebers erge­ ben sich damit nicht nur durch die Abgrenzung des Demokratie- zum Rechts­ staatsprinzip, sondern insbesondere aus der „methodologischen Trennung zwischen gesetzgeberischer Rechtsetzung und verfassungsgerichtlicher Rechtsanwendung“106. Auch sollen die funktionell-rechtlichen Grenzen in Bezugnahme darauf bestimmt werden, dass der Wille des Gesetzgebers als das am stärksten de­ mokratisch legitimierten Verfassungsorgan zu berücksichtigen sei107. Ein mit dieser unmittelbarsten demokratischen Rückkopplung einhergehender Vor­ rang für jedwede staatliche Entscheidung lässt sich dem Grundgesetz jedoch nicht entnehmen108. Denn auch das Verfassungsgericht ist demokratisch legi­ timiert109. Mit Verweis auf die unmittelbare demokratische Legitimation müsste man vielmehr jede Entscheidung des Gesetzgebers als die letztver­ bindliche Entscheidung bewerten, die Institution einer Verfassungsgerichts­ barkeit wäre obsolet110. Vielmehr unterliegt in einer repräsentativen Demo­ kratie auch das am vermeintlich stärksten legitimierte Organ einer genauso strengen Verfassungsbindung wie das Bundesverfassungsgericht111. Die hö­ here demokratische Legitimation bzw. „Volksnähe“ des Parlaments kann daher in einer repräsentativen Demokratie zumindest für sich allein kein ­ funktionell-rechtlicher Interpretationsmaßstab für die Bestimmung der Kom­ petenzen sein112.

III. Systematisierung der verfassungsgerichtlichen Prüfung Sowohl materiell-rechtliche als auch funktionell-rechtliche Ansätze der Verfassungsinterpretation haben ihre Berechtigung. Es erscheint bereits un­ 105  Schenke, Umfang (Fn. 16), NJW 1979, 1321 (1323); Doehring, Kontrolle (Fn. 10), S. 1067. 106  Hwang, Die Begründung der gesetzgeberischen Einschätzungsspielräume aus den Grenzen der verfassungsrechtlichen Rechtsanwendung, KritV 92 (2009), 31 (48). 107  Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Hand­ buch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1984, § 34 Rn. 55; Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 63), S. 276; Walter, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 93 (2017) Rn. 104. 108  Vogel, Bundesverfassungsgericht (Fn. 1), S. 111. 109  Schenke, Umfang (Fn. 16), NJW 1979, 1321 (1323). 110  Bickenbach, Einschätzungsprärogative (Fn. 22), S. 512. 111  Kelsen, Wesen (Fn. 88), VVDStRl 5 (1929), 30 (53); Bernd, Legislative Pro­ gnosen und Nachbesserungspflichten, 1989, S. 95; Bickenbach, Einschätzungspräro­ gative (Fn. 22), S. 512; Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 33 (34). 112  Merten, Rechtsstaat (Fn. 14), DVBl. 1980, 773 (776).



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klar, ob überhaupt eine Trennung dieser beiden Ansätze vorgenommen wer­ den kann. Die im Rahmen der jeweiligen Ansätze der Verfassungsinterpreta­ tion formulierten Prinzipien (wie die Einheit der Verfassung oder die verfas­ sungskonforme Auslegung) haben zudem sowohl eine materiell-rechtliche als auch eine funktionell-rechtliche Bedeutung113. Auch der Gedanke, dass die funktionell-rechtliche Methode ein Unterfall der systematischen Auslegung sei114, überzeugt. Das Bundesverfassungsgericht handhabt funktionell-recht­ liche und materiell-rechtliche Argumente im Rahmen eines „offenen Sys­ tems“ aus „Entscheidungsregeln, Argumentationsmustern, Rechtsfiguren und Prozeduren“ flexibel und einzelfallbezogen115, ohne dass es jedoch zu einem übersichtlichen und konsequenten System gekommen wäre. Nachfolgende Ausführungen sollen zur Herstellung einer solchen Konsistenz beitragen. Dabei helfen soll zunächst insbesondere eine Strukturierung des Überprü­ fungsprozesses der Normenkontrolle. Darüber hinaus ist im Folgenden zu diskutieren, inwiefern der Gedanke der Kontextualisierung der Bundesver­ fassungsgerichtsrechtsprechung fruchtbar gemacht werden kann, um Grenzen des Bundesverfassungsgerichts klarer herauszuarbeiten. 1. Strukturierung des Überprüfungsprozesses Die oben genannten Ansätze bleiben nicht nur abstrakt, sondern nehmen vielmehr auch den gesamten Prozess der verfassungsgerichtlichen Überprü­ fung eines Gesetzes in den Blick, anstatt detailliert einzelne Phasen der Überprüfung eines Gesetzes zu betrachten. Dadurch gehen wichtige Erkennt­ nisse und Differenzierungsaspekte, die helfen, das Spannungsfeld zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht bei der Gesetzesüberprüfung zu strukturieren, verloren. Sinnvoll ist es insofern zu unterteilen: Der verfassungsgerichtliche Über­ prüfungsprozess wird in dieser Arbeit einer dreigeteilten Betrachtung unter­ zogen. Einerseits wird untersucht, welche Spannungsfelder bei der Einleitung der Normenkontrolle bestehen116, ehe dargestellt wird, welche Spielräume der Gesetzgeber im konkreten Normenkontrollvorgang hat117. Abschließend sind Spielräume des Bundesverfassungsgerichts bei der Normenkontrollent­ 113  Ehmke, Prinzipien (Fn. 45), VVDStRl 20 (1963), 54 (102); Schuppert, Grenzen (Fn. 45), S. 9; für die Auslegung der Verfassung nach beiden Ansätzen auch in: 2014 Rn. 46. 114  In diesem Sinne Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 63), S. 303. 115  Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 93 Rn. 42. 116  Dazu Teil 3. 117  Dazu Teil 4.

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Teil 2: Das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz

scheidung zu betrachten118. Im Rahmen der Spannungsfelder im Abschnitt des konkreten Normenkontrollvorgangs ist es weiter möglich und sinnvoll, verschiedene Arten von Spielräumen, die der gesetzgeberischen Entschei­ dung zu Grunde liegen, auszumachen. Je nach Standpunkt des Überprüfungs­ prozesses können teilweise materiell-rechtliche und teilweise funktionellrechtliche Argumente fruchtbar gemacht werden. 2. Kontextualisierung und Maßstabsbildung 154 Bände mit jeweils ca. 400 Seiten umfasst allein die amtliche Samm­ lung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) – abge­ druckt sind hier freilich nur die von den Richtern des Gerichts als am Wich­ tigsten ausgewählten Entscheidungen. Hinzu kommen diverse weitere wich­ tige Entscheidungen u. a. auch der Kammern, mittlerweile zum Teil ver­ öffentlicht in der Entscheidungssammlung BVerfGK. Seit fast 70 Jahren entscheiden das Bundesverfassungsgericht und seine Richter (in nunmehr zum Teil schon achter Generation) über Verfassungsfragen. a) Kritik am Maßstäbeteil des Bundesverfassungsgerichts Es ist damit nicht verwunderlich, dass die Urteile nicht nur die Herausar­ beitung der Verfassungsdogmatik in der Rechtswissenschaft, sondern auch die nachfolgenden Urteile des Bundesverfassungsgerichts selbst prägen. Lep­ sius hat in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung eines „Maßstäbeteils“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hingewiesen. Neue Entscheidungen des Gerichts würden insbesondere deswegen entscheidend von den alten Entscheidungen geprägt, weil das Bundesverfassungsgericht seinen Urteilen und Beschlüssen, die eigentlich zum Zweck haben durch Subsumtion eine Entscheidung im konkret-individuellen Fall herbeizuführen, stets Maßstäbe voranstelle, die sich vom konkret- individuellen Teil lösen und sich abstrakt lehrbuchartig oder monographisch ausgestalten würden119. Hieraus wären sodann leicht allgemeine Aussagen ableitbar, die den nachfol­ genden Entscheidungen unabhängig vom jeweiligen Sacherhalt zu Grunde gelegt werden könnten. Damit arbeite das Gericht in der Tradition der deutschen Rechtswissen­ schaft, die seit jeher von einer starken Dogmatik geprägt sei und sich dabei 118  Dazu

Teil 5. Die maßstabsetzende Gewalt, in: Jestaedt et al., Das entgrenzte Ge­ richt. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 159 (200); so auch Weber, Der Begründungsstil von Conseil constitutionnel und Bundesverfassungsgericht, 2019, S. 62. 119  Lepsius,



B. Grenzen der Kontrollbefugnis 63

auf die Wirkung von abstrakt-generellen Normen fokussiere. Urteile und Beschlüsse werden im Kommentarwesen systematisiert und zumeist abstrakt und losgelöst von ihrem jeweiligen Kontext dargestellt120. Die „Sache folgt der Entscheidungsstruktur“ und nicht die „Entscheidungsbegründung der Sache“121. Eindrücklich zeige sich die abstrakte Denkweise auch dadurch, dass die eigentlich kontextabhängigen Urteile weit überwiegend – und so auch vom Bundesverfassungsgericht – kontextlos zitiert werden (d. h. ledig­ lich mit Verweis auf den Entscheidungsband und Seite), während es in ande­ ren Rechtsordnungen üblich sei, Entscheidungsname und Jahr mit zu zitie­ ren122. Das Bundesverfassungsgericht sei in den Maßstäben bestrebt die Rechts­ frage umfassend zu beantworten und gehe damit im Zweifel in der Darstel­ lung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe weit über die entscheidungserheb­ liche Frage hinaus123. Zitiert das Bundesverfassungsgericht sodann diese früheren Entscheidungen, so würde es – insbesondere im Gegensatz zu den Gerichten im Common Law – zumeist lediglich diesen Maßstabteil zitieren und die konkret-individuelle Entscheidung gerade nicht im Detail diskutie­ ren124. Die Bedeutung des Maßstäbeteils für die nachfolgende Rechtspre­ chung werde durch die verfassungswissenschaftliche Rezeption, die auch zumeist an diese Maßstäbe anknüpft, nochmals verschärft125. Die Verwissen­ schaftlichung der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen zeige sich auch daran, dass den Entscheidungen immer häufiger ein Inhaltsverzeichnis vorangestellt werde126. 120  Lepsius, Kontextualisierung als Aufgabe der Rechtswissenschaft, JZ 2019, 793 (795); ebenso Doering-Manteuffel, Richter und Richterinnen des Bundesverfassungs­ gerichts, in: Meinel (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bonner Republik, ­Aspekte einer Geschichte des Bundesverfassungsgerichts, 2019, S. 81 (81), der auch darauf hinweist, dass auch nicht bekannt ist, welcher Richter den Text verfasst hat. 121  Lepsius, Über die Notwendigkeit der Historisierung und Kontextualisierung für die Verfassungsdogmatik, in: Meinel (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bon­ ner Republik, Aspekte einer Geschichte des Bundesverfassungsgerichts, 2019, S. 119 (122). 122  Lepsius, Kontextualisierung (Fn. 120), JZ 2019, 793 (795). 123  Weber, Begründungsstil (Fn. 119), S. 62. 124  Hailbronner/Martini, The German Federal Constitutional Court, in: Jakab/­ Dyevre/Itzcovich (Hrsg.), Comparative constitutional reasoning, 2017, S. 356 (375). 125  Weber, Begründungsstil (Fn. 119), S. 134; dies sei insbesondere in den vergan­ genen Jahren festzustellen, vgl. Hailbronner/Martini, Court (Fn. 124), S. 378: „This rise might on the one hand be a late reaction to the increase of academic positions at university and in scholarly writings, and on the other hand to the fact that an increas­ ing number of Constitutional Court Justices have been recruited from academic ranks in recent years“. 126  Weber, Begründungsstil (Fn. 119), S. 147.

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Teil 2: Das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz

Kritisiert daran wird, dass die Maßstabsbildung zu einer Überinterpretation der Gerichtsentscheidungen führe127. Zudem würde der große Umfang des vom Bundesverfassungsgericht in Maßstäben niedergeschriebenen Verfas­ sungsrechts den Gesetzgeber politisch immer weiter einengen128. Das Gericht hätte sich zur maßstabsetzenden vierten Gewalt aufgeschwungen129, was dazu führen würde, dass der Stufenbau der Rechtsordnung – und damit auch der der Kompetenzordnung – nivelliert würde130. Das Bundesverfassungsge­ richt verabschiede sich mit seinem Maßstäbeteil von seiner Stellung als Ge­ richt131. Gerichtsurteile könnten insbesondere aufgrund der Tatsachen-Dimension von Urteilen jedoch nicht mit denselben Instrumenten behandelt werden wie Gesetze132. Urteile seien vielmehr stets im Rahmen des jeweiligen Kontextes zu interpretieren und auch nur so zu verstehen. Bereits das wichtige LüthUrteil (1958) sei nicht nachzuvollziehen ohne einerseits die spezifische Konkurrenz-Situation zwischen dem Bundesgerichtshof und dem „New­ comer“ Bundesverfassungsgericht sowie andererseits ohne den zeitgeschicht­ lichen Hintergrund, der noch stark vor Augen hatte, wie die Nationalsozialis­ ten Generalklauseln als Einfallstor für überpositive Rechtsvorstellungen ge­ nommen hatten133. Die im Lüth-Urteil aufgestellte Grundrechtstheorie atme damit „die Luft der fünfziger Jahre“134. In der Gegenwart würde diese anti­ nationalsozialistische Stoßrichtung gerade nicht mehr erkannt und die Formel von der „objektiven Wertordnung“ vielmehr kontextlos angewandt135. Die fehlende Kontextualisierung würde insbesondere dazu führen, dass bestimmte nur zu einem Gebiet entwickelte Leitsätze auch auf ein anderes Gebiet ange­ wandt werden, ohne dass hierzu eine Notwendigkeit bestünde136. Das Gericht habe lediglich die Kompetenz im konkreten Fall zur Entscheidung, jedoch nicht die Kompetenz zur generell-abstrakten Auslegung der Verfassung als

127  Schönberger, Höchstrichterliche Rechtsfindung und Auslegung gerichtlicher Entscheidungen, VVDStRl 71 (2012), 296 (322). 128  Lepsius, Gewalt (Fn. 119), S. 260. 129  Lepsius, Gewalt (Fn. 119), S. 168. 130  Lepsius, Gewalt (Fn. 119), S. 177 f. 131  Lepsius, Gewalt (Fn. 119), S. 180. 132  Lepsius, Notwendigkeit (Fn. 121), S. 126. 133  Lepsius, Gewalt (Fn. 119), S. 194 ff. 134  Lepsius, Gewalt (Fn. 119), S. 195. 135  Lepsius, Gewalt (Fn. 119), S. 197. 136  Lepsius, Kontextualisierung (Fn. 120), JZ 2019, 793 (798) nennt hier beispiel­ haft die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Folgerichtigkeit im Steu­ errecht, die auch auf Teile des Wirtschaftsrechts übertragen wurde, ohne dass hierfür eine Notwendigkeit oder Vergleichbarkeit der Situationen bestanden hätte.



B. Grenzen der Kontrollbefugnis 65

solcher137. Angemerkt wird auch, dass es dem Bundesverfassungsgericht nicht immer vollständig gelinge, im Subsumtionsteil an den Maßstäbeteil anzuknüpfen, sondern sich dieser immer häufiger vollkommen entkoppelt von der Subsumtion zeige138. Damit finde eine starke Verrechtlichung der Verfassungsnormen statt139, und das Gericht schaffe im Stufenbau der Rechtsordnung eine Zwischenebene, auf die nur das Gericht und nicht ein­ mal der verfassungsändernde Gesetzgeber Zugriff habe140. Denn: Während die Änderung einer demokratischen Entscheidung kein Problem darstelle, in ihr gerade keine „Korrektur eines Irrtums“ liege, sondern Ausdruck einer funktionierenden Institution sei, kann sich das Bundesverfassungsgericht ei­ nerseits aufgrund der Antragsgebundenheit nicht selbst korrigieren und ver­ löre andererseits durch das Eingestehen eines Rechtsirrtums seine Autori­ tät141. Die in dieser Weise dogmatisierte Verfassungsrechtsprechung könne auch als „Para-Verfassungsrecht“ beschrieben werden142. Die Verfassungsrechtsprechung sei daher zu kontextualisieren. Kontextua­ lisierung meint, Gerichtsentscheidungen nicht derart stark in einem abstraktgenerellen Ansatz zu interpretieren, sondern vielmehr als Einzelfall, der sei­ nen eigenen Sachverhalt, Beteiligte, Verfahrenskonstellation und Zeitum­ stände hat143. Zugespitzt formuliert könnte man sagen, dass der Kontextuali­ sierungsgedanke davon ausgeht, dass sich das Gericht nicht nur nicht als „Gesetzgeber“ betätigen dürfe, sondern auch ein Engagement als „Rechts­ wissenschaftler“ ausgeschlossen sei144. Kontextualisiertes Rechtsprechungs­ recht würde zu an Fallgruppen orientierten und damit differenzierteren Prü­ fungsmaßstäben führen145 und damit dazu, dass sich die vom Bundesverfas­ 137  Lepsius, Zur Bindungswirkung von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen, in: Scholz (Hrsg.), Realitätsprägung durch Verfassungsrecht. Kolloquium aus Anlass des 80. Geburtstages von Peter Lerche, 2008, S. 103 (104). 138  Dies stellt Weber, Begründungsstil (Fn. 119), S. 145 insbesondere in Bezug auf die bisher längsten Urteile des Bundesverfassungsgerichts, das NPD- und das KPDUrteil, fest; gleiches gilt zum Beispiel für die Entscheidung BVerfGE 36, 1 – Grundlagenvertrag (1973), siehe dazu Teil 3 C. IV. 1. b) aa) (1). 139  Weber, Begründungsstil (Fn. 119), S. 326. 140  Lepsius, Gewalt (Fn. 119), S. 178 f. 141  Lepsius, Rechtswissenschaft in der Demokratie, Der Staat 52 (2013), 157 (182). 142  Weber, Begründungsstil (Fn. 119), S. 147. 143  Schorkopf, Gesetzgebung durch Höchstgerichte und Parlamente, AöR 144 (2019), 202 (229). 144  In diesem Sinne versteht zumindest Hwang, Kontextualisierung statt Rechtsan­ wendung? Überlegungen zur aktuellen Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, Rechtstheorie 47 (2016), 165 (172) den Kontex­ tualisierungsgedanken. 145  Lepsius, Gewalt (Fn. 119), S. 259.

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Teil 2: Das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz

sungsgericht „normausfüllenden Zwischensätze“ nicht verselbstständigen146. Kontextualisierung kann damit einerseits dazu dienen, dem Bundesverfas­ sungsgericht Schranken aufzuzeigen und entspannt anderseits auch dadurch das Verhältnis zum Gesetzgeber als dass das Korrekturverlangen entfällt147. b) Notwendigkeit der Maßstabsbildung und Dogmatisierung Gegen diese Kritik an der Maßstabsbildung und Entkontextualisierung des Bundesverfassungsgerichts wird eingewandt, dass dem Bundesverfassungs­ gericht die grundsätzliche Kompetenz zur Individualisierung und Konkreti­ sierung der Verfassungsnorm zugewiesen und daher eine Maßstabsbildung und Dogmatisierung erforderlich sei, um den Einzelfall entscheiden zu kön­ nen148. Die trennscharfe Abgrenzung zwischen rechtsanwendender Konkreti­ sierung und maßstabsetzender Rechtserzeugung würde eine Abgrenzung zwischen Recht und Politik voraussetzen, die so nicht möglich sei149. Die verfassungsgerichtliche Rechtsanwendung könne weder auf die rein logischdeduktive Subsumtion noch auf die Erzeugung individueller Normen be­ schränkt werden150. Einer stärkeren Kontextualisierung wohne aufgrund der Abstraktheit des Gedankens sogar die Gefahr inne, dass dem Bundesverfas­ sungsgericht keine engeren Grenzen gezogen werden, sondern es sich viel­ mehr „im Wege einer einzelfallbezogenen judicial-law-making von der Ver­ fassungsbindung“ befreien kann151. c) Richtig verstandene Kontextualisierung Diesem ist zunächst einmal darin zuzustimmen, dass es juristischer und standardisierter Gutachten-Technik entspricht, Maßstäbe zu definieren, um diese dann auf einen konkreten Fall anzuwenden. Entscheidend ist jedoch, dass die Justiz die politischen Maßstäbe des Gesetzgebers und nicht seine eigene politische Wertauffassung zum Maßstab seiner Entscheidung macht. Vor diesem Hintergrund ist es richtig, eine stärkere – richtig verstandene – Kontextualisierung durch das Bundesverfassungsgericht anzumahnen. Der Kontextualisierungsgedanke darf jedoch nicht so verstanden werden, dass 146  Schönberger,

Rechtsfindung (Fn. 127), VVDStRl 71 (2012), 296 (322). Gesetzgebung (Fn. 143), AöR 144 (2019), 202 (230). 148  Hwang, Kontextualisierung (Fn. 144), Rechtstheorie 47 (2016), 165 (176 f.). 149  Hwang, Kontextualisierung (Fn. 144), Rechtstheorie 47 (2016), 165 (176). 150  Hwang, Kontextualisierung (Fn. 144), Rechtstheorie 47 (2016), 165 (180). 151  Hwang, Kontextualisierung (Fn. 144), Rechtstheorie 47 (2016), 165 (182); in diese Richtung auch Schlink, Abschied von der Dogmatik. Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, JZ 2007, 157 (161). 147  Schorkopf,



B. Grenzen der Kontrollbefugnis 67

das Bundesverfassungsgericht vollständig auf eine Maßstabsbildung verzich­ ten sollte. Vielmehr erkennen auch die Vertreter des Kontextualisierungsge­ danken an, dass es sich bei der Maßstabsbildung um eine „große methodische Errungenschaft“ des Gerichts handelt152. Die Maßstäbe sind nicht abzuschaf­ fen, sondern lediglich intensiver zu kontextualisieren, auch und gerade um die Fortentwicklung der Maßstäbe zu gewährleisten153. Anstatt erst in der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine kleinteilige Differenzierung vorzunehmen, sollte diese schon im Maßstab erfolgen – das würde zu mehr Transparenz und Berechenbarkeit der Entscheidungen führen154. Einer richtig verstandenen Kontextualisierung geht es nicht darum, Dog­ matik und Systematik und einen abstrakt-generellen Ansatz vollständig auf­ zugeben und die Norm nur noch ausschließlich vom individuellen Sachver­ halt her zu betrachten155, sondern vielmehr darum, bei einer Referenz auf eine vorangegangene Entscheidung den Kontext dieser Entscheidung mit zu beachten. Freilich bleibt der Kontextualisierungsgedanke an sich relativ pauschal und gibt in seiner Allgemeinheit zur Präzisierung der Grenzen der Verfas­ sungsgerichtsbarkeit wenig her156. Nichtsdestotrotz ist der Appell, Zitations­ ketten nicht um der Zitation Willens herzustellen, sondern sich vielmehr de­ zidiert mit der zitierten Entscheidung auseinanderzusetzen richtig und sinn­ voll. Auch diese Arbeit folgt diesem Vorschlag, in dem sie zum einen die Urteile in ihrem jeweiligen Kontext mit Namen und Jahresdatum zitiert und zum anderen versucht, aus bestimmten Zitationsketten Fallgruppen herauszu­ arbeiten157. Dann folgt aus dem Konkretisierungsgedanken tatsächlich eine Präzisierung der Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit.

152  Lepsius, Entscheiden durch Maßstabsbildung, in: van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2015, S. 119 (132). 153  Lepsius, Entscheiden (Fn. 152), S. 132. 154  Lepsius, Entscheiden (Fn. 152), S. 133. 155  So versteht Hwang, Kontextualisierung (Fn. 144), Rechtstheorie 47 (2016), 165 (179) aber den Gedanken der Kontextualisierung. 156  In diesem Sinne Hwang, Kontextualisierung (Fn. 144), Rechtstheorie 47 (2016), 165 (182). 157  Dies gilt insbesondere für das Mitbestimmungsurteil, welches eines der häu­ figsten durch das Bundesverfassungsgericht zitierten Urteile ist, siehe dazu Teil 4 C.

Teil 3

Spannungsfelder bei der Einleitung der Normenkontrolle Am Beginn der verfassungsgerichtlichen Prüfung steht die Frage, welche Normen – unabhängig von dem inhaltlichen Umfang der Normenkontrolle – überhaut überprüft werden können. Es ist danach zu fragen, ob sich bereits aus dem Antragsverfahren Grenzen des Gerichts ergeben. Zulässigkeitsfragen sind „institutionelle Grenzen“1 und damit bereits Gewaltenteilungs­fragen2.

1  Für diesen Begriff Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, NJW 1980, 2103 (2104). 2  Ausführlich dazu Knies, Auf den Weg in den „verfassungsgerichtlichen Jurisdik­ tionsstaat“?, in: Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 1155 (1162 ff.).



A. Art der Verfahren 69

A. Art der Verfahren Das Grundgesetz in Verbindung mit der einfachgesetzlichen Ausgestaltung im BVerfGG hat sich für zwei große Verfahren entschieden, in denen das „einfache“ Gesetz überprüft werden kann. Im Rahmen der abstrakten Nor­ menkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und 2a GG, §§ 76 ff. BVerfGG) wird es einem lediglich begrenzten Kreis von Antragstellern, die selbst eine Funktion im verfassungsrechtlichen Gefüge haben müssen, ermöglicht, Gesetze voll­ umfänglich überprüfen zu lassen. Das Bundesverfassungsgericht hat damit kein Initiativrecht zur Klärung verfassungsrechtlicher Fragen1, es ist nicht zur Rasterfahndung nach Verfassungsfehlern des Gesetzgebers berechtigt2. Im konkreten Fall der Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 80  ff. BVerfGG) sind hingegen nur die Fachgerichte antragsberechtigt, wenn diese mit der konkreten Anwendung des einfachen Gesetzes beschäftigt sind. Ha­ ben diese Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, dürfen sich die Fachgerichte nicht selbst über das gesetzgeberische Votum hinwegsetzen, sondern sind dazu angehalten, das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Darüber hinaus wird die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit von Geset­ zen aber auch bei der vor dem Bundesverfassungsgericht mit großem Ab­ stand3 am meisten vertretenen Verfahrensart, der Verfassungsbeschwerde, virulent. Dies gilt auch für die Urteilsverfassungsbeschwerden, die wiederum den größten Teil der Verfassungsbeschwerden ausmachen. Denn auch wenn sich die Beschwerde primär gegen die Rechtsprechung des Instanzgerichtes richtet, muss dort inzident geprüft werden, ob das Fachgericht die gesetzliche Grundlage, auf welche das Instanzgericht seine Entscheidung gestützt hat, verfassungsgemäß ist. Im Hinblick auf das Grundrecht des Art. 103 Abs. 1 GG ist es sogar möglich, vor dem Bundesverfassungsgericht zu rügen, dass das Fachgericht ein Gesetz nicht nach Art. 100 GG dem Bundesverfassungs­ gericht zur Entscheidung vorgelegt hat. Über diesen Umweg kann sich somit auch eine Verfassungsbeschwerde gegen die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes richten. Aber auch bei allen anderen Verfahrensarten vor dem Bundesverfassungs­ gericht wie dem Bund-Länder-Streit, dem Organstreitverfahren oder auch dem Wahlprüfungsverfahren oder dem Verfahren nach Art. 126 GG kann die

1  Sodan,

Staat und Verfassungsgerichtsbarkeit, 2010, S. 42. Der Richter als Ersatzgesetzgeber, NJW 2001, 2919 (2920). 3  Nach der Online-Statistik des Bundesverfassungsgerichts waren diese im Jahr 2018 5.678 von 5.959 Verfahren, mithin ca. 95 %, https://www.bundesverfassungsge richt.de/DE/Verfahren/Jahresstatistik-en/2018/gb2018/A-I-4.pdf?__blob=publication File&v=2 (22.9.2020). 2  Steiner,

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Teil 3: Spannungsfelder bei der Einleitung der Normenkontrolle

Frage nach der Verfassungsmäßigkeit eines Bundesgesetzes aktuell werden und dementsprechend von diesem zumindest inzident geprüft werden4. Damit kann sich das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich mit allen verfassungsrechtlichen Streitigkeiten befassen, der enumerative Katalog des Art. 93 GG weist praktisch keine Lücke auf5. Sorgen, dass unzulässige Spielräume für den Gesetzgeber respektive die Regierung in solchen Zeiten entstehen können, in denen eine Große Koalition im Bundestag besteht und die Oppositionsparteien nicht das Bundesverfassungsgericht anrufen kön­ nen6, dürften daher angesichts der Überprüfung von Gesetzen in der Ver­ fassungsbeschwerde sowie der neuerdings ohnehin politisch zersplitterten Parteienlandschaft und dem Umstand, dass die „Große Koalition“ nur noch dem Namen, aber nicht der tatsächlichen Größe nach „groß“ ist, unbeachtlich sein.

4  Heun, Normenkontrolle, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundes­ verfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 615 (618). 5  Wahl, Elemente der Verfassungsstaatlichkeit, JuS 2001, 1041 (1046); das Bun­ desverfassungsgericht selbst weist im Übrigen darauf hin, dass trotz der 6.000 Verfah­ ren, die das Gericht jedes Jahr erreichen würden, viele spannende Fragen in Karlsruhe gar nicht diskutiert würden, vgl. die Aussagen des ehemaligen Präsidenten Voßkuhle, Kritik am Verfassungsgericht: Karlsruhe Unlimited?, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 2.2020, S. 8. 6  In diesem Sinne Schäfer, Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politi­ sche Führung, in: Schäfer/Roellecke (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzge­ bung und politische Führung, 1980, S. 10 (14).



B. Umfang der Verfahren 71

B. Umfang der Verfahren Dem Gesetzgeber steht für alle Bereiche des staatlichen Lebens ein Initia­ tivrecht in Bezug auf gesetzgeberische Maßnahmen zu. Das Bundesverfas­ sungsgericht ist jedoch – wie gezeigt – ein Gericht. Für dieses gilt daher wie für alle anderen Gerichte: „Wo kein Kläger, da kein Richter“1. Die Mög­ lichkeit der Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht könnte somit nicht nur dadurch begrenzt sein, dass es nicht nur ausschließlich auf einen Antrag hin tätig werden kann, sondern auch durch die im Antrag gerügten Verfassungsverletzungen.

I. Prüfungsgegenstand Das Bundesverfassungsgericht hat sich darauf zu beschränken, lediglich die im Antrag angegebenen Rechte zu überprüfen. Lediglich solche Normen, die derart eng mit den übrigen Vorschriften verflochten sind, dass sie eine untrennbare Einheit bilden, könnten mit überprüft werden2. Eine bloße Abhängigkeit genügt nicht3. Damit sind bereits hierdurch die Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts eingeschränkt. Das Gericht hat keine Allzu­ ständigkeit – selbst bei einem evidenten Verfassungsverstoß kann das Gericht nicht ohne Antrag tätig werden4.

II. Prüfungsmaßstab 1. Grundrechts-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Während die strittige Norm in den Normenkontrollverfahren auf die Ver­ einbarkeit der Norm mit dem gesamten Verfassungsrecht hin überprüft wird, ist die Überprüfung der Norm in einer Verfassungsbeschwerde auf die Ver­ letzung von subjektiven Rechten des Beschwerdeführers beschränkt. Die Grundrechts-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat mittlerweile allerdings dazu geführt, dass auch im Verfassungsbeschwerdeverfahren die 1  Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Jestaedt et al., Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 159 (161). 2  Austermann, Die rechtlichen Grenzen des Bundesverfassungsgerichts im Verhält­ nis zum Gesetzgeber, DÖV 2011, 267 (270). 3  Austermann, Grenzen (Fn. 2), DÖV 2011, 267 (270). 4  Knies, Auf den Weg in den „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“?, in: Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Ge­ burtstag, 1997, S. 1155 (1160).

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Teil 3: Spannungsfelder bei der Einleitung der Normenkontrolle

gerügten Normen umfassend am Maßstab des gesamten Verfassungsrechtes gemessen werden5. Entscheidend hierfür war zunächst die Elfes-Entscheidung, in welcher das Bundesverfassungsgericht begründete, dass im Ergebnis jede staatliche Ent­ scheidung am Maßstab des Art. 2 Abs. 1 GG zu messen ist6 und damit jedes menschliche Handeln verfassungsrechtlichen Schutz genießt7. Darüber hin­ aus hat die Entscheidung deutlich gemacht, dass ein Verhalten nicht nur dann grundrechtskonform ist, wenn die Eingriffsgrundlage nicht gegen die Grund­ rechte verstößt, sondern zusätzlich auch alle sonstigen verfassungsrechtlichen Vorgaben eingehalten werden müssen8. Die Elfes-Entscheidung hat damit zu einer „Subjektivierung des objektiven Rechts“ geführt9 und damit auch dazu, dass die – hier zu Debatte stehenden – gesetzgeberischen Normen durch das Bundesverfassungsgericht auch bei einer Verfassungsbeschwerde umfassend überprüft werden können. Die Verfassungsbeschwerde ist damit praktisch eine Normenkontrolle des Bürgers geworden10. Zudem ist in diesem Zusammenhang die Lüth-Entscheidung11 als wesent­ liche Entscheidung12 zu nennen, die den Prüfungsmaßstab des Gerichts deut­ lich erweitert hat. In dieser Entscheidung machte das Bundesverfassungs­ gericht deutlich, dass den Grundrechten eine objektiv-rechtliche Dimension zukommt, sodass sich neben der Abwehrdimension aus den Grundrechten auch Drittwirkung und Schutzrechte ergeben13. Die Grundrechte entfalten 5  Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1992, S. 9; Brohm, Die Funktion des BVerfG – Oligarchie in der Demokratie?, NJW 2001, 1 (4); Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, in: Jestaedt et al., Das ent­ grenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 77 (120). 6  BVerfGE 6, 32 (Rn. 18) – Elfes (1957). 7  Britz, Das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, Jura 2015, 319 (320). 8  Jestaedt, Phänomen (Fn. 5), S. 120; Lepsius, Entscheiden durch Maßstabsbil­ dung, in: van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politi­ schen System, 2015, S. 119 (119 f.). 9  Lepsius, Gewalt (Fn. 1), S. 182. 10  Lepsius, Gewalt (Fn. 1), S. 187. 11  BVerfGE 7, 198 – Lüth (1958). 12  Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRl 61 (2002), 7 (9) bezeichnet die Lüth-Entscheidung anschaulich als „Urknall“ für die Expansion materieller Verfassungsgehalte; nach Lepsius, Gewalt (Fn. 1), S. 186 ist die Lüth-Entscheidung die „wahrscheinlich be­ rühmteste Entscheidung, die das Bundesverfassungsgericht je fällte“. 13  Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, Der Staat 29 (1990), 1 (8 ff.); Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, 2003, S. 285; Jestaedt, Phä­ nomen (Fn. 5), S. 93.



B. Umfang der Verfahren 73

damit ihre Wirkung nicht mehr nur im klassischen Staat-Bürger-Verhältnis, sondern sie wirken in alle gesellschaftlichen Lebensbereiche hinein14. Über den individuellen Grundrechtsschutz hinaus dient somit in diesem Zusam­ menhang auch die Verfassungsbeschwerde – wie die anderen Verfahrensar­ ten – dem Schutz des objektiven Verfassungsrechtes15. Die Lüth-Entschei­ dung hat damit zu einer „Objektivierung des subjektiven Rechts“ geführt16. Auch wenn sich das Lüth-Urteil ausdrücklich auf die Kontrolle der judikati­ ven Gewalt bezog, besteht Einigkeit, dass die objektive Wertordnung auch die hier interessierende Legislative bindet17. Je mehr das Verfassungsrecht auf andere Rechtsbereiche „ausstrahlt“, desto größer sind die Handlungs- und Entscheidungsoptionen des Bundesver­ fassungsgerichts. Gewinner der durch Elfes und Lüth vorgenommenen Aus­ weitung des Grundrechtsschutzes18 ist damit insbesondere das Bundesverfas­ sungsgericht, das auch im Rahmen der (häufigen) Verfassungsbeschwerde sämtliche gesetzgeberische Entscheidungen auf die Vereinbarkeit mit der Verfassung hin überprüfen kann19. 2. Kritik: Banalisierung der Grundrechte Bereits auf dieser der konkreten Prüfung der Norm vorgelagerten Ebene setzt die Kritik am Bundesverfassungsgericht an und es wird argumentiert, dass das Bundesverfassungsgericht an dieser Stelle die ihm gesetzten Gren­ zen überschreitet20: Die umfassende Zugriffsmöglichkeit des Bundesverfas­ sungsgerichts führe dazu, dass der Staat zu einem verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat werde21, es sei ein Tor zum „grenzenlosen Grundrechts­ 14  Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 13), S. 284; Böckenförde, Grundrechte (Fn. 13), Der Staat 29 (1990), 1 (7). 15  Häberle, Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: ders. (Hrsg.), Ver­ fassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 1 (14 f.). 16  Lepsius, Gewalt (Fn. 1), S. 186. 17  So Lepsius, Gewalt (Fn. 1), S. 197, der diese kontextlose Interpretation der Ent­ scheidung kritisch sieht. 18  Darüber hinaus schaffte das Lüth-Urteil auch insbesondere die Verpflichtung zur Güterabwägung und damit die Erkenntnis, dass unrichtige Abwägungen Grundrechts­ verletzungen begründen, siehe dazu Alexy, Verfassungsrecht (Fn. 12), VVDStRl 61 (2002), 7 (9 f.); dies ist jedoch eine Frage nach den materiell-rechtlichen Spielräumen bei der Normüberprüfung (siehe dazu Teil 4 D.). 19  Lepsius, Gewalt (Fn. 1), S. 185. 20  Knies, Weg (Fn. 4), S. 1172 ff.; Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 13), S. 284; Groß, Von der Kontrolle der Polizei zur Kontrolle des Gesetzgebers, DÖV 2006, 856 (856 f.). 21  Böckenförde, Grundrechte (Fn. 13), Der Staat 29 (1990), 1 (29); im Ergebnis zustimmend Leutheusser-Schnarrenberger, Und der Gesetzgeber behält das Heft doch

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Teil 3: Spannungsfelder bei der Einleitung der Normenkontrolle

himmel“ aufgestoßen22. Dies führe dazu, dass eine Abstufung zwischen ver­ fassungsrechtlich garantierten und nur einfachgesetzlich gewährleisteten Freiheiten nicht mehr stattfinde23, das Bundesverfassungsgericht betreibe eine unbegrenzte Auslegung24. Diese Auslegung überschreite die Grenze zur Verfassungskonkretisierung, das Gericht würde hierdurch rechtsschöpferisch tätig und es käme zu einer Angleichung zwischen parlamentarischer und verfassungsrechtlicher Rechtsbildung25. Je mehr Funktionen man den Grund­ rechten zuspreche, desto mehr würde der demokratische Prozess entwertet, weil es auf ihn nicht mehr ankäme26. Es läge nicht im Sinne des Grundgesetzgebers, dass jeder Freiheit eine verfassungsrelevante Gewährleistung zu entnehmen sei. Die Frage, ob das berühmte „Reiten im Walde“ in verfassungskonformer Weise eingeschränkt werden dürfe, sei keine fundamentale Frage, mit der sich das Bundesverfas­ sungsgericht beschäftigen sollte27. Die allgemeine Handlungsfreiheit solle daher auf ihre ursprüngliche Funktion zur Eröffnung der Klagebefugnis vor den Verwaltungsgerichten zurückgeführt werden28. Die Hauptursache für die Probleme bei der Gesetzesprüfung durch das Bundesverfassungsgericht liege zudem in der Ausdeutung der Grundrechte als objektive Wertentscheidungen29. Es sei nicht ersichtlich, warum der Ge­ setzgeber im gleichen Umfang an die objektiv-rechtlichen Dimensionen der Grundrechte gebunden sei, wie die vollziehende oder rechtsprechende Ge­ walt30. Jedenfalls habe das Zugestehen von Schutzrechten zur Folge, dass die Möglichkeit zur Überprüfung von Maßnahmen des Gesetzgebers nicht nur in der Hand!, in: Karpen/Limbach (Hrsg.), Der Richter als Ersatzgesetzgeber, 23. Ta­ gung der Deutschen Gesellschaft für Gesetzgebung (DGG) im Bundesverfassungsge­ richt in Karlsruhe, 2002, S. 39 (45 f.). 22  Knies, Weg (Fn. 4), S. 1173. 23  Scholz, Karlsruhe im Zwielicht, in: Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 1201 (1214). 24  Honsell, Wächter oder Herrscher – Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts zwischen Recht und Politik, ZIP 2009, 1689 (1693). 25  Böckenförde, Grundrechte (Fn. 13), Der Staat 29 (1990), 1 (24). 26  Böckenförde, Grundrechte (Fn. 13), Der Staat 29 (1990), 1 (30); Heun, Schran­ ken (Fn. 5), S. 66. 27  Scholz, Verfassungsgerichtsbarkeit im gewaltenteiligen Rechtsstaat, in: Karpen/ Limbach (Hrsg.), Der Richter als Ersatzgesetzgeber, 23. Tagung der Deutschen Ge­ sellschaft für Gesetzgebung (DGG) im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, 2002, S.  15 (21 f.); Honsell, Wächter (Fn. 24), ZIP 2009, 1689 (1693). 28  Groß, Kontrolle (Fn. 20), DÖV 2006, 856 (861). 29  Ossenbühl, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 75 (92). 30  Lepsius, Gewalt (Fn. 1), S. 197.



B. Umfang der Verfahren 75

ganz erheblich ausgeweitet werde, auch seien die Kriterien der Überprüfung deutlich unbestimmter und offener, als dies bei dem staatsgerichteten Ab­ wehranspruch der Fall sei31. Dadurch würden sich „prinzipiell unbegrenzte Gestaltungsspielräume“ des Bundesverfassungsgerichts eröffnen32. 3. Bewertung Es ist richtig, dass insbesondere die extensive Auslegung des Art. 2 Abs. 1 GG zunächst dazu führt, dass sich der Bürger im Hinblick auf jedes banale Verhalten auf die Grundrechte berufen kann und damit die Position des Ver­ fassungsgerichts im Verhältnis zum Gesetzgeber gestärkt wird, weil das Ge­ richt potentiell alle Maßnahmen und damit – zumindest inzident – alle Ge­ setze überprüfen kann. Ein Verzicht auf diese weite Auslegung sowie auf die objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimensionen würde jedoch in erheblichem Maße zu einer Einschränkung des Grundrechtsschutzes führen, der durch das Zugestehen einer objektiv-rechtlichen Dimension die notwendige Flexibili­ sierung erhält33. Zwar resultiert aus den Elfes- und Lüth-Entscheidungen, dass bei gesetzge­ berischen Maßnahmen die Eröffnung des Schutzbereiches der Grundrechte häufig unproblematisch festgestellt werden kann und ebenso häufig Eingriffe gegeben sind. Ein solcher Grundrechtseingriff bedeutet jedoch noch nicht, dass der Gesetzgeber Grundrechte auch tatsächlich verletzt hat, sodass das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber beanstanden dürfte. Vielmehr sind Eingriffe in Grundrechte zu dulden und daher auch nicht vom Bundesverfas­ sungsgericht zu beanstanden, wenn sie auf einer rechtmäßigen und insbeson­ dere verhältnismäßigen Grundlage beruhen – das wird bei banalen Eingriffen zumeist der Fall sein. Der bloße Zugriff des Bundesverfassungsgerichts auf die Normenkontrolle bedeutet somit noch nicht, dass das Bundesverfassungsgericht die inhaltlichen Maßstäbe für seine Entscheidungen selbst bestimmen könnte. Das Bundesver­ fassungsgericht kann zwar prinzipiell alle staatlichen gesetzgeberischen Ent­ scheidungen überprüfen. Damit einher geht jedoch nicht, dass das Bundes­ verfassungsgericht grenzenlos – gleichsam ohne verfassungsrecht­liche Be­ gründung – den Gesetzgeber auch nach der tatsächlich durchgeführten Prü­ fung beanstanden dürfte.

31  Böckenförde, Grundrechte (Fn. 13), Der Staat 29 (1990), 1 (9); Heun, Schranken (Fn. 5), S. 68; Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 13), S. 285. 32  Heun, Schranken (Fn. 5), S. 69. 33  Dazu auch Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 13), S. 406.

76

Teil 3: Spannungsfelder bei der Einleitung der Normenkontrolle

Insbesondere die Überzeugung, dass Grundrechten auch eine objektive Dimension zukommt – mit der Folge eines erweiterten Kontrollradius –, ist daher – trotz immer wiederkehrender punktueller Kritik – in Rechtswissen­ schaft sowie Rechtsprechung vergleichsweise fest – und richtigerweise – ver­ ankert34. Es ist richtig, dass dieses Grundrechtsverständnis die Gesetzeskontrolle erschwert und die Rechtsordnung verunsichert. Auch ist es zutreffend, dass damit die bundesverfassungsgerichtliche Prüfung der Verhältnismäßigkeits­ prüfung, die grundsätzlich eine Einzelfallentscheidung ist, zum neuralgi­ schen Punkt der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit wird und dass das Bundesverfassungsgericht aus diesem Grund erhebliche Entscheidungsfrei­ heit gewinnt. Das bloße Erschweren der Gesetzeskontrolle kann jedoch nicht dazu führen, dass die Effektivität des Grundrechtsschutzes, die zwei­ fellos durch die oben skizzierte Rechtsprechung erhöht wurde, eingeschränkt wird. Das Verfassungsrecht ist als das Recht, dass die „Grunderwartungen der Teilnehmer am politischen Prozeß sichern“ soll, universell, sodass das Gericht grundsätzlich alle Maßnahmen am Verfassungsrecht überprüfen kann35. Letztlich soll jede staatliche Entscheidung in das System der Ge­ waltenteilung, in das System der Checks und Balances eingebunden wer­ den. Alles andere würde zu einem verfassungsrechtlich nicht gewollten Überwiegen der gesetzgeberischen Entscheidungsfreiheit führen36. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts kann auf anderen – und ja, unter Umständen anspruchsvolleren und komplizierten – Wegen eingeschränkt wer­den. Damit steht nicht so sehr die Frage nach dem „Ob“, sondern vielmehr die Frage nach dem „Wie“ im Mittelpunkt der vorliegenden Diskussion: Das Bundesverfassungsgericht muss der Versuchung widerstehen, jedes einfache Recht verfassungsrechtlich zu erhöhen37. Es sind gegebenenfalls besondere Kriterien zu entwickeln, die diesen Spielräumen Rechnung tragen – beson­ dere Kriterien, die auch die Einzelfallentscheidung der verfassungsrecht-

34  Burmeister, Stellung und Funktion des Bundesverfassungsgerichts im System der Gewaltengliederung, in: Koenig (Hrsg.), Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit in Frankreich und in der Bundesrepublik Deutschland, 1985, S. 33 (34); Böckenförde, Grundrechte (Fn. 13), Der Staat 29 (1990), 1 (1); Limbach, Eröffnungsrede anlässlich der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Gesetzgebung, in: Karpen/Limbach (Hrsg.), Der Richter als Ersatzgesetzgeber, 23. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Gesetzgebung (DGG) im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, 2002, S. 11 (11). 35  Roellecke, Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfas­ sungsgefüge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 67 Rn. 45. 36  In diesem Sinne auch Brohm, Funktion (Fn. 5), NJW 2001, 1 (6). 37  Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber, 1997, S. 48.



B. Umfang der Verfahren 77

lichen Verhältnismäßigkeitsprüfung reglementieren können. Das „Wie“ der ver­fassungsgerichtlichen Prüfung wird daher im Nachfolgenden aufzuteilen sein in die Begrenzung des Gerichts im Normenkontrollvorgang an sich38 sowie der Begrenzung des Gerichts hinsichtlich der Normenkontrollentschei­ dung39.

38  Dazu 39  Dazu

Teil 4. Teil 5.

Teil 4

Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang: Spielräume des Gesetzgebers Damit ist festgestellt, dass prinzipiell jedes vom Gesetzgeber verabschie­ dete Gesetz im Verfassungsprozess umfassend überprüft werden kann. In ei­ nem nächsten Schritt hat das Bundesverfassungsgericht das ihm vorgelegte Gesetz konkret daraufhin zu überprüfen, ob dessen Regelungen gegen Vor­ schriften des Grundgesetzes verstoßen. Das Bundesverfassungsgericht ent­ scheidet dabei über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundes­ recht oder Landesrecht mit dem Grundgesetz. Das Grundgesetz gibt jedoch nicht für alle Bereiche des staatlichen Lebens eine genaue Regelung vor. Es verbleiben dem Gesetzgeber damit Spielräume1. Im nachfolgenden Ab­ schnitt soll es um eine Bestimmung dieser Spielräume gehen. Am Beginn steht die Frage, ob die Spielräume einer Systematisierung zuzuführen sind (dazu A.). Sodann wird die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungs­ gerichts auf die Verwendung von bestimmten Spielraum-Begriffen und eine ihr innewohnende Kohärenz untersucht (dazu B.). Schlussendlich wird ver­ sucht, anhand der eingangs aufgestellten Systematisierung Kriterien für die Spielräume in tatsächlich-prognostischer und materiell-rechtlicher Hinsicht zu finden (dazu C. und D.) – dabei wird insbesondere die unter Teil 4 B. besprochene aktuelle Rechtsprechung berücksichtigt.

1  Siehe

dazu schon Teil 2 B.



A. Systematisierung der Spielräume 79

A. Systematisierung der Spielräume I. Strukturelle und epistemische Spielräume Alexy schlägt vor, zwischen strukturellen und epistemischen Spielräumen zu unterscheiden1. Unter den strukturellen Spielräumen werden solche Fälle verstanden, in denen die Verfassung weder etwas gebietet noch verbie­ tet. Strukturelle Spielräume würden alles erfassen, was von der Verfassung freigestellt sei und somit die Bereiche, in denen die „definitive materielle Normativität der Verfassung endet“2. Epistemische Spielräume bestünden hingen dort, wo es eine Erkenntnisun­ sicherheit gibt3. Epistemische Spielräume werden noch einmal weiter un­ terteilt in empirische Erkenntnisspielräume sowie in normative Erkenntnis­ spielräume. Empirische Spielräume würden dort relevant werden, wo eindeu­ tige wissenschaftliche Erkenntnisse fehlen4. Normative Spielräume beste­ hen hingegen da, wo der materielle Inhalt der Verfassung unklar ist5, dort wo Grundrechtskollisionen durch Abwägung zu lösen sind6. Diese Unterscheidung ist unscharf. Sie ist teilweise zu weit und zu eng zugleich. Sie erfasst insbesondere nicht alle denkbaren Spielräume. Die Figur der strukturellen Spielräume, also solche, in denen die Verfassung weder et­ was gebietet noch verbietet, begegnet bereits grundsätzlichen Bedenken. Sie geht von der Grundannahme aus, dass die Prüfung eines einfachen Gesetzes anhand der Verfassung erst dann möglich ist, wenn die Verfassung überhaupt erst Vorschriften enthält, die auf das einfache Gesetz Anwendung finden. Sämtliche Spielräume sind jedoch bereits begriffslogisch von der Verfassung „freigestellte“ Bereiche, d. h. Bereiche, in denen der Gesetzgeber eine freie Entscheidung treffen kann, die gerade nicht vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig aufgehoben werden muss. Einen unbeschränkten freien Raum gibt es jedoch nicht, da es prinzipiell in allen Bereichen möglich ist, Verfassungsgrundsätze, insbesondere Grundrechte zu verletzten. Aus einer vermeintlichen Lücke in der Verfassung kann noch nicht ein grundsätzlich 1  Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRl 61 (2002), 7 (15 ff.); in diesem Sinne auch Klatt/ Schmidt, Spielräume im öffentlichen Recht, 2010, S. 5. 2  Alexy, Verfassungsrecht (Fn. 1), VVDStRl 61 (2002), 7 (16). 3  Alexy, Verfassungsrecht (Fn. 1), VVDStRl 61 (2002), 7 (27 ff.); in diesem Sinne auch Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, 2003, S. 437; Klatt/ Schmidt, Spielräume (Fn. 1), S. 5. 4  Alexy, Verfassungsrecht (Fn. 1), VVDStRl 61 (2002), 7 (27); Klatt/Schmidt, Spielräume (Fn. 1), S. 5. 5  Alexy, Verfassungsrecht (Fn. 1), VVDStRl 61 (2002), 7 (29). 6  Klatt/Schmidt, Spielräume (Fn. 1), S. 6.

80

Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

bestehender Spielraum hergeleitet werden. Vielmehr ist das Verfassungsrecht grundsätzlich lückenhaft – um möglichst viele Fälle abzudecken – und daher ist stets durch die oben genannten funktionell- und materiell-rechtlichen ­Ansätze zu ermitteln, ob dort, wo die Verfassung lückenhaft ist, diese dem Gesetzgeber einen eigenen Entscheidungsspielraum einräumen wollte und vor allem, wie weit dieser Spielraum reicht7. Zwar kann aus dem Regelungsbedürfnis für eine Norm nicht geschlossen werden, dass für diesen Regelungsbereich auch Verfassungsrecht gelten müsse8. Ebenso wenig ist es aber auch nicht vollständig ausgeschlossen, Normen anhand von Verfassungsrecht zu überprüfen, welches keinen explizi­ ten Niederschlag im Verfassungstext findet. Die Verfassung ist also dahinge­ hend auszulegen, ob sie einer bestimmten Gesetzgebung des Gesetzgebers Grenzen setzen möchte, oder ob Sie einen Bereich dem Gesetzgeber allein überantworten wollte. Grundsätzliche „rechtsfreie Politik“ gibt es damit nicht9. Zudem besteht bei der Abwägungsentscheidung des normativen Spiel­ raums keine Unsicherheit. Unsicher können gegebenenfalls tatsächliche Grundlagen sein, die der Abwägung zu Grunde liegen. Eine normative Be­ wertungsentscheidung, also die Abwägung, das in Ausgleichbringen von Grundrechtspositionen an sich, kann niemals unsicher sein – sie liegt entwe­ der im Spielraum des Gesetzgebers oder außerhalb dessen. Geht es hingegen nur um die Gewissheit der den Eingriff tragenden Prämissen sowie um die Sicherheit der Intensität des Eingriffs und nicht um die Abwägung an sich, so hätte dies zur Voraussetzung, dass man genaue Aussagen über den Gewiss­ heitsgrad treffen können müsste. Dies wird jedoch meist nicht möglich sein10. Der empirische Spielraum erfasst wiederum nicht alle tatsächlichen Spiel­ räume. Bei den tatsächlichen Spielräumen geht es nämlich nicht nur darum, ob es keine eindeutige wissenschaftliche Erkenntnis gibt, sondern auch um solche Fragen, die kraft Natur der Sache keiner eindeutigen Erkenntnis zu­ gänglich sind (Prognosen).

7  In diesem Sinne auch Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfas­ sungsgericht, 1985, S. 140. 8  Gusy, Gesetzgeber (Fn. 7), S. 141. 9  Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), 485 (500); Hwang, Das Bundesverfassungsgericht im Schnittpunkt zwischen Recht und Politik: Ein unlösba­ res Problem?, Rechtstheorie 46 (2015), 179 (190). 10  Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle, 2015, S. 93.



A. Systematisierung der Spielräume 81

II. Materiell-rechtliche und tatsächliche Spielräume Die Probleme mit dem soeben diskutierten Ansatz ergeben sich auch dar­ aus, dass nicht klar danach differenziert wird, an welchen Stellen der Gesetz­ geber mit Unsicherheiten arbeitet. Die meisten Gesetze werden geschaffen, um eine bestimmte gesellschaftliche Entwicklung zu steuern. Das Gesetz geht in diesen Fällen von bestimmten tatsächlichen Prämissen aus und möchte auf diese einwirken. Die verfassungsrechtliche Bewertung einer ge­ setzgeberischen Maßnahme hängt daher zunächst einmal einerseits davon ab, welche tatsächlichen Ausgangspunkte für das Gesetz ausschlaggebend waren und andererseits, welche konkreten Folgen ein Gesetz, das abstrakt-generelle Regelungen trifft, für diese abstrakte Vielfalt von Fällen konkret hat. Über diese Auswirkungen des Gesetzes ist eine Prognoseentscheidung zu treffen, da die Auswirkungen zumeist nur sehr schwer vollständig vorhersehbar sein werden11. Es ist eine tatsächliche Entscheidung zu treffen, hinsichtlich derer Spielräume des Gesetzgebers bestehen. Gleichzeitig soll ein Gesetz meist jedoch auch auf bestimmte Rechtsgüter des Einzelnen einwirken. Der Einzelne soll zum Handeln veranlasst werden oder die Handlung des anderen oder Staates dulden. Mit solchen Gesetzen ist eine Wertung über Rechtsgüter verbunden – das Gesetz soll auf be­ stimmte Rechtsgüter positiv einwirken und wirkt damit häufig auch auf an­ dere negativ ein. Hier ist eine materiell-rechtliche Abwägungsentscheidung zwischen Rechtsgütern zu treffen. Auch hier bestehen Spielräume des Ge­ setzgebers. Die Eingrenzung der Kontrolldichte hinsichtlich der ersten Frage, d. h. hinsichtlich Tatsachenfeststellungen und Prognosen, wird in der Literatur zwar häufig diskutiert12. Eine explizite Trennung zwischen solchen tatsäch­ lich-prognostischen Entscheidungsspielräumen auf der einen Seite und den zweitgenannten materiell-rechtlichen Gestaltungsspielräumen des Gesetzge­ bers im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen in rechtlicher Hinsicht auf der anderen Seite ist dagegen selten13 und bleibt sodann auch in 11  Lorenz, Die Kontrolle von Tatsachenentscheidungen und Prognoseentscheidun­ gen, insbesondere in den Neugliederungsverfahren, in: Starck/Stern (Hrsg.), Landes­ verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. III, 1983, S. 193 (203); Gusy, Gesetzgeber (Fn. 7), S. 173; Brunn, Prognosen mit rechtlicher Bedeutung, NJOZ 2014, 361 (362). 12  Philippi, Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts, 1971, S. 1 ff.; Lorenz, Kontrolle (Fn. 11), S. 203; Gusy, Gesetzgeber (Fn. 7), S. 173; Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane, 1988, S. 173; Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1992, S.  36  ff.; Brunn, Prognosen (Fn. 11), NJOZ 2014, 361 (362). 13  In dieser Klarheit insbesondere Britz, Das Verhältnis von Verfassungsgerichts­ barkeit und Gesetzgebung, Jura 2015, 319 (320), die jedoch sodann Kriterien zur

82

Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

ihren Folgen, d. h. der Frage danach, welche Kriterien zur Bestimmung der Spielräume heranzuziehen sind, nicht differenziert. Damit bietet es sich an, zunächst eine Trennung vorzunehmen zwischen den materiell-rechtlichen Spielräumen des Gesetzgebers im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen in rechtlicher Hinsicht sowie den tat­ sächlich-prognostischen Spielräumen. Während erstere Freiheiten die Wer­ tungsebene ansprechen, geht es bei den tatsächlichen Entscheidungsspiel­ räumen um die kognitive Ebene14. Diese Differenzierung zwischen materiellrechtlichen und tatsächlichen Spielräumen wird dieser Arbeit zu Grunde ge­ legt. Es wird zu zeigen sein, dass sowohl Rechtsprechung als auch Literatur diese Differenzierung allzu häufig vermissen lassen und es daher zu Vermi­ schungen in den jeweiligen Anforderungen an die Spielräume kommt15 – mit der Folge, dass Abgrenzungen zwischen Bundesverfassungsgericht und Ge­ setzgeber meist ungenau und vage bleiben. Im Hinblick auf die tatsächliche Ebene kann weiter unterschieden werden zwischen dem Spielraum bei der Feststellung der tatsächlichen Umstände und dem Beurteilungsspielraum für die Prognosen über zukünftige Entwick­ Bestimmung der Reichweite lediglich knapp sowie verallgemeinernd in Bezug auf beide Kategorien darstellt; auch Heun, Normenkontrolle, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 615 (630) macht deut­ lich, dass hinsichtlich des Kontrollgegenstandes zu unterscheiden sei zwischen den „der Norm zu Grunde liegenden Tatsachenfeststellungen und Prognosen des Gesetz­ gebers“ sowie „der Norm selbst“ und differenziert, dass die Norm selbst einer „un­ eingeschränkten Kontrolle“ unterliege, während das Bundesverfassungsgericht hin­ sichtlich der tatsächlichen Feststellungen die unterschiedlichen Weiten der Einschät­ zungsprärogative des Gesetzgebers zu achten habe; ähnlich auch Bräunig, Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in der Rechtsprechung des Bundesverfassungs­ gerichts zur deutschen Wiedervereinigung, 2010, S. 76, ohne jedoch dahingehende Differenzierungen deutlich zu machen, welche Maßstäbe für die Bestimmung des tatsächlichen und materiellen Spielraums gelten; ebenso Hillgruber, Ohne rechtes Maß?, JZ 2011, 861 (862), der zwischen dem „Prognose- und Beurteilungsspielraum“ und dem auf die normative Beurteilung der Angemessenheit bezogenen „Beurtei­ lungsspielraum“ unterscheidet; allgemein im Hinblick auf das Verhältnis von kontrol­ lierendem und kontrollierten Organ nimmt Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 159 eine in begrifflicher Hinsicht treffende Unterscheidung zwischen dem „recht­ lichen Gestaltungsspielraum“ und der „auf die Sachverhaltsermittlung bezogenen Einschätzungsprärogative“ vor, ohne jedoch inhaltlich (und insbesondere ohne auf die Bedeutung für das Gesetzgeber-Bundesverfassungsgerichts-Verhältnis einzugehen) weiter zu differenzieren. 14  Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 253. 15  Hier nur Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, NJW 1980, 2103 (2105), der erkennt, dass die Kriterien des Mitbestimmungsurteils für die Überprüfung von Prognosen gelten, sich sodann aber u. a. mit dem materiell-recht­ lichen Grundsatz der Abwägung von Rechtsgütern beschäftigt.



A. Systematisierung der Spielräume 83

lungen16. Die materiell-rechtlichen Spielräume beschreiben dagegen Abwä­ gungsentscheidungen. Diese sind regelmäßig bei allen gesetzgeberischen Vorhaben zu treffen. Im Hinblick auf die gesetzgeberischen Freiheiten bietet es sich an, die Spielräume danach zu differenzieren, ob der Gesetzgeber in Gleichheits- oder Freiheitsgrundrechte oder andere Rechte von Verfassungs­ rang eingreift. Einer gesonderten Betrachtung bedürfen zudem ausgestal­ tungsbedürftige Grundrechte, da die Ausgestaltung dieser Rechte prima facie nach dem Grundgesetz dem Gesetzgeber zustehen soll.

16  Breuer, Legislative und administrative Prognoseentscheidungen, Der Staat 16 (1977), 21 (23); Stuttmann, Gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit und verfassungs­ rechtliche Kontrolle, 2014, S. 31; Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Ge­ setzgebers, 2014, S. 134.

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

B. Spielräume und Freiheiten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Ehe in den nachfolgenden Kapiteln sowohl die tatsächlichen als auch ma­ teriell-rechtlichen Spielräume beschrieben und Kriterien für deren Bestim­ mung entwickelt werden, soll zunächst die Rechtsprechung des Bundesver­ fassungsgerichts auf ihren Umgang mit den Spielräumen des Gesetzgebers untersucht werden. Exemplarisch werden dazu zunächst die seit 2016 veröf­ fentlichten Entscheidungen des Gerichts ab Entscheidungsband Nr. 141 bis Nr. 153 in begrifflicher Hinsicht daraufhin überprüft, wie das Bundesverfas­ sungsgericht mit dem Begriff des Spielraums umgeht sowie inwiefern in diesen Entscheidungen eine Abgrenzung tatsächlich-prognostischer Spiel­ räume von materiell-rechtlichen Spielräumen erkennbar wird. In den Teilen 4 C. und 4 D. werden sodann Kriterien für die Bestimmung der Spielräume bestimmt und die aktuelle in 4 B. untersuchte Rechtsprechung in die jeweili­ gen Kategorien eingeordnet.

I. Verantwortungsbewusstsein des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht entscheidet über die Verfassungsgemäßheit eines Gesetzes, welches vom unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetz­ geber verabschiedet wurde. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist dabei letztverbindlich. Das Bundesverfassungsgericht trägt damit eine große Verantwortung und läuft – kontrolllos – Gefahr, die dem Gesetzgeber zustehenden Spielräume zu überschreiten. Dieser Gefahr und Verantwortung ist sich das Gericht im Grundsatz bewusst. Die in den Entscheidungssamm­ lungen BVerfGE 141–153 veröffentlichten Entscheidungen1 beschäftigen

1  Damit nimmt die nachfolgende Untersuchung den Zeitraum vom 15.12.2015 (BVerfGE 141, 1) bis zum 14.01.2020 (BVerfGE 153, 345) in den Blick. Der Ent­ scheidungsband 154 war zum letzten Bearbeitungszeitpunkt (Dezember 2020) noch nicht veröffentlicht. Soweit Entscheidungen aus den Jahren 2020 und 2021 bereits eine anderweitige Veröffentlichung erfahren haben und relevant für die in den nach­ folgenden Kapiteln vorzunehmende inhaltliche Untersuchung sind, werden sie dort dennoch behandelt. Für die in diesem Abschnitt vorgenommenen Erhebungen bleiben sie jedoch außer Betracht. Dies gilt hinsichtlich der statistischen Erfassung der ver­ schiedenen Begriffe auch für die Entscheidung zum Klimaschutz (BVerfG, Beschluss vom 24. März 2021 – 1 BvR 2656/18), anhand derer jedoch gleichwohl bereits in diesem Abschnitt die Inkonsequenz des Gerichtes bei der Verwendung der verschie­ denen Begriffe nachzuweisen ist, siehe dazu Teil 4 B. III. (Zusammenfassung) sowie für die Entscheidungen zur sog. Bundesnotbremse (BVerfG, Beschlüsse vom 19. No­ vember 2021 – 1 BvR 781/21 u. 1 BvR 971/21), in denen das Bundesverfassungsge­ richt gesetzgeberische Spielräume in erheblicher Anzahl hervorhob.



B. Spielräume und Freiheiten in der Rechtsprechung des BVerfG 85

sich in 51 von 107 Entscheidungen2 mit Verfahren, in denen gesetzgeberische Normen jedenfalls inzident geprüft wurden3. In 41 dieser Verfahren betonte das Bundesverfassungsgericht – in unterschiedlicher Ausprägung und unter Verwendung von unterschiedlichen Begriffen – einen Spielraum des Gesetz­ gebers. Lediglich in zehn Verfahren fehlt der Hinweis auf besondere Spielräume. Dazu zählt zunächst die Entscheidung „Richter auf Zeit“4, in der lediglich in der Zusammenfassung der Begründung der Regierung ausgeführt wurde, dass diese die Verfassungsgemäßheit des Gesetzes mit einem weiten Ein­ schätzungsspielraum begründen würde. In der verfassungsrechtlichen Würdi­ gung ging das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht auf Spielräume des Gesetzgebers ein. Hier standen mit Art. 97, 92 GG eher spezielle Vorschriften des Grundgesetzes zur Prüfung an. Das Gesetz wurde nicht aufgehoben – das Bundesverfassungsgericht musste einen Eingriff in einen möglichen gesetz­ geberischen Spielraum damit auch nicht rechtfertigen. Darüber hinaus fehlte der Hinweis insbesondere in Verfahren, in denen Eingriffe in die Freiheitsgrundrechte aus Artikel 12 Abs. 1 GG und Art. 2 GG zur Debatte standen. In der Entscheidung zu § 40 Abs. 1a LFGB „Staatliches Informationshandeln“ wurde diese Vorschrift für verfassungswidrig erklärt, ohne darauf einzugehen, dass dem Gesetzgeber ein Spielraum zukäme5. Gegenstand der grundrechtlichen Prüfung war die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG). Gleiches gilt für die Entscheidung „Sozietätsverbot“6. Auch dort erwähnte das Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung der Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG nicht aktiv einen Spielraum des Gesetzgebers. Weiter ist die Entscheidung „Drittes Geschlecht“7 in den Blick zu nehmen, in dem das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG zur De­ batte stand. Auch in dieser Entscheidung fehlte der Hinweis auf Spielräume und das Gesetz wurde für verfassungswidrig erklärt. Das Allgemeine Persön­ lichkeitsrecht stand auch in der Entscheidung zur automatisierten Kraftfahr­ zeugkennzeichenkontrolle in Baden-Württemberg und Hessen zur Debatte, in 2  In BVerfGE 142, 1–24 sind unter einem Aktenzeichen (2 BvB 1/13) insgesamt vier getrennte Entscheidungen zu den Besetzungsrügen im NPD-Verbotsverfahren ergangen. Hier werden sie als eine Entscheidung behandelt. 3  Zumeist lag ein Prüfungsschwerpunkt sodann auch in den Inzidentprüfungen; eine Ausnahme bildet hier insofern die Entscheidung BVerfGE 149, 160 (Rn. 119) – Vereinigungsverbot (2018), in der die Verfassungsmäßigkeit des § 3 Abs. 1 S. 1 V­ereinsG mit Verweis auf den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers in drei kurzen Rn. festgestellt werden konnte. 4  BVerfGE 148, 69 – Richter auf Zeit (2018). 5  BVerfGE 148, 40 – Staatliches Informationshandeln (2018). 6  BVerfGE 141, 82 – Sozietätsverbot (2016). 7  BVerfGE 147, 1 – Drittes Geschlecht (2017).

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

der der Hinweis auf einen besonderen Spielraum des Gesetzgebers fehlte und das Gesetz teilweise für verfassungswidrig erklärt wurde8. Ebenso wenig wird in der Entscheidung „medizinische Zwangsbehandlung“9 auf den Kon­ flikt zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht eingegangen. Ge­ prüft wurde am Maßstab des Art. 2 Abs. 2 GG. Die Regelung zur Zwangsbe­ handlung von psychisch Kranken erfülle nicht die besonderen verfassungs­ rechtlichen Anforderungen (bestimmte Verfahren seien nicht eingehalten, Anwendungsfälle nicht präzise genug). Das Gesetz wurde daher aufgehoben. Neben diesen freiheitsrechtlichen Entscheidungen sind zwei beamtenrecht­ liche Entscheidungen zum Besoldungsrecht (Art. 33 Abs. 5 GG) zu nennen, in denen die Erwähnung besonderer Spielräume des Gesetzgebers fehlt10. Schließlich gibt es zwei Entscheidungen, in denen kein Hinweis auf die Spielräume des Gesetzgebers erging, in denen das Gesetz lediglich formell verfassungswidrig zu Stande gekommen war11.

II. Differenzierungen Der bloße Befund, dass das Bundesverfassungsgericht in ca. 80 Prozent derjenigen Entscheidungen, die sich mit Normenkontrollen befassen (zumin­ dest im fraglichen Untersuchungsraum) auf bestimmte Spielräume eingeht, sagt noch nichts über die konkrete Bedeutung der Spielräume für die verfas­ sungsrechtliche Prüfung des Gerichts aus. Zunächst ist festzustellen, dass das Bundesverfassungsgericht zur Um­ schreibung dieser Spielräume verschiedene Begriffe verwendet. Bickenbach spricht davon, dass das Gericht eine „strukturelle und inhaltliche Differen­ zierung“12 erreicht hätte, Lepsius weist hingegen darauf hin, dass es zu einer „Dogmatik der dem Gesetzgeber zustehenden Einschätzung-, Beurteilungs-, und Prognosespielräume“ nicht gekommen sei13. Dies gilt es zu überprüfen.

8  BVerfGE

150, 309 – Kfz-Kennzeichenkontrolle BW-HE (2018). 146, 294 – medizinische Zwangsbehandlung (2017). 10  BVerfGE 152, 345 – Entfernung aus dem öffentlichen Dienst durch Verwal­ tungsakt (2020); BVerfGE 141, 56 – Bestenauslese (2016). 11  BVerfGE 150, 202 – Biersteuergesetz (2019); BVerfGE 150, 345 – Vermitt­ lungsausschuss (2019). 12  Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, 2014, S. 130. 13  Lepsius, Chancen und Grenzen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 1 (11). 9  BVerfGE



B. Spielräume und Freiheiten in der Rechtsprechung des BVerfG 87

1. Strukturelle und begriffliche Differenzierung Um eine existierende oder fehlende Struktur erkennbar zu machen, ist es zunächst notwendig, die verschiedenen Begriffe herauszuarbeiten und zu ordnen. In den 41 hier relevanten Verfahren der Gesetzeskontrolle aus den Bänden 141–153 verwendet das Bundesverfassungsgericht insgesamt 34 ver­ schiedene Begriffe zur Umschreibung des dem Gesetzgeber zukommenden Spielraums. Allein 23 dieser Begriffe enthalten das Wort Spielraum. Konkret nennt das Gericht neben dem bloßen Spielraum14 die Begriffe Ausgestaltungsspiel­ raum15, Beurteilungsspielraum16, Beurteilungs- und ­Gestaltungsspielraum17, Beurteilungs- und Prognosespielraum18, Bewertungsspielraum19, Einschät­ zungsspielraum20, Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum21, Einschät­ zungs- und Entscheidungsspielraum22, Einschätzungs- und Gestaltungsspiel­ 14  BVerfGE 152, 274 (Rn. 97) – Erstausbildungskosten (2019); BVerfGE 152, 68 (Rn. 121, 134, 166) – Sanktionen im Sozialrecht (2019); BVerfGE 151, 101 (Rn. 54) – Stiefkindadoption (2019); BVerfGE 149, 126 (Rn. 60) – sachgrundlose Befristung (2018); BVerfGE 151, 1 (Rn. 43) – Wahlrechtsausschluss (2019); BVerfGE 149, 222 (Rn. 71) – Rundfunkbeitrag (2018); BVerfGE 148, 147 (Rn. 98) – Einheitsbewertung Grundsteuer (2018); BVerfGE 147, 253 (Rn. 187) – NC Humanmedizin (2017); BVerfGE 146, 327 (Rn. 61, 63) – Eventualstimme (2017); BVerfGE 145, 106 (Rn. 101) – Verlustabzug nach schädlichem Beteiligungserwerb (2017); BVerfGE 142, 313 (Rn. 81) – ärztliche Zwangsbehandlung (2016); BVerfGE 141, 186 (Rn. 39) – Ab­ stammungserklärung (2016). 15  BVerfGE 152, 68 (Rn. 117) – Sanktionen im Sozialrecht (2019); BVerfGE 147, 253 (Rn. 126) – NC Humanmedizin (2017); BVerfGE 141, 186 (Rn. 69) – Abstam­ mungserklärung (2016); BVerfGE 141, 143 (Rn. 66) – Akkreditierung von Studiengän­ gen (2016). 16  BVerfGE 152, 68 (Rn. 184) – Sanktionen im Sozialrecht (2019). 17  BVerfGE 142, 268 (Rn.  64) – Bestellerprinzip (2016); BVerfGE 142, 74 (Rn. 72) – Sampling (2016); BVerfGE 149, 126 (Rn. 43) – sachgrundlose Befristung (2018). 18  BVerfGE 149, 126 (Rn. 50) – sachgrundlose Befristung (2018); BVerfGE 149, 86 (Rn. 94) – Hofabgabeklausel (2018); BVerfGE 146, 71 (Rn. 162) – Tarifeinheits­ gesetz (2017); BVerfGE 145, 20 (Rn. 153) – Spielhallenzulassung (2017); BVerfGE 141, 143 (Rn. 66) – Akkreditierung von Studiengängen (2016). 19  BVerfGE 151, 1 (Rn. 47) – Wahlrechtsausschluss (2019). 20  BVerfGE 152, 68 (Rn. 134, 144, 160, 166, 179, 180) – Sanktionen im Sozialrecht (2019); BVerfGE 149, 126 (Rn. 49) – sachgrundlose Befristung (2018); BVerfGE 149, 222 (Rn. 103) – Rundfunkbeitrag (2018); BVerfGE 146, 164 (Rn. 105) – Pflichtmit­ gliedschaft IHK (2017); BVerfGE 146, 71 (Rn. 159, 165) – Tarifeinheitsgesetz (2017); BVerfGE 141, 220 (Rn. 258) – BKA-Gesetz (2016). 21  BVerfGE 150, 1 (Rn. 213) – Zensus 2011 (2018); BVerfGE 152, 68 (Rn. 125) – Sanktionen im Sozialrecht (2019). 22  BVerfGE 152, 68 (Rn. 183) – Sanktionen im Sozialrecht (2019).

88

Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

raum23, Einschätzungs- und Prognosespielraum24, Einschätzungs- und Wer­ tungsspielraum25, Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum26, Entscheidungsspielraum27, Gestaltungsspielraum28, Gestaltungs- und Ent­ scheidungsspielraum29, Handlungsspielraum30, Prognosespielraum31, Rege­ lungsspielraum32, Spielraum politischen Ermessens33, politischer Spielraum34, politischer Gestaltungsspielraum35, Wertungsspielraum36. 23  BVerfGE

150, 1 (Rn. 173, 284) – Zensus 2011 (2018). 149, 1 (Rn. 45) – Hochschulkanzler auf Zeit (Brandenburg) (2018); BVerfGE 145, 20 (Rn. 137, 164) – Spielhallenzulassung (2017). 25  BVerfGE 143, 161 (Rn. 67) – Karfreitag als stiller Tag (2016). 26  BVerfGE 139, 293 (Rn. 74) – Fixierung PsychKG (2018); BVerfGE 142, 313 (Rn. 70) – ärztliche Zwangsbehandlung (2016); BVerfGE 141, 186 (Rn. 40) – Ab­ stammungserklärung (2016). 27  BVerfGE 152, 274 (Rn. 100) – Erstausbildungskosten (2019); BVerfGE 152, 68 (Rn. 121, 201, 224) – Sanktionen im Sozialrecht (2019); BVerfGE 149, 222 (Rn. 65) – Rundfunkbeitrag (2018); BVerfGE 148, 217 (Rn. 105) – Gewerbesteuerpflicht (2018); BVerfGE 148, 147 (Rn. 96) – Einheitsbewertung Grundsteuer (2018); BVerfGE 147, 186 (Rn. 82) – KiFöG-LSA (2017); BVerfGE 146, 164 (Rn. 88) – Pflichtmitgliedschaft IHK (2017); BVerfGE 145, 249 (Rn. 51) – Soldatenversorgung (2017); BVerfGE 145, 106 (Rn. 102) – Verlustabzug nach schädlichem Beteiligungserwerb (2017); BVerfGE 142, 353 (Rn. 83, 54) – Grundsicherung für Arbeitssuchende (2016). 28  BVerfGE 152, 68 (Rn. 121, 122, 186, 188, 196, 211) – Sanktionen im Sozial­ recht (2019); BVerfGE 150, 169 (Rn. 35, 39) – Besoldung bei begrenzter Dienstfä­ higkeit (2019); BVerfGE 149, 382 (Rn. 12, 31) – Eingangsbesoldung (2018); BVerfGE 149, 160 (Rn. 119) – Vereinigungsverbot (2018); BVerfGE 149, 1 (Rn. 65) – Hoch­ schulkanzler auf Zeit (Brandenburg) (2018); BVerfGE 149, 222 (Rn. 68) – Rundfunk­ beitrag (2018); BVerfGE 148, 217 (Rn. 115) – Gewerbesteuerpflicht (2018); BVerfGE 145, 304 (Rn. 75, 103) – Ostbesoldung Besoldungsangleichung (2017); BVerfGE 147, 186 (Rn. 88) – KiFöG-LSA (2017); BVerfGE 146, 71 (Rn. 157) – Tarifeinheits­ gesetz (2017); BVerfGE 145, 249 (Rn. 47, 82, 94) – Soldatenversorgung (2017); BVerfGE 145, 141 (Rn. 128) – Kernbrennstoffsteuer (2017); BVerfGE 145, 20 (Rn. 153) – Spielhallenzulassung (2017); BVerfGE 145, 1 (Rn. 27) – Wartefrist für Besoldungsanstieg (2017); BVerfGE 144, 369 (Rn. 66) – Rückmeldegebühr Branden­ burgisches Hochschulgesetz (2017); BVerfGE 143, 243 (Rn. 219, 252, 389) – Atom­ ausstieg (2016); BVerfGE 143, 216 (Rn. 21) – Telekommunikationsgesetz Entgelt­ regulierung (2016); BVerfGE 143, 161 (Rn. 62) – Karfreitag als stiller Tag (2016); BVerfGE 142, 353 (Rn. 38, 40) – Grundsicherung für Arbeitssuchende (2016); BVerfGE 142, 74 (Rn. 79) – Sampling (2016); BVerfGE 141, 220 (Rn. 133, 139) – BKA-Gesetz (2016). 29  BVerfGE 152, 68 (Rn. 168) – Sanktionen im Sozialrecht (2019); BVerfGE 150, 1 (Rn. 170, 171) – Zensus 2011 (2018). 30  BVerfGE 151, 1 (Rn. 59) – Wahlrechtsausschluss (2019); BVerfGE 146, 71 (Rn. 149) – Tarifeinheitsgesetz (2017); BVerfGE 145, 249 (Rn. 94) – Soldatenversor­ gung (2017). 31  BVerfGE 150, 1 (Rn. 174, 315) – Zensus 2011 (2018). 32  BVerfGE 145, 249 (Rn. 97) – Soldatenversorgung (2017); BVerfGE 141, 186 (Rn. 49) – Abstammungserklärung (2016). 24  BVerfGE



B. Spielräume und Freiheiten in der Rechtsprechung des BVerfG 89

Ein Synonym für den Spielraum ist laut Duden der Begriff Freiheit37. Das Bundesverfassungsgericht tut es dem Duden bei der Umschreibung gesetzge­ berischer Spielräume gleich und erkennt Gestaltungsfreiheiten38 und Hand­ lungsfreiheiten39 sowie die Freiheit des Gesetzgebers40 an. Darüber hinaus spricht das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber eine Ausgestaltungsbefugnis41 oder Gestaltungsbefugnis42 zu. Weitere Begriffe, mit denen das Bundesverfassungsgericht gesetzgeberische Freiheiten zu um­ schreiben versucht, sind die Einschätzungsprärogative43, das Ermessen44 bzw. Gestaltungsermessen45 oder der Einschätzungs- und Prognosevorrang46. Die Verteilungshäufigkeit der Begriffe in den Entscheidungen des Bundes­ verfassungsgerichts kann auch mit der Suchfunktion in der Online-Datenbank juris ermittelt werden. Diese Suchfunktion hat allerdings Schwächen, da die juris-Suchfunktion nicht die Bewertung dessen treffen kann, ob das Bundes­ 33  BVerfGE 149, 382 (Rn. 18) – Eingangsbesoldung (2018); BVerfGE 145, 304 (Rn. 85) – Ostbesoldung Besoldungsangleichung (2017); BVerfGE 145, 1 (Rn. 40) – Wartefrist für Besoldungsanstieg (2017). 34  BVerfGE 149, 126 (Rn. 61) – sachgrundlose Befristung (2018). 35  BVerfGE 146, 164 (Rn. 123) – Pflichtmitgliedschaft IHK (2017). 36  BVerfGE 141, 220 (abw. Meinung Rn. 3) – BKA-Gesetz (2016). 37  Online-Ausgabe des Duden, https://www.duden.de/synonyme/Spielraum (22.9. 2020). 38  BVerfGE 150, 244 (Rn. 146) – Kfz-Kennzeichenkontrollen BY (2019); BVerfGE 149, 382 (Rn. 18) – Eingangsbesoldung (2018); BVerfGE 149, 1 (Rn. 46) – Hoch­ schulkanzler auf Zeit (Brandenburg) (2018); BVerfGE 147, 253 (Rn. 123) – NC Hu­ manmedizin (2017); BVerfGE 147, 186 (Rn. 75) – KiFöG-LSA (2017); BVerfGE 145, 304 (Rn. 85) – Ostbesoldung Besoldungsangleichung (2017); BVerfGE 145, 141 (Rn. 64) – Kernbrennstoffsteuer (2017); BVerfGE 145, 249 (Rn. 97) – Soldatenver­ sorgung (2017); BVerfGE 143, 38 (Rn. 59) – Rindfleischetikettierung (2016); BVerfGE 141, 186 (Rn. 40) – Abstammungserklärung (2016). 39  BVerfGE 145, 249 (Rn. 93) – Soldatenversorgung (2017). 40  BVerfGE 141, 1 (Rn. 95) – Treaty Override (2015). 41  BVerfGE 146, 71 (Rn. 144) – Tarifeinheitsgesetz (2017). 42  BVerfGE 146, 71 (Rn. 4) – Tarifeinheitsgesetz (2017). 43  BVerfGE 152, 68 (Rn. 134, 166) – Sanktionen im Sozialrecht (2019); BVerfGE 147, 186 (Rn. 81) – KiFöG-LSA (2017); BVerfGE 146, 71 (Rn. 149) – Tarifeinheits­ gesetz (2017); BVerfGE 143, 243 (Rn. 275) – Atomausstieg (2016); BVerfGE 143, 216 (Rn. 71) – Telekommunikationsgesetz Entgeltregulierung (2016); BVerfGE 141, 220 (abw. Meinung Rn. 3) – BKA-Gesetz (2016); BVerfGE 141, 121 (Rn. 54) – In­ solvenzverwalterbestellung (2016). 44  BVerfGE 149, 1 (Rn. 46) – Hochschulkanzler auf Zeit (Brandenburg) (2018); BVerfGE 146, 327 (Rn. 60) – Eventualstimme (2017); BVerfGE 146, 164 (Rn. 88) – Pflichtmitgliedschaft IHK (2017). 45  BVerfGE 147, 253 (Rn. 122, 219) – NC Humanmedizin (2017). 46  BVerfGE 145, 20 (Rn. 149) – Spielhallenzulassung (2017).

90

Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

verfassungsgericht Spielräume des Gesetzgebers im Verhältnis zum Bundes­ verfassungsgericht oder andere Spielräume (z. B. der Behörde oder des Ge­ setzgebers im Verhältnis zu den europäischen Institutionen) meint und zudem nicht dahingehend differenziert, ob der Begriff in der Entscheidung des Ge­ richts oder möglicherweise nur in den Begründungen der Antragsteller ge­ nannt wird. Weiter listet juris nicht nur die in den Entscheidungssammlungen veröffentlichten Entscheidungen, sondern auch alle anderen Entscheidungen auf. Nichtsdestotrotz bietet es sich an, die Ergebnisse der Datenbank mit der Auswertung der Entscheidungen in BVerfGE 141–153 zu vergleichen. Tabelle 1 Begriffe in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In der Spalte „Anteil“ wird der prozentuale Anteil der Treffer des jeweiligen Begriffs in den Bänden 141–153 an den nach juris ermittelten Gesamterwähnungen beschrieben. Begriff

1 2 3 5 6 7 8 9

Gestaltungsspielraum Spielraum Gestaltungsfreiheit Entscheidungsspielraum Einschätzungsprärogative Einschätzungsspielraum Beurteilungs- und Prognosespielraum Ausgestaltungsspielraum Ermessen

Handlungsspielraum Einschätzungs- Wertungsund Gestaltungsspielraum Spielraum politischen Ermessens

Häufigkeit in den Entscheidungen BVerfGE 141–153

Häufigkeit in der Entscheidungsdatenbank juris

Anteil

21 12 10 10 7 6 5

817 Treffer (ab 1958) 748 Treffer (ab 1952) 866 Treffer (ab 1957) 361 Treffer (ab 1966) 187 Treffer (ab 1979) 167 Treffer (ab 1979) 36 Treffer (ab 1995)

2,6 % 1,6 % 1,2 % 2,8 % 3,7 % 3,6 % 14,3 %

4 3

23,5 % 0,2 %

3 3

17 Treffer (ab 2007) 1.399 Treffer (ab 1951), hierunter fällt auch (sehr häufig) das Ermessen der Verwaltung, der Begriff „Ermessen des Gesetzge­ bers“ kommt auf 130 Treffer 86 Treffer (ab 1973) 36 Treffer (ab 1987)

3

24 Treffer (ab 1995)

12,5 %

3,5 % 3,5 %



B. Spielräume und Freiheiten in der Rechtsprechung des BVerfG 91 Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum 14 Einschätzungs- und Prognosespielraum Regelungsspielraum Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum Gestaltungs- und Entschei­ dungsspielraum 18 Handlungsfreiheit

3

11 Treffer (ab 1973)

27,3 %

2

37 Treffer (ab 1989)

5,4 %

2 2

29 Treffer (ab 1972) 24 Treffer (ab 1983)

6,9 % 8,3 %

2

4 Treffer (ab 2012)

50,0 %

1

0,1 %

Freiheit des Gesetzgebers Beurteilungsspielraum Gestaltungsbefugnis Prognosespielraum Politischer Spielraum

1 1 1 1 1

Gestaltungsermessen Politischer Gestaltungs­ spielraum

1 1

Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum Ausgestaltungsbefugnis Wertungsspielraum Einschätzungs- und Prognosevorrang Bewertungsspielraum Einschätzungs- und Entscheidungsspielraum Einschätzungs- und Wertungsspielraum

1

1.016 Treffer (ab 1952), hierunter fällt z. B. auch die Handlungsfreiheit des Menschen 406 Treffer (ab 1953) 315 Treffer (ab 1958) 96 Treffer (ab 1971) 76 Treffer (ab 1978) 54 Treffer (ab 1977), darunter jedoch nur 3 Treffer für den „politi­ schen Spielraum“, ansons­ ten insb. auch „sozialpoli­ tischer Gestaltungspiel­ raum“, „politischer Beurteilungsspielraum“, „außenpolitischer Spiel­ raum“ 33 Treffer (ab 1962) 29 Treffer (ab 1983), zumeist jedoch als „sozialpolitischer Gestaltungspielraum“ 27 Treffer (ab 1995)

1 1 1

22 Treffer (ab 1984) 21 Treffer (ab 1979) 21 Treffer (ab 1987)

4,5 % 4,8 % 4,8 %

1 1

19 Treffer (ab 1976) 5 Treffer (ab 1992)

5,3 % 20,0 %

1

4 Treffer (ab 1979)

25,0 %

0,2 % 0,3 % 1,0 % 1,3 % 1,9 %

3,0 % 3,4 %

3,7 %

92

Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Die in den aktuellen Entscheidungen am häufigsten genannten Begriffe Gestaltungsspielraum, Gestaltungsfreiheit und Spielraum sind auch in der juris-Suche am häufigsten zu finden und wurden allesamt bereits in früher Bundesverfassungsgerichtsrechtsprechung verwendet. Noch häufiger sind le­ diglich die Begriffe des Ermessens und der Handlungsfreiheit. Während ers­ terer sich aber zumeist auf das Ermessen der Verwaltung bezieht, ist mit zweiterem meist die Handlungsfreiheit des Einzelnen und nicht diejenige des Gesetzgebers gemeint. Mit diesen Begriffen beschreibt das Gericht damit regelmäßig nicht den Spielraum des Gesetzgebers. Auffällig ist, dass der in früher Rechtsprechung häufig verwendete Begriff Beurteilungsspielraum in den vergangenen Jahren in BVerfGE 141–153 nur noch einmal verwendet (0,3 % der Gesamterwähnungen) wurde. Besondere Beachtung verdient auch der Begriff des Ausgestaltungsspielraums, der in den vergangenen Jahren immerhin vier Mal Erwähnung fand. In der Ent­ scheidungsdatenbank stehen jedoch erst 17 Treffer zu Buche. 23,5 % der Er­ wähnungen fallen damit in die Bände BVerfGE 141–153. Erstmals erwähnt wurde der Begriff erst in einer Entscheidung im Jahr 2007. Hier handelt es sich somit um einen relativ neuen Begriff. Gleiches gilt für den Beurteilungsund Prognosespielraum, der in der untersuchten Rechtsprechung fünf Mal erwähnt wurde und in der juris-Suche lediglich auf 36 Treffer ab 1995 kommt (Anteil von 14,3 %). 2. Inhaltliche Differenzierung Das Gericht differenziert damit nach verschiedenen Begriffen. Welche Bedeutung der Differenzierung tatsächlich beizumessen ist, ergibt sich erst aus einer inhaltlichen Betrachtung der verschiedenen Begriffe. a) Begriffliches Vorverständnis Eine inhaltliche Differenzierung der Begriffe setzt ein gewisses Vorver­ ständnis dessen voraus, über was das Bundesverfassungsgericht zu entschei­ den hat und wo Konfliktfelder mit dem Gesetzgeber bestehen. Die vorlie­ gende Arbeit hat sich für die inhaltliche Differenzierung zwischen materiellrechtlichen und tatsächlich-prognostischen Spielräumen entschieden47. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird daher insbesondere vor diesem Hintergrund untersucht.

47  Siehe

dazu Teil 4 A. II.



B. Spielräume und Freiheiten in der Rechtsprechung des BVerfG 93

b) Inhaltlicher Gehalt der Begriffe aa) Spielräume Zunächst sind die 23 verschiedenen Arten der Spielräume in den Blick zu nehmen. Mit Abstand am häufigsten wird der Begriff Gestaltungsspielraum verwendet (in 21 Entscheidungen), gefolgt vom allgemeinen Begriff Spiel­ raum (in zwölf Entscheidungen). In zehn Entscheidungen spielt der Begriff Entscheidungsspielraum eine Rolle. Einschätzungsspielräume werden in sechs Entscheidungen diskutiert und der Beurteilungs- und Prognosespiel­ raum in fünf Entscheidungen. Der Ausgestaltungsspielraum wiederum wird in vier Entscheidungen erwähnt. Der Handlungsspielraum, der Einschät­ zungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum, der Spielraum politischen Er­ messens sowie der Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum haben dagegen in drei Entscheidungen Platz. In zwei Entscheidungen genannt werden je der Regelungsspielraum, der Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum, der Ein­ schätzungs- und Prognosespielraum sowie der Gestaltungs- und Entschei­ dungsspielraum. Alle anderen Spielräume beschränken sich auf eine einzige Entscheidung. (1) Gestaltungsspielraum Mit weitem Abstand am häufigsten verwendet das Bundesverfassungsge­ richt den Begriff Gestaltungsspielraum. Insgesamt in 21 Entscheidungen be­ schreibt das Gericht damit überwiegend materiell-rechtliche Spielräume, vereinzelt jedoch auch Prognosespielräume48. Auf ein bestimmtes Grundrecht ist die Diskussion um den Gestaltungsspielraum nicht beschränkt. Häufig ist das Gleichheitsgrundrecht des Art. 3 GG betroffen49, jedoch ebenso Frei­ heitsgrundrechte wie Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG50, Art. 5 Abs. 3 GG51, Art. 9 Abs. 3 GG52, Art. 10 Abs. 1 und 13 Abs. 1GG53, Art. 12 Abs. 1 48  BVerfGE 145, 20 (Rn. 153) – Spielhallenzulassung (2017); BVerfGE 142, 353 (Rn. 38) – Grundsicherung für Arbeitssuchende (2016). 49  BVerfGE 149, 222 (Rn. 68) – Rundfunkbeitrag (2018); BVerfGE 148, 217 (Rn. 115) – Gewerbesteuerpflicht (2018); BVerfGE 145, 304 (75) – Ostbesoldung Besoldungsangleichung (2017); BVerfGE 145, 1 (Rn. 127) – Wartefrist für Besol­ dungsanstieg (2017); BVerfGE 144, 369 (Rn. 166) – Rückmeldegebühr Brandenbur­ gisches Hochschulgesetz (2017). 50  BVerfGE 142, 353 (38,40) – Grundsicherung für Arbeitssuchende (2016). 51  BVerfGE 149, 1 (Rn. 65) – Hochschulkanzler auf Zeit (Brandenburg) (2018). 52  BVerfGE 146, 71 (Rn. 157) – Tarifeinheitsgesetz (2017); BVerfGE 149, 160 (Rn. 119) – Vereinigungsverbot (2018). 53  BVerfGE 141, 220 (Rn. 133, 139) – BKA-Gesetz (2016).

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

GG54, Art. 14 Abs. 1 GG55, sowie Art. 19 Abs. 4 GG56. Aber auch im Rah­ men des Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG57 und Art. 105 Abs. 1 GG58 sowie Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG59 oder Art. 33 Abs. 5 GG60 wurde der Ge­ staltungsspielraum des Gesetzgebers diskutiert. In der überwiegenden Anzahl von Fällen nennt das Gericht keinen kon­ kreten Maßstab hinsichtlich der Weite des Gestaltungsspielraums. Unge­ wöhnlich war daher die Formulierung eines „beträchtlichen“61 Gestaltungs­ spielraumes. Ansonsten überwiegt die Festlegung eines „weiten“62 Maßsta­ bes, wobei von Interesse ist, dass der Gesetzgeber in den beiden in der Fundstelle zuletzt genannten Fällen trotz der Einschätzung, dass der Gesetz­ geber einen weiten Spielraum habe, die Gesetze beanstandete. Insgesamt verwendet das Gericht den Begriff Gestaltungsspielraum jedoch sowohl dann, wenn es den Gesetzgeber einschränkt, als auch in den Fällen, in denen ein Gesetz nicht beanstandet wird. Von seinem Wortsinn umschreibt der Gestaltungsspielraum eine Band­ breite, innerhalb derer man etwas gestalten kann. Das Bundesverfassungsge­ richt benutzt diesen Begriff daher richtigerweise überwiegend im Rahmen des materiellen Spielraums, Tatsachen und Prognosen können dagegen nicht „gestaltet“ werden. Die Verwendung im Rahmen von tatsächlichen bzw. prog­nostischen Spielräumen irritiert damit und zeigt bereits die erste Unstim­ migkeit in der Rechtsprechung des Gerichts auf. Eine Besonderheit erfährt der Begriff Gestaltungsspielraum in der Ent­ scheidung zur Pflichtmitgliedschaft in der IHK. Dort wird von einem „poli­

54  BVerfGE 145, 20 (Rn. 153) – Spielhallenzulassung (2017); BVerfGE 143, 161 (Rn. 62) – Karfreitag als stiller Tag (2016); BVerfGE 142, 74 (Rn. 79) – Sampling (2016). 55  BVerfGE 145, 249 (Rn. 47, 82, 94) – Soldatenversorgung (2017); BVerfGE 143, 243 (Rn. 19, 252, 389) – Atomausstieg (2016). 56  BVerfGE 143, 216 (Rn. 21) – Telekommunikationsgesetz Entgeltregulierung (2016). 57  BVerfGE 147, 186 (Rn. 88) – KiFöG-LSA (2017). 58  BVerfGE 145, 141 (Rn. 128) – Kernbrennstoffsteuer (2017). 59  BVerfGE 152, 68 (Rn. 121, 122, 186, 188, 196, 211) – Sanktionen im Sozial­ recht (2019). 60  BVerfGE 150, 169 (Rn. 35, 39) – Besoldung bei begrenzter Dienstfähigkeit (2019); BVerfGE 149, 382 (Rn. 12, 31) – Eingangsbesoldung (2018). 61  BVerfGE 143, 216 (Rn. 21) – Telekommunikationsgesetz Entgeltregulierung (2016). 62  BVerfGE 149, 382 (Rn. 12) – Eingangsbesoldung (2018); BVerfGE 143, 243 (Rn. 219) – Atomausstieg (2016); BVerfGE 145, 141 (Rn. 128) – Kernbrennstoffsteuer (2017); BVerfGE 145, 304 (75) – Ostbesoldung Besoldungsangleichung (2017).



B. Spielräume und Freiheiten in der Rechtsprechung des BVerfG 95

tischen Gestaltungsspielraum“63 gesprochen, den der Gesetzgeber bei der Abwägung mit dem Demokratieprinzip zu beachten habe. Dieser Begriff beschreibt gut, was unter dem materiellen Spielraum zu verstehen ist: die politische Entscheidung des Gesetzgebers, wie er bestimmte Werte in der Gesellschaft gewichten möchte. (2) Spielraum Der Begriff Spielraum wird insgesamt zwölf Mal verwendet. Dabei um­ schreibt das Bundesverfassungsgericht meist Spielräume in materiell-recht­ licher Hinsicht, ausnahmsweise aber auch in tatsächlicher Hinsicht64. Darü­ ber hinaus lassen sich kaum Gemeinsamkeiten ausmachen. Relativ häufig (fünf Mal) geht es um eine Abwägung im Rahmen des Gleichheitsgrund­ rechts aus Art. 3 GG65. Dort wird zwei Mal ein großer Spielraum betont66, den der Gesetzgeber im Falle Grundsteuer dennoch nicht eingehalten hätte. In den anderen Entscheidungen wird die Reichweite der Spielräume nicht näher bestimmt. In den Entscheidungen „NC Humanmedizin“ und „Erstaus­ bildungskosten“ wird die Einschätzung des Gesetzgebers bestätigt, in der Entscheidung „Verlustabzug“ hingegen in eben jene eingegriffen. Der Begriff Spielraum wird jedoch nicht nur bei den Gleichheitsgrund­ rechten verwendet, auch bei den Freiheitsgrundrechten Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 (in weiter Reichweite)67 und Art. 2 Abs. 2. S. 1 (ohne be­ stimmte Reichweite)68, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG69 und Art. 12 Abs. 1 GG70 wird er relevant. Auch im Rahmen einer sozialrechtli­ chen Entscheidung (Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG)71 wird der Spiel­ raum benannt. Auch Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG ist zwei Mal Gegenstand einer

63  BVerfGE

146, 164 (Rn. 123) – Pflichtmitgliedschaft IHK (2017). 152, 68 (Rn. 121, 134, 166) – Sanktionen im Sozialrecht (2019). 65  BVerfGE 152, 274 (Rn.  121, 134, 166) – Erstausbildungskosten (2019); BVerfGE 149, 222 (Rn. 71) – Rundfunkbeitrag (2018); BVerfGE 148, 147 (Rn. 98) – Einheitsbewertung Grundsteuer (2018); BVerfGE 147, 253 (Rn. 187) – NC Human­ medizin (2017); BVerfGE 145, 106 (Rn. 101) – Verlustabzug nach schädlichem Be­ teiligungserwerb (2017). 66  BVerfGE 149, 222 (Rn. 71) – Rundfunkbeitrag (2018); BVerfGE 148, 147 (Rn. 98) – Einheitsbewertung Grundsteuer (2018). 67  BVerfGE 141, 186 (Rn. 39) – Abstammungserklärung (2016). 68  BVerfGE 142, 313 (Rn. 81) – ärztliche Zwangsbehandlung (2016). 69  BVerfGE 151, 101 (Rn. 54) – Stiefkindadoption (2019). 70  BVerfGE 149, 126 (Rn. 60) – sachgrundlose Befristung (2018). 71  BVerfGE 152, 68 (Rn. 121, 134, 166) – Sanktionen im Sozialrecht (2019). 64  BVerfGE

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Entscheidung, in denen das Bundesverfassungsgericht lediglich einen „eng bemessenen Spielraum“ feststellte72. (3) Entscheidungsspielraum Insgesamt zehn Mal findet der Begriff des Entscheidungsspielraums Ver­ wendung. Bis auf in den zwei Entscheidungen zur Grundsicherung für Ar­ beitssuchende73, in denen der Begriff des Entscheidungsspielraums für tat­ sächliche Spielräume verwendet wird, geht es dabei stets um materiellrechtliche Spielräume. Wiederum weit überwiegend werden die Entschei­ dungsspielräume bei Prüfungen des Art. 3 GG erwähnt. Dabei ist interessant, dass der Entscheidungsspielraum hinsichtlich der Verletzung von Art. 3 GG stets als „weit“ beurteilt wird74. Auch im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 GG wird in der Entscheidung zur Pflichtmitgliedschaft in der IHK ein weiter (materieller) Entscheidungsspielraum anerkannt75. In einer staatsorganisati­ onsrechtlichen Entscheidung (Art. 28 Abs. 2 GG) zur Verlagerung von Auf­ gaben im Bereich der Kinderbetreuung wird jedoch kein „weiter“ Spielraum anerkannt76, ebenso wenig bei der Frage nach einer Verletzung der tatsäch­ lichen Spielräume in den sozialrechtlichen Entscheidungen77. (4) Einschätzungsspielraum Auf Platz vier folgt (sechs Erwähnungen) der Begriff des Einschätzungs­ spielraums. Die Verwendung im Hinblick auf die verschiedenen Fallgruppen ist sehr inkonsistent. Er wird in materieller Hinsicht sowohl ein „erheb­ licher“78 (in Bezug auf Art. 13 Abs. 1, Art. 10 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG) als auch ein „weiter“79 (in Bezug auf Art. 3 GG) Einschätzungsspielraum formu­ 72  BVerfGE 146, 327 (Rn. 61, 63) – Eventualstimme (2017); BVerfGE 151, 1 (Rn. 43) – Wahlrechtsausschluss (2019). 73  BVerfGE 152, 68 (Rn. 121, 201) – Sanktionen im Sozialrecht (2019); BVerfGE 142, 353 (Rn. 54) – Grundsicherung für Arbeitssuchende (2016). 74  BVerfGE 149, 222 (Rn. 65) – Rundfunkbeitrag (2018); BVerfGE 148, 217 (Rn. 105) – Gewerbesteuerpflicht (2018); BVerfGE 148, 147 (Rn. 96) – Einheitsbe­ wertung Grundsteuer (2018); BVerfGE 145, 106 (Rn. 102) – Verlustabzug nach schädlichem Beteiligungserwerb (2017); BVerfGE 145, 249 (Rn. 51) – Soldatenver­ sorgung (2017); BVerfGE 152, 274 (Rn. 100) – Erstausbildungskosten (2019). 75  BVerfGE 146, 164 (Rn. 88) – Pflichtmitgliedschaft IHK (2017). 76  BVerfGE 147, 186 (Rn. 82) – KiFöG-LSA (2017). 77  BVerfGE 152, 68 (Rn. 121, 201) – Sanktionen im Sozialrecht (2019); BVerfGE 142, 353 (Rn. 54) – Grundsicherung für Arbeitssuchende (2016). 78  BVerfGE 141, 220 (258) – BKA-Gesetz (2016). 79  BVerfGE 149, 222 (Rn. 103) – Rundfunkbeitrag (2018).



B. Spielräume und Freiheiten in der Rechtsprechung des BVerfG 97

liert, ebenso werden in tatsächlicher Hinsicht „weite“ Einschätzungsspiel­ räume erkannt80. Darüber hinaus wird bei einer Prognose-Entscheidung auf die „deutlich erkennbare Fehleinschätzung“ abgestellt81. Inhaltlich sind Frei­ heitsrechte (Art. 2 Abs. 1 GG82, Art. 9 Abs. 3 GG83, Art. 10 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 GG84, Art. 12 Abs. 1 GG85), Ausgestaltungsansprüche (Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG86) und Gleichheitsrechte87 betroffen. (5) Beurteilungs- und Prognosespielraum Sechs Erwähnungen findet der Beurteilungs- und Prognosespielraum, der sich im Rahmen der Prüfung von Freiheitsgrundrechten (Art. 5 Abs. 388, Art. 9 Abs. 3 GG89, Art. 12 Abs. 1 GG90, Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG91) stets mit tatsächlichen bzw. insbesondere mit Prognose-Unsicherheiten stets im Rahmen der Prüfung der Erforderlichkeit des Eingriffs beschäftigt. Ein Maß­ stab wird nicht genannt. (6) Ausgestaltungsspielraum Vier Mal überprüft das Bundesverfassungsgericht die Reichweite des Aus­ gestaltungsspielraums. Dabei geht es jeweils um einen materiellen Spielraum, der im Fall des Art. 3 GG „weit“ sei92 und in den Fällen der Überprüfung der Art. 2 Abs. 1 i. V. m.  Art. 1  GG93 und Art. 5 Abs. 3 GG94 sowie Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG95 nicht näher spezifiziert wurde.

80  BVerfGE 81  BVerfGE 82  BVerfGE 83  BVerfGE 84  BVerfGE 85  BVerfGE

86  BVerfGE recht (2019). 87  BVerfGE 88  BVerfGE 89  BVerfGE 90  BVerfGE 20 (Rn. 153) – 91  BVerfGE 92  BVerfGE 93  BVerfGE 94  BVerfGE 95  BVerfGE

146, 164 (Rn. 105) – Pflichtmitgliedschaft IHK (2017). 146, 71 (Rn. 159, 164) – Tarifeinheitsgesetz (2017). 146, 164 (Rn. 105) – Pflichtmitgliedschaft IHK (2017). 146, 71 (Rn. 159, 165) – Tarifeinheitsgesetz (2017). 141, 220 (Rn. 258) – BKA-Gesetz (2016). 149, 126 (Rn. 49) – sachgrundlose Befristung (2018). 152, 68 (Rn. 134, 144, 160, 166, 179, 180) – Sanktionen im Sozial­ 149, 222 (Rn. 103) – Rundfunkbeitrag (2018). 141, 143 (Rn. 66) – Akkreditierung von Studiengängen (2016). 146, 71 (Rn. 162) – Tarifeinheitsgesetz (2017). 149, 126 (Rn. 50) – sachgrundlose Befristung (2018); BVerfGE 145, Spielhallenzulassung (2017). 149, 86 (Rn. 94) – Hofabgabeklausel (2018). 147, 253 (Rn. 126) – NC Humanmedizin (2017). 141, 186 (Rn. 69) – Abstammungserklärung (2016). 141, 143 (Rn. 66) – Akkreditierung von Studiengängen (2016). 152, 68 (Rn. 177) – Sanktionen im Sozialrecht (2019).

98

Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

(7) Handlungsspielraum In drei Entscheidungen benutzt das Bundesverfassungsgericht den Begriff Handlungsspielraum. Gemeinsam ist diesen Entscheidungen, dass es stets um einen materiellen Spielraum geht. Mal wird ein geringer Handlungsspielraum im Hinblick auf Art. 3 GG betont und ein Verfassungsverstoß festgestellt96, mal wird (im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 GG) ein weiter Spielraum anerkannt und dennoch ein Verfassungsverstoß festgestellt97. Bei der Frage nach einer Verletzung des Art. 14 i. V. m. Art. 33 Abs. 5 GG wird lediglich auf einen bestehenden Handlungsspielraum abgestellt und das Gesetz für verfassungs­ gemäß erklärt98. Drei verschiedene Grundrechte, drei verschiedene Reich­ weiten des Handlungsspielraumes: Eine einheitliche Definition des Hand­ lungsspielraumes lässt sich nicht herleiten. (8) Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum In drei Fällen wurde ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspiel­ raum des Gesetzgebers festgestellt. Umschrieben wurden jeweils materielle Spielräume. In zwei Fällen war Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG betroffen und das Bundesverfassungsgericht stellte einen Verfassungsverstoß fest99, in einem anderen Fall wurde ein explizit weiter Spielraum im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG festgestellt und entsprechend kein Verfas­ sungsverstoß gesehen100. (9) Spielraum politischen Ermessens Den Begriff des Spielraums politischen Ermessens verwendete das Bun­ desverfassungsgericht stets nur in besoldungsrechtlichen Entscheidungen (Art. 33 Abs. 5 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG)101. Sowohl in den Besoldungsent­ scheidungen als auch in der Entscheidung zur Wartefrist stellte das Bundes­ verfassungsgericht trotz Hinweis auf diesen Spielraum jeweils ein verfas­ sungswidriges Handeln des Gesetzgebers fest. Es wurde stets der materielle 96  BVerfGE

151, 1 (Rn. 59) – Wahlrechtsausschluss (2019). 146, 71 (Rn. 149) – Tarifeinheitsgesetz (2017). 98  BVerfGE 145, 249 (Rn. 94) – Soldatenversorgung (2017). 99  BVerfGE 139, 293 (Rn. 74) – Fixierung PsychKG (2018); BVerfGE 142, 313 (Rn. 70) – ärztliche Zwangsbehandlung (2016). 100  BVerfGE 141, 186 (Rn. 40) – Abstammungserklärung (2016). 101  BVerfGE 149, 382 (Rn. 18) – Eingangsbesoldung (2018); BVerfGE 145, 304 (Rn. 85) – Ostbesoldung Besoldungsangleichung (2017); BVerfGE 145, 1 (Rn. 40) – Wartefrist für Besoldungsanstieg (2017). 97  BVerfGE



B. Spielräume und Freiheiten in der Rechtsprechung des BVerfG 99

Spielraum bei der Beurteilung der Einschränkbarkeit von Art. 33 Abs. 5 i. V. m. Art. 3 GG beschrieben. (10) Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum In drei Fällen, in denen jeweils eine Verletzung des Art. 12 Abs. 1 GG zur Debatte stand, hat das Bundesverfassungsgericht einen Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum, jeweils in weiter Ausprägung102, benannt. Die Beurtei­ lung des Gesetzgebers wurde in keinem Fall beanstandet. Interessant ist, dass in zwei Fällen sowohl materielle, als auch tatsächliche Spielräume als Be­ urteilungs- und Gestaltungsspielräume beschrieben103 wurden. Die „Beurtei­ lung“ bezieht sich demnach wohl auf die tatsächlichen Umstände, die „Ge­ staltung“ auf die materielle Rechtslage. (11) Einschätzungs- und Prognosespielraum Lediglich in den Entscheidungen „Hochschulkanzler auf Zeit“ und „Spiel­ hallenzulassung“ wurde der Einschätzungs- und Prognosespielraum er­ wähnt104. Er wurde dort als tatsächlicher Spielraum sowohl im Rahmen des legitimen Zwecks105 und im Rahmen der Geeignetheit106 diskutiert. (12) Regelungsspielraum Die zweifache Verwendung des Begriffs Regelungsspielraum107 folgt wie­ derum keiner besonderen Systematik. Im Hinblick auf die Prüfung einer 102  BVerfGE 149, 126 (Rn. 43) – sachgrundlose Befristung (2018); BVerfGE 142, 268 (Rn. 64 ff.) – Bestellerprinzip (2016); BVerfGE 142, 74 (Rn. 62) – Sampling (2016). 103  BVerfGE 149, 126 (Rn. 43) – sachgrundlose Befristung (2018); BVerfGE 142, 268 (Rn. 64 ff.) – Bestellerprinzip (2016). 104  Bemerkenswert in diesen Zusammenhang ist, dass der ehemalige Präsident Voßkuhle in einem Gastbeitrag in der FAZ kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amt genau diesen – eigentlich eher seltenen – Begriff des „Einschätzungs- und Pro­ gnosespielraum“ verwandte, um der Laienöffentlichkeit zu erklären, dass das Gericht in den vergangenen Jahren das Parlament nachhaltig gestärkt hätte, vgl. Voßkuhle, Kritik am Verfassungsgericht: Karlsruhe Unlimited?, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 2.2020, S. 8. 105  BVerfGE 145, 20 (Rn. 137) – Spielhallenzulassung (2017). 106  BVerfGE 149, 1 (Rn. 45) – Hochschulkanzler auf Zeit (Brandenburg) (2018); BVerfGE 145, 20 (Rn. 167) – Spielhallenzulassung (2017). 107  BVerfGE 145, 249 (Rn. 97) – Soldatenversorgung (2017); BVerfGE 141, 186 (Rn. 49) – Abstammungserklärung (2016).

100

Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG wurde dieser als „groß“ bezeichnet108, bei der Frage einer Verletzung des Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG hinge­ gen kam kein Maßstab zur Anwendung109. In beiden Fällen wurde die Ein­ schätzung des Gesetzgebers nicht beanstandet. In beiden Fällen stand ein materieller Spielraum zur Debatte. (13) Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum Zwei Mal wurde der Begriff des Einschätzungs- und Beurteilungsspiel­ raums verwendet. In der Zensus-Entscheidung (Art. 20 Abs. 1 GG, Art. 28 Abs. 2 GG, Art. 20 Abs. 3, Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG) betonte das Bundesver­ fassungsgericht unter diesem Stichwort einen materiellen Spielraum. Dieser sei hinsichtlich der Frage, ob Gemeinden aufgrund sachlich nicht vertretbarer Differenzierungen benachteiligt oder bevorzugt werden, weit110. Auch in der Entscheidung „Sanktionen im Sozialrecht“ ging es um Art. 20 Abs. 1 GG, genauer um die Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips111. (14) Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum Ebenso wie der Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum wurde der Ge­ staltungs- und Entscheidungsspielraum wurde lediglich in den umfangreichen Entscheidungen zum Zensus-Gesetz sowie zu den Sanktionen im Sozialrecht erwähnt. Der Begriff fand in der Zensus-Entscheidung Anwendung sowohl im Hinblick auf den Prognosespielraum112 (so auch in der Sozialrechts-Ent­ scheidung113) als auch im Hinblick auf die materielle Abwägung. Dieser materielle Spielraum bestehe in einem „substantiellen“ Umfang114. (15) Beurteilungsspielraum Um den tatsächlichen Spielraum geht es, wenn das Bundesverfassungsge­ richt in der Entscheidung zu den Sanktionen im Sozialrecht von einem Beur­ teilungsspielraum spricht115. 108  BVerfGE

109  BVerfGE 110  BVerfGE 111  BVerfGE

112  BVerfGE 113  BVerfGE 114  BVerfGE 115  BVerfGE

145, 249 (Rn. 97) – Soldatenversorgung (2017). 141, 186 (Rn. 49) – Abstammungserklärung (2016). 149, 126 (Rn. 213) – sachgrundlose Befristung (2018). 152, 68 (Rn. 125) – Sanktionen im Sozialrecht (2019). 150, 1 (Rn. 170) – Zensus 2011 (2018). 152, 68 (Rn. 168) – Sanktionen im Sozialrecht (2019). 150, 1 (Rn. 171) – Zensus 2011 (2018). 152, 68 (Rn. 184) – Sanktionen im Sozialrecht (2019).



B. Spielräume und Freiheiten in der Rechtsprechung des BVerfG 101

(16) Prognosespielraum Der Begriff Prognosespielraum beschreibt möglicherweise am treffendsten denjenigen Spielraum, den der Gesetzgeber für in Zukunft gerichtete Annah­ men über tatsächliche Umstände hat. Er findet in den Entscheidungen der vergangenen Jahre jedoch lediglich Berücksichtigung in der Entscheidung zum Zensusgesetz116. (17) Politischer Spielraum Der politische Spielraum ist in der Rechtsprechung des Bundesverfas­ sungsgerichts ein materiell-rechtlicher Spielraum im Rahmen der Abwägung zu Art. 12 Abs. 1 GG.117. (18) Politischer Gestaltungsspielraum Ebenso lediglich einmal, im Rahmen der materiell-rechtlichen Abwägung (im Rahmen von Art. 9 Abs. 3 GG) wurde der politische Gestaltungsspiel­ raum benannt118. (19) Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum Ebenso nur im Urteil zum Zensus-Gesetz wurde der Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum119 des Gesetzgebers betont, dort sogar gleich zwei Mal. Einerseits als materieller Spielraum120, andererseits als Prognose-Spiel­ raum121. Im Rahmen der Prognose-Überprüfung bezieht sich das Gericht dabei u. a. auf die C-Waffen-Entscheidung122, in der keine Legislativ-, son­ dern eine Exekutiv-Entscheidung zur Debatte stand und in welcher es um eine materielle Abwägung ging.

116  BVerfGE 117  BVerfGE 118  BVerfGE

119  BVerfGE

120  BVerfGE 121  BVerfGE 122  BVerfGE

150, 1 (Rn. 174, 315) – Zensus 2011 (2018). 149, 126 (Rn. 61) – sachgrundlose Befristung (2018). 146, 164 (Rn. 123) – Pflichtmitgliedschaft IHK (2017). 150, 1 (Rn. 173, 284) – Zensus 2011 (2018). 150, 1 (Rn. 284) – Zensus 2011 (2018). 150, 1 (Rn. 173) – Zensus 2011 (2018). 77, 170 – C-Waffen-Einsatz (1987).

102

Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

(20) Wertungsspielraum Schließlich verwendete das Gericht (zumindest in einer abweichenden Mei­ nung) den Begriff des Wertungsspielraums123 – auch hier geht es um einen materiellen Spielraum im Rahmen von verschiedenen Freiheitsgrundrechten. (21) Bewertungsspielraum Lediglich eine Erwählung findet der Bewertungsspielraum124. Die über­ prüfte Norm des Bundeswahlgesetzes wurde bei dieser Entscheidung wegen eines Verstoßes gegen Art. 38 GG aufgehoben. Der Gesetzgeber habe seinen Spielraum (in materieller Hinsicht) überschritten. (22) Einschätzungs- und Entscheidungsspielraum Ebenso zum ersten und einzigen Mal hat das Bundesverfassungsgericht in den Bänden BVerfGE 141–153 den Begriff Einschätzungs- und Entschei­ dungsspielraum verwendet. Dort ging es um einen materiell-rechtlichen Spielraum im Rahmen von Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1GG125. (23) Einschätzungs- und Wertungsspielraum In lediglich einer Entscheidung spielte der Einschätzungs- und Wertungs­ spielraum126 eine besondere Rolle. Diskutiert wurde ein materieller Spiel­ raum im Rahmen von Art. 12 Abs. 1 GG. bb) Freiheiten Von gesetzgeberischen Freiheiten (Gestaltungsfreiheit, Handlungsfreiheit und Freiheit des Gesetzgebers) spricht das Bundesverfassungsgericht stets nur, wenn es um materielle Spielräume geht. In den zehn Entscheidungen, in denen der Begriff der Gestaltungsfreiheit verwendet wurde, und den zwei Entscheidungen, in denen die Handlungsfreiheit und Freiheit des Gesetzge­ bers diskutiert wird, wird mal von „weiter“127 Gestaltungsfreiheit gesprochen, 123  BVerfGE

141, 220 (abw. Meinung Rn. 3) – BKA-Gesetz (2016). 151, 1 (Rn. 47) – Wahlrechtsausschluss (2019). 125  BVerfGE 152, 68 (Rn. 183) – Sanktionen im Sozialrecht (2019). 126  BVerfGE 143, 161 (Rn. 67) – Karfreitag als stiller Tag (2016). 127  BVerfGE 145, 249 (Rn. 97) – Soldatenversorgung (2017); BVerfGE 145, 141 – Kernbrennstoffsteuer (2017); BVerfGE 145, 304 (Rn. 85) – Ostbesoldung Besol­ dungsangleichung (2017). 124  BVerfGE



B. Spielräume und Freiheiten in der Rechtsprechung des BVerfG 103

mal von einer „auf besondere Weise ausgeprägten“128 Handlungsfreiheit. Eine Systematik lässt sich auch insofern nicht erkennen, als sowohl Frei­ heitsgrundrechte (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1129, Art. 5 Abs. 3 GG130, Art. 14 Abs. 1 GG131, Art. 19 Abs. 4 GG132), als auch Gleichheitsgrund­ rechte133 und Art. 33 Abs. 5 GG134 ebenso wie staatsorganisationsrechtliche Fragestellungen (Art. 106 Abs. 1 GG135, Art. 80 GG136, Art. 28 GG137) be­ troffen sind. cc) Befugnisse Den Begriff Ausgestaltungsbefugnis138 sowie Gestaltungsbefugnis139 ver­ wendete das Bundesverfassungsgericht in den Bänden 141–153 lediglich in der Entscheidung zum Tarifeinheitsgesetz. Es wurde jeweils ein PrognoseSpielraum beschrieben. dd) Weitere Begriffe Auch der Begriff der Einschätzungsprärogative wird nicht einheitlich ver­ wendet. Überwiegend umschreibt das Bundesverfassungsgericht damit zwar tatsächliche Spielräume140, jedoch werden auch materielle Spielräume disku­ tiert141. Inhaltlich waren keine Gleichheitsrechte, sondern nur Freiheitsrechte 128  BVerfGE

145, 249 (Rn. 93) – Soldatenversorgung (2017). 150, 244 (Rn.  146) – Kfz-Kennzeichenkontrollen BY (2019); BVerfGE 141, 186 (Rn. 40) – Abstammungserklärung (2016). 130  BVerfGE 149, 1 (Rn. 46) – Hochschulkanzler auf Zeit (Brandenburg) (2018). 131  BVerfGE 145, 249 (Rn. 93) – Soldatenversorgung (2017). 132  BVerfGE 145, 249 (Rn. 93) – Soldatenversorgung (2017). 133  BVerfGE 147, 253 (Rn. 123) – NC Humanmedizin (2017); BVerfGE 145, 304 (Rn. 85) – Ostbesoldung Besoldungsangleichung (2017); BVerfGE 141, 1 (Rn. 95) – Treaty Override (2015). 134  BVerfGE 149, 382 (Rn. 18) – Eingangsbesoldung (2018). 135  BVerfGE 145, 141 (Rn. 64) – Kernbrennstoffsteuer (2017). 136  BVerfGE 143, 38 (Rn. 59) – Rindfleischetikettierung (2016). 137  BVerfGE 147, 186 (Rn. 75) – KiFöG-LSA (2017). 138  BVerfGE 146, 71 (Rn. 144) – Tarifeinheitsgesetz (2017). 139  BVerfGE 146, 71 (Rn. 4) – Tarifeinheitsgesetz (2017). 140  BVerfGE 143, 243 (Rn. 275) – Atomausstieg (2016); BVerfGE 143, 216 (Rn. 71) – Telekommunikationsgesetz Entgeltregulierung (2016); BVerfGE 141, 121 (Rn. 54) – Insolvenzverwalterbestellung (2016); BVerfGE 152, 68 (Rn. 134, 166) – Sanktionen im Sozialrecht (2019); zuletzt auch BVerfG 1 BvR 971/21 u. a. (Rn. 114) – Bundesnotbremse II (Schulschließungen) (2021). 141  BVerfGE 147, 186 (Rn. 81) – KiFöG-LSA (2017); BVerfGE 146, 71 (Rn. 149) – Tarifeinheitsgesetz (2017). 129  BVerfGE

104

Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

(Art. 9 Abs. 3 GG142, Art. 12 Abs. 1 GG143, Art. 14 Abs. 1 GG144, Art. 19 Abs. 4 GG145), Ausgestaltungsansprüche (Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG146) und staatsorganisationsrechtliche Fragen (Art. 28 Abs. 2 S. 1147) be­ troffen. Das Ermessen148 bzw. Gestaltungsermessen149 wird stets im Zusammen­ hang mit materiellen Spielräumen benutzt, wird jedoch mal weit150 ausgelegt, mal besteht dieses nur in „besonders engen Grenzen“151, ebenso wird es in Bezug auf Gleichheitsgrundrechte152 benutzt, aber auch im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 GG153, Art. 5 Abs. 3 GG154 als auch im Hinblick auf Art. 21 Abs. 1 GG155. Lediglich einmal verwendet wurde der Begriff des Einschätzungs- und Prognosevorranges156 – dem Namen nach zutreffend im Rahmen der Über­ prüfung einer gesetzgeberischen Prognose im Rahmen von Art. 12 Abs. 1 GG. c) Zusammenfassung und Fazit aa) Keine differenzierende Verwendung von Begriffen Zunächst einmal lassen sich Begriffe herausarbeiten, mit denen das Bun­ desverfassungsgericht ausschließlich Spielräume in materieller Hinsicht be­ schreibt. Spricht das Gericht von Ausgestaltungsspielraum, Handlungsspiel­ raum, Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum, Regelungsspiel­ 142  BVerfGE

146, 71 (Rn. 149) – Tarifeinheitsgesetz (2017). 141, 121 (Rn. 54) – Insolvenzverwalterbestellung (2016). 144  BVerfGE 143, 243 (Rn. 275) – Atomausstieg (2016). 145  BVerfGE 143, 216 (Rn. 71) – Telekommunikationsgesetz Entgeltregulierung (2016). 146  BVerfGE 152, 68 (Rn. 134, 166) – Sanktionen im Sozialrecht (2019). 147  BVerfGE 147, 186 (Rn. 81) – KiFöG-LSA (2017). 148  BVerfGE 146, 327 (Rn. 60) – Eventualstimme (2017); BVerfGE 146, 164 (Rn. 88) – Pflichtmitgliedschaft IHK (2017); BVerfGE 149, 1 (Rn. 46) – Hochschul­ kanzler auf Zeit (Brandenburg) (2018). 149  BVerfGE 147, 253 (Rn. 122, 219) – NC Humanmedizin (2017); BVerfGE 149, 1 (Rn. 46) – Hochschulkanzler auf Zeit (Brandenburg) (2018). 150  BVerfGE 146, 164 (Rn. 88) – Pflichtmitgliedschaft IHK (2017). 151  BVerfGE 146, 327 (Rn. 60) – Eventualstimme (2017). 152  BVerfGE 147, 253 (Rn. 122, 219) – NC Humanmedizin (2017). 153  BVerfGE 146, 164 (Rn. 88) – Pflichtmitgliedschaft IHK (2017). 154  BVerfGE 149, 1 (Rn. 46) – Hochschulkanzler auf Zeit (Brandenburg) (2018). 155  BVerfGE 146, 327 (Rn. 60) – Eventualstimme (2017). 156  BVerfGE 145, 20 (Rn. 149) – Spielhallenzulassung (2017). 143  BVerfGE



B. Spielräume und Freiheiten in der Rechtsprechung des BVerfG 105

raum, Spielraum politischen Ermessens, Bewertungsspielraum, Einschät­ zungs- und Beurteilungsspielraum, Einschätzungs- und Wertungsspielraum, Wertungsspielraum Gestaltungsfreiheit, Handlungsfreiheit, Ermessen oder Gestaltungsermessen, so geht es stets um die materiell-rechtliche Diskussion. Sodann gibt es Begriffe, die sich ausschließlich mit den tatsächlichen Spielräumen beschäftigen, namentlich der Beurteilungs- und Prognosespiel­ raum, Einschätzungs- und Prognosespielraum, Prognosespielraum, Ausge­ staltungsbefugnis, Gestaltungsbefugnis und Einschätzungs- und Prognose­ vorrang. Sowohl materielle als auch tatsächliche Spielräume werden mit folgenden Begriffen umschrieben: Gestaltungsspielraum, Entscheidungsspielraum, Ein­ schätzungsspielraum, Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum, Einschät­ zungs- und Gestaltungsspielraum, Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum, Einschätzungsprärogative (überwiegend tatsächlich), Spielraum (ganz über­ wiegend materiell-rechtlich). Im Ergebnis gelingt dem Bundesverfassungsgericht damit keine differen­ zierte Verwendung der Begriffe. Das Bundesverfassungsgericht erkennt so­ wohl materiell-rechtliche als auch tatsächliche Spielräume an und macht dies jedenfalls durch die konkreten Ausführungen deutlich. Eine einheitliche Prüfungsstruktur lässt das Gericht jedoch vermissen. bb) Maßstabsbildung als Ursache für die begriffliche Unschärfe Die Analyse der Rechtsprechung deutet darauf hin, dass der Grund für die Verwendung der unterschiedlichen Begriffe die bereits kritisierte Maßstabs­ bildung des Bundesverfassungsgerichts ist157. Das Bundesverfassungsgericht differenziert zumeist nicht zwischen ver­ schiedenen Konstellationen der gesetzgeberischen Spielräume, setzt diese also gerade nicht in einen Kontext. Vielmehr zitiert das Gericht in den Maß­ stäben einer neuen Entscheidung dann, wenn es Spielräume des Gesetzgebers betonen möchte, solche Maßstäbe älterer Urteile, die ihm dabei helfen, das von ihm beabsichtigte Ergebnis zu begründen – das Bundesverfassungsge­ richt wählt somit relativ willkürlich aus über 20 verschiedenen SpielraumMaßstäben den für ihn passenden Maßstab – ohne sich intensiver mit der konkreten dahinter liegenden Entscheidung zu beschäftigen. Das führt nicht nur zu einer uneinheitlichen und unübersichtlichen Ver­ wendung von Begriffen, sondern auch dazu, dass das Bundesverfassungsge­ richt sogar Begriffe wählt, die in linguistischer Sicht wenig Sinn ergeben. 157  Siehe

dazu Teil 3 B. II. 3.

106

Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Zukünftige Tatsachen können „prognostiziert“ oder „beurteilt“ werden, auch eine „Einschätzung“ von zukünftigen Tatsachen erscheint möglich. Das „Ge­ stalten“ von zukünftigen Tatsachen ergibt semantisch jedoch weniger Sinn. Der Begriff „Gestaltung“ erfasst dagegen den materiellen Spielraum gut. Besser wird dieser aber noch durch den Begriff des „politischen Gestaltungsspielraums“158 erfasst, der jedoch nur äußerst selten Anwendung findet. Der Begriff der Einschätzungsprärogative wiederum – das wird unten zu zeigen sein159 – kann lediglich auf tatsächlich-prognostische Spielräume Anwendung finden. 3. Differenzierung nach Reichweite: Kontrolldichte Das Bundesverfassungsgericht beschränkt sich nicht nur darauf, festzustel­ len, dass dem Gesetzgeber ein Spielraum oder bestimmte Freiheiten zukom­ men, sondern begründet – zumindest in bestimmten Fällen – auch eine Reichweite des Spielraums. In verschiedenen der oben genannten Entscheidungen werden die Spiel­ räume und Freiheiten bewusst mit den Begriffen „groß“ oder „eng“ beschrie­ ben, bei anderen wiederum fehlt die Darstellung eines Maßstabes. Die Diffe­ renzierung nach verschiedenen Reichweiten wird in der Literatur, aber auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts häufig damit um­ schrieben, dass die Kontrolldichte160 oder Kontrollreichweite161 bei Geset­ zeskontrollen variieren würde. Danach bestimme sich nach dem Umfang des Spielraums auch die Intensität der Kontrolle. „Kontrolle und Spielräume sind damit zwei Seiten derselben Medaille: Wenn ein Spielraum besteht, fehlt die Kontrolle – und umgekehrt“162. 158  BVerfGE

146, 164 (Rn. 123) – Pflichtmitgliedschaft IHK (2017). dazu Teil 4 D. I. 160  Breuer, Legislative und administrative Prognoseentscheidungen, Der Staat 16 (1977), 21 (43); Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, NJW 1980, 2103 (2106); Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungs­ organe, 1988, S. 117; Benda, Das Verhältnis von Parlament und Bundesverfassungsge­ richt, in: Thaysen (Hrsg.), US-Kongress und Deutscher Bundestag, 1988, S. 217 (222); Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1992, S. 36; Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1984, § 34 Rn. 1672; Heun, Normenkontrolle, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfas­ sungsgericht, Bd. I, 2001, S. 615 (630); Sodan, Staat und Verfassungsgerichtsbarkeit, 2010, S. 38; Bickenbach, Einschätzungsprärogative (Fn. 12), S. 354; Stuttmann, Ge­ setzgeberische Gestaltungsfreiheit und verfassungsrechtliche Kontrolle, 2014, S. 73; BVerfGE 135, 259 (Rn. 62) – Drei-Prozent-Sperrklausel Europawahlgesetz (2014). 161  Stuttmann, Gestaltungsfreiheit (Fn. 160), S. 203. 162  Klatt/Schmidt, Spielräume im öffentlichen Recht, 2010, S. 58. 159  Siehe



B. Spielräume und Freiheiten in der Rechtsprechung des BVerfG 107

Das Bundesverfassungsgericht selbst hat den Begriff der Kontrolldichte in seiner Rechtsprechung bezüglich der Kontrolle von Gesetzen eher gemieden. Erst in neuerer Rechtsprechung greift es umfassender hierauf zurück. Nicht in Bezug auf die Gesetzeskontrolle, sondern in Bezug auf eine Ent­ scheidung eines Strafgerichts beschäftigt sich das Bundesverfassungsgericht mit eben jenem Begriff der verfassungsrechtlichen Kontrolldichte – diese werde stärker, wenn der Freiheitseingriff stärker werde – erstmals in einer Entscheidung aus dem Jahr 1985163. Auch danach konzentrierte sich die Dis­ kussion der verfassungsrechtlichen Kontrolldichte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere auf die Kontrolle von judikativen Entscheidungen im Bereich des Strafrechts164. In Bezug auf Exekutiventscheidungen wird erstmals (in der abweichenden Meinung) zur C-Waffen-Entscheidung (1987) der Begriff der Kontrolldichte angesprochen. Beachtenswert ist hierbei, dass diese Rechtsprechung auf das Mitbestimmungsurteil165 rekurriert166. Dieses definierte bereits 1979 ver­ schiedenen Intensitäten der verfassungsgerichtlichen Kontrolle im Hinblick auf Legislativentscheidungen, verwandte aber nicht den Begriff der Kontroll­ dichte167. Die abweichende Meinung in der C-Waffen-Entscheidung von 1987 geht somit ersichtlich davon aus, dass im Mitbestimmungsurteil bereits bestimmte Kontrolldichten für Legislativentscheidungen formuliert wurden, die nun auch Anwendung auf Exekutiventscheidungen finden können. Für diese Arbeit allein von Belang sind jedoch die Legislativentscheidun­ gen. In Bezug auf jene Kontrolle gesetzgeberischer Entscheidungen ver­ wandte und diskutierte das Bundesverfassungsgericht den Begriff der Kont­ rolldichte lange Zeit explizit lediglich in Bezug auf Verletzungen des Art. 3 GG. Beginnend mit dem Urteil zum Arbeitsförderungsgesetz (1986)168 for­ mulierten die Verfassungsrichter wiederholt, dass das Gericht die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes nicht mehr an der Willkürformel messen werde, 163  BVerfGE

70, 297 (Rn. 44) – Fortdauer der Unterbringung (1985). 2 BvR 366/03 (Rn. 25) – Prognoseentscheidung im Maßregelvollzug (2004); BVerfG 2 BvR 983/04 (Rn. 12) – Maßregelvollzug (2005); BVerfGE 117, 71 (Rn. 111) – lebenslange Freiheitsstrafe (2006); BVerfG 2 BvR 2009/08 (Rn. 27) – Strafrestaussetzung (2009); BVerfG 2 BvR 660/09 (Rn. 23) – Unterbringungsdauer psychiatrisches Krankenhaus (2010); BVerfGE 126, 170 (Rn. 81) – Untreue Lan­ dowsky (2010); BVerfGE 130, 1 (Rn. 166) – Al-Qaida-Fall (2011). 165  BVerfGE 50, 290 – Mitbestimmungsurteil (1979). 166  BVerfGE 77, 170 (abw. Meinung Rn. 152) – C-Waffen-Einsatz (1987). 167  Das Mitbestimmungsurteil wird im Nachfolgenden (Teil 4 C.) noch intensiver besprochen. 168  BVerfGE 74, 9 (Rn. 75) – BAföG (1986), dort wird jedoch zunächst lediglich in der abweichenden Meinung davon gesprochen, dass das Vorgehen der Mehrheit der Richter dazu führt, dass die „Kontrolldichte“ erhöht würde. 164  BVerfG

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

sondern die neue Formel zur Anwendung gelänge, die eine erhöhte Kontroll­ dichte vorsehe. Dem Urteil von 1986 schließen sich Beschlüsse aus den Jahren 1995169 und 2010170 an, in denen ausgeführt wird, dass bei Anwen­ dung der Willkürformel die Kontrolldichte der Evidenz gelte171. In weiteren Urteilen zu Art. 3 GG wurde formuliert, dass „einer unterschiedlichen Weite des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums […] eine abgestufte Kontroll­ dichte bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung [entspricht]“172. Auch in Bezug auf die Ausgestaltung des Besoldungsrechts – zur Debatte stand (ebenso) eine Verletzung des Gleichheitssatzes aus Art. 33 Abs. 5 GG i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG – urteilte das Bundesverfassungsgericht unlängst, dass bei der Überprüfung eine erhöhte Kontrolldichte gelte173. Außerhalb der Prüfungen des Gleichheitssatzes aus Art. 3 GG und in Be­ zug auf weitere grundgesetzliche Regelungen fiel der Begriff der einge­ schränkten verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte das erste Mal bei der Entscheidung zur baden-württembergischen Rückmeldegebühr (2003) und damit im Zusammenhang mit einer möglichen Verletzung von Vorschriften der Finanzverfassung174 – also hinsichtlich eines eher speziellen verfassungs­ rechtlichen Bereichs. Sodann war es das dritte Wahlrechts-Prozenthürden-Urteil175 im Jahr 2014 und damit bei der Frage nach einer Verletzung des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, in dem das Bundesverfassungsgericht formulierte, dass bei Entscheidungen in eigener Angelegenheit – hinsichtlich einer Prognoseentscheidung – eine er­ höhte Kontrolldichte gelten würde176.

169  BVerfGE 91, 389 (Rn. 43 f.) – Anrechnung BAföG (1995), hier findet der Be­ griff auch im Beschluss selbst Verwendung. 170  BVerfGE 126, 331 (Rn. 102) – Miterben-Entschädigungsfonds (2010). 171  Ebenso BVerfGE 367, 367 (84) – Montan-Mitbestimmung (1999). 172  BVerfGE 92, 365 (Rn. 150) – Kurzarbeitergeld (1995); BVerfGE 95, 267 (Rn. 190) – Altschulden (1997). 173  BVerfGE 145, 304 (Rn. 105) – Ostbesoldung Besoldungsangleichung (2017). 174  BVerfGE 108, 1 (Rn. 62) – Rückmeldegebühr Baden-Württemberg (2003). 175  Das Bundesverfassungsgericht hatte sich im vergangenen Jahrzehnt mehrfach mit der Frage der Verfassungsgemäßheit von Prozenthürden im Wahlrecht zu beschäf­ tigen. Beginnend mit einer Entscheidung über die 5 %-Hürde im schleswig-holsteini­ schen Kommunalwahlrecht aus dem Jahr 2008 (BVerfGE 120, 82–125) standen da­ nach (2011) zunächst die Verfassungsgemäßheit der 5 %-Hürde (BVerfGE 129, 300) und sodann (2014) die Verfassungsgemäßheit der 3 %-Hürde bei der Europawahl (BVerfGE 135, 259) zur Diskussion. Sämtliche Prozenthürden wurden vom Bundes­ verfassungsgericht aufgehoben, siehe dazu Teil 4 C. IV. 2. b) bb) (1). 176  BVerfGE 135, 259 (Rn. 62) – Drei-Prozent-Sperrklausel Europawahlgesetz (2014).



B. Spielräume und Freiheiten in der Rechtsprechung des BVerfG 109

Auch im Urteil aus dem Jahr 2017 zum Gesetz zur Förderung und Betreu­ ung von Kindern in Tageseinrichtungen und in der Tagespflege des Landes Sachsen-Anhalt geht es um die Kontrolldichte. Das Bundesverfassungsge­ richt stellte diesbezüglich fest, dass in Bezug auf die Einschränkung der kommunalen Selbstverwaltung des Art. 28 Abs. 2 S. 1 (welcher als ausgestal­ tungsbedürftiges Recht formuliert ist und in den Fällen, in denen es um eine Verringerung der Befugnisse der Gemeinde gehe, als Gesetzesvorbehalt fun­ giert) die Kontrolle umso intensiver sei, je „mehr die Selbstverwaltungs­ garantie der Gemeinden als Folge der gesetzlichen Regelung an Substanz verliert“177. Die Beschreibung eines intensiveren Prüfmaßstabes findet somit erneut außerhalb des Art. 3 GG Anwendung, dieses Mal bei der Überprüfung eines materiellen Spielraumes und erneut nicht in Bezug auf ein Freiheits­ grundrecht, sondern auf einen speziellen verfassungsrechtlichen Bereich, die kommunale Selbstverwaltung der Gemeinde. Gleichzeitig formulierte das Urteil zum sachsen-anhaltinischen Kita-Gesetz, dass die intensive Kontrolle aus der verengten Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers resultiere178. Nicht nur die Verwendung der verschiedenen Spielraum-Begriffe, sondern auch die Verwendung des Begriffs der Kontrolldichte ist in der Rechtspre­ chung des Bundesverfassungsgerichts nicht wirklich konsistent. Das Gericht wählt den Maßstab, der ihm gerade passend erscheint. Jedenfalls bezüglich Freiheitsgrundrechte scheint das Bundesverfassungsgericht aber nicht auf eine Kontrolldichte abzustellen.

III. Zusammenfassung Die Untersuchung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat damit aufgezeigt, dass das Bundesverfassungsgericht Spielräume des Gesetz­ gebers grundsätzlich in sehr vielfältigen Formen anerkennt. Im Hinblick auf verschiedene Arten von Spielräumen lässt das Gericht jedoch allenfalls An­ sätze einer Strukturierung erkennen. Darunter leiden die Qualität und Vorher­ sehbarkeit der Prüfung. Die begriffliche Vielfalt des Bundesverfassungsge­ richts sorgt dafür, dass die Prüfung des Bundesverfassungsgerichts häufig willkürlich, jedenfalls aber nicht immer nachvollziehbar erscheint. Das ist insbesondere der Fall, wenn das Bundesverfassungsgericht in einer Entschei­ dung mehrere verschiedene Begriffe zur Umschreibung des gleichen Phäno­ mens verwendet, so zum Beispiel in der Entscheidung „Sanktionen im Sozial­ recht“, in der das Gericht gleich elf verschiedene Begriffe für die Umschrei­ bung des gesetzgeberischen Spielraums verwendet179. Wie durch ein Brenn­ 177  BVerfGE

147, 186 (Rn. 81) – KiFöG-LSA (2017). 147, 186 (Rn. 81) – KiFöG-LSA (2017). 179  BVerfGE 152, 68 – Sanktionen im Sozialrecht (2019). 178  BVerfGE

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

glas zeigt sich die Uneinheitlichkeit bei der Verwendung verschiedener Begriffe auch in der viel diskutierten Entscheidung des Gerichts zum Klima­ schutz. In dieser Entscheidung spricht das Gericht von einem „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum“180 oder „Entscheidungsspiel­ raum“181 bei der Erfüllung der Schutzpflichten, vom „Gestaltungsspiel­raum“182 oder „Entscheidungsspielraum“183 und „Konkretisierungsspiel­ raum“184 im Hin­ 185 blick auf Art. 20a GG, vom „Wertungsspielraum“ im Hinblick auf die tat­ sächlich-wissenschaftliche Prognose oder benennt schlicht den „Spielraum“186. Auch folgt aus der bloßen Erwähnung eines des dem Gesetzgeber zuste­ henden Spielraums noch nicht, dass das Bundessverfassungsgericht den Ge­ setzgeber besonders schont – vielmehr scheint das Gericht teilweise bewusst immer wieder auf besondere Spielräume hinzuweisen, um den eigentlichen tiefgehenden Eingriff in die Sphäre des Gesetzgebers zu kaschieren. Der Rechtsprechung des Gerichts lässt sich jedoch entnehmen, dass es grundsätzlich die in dieser Arbeit vorgenommene Differenzierung zwischen materiell-rechtlichen und tatsächlichen Spielräumen anerkennt. Im Beschluss zum Bestellerprinzip bei Mietmaklern führt es zum Beispiel aus, dass der Gesetzgeber für „die Herstellung eines solchen Ausgleichs […] über einen weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum [verfügt]. Die Einschätzung der für die Konfliktlage maßgeblichen ökonomischen und sozialen Rahmen­ bedingungen liegt zunächst in seiner politischen Verantwortung, ebenso die Vorausschau auf die künftige Entwicklung und die Wirkungen seiner Rege­ lung. Dasselbe gilt für die Bewertung der Interessenlage, das heißt die Ge­ wichtung der einander entgegenstehenden Belange und die Bestimmung ihrer Schutzbedürftigkeit“187. Damit differenziert das Gericht zwischen einem Spielraum für die Tatsachen („maßgebliche ökonomische und soziale Rah­ menbedingungen“), Prognosen („künftige Entwicklung“) sowie im Hinblick auf die materielle Abwägung („Gewichtung der entgegenstehenden Belange“) und wendet dabei einen einheitlichen Maßstab an („weit“). 180  BVerfG

BeckRS 2021, 8946 (Rn. 152) – Klimaschutz (2021). BeckRS 2021, 8946 (Rn. 162, 165) – Klimaschutz (2021). 182  BVerfG BeckRS 2021, 8946 (Rn. 207) – Klimaschutz (2021). 183  BVerfG BeckRS 2021, 8946 (Rn. 206, 212, 215, 236) – Klimaschutz (2021). 184  BVerfG BeckRS 2021, 8946 (Rn. 211) – Klimaschutz (2021); diesen Begriff hat das Gericht überhaupt erst zum dritten Mal im Zusammenhang mit gesetzgberi­ schen Spielräumen verwendet, zuvor in BVerfGE 137, 108 (Rn. 184) – Optionskom­ mune (2014) im Hinblick auf Art. 91e Abs. 2 GG; ferner in BVerfGK 14, 548 (Orien­ tierungssatz 1) – Polizeizulage (2008) im Hinblick auf Art. 33 Abs. 5 GG. 185  BVerfG BeckRS 2021, 8946 (Rn. 229) – Klimaschutz (2021). 186  BVerfG BeckRS 2021, 8946 (Rn. 163, 168, 172, 208, 211, 230) – Klimaschutz (2021). 187  BVerfGE 142, 268 (Rn. 64) – Bestellerprinzip (2016). 181  BVerfG



B. Spielräume und Freiheiten in der Rechtsprechung des BVerfG 111

Diese strikte Trennung der Spielräume lässt das Gericht in ständiger Recht­ sprechung jedoch vermissen. Auch die Abgrenzung zu den behördlichen Spiel­ räumen bei der Anwendung eines Gesetzes scheint nicht wirklich zu funktio­ nieren. Diese bezeichnet das Bundesverfassungsgericht als Beurteilungsspiel­ räume188. Dieser Begriff wird im Hinblick auf materielle und tatsächliche Spielräume nicht singulär, wohl aber als Prognose- und Beurteilungsspiel­ raum189 im Hinblick auf Prognosespielräume verwendet. Als Einschätzungsund Beurteilungsspielraum190 hat der Begriff in neuerer Rechtsprechung aller­ dings auch in die Diskussion um materielle Spielräume Einzug gefunden. Die uneinheitliche Verwendung der Spielraum-Begriffe folgt insbesondere aus der Maßstabsbildung des Bundesverfassungsgerichts und dem Umstand, dass sich das Gericht in neuen Entscheidungen häufig lediglich an den in alten Entscheidungen formulierten Maßstäben orientiert. Notwendig ist damit eine stärkere Kontextualisierung der Spielräume. Gleichwohl lassen einige der Begriffe Tendenzen erkennen. Die Verwen­ dung des (häufig genannten) Begriffes des Gestaltungsspielraums deutet auf einen Spielraum in materieller Hinsicht hin. Für die Umschreibung tatsächli­ cher Spielräume ist dieser Begriff auch unpassend. Aktuelle sowie zukünftige Umstände lassen sich schon begrifflich nicht innerhalb eines Spielraums „gestalten“. Materiell-rechtliche politische Entscheidungen dagegen schon. Der politische Gesetzgeber hat zumeist eine bestimmte (partei-)programma­ tische Ausrichtung und verfolgt bestimmte politische Ziele, wobei je nach Ausrichtung bestimmte (auch) verfassungsrechtliche Werte mal mehr, mal weniger betont werden. Er hat das Ziel, die Gesellschaft nach seinen politi­ schen Vorstellungen zu „gestalten“. Begrifflich könnte man – was das Bun­ desverfassungsgericht viel zu selten tut – von einem „politischen Gestal­ tungsspielraum“191 sprechen. Dieser Spielraum ist auch inhaltlich – wie zu zeigen sein wird – ein anderer als der der tatsächlichen Spielräume. Der treffendste Begriff für diese tatsächlichen Spielräume dürfte indes der Beur­ teilungs- und Prognosespielraum, Einschätzungs- und Prognosespielraum oder Prognosespielraum sein. Ziel der nachfolgenden Untersuchung soll es sein, eine übergreifende Systematik der Spielräume in tatsächlicher und ma­ teriell-rechtlicher Hinsicht zu entwickeln. 188  BVerfGE 143, 216 (Rn. 30) – Telekommunikationsgesetz Entgeltregulierung (2016). 189  BVerfGE 146, 71 (Rn. 162) – Tarifeinheitsgesetz (2017); BVerfGE 145, 20 (Rn. 153) – Spielhallenzulassung (2017). 190  BVerfGE 150, 1 (Rn. 213) – Zensus 2011 (2018). 191  BVerfGE 146, 164 (Rn. 123) – Pflichtmitgliedschaft IHK (2017); „politischer Gestaltungsspielraum“ ist als Begriff dabei noch zutreffender als „politischer Spiel­ raum“, der z. B. in BVerfGE 149, 126 (Rn. 61) – sachgrundlose Befristung (2018) verwendet wird.

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume Die meisten Gesetze werden geschaffen, um eine bestimmte gesellschaftli­ che Entwicklung zu steuern. Das Gesetz geht von bestimmten tatsächlichen Prämissen aus und möchte auf diese einwirken. Die verfassungsrechtliche Bewertung einer gesetzgeberischen Maßnahme hängt damit zunächst einmal entscheidend einerseits davon ab, welche tat­ sächlichen Ausgangspunkte für das Gesetz ausschlaggebend waren, und ande­ rerseits, welche konkreten Folgen ein Gesetz, das abstrakt-generelle Regelun­ gen trifft, für diese abstrakte Vielfalt von Fällen konkret hat. Über diese Aus­ wirkungen des Gesetzes ist eine Prognoseentscheidung zu treffen, da die Aus­ wirkungen zumeist nur sehr schwer vollständig vorhersehbar sein werden1.

I. Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur Ermittlung von Tatsachen und Anstellung von Prognosen Bevor diejenige Frage eine Erörterung finden kann, nach welchen Krite­ rien die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und Prognosen des Gesetzge­ bers durch das Bundesverfassungsgericht vorzunehmen ist und insbesondere, ob es Abstufungen in der Kontrolldichte oder-intensität gibt, ist zu diskutie­ ren, woraus sich überhaupt die Berechtigung des Bundesverfassungsgerichts ergibt, Prognosen und Tatsachen zu überprüfen. 1. Vorfrage: Pflichten des Gesetzgebers hinsichtlich Tatsachen und Prognosen Der Normenkontrolle des Bundesverfassungsgerichts geht stets ein Verhal­ ten des Gesetzgebers voraus. Aus diesem Grund ist die Frage danach, ob das Bundesverfassungsgericht berechtigt ist, das Tatsächliche zu überprüfen, nicht zu beantworten, ohne dass die Vorfrage geklärt wurde, welche Pflichten und Rechte der Gesetzgeber selbst in Bezug auf die Ermittlung der tatsächli­ chen Grundlagen und Prognosen hat. In Gerichtsentscheidungen sowie in behördlichen Entscheidungen werden Tatsachen formell als Entscheidungsbasis festgehalten. Eine solche formelle Feststellung fehlt jedoch im Gesetzgebungsverfahren2. Über die bloßen äuße­ 1  Lorenz, Die Kontrolle von Tatsachenentscheidungen und Prognoseentscheidun­ gen, insbesondere in den Neugliederungsverfahren, in: Starck/Stern (Hrsg.), Landes­ verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. III, 1983, S. 193 (203); Gusy, Parlamentarischer Ge­ setzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 173; Brunn, Prognosen mit recht­ licher Bedeutung, NJOZ 2014, 361 (362). 2  Lorenz, Kontrolle (Fn. 1), S. 202.



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume113

ren Verfahrensvorschriften des Aktes der Gesetzgebung in Art. 70 ff. GG (Zu­ ständigkeit, Mehrheitsprinzip, Beteiligung des Bundesrates, ordnungsgemäße Verkündung und Ausfertigung etc.) stellt das Grundgesetz selbst keine expli­ ziten Anforderungen daran, wie der Inhalt eines Gesetzes zu Stande kommen muss3. Damit ist der Frage nachzugehen, ob das Grundgesetz – wenn auch nicht explizit – über das „äußere Gesetzgebungsverfahren“ der Art. 70 ff. GG hinaus auch Voraussetzungen an das „innere Gesetzgebungsverfahren“4, die „Methodik der Entscheidungsfindung“5, aufstellt. In der verfassungsrechtlichen Literatur und Rechtsprechung wird insofern trotz fehlender expliziter grundgesetzlicher Regelung vertreten, dass den Gesetzgeber eine Reihe verschiedener Pflichten treffe. Genannt werden u. a. die Pflicht zur Heranziehung und Aufbereitung des Entscheidungsmaterials sowie zur Abwägung dieses ermittelten Materials6, die Pflicht zur Veröf­ fentlichung des Verfahrensablaufes und der Motive sowie den Zwang zur Begründung und verständlicher Sprache7, die Pflicht zur selbstständigen Sachaufklärung und Begründung8 sowie das Gebot der Folgerichtigkeit, die Rechtfertigungspflicht bei Abweichungen von grundlegenden Entscheidun­ gen, Tatsachenerforschungspflichten, Prognosepflichten, Pflichten zu einem transparenten und sachgerechten Verfahren9.

3  Heusch, Verfassungsgerichtliche Gesetzeskontrolle, in: Kluth/Augsberg (Hrsg.), Gesetzgebung. Rechtsetzung durch Parlamente und Verwaltungen sowie ihre gericht­ liche Kontrolle, 2014, S. 909 (951); Steinbach, Rationale Gesetzgebung, 2017, S. 3; in diesem Sinne auch: BVerfGE 142, 353 (Rn. 54) – Grundsicherung für Arbeitssu­ chende (2016). 4  Für diese Bezeichnung Schwerdtfeger, Optimale Methodik der Gesetzgebung als Verfassungspflicht, in: Stödter/Ipsen (Hrsg.), Hamburg, Deutschland, Europa, 1977, S. 173 (173); Reicherzer, Authentische Gesetzgebung, 2006, S. 481 wählt für diese Pflichten in Abgrenzung zum „formellen Gesetzgebungsverfahren“ der Art. 70 ff. GG den Begriff des „materiellen Gesetzgebungsverfahrens“. Dieses materielle Verfahren würde nach der hier vorgenommenen Trennung zwischen tatsächlich-prognostischen und materiellen Spielräumen jedoch nicht nur Pflichten an das Verfahren hinsichtlich der materiellen Spielräume definieren, sondern auch Pflichten hinsichtlich der tat­ sächlich-prognostischen Spielräume. Aus diesem Grund stiftet die Verwendung des Begriffes des „materiellen Gesetzgebungsverfahrens“ mehr Verwirrung als Klarheit. Der Begriff des „inneren Gesetzgebungsverfahrens“ ist vorzugswürdig. 5  Steinbach, Gesetzgebung (Fn. 3), S. 3. 6  Schwerdtfeger, Methodik (Fn. 4), S. 178; Smeddinck, Gesetzgebungsmethodik und Gesetzestypen, in: Kluth/Augsberg (Hrsg.), Gesetzgebung. Rechtsetzung durch Parlamente und Verwaltungen sowie ihre gerichtliche Kontrolle, 2014, S. 69 (78). 7  Pestalozza, Gesetzgebung im Rechtsstaat, NJW 1981, 2081 (2086). 8  Wieckhorst, Verfassungsrechtliche Gesetzgebungslehre, DÖV 2018, 845 (854). 9  Letztere Zusammenstellung (nebst Begründungspflicht) bei Steinbach, Gesetzge­ bung (Fn. 3), S. 6.

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Die Aufzählung von verschiedenen verfahrensspezifischen Pflichten ließe sich (nahezu beliebig lang) fortführen10. Damit ist zunächst zu bemerken, dass schon keine Einigkeit darüber besteht, welche Pflichten unter die Anfor­ derungen an das innere Gesetzgebungsverfahren fallen, dass diverse Pflichten miteinander vermischt werden und eine Systematisierung und Konkretisie­ rung jener Pflichten nicht gefunden ist. Am ehesten lassen sich die inneren Verfahrenspflichten noch differenzieren in solche Pflichten, die objektiv wahrnehmbar sind (wie die Pflicht zur Anhörung von Sachverständigen) und solche, die subjektive bzw. mentale Aspekte der Entscheidungsfindung be­ treffen (wie die Bildung eines Wahrscheinlichkeitsurteils oder das gedankli­ che Abwägen)11. Die vorliegende Ausarbeitung hat sich dazu entschieden, eine Trennung vorzunehmen zwischen Spielräumen in tatsächlich-prognostischer sowie Spielräumen in materiell-rechtlicher Hinsicht und stellt – mithin dieser Struktur der Arbeit geschuldet – zu diesem Zeitpunkt zunächst die Frage, welche Verfahrenspflichten den Gesetzgeber im Hinblick auf die Ermittlung der Tatsachen und das Ermitteln einer Prognose treffen. Vor diesem Hinter­ grund ist es möglich, auch dem Strauß der oben zitierten Pflichten des inne­ ren Gesetzgebungsverfahrens solche zu entnehmen, die die an dieser Stelle zunächst zu diskutierende Frage im Hinblick auf die Ermittlung des Tatsäch­ lichen sowie die der Prognoseentscheidung betreffen (u. a. Heranziehung und Aufbereitung des Materials). Andererseits sind aber auch Pflichten umschrie­ ben, die die materiell-rechtlichen Bewertungsentscheidungen betreffen (u. a. Abwägung des Materials und Begründung einer solchen Abwägung12). In Literatur und Rechtsprechung bleibt diese Differenzierung zumindest in ihrer begrifflichen Konsistenz vage. Es wird zu zeigen sein, dass die hier vorgeschlagene Differenzierung nach inneren Verfahrenspflichten hinsicht­ lich des Tatsächlichen sowie solchen hinsichtlich der materiellen Abwägung 10  Merten, „Gute“ Gesetzgebung als Verfassungspflicht oder Verfahrenslast?, DÖV 2015, 349 (353) stellt zusammenfassend diverse Anforderungen an das „innere Ge­ setzgebungsverfahren“ dar: „subtile Sachverhaltsermittlungen durchführen, Statisti­ ken heranziehen, Informationen dokumentieren, Rechtsvergleichung betreiben, unter­ schiedliche Lösungsmöglichkeiten erwägen, Interessen abwägen, Prognosen anstellen, Sachverständige und Betroffene anhören, Kritik beachten, Enquête-Kommissionen einsetzen, Fremderarbeitungen bestellen, Gesetzesfolgen abschätzen, Gesetzestests durchführen, Normenkontrollräte einführen und Gesetze nachträglich evaluieren“. 11  In diesem Sinne Raabe, Grundrechte und Erkenntnis: der Einschätzungsspiel­ raum des Gesetzgebers, 1998, S. 368. 12  Wenn hinsichtlich der Begründungspflicht in eine „formelle“ Begründungs­ pflicht und eine „materielle“ Abwägungspflicht unterteilt wird, vgl. Erbguth, Und der Gesetzgeber schuldet wirklich nichts als das Gesetz?, JZ 2008, 1038 (1040) ist dies vor diesem Hintergrund für diesen Ansatz irreführend. Die „formelle“ Begründungs­ pflicht ist eine Pflicht im Hinblick auf „materiell“-rechtliche Spielräume.



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume115

Sinn ergibt und sich die jeweils aufgezeigten Argumente für oder gegen das Bestehen solcher Pflichten sinnvoll in die Struktur der tatsächlichen und materiell-rechtlichen Spielräume einfügen lassen. Dies hat zur Folge, dass sich die Anforderungen an das innere Gesetzgebungsverfahren unterschied­ lich ausgestalten, je nachdem, ob die Ermittlung tatsächlicher Umstände oder die materielle Abwägung zur Debatte steht. Dem rechtswissenschaftlichen Meinungsstand, der dortigen fehlenden Dif­ ferenzierung und der Struktur der Arbeit ist es jedoch geschuldet, dass die nachfolgende Diskussion an dieser Stelle – die nach der Systematik der Ar­ beit zunächst nur die Diskussion um die Pflichten des Gesetzgebers im Hin­ blick auf das Tatsächliche vorsieht – auch – im Vorgriff auf die später zu leistende Diskussion – solche Pflichten im Hinblick auf die materiell-rechtli­ chen Bewertungsentscheidungen darstellt und diskutiert. a) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Zunächst ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinsicht­ lich verfahrensspezifischer Pflichten in den Blick zu nehmen. aa) Erster Senat In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts war es im vergan­ genen Jahrzehnt insbesondere das erste Hartz-IV-Urteil (2010)13, welches dem Gericht dahingehende Kritik einbrachte, unzulässig in den dem Gesetz­ geber vorbehaltenen Bereich einzugreifen, weil es Verfahrensanforderungen aufstelle, die das Grundgesetz so nicht kenne14. Gegenstand dieser Entscheidung war das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, welches nach Auffassung des entscheidenden Ersten Senates zwar grundsätzlich aus der Verfassung abge­ leitet werden könne, eine Bestimmung der konkreten Höhe jedoch nicht verfassungsrechtlich bestimmbar sei15. Dem Gesetzgeber käme daher diesbe­ züglich ein Gestaltungsspielraum zu16.

13  BVerfGE

125, 175 – Hartz-IV-Gesetz (2010). Ist der Gesetzgeber verfassungsrechtlich verpflichtet, Gesetze zu be­ gründen?, DÖV 2010, 754 (759 ff.); Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Jestaedt et al., Das entgrenzte Gericht. Eine kriti­ sche Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 281 (384); Heusch, Gesetzeskontrolle (Fn. 3), S. 952. 15  BVerfGE 125, 175 (Rn. 138) – Hartz-IV-Gesetz (2010). 16  BVerfGE 125, 175 (Rn. 133) – Hartz-IV-Gesetz (2010). 14  Hebeler,

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Ob der Gesetzgeber diesen Spielraum eingehalten habe, hat das Gericht verfahrensspezifisch geprüft. Die vom Bundesverfassungsgericht aufgestell­ ten Anforderungen an das Verfahren in dieser Entscheidung lassen sich dabei ebenso einordnen in die oben vorgenommene Unterteilung der Verfahrens­ pflichten hinsichtlich des Tatsächlich-prognostischen (das Bundesverfas­ sungsgericht fragt nämlich danach, ob die Tatsachen zutreffend ermittelt wurden17) und Verfahrenspflichten im Hinblick auf die materiell-rechtliche Abwägungsentscheidung (das Gericht will schlüssige Berechnungsverfahren verwendet wissen18). Der Entscheidung ist jedoch gerade nicht zu entneh­ men, dass das Gericht unterschiedliche Anforderungen an die tatsächlichen und materiell-rechtlichen Pflichten stellt. Das Gericht führte vielmehr allge­ mein aus, dass „zur Ermöglichung dieser verfassungsgerichtlichen Kontrolle […] für den Gesetzgeber die Obliegenheit [besteht], die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offenzulegen“19. Auch die Entscheidung des Ersten Senates zum Asylbewerberleistungsge­ setz (2012) beschäftigte sich mit der Sicherung des menschenwürdigen Exis­ tenzminimums. Der Erste Senat bezog sich dabei explizit auf die Hartz-IVEntscheidung20 und benannte ebenso eine Obliegenheit21, führte sodann aber aus, dass „den Gesetzgeber keine spezifischen Pflichten im Verfahren“ tref­ fen, sondern entscheidend sei, „ob sich der Rechtsanspruch auf existenzsi­ chernde Leistungen durch realitätsgerechte, schlüssige Berechnungen sach­ lich differenziert begründen lässt“22. Entscheidend sei damit, ob das Gesetz objektiv begründbar, nicht ob es subjektiv begründet ist. In die gleiche Richtung geht die nächste Entscheidung des Ersten Senates zum menschen­ würdigen Existenzminimum aus dem Jahr 2014, nach dem die „aus der Ver­ fassung ergebenden Anforderungen an die methodisch sachgerechte Bestim­ mung grundrechtlich garantierter Leistungen […] sich nicht auf das Verfahren der Gesetzgebung, sondern auf dessen Ergebnisse [beziehen]“23. Die Ent­ 17  BVerfGE

125, 175 (Rn. 142) – Hartz-IV-Gesetz (2010). 125, 175 (Rn. 142) – Hartz-IV-Gesetz (2010), damit ist wohl eine materiell-rechtliche Wertungsentscheidung verbunden; in diesem Sinne jedenfalls das SG Berlin NDV-RD 2012, 56 (Rn. 91 ff.) – BVerfG-Vorlagebeschluss (2012) in Reak­ tion auf die Rechtsprechung des BVerfG; in einem anderen Zusammenhang (Abbau von Studienkapazitäten) fordert auch das OVG Berlin NVwZ 1996, 1239 (Rn. 32) (1996) als Anforderung an die Verfassungsgemäßheit die angemessene Abwägung vom Gesetzgeber, die Niederschlag in den Gesetzgebungsmaterialien zu finden habe. 19  BVerfGE 125, 175 (Rn. 144) – Hartz-IV-Gesetz (2010). 20  BVerfGE 132, 134 (Rn. 69) – Asylbewerberleistungsgesetz (2012). 21  BVerfGE 132, 134 (Rn. 73) – Asylbewerberleistungsgesetz (2012). 22  BVerfGE 132, 134 (Rn. 70) – Asylbewerberleistungsgesetz (2012); (Hervorhe­ bungen nicht im Original). 23  BVerfGE 137, 34 (Rn. 77) – menschenwürdiges Existenzminimum (2014). 18  BVerfGE



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume117

scheidung des Gesetzgebers müsse lediglich begründbar sein24. Der Erste Senat hat sich in seiner ersten Hartz-IV-Entscheidung offenbar missverständ­ lich ausgedrückt25. Auch die nächste Entscheidung des Ersten Senates zur Grundsicherung für Arbeitssuchende macht deutlich, dass „die Verfassung keine besonderen Vorgaben für das Gesetzgebungsverfahren macht“ und „vielmehr die sachlich differenzierende, im Ergebnis tragfähige Begründbar­ keit der festgesetzten Beträge in ihrer Gesamthöhe [verlangt]“26. Auf das Begründbarkeits-Erfordernis der Entscheidung aus 201427 und nicht auf die Begründung stellt auch die Entscheidung des Ersten Senates aus dem Jahr 2019 hinsichtlich der (nicht-)zulässigen Kürzung der Leistungen für Arbeits­ suchende ab28. Auch in den neuesten Entscheidungen zum Tarifeinheitsgesetz und Atom­ ausstieg des Ersten Senates wird ausgeführt, dass Verfahrenspflichten des Gesetzgebers allenfalls auf Ausnahmen beschränkt seien. Grundsätzlich be­ stünde keine „selbständige, von den Anforderungen an die materielle Verfas­ sungsmäßigkeit des Gesetzes unabhängige Sachaufklärungspflicht“29. bb) Zweiter Senat Vermeintlich anschließend an die Rechtsprechung des Ersten Senates zum ersten Hartz-IV-Urteil30 formulierte der Zweite Senat in letzter Zeit in sei­ nen Entscheidungen zur W-Besoldung31 und zur Richterbesoldung in Sach­ sen-Anhalt jedoch explizite Verfahrenspflichten. Der Gesetzgeber unterliege sowohl hinsichtlich der „Ermittlung“ als auch hinsichtlich der „Abwägung der berücksichtigten und berücksichtigungsfähigen Bestimmungsfaktoren“ einer Darlegungs- und Begründungspflicht32. Während der Erste Senat also nach der Hartz-IV-Entscheidung darum bemüht war, deutlich zu machen, dass den Gesetzgeber gerade keine besonderen Verfahrenspflichten treffen, begründet der Zweite Senat im Hinblick auf die gleichen Hartz-IV-Entschei­ 24  BVerfGE

137, 34 (Rn. 80) – menschenwürdiges Existenzminimum (2014). auch Sanders/Preisner, Begründungspflicht des Gesetzgebers und Sachver­ haltsaufklärung im Verfassungsprozess, DÖV 2015, 761 (770). 26  BVerfGE 142, 353 (Rn. 54) – Grundsicherung für Arbeitssuchende (2016). 27  BVerfGE 137, 34 (Rn. 80) – menschenwürdiges Existenzminimum (2014). 28  BVerfGE 152, 68 (Rn. 122) – Sanktionen im Sozialrecht (2019). 29  BVerfGE 146, 71 (Rn. 127) – Tarifeinheitsgesetz (2017). 30  Diesen Zusammenhang erkennen Sanders/Preisner, Begründungspflicht (Fn. 25), DÖV 2015, 761 (761 ff.); ebenso auch Wieckhorst, Gesetzgebungslehre (Fn. 8), DÖV 2018, 845 (848). 31  BVerfGE 130, 263 (Rn. 164) – W-Besoldung (2012). 32  BVerfGE 139, 64 (Rn. 130) – Richterbesoldung (2015). 25  So

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

dungen genau solche Verfahrenspflichten. Es wird daher darauf verwiesen, dass das Bundesverfassungsgericht gespalten sei33. Zu vermuten wäre danach, dass der Zweite Senat die erste Hartz-IV-Ent­ scheidung missversteht. Beachtenswert ist jedoch, dass der Zweite Senat be­ reits vor der ersten Hartz-IV-Entscheidung des Ersten Senates in anderen Fällen auf bestimmte Verfahrenspflichten abstellte. Zu nennen ist die Ent­ scheidung des Zweiten Senates zur Südumfahrung Stendal (1996), deren Gegenstand ein Gesetz war, welches die genaue Planung einer Eisenbahn­ strecke für zulässig erklärte. Neben der hauptsächlich diskutierten Frage, ob eine solche Einzelmaßnahme überhaupt zulässigerweise durch die Gesetzge­ bung entschieden werden dürfe34, stellte das Gericht fest, dass die Planung „enteignungsrechtliche Vorwirkungen“ entfalte, daher als Legalenteignung an Art. 14 Abs. 3 GG zu messen sei35 und dem Gesetzgeber hier eine Gestal­ tungsbefugnis zukäme. Im Rahmen dieser sei er verpflichtet, nicht nur den Sachverhalt zutreffend und vollständig zu ermitteln (Verfahrenspflicht im Hinblick auf die Prognoseentscheidung), sondern auch „anhand dieses Sach­ verhalts alle sachlich beteiligten Belange und Interessen der Entscheidung zugrunde zu legen sowie umfassend und in nachvollziehbarer Weise gegen­ einander abzuwägen“36 (Verfahrenspflichten im Hinblick auf die materiellrechtliche Abwägungsentscheidung). Das Gericht formulierte zwar nicht ex­ plizit, dass diese Abwägung zu begründen ist, die Pflicht zur Abwägung überhaupt impliziert aber im Ergebnis, dass diese auch gegenüber dem Ge­ richt begründet werden muss37. Auf die tragfähige „Ermittlung“ und „Ab­ wägung“ hat der Zweite Senat auch in einer Entscheidung zur kommunalen Neugliederung abgestellt38. In neuerer Zeit hat der Zweite Senat im Zensus-Urteil von 2018 verschie­ dene Voraussetzungen an die ordnungsgemäße Prognose des Gesetzgebers aufgestellt. Dass der Gesetzgeber eine ordnungsgemäße Prognose vorgenom­ men hätte, wurde insbesondere mit Hinblick darauf begründet, dass die Er­ mittlung der erheblichen Daten von großem Umfang und Dauer waren und dass insbesondere auch diverse Experten einbezogen wurden39.

33  Wieckhorst,

Gesetzgebungslehre (Fn. 8), DÖV 2018, 845 (849). Gesetzgeber (Fn. 14), DÖV 2010, 754 (758) m. w. N. 35  BVerfGE 95, 1 (Rn. 66) – Südumfahrung Stendal (1996). 36  BVerfGE 95, 1 (Rn. 68) – Südumfahrung Stendal (1996). 37  Hebeler, Gesetzgeber (Fn. 14), DÖV 2010, 754 (759). 38  BVerfGE 86, 90 (Rn. 64) – kommunale Rück-Neugliederung (1992). 39  BVerfGE 150, 1 (Rn. 288 ff.) – Zensus 2011 (2018). 34  Hebeler,



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume119

cc) Zusammenfassung Im Allgemeinen wird man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge­ richts hinsichtlich gesetzgeberischer Verfahrenspflichten als wenig stringent bezeichnen können40. Über das Einfallstor der Verhältnismäßigkeit sieht es sich mal mehr, mal weniger zur Kontrolle des gesetzgeberischen Verfahrens berechtigt41. Zwar scheint der Erste („Grundrechts“-)Senat Verfahrenspflichten eher abzulehnen und der Zweite Senat solche eher anzuerkennen. Das Gericht (bzw. der Zweite Senat) begründet dabei dogmatisch nicht, warum in den Entscheidungen des Zweiten Senates eine Ausnahme zur vom Ersten Senat aufgestellten Regel greife. Insbesondere liefert das Gericht keine Kriterien für die Annahme solcher Ausnahmen42. Zu Recht wird eingewandt, dass eine solch unklare Handhabe – auch wenn sich das Bundesverfassungsgericht teilweise zurücknimmt – die Freiheiten und Spielräume des Gesetzgebers im Gesamten beschränken, da das Verfah­ ren der Gesetzgebung stets der Unsicherheit unterliegt, welche Maßstäbe das Bundesverfassungsgericht an seine inhaltliche Kontrolle ansetzen wird43. b) Für Verfahrenspflichten Grundlegend und mit großer Deutlichkeit hat zunächst Schwerdtfeger im Jahr 1977 Pflichten des inneren Gesetzgebungsverfahrens begründet44. Er sah nicht nur eine umfassende Pflicht zur Tatsachenermittlung, zur Aufberei­ tung dieser sowie zur Abwägung, sondern begründete auch, dass die Verlet­ zung dieser Pflichten verfassungsrechtlich relevant seien und es für die Be­ urteilung der Verfassungsgemäßheit des Gesetzes daher auf eine Ergebnis­ kontrolle nicht mehr zwingend ankomme, wenn diese Verfahrenspflichten bereits verletzt seien45. Neben ablehnenden Haltungen wurde diese Auffas­ sung in der Literatur auch positiv aufgegriffen und weiterentwickelt. Für die Bestandsaufnahme sind zunächst die verschiedenen Arten der jeweiligen

40  So auch Reyes y Ráfales, Mindestrationalität im inneren Gesetzgebungsverfah­ ren als Verfassungspflicht, Rechtstheorie 45 (2014), 35 (44). 41  Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, 1997, S. 330; Nolte, Rationale Rechtsfin­ dung im Sozialrecht, Der Staat 52 (2013), 245 (248); Sanders/Preisner, Begrün­ dungspflicht (Fn. 25), DÖV 2015, 761 (767). 42  Wieckhorst, Gesetzgebungslehre (Fn. 8), DÖV 2018, 845 (849). 43  Mengel, Gesetzgebung (Fn. 41), S. 330. 44  Schwerdtfeger, Methodik (Fn. 4), S. 173 ff. 45  Schwerdtfeger, Methodik (Fn. 4), S. 178.

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Pflichten zu differenzieren, ehe dargestellt werden soll, welche verfassungs­ rechtlichen Anknüpfungspunkte es für diese Pflichten gibt. aa) Differenzierung nach Art der Pflicht Aufbauend auf den bereits oben genannten umfassenden verschiedenen Pflichten des Gesetzgebers im Hinblick auf das innere Gesetzgebungsverfah­ ren soll zunächst der Versuch unternommen werden, die genannten Pflichten in eine gewisse Struktur einzuordnen. (1) Begründungspflichten Strenge, aber auch – zumindest vordergründig – eindeutige Anforderungen an das innere Gesetzgebungsverfahren stellen solche Ansichten, die eine Begründung der gesetzgeberischen Maßnahme verlangen und den Gesetzge­ ber auch zur Darlegung dieser Begründung verpflichtet sehen46. Unklar bleibt dabei häufig, ob mit dem Erfordernis einer Begründungspflicht ledig­ lich gemeint ist, dass der Gesetzgeber darzustellen habe, welche tatsächlichen Grundlagen er seiner Entscheidung zu Grunde legt, oder ob auch gefordert wird, dass der Gesetzgeber seine Abwägungsentscheidung in materiellrechtlicher Hinsicht zu begründen habe. Ebenso unklar bleibt, ob das Gesetz explizit (in einer Präambel oder in einem gesonderten Dokument) zu begrün­ den ist, oder aber ob sich die Begründung nur aus irgendwelchen Materialen oder den Umständen entnehmen lassen muss. (2) Sachaufklärungspflicht Wieckhorst erkennt eine „selbstständige Sachaufklärungs- und Begrün­ dungspflicht“ des Gesetzgebers47. Auch Schwerdtfeger sowie Smeddinck stellen nicht auf eine Begründung ab, fordern aber ebenso, dass das Daten­ material heranzuziehen und aufzubereiten, mithin dass der Sachverhalt auf­ zuklären sei48. Umfassende Aufklärung der tatsächlichen Umstände sowie 46  Pestalozza, Gesetzgebung (Fn. 7), NJW 1981, 2081 (2086); Lücke, Begrün­ dungszwang und Verfassung, 1987, S. 105 f., nach dem der Begründungszwang je­ doch durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden kann; Gartz, Be­ gründungspflicht des Gesetzgebers, 2015, S. 294; Wieckhorst, Gesetzgebungslehre (Fn. 8), DÖV 2018, 845 (853). 47  Wieckhorst, Gesetzgebungslehre (Fn. 8), DÖV 2018, 845 (853). 48  Schwerdtfeger, Methodik (Fn. 4), S. 173; Smeddinck, Gesetzgebungsmethodik (Fn. 6), S. 78; auch Lücke, Die Allgemeine Gesetzgebungsordnung, ZG 16 (2001), 1 (26) erkennt eine Pflicht die „relevanten Tatsachen zu ermitteln“.



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume121

die Kenntnis möglicher Alternativen, der Folgen, der Kosten, der Stellung­ nahmen der Betroffenen etc. sieht Mengel als notwendig für die Entschei­ dungsfreiheit des Einzelnen an, welche für ihn eine Voraussetzung demokra­ tisch-rechtsstaatlicher Gesetzgebung ist49. Gemeint ist damit im Ergebnis das Anknüpfen an eine Pflicht zur Tatsachenfeststellung und zur Ermittlung und Festlegung von Prognosen50, die auch Köck erkennt51. (3) Abwägungspflicht Eine der Sachaufklärung nachgelagerten Pflicht sehen Schwerdtfeger und Smeddinck in der Abwägung des aufbereiteten Materials52. Auch Erbguth sieht den Gesetzgeber zur Abwägung widerläufiger Interessen verpflichtet53 und meint damit wohl auch eine Pflicht zur Abwägung der Rechtspositionen. Nicht immer klar wird, ob sich die Abwägungspflicht auf die Abwägung der Faktenlage bezieht (Gewichtung der Wahrscheinlichkeiten im Rahmen der Prognose, Auseinandersetzung mit möglichen Regelungsalternativen etc.)54, oder ob auch eine Pflicht zur Abwägung der Rechtspositionen ge­ meint sein soll. Lücke jedenfalls will den Gesetzgeber zu einer Beschäftigung mit den „sachlichen und rechtlichen Umständen“ des Gesetzes verpflichtet sehen55 und fordert demgemäß eine Abwägung sowohl im Hinblick auf die Faktenlagen, als auch der Rechtspositionen56.

49  Mengel, Gesetzgebung (Fn. 41), S. 387; neben der Entscheidungsfreiheit des Einzelnen führt er die Legitimation der Entscheidungsträger, die Transparenz der Ent­ scheidungsfindung und des Entscheidungsinhaltes sowie die Chancengleichheit der Mitwirkung der von der Entscheidung Betroffenen als Voraussetzungen demokratischrechtsstaatlicher Gesetzgebung an, S. 272 ff. 50  Siehe dazu auch Gusy, Das Grundgesetz als normative Gesetzgebungslehre?, ZRP 1985, 291 (292 f.). 51  Köck, Gesetzesfolgenabschätzung und Gesetzgebungsrechtslehre, VerwArch 93 (2002), 1 (14), seiner Ansicht nach sei für die Verfahrenskontrolle jedoch Vorausset­ zung, dass sich die inhaltliche Kontrolle des Gesetzes durch das Bundesverfassungs­ gericht auf eine Evidenz- oder Vertretbarkeitskontrolle beschränkt; Zur Unmöglich­ keit der Beschränkung der inhaltlichen Kontrolle siehe jedoch Teil 4 D. 52  Schwerdtfeger, Methodik (Fn. 4), S. 173; Smeddinck, Gesetzgebungsmethodik (Fn. 6), S. 78. 53  Erbguth, Gesetzgeber (Fn. 12), JZ 2008, 1038 (1041). 54  In diesem Sinne die Ausführungen bei Gusy, Grundgesetz (Fn. 50), ZRP 1985, 291 (293 f.). 55  Lücke, Gesetzgebungsordnung (Fn. 48), ZG 16 (2001), 1 (26). 56  In diesem Sinne wohl auch Köck (Fn. 51), VerwArch 93 (2002), 1 (14).

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

(4) Transparenzpflichten Auch wird vertreten, dass der Gesetzgeber in verfahrensrechtlicher Hin­ sicht zur Transparenz verpflichtet sei, d. h. alle Pläne und Vorhaben eines Gesetzes sowie seine Motive und Grundlagen der Entscheidung öffentlich gemacht werden müssten57. Damit einher gehe sodann auch die chancen­ gleiche Möglichkeit der Einflussnahme auf das Gesetzgebungsverfahren durch die Betroffenen und gesellschaftlichen Verbände58. (5) Zusammenfassung Im Wesentlichen lässt sich damit unterteilen in lediglich – eher unkon­ krete – Optimierungspflichten an das Verfahren sowie in konkrete Begrün­ dungspflichten. Beide Pflichten können noch einmal dahingehend unterteilt werden, ob sie nur die Offenlegung (Begründungspflicht) bzw. Ermittlung von Tatsachen und Prognosen (Optimierungspflichten) meinen, oder aber auch eine Abwägung der Grundrechtspositionen verlangen, die zumindest entweder tatsächlich stattzufinden habe (Optimierungspflichten) oder gar in einer formalen Begründung Niederschlag finden müsse (Begründungspflicht). bb) Verfassungsrechtliche Anknüpfung Insofern sich die prozeduralen Pflichten nicht explizit aus den grundge­ setzlichen Verfahrenspflichten (Art. 76 ff. GG) ergeben, werden derartige Pflichten regelmäßig aus dem Demokratieprinzip, aus dem Rechtstaatsprin­ zip oder aus den Grundrechten selbst hergeleitet. Auch werden Anknüpfungs­ punkte im Übermaßverbot, Gemeinwohlprinzip, im Verhältnismäßigkeits­ grundsatz und im Willkürverbot genannt59. (1) Abgeleitet aus den Grundrechten Wieckhorst erkennt eine „selbstständige Sachaufklärungs- und Begrün­ dungspflicht“, die sich an die „hergebrachte Grundrechtsdogmatik“ anknüp­ fen lässt60. Er argumentiert, dass den Grundrechten verfahrensspezifische Vorgaben für die innere Entscheidungsfindung des Gesetzgebers zu entneh­ 57  Mengel,

Gesetzgebung (Fn. 41), S. 278. Gesetzgebung (Fn. 41), S. 282 f. 59  Steinbach, Gesetzgebung (Fn. 3), S. 5; Anknüpfungspunkte im Übermaß- und Willkürverbot nennt auch Gusy, Grundgesetz (Fn. 50), ZRP 1985, 291 (295 f.), der sodann eine solche Herleitung im Ergebnis aber ablehnt (296 ff.). 60  Wieckhorst, Gesetzgebungslehre (Fn. 8), DÖV 2018, 845 (853). 58  Mengel,



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume123

men seien61. Solche könnten und müssten insbesondere dort fruchtbar ge­ macht werden, wo das Grundgesetz nur schwache materielle Maßstäbe vor­ gäbe. Das sei insbesondere auf der Ebene der Grundrechte der Fall, da die Frage nach einem Grundrechtseingriff insbesondere durch Abwägung zu be­ antworten sei. Eine solche Abwägung könne nur dann im Sinne eines effek­ tiven Grundrechtsschutzes erfolgreich durchgeführt werden, wenn der Ge­ setzgeber Kenntnis von den maßgeblichen Sachverhaltsvorgängen habe62 und so dem „Wahrheitsideal“ näher kommt63. Nur dies führe dazu, den Ein­ zelnen vor Willkür zu schützen64. Auch Erbguth argumentiert mit den Grundrechten und leitet aus der Schrankenlehre und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gar eine Abwä­ gungspflicht ab. Dem „In-Verhältnis-Setzen“ des Verhältnismäßigkeitsprin­ zips sei diese Abwägung immanent65. Die Abwägungspflicht folge dabei sowohl aus Art. 1 Abs. 3 als auch aus Art. 20 Abs. 3 GG66. Übersehen dabei wird allerdings, dass es nur darum geht, dass die Rechts­ güter am Ende des Prozesses verhältnismäßig zueinanderstehen, nicht, dass der Gesetzgeber diese Verhältnismäßigkeit durch Verfahren herstellt. Im Hinblick auf das Hartz-IV-Urteil wurde damit argumentiert, dass sich das Recht auf ein existenzwürdiges Existenzminimum direkt auf Art. 1 GG stütze und daher der besondere Wert der Menschenwürde ein Anknüpfungspunkt für eine Verfahrenskontrolle sei67. Aber auch diese Überlegungen bleiben viel zu allgemein, sodass sie im Hinblick auf die ureigene politische Ent­ scheidung des Gesetzgebers sowie die ausdrücklichen grundgesetzlichen Regeln der Art. 76 ff. GG die Durchbrechung des Gewaltenteilungsgrundsat­ zes in einem erheblichen Maße nicht zu rechtfertigen vermag68. Noch eine weitere Überlegung mag verdeutlichen, dass sich auch aus Art. 1 Abs. 1 GG diesem Sinne wohl auch Smeddinck, Gesetzgebungsmethodik (Fn. 6), S. 79. Gesetzgebungslehre (Fn. 8), DÖV 2018, 845 (852 ff.). 63  So auch Raabe, Grundrechte (Fn. 11), S. 382 f., der jedoch in den Grundrechten lediglich einen Ansatzpunkt für Verfahrenspflichten erkennt, aber keine definitive Pflicht. Gegen eine definitive Pflicht im Einzelfall würde sprechen, wenn das Wahr­ heitsideal ohnehin nicht erfüllt werden könnte oder wenn eine eilige Entscheidung durch Zeitdruck verzögert werden würde oder aber erhebliche finanzielle und persön­ liche Mittel in Anspruch nehmen würden. Die von ihm dem Grunde nach anerkannte Begründung der Verfahrenspflicht mit den Grundrechten würde daher kaum eine praktische Bedeutung haben. 64  Schwerdtfeger, Methodik (Fn. 4), S. 178. 65  Erbguth, Gesetzgeber (Fn. 12), JZ 2008, 1038 (1041). 66  Erbguth, Gesetzgeber (Fn. 12), JZ 2008, 1038 (1041). 67  Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), 630 (637). 68  Rixecker, Müssen Gesetze begründet werden?, in: Jung/Ellscheid (Hrsg.), Rechtsbegründung – Rechtsbegründungen, Günter Ellscheid zum 65. Geburtstag, 61  In

62  Wieckhorst,

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

keine bestimmten Verfahrensanforderungen hinsichtlich der materiellen Ab­ wägung ergeben. Ziel der Beschwerdeführer in der Hartz-IV-Entscheidung war es, aus Art. 1 Abs. 1 GG und der dort verbürgten Menschenwürde einen subjektiv höheren Leistungsanspruch herzuleiten und keinen objektiv ande­ ren Gesetzgebungsprozess69. (2) Abgeleitet aus dem Demokratieprinzip Auch aus dem Demokratieprinzip werden Anforderungen an das innere Gesetzgebungsverfahren abgeleitet70, konkret seien Heranziehungs- und Aufbereitungspflichten damit zu begründen71. Gleiches gelte für eine Offen­ legungs- und Begründungspflicht72. Eine Entscheidung könne im Sinne des Demokratieprinzips nur dann als demokratisch gelten, wenn der einzelne Abgeordnete eine eigene und freie Entscheidung treffe. Für diese Entscheidungsfreiheit des Einzelnen sei eine umfassende Information notwendig73. Insbesondere ginge auch mit der Ent­ scheidung für die repräsentative Demokratie, die sich zum emotionsgelade­ nen Handeln der unmittelbaren Demokratie abgrenzt, eine Entscheidung für ein rationales Handeln einher74. Ebenso ergebe sich die Transparenzpflicht und die damit verbundenen Einflussmöglichkeit, die chancengleich ausge­ staltet sein müsse, aus dem Demokratieprinzip, das beinhalte, dass der Bür­ ger das „Warum“ und „Wie“ des Gesetzgebungsprozesses nachvollziehen können müsse75. Auch hinsichtlich der Begründungspflicht gelte, dass das Demokratieprin­ zip die Verhandlung des Gesetzgebers über das Gesetz erfordere und der ar­ 1999, S. 126 (132); Dann, Kontrolle (Fn. 67), Der Staat 49 (2010), 630 (637); Hebeler, Gesetzgeber (Fn. 14), DÖV 2010, 754 (762). 69  Möllers, Legalität (Fn. 14), S. 385. 70  Reyes y Ráfales, Mindestrationalität (Fn. 40), Rechtstheorie 45 (2014), 35 (52 ff.) entscheidet insofern zwischen demokratischen Rationalitätsvorgaben (die be­ gründbar seien) und rechtsstaatlich-fachrationalen Rationalitätsvorgaben (die abzuleh­ nen seien). 71  Smeddinck, Gesetzgebungsmethodik (Fn. 6), S. 78. 72  Redeker/Karpenstein, Über Nutzen und Notwendigkeiten, Gesetze zu begrün­ den, NJW 2001, 2825 (2827), wobei nicht ganz klar wird, ob aus dem demokrati­ schen Prinzip bereits eine verfassungsrechtliche Begründungspflicht folgt, oder es sich lediglich um die Anregung handelt, eine Begründungspflicht einfachgesetzlich oder verfassungsrechtlich zu verankern. 73  Mengel, Gesetzgebung (Fn. 41), S. 280 ff., 387. 74  Schwerdtfeger, Methodik (Fn. 4), S. 177. 75  Mengel, Gesetzgebung (Fn. 41), S. 276; Redeker/Karpenstein (Fn. 72), NJW 2001, 2825 (2827).



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume125

gumentative Widerstreit der Personen nur erfolgen könne, wenn die Gesetze auch begründet würden76. Der Begründung käme zudem eine Befriedungsund Konsensfunktion77 zu, indem diese dem Einzelnen die Gesetze ver­ ständlich macht78. Die Begründungspflicht diene damit der Rechtfertigung, die der Gesetzgeber leisten müsse79. Auch dieser sog. staatsexterne Öffent­ lichkeitszwang ließe sich aus dem Demokratieprinzip herleiten80. Auch dieser Begründungsansatz überzeugt nicht. Die Offenheit der demo­ kratischen Willensbildung gehört zweifellos zum Demokratieprinzip. Dies bedeutet jedoch noch nicht, dass die Gründe für eine bestimmte demokrati­ sche Entscheidung in formellen Drucksachen o. Ä. nachzulesen sein müss­ ten81. Zutreffend wird darauf hingewiesen, dass auch für den Fall einer ordnungsgemäßen Tatsachenermittlung kaum nachvollziehbar sein wird, ob sich jeder einzelne Abgeordnete mit der Materie ausreichend beschäftigt hat82, oder ob die Abgeordneten nicht vielmehr den Gesetzesbegründungen, die von der Fraktion vorgegeben werden (und die ohnehin meist aus den Ministerien stammen83) folgen, ohne sich mit jedem Gesetz vertieft inhalt­ lich zu beschäftigen. Wäre die vollumfängliche Tatsachenermittlung oder eine zwingend von den Abgeordneten zu treffende Abwägung zudem Voraus­ setzung für die Verfassungsgemäßheit des Gesetzes, so wäre der Opposition zu raten, sich dem gesetzgeberischen Entscheidungsprozess gänzlich zu ent­ ziehen und Bedenken hinsichtlich des Gesetzes gar nicht erst in das Verfah­ ren einzubringen, um sodann mit Hinweis auf die nicht diskutierten Beden­ ken das Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht zu Fall zu bringen84. Ab­ surd wird die Idee der umfassenden Information auch, wenn man diese auch bei direktdemokratischen Entscheidungsformen würde fordern wollen85. Da­ rüber hinaus ist das Parlament aufgrund der Vielzahl der Aufgaben, für die es zuständig ist, eine hochgradig arbeitsteilig agierende Institution. Der parla­ mentarische Betrieb würde faktisch zum Erliegen kommen, müsste sich jeder Abgeordnete mit jedem Gesetz umfassend und intensiv beschäftigen86. 76  Gartz,

Begründungspflicht (Fn. 46), S. 294. Lücke, Begründungszwang (Fn. 46), S. 72 f. u. S. 94 f. 78  Lücke, Gesetzgebungsordnung (Fn. 48), ZG 16 (2001), 1 (31). 79  Gartz, Begründungspflicht (Fn. 46), S. 295. 80  Lücke, Begründungszwang (Fn. 46), S. 105. 81  Rixecker, Gesetze (Fn. 68), S. 132. 82  Nolte, Rechtsfindung (Fn. 41), Der Staat 52 (2013), 245 (252); Stuttmann, Ge­ setzgeberische Gestaltungsfreiheit und verfassungsrechtliche Kontrolle, 2014, S. 39. 83  Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, 2014, S. 510. 84  Nolte, Rechtsfindung (Fn. 41), Der Staat 52 (2013), 245 (252). 85  Nolte, Rechtsfindung (Fn. 41), Der Staat 52 (2013), 245 (252). 86  Risse, Rechtsprechung und Parlamentsfreiheit, JZ 2018, 71 (74). 77  Eingehend

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Schließlich ist es gerade das Demokratieprinzip, welches dafür streitet, keine Anforderungen an das Verfahren zu stellen – die demokratisch gewähl­ ten Vertreter sollen in ihrem Entscheidungsprozess so frei wie möglich sein. Verfahrenspflichten aus dem Demokratieprinzip ableiten zu wollen, würde im Ergebnis bedeuten, das Demokratieprinzip gegen das am unmittelbarsten demokratisch legitimierte Organ, den Gesetzgeber, zu richten87. Das ist nicht überzeugend. (3) Abgeleitet aus dem Rechtsstaatsprinzip Weiter wird hinsichtlich der Pflicht zur Gesetzesbegründung auf das Rechtsstaatsprinzip verwiesen. Um das Funktionieren des Rechtsstaates zu gewährleisten, sei es Voraussetzung, dass der Bürger die Gesetze nicht nur verstehe, sondern auch Vertrauen in die Gesetze finde. Der Gesetzgeber sei daher zu einem öffentlichen Gesetzgebungsprozess angehalten, was bein­ halte, dass Gesetze zu begründen und die Motive zu veröffentlichen seien88. Art. 20 Abs. 3 GG binde den Gesetzgeber an die verfassungsmäßige Ord­ nung, der Gesetzgeber dürfe daher nicht gegen die Verfassung verstoßen und sei hinsichtlich seiner Gesetze zur Selbstkontrolle verpflichtet. Diese Selbst­ kontrollfunktion89 könne er nur wahrnehmen, wenn er sich sein Tun durch eine Begründung vergegenwärtigt90. Darüber erfülle die Begründung auch eine Fremdkontrollfunktion91 des Bundesverfassungsgerichts, die sich ebenso aus Art. 20 Abs. 3 GG ergebe und im Rahmen dessen der Gesetzgeber ver­ pflichtet sei, diese Kontrolle durch eine Begründung seiner Gesetze zu er­ möglichen bzw. nicht zu erschweren92. Selbstkontrollfunktion und Fremd­ kontrollfunktion bezeichnet Lücke als staatsinternen Begründungszwang, der sich neben der Herleitung aus Art. 20 Abs. 3 GG auch aus dem Gewaltentei­ lungsprinzip und den materiellen Grundrechten ergebe93. Der staatsexterne Begründungszwang zeige sich dagegen darin, dass die betroffenen Bürger eine Basis erkennen können müssten, anhand derer sie die Richtigkeit der Gesetze überprüfen können94. Diese Rechtsschutzfunk­ tion der Begründung leitet Lücke aus Art. 19 Abs. 4 GG und den materiellen 87  Raabe,

Grundrechte (Fn. 11), S. 381. Gesetzgebung (Fn. 7), NJW 1981, 2081 (2086); Lücke, Gesetzge­ bungsordnung (Fn. 48), ZG 16 (2001), 1 (30). 89  Dazu Lücke, Begründungszwang (Fn. 46), S. 39. 90  Lücke, Gesetzgebungsordnung (Fn. 48), ZG 16 (2001), 1 (30 f.). 91  Eingehend Lücke, Begründungszwang (Fn. 46), S. 88. 92  Lücke, Gesetzgebungsordnung (Fn. 48), ZG 16 (2001), 1 (31 f.). 93  Lücke, Begründungszwang (Fn. 46), S. 105. 94  Lücke, Gesetzgebungsordnung (Fn. 48), ZG 16 (2001), 1 (30). 88  Pestalozza,



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume127

Grundrechten (Garantie des effektiven Rechtsschutzes) sowie aus Art. 1 Abs. 1 GG und dem Prinzip der Rechtssicherheit ab95. Gleichzeitig ergäbe sich hieraus nicht ein absoluter Begründungszwang, sondern dieser könne vielmehr durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden96. Rixecker gibt jedoch zu bedenken, dass die fehlende Begründung eines Ge­ setzes wohl kaum jemals dazu geführt hätte, dass Gerichte die Bürger gegen eine Anwendung des Gesetzes nicht wirksam geschützt hätten97. Weiter wird darauf hingewiesen, dass sich auch für die Verpflichtung, Tat­ sachen festzustellen, Anhaltspunkte im rechtsstaatlichen Verhältnismäßig­ keitsgrundsatz fänden. Wenn dessen Erforderlichkeitsprinzip die Feststellung beinhalte, ob es alternative, mildere und gleich wirksame Mittel gebe, sei dies eine Frage der tatsächlichen Beurteilung, sodass der Gesetzgeber diese tatsächlichen Umstände festzustellen habe98. c) Gegen Verfahrenspflichten: Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz In Bezug auf das von Geiger geprägte Diktum, der Gesetzgeber schulde „nichts als das Gesetz“99 wird vertreten, dass den Gesetzgeber über die im Grundgesetz explizit erwähnten Pflichten keine weiteren besonderen Verfah­ renspflichten treffen. Der Gesetzgeber sei daher weder verpflichtet, vor einer Gesetzesentscheidung Tatsachen und die Gründe seiner Entscheidung für die gesetzliche Regelung (etwa mit Hilfe von Sachverständigen) festzustellen, noch unterliegt er einer Begründungspflicht, weder hinsichtlich seiner tat­ sächlichen Schlüsse noch der materiellen Abwägungsentscheidung100. 95  Lücke, Gesetzgebungsordnung (Fn. 48), ZG 16 (2001), 1 (32); Lücke, Begrün­ dungszwang (Fn. 46), S. 105. 96  Lücke, Begründungszwang (Fn. 46), S. 106. 97  Rixecker, Gesetze (Fn. 68), S. 132. 98  Lücke, Gesetzgebungsordnung (Fn. 48), ZG 16 (2001), 1 (27). 99  Geiger, Gegenwartsprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit aus deutscher Sicht, in: Berberich (Hrsg.), Neue Entwicklungen im öffentlichen Recht, 1979, S. 131 (141). 100  Meessen, Das Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1979, 833 (836); Gusy, Grundgesetz (Fn. 50), ZRP 1985, 291 (298) verneint „verfas­ sungsrechtliche Optimierungspflichten im Verfahren“ sowie „Begründungspflichten“; Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 922 meint, dass eine Begründungs­ pflicht weder verfassungsrechtlich geboten noch praktisch sinnvoll ist; Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 33 (49  f.); Dann, Kontrolle (Fn. 67), Der Staat 49 (2010), 630 (641); Hebeler, Gesetzgeber (Fn. 14), DÖV 2010, 754 (761); Cornils, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, DVBl. 2011, 1053 (1058 f.) verneint Pflichten an das „innere Gesetzgebungsverfahren“ und meint die Verfahrungsprüfung insgesamt („Er­

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

aa) Ablehnung einer Begründungspflicht Insbesondere eine gesetzgeberische Begründungspflicht (in dem Sinne verstanden, dass damit nicht nur die Darlegung der tatsächlichen Grundlagen zu verstehen ist, sondern eine Begründung der gesetzgeberischen Schluss­ folgerungen im materiell-rechtlichen Sinne) sei abzulehnen, da sie jeglicher verfassungsrechtlicher Grundlage entbehre101. Gesetzgeberische Begründun­ gen sein nicht gleichzusetzen mit der Begründung von judikativen und exe­ kutiven Entscheidungen, die sich aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprin­ zip sowie den Grundrechten herleiten lasse102. Der zwischen dem Verwaltungsermessen und dem Entscheidungsspielraum des parlamentarischen Gesetzgebers bestehende verfassungsrechtliche Unter­ schied wäre ansonsten eingeebnet103. Gesetzgebung sei etwas anderes als Verwaltungshandeln: Pflichten an die Begründung berücksichtigten den spe­ zifischen politischen Gehalt der Rechtsetzung nicht ausreichend104. Eine Übertragung der verwaltungsrechtlichen Grundsätze auf das Verfassungsrecht sei nicht möglich, da der Begründungszwang der Verwaltung aus Art. 20 Abs. 3 Hs. 2 GG (Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandeln) und aus Art. 19 Abs. 4 GG folge, diese Vorschriften den Gesetzgeber gerade aber nicht bin­ den und dieser nach Art. 20 Abs. 3 Hs. 1 GG allein an die verfassungsgemäße Ordnung gebunden sei105.

mittlungs-, Abwägungs-, Darlegungs- und Begründungspflichten“); Austermann, Die rechtlichen Grenzen des Bundesverfassungsgerichts im Verhältnis zum Gesetzgeber, DÖV 2011, 267 (270) sieht weder Pflichten zur Ermittlung von Tatsachen, noch Wür­ digung dieser, noch eine Abwägungspflicht; Gaier, Diskussionsbeitrag, in: Robbers/ Raab (Hrsg.), Die Kontrolle parlamentarischer Gesetzgebungsakte durch das Bundes­ verfassungsgericht, 2014, S. 17 (33); Heusch, Gesetzeskontrolle (Fn. 3), S. 951; Steinbach, Gesetzgebung (Fn. 3), S. 98; Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsge­ richt, 11. Aufl. 2018 Rn. 542 stellen ausschließlich auf das Ergebnis des parlamenta­ rischen Gesetzgebungsverfahren ab. 101  Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, in: Depenheuer/ Isensee (Hrsg.), Staat im Wort, 2007, S. 325 (329 ff.); Schwarz/Bravidor, Kunst der Gesetzgebung und Begründungspflichten des Gesetzgebers, JZ 2011, 653 (657). 102  Waldhoff, Gesetzgeber (Fn. 101), S. 330; Schwarz/Bravidor, Kunst (Fn. 101), JZ 2011, 653 (657). 103  Dann, Kontrolle (Fn. 67), Der Staat 49 (2010), 630 (641); Durner, Anmerkung zum BVerfG-Beschluss vom 12.10.2010 (2 BvF 1/07) – Zu verfassungswidrigen Vor­ schriften bei der Legehennenhaltung, DVBl. 2011, 97 (99). 104  Heusch, Gesetzeskontrolle (Fn. 3), S. 952. 105  Groß, Von der Kontrolle der Polizei zur Kontrolle des Gesetzgebers, DÖV 2006, 856 (860); Hebeler, Gesetzgeber (Fn. 14), DÖV 2010, 754 (760); Cornils, Ra­ tionalitätsanforderungen (Fn. 100), DVBl. 2011, 1053 (1059).



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume129

Begründung bedeute im juristischen Sprachgebrauch die „Rechtfertigung im Sinne eines Ableitens aus Vorgaben“106. Eine solche Deduktion aus Vor­ gaben nähme der Gesetzgeber jedoch gerade nicht vor, auch nicht aus der Verfassung, die keine inhaltlichen Vorgaben mache, die abzuleiten und sub­ sumieren seien, sondern nur als Rahmenordnung diene, die nicht unter- und überschritten werden darf107. Gesetzgebung sei damit induktiv und nicht de­ duktiv108. Im Gegensatz zur Verwaltung müsse der Gesetzgeber daher nicht begründen, dass die Entscheidung mit gesetzlichen Vorgaben in Übereinstim­ mung stehe109. Jedes Gesetz finde seine Begründung damit bereits ganz all­ gemein in dem Prinzip der Volkssouveränität110. Verwaltungsrechtliche Entscheidungen würden zudem regelmäßig nichtöffentlich getroffen. Die Begründung diene dort daher als Kompensation für diesen „Mangel“ in der Entscheidungsfindung. Der Bundestag verhandele jedoch nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Grundgesetzes öffentlich, Art. 42 Abs. 2 GG. Das Gesetz werde damit insbesondere auch durch die öffentliche Debatte legitimiert und kann auf eine Legitimation durch Begrün­ dung verzichten111. Die gesetzgeberische Begründungspflicht ließe sich auch nur schwer posi­ tivrechtlich in den von den Befürwortern genannten Verfassungsprinzipien verankern. Vielmehr sprächen in negativer Betrachtung eine Reihe verfas­ sungsrechtlicher Regelungen gerade für die Ablehnung einer Begründungs­ pflicht. Insbesondere wird darauf hingewiesen, dass das Grundgesetz Be­ gründungspflichten in Art. 104 Abs. 3 GG112 und in Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG113 positiv ausgestaltet114, also darüber hinaus offenbar keine Begründungs­ pflichten statuieren wollte. Schließlich wird in historischer Argumentation darauf verwiesen, dass es Merkmal nationalsozialistischer Gesetzgebung war, Gesetze zu begründen und diese daher maßgeblich zur Propaganda bei­ getragen haben115. 106  Waldhoff,

Gesetzgeber (Fn. 101), S. 332. Gesetzgeber (Fn. 101), S. 332. 108  Waldhoff, Gesetzgeber (Fn. 101), S. 333. 109  Schwarz/Bravidor, Kunst (Fn. 101), JZ 2011, 653 (657). 110  Waldhoff, Gesetzgeber (Fn. 101), S. 334; in diesem Sinne auch Gusy, Grundge­ setz (Fn. 50), ZRP 1985, 291 (299). 111  Gusy, Grundgesetz (Fn. 50), ZRP 1985, 291 (298); Schwarz/Bravidor, Kunst (Fn. 101), JZ 2011, 653 (657). 112  Der Richter hat dem vorläufig Festgenommenen die Gründe der Festnahme mitzuteilen und einen Haftbefehl mit Gründen zu versehen. 113  Der Verordnungsgeber ist verpflichtet, eine Rechtsgrundlage anzugeben. 114  Lücke, Begründungszwang (Fn. 46), S. 37. 115  Redeker/Karpenstein (Fn. 72), NJW 2001, 2825 (2827); Hofmann, Abwägung im Recht, 2008, S. 417. 107  Waldhoff,

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Zwar hat sich der Gesetzgeber selbst in seiner Geschäftsordnung des Bun­ destages in § 76 Abs. 2 GOBT eine Vorschrift gegeben, nach der Gesetzes­ vorlagen zu begründen sind. Diese entfalte jedoch als Geschäftsordnungsund nicht Verfassungsrecht für die hier zu behandelnde Frage keine Bin­ dungswirkung116. Darüber hinaus begrenze die Geschäftsordnung die Be­ gründungspflicht auf Gesetzesinitiativen und erfasse daher nicht den Abschluss des Gesetzesverfahrens und deren Veröffentlichungen117. bb) Keine Pflichten an das Verfahren Auch Optimierungspflichten an das Verfahren seien nicht ersichtlich118. So würde es insbesondere nicht gelingen, diese mit Hinweis auf das Verhältnis­ mäßigkeits- und Willkürverbot zu begründen. Auch der Hinweis auf Art. 20 Abs. 3 GG fruchte nicht. Danach ist der Gesetzgeber an die Grundrechte und damit auch an das Willkür- und Übermaßverbot gebunden. „Wie“ der Ge­ setzgeber diese Bindung verfahrensmäßig umsetzt, schreiben Art. 20 Abs. 3 GG und das Grundgesetz insgesamt jedoch nicht vor119. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass das Grundgesetz keinerlei Anforderungen an die Qualifikation von Bundestagsabgeordneten stelle120. Bundestagsabgeordnete seien dem Gemeinwohl verpflichtet, müssten aber keine Experten in den Feldern, in denen sie Gesetze erlassen, sein121. Somit sei bereits nicht sichergestellt, dass jeder Abgeordnete auch tatsächlich ver­ steht, was er entscheidet, selbst wenn die Sachumstände umfassend ermittelt wurden. Ohnehin würde selbst ein „Erklärungsirrtum“ des Parlamentes – zieht man den Vergleich zum Zivilrecht – lediglich dazu führen, dass die Erklärung anfechtbar wäre. Das Parlament müsste hierbei noch nicht einmal besondere Voraussetzungen erfüllen. Es kann Gesetze jederzeit reformieren und vermeintliche Fehler korrigieren122.

116  Rixecker, Gesetze (Fn. 68), S. 128; Kluth, Entwicklung und Perspektiven der Gesetzgebungswissenschaft, in: Kluth/Augsberg (Hrsg.), Gesetzgebung. Rechtsetzung durch Parlamente und Verwaltungen sowie ihre gerichtliche Kontrolle, 2014, S. 3 (23). 117  Rixecker, Gesetze (Fn. 68), S. 128; Waldhoff, Gesetzgeber (Fn. 101), S. 329; Hebeler, Gesetzgeber (Fn. 14), DÖV 2010, 754 (756). 118  Merten, Optimale Methodik der Gesetzgebung als Sorgfalts- oder Verfassungs­ pflicht?, in: Hill (Hrsg.), Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, 1989, S. 81 (88). 119  Gusy, Grundgesetz (Fn. 50), ZRP 1985, 291 (295). 120  Gusy, Grundgesetz (Fn. 50), ZRP 1985, 291 (297). 121  Cornils, Rationalitätsanforderungen (Fn. 100), DVBl. 2011, 1053 (1054). 122  Merten, Methodik (Fn. 118), S. 88.



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume131

Weiter sei auch zu berücksichtigen, dass die Legislative regelmäßig auch erhebliche Informationsdefizite gegenüber der Exekutive habe und insbeson­ dere die Legislative auch nicht mit eigenen Mitteln zur Erhebung von Infor­ mationen ausgestattet sei123. Zudem gäbe es den „einen“ Gesetzgeber nicht, sondern es seien meist verschiedene Stellen beteiligt124. Damit seien die einzelnen Abgeordneten, aber auch das Parlament als Organ an sich „personell und institutionell nicht in der Lage“, ein optimales Gesetzgebungsverfahren durchzuführen125. Inso­ fern das Grundgesetz jedoch nicht nur der Bundesregierung, sondern auch den Abgeordneten ein Initiativrecht für Gesetze einräumt, könne somit eine optimale Gesetzgebung im Gesamten nicht gefordert werden126. Aus diesem Grund sei auch zu berücksichtigen, dass ohne – abzulehnende – formelle Begründungspflicht die Suche nach der materiellen Begründung Gefahr läuft, spekulativ zu werden127. d) Stellungnahme Diese letztgenannten ablehnenden Ansichten gesetzgeberischer Verfahrens­ pflichten überzeugen. Der Gesetzgeber schuldet weder eine Begründung seiner Entscheidung in materiell-rechtlicher Hinsicht, noch ist er dazu ver­ pflichtet, bestimmte Anforderungen an das optimale Gesetzgebungsverfahren einzuhalten, auch nicht hinsichtlich der Ermittlung von Tatsachen und Pro­ gnosen. Zwar ist die Überprüfung der Entscheidung durch das Bundesverfas­ sungsgericht untrennbar mit der Feststellung von Tatsachen verbunden – diese Feststellung kann jedoch im Zweifel auch dem Bundesverfassungsge­ richt überantwortet werden128. 123  Gusy, Grundgesetz (Fn. 50), ZRP 1985, 291 (297); auch Raabe, Grundrechte (Fn. 11), S. 382 weist auf die Ressourcenknappheit hin. 124  Heinz, Der Schleier des Nichtwissens im Gesetzgebungsverfahren, 2009, S. 254; Austermann, Grenzen (Fn. 100), DÖV 2011, 267 (270); Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 542. 125  Gusy, Grundgesetz (Fn. 50), ZRP 1985, 291 (298); in diesem Sinne auch Merten, Methodik (Fn. 118), S. 91. 126  Cornils, Rationalitätsanforderungen (Fn. 100), DVBl. 2011, 1053 (1059); diese Überlegungen verdeutlichen auch die dogmatischen Mängel der Hartz-IV Entschei­ dung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 125, 175), in der das Gericht eine Obliegenheit (deren Nichteinhaltung aber zur Verfassungswidrigkeit führt) des Ge­ setzgebers sah, die im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berech­ nungsschritte offenzulegen, sodann hierzu aber die Mitarbeiter der Ministerien und nicht etwa die Abgeordneten befragte, vgl. Sanders/Preisner, Begründungspflicht (Fn. 25), DÖV 2015, 761 (764). 127  Groß, Kontrolle (Fn. 105), DÖV 2006, 856 (860). 128  Siehe dazu unter Teil 4 C. I. 2./3.

132

Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Lediglich der Bestimmtheitsgrundsatz ist verfassungsrechtlich aus dem Rechtsstaatsprinzip herzuleiten, da es ansonsten dem Regelungsadressaten gar nicht möglich wäre, die Gesetzesnorm zu befolgen129. Der Bestimmt­ heitsgrundsatz kann jedoch nicht als Anforderung an den inneren Gesetzge­ bungsprozess verstanden werden. Er ist nicht etwas, das gewissermaßen au­ ßerhalb des später verabschiedeten Gesetzes liegt, sondern er ist in dem zu überprüfenden Gesetz unmittelbar angelegt. Auch aus der bloßen Forderung nach einem verständlichen Gesetz kann nicht geschlussfolgert werden, dass der Gesetzgeber dieses auch begründen müsste. Hierbei handelte es sich um einen Zirkelschluss: Begründungen können auch falsch sein und dadurch gar Missverständnisse entstehen130. Missverständnisse sind somit bereits durch die hinreichende Bestimmtheit der gesetzlichen Norm zu verhindern. Der Gesetzgeber unterscheidet sich zudem entscheidend dadurch von der Verwal­ tung, dass ersterer grundsätzlich allzuständig ist und ohne besondere Er­ mächtigung Gesetze erlassen darf – das Gesetz muss sich zwar im Rahmen der Verfassung bewegen, bedarf aber keiner besonderen verfassungsrecht­ lichen Grundlage. Die Verwaltung benötigt hingegen zum Handeln stets eine gesetzliche Grundlage (Vorbehalt des Gesetzes). Auch sind die Gewährleis­ tung des freien Mandates (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) sowie die Parlamentsau­ tonomie (Art. 40 GG) als wichtige verfassungsrechtliche Vorschriften zu nennen, aus denen sich ergibt, dass das Parlament autonom über Verfahrens­ vorschriften entscheiden kann (insb. GOBT), aber nicht dazu verfassungs­ rechtlich verpflichtet ist131. Begründungs- und Verfahrenspflichten sind auch mit dem Erfordernis einer handlungsfähigen Gesetzgebung nicht zu verein­ baren: Dringliche demokratische Entscheidungen – wie sie jüngst erst wieder in der Corona-Krise erforderlich waren – könnten verfassungswidrig sein, weil in der gebotenen Eile nicht ausführlich begründet wurde oder über die Begründung keine Einigung erzielt werden konnte132. Auch von einer konkreten Begründungspflicht losgelöste Pflichten an das innere Gesetzgebungsverfahren lassen nicht nur Zweifel aufkommen, was genau diese Pflichten eigentlich einfordern, sondern auch, von wem diese zu erfüllen sind. Den Gesetzgeber als „personalisierte Subjekt-Einheit“133 gibt es nicht. Das Gesetz ist vielmehr Resultat eines komplexen politischen Pro­ 129  Steinbach,

Gesetzgebung (Fn. 3), S. 97. das Gesetz auf einem Kompromiss gründet, gilt dies für die Begründung ebenso, vgl. Reyes y Ráfales, Mindestrationalität (Fn. 40), Rechtstheorie 45 (2014), 35 (48). 131  Risse, Rechtsprechung (Fn. 86), JZ 2018, 71 (72). 132  In diesem Sinne auch Raabe, Grundrechte (Fn. 11), S. 382; Hofmann, Abwä­ gung (Fn. 115), S. 431; Reyes y Ráfales, Mindestrationalität (Fn. 40), Rechtstheorie 45 (2014), 35 (47). 133  Cornils, Rationalitätsanforderungen (Fn. 100), DVBl. 2011, 1053 (1058). 130  Wenn



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume133

zesses mit mehreren Beteiligten – und gerade keine wissenschaftliche Veran­ staltung, in der die beste Lösung zu finden ist. Die Annahme erhöhter Ratio­ nalitätspflichten würde eine erhebliche Gefahr der Entparlamentarisierung durch Expertisierung bedeuten. Richtig ist jedoch, dass sich die materiellen Verpflichtungen des Grundge­ setzes nur bestimmen lassen, wenn tatsächliche Gründe berücksichtigt wer­ den. Hieraus folgt jedoch nicht, dass der Gesetzgeber zwingend diese Sach­ lage aufzuklären hätte134. Vielmehr kann dies auch durch das Bundesverfas­ sungsgericht geschehen. Das Gericht ist hierbei jedoch – wie zu zeigen sein wird – durch die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers erheblich einge­ schränkter als der Gesetzgeber selbst. Im Bereich der tatsächlichen Grundlagen darf das Gericht dem Gesetz somit keine Begründungskontrolle unterziehen, ist wohl aber verpflichtet, eine Begründbarkeitskontrolle anzustellen135. 2. Rechtliche Grundlage für das Bundesverfassungsgericht Der Verfassungstext enthält keine unmittelbare Regelung zur Überprüfung von vom Gesetzgeber festgestellten Tatsachen und Prognosen136. Einfachge­ setzlich ist die Berechtigung des Bundesverfassungsgerichts zur Beweiserhe­ bung in § 26 BVerfGG geregelt. § 26 BVerfGG ist jedoch rein deklaratori­ scher Natur, da sich die Berechtigung zur Tatsachenfeststellung bereits aus der Auslegung des Grundgesetzes ergibt137 bzw. § 26 BVerfGG sich nach anderer Auffassung lediglich auf die Erhebung von Einzeltatsachen be­ zieht138, während die für hier geführte Debatte entscheidenden generellen Tatsachen außerhalb der förmlichen Beweiserhebung ermittelt werden139 und daher diese Beweiserhebung auch eine grundgesetzliche Grundlage benötigt. Die grundgesetzliche Grundlage findet sich als zwingende Ausprägung des Gewaltenteilungsprinzips in dem Umstand, dass die Feststellung von Tatsa­ aber Lücke, Gesetzgebungsordnung (Fn. 48), ZG 16 (2001), 1 (27). Diskussionsbeitrag, VVDStRl 39 (1981), 195 (195); Waldhoff, Ge­ setzgeber (Fn. 101), S. 342; Hofmann, Abwägung (Fn. 115), S. 434; Cornils, Rationa­ litätsanforderungen (Fn. 100), DVBl. 2011, 1053 (1058). 136  Walter, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 93 (2017) Rn. 109. 137  Kluth, Beweiserhebung und Beweiswürdigung durch das Bundesverfassungs­ gericht, NJW 1999, 3513 (3515); Stuttmann, Gestaltungsfreiheit (Fn. 82), S. 168. 138  Haberzettl, Die Tatsachenfeststellung in Verfahren vor dem BVerfG, NVwZExtra 2015, 1 (2); Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungs­ organe, 1988, S. 171. 139  Zur Unterscheidung zwischen Einzeltatsachen und generellen Tatsachen siehe unten unter Teil 4 C. II. 1. 134  So

135  Schlaich,

134

Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

chen und die Entscheidung über Prognosen in den allermeisten Fällen für den Ausgang des Verfahrens entscheidungserheblich sind140 und es ansonsten der Gesetzgeber durch die Annahme von offenkundig falschen Tatsachen und klar unwahrscheinlichen Prognosen in der Hand hätte, die rechtliche Bewer­ tung zu beeinflussen, wenn das Bundesverfassungsgericht nicht befugt wäre, Tatsachen und Prognosen zu überprüfen141. Das Bundesverfassungsgericht müsste in diesen Fällen sehenden Auges ein Gesetz für verfassungsgemäß erklären, obwohl voraussehbar ist, dass es in Zukunft zur Verletzung von Grundrechten kommt142. Damit wäre ein wesentlicher Bereich des gesetzge­ berischen Tätigwerdens auf mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 20 Abs. 3 GG unver­ einbare Art und Weise von der Verfassungskontrolle ausgenommen und die verfassungsrechtlich determinierte Funktion des Bundesverfassungsgerichts sinnentleert143. Da das Prozessrecht auf die Feststellung von Einzeltatsachen zugeschnit­ ten ist, gestaltet sich das bundesverfassungsgerichtliche Verfahren zur Tatsa­ chenüberprüfung regelmäßig sehr informell. Das Gericht wertet Fachliteratur aus, zieht Statistiken heran, hört Sachverständige, Interessenverbände, Ge­ werkschaften oder Nichtregierungsorganisationen an – verfassungsgericht­ liche Verfahren gestaltet sich insofern teilweise als öffentliche Hearings144. a) Funktionell- und materiell-rechtliche Argumente Die Überprüfung von Tatsachen und auf diesen beruhenden Prognosen entspricht auch schon dem funktionalen Verständnis des Bundesverfassungs­ gerichts als „Gericht“145, d. h. dass dem Bundesverfassungsgericht im Sinne eines Erst-Recht-Schlusses eine umfassende Kontrollbefugnis auch für Tat­ sachen zustehen muss, wenn dies schon die einfachen Gerichte dürfen146.

140  Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 534; Ha­ berzettl, Tatsachenfeststellung (Fn. 138), NVwZ-Extra 2015, 1 (3). 141  Dazu auch Stuttmann, Gestaltungsfreiheit (Fn. 82), S. 172. 142  Bernd, Legislative Prognosen und Nachbesserungspflichten, 1989, S. 99. 143  In diesem Sinne auch Ossenbühl, Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und Prognoseentscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht, in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz: Festgabe aus Anlass des 25jährigen Be­ stehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. I, 1976, S. 458 (469); Gusy, Gesetzgeber (Fn. 1), S. 168; Kahl/Bews, Die Verfassungswidrigkeit der Drei-Prozent-Sperrklausel bei Eurowahlen, DVBl. 2014, 737 (743). 144  Bull, Tatsachenfeststellungen und Prognosen im verfassungsgerichtlichen Ver­ fahren, in: Ewer/Koch (Hrsg.), Methodik, Ordnung, Umwelt, 2014, S. 29 (47). 145  Ossenbühl, Kontrolle (Fn. 143), S. 467. 146  Stuttmann, Gestaltungsfreiheit (Fn. 82), S. 46.



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume135

Ebenso ist materiell-rechtlich auf das aus dem Rechtsstaatsprinzip abgelei­ tete Übermaßverbot sowie das Willkürverbot (Art. 3 GG) zu verweisen. Das Übermaßverbot gebietet es, die Verfassung so auszugestalten, dass keiner zu stark belastet wird, d. h. dass die Belastungen verhältnismäßig ausgestaltet sind. Das Gebot enthält insbesondere die Anweisung, in einer Zweck-MittelRelation sowohl ein geeignetes als auch erforderliches Mittel zu wählen. Diese Geeignetheit und Erforderlichkeit können nicht bestimmt werden, ohne auch die tatsächlichen Wirkungen einer Norm zu bestimmen147. Gleiches gilt im Rahmen des Willkürverbotes, wenn dieses gebietet, einen „sachlichen Grund“ für eine Ungleichbehandlung festzustellen148. Das Bundesverfas­ sungsgericht ist daher nicht nur berechtigt, sondern auch dazu verpflichtet, Tatsachen festzustellen149. b) Korrelation mit fehlender gesetzgeberischer Tatsachenermittlungspflicht Gegen die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts zur Feststellung von Tatsachen und Prognosen könnte hervorgebracht werden, dass diese insoweit nicht gegeben sein könne, wie den Gesetzgeber keine Pflicht zur Tatsachen­ ermittlung treffe150 und das Gericht doch nur das überprüfen können darf, was Gegenstand der gesetzgeberischen Maßnahme war. Doch spricht dieser Umstand noch nicht dafür, dass das Bundesverfas­ sungsgericht keine Tatsachen ermitteln dürfte. Zwar ist es richtig, dass die Tatsachen aufgrund der fehlenden Verpflichtung des Gesetzgebers, diese zu ermitteln, nicht expliziter Gegenstand einer gesetzgeberischen Maßnahme und somit auch nicht Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Überprüfung dieser gesetzgeberischen Maßnahme sind151. Die – unbestritten – vom Bun­ desverfassungsgericht vorzunehmende rechtliche Bewertung hängt jedoch unvermeidlich mit der Bewertung von Tatsachen zusammen, sodass diese nicht ergehen kann, ohne dass das Gericht Tatsachen zu Grunde legt152. Das Gericht kann damit ein Gesetz nicht allein deshalb verwerfen, weil der Ge­ setzgeber keine oder fehlerhafte Tatsachen ermittelt hat, sondern vielmehr 147  Gusy,

Grundgesetz (Fn. 50), ZRP 1985, 291 (295). Grundgesetz (Fn. 50), ZRP 1985, 291 (295). 149  Brink, Tatsachengrundlagen verfassungsgerichtlicher Judikatur, in: Rensen/ Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. I, 2009, S. 3 (5). 150  Siehe dazu Teil 3 C. I. 1. 151  Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen. Be­ steuerung und Eigentum., VVDStRl 39 (1981), 99 (109); Gusy, Gesetzgeber (Fn. 1), S. 170. 152  Gusy, Grundgesetz (Fn. 50), ZRP 1985, 291 (295); Stuttmann, Gestaltungsfrei­ heit (Fn. 82), S. 169. 148  Gusy,

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

muss das Bundesverfassungsgericht feststellen, dass diese fehlerhafte Tatsa­ chenermittlung in eine falsche rechtliche Entscheidung resultierte153. 3. Verfahrensmaßstäbe Aus der fehlenden Verpflichtung des Gesetzgebers, Tatsachen zu ermitteln, folgt nicht zwingend, dass das Bundesverfassungsgericht das vom Gesetzge­ ber gewählte (oder auch nicht-gewählte) Verfahren zur Ermittlung der Tat­ sachenbasis nicht berücksichtigen müsste. Diskutiert wird insofern, ob ein vom Gesetzgeber durchgeführtes ordnungsgemäßes Verfahren dazu führt, dass mit einer „besseren“ Prognose, d. h. insbesondere je intensiver Tatsa­ chen erhoben wurden, die Möglichkeiten des Gerichts geringer werden, diese Prognose als unzulänglich zu verwerfen. Der Gesetzgeber hätte dann zwar keine Pflicht zu einem ordnungsgemäßen Verfahren, ein solches würde sich wohl aber als Obliegenheit ausgestalten, d. h. dass der Gesetzgeber nicht so stark für das Gesetz – um im zivilrechtlichen Sprachgebrauch zu bleiben – „haftet“, wenn er bestimmten Verfahrensanforderungen nachgekommen ist. a) Ablehnende Haltung einer Obliegenheit Wieckhorst argumentiert zunächst, dass bereits die Verwendung des Be­ griffes des aus der zivilrechtlichen Dogmatik bekannten Begriffs „Obliegen­ heit“ (Verschulden gegen sich selbst) für den Gesetzgeber hinsichtlich des Gesetzgebungsprozesses nicht statthaft sei154. Darüber hinaus führe die Aner­ kennung von gesetzgeberischen Obliegenheiten dazu, dass es eine Spaltung hinsichtlich der Kontrollmaßstäbe gebe. Es wird kritisiert, dass freie, nicht der Kontrolle zugängliche Bereiche entstehen würden, die das Grundgesetz so nicht kennt155. Neben den vollum­ fänglich prüfbaren Grundgesetznormen würde ein weiterer Typus grundge­ setzlicher Normativität entstehen, der nicht zu vereinbaren sei mit der unein­ geschränkten Anerkennung der Verfassungsgerichtsbarkeit156. Daher sei aus dogmatischer Sicht eine Alles-oder-Nichts- Lösung zu wählen, d. h. entweder die Anerkennung von Verfahrenspflichten oder die Ablehnung einer sol­ chen157. Auffassung Lorenz, Kontrolle (Fn. 1), S. 213. Gesetzgebungslehre (Fn. 8), DÖV 2018, 845 (851); in diesem Sinne auch Gartz, Begründungspflicht (Fn. 46), S. 47 f. 155  Wieckhorst, Gesetzgebungslehre (Fn. 8), DÖV 2018, 845 (852). 156  Wieckhorst, Gesetzgebungslehre (Fn. 8), DÖV 2018, 845 (852). 157  Wieckhorst, Gesetzgebungslehre (Fn. 8), DÖV 2018, 845 (852). 153  Anderer

154  Wieckhorst,



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume137

b) Obliegenheiten hinsichtlich des Tatsächlichen Hängt die Verfassungsgemäßheit eines Gesetzes von unsicheren Tatsachen oder prognostischen Entwicklungen ab, ist zumindest das Bundesverfas­ sungsgericht gezwungen, seiner Entscheidung eine bestimmte Tatsachenbasis zu Grunde zu legen und diese Tatsachen sowie Prognosen festzustellen158. Lässt der Gesetzgeber nicht erkennen, aufgrund welcher tatsächlichen An­ nahmen er das Gesetz erlassen hat, so kann das Bundesverfassungsgericht ein solches Gesetz nach der hier vertretenen Position nicht nur lediglich wegen der fehlenden Tatsachenmittelung verwerfen. Daher können auch tat­ sächliche Gründe und Entwicklungen, die erst vom Gericht selbst bei der Überprüfung des Gesetzes „entdeckt“ wurden, dazu dienen, die gesetzgeberi­ sche Maßnahme zu rechtfertigen159. Befürworter einer Obliegenheit argumentieren, dass dann, wenn der Ge­ setzgeber jedoch bereits eine umfassende und ordnungsgemäße Tatsachener­ mittlung vorgenommen hat, das Gericht auf eigene Untersuchungen verzich­ ten könne160. Umgekehrt könne dagegen das Unterlassen der Mitwirkung des Gesetzgebers die Amtsaufklärungspflicht des Bundesverfassungsgerichts nicht beschränken161. Die Prüfung des Gesetzes auf seine Verfassungsgemäß­ heit werde durch ein unzureichendes gesetzgeberisches Verfahren nicht un­ möglich, wohl aber erschwert162. Sei das Verfahren des Gesetzgebers man­ gelhaft, so trage dieser das Risiko einer Fehlinterpretation und das damit einhergehende Risiko der Verfassungswidrigkeit163. Die Ermittlung von Tatsachen in einem ordnungsgemäßen Verfahren ver­ dichte sich damit für den Gesetzgeber zwar nicht zur Pflicht, wohl aber zur Obliegenheit164. Die Einhaltung dieser Obliegenheit, konkret eine umfängli­ che Tatsachenermittlung im Rahmen bestimmter Verfahren, führe damit dazu, dass die Überprüfung der Tatsachen- und Prognoseentscheidung durch das Bundesverfassungsgericht weniger intensiv ausfallen könne. Die Einhaltung der Obliegenheit komme dem Gesetzgeber damit als „Bonus“165 zu, „die 158  Gusy, Grundgesetz (Fn. 50), ZRP 1985, 291 (292, 295); Korinek, Die Tatsachen­ ermittlung im verfassungsgerichtlichen Verfahren, in: Stern (Hrsg.), 40 Jahre Grund­ gesetz, 1990, S. 107 (113). 159  Geiger, Gegenwartsprobleme (Fn. 99), S. 142. 160  Gusy, Grundgesetz (Fn. 50), ZRP 1985, 291 (292). 161  Sanders/Preisner, Begründungspflicht (Fn. 25), DÖV 2015, 761 (769). 162  In diesem Sinne für Abwägungs- statt Prognoseentscheidungen: VerfGH Thü­ ringen NVwZ-RR 1999, 55 (60) – Gemeindeneugliederung (1998). 163  Waldhoff, Gesetzgeber (Fn. 101), S. 342. 164  Rixecker, Gesetze (Fn. 68), S. 133; Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen (Fn. 100), S. 875; Aulehner, Grundrechte und Gesetzgebung, 2011, S. 72. 165  Raabe, Grundrechte (Fn. 11), S. 387.

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Einschätzungsprärogative stellt sich als Dividende der im Gesetzgebungsver­ fahren erfüllten Obliegenheiten dar“166. Man könnte auch sagen, der Umfang der Verfahrenspflichten „hängt vom Umfang des jeweils konkret auf der Ergebnisebene in Anspruch genommenen Einschätzungsspielraums ab“167. ­ Nicht die verfassungsrechtliche Bewertung würde sich durch bestimmte Formalitäten verändern, sondern lediglich die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers erhöhen168; eine sachgerechte Ermittlung der tatsächlichen Grundlagen hätte damit Indizwirkung für die Rationalität der Prognose169. Grund für die Erhöhung der Einschätzungsprärogative bei Erfüllung der Ob­ liegenheit seien das Demokratieprinzip und die mit dem Gesetzgebungsver­ fahren verbundene Vorstellung prozeduraler Rationalität170. c) Stellungnahme Mit einer Differenzierung zwischen Verfahrenspflichten im Hinblick auf das tatsächliche sowie im Hinblick auf die materielle Abwägung gelingt es, die dogmatischen Spannungen aufzulösen. Hinsichtlich der materiellen Abwägung sind nicht nur Verfahrenspflichten, sondern auch Verfahrensobliegenheiten abzulehnen: Das Ergebnis einer mate­ riellen Abwägung wird stets die Frage nach der Verfassungsgemäßheit sicher beantworten können, ohne dass das Verfahren hierfür relevant wäre, sodass sich das Verfahren vom Ergebnis löst. Hinsichtlich der Feststellung der tat­ sächlichen Umstände und der Prognosen ist eine derart klare Trennung zwi­ schen Ergebnis und Verfahren dagegen nicht möglich. Eine sichere Aussage von absoluter Gewissheit wird weder der Gesetzgeber noch das Bundesverfas­ sungsgericht treffen können. Eine „richtige“ oder „falsche“ Prognose gibt es nicht. Der Eintritt des prognostizierten Ereignisses gehört damit nicht zu den Richtigkeitsbedingungen der Prognose171. Die Prognose des Gesetzgebers kann lediglich plausibel oder nicht plausibel sein. Letzteres kann insbesondere dann der Fall sein, wenn aktuelle Erkenntnisse, Erfahrungen und Tatsachen außer Betracht gelassen wurden172. Ersteres kann insbesondere dann der Fall 166  Bickenbach, Einschätzungsprärogative (Fn. 83), S. 535; zum Begriff der Oblie­ genheit auch Merten, Gesetzgebung (Fn. 10), DÖV 2015, 349 (359 f.). 167  Raabe, Grundrechte (Fn. 11), S. 378, der insofern statt von einer „Obliegen­ heit“ von „unselbstständigen Verfahrenspflichten“ spricht. 168  Bickenbach, Einschätzungsprärogative (Fn. 83), S. 510. 169  Meessen, Mitbestimmungsurteil (Fn. 100), NJW 1979, 833 (836). 170  Raabe, Grundrechte (Fn. 11), S. 384. 171  Gusy, Grundgesetz (Fn. 50), ZRP 1985, 291 (293). 172  Gusy, Grundgesetz (Fn. 50), ZRP 1985, 291 (293) formuliert, dass die Prog­ nose „falsch“ sei, wenn diese Bedingungen außer Acht gelassen wurden. Es erscheint hingegen präziser, von „Plausibilität“ zu sprechen.



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume139

sein, wenn der Gesetzgeber Experten im Ausschuss angehört hat (§ 70 GOBT), eine Technikfolgenanalyse vorgenommen (§ 56a GOBT) oder eine EnqueteKommission (§ 56 GOBT) eingesetzt hat173. Die Einräumung einer Obliegenheit im Hinblick auf die Prognose führt daher lediglich dazu, dass das Gericht der Prognose des Gesetzgebers eine gewisse Plausibilität zusprechen kann und nicht selbst eine plausible Pro­ gnose aufstellen muss174. Das bedeutet jedoch gerade nicht, dass der Kon­ trollmaßstab des Gerichts hinter dem Handlungsmaßstab des Gesetzgebers zurückbleibt. Vielmehr enthält das Grundgesetz in diesen Fällen keinen Handlungsmaßstab. Der Handlungs- als auch Kontrollmaßstab ist erst durch das Verfahren, welches Informationen über die Sicherheit der Prognose ge­ ben kann, zu bestimmen. Das Bundesverfassungsgericht muss in Fällen fehlender Tatsachenermitt­ lung durch den Gesetzgeber die Tatsachen umfassend selbst ermitteln, um seine eigene Entscheidung zu begründen. Hat der Gesetzgeber jedoch seiner­ seits bereits umfassende Tatsachenfeststellungen gemacht, eine plausible Prognose erstellt und dies dem Gericht erläutert, so ist das Bundesverfas­ sungsgericht zunächst verpflichtet, sich mit diesen Ergebnissen auseinander zu setzen. Es wird zugleich entlastet von seiner eigenen Pflicht zur Sachver­ haltsaufklärung, welche das Gericht eigentlich nach dem Untersuchungs­ grundsatz trifft175. Dabei hat es den Spielraum des Gesetzgebers zu respek­ tieren und kann nur in besonders begründeten Fällen andere tatsächliche Umstände annehmen. Damit gilt: „Der Gesetzgeber schuldet nur das Gesetz. Aber er haftet auch dafür“176. 4. Zwischenergebnis Wenn darüber diskutiert wird, inwiefern das Bundesverfassungsgericht berechtigt ist, Tatsachenfeststellungen zu überprüfen177, so ist dies also be­ reits insofern ungenau, als der Gesetzgeber gar nicht verpflichtet ist, Tat­ sachen festzustellen. Ergeht eine solche Feststellung nicht, läuft auch eine 173  Raabe,

Grundrechte (Fn. 11), S. 386. führt aber eben gerade nicht dazu, dass das Gesetz verfassungswidrig wäre, wenn der Gesetzgeber die Obliegenheit nicht erfüllt, so aber Grzeszick, Ratio­ nalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRl 71 (2012), 49 (61). 175  Sanders/Preisner, Begründungspflicht (Fn. 25), DÖV 2015, 761 (771). 176  Rixecker, Gesetze (Fn. 68), S. 134. 177  Ossenbühl, Kontrolle (Fn. 143), S. 479 stellt die Frage: „Inwieweit kann das bundesverfassungsgericht die Feststellung vergangener oder gegenwärtiger Tatsachen durch den Gesetzgeber auf ihre Existenz und Vollständigkeit nachprüfen?“. 174  Das

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Überprüfung dieser Feststellung mangels überprüfbaren Materials ins Leere. Freilich liefert der Gesetzgeber häufig dennoch eine Tatsachenbasis, die das Bundesverfassungsgericht sodann zu überprüfen berechtigt ist. Das Bundes­ verfassungsgericht muss jedoch Tatsachen in der rechtlichen Bewertung auch dann berücksichtigen, wenn der Gesetzgeber solche nicht ermittelt hat. Der Begriff der Tatsachenfeststellungen ist damit zu eng. Es bietet sich daher an, davon zu sprechen, dass das Bundesverfassungsgericht die gesamte einem Gesetz zu Grunde liegende Tatsachenbasis – und nicht lediglich die vom Gesetzgeber festgestellten Tatsachen – überprüft. Das Bundesverfassungsgericht ist damit grundsätzlich berechtigt, Tatsa­ chenfeststellungen und Prognoseentscheidungen des Gesetzgebers sowie die dem Gesetz zu Grunde liegende Tatsachenbasis zu überprüfen. Diese Kom­ petenz ist jedoch nicht unbeschränkt, vielmehr kommt dem Gesetzgeber ein Spielraum zu. Insbesondere im Rahmen der Grundrechtsprüfung und der dortigen Prü­ fung des legitimen Zwecks, der Geeignetheit und Erforderlichkeit werden Tatsachenfragen relevant178. Dürfte das Bundesverfassungsgericht unbe­ schränkt die Tatsachenbasis des Gesetzgebers anzweifeln, so könnte es ge­ rade im Bereich von wirtschaftslenkenden Gesetzen stets zur Verfassungs­ widrigkeit kommen, da Ökonomen die Erforderlichkeit und Geeignetheit von wirtschaftslenkenden Gesetzen nie absolut stringent zu begründen vermögen werden179. Für die Anerkennung von Prognosespielräumen spricht insbeson­ dere, dass auch das Verfassungsgericht notwendigerweise lediglich eine ebenso ungewisse Prognose aufstellen kann. Darüber hinaus kann der Ge­ setzgeber durch weitere Maßnahmen gerade selbst dazu beitragen, dass die von ihm aufgestellte Prognose eintritt180.

178  Bryde, Tatsachenfeststellungen und soziale Wirklichkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bun­ desverfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 533 (555); Reimer, „… Und machet zu Jüngern alle Völker“?, Der Staat 52 (2013), 27 (33). 179  Bryde, Tatsachenfeststellungen (Fn. 178), S. 555. 180  StGH Baden-Württemberg NJW 1975, 1205 (1213) – kommunale Gebietsre­ form (1975).



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume141

II. Tatsachen in der Normenkontrolle 1. Versuch einer Definition Ungeachtet aller Definitionsschwierigkeiten181 sind Tatsachen nach einer möglichst weiten Definition reale Sachverhaltsfeststellungen182. Ob ein be­ stimmter tatsächlicher Sachverhalt vorliegt oder nicht, kann entweder positiv oder negativ beantwortet werden183. Bundesverfassungsgericht und Gesetz­ geber geraten somit überhaupt erst dort in Konflikt, wo die Tatsachenbasis nicht eindeutig beantwortet werden kann184. Während der Begriff der Prognose bereits durch die in ihm angelegte Un­ sicherheit offenbart, dass es häufig vorkommt, dass Bundesverfassungsge­ richt und Gesetzgeber unterschiedliche Auffassungen über die zu erwartende Entwicklung haben, so ist im Hinblick auf die Tatsachen (die als realer Sachverhalt existieren, oder eben nicht) die Frage, wie es zum Streit über die Deutungshoheit von Tatsachen – und damit zur Frage, ob der Gesetzgeber oder das Bundesverfassungsgericht diese abschließende Hoheit inne hat – kommen kann, näher zu beleuchten. Ebenso wie bei unsicheren Prognosen bedingt ein Streit über Tatsachen, dass eben jene unsicher sind. Unsicherhei­ ten über Tatsachen bestehen entweder dann, wenn die wissenschaftlichen Mittel zur Erforschung der Tatsachen nicht bekannt sind, oder die Erfor­ schung wissenschaftlich möglich, aber wirtschaftlich nicht darstellbar oder unverhältnismäßig ist185. Im Normenkontrollprozess ist zwischen Einzeltatsachen und generellen Tatsachen zu unterscheiden186. Als Einzeltatsachen werden solche Tatsachen bezeichnet, die sich auf eine einzelne Person oder Sachverhalt beziehen, während generelle Tatsachen negativ formuliert alles Tatsächliche erfassen, was nicht als Einzeltatsache zu begreifen ist187, es geht um generelle soziale Tatsachen, um Erfahrungssätze188. Während erstere (Einzeltatsachen) schon eher einer klaren empirischen Überprüfung zugänglich sind, bereitet die 181  Eingehend Philippi, Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts, 1971, S. 3. 182  Philippi, Tatsachenfeststellungen (Fn. 181), S. 5. 183  Lorenz, Kontrolle (Fn. 1), S. 209. 184  Lorenz, Kontrolle (Fn. 1), S. 210. 185  Lee, Schonung des Gesetzgebers bei Normenkontrollentscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht, 1993, S. 213. 186  Philippi, Tatsachenfeststellungen (Fn. 181), S. 5; Vogel, Bundesverfassungsge­ richt (Fn. 138), S. 171; Bryde, Tatsachenfeststellungen (Fn. 178), S. 533; Bull, Tatsa­ chenfeststellungen (Fn. 144), S. 30. 187  Philippi, Tatsachenfeststellungen (Fn. 181), S. 7. 188  Bull, Tatsachenfeststellungen (Fn. 144), S. 38.

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Feststellung genereller Tatsachen größere Probleme. Die Ermittlung von ge­ nerellen Daten beinhaltet die Feststellung verschiedener gesellschaftlicher, politischer, kultureller und wirtschaftlicher Entwicklungen189. Generelle Tat­ sachen können daher häufig erst nach einer gedanklichen Operation (statisti­ sches Verfahren, historische Methode) festgestellt werden190. Im Ergebnis werden die generellen Tatsachen damit abhängig von verschiedenen Wertun­ gen und sind somit von Unsicherheiten bzw. Meinungsverschiedenheiten geprägt191. In der Wissenschaft wird es nie absolute Sicherheit geben192. Ebenso ist zu berücksichtigen, dass den Richtern selbst die notwendige Aus­ bildung fehlt, um wissenschaftlich die zutreffende Bewertung treffen zu können193. Problematisch ist auch, dass Unsicherheit kein binäres Konzept ist (also ein solches, welches zwischen „unsicher“ und „sicher“ unterscheidet), son­ dern nach Abstufungen erfolgt194. Die Frage ist somit, „wie“ sicher bestimmte Erkenntnisse sein müssen, d. h. welcher Wahrscheinlichkeitsgrad zu fordern ist, damit das Bundesverfassungsgericht eingreifen darf. Während in den Prozessen im Rahmen der ordentlichen Gerichtsbarkeit, d. h. dort, wo die Klärung individuell-konkreter Sachverhalte zur Debatte steht, zumeist Einzeltatsachen zu Grunde streitig sind, ist in den in dieser Arbeit allein zu diskutierenden Verfassungsprozessen, die Normkontrollen zum Gegenstand haben, über abstrakt-generelle Gesetze und damit zumeist über die Feststellung von generellen Tataschen, zu entscheiden195. Insofern Einzeltatsachen relevant werden, dürften diese in der Regel bereits von den Vorinstanzen beurteilt worden sein196. Philippi hat in seiner Untersuchung aus dem Jahr 1971 festgestellt, dass das Bundesverfassungsgericht in den ersten 25 Bänden197 281 Tatsachenfeststellungen vorgenommen hat, wovon 189  Haberzettl,

Tatsachenfeststellung (Fn. 138), NVwZ-Extra 2015, 1 (2). Tatsachenfeststellungen (Fn. 181), S. 7. 191  Steinbach, Gesetzgebung und Empirie, Der Staat 54 (2015), 267 (274 f.). 192  Popper, Logik der Forschung, 1935, S. 18. 193  Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle, 2015, S. 96. 194  Petersen, Verhältnismäßigkeit (Fn. 193), S. 96. 195  Philippi, Tatsachenfeststellungen (Fn. 181), S. 10; Grimm, Verfassungsgerichts­ barkeit, 2021, S. 82; lediglich in den quasi-strafrechtlichen Verfahren vor dem Bun­ desverfassungsgericht, wie der Präsidentenanklage (Art. 61 GG), der Richteranklage (Art. 98 Abs. 2 GG), dem Parteiverbotsverfahren (Art. 21 Abs. 2 GG) oder dem Ver­ fahren bei der Verwirkung von Grundrechten (Art. 18 GG) werden im besonderen Maße Einzeltatsachen relevant, weil das Bundesverfassungsgericht im Ergebnis wie eine fachgerichtliche Tatsacheninstanz arbeitet, vgl. Kluth, Beweiserhebung (Fn. 137), NJW 1999, 3513 (3515). 196  Bryde, Tatsachenfeststellungen (Fn. 178), S. 555. 197  Die ersten 25 Bände umfassen Entscheidungen aus dem Zeitraum vom 9. Sep­ tember 1951 bis zum 7. Mai 1969. 190  Philippi,



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume143

96 Prozent Feststellungen von generellen Tatsachen waren (Einzeltatsachen wurden nur in denjenigen Ausnahmefällen festgestellt, in denen vereinzelt Feststellungen nach den klassischen Beweismethoden der ZPO [Urkunde, Augenschein, Zeuge etc.] ermittelt wurden)198. In den hier allein zur Debatte stehenden Normenkontrollverfahren wären im Untersuchungszeitraum gar 99,5 Prozent aller festgestellten Tatsachen solche genereller Art gewesen199 – dieser Wert erklärt sich aus der bereits angesprochenen abstrakt-generellen Natur der zu überprüfenden Gesetze und letztlich aus dem Umstand, dass Einzelfallgesetze, d. h. die Regelungen, die ausschließlich Einzeltatsachen erfassen, verfassungsrechtlich unzulässig sind, Art. 19 Abs. 1 GG (Verbot von Einzelfallgesetzen). Die Bezeichnung dieser generellen Tatsachen als „legislative facts“200 kommt daher nicht von ungefähr. Gerade in den Nor­ menkontrollprozessen ist die Feststellung von Tatsachen somit häufig kom­ plex, fehleranfällig und es besteht nicht nur hinsichtlich der Prognose, son­ dern auch im Hinblick auf das Tatsächliche eine Unsicherheit201. Daher können sowohl dem Bundesverfassungsgericht als auch dem Gesetzgeber Fehler bei der Tatsachenbewertung unterlaufen202. 2. Rechtliche Relevanz Die Beantwortung der Frage, welche Tatsachen und Prognosen einem Ge­ setz zu Grunde zu legen sind, hat in der Regel erhebliche Relevanz für den Ausgang des Verfahrens203. Zutreffend wird darauf hingewiesen204, dass die wichtigen Entscheidungen zu § 218 StGB205 sowie zum Mitbestimmungsge­ setz206 einen anderen Ausgang gefunden hätten, wäre der Einschätzung des Gesetzgebers gefolgt (Schwangerschaftsabbruch) bzw. nicht gefolgt worden (Mitbestimmungsurteil). Die verfassungsrechtliche Beurteilung einer gesetzgeberischen Maßnahme hängt immer ganz erheblich davon ab, welche Tatsachenbasis zu Grunde 198  Philippi,

Tatsachenfeststellungen (Fn. 181), S. 10. Tatsachenfeststellungen (Fn. 181), S. 12. 200  Scharpf, Judicial Review and the Political Question: A Functional Analysis, Yale L.J. 75 (1965), 517 (525). 201  Huster, Die Beobachtungspflicht des Gesetzgebers, ZfRSoz 24 (2003), 3 (6); Stuttmann, Gestaltungsfreiheit (Fn. 82), S. 136. 202  Vogel, Bundesverfassungsgericht (Fn. 138), S. 168. 203  I. Augsberg/S. Augsberg, Prognostische Elemente in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, VerwArch 98 (2007), 290 (290); Haberzettl, Tatsachen­ feststellung (Fn. 138), NVwZ-Extra 2015, 1 (3). 204  Vogel, Bundesverfassungsgericht (Fn. 138), S. 168. 205  BVerfGE 39, 1 – Schwangerschaftsabbruch I (1975). 206  BVerfGE 50, 290 – Mitbestimmungsurteil (1979). 199  Philippi,

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

gelegt wird. Der Vorschlag des Bundestagsabgeordneten Dichgans in der 6. Legislaturperiode, einen § 26a BVerfGG einzuführen, nach welchem das Bundesverfassungsgericht an Tatsachenfeststellungen und Prognosen des Gesetzgebers gebunden sein sollte207, hätte damit zu einer erheblichen Aus­ weitung der Stellung und Macht des Gesetzgebers geführt, da es der Gesetz­ geber durch die Annahme von offenkundig falschen Tatsachen und klar un­ wahrscheinlichen Prognosen in der Hand gehabt hätte, die rechtliche Bewer­ tung zu beeinflussen208. Damit wäre das Institut der Normenkontrolle im wesentlichen Punkten sinnentleert gewesen. Der Vorschlag scheiterte dem­ entsprechend209.

III. Prognosen in der Normenkontrolle 1. Gegenstand der Prognose Unter Prognosen versteht man eine Aussage über den Eintritt von zukünf­ tigen Tatsachen210. Das gesetzgeberische Tätigwerden beruht meist auf der aktuellen Feststellung, dass ein Zustand Probleme verursacht, die behand­ lungsbedürftig sind und diese Probleme entweder durch Regulierung oder Deregulierung zu lösen sind. Ob die gesetzliche Regulierung oder Deregulierung tatsächlich zu dem angestrebten Ziel führt, wird zumeist nicht sicher vorhergesagt werden kön­ nen, da die abstrakt-generelle Regelung des Gesetzes nicht von vornherein jeden individuellen Fall erfassen wird können. Die zukünftigen Auswirkun­ gen einer gesetzgeberischen Maßnahme unterliegen damit einer Ungewiss­ heit darüber, welche tatsächlichen Umstände in der Zukunft durch die gesetz­ liche Regelung eintreten, und sind damit prognosebedürftig211. Diese Um­ stände, die prognostiziert werden, müssen einen verfassungskonformen Zu­ stand schaffen. Das Bundesverfassungsgericht hat somit die Frage nach der Wahrscheinlichkeit von Umständen, die in der Zukunft unter Zugrundelegung der zu überprüfenden gesetzlichen Regelung einen verfassungskonformen Zustand schaffen, zu beurteilen. 207  Zöbeley, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichts­ gesetz, 2. Aufl. 2005, § 26 Rn. 1; Bryde, Tatsachenfeststellungen (Fn. 178), S. 540. 208  Bryde, Tatsachenfeststellungen (Fn. 178), S. 540; Stuttmann, Gestaltungsfrei­ heit (Fn. 82), S. 172. 209  Zöbeley, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichts­ gesetz, 2. Aufl. 2005, § 26 Rn. 1. 210  Philippi, Tatsachenfeststellungen (Fn. 181), S. 28; Lorenz, Kontrolle (Fn. 1), S. 203. 211  Brunn, Prognosen (Fn. 1), NJOZ 2014, 361 (361); Stuttmann, Gestaltungsfrei­ heit (Fn. 82), S. 34.



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume145

Die Frage, wie intensiv eine Einschätzung des Gesetzgebers vom Bundes­ verfassungsgericht überprüft wird, wird daher dann relevant, wenn das Bun­ desverfassungsgericht feststellt, dass das Gesetz bestimmte tatsächliche Auswirkungen haben könnte, die dazu führen würden, dass das Gesetz als verfassungswidrig beziehungsweise als verfassungsgemäß einzustufen wäre. Basis jeder Prognose ist zunächst die Feststellung der gegenwärtigen Tat­ sachen212. Die Prognose an sich unterliegt sodann aufgrund des menschlichen Verhaltens in unserer freien Gesellschaft, der wissenschaftlichen sowie tech­ nischen und wirtschaftlichen Entwicklung einer erheblichen Unsicherheit213. Der Gesetzgeber muss jedoch bestimmte Prognosen zu Grunde legen, um seine politischen Ziele zu verfolgen. Aufgrund dieser Umstände wird dem Gesetzgeber im Hinblick auf zu treffende Prognosen ein Einschätzungsspiel­ raum zugestanden214, der sich in seiner konkreten Gestalt jedoch lediglich aus der Verfassung ergeben kann215. Es geht somit um die Frage, wie frei der Gesetzgeber in seiner Prognoseentscheidung bezüglich zukünftiger Tatsa­ chenentwicklungen ist216. Auch wenn Prognosen von einer zwangsläufigen Ungewissheit und einem Entscheidungsspielraum geprägt sind, bedürfen sie dennoch einer Kontrolle, können aber im Gegensatz zu Einzeltatsachen nicht verifiziert oder falsifiziert, sondern lediglich auf ihre Rationalität hin über­ prüft werden217. 2. Bedeutung der Prognose Prognosen werden an unterschiedlichen Stellen der verfassungsrechtlichen Prüfung relevant. Eine besondere Bedeutung kommt ihnen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu. Die Frage danach, ob eine Regelung geeig­ net und erforderlich ist, kann in der Regel nicht beantwortet werden, ohne dass man eine dahingehende Prognose vornimmt, welche Folgen eine gesetz­ geberische Regelung haben wird218. Wenn die Prognose dazu führt, dass tat­ sächliche Umstände eintreten, die dazu führen, dass ein Gesetz schon nicht

212  Stuttmann,

Gestaltungsfreiheit (Fn. 82), S. 36. Legislative und administrative Prognoseentscheidungen, Der Staat 16 (1977), 21 (38). 214  Breuer, Prognoseentscheidungen (Fn. 213), Der Staat 16 (1977), 21 (39). 215  Bickenbach, Einschätzungsprärogative (Fn. 83), S. 504. 216  Breuer, Prognoseentscheidungen (Fn. 213), Der Staat 16 (1977), 21 (22); Ko­ rioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 538. 217  Ossenbühl, Kontrolle (Fn. 143), S. 501. 218  Breuer, Prognoseentscheidungen (Fn. 213), Der Staat 16 (1977), 21 (23); Bryde, Tatsachenfeststellungen (Fn. 178), S. 555. 213  Breuer,

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

geeignet oder erforderlich ist, um das legitime Ziel zu erreichen, dann ist es nicht verhältnismäßig und damit verfassungswidrig. Prognostische Elemente können auch bereits im Rahmen des legitimen Ziels relevant werden, wenn der Gesetzgeber eine vorausschauende Rege­ lung erlassen möchte. Kann Art. 12 Abs. 1 GG zum Beispiel nur einge­ schränkt werden, um ein überragend wichtiges Gemeingut zu schützen, muss der Gesetzgeber entweder darlegen, dass dieses überragend wichtige Ge­ meingut gerade tatsächlich gefährdet ist, oder dass es – mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit – in absehbarer Zeit zur Gefährdung kommt219. Die Pro­ gnose im Rahmen der Prüfung der Erforderlichkeit ist zudem von der Beson­ derheit geprägt, dass die Korrektheit im Nachhinein nicht überprüft werden kann, da bei der Frage, ob es gleich geeignete Mittel gibt, stets ein Hinzu­ denken von weiteren ungewissen Ereignissen von Nöten ist220. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts spielen dabei Pro­ gnosen eine nicht minder große Bedeutung als Tatsachen. In den ersten 25 Bänden des Bundesverfassungsgerichts waren nach der Untersuchung von Philippi 79 Prognosen zu treffen. In 21 Fällen hat das Bundesverfassungsge­ richt eine vom Gesetzgeber abweichende Prognose getroffen und das Gesetz für nichtig erklärt221. 3. Prognose und Wissenschaft Nicht zuletzt hat die Corona-Pandemie im Jahr 2020 zu heftigen Diskus­ sionen darüber geführt, inwiefern sich die Gesetzgebung an denen von Wis­ senschaftlern erstellten Prognosen orientieren sollte. Im Mittelpunkt der Diskussion, als Gesicht für die Wissenschaft, stand dabei Christian Drosten, der Leiter der Virologie an der Berliner Charité, der zu Beginn der Krise als weltweit führender Experte für Coronaviren in einem NDR-Podcast täglich über das Virus und seine Forschung informierte. Schon bald wurde gefragt, ob er auch Kanzler kann222, während er für andere negative Projektionsfigur und für die massiven Grundrechtseinschränkungen verantwortlich war. Prog­ nosen bleiben jedoch – auch wenn sie von der Wissenschaft getroffen wer­ den – unsicher223. Die Wissenschaft muss daher dem Versuch widerstehen, 219  BVerfGE

40, 196 (Rn. 94) – Güterkraftverkehrsgesetz (1975). Gestaltungsfreiheit (Fn. 82), S. 3. 221  Philippi, Tatsachenfeststellungen (Fn. 181), S. 161. 222  Tuma, Die neue Macht der Virologen (26.03.2020), Handelsblatt (Online), ­https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-die-neue-macht-dervirologen/25684390.html?ticket=ST-5925336-ZPANQI6qpikaQnvhnXoQ-ap4 (22.09. 2020). 223  Lepsius, Prognose als Problem von Wissenschaft und Politik, in: Dreier/Willo­ weit (Hrsg.), Wissenschaft und Politik, 2010, S. 181 (188). 220  Stuttmann,



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume147

einen Anschein der absoluten Sicherheit zu erwecken, sondern vielmehr dem Gesetzgeber die Verantwortung für die Entscheidung über die Unsicherheit überantworten224. Auch das Bundesverfassungsgericht kann sich daher nicht auf „sichere“ Prognosen stützen, sondern muss anerkennen, dass erst die „Unsicherheit der Zukunft […] die kognitive Freiheit“ garantiert225. Der Um­ gang mit Prognosen ist damit zu institutionalisieren226. Dazu gehört, dass die Wissenschaft bewusst keine eindeutigen, sondern nur relationale Prognosen liefern sollte, auf deren Grundlage der Gesetzgeber sodann eine Entschei­ dung trifft227. Darüber hinaus ist aber auch der Prozess der Überprüfung von Prognosen durch das Bundesverfassungsgericht zu institutionalisieren in dem Sinne, dass klare Kriterien herausgearbeitet und systematisiert werden, nach denen das Bundesverfassungsgericht die einem Gesetz zu Grunde liegenden Prognosen bewertet. Ein Versuch einer solchen Systematisierung ist Gegen­ stand des nachfolgenden Abschnitts.

224  Vollkommen zutreffend hat das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik Christian Drosten, der Leiter der Virologie an der Berliner Charité, der in der CoronaKrise 2020 nicht nur die Bundesregierung beraten hat, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger täglich im NDR-Podcast informiert hat, beschrieben: „Eine Sache kann und darf die Wissenschaft nicht und hat die Wissenschaft nicht, nämlich die Wissen­ schaft hat kein demokratisches Mandat. Ein Wissenschaftler ist kein Politiker, der wurde nicht gewählt und der muss nicht zurücktreten. Kein Wissenschaftler will über­ haupt so Dinge sagen wie: Diese politische Entscheidung, die war richtig. Oder diese politische Entscheidung, die war falsch. Oder diese politische Entscheidung, die muss jetzt als Nächstes getroffen werden. Sie hören das von keinem seriösen Wissenschaft­ ler. […] Es gibt Zeitungen, die malen inzwischen nicht nur in den Wörtern, sondern in Bildern, Karikaturen von Virologen. Ich sehe mich selber als Comicfigur gezeich­ net und mir wird schlecht dabei. Ich bin wirklich wütend darüber […] Beide Seiten sagen, die Politik trifft die Entscheidungen und nicht die Wissenschaft. Das sagt so­ wohl die Politik, wie auch die Wissenschaft. Dennoch wird weiterhin immer weiter dieses Bild des entscheidungstreffenden Wissenschaftlers in den Medien produziert“, Drosten, Coronavirus-Update – Folge 24 (30.3.2020), Podcast, NDR, ab Minute 17:45; anders dagegen (und explizit in Abgrenzung zu Drosten) Alexander Kekulé, Inhaber des Lehrstuhls für Medizinische Mikrobiologie und Virologie der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg und Direktor des Instituts für Medizinische Mi­ krobiologie des Universitätsklinikums Halle (Saale): „Wissen Sie, was die Politik damit macht ist doch auch Fakt […] Das dürfen Wissenschaftler nicht übersehen meines Erachtens. Wir sind, ob wir es wollen oder nicht, in so einen politischen Prozess reingekommen und da muss man manchmal auch, sag ich mal, ein bisschen politisch reagieren“, vgl. Kekulé, Virologen-Duell? (29.5.2020), Podcast, FAZ, ab Minute 20:08. 225  Lepsius, Prognose (Fn. 223), S. 195. 226  Lepsius, Prognose (Fn. 223), S. 193. 227  Zur relationalen Funktion der Prognosen (Aussage darüber, dass unter der Be­ dingung A wahrscheinlich B eintreten wird) siehe Lepsius, Prognose (Fn. 223), S.  188 ff.

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

IV. Systematisierung Es ist nun grundsätzlich geklärt, dass das Bundesverfassungsgericht be­ rechtigt ist, entweder Tatsachenfeststellungen und Prognosen des Gesetzge­ bers zu überprüfen – dann, wenn der Gesetzgeber selbst solche vorgenommen hat – oder aber eigene zu erheben und vorzunehmen. In einer weiteren Dif­ ferenzierung und Systematisierung soll nun untersucht werden, welche Maß­ stäbe an die konkrete Überprüfung zu stellen sind. Es geht damit um die Frage, welchen Unsicherheitsgrad tatsächliche Umstände und Entwicklungen haben dürfen, damit sie als Grundlage für ein verfassungsgemäßes Gesetz dienen können – oder (für den Fall von vom Gesetzgeber getroffenen Tat­ sachenfeststellungen und Prognosen) anders formuliert: Wie „dicht“, wie „intensiv“ darf das Bundesverfassungsgericht gesetzgeberische tatsächliche und prognostische Einschätzungen kontrollieren? 1. Das Mitbestimmungsurteil als Ausgangspunkt Einen beachtenswerten Beitrag zur Systematisierung verfassungsgerichtli­ cher Kontrollreichweiten, „eine Art funktionell-rechtlichen Methodenkanon“228 hinsichtlich der Überprüfung tatsächlicher Grundlagen respektive insbeson­ dere von Prognosen hat erstmals das Mitbestimmungsurteil229 aus dem Jahr 1979 geschaffen. Dieses Urteil verwendet zwar nicht explizit den Begriff der Kontrolldichte, führt aber aus, dass gesetzgeberische Prognosen anhand von abgestuften Maßstäben zu überprüfen seien. Hinsichtlich der Reichweite der „Einschätzungsprärogative“ des Gesetzgebers gelte nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Einschätzungen des Gesetzgebers ent­ weder einer Vertretbarkeits-, einer Evidenz- oder einer intensiven Kontrolle zu unterziehen seien230. Das Urteil nennt in Bezug auf jede dieser drei Ab­ stufungen eine Zusammenstellung von Entscheidungen, in denen nach Auf­ fassung des Bundesverfassungsgerichts die jeweiligen Maßstäbe bisher schon zur Anwendung gelangt seien. Das Mitbestimmungsurteil gehört (Stand 2015) zu den Top Ten der am meisten durch das Bundesverfassungsgericht selbst zitierten Urteile231. Die 228  Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, NJW 1980, 2103 (2105). 229  BVerfGE 50, 290 – Mitbestimmungsurteil (1979). 230  BVerfGE 50, 290 (Leitsatz 10) – Mitbestimmungsurteil (1979). 231  Staben, Farbenfrohe Rechtsprechung: Verweisungsanalyse von BVerfG (26.1.2015), VerfBlog, https://verfassungsblog.de/farbenfrohe-rechtsprechung-verwei­ sungsanalyse-von-entscheidungen-des-bundesverfassungsgerichts/ (22.9.2020) zählt 76 Verweisungen und listet das Mitbestimmungsurteil damit an siebter Stelle der meistzitierten Entscheidungen auf. In der Artikelbeschreibung zur Entscheidungs­



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume149

hohe Zitationsdichte, zum Beispiel die Erwähnung im jüngsten umfangrei­ chen Zensus-Urteil von 2018232, sowie die umfangreiche Besprechung in der Literatur von 1979 bis heute233, in der das Urteil als solches anerkannt wird, in dem das Gericht einen vorbildlichen Ausgleich zwischen Gesetzgeber und Gericht gefunden hätte234, machen es notwendig, trotz seines Alters einen genaueren Blick auf das Urteil zu werfen. Die nachfolgende Darstellung soll insbesondere einen kontextualisierten Blick auf das Urteil werfen235. Eine kontextualisierte Rezeption des Urteils befasst sich mit den hinter der Ent­ scheidung stehenden Gründen des Mitbestimmungsurteils und damit auch insbesondere mit den Entscheidungen, die das Mitbestimmungsurteil wiede­ rum in seiner Entscheidung zitiert, anstatt lediglich den Leitsatz des Urteils zu zitieren und daraus einen Maßstab abzuleiten. Es ist vielmehr erforderlich, die jeweiligen konkreten Kontexte herauszuarbeiten, in denen eine Evidenz-, Vertretbarkeits- oder intensive Kontrolle zur Anwendung gelangen. a) Das Urteil Die dem Mitbestimmungsurteil zu Grunde liegende Verfassungsbeschwerde von Unternehmen sowie Arbeitgebervertretern richtete sich gegen bestimmte Regelungen des Mitbestimmungsgesetzes, nach denen Arbeitnehmern eine stärkere Partizipation in Unternehmen (ab einer bestimmten Größe) einge­ räumt wurde, u. a. durch die Beteiligung an der Besetzung des Aufsichtsrates. Die Beschwerdeführer führten eine Verletzung ihrer Eigentumsgrundrechte (Art. 14 Abs. 1 GG), der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG), der Berufs­ freiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) an. sammlung BVerfGE auf der Seite des Verlags Mohr Siebeck heißt es: „Zu den ­Höhepunkten der Sammlung gehören auch die fünf meistzitierten deutschen Gerichts­ entscheidungen – zur Volkszählung 1987 (BVerfGE 65, 1), zum Boykottaufruf des Hamburger Senatsdirektors Lüth 1958 (BVerfGE 7, 198), zum Schnellen Brüter in Kalkar 1972 (BVerfGE 49, 89), zum Schwangerschaftsabbruch (BVerfGE 39, 1) so­ wie zum Mitbestimmungsgesetz 1976 (BVerfGE 50, 290)“, abrufbar unter https:// www.mohrsiebeck.com/schriftenreihe/entscheidungen-des-bundesverfassungsgerichtsbverfge (22.9.2020). 232  BVerfGE 150, 1 (Rn. 173) – Zensus 2011 (2018). 233  Zum Beispiel in Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 228), NJW 1980, 2103 (2105); Lorenz, Kontrolle (Fn. 1), S. 217; Lee, Schonung (Fn. 185), S. 210 ff.; Vogel, Bundesverfassungsgericht (Fn. 138), S. 197; Raabe, Grundrechte (Fn. 11), S. 393; Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 532 ff. 234  Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Hand­ buch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1984, § 34 Rn. 1674. 235  Zum Begriff der Kontextualisierung siehe Teil 2 B. III. 2.

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Zur Beurteilung der Verfassungsgemäßheit dieser Regelungen kam es ins­ besondere darauf an, ob die vom Gesetzgeber aufgestellte Prognose, dass solche bestimmten tatsächlichen Umstände236, die zu einer Funktionsbeein­ trächtigung der Unternehmen bzw. Gesamtwirtschaft führen würden237, nicht eintreten, zutrifft. Diese Frage nach den tatsächlichen Entwicklungen und nach dem Maßstab, der diesbezüglich zu wählen sei, stellte das Bundesver­ fassungsgericht der Prüfung der konkreten von den Beschwerdeführern ange­ führten Grundrechte und ihrer Eingriffsschranken abstrakt und generell vo­ ran. In vorherigen Entscheidungen hatte das Bundesverfassungsgericht die Frage nach Spielräumen im Rahmen des Tatsächlichen stets bei der Frage nach der konkreten Grundrechtsverletzung angesprochen. Das Bundesverfas­ sungsgericht bildet hiermit somit erstmals einen sog. Maßstab238 hinsichtlich der Überprüfung von gesetzgeberischen Prognosen. Das Bundesverfassungsgericht formuliert, dass der Gesetzgeber zwar den grundsätzlichen Zugriff auf die Einschätzung darüber habe, was in der Zu­ kunft passiert, auf der anderen Seite der Gesetzgeber aber auch nicht schran­ kenlos agieren dürfe239. Wie weit der Zugriff auf diese Einschätzung gehe, unterliege je nach „Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Mög­ lichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter“240 einer der drei oben genannten Maßstäbe (Evidenz, Vertretbarkeit, intensive Kontrolle). Im Mitbestimmungsurteil selbst kam das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, dass nicht der intensive Maßstab anzusetzen, sondern die Frage zu stellen sei, ob der Gesetzgeber eine vertretbare Prognose aufgestellt habe. Deswegen formuliert das Bundesverfassungsgericht, dass „die Frage nur dahin gehen [kann], ob diese Vorschriften bei Zugrundelegung der ver­ tretbaren Prognose des Gesetzgebers mit dem Grundgesetz vereinbar sind“241. Es geht mithin darum, ob der Gesetzgeber eine ordnungsgemäße Prognose bezüglich der mit der Ausführung des Gesetzes eintretenden tatsächlichen Umstände vorgenommen hat und ob es daher unwahrscheinlich ist, dass sol­ che Umstände eintreten, die zum Zustand der Verfassungswidrigkeit führen. Nimmt das Bundesverfassungsgericht eine Vertretbarkeitsüberprüfung vor, so 236  Das Gericht nannte eine ganze Reihe von zukünftigen tatsächlichen Entwick­ lungen, u. a. die Akzeptanz der Unternehmen und Mitarbeiter für die neue Entwick­ lung und die sich daraus entwickelnde (nicht) harmonische Zusammenarbeit (und damit das Verhalten der Aufsichtsratsmitglieder) oder gesamtgesellschaftliche Ent­ wicklungen wie die Knappheit von Ressourcen. 237  BVerfGE 50, 290 (Rn. 109) – Mitbestimmungsurteil (1979). 238  Siehe dazu unter Teil 2 B. III. 2. 239  BVerfGE 50, 290 (Leitsatz 10) – Mitbestimmungsurteil (1979). 240  BVerfGE 50, 290 (Leitsatz 10) – Mitbestimmungsurteil (1979). 241  BVerfGE 50, 290 (Rn. 117) – Mitbestimmungsurteil (1979).



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume151

genüge es nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts im Mitbestim­ mungsurteil, wenn der Gesetzgeber bestimmten Anforderungen an das Ver­ fahren nachkomme242. b) Die drei Stufen Warum im Mitbestimmungsurteil der Vertretbarkeitsmaßstab und nicht etwa der Evidenz- oder intensive Maßstab gewählt wurde, erklärt das Gericht nicht. Auch wenn es diese drei Stufen nennt, macht das Bundesverfassungs­ gericht weder deutlich, in welchen Situationen der Gesetzesüberprüfung konkret welcher Maßstab anzuwenden sei243 noch erklärt es, welche Anfor­ derungen an die Prüfung zu stellen seien, wenn intensiv, auf eine vertretbare Entscheidung oder Evidenz-Fehler geprüft wird. Das Bundesverfassungsgericht rekurriert jedoch auf mehrere andere Ur­ teile, um den Inhalt der Stufen und Kriterien zu umschreiben. Fraglich ist somit, ob sich aus diesen Urteilen eine genauere Differenzierung einerseits dahingehend, in welchen Fällen die jeweiligen Maßstäbe zur Anwendung gelangen und anderseits wie weit die inhaltliche Reichweite dieser Maßstäbe geht, ableiten lässt. aa) Evidenzkontrolle Als Beispiele für eine Evidenzkontrolle nennt das Bundesverfassungsge­ richt im Mitbestimmungsurteil die Entscheidungen zum Grundlagenver­ trag244, zum Güterkraftverkehr245 und zur Weinwirtschaftsabgabe246. (1) Grundlagenvertrag, Güterkraftverkehr, Weinwirtschaftsabgabe Gegenstand des erstgenannten Verfahrens war die Frage, ob der 1972 ge­ schlossene Grundlagenvertrag zur Regelung der deutsch-deutschen Bezie­ hungen gegen das Gebot der Wiedervereinigung verstoßen würde. Dies wäre nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts der Fall gewesen, wenn der Vertrag die Wiedervereinigung rechtlich oder faktisch unmöglich gemacht 242  BVerfGE

50, 290 (Rn. 134) – Mitbestimmungsurteil (1979). Aussage, dass sich dies nach der „Eigenart des in Rede stehenden Sachbe­ reichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter“ entscheide, bleibt insofern re­ lativ unkonkret und nicht weiter erläutert. 244  BVerfGE 36, 1 – Grundlagenvertrag (1973). 245  BVerfGE 40, 196 – Güterkraftverkehrsgesetz (1975). 246  BVerfGE 37, 1 – Weinwirtschaftsabgabe (1974). 243  Die

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

hätte. Das Bundesverfassungsgericht dürfe nur eingreifen, wenn der Vertrag diesem Ziel „offensichtlich“ entgegenstehe, wenn das Ermessen „eindeutig“ überschritten sei247. Bemerkenswert ist, dass das Bundesverfassungsgericht den Evidenzmaßstab sowohl auf die tatsächlichen Unsicherheiten als auch auf die materiell-rechtliche Bewertung anwenden will, jedenfalls aber nicht klar zwischen diesen Spielräumen differenziert. In der Sache kam es in die­ ser Entscheidung zumindest nicht auf die tatsächlichen Umstände an, sondern vielmehr auf die rechtlichen Bewertungen. Diese wurde sodann auch sehr ausführlich geprüft: Dass nur auf „offensichtlich“ entgegenstehende Gründe geprüft wird, findet in der konkreten Subsumtion keine weitere Erwähnung. Trotz der Voranstellung des eingeschränkten Maßstabes hat das Bundesver­ fassungsgericht somit in der Sache intensiv geprüft248 – was jedoch nicht auf große Kritik gestoßen ist, da der Vertrag dennoch für verfassungsgemäß er­ klärt wurde. Wenngleich der Maßstab damit nicht zur Anwendung gelangt ist, kann aus der Entscheidung zum Grundlagenvertrag zumindest zunächst diejenige Erkenntnis gewonnen werden, dass bei einem Evidenz-Maßstab nur geprüft wird, ob das Ermessen „eindeutig“ überschritten ist. Auf ein solches Eindeutigkeits-Kriterium stellt das Gericht auch in der Prüfung der Erforderlichkeit im Urteil zum Güterkraftverkehrsgesetz ab249. In dieser Entscheidung stand die Verfassungsmäßigkeit eines wirtschaftslen­ kenden Gesetzes zur Debatte, die anhand von Art. 12 Abs. 1 GG zu prüfen war. Tatsächliche Fragen wurden hier schon im Rahmen des legitimen Zieles relevant. Im Rahmen der Frage, ob mit dem Gesetz ein überragend wichtiges Gemeingut (was für die Einschränkung von Art. 12 Abs. 1 GG nach ständi­ ger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in materiell-rechtlicher Hinsicht Voraussetzung ist) geschützt werden soll, war eine derartige Pro­ gnose zu treffen, ob in der Zukunft Gefahren solcher Intensität entstehen. Das Gericht formulierte, dass es genüge, dass es nicht außerhalb aller Wahr­ scheinlichkeit liege, dass sich der Güterverkehr derart ausweitet, dass es Probleme mit der Verkehrssicherheit geben wird250. Die im Mitbestimmungs­ urteil vom Bundesverfassungsgericht zitierte Fundstelle zum Evidenz-Maß­ stab verweist jedoch nicht auf diese Ausführungen zum legitimen Zweck251, sondern auf die Ausführungen im Rahmen der Erforderlichkeit. Hinsichtlich dieser Erforderlichkeit stellte das Gericht fest, dass es zumindest hinsichtlich 247  BVerfGE

36, 1 (Rn. 56) – Grundlagenvertrag (1973). Bickenbach, Einschätzungsprärogative (Fn. 83), S. 508. 249  BVerfGE 40, 196 – Güterkraftverkehrsgesetz (1975). 250  BVerfGE 40, 196 (Rn. 94) – Güterkraftverkehrsgesetz (1975). 251  Das Kriterium „nicht außerhalb aller Wahrscheinlichkeit“ dürfte insofern eine strengere Prüfung nach sich ziehen als das Eindeutigkeits-Kriterium. 248  Zustimmend



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume153

der Regulierung des allgemeinen Güterfernverkehres kein „eindeutig“ besser geeignetes Mittel gäbe252. Weiter verwies das Bundesverfassungsgericht im Mitbestimmungsurteil darauf, dass es im Urteil zum Stabilisierungsfonds in der Weinwirtschaft253 einen Evidenz-Maßstab hinsichtlich der zu treffenden Prognosen gewählt habe. Auch in dieser Entscheidung wird der tatsächliche bzw. prognostische Entscheidungsspielraum in der Prüfung der Erforderlichkeit des Eingriffs in das Grundrecht des Art. 12 GG relevant. Ebenso wie im Urteil zum Güter­ kraftverkehr formuliert das Bundesverfassungsgericht, dass „bei der Auswahl und technischen Gestaltung wirtschaftsordnender und-lenkender Maßnahmen […] der Gesetzgeber einen weiten Ermessensbereich“ habe und das Gesetz nur verfassungswidrig sein kann, „wenn eindeutig feststeht, daß dem Gesetz­ geber ein gleich wirksames, aber den Freiheitsspielraum der wirtschaftlich tätigen Individuen weniger einschränkendes Mittel zur Verfügung stand“254. Dies stellt das Bundesverfassungsgericht im Ergebnis nicht fest. Die Abgabe sei verfassungsgemäß. Irritierenderweise verweist die im Mitbestimmungsurteil angegebene Fundstelle aber dieses Mal gerade nicht auf den Abschnitt, in dem die Erfor­ derlichkeit zur Debatte steht (wie es im Urteil zum Güterkraftverkehr der Fall war), sondern vielmehr auf die Prüfung des legitimen Zwecks. Dort macht das Gericht Ausführungen dazu, dass der Gesetzgeber bezüglich der Frage, ob er eine „bestimmte Aufgabe in Angriff nehmen will und wie sie verwirklicht werden soll, einen weiten Regelungsspielraum“ habe255. Das Gericht könne erst eingreifen, wenn die Erwägungen „offensichtlich fehl­ sam“ seien256 (was nicht der Fall sei). Hier geht es allerdings nicht um die Frage nach tatsächlichen Spielräumen, sondern um die materiell-rechtliche Frage, welche Entscheidung in Angriff genommen werden soll. Gegebenen­ falls handelt es sich hier lediglich um ein redaktionelles Versehen des Bun­ desverfassungsgerichts, sodass für diese Arbeit davon ausgegangen wird, dass eigentlich ein Verweis auf die Erforderlichkeit hätte erfolgen sollen257. 252  BVerfGE 40, 196 (Rn. 97) – Güterkraftverkehrsgesetz (1975); im Rahmen der Erforderlichkeit der Kontingentierung speziell des Möbelfernverkehres hat das Ge­ richt dagegen festgestellt, dass diese Kontingentierung nicht erforderlich sei (Rn. 99 f.). Das Gericht erwähnt zwar nicht, dass dies aufgrund bestimmter Umstände eindeutig sei, führt aber diverse tatsächliche Gründe an, die auf Eindeutigkeit schlie­ ßen lassen. 253  BVerfGE 37, 1 – Weinwirtschaftsabgabe (1974). 254  BVerfGE 37, 1 (Rn. 60) – Weinwirtschaftsabgabe (1974). 255  BVerfGE 37, 1 (Rn. 59) – Weinwirtschaftsabgabe (1974). 256  BVerfGE 37, 1 (Rn. 59) – Weinwirtschaftsabgabe (1974). 257  Das Mitbestimmungsurteil verweist auf S. 20 des 37. Bandes BVerfGE. Dort steht hauptsächlich der legitime Zweck zur Debatte. Lediglich in den letzten drei Zei­

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

(2) Zwischenfazit Als gemeinsame Erkenntnis der Urteile zur Weinwirtschaft und zum Gü­ terverkehr lässt sich mithin herausarbeiten, dass bei wirtschaftslenkenden Gesetzen und damit verbundenen Eingriffen in die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) im Hinblick auf die Erforderlichkeit der Maßnahme und der da­ mit verbundenen Prognose über die durch das Gesetz eintretenden sich ver­ ändernden tatsächlichen Umstände keine allzu hohen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit zu stellen sind. Der Gesetzgeber stellt hier Prognosen gleich in mehrfacher Hinsicht auf. Einerseits formuliert er eine Erwartung daran, welche Umstände mit der neuen gesetzlichen Regelung eintreten. An­ dererseits muss er auch die tatsächlichen Umstände bei der Wahl eines ande­ ren Mittels prognostizieren, um einen Vergleich anstellen zu können. Damit handelt es sich um eine außerordentlich komplexe Entscheidung. Das Bundesverfassungsgericht kann sich damit grundsätzlich hinsichtlich der Erforderlichkeit mit einer Evidenzkontrolle begnügen, was inhaltlich be­ deutet, dass es lediglich prüft, ob „eindeutig“ feststeht, dass ein anders Mittel den Zweck wirksamer erreichen könnte. Es spricht dem Gesetzgeber in die­ sen Fällen damit einen weiten Einschätzungsspielraum zu. bb) Vertretbarkeitskontrolle Als Beispiele für eine Vertretbarkeitskontrolle nennt das Bundesverfas­ sungsgericht im Mitbestimmungsurteil die Entscheidungen zum Absiche­ rungsgesetz258, zum Mühlengesetz259 und zum Mühlenstrukturgesetz260. (1) Absicherungsgesetz, Mühlengesetz, Mühlenstrukturgesetz Hinsichtlich des Absicherungsgesetzes hat das Bundesverfassungsgericht geprüft, ob dieses Gesetz gegen den aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleiteten Grundsatz der Geeignetheit verstößt. Nach Auf­ fassung des Gerichts käme es darauf an, ob die Prognose hinsichtlich der Zwecktauglichkeit „sachgerecht und vertretbar“ war261. Dies sei nur in ganz seltenen Fällen nicht der Fall, nämlich dann, wenn das eingesetzte Mittel len beginnt die Prüfung der Erforderlichkeit. Es hätte richtigerweise S. 20 f. zitiert werden müssen. 258  BVerfGE 30, 250 – Absicherungsgesetz (1971). 259  BVerfGE 25, 1 – Mühlengesetz (1968). 260  BVerfGE 39, 210 – Mühlenstrukturgesetz (1975). 261  BVerfGE 30, 250 (Rn. 36) – Absicherungsgesetz (1971).



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume155

„objektiv untauglich“, „objektiv ungeeignet“ oder „schlechthin ungeeignet“ sei (was auf das Absicherungsgesetz nicht zutreffe)262. Klare Parallelen weisen hingegen die Urteile zum Mühlen- sowie Mühlen­ strukturgesetz auf. Dort ging es jeweils um einen (im Ergebnis jeweils ge­ rechtfertigten) Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG. Der Verweis des Bundesverfas­ sungsgerichts im Mitbestimmungsurteil bezieht sich in beiden Fällen auf die Prüfung des legitimen Zwecks respektive die der Prüfung der Geeignetheit vorausgehenden Diagnose, d. h. auf die Ausgangslage und den hypotheti­ schen Kausalverlauf bei Untätigkeit des Gesetzgebers. In der Entscheidung zum Mühlengesetz formulierte das Gericht, dass im Hinblick auf die Frage, ob der Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG von einem legitimen Zweck getragen werde, die Erwägungen zur tatsächlichen zukünftigen Lage (Prognose) erst dann vom Bundesverfassungsgericht zu beanstanden seien, wenn sie derart „wirtschaftlichen Gesetzen oder praktischen Erfahrungen“ widersprächen, dass sie „vernünftigerweise keine Grundlage für gesetzgeberische Maßnahmen sein könnten“263. Dass es sich hierbei um eine Vertretbarkeitsprüfung handele, formulierte das Gericht nicht. Die identische Formulierung („ver­ nünftigerweise keine Grundlage“) hat das Gericht auch in der Überprüfung des legitimen Zwecks im Urteil zum Mühlenstrukturgesetz gewählt264. Die aus dem Absicherungsgesetz (hinsichtlich der Geeignetheit) bekannte Formulierung, dass die Prognose des Gesetzgebers „sachgerecht und vertret­ bar“ sein müsse – und damit die explizite Erwähnung der Vertretbarkeit –, findet sich im Urteil zum Mühlenstrukturgesetz dagegen in der Prüfung der Erforderlichkeit265 mit dem Verweis auf die Entscheidung zum Absiche­ rungsgesetz266. Es wird auch weiter ausgeführt, wie dieser Vertretbarkeits­ maßstab zu prüfen sei, nämlich danach, ob die Maßnahme „eindeutig“ zweckuntauglich sei und ob sich „eindeutig“ feststellen ließe, dass andere weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stünden267. Das Bundesverfas­ sungsgericht bedient sich damit („eindeutig“) nicht nur des identischen Be­ griffes, den es hinsichtlich der Umschreibung des Evidenz-Maßstabes ver­ wendet hat, sondern verweist auch auf das Urteil zum Stabilisierungsfonds268, welches das Gericht als Paradebeispiel für die Evidenzkontrolle auserkoren hatte. Im Urteil zum Mühlengesetz prüft das Gericht im Rahmen der Erfor­ derlichkeit ebenso diesen Eindeutigkeits-Maßstab, erwähnt aber – im Gegen­ 262  BVerfGE 263  BVerfGE 264  BVerfGE 265  BVerfGE 266  BVerfGE 267  BVerfGE 268  BVerfGE

30, 25, 39, 39, 30, 39, 37,

250 (Rn. 37) – Absicherungsgesetz (1971). 1 (Rn. 36) – Mühlengesetz (1968). 210 (Rn. 53) – Mühlenstrukturgesetz (1975). 210 (Rn. 56) – Mühlenstrukturgesetz (1975). 250 (Rn. 36) – Absicherungsgesetz (1971). 210 (Rn. 56) – Mühlenstrukturgesetz (1975). 1 (Rn. 60) – Weinwirtschaftsabgabe (1974).

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

satz zum Mühlenstrukturgesetz – nicht, dass es sich um einen Vertretbar­ keitsmaßstab handelt269. (2) Zwischenfazit Erneut gelingt dem Bundesverfassungsgericht keine präzise Verweisungs­ technik und damit keine ausreichende Kontextualisierung. Zudem werden Unsauberkeiten in der Maßstabsbezeichnung dadurch deutlich, dass die Ein­ deutigkeitsprüfung im Rahmen der Erforderlichkeit – die eigentlich eine Evidenzprüfung ist – als Vertretbarkeitsprüfung bezeichnet wird, der eigent­ liche Vertretbarkeitsmaßstab im Rahmen des legitimen Zwecks bekommt wiederum keine Bezeichnung. Im Ergebnis ist jedoch gerade in Bezug auf die Verweisungen zum Müh­ lengesetz und Mühlenstruktur der Wille des Bundesverfassungsgerichts klar erkennbar: Das Bundesverfassungsgericht hat damit grundsätzlich bei wirtschaftslenkenden Gesetzen hinsichtlich des legitimen Zwecks eine Vertretbarkeitskontrolle durchzuführen, was inhaltlich bedeutet, dass das Gericht prüft, ob die Prognosen derart wirtschaftlichen Gesetzen oder praktischen Erfahrungen widersprechen, dass sie vernünftigerweise keine Grundlage für gesetzgeberische Maßnahmen sein können. cc) Intensive Kontrolle Schlussendlich nennt das Bundesverfassungsgericht fünf Urteile (Apo­ theken-Urteil270, Kassenärzte271, Arzneimittelgesetz272, Schwangerschaftsab­ bruch I273, Lebenslange Freiheitsstrafe274), in denen es einen intensiven Kontrollmaßstab hinsichtlich der Überprüfung der gesetzgeberischen Progno­ sen angewendet habe. (1) Apotheken-Urteil, Kassenärzte, Arzneimittelgesetz Die ersten drei Entscheidungen haben gemein, dass jeweils ein Eingriff in die Berufsfreiheit gem. Art. 12 Abs. 1 GG zur Debatte stand.

269  BVerfGE 270  BVerfGE 271  BVerfGE 272  BVerfGE 273  BVerfGE 274  BVerfGE

25, 1 (Rn. 44) – Mühlengesetz (1968). 7, 377 (Rn. 97) – Apotheken-Urteil (1958). 11, 30 (Rn. 41) – Kassenärzte (1960). 17, 269 (Rn. 16 ff.) – Tierarzneimittel (1964). 39, 1 (Rn. 170 ff.) – Schwangerschaftsabbruch I (1975). 117, 71 (Rn. 176) – lebenslange Freiheitsstrafe (2006).



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume157

(a) Die Urteile Die Verweise des Bundesverfassungsgerichts im Mitbestimmungsurteil zielen jeweils auf die Ausführungen des Gerichts hinsichtlich des legitimen Zwecks. Im Apotheken-Urteil vermochte das Bundesverfassungsgericht die Ein­ schätzung, dass es ohne gesetzgeberisches Handeln durch den zu erwarten­ den Konkurrenzkampf der Apotheken zu Gefahren für die Volksgesundheit kommen würde, d. h. dass eine schwere Gefahr eintritt, die einen legitimen Zweck begründet, nicht zu teilen. Hierfür forderte das Bundesverfassungs­ gericht nämlich im Sinne einer intensiven Kontrolle eine „hinreichende Wahrscheinlichkeit“275. Bereits einige Randziffern zuvor formulierte das Gericht, dass hinsichtlich einer Berufsausübungsregelung die Abwehr einer „nachweisbaren oder höchstwahrscheinlichen“276 schweren Gefahr für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut zu fordern sei. Um die Rechtfertigung von objektiven Zulassungsvoraussetzungen ging es auch im Urteil zu den Kassenärzten, welches sich auf das Apotheken-Urteil bezieht. Das Gericht formulierte hier, dass die objektiven Zulassungsvoraus­ setzungen nur gerechtfertigt werden könnten, wenn es sich im Hinblick auf die besonders wichtigen Interessen der Allgemeinheit um eine mit „einiger Sicherheit voraussehbare erhebliche Gefahr“ handele277. Auch das Urteil zu den Tierarzneimitteln beschäftigte sich mit Anforde­ rungen an den legitimen Zweck im Zuge der Einschränkung des Art. 12 Abs. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht formulierte, dass es dahingestellt bleiben kann, ob es sich nur um eine Regelung der Berufsausübung oder Zulassungsvoraussetzung handele, da in jedem Fall „eine so einschneidende Wirkung für die betroffene Berufsgruppe [bestehe], daß dieser Eingriff in die Berufsfreiheit nur zulässig wäre, wenn er durch wichtige Gründe des gemei­ nen Wohls gefordert würde“278. Die Frage danach, welcher Eingriff eine derartige Wirkung hat, dass wichtige Gründe des gemeinen Wohls gefährdet sind, ist jedoch eine rein materiell-rechtliche Frage und keine der tatsäch­ lichen Prognose. Der Verweis des Bundesverfassungsgerichts auf diese Fundstelle ist damit nicht passend.

275  BVerfGE

7, 377 (Rn. 97) – Apotheken-Urteil (1958). 7, 377 (Rn. 79) – Apotheken-Urteil (1958). 277  BVerfGE 11, 30 (Rn. 41) – Kassenärzte (1960). 278  BVerfGE 17, 269 (Rn. 16) – Tierarzneimittel (1964). 276  BVerfGE

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

(b) Zwischenfazit Danach ergibt sich aus den ersten zwei Urteilen, dass sich der intensive Maßstab dadurch auszeichnet, dass eine „hinreichende Wahrscheinlichkeit“279 der tatsächlichen Umstände bzw. in tatsächlicher Hinsicht eine „nachweisbare oder höchstwahrscheinliche“280 Gefahr gefordert wird. Warum jedoch konkret dieser intensive Maßstab gewählt wurde, ergibt sich aus den Urteilen gerade nicht. Dabei kann allein der Umstand, dass es sich um Eingriffe in die Berufsfreiheit handelt, nicht entscheidend sein – schließlich wird hinsichtlich dieser häufig auch ein Evidenz- oder Vertretbar­ keitsmaßstab angewendet. (2) Schwangerschaftsabbruch I, Lebenslange Freiheitsstrafe Eine Erklärung, warum der intensive Maßstab zur Anwendung gelangt, findet sich dagegen im Urteil zum Schwangerschaftsabbruch. Dort heißt es zwar in der vom Bundesverfassungsgericht im Mitbestimmungsurteil zitier­ ten Fundstelle lediglich relativ lapidar, dass das Gericht den „Spielraum des Gesetzgebers […], der diesem bei der Beurteilung der seiner Normierung zugrundeliegenden tatsächlichen Verhältnisse, der etwa erforderlichen Pro­ gnose und der Wahl der Mittel zukommt“, zu beachten habe281. Etwas später formuliert das Gericht jedoch, dass „auch eine verläßliche tatsächliche Grund­ lage fehle“. Das Bundesverfassungsgericht korrigierte die Prognose des Gesetzgebers, dass durch die neue Regelung (welche Schwangerschafts­ abbrüche in einem gewissen Rahmen erlaubt) die Zahl der Schwangerschafts­ abbrüche in Zukunft geringer sein werde als bei der bisherigen gesetzlichen Regelung. Die Korrektur begründete das Bundesverfassungsgericht damit, dass Experimente bei dem hohen Wert des zu schützenden Rechtsgutes nicht zulässig seien282. Der intensive Maßstab („Experimente nicht zulässig“) wird daher gewählt, weil es sich um einen besonders hohen Wert des zu schützen­ den Rechtsgutes handelt. Im Urteil zur lebenslangen Freiheitsstrafe (1977) ging es zunächst um „Unklarheiten in der Bewertung von Tatsachen“ und darum, ob die lebens­ lange Freiheitsstrafe zu derart schwerwiegenden Haftschäden führt, dass auch nach einer möglichen Begnadigung die Lebensfähigkeit und Resoziali­ sierung gefährdet ist. Diese Tatsachenfeststellung war für die sodann vorzu­ 279  BVerfGE

7, 377 (Rn. 97) – Apotheken-Urteil (1958). 7, 377 (Rn. 79) – Apotheken-Urteil (1958). 281  BVerfGE 39, 1 (Rn. 170) – Schwangerschaftsabbruch I (1975). 282  BVerfGE 39, 1 (Rn. 188) – Schwangerschaftsabbruch I (1975). 280  BVerfGE



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume159

nehmende Abwägung relevant. Das Bundesverfassungsgericht stellte im Hinblick auf diese Tatsachen fest, dass nicht klar sei, welcher wissenschaft­ lichen Studie gefolgt werden könne und führte aus, dass bei „einer derartigen Sachlage […] für die verfassungsgerichtliche Nachprüfung Zurückhaltung geboten“ sei283. In der vom Bundesverfassungsgericht im Mitbestimmungsurteil zitierten Fundstelle wird sodann formuliert, dass sich das Bundesverfassungsgericht über „tatsächliche Beurteilungen des Gesetzgebers“ nur hinwegsetzen darf, „wenn sie widerlegbar sind“284. Das Bundesverfassungsgericht formuliert damit grundsätzlich einen Evidenz- oder Vertretbarkeitsmaßstab. Sodann führte das Gericht jedoch weiter aus, dass bei schweren Grundrechtseingrif­ fen (hier drohte durch die Haftschäden ein Verstoß gegen die in Art. 1 Abs. 1 GG normierte Menschenwürde), „Unklarheiten in der Bewertung von Tat­ sachen“ nicht zu Lasten des Grundrechtsträgers gehen dürften285 und kehrte damit den Evidenz-Maßstab um. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind damit die Ausgestaltung des Art. 2 Abs. 2 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG sowie ein Eingriff in Art. 1 Abs. 1 GG Sachbereiche, die eine intensive Kontrolle der vom Ge­ setzgeber angestellten tatsächlichen Prognosen rechtfertigen. (3) Der intensive Maßstab Aus den Apotheken- und Kassenärzte- Entscheidungen ergibt sich, dass sich der intensive Maßstab dadurch auszeichnet, dass eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Umstände bzw. in tatsächlicher Hinsicht eine nachweisbare oder höchstwahrscheinliche Gefahr gefordert wird. Die Urteile zur lebenslangen Freiheitsstrafe und zum Schwangerschaftsab­ bruch legen die Annahme zu Grunde, dass durch die neuen gesetzlichen Re­ gelungen der Eintritt eines Zustandes drohen könnte, der eine schwere Gefahr begründet (Regelung führt zu Schwangerschaftsabbrüchen und Resozialisie­ rungsproblemen, die die Menschenwürde berühren) und begründet daher, dass bei diesen schweren Gefahren der intensive Kontrollmaßstab anzuwen­ den sei, d. h. dass besonders streng zu prüfen sei, ob diese Gefahren nicht eintreten.

283  BVerfGE

45, 187 (Rn. 176) – lebenslange Freiheitstrafe (1977). 45, 187 (Rn. 176) – lebenslange Freiheitstrafe (1977). 285  BVerfGE 45, 187 (Rn. 176) – lebenslange Freiheitstrafe (1977), aus diversen sodann genannten Gründen sei die Annahme des Gesetzgebers hier trotz dieses hohen Maßstabes nicht zu beanstanden. 284  BVerfGE

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Nach dieser Logik hätte im Apotheken-Urteil argumentiert werden können, dass das Gesetz dazu dient, die Volksgesundheit zu schützen (und damit ein besonders hohes Rechtsgut), sodass ein Eingriff in dieses eigentlich schon möglich wäre, wenn die Gefahr unwahrscheinlich ist. Das Bundesverfas­ sungsgericht hat jedoch vielmehr umgekehrt festgestellt, dass keine ausrei­ chende Wahrscheinlichkeit dafür gegeben sei, dass es ohne die gesetzgeberi­ sche Handlung zu Gefahren für die Volksgesundheit kommen würde. Im Urteil zum Mühlengesetz hat das Bundesverfassungsgericht dagegen festge­ stellt, dass es dem Gesetzgeber nicht verwehrt sein kann, auch zukünftigen nicht auszuschließenden Gefahren vorzubeugen. Die Gefahr, die hier drohte, war die Versorgungssicherheit mit Lebensmitteln. Sowohl die Versorgungs­ sicherheit als auch die Volksgesundheit (Apotheken-Urteil) sind Rechtsgüter, die die Allgemeinheit und nicht nur einen Bevölkerungsausschnitt betreffen, sodass sich Abstufungen in der Schwere der Gefahr zwischen diesen beiden Gütern nur schwer festmachen lassen dürften. Auch die Versorgungssicher­ heit und die Volksernährung sind existentielle Gemeinschaftsgüter von über­ ragender Bedeutung286. Die Entscheidung zum Apotheken-Urteil (und im Ergebnis auch das Kassenärzte-Urteil) stehen damit nicht nur der Entschei­ dung zum Mühlengesetz diametral gegenüber287, sondern im Ergebnis auch den Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch und zur lebenslangen Freiheitsstrafe. Insofern das Apotheken-Urteil von 1958 datiert und das Ur­ teil zum Mühlengesetz von 1968, ist mithin davon auszugehen, dass das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung geändert hat, ohne dies je­ doch im Mitbestimmungsurteil selbst zu merken. c) Zusammenfassung Das Konzept, welches das Bundesverfassungsgericht durch die im Mitbe­ stimmungsurteil zitierten Verweise aufgestellt hat, ist nur in Teilen stimmig. Häufig wirken Textbausteine und Verweise auf andere Rechtsprechung will­ kürlich – kontextlos – zusammengesetzt. Einige Erkenntnisse lassen sich den Entscheidungen und dem Mitbestimmungsurteil dennoch entnehmen. aa) Erforderlichkeits-Evidenz und Zweck-Vertretbarkeit Die Anwendung des Evidenz- oder Vertretbarkeitsmaßstabes bestimmt sich – zumindest nicht ausschließlich – nach der „Eigenart des in Rede ste­ henden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil 286  Seetzen,

Der Prognosespielraum des Gesetzgebers, NJW 1975, 429 (430). Prognosespielraum (Fn. 286), NJW 1975, 429 (430); dazu auch Ossenbühl, Kontrolle (Fn. 143), S. 508. 287  Seetzen,



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume161

zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter“, sondern insbesondere auch danach, an welcher Stelle der verfassungsrecht­ lichen Prüfung die Frage nach dem Spielraum des Gesetzgebers in tatsäch­ lich-prognostischer Hinsicht relevant wird. Danach ist im Rahmen der Bestimmung des legitimen Zwecks ein Vertretbarkeitsmaßstab anzusetzen und zu fragen, ob die vom Gesetz verfolgten Maßnahmen „wirtschaftlichen Gesetzen oder praktischen Erfahrungen“ wi­ dersprechen, dass sie „vernünftigerweise“ keine Grundlage für gesetzgeberi­ sche Maßnahmen sein können288. Im Rahmen der Prüfung der Erforderlichkeit eines Eingriffes gilt hingegen ein Evidenzmaßstab, nach dem zu prüfen ist, ob ein anderes Mittel „eindeutig“ das besser geeignete wäre289. bb) Sachverhalts-Dynamiken Dort, wo sich Sachverhalte rasch wandeln und hierzu wirtschaftslenkende Gesetze eingesetzt werden, ist der Prognosespielraum des Gesetzgebers grö­ ßer, als bei dauerhaften und prinzipiellen Ordnungsentscheidungen290. cc) Neue Entwicklungen im Mitbestimmungsurteil Die im Mitbestimmungsurteil zitierten Entscheidungen haben eines ge­ mein: Sie beziehen sich stets auf den Spielraum des Gesetzgebers hinsicht­ lich spezifischer verfassungsrechtlicher Eingriffsvoraussetzungen (legitimer Zweck, Erforderlichkeit) oder doch jedenfalls hinsichtlich spezifischer Ver­ fassungsrechte (Menschenwürde, Rechtsstaatsprinzip). Die Ausführungen zum Prognosespielraum des Gesetzgebers im Mitbestimmungsurteil lassen sich jedoch nicht dergestalt einordnen. Vielmehr beschreibt das Bundesver­ fassungsgericht – noch bevor es die einzelnen betroffenen Grundrechte (Art. 14, Art. 9 Abs. 3, Art. 2 Abs. 1 GG) prüft – ganz generell und allge­ mein, welcher Prognosespielraum dem Gesetzgeber zukomme. Das Bundes­ verfassungsgericht verwendet in dieser Entscheidung den Vertretbarkeits­ maßstab. Dies begründet es nicht näher. Das Gericht versteht diesen Vertretbarkeits­ maßstab insbesondere verfahrensspezifisch, d. h. dass besondere Anforderun­ gen an das Verfahren eingehalten werden müssen. Solche Anforderungen 288  BVerfGE 39, 210 (Rn. 36) – Mühlenstrukturgesetz (1975); BVerfGE 25, 1 (Rn. 53) – Mühlengesetz (1968). 289  BVerfGE 40, 196 (Rn. 97) – Güterkraftverkehrsgesetz (1975). 290  So auch Papier, Das Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts – Eine kritische Würdigung aus verfassungsrechtlicher Sicht, ZGR 8 (1979), 444 (454).

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

formulierte das Gericht in den von ihm selbst zitierten Entscheidungen, die einen Vertretbarkeitsmaßstab diskutieren, jedoch noch nicht. Ein besonderer Verfahrensmaßstab ist auch abzulehnen, sofern er auf eine Verpflichtung zum besonderen Verfahren abzielt und nicht auf die Vergrößerung des dem Ge­ setzgeber zukommenden Spielraums. dd) Rezeption in der weiteren Rechtsprechung Unabhängig von dieser methodischen und systematischen Unschärfe, die dem Mitbestimmungsurteil zu Grunde liegt, kann von einer konsequenten Anwendung des Maßstabes in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge­ richts nicht gesprochen werden291, sodass bereits diskutiert wurde, ob diese Lehre historisch überholt sei292 und dass das Bundesverfassungsgericht Ab­ stand von der Drei-Stufen-Lehre genommen hätte293. Die Grundsätze des Mitbestimmungsurteils liegen und lagen aber dennoch vielen weiteren Entscheidungen zu Grunde. Zu nennen ist insofern nicht nur die Entscheidung zum Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung (2020) und das Volkszählungsurteil (2018), die sich wieder explizit auf die Ausführungen zur Drei-Stufen-Lehre aus dem Mitbestimmungsurteil bezie­ hen294, sondern auch die vielbeachtete Entscheidung des Bundesverfassungs­ gerichts zur sog. Bundesnotbremse (2021) während der Corona-Pandemie, in der sich das Gericht über den Verweis auf die Entscheidung zur Sterbehilfe ebenso ausdrücklich auf das Mitbestimmungsurteil bezieht295. Auch die Kommentarliteratur hält weiterhin an der Abgrenzung durch diese Kontroll­ stufen fest und bezeichnet diese als nützliches Instrument296. Der Hinweis darauf, dass im Mitbestimmungsurteil bereits unklar bleibt, wo die Grenze zwischen den verschiedenen Prüfmaßstäben liegt und nicht erkennbar ist, wann das jeweilige Kriterium zur Anwendung gelangen soll297 291  Walter,

in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 93 (2017) Rn. 110. Grenzen (Fn. 100), DÖV 2011, 267 (270); Bickenbach, Einschät­ zungsprärogative (Fn. 83), S. 137; Stuttmann, Gestaltungsfreiheit (Fn. 82), 57. 293  Walter, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 93 (2017) Rn. 110. 294  BVerfG NJW 2020, 905 (Rn. 237) – geschäftsmäßige Sterbehilfe (2020); BVerfGE 150, 1 (Rn. 173) – Zensus 2011 (2018). 295  BVerfG 1 BvR 781/21 u. a. (Rn. 171) – Bundesnotbremse I (Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen) (2021). 296  Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 1 Rn. 281. 297  Mahrenholz, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 23 (32); Austermann, Grenzen (Fn. 100), DÖV 2011, 267 (270); Petersen, Verhältnismäßigkeit (Fn. 193), S. 92. 292  Austermann,



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und dass dem Urteil daher keine „entscheidungsleitende“ Funktion298 zuge­ sprochen werden könne, ist – wie gezeigt – zwar in Teilen zutreffend, einige wichtige Erkenntnisse lassen sich gleichwohl für die weitergehende Systema­ tisierung gewinnen. Die wesentliche Erkenntnis des Mitbestimmungsurteils, dass sich die Spielräume des Gesetzgebers auch insbesondere danach beurteilen, an wel­ cher Stelle der verfassungsgerichtlichen Prüfung diese relevant werden, gibt Anlass, die Spielräume insbesondere im Rahmen der Verhältnismäßigkeits­ prüfung genauer zu untersuchen. Dabei wird die oben auf die Verwendung von Spielraum-Begriffen hin untersuchte Rechtsprechung der vergangenen Jahre in diese Systematik eingeordnet. (1) Legitimer Zweck Im Rahmen der Bestimmung des legitimen Zwecks spielen tatsächliche Erwägungen des Gesetzgebers dann eine Rolle, wenn festzustellen ist, ob der Gesetzgeber nur tätig werden darf, wenn eine bestimmte Bedrohungslage vorliegt oder ob der Eintritt einer solchen Lage droht. (a) Rechtsprechung und Voraussetzungen Solche tatsächlichen Umstände, die das Bundesverfassungsgericht im Rah­ men der Feststellung des legitimen Zwecks überprüfen muss, werden unter anderen im Rahmen von wirtschaftslenkenden Gesetzen relevant. Regel­ mäßig treffen diese Gesetze Inhaber von bestimmten Berufen, sodass mit solchen Gesetzen Eingriffe in die Berufsfreiheit verbunden sind. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind je nach Intensität des Eingriffs in die freie Ausübung des Berufes verschiedene Anforderungen an die Rechtfertigung des Eingriffs in Art. 12 Abs. 1 GG zu stellen. Die sog. Drei-Stufen-Theorie fragt danach, ob durch das Gesetz die bloße Art und Weise der Berufsausübung oder der gesamte Zugang zum Beruf – entweder subjektiv oder objektiv – beschränkt wird. Je nach zutreffender Wirkweise des Gesetzes werden unterschiedlich strenge Anforderungen (z. B. muss zur Rechtfertigung objektiver Berufswahlbeschränkungen der Schutz eines über­ ragend wichtigen Gemeingutes angestrebt werden) an die Bedeutung der Güter, zu deren Schutz die Regelung erlassen wird, gestellt299. Bereits im legitimen Zweck muss dabei festgestellt werden, dass es sich um ein überra­ 298  Petersen, Verhältnismäßigkeit (Fn. 193), S. 92; in diesem Sinne auch I. Augs­ berg/S. Augsberg, Elemente (Fn. 203), VerwArch 98 (2007), 290 (299). 299  Siehe nur Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 12 Rn. 92 ff.

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

gend wichtiges Gemeingut handelt, welches das Gesetz schützen soll. Dies ist zunächst eine materiell-rechtliche Beurteilung. In tatsächlicher Hinsicht relevant wird sodann jedoch die Frage, ob das jeweilige Gut ohne den Eingriff in die Berufsfreiheit einer bestimmten Ge­ fährdung ausgesetzt wäre. Zur Überprüfung des Vorliegens dieser tatsäch­ lichen Umstände sind Kriterien zu bestimmen. Im Urteil zum Mühlenstrukturgesetz differenzierte das Bundesverfassungs­ gericht noch zwischen tatsächlichen aktuellen Umständen sowie Prognosen. Das Gericht stellte hinsichtlich der aktuellen Tatsachen darauf ab, dass diese in „korrekter und ausreichender Weise“300 beschafft worden sein müssen. Damit formulierte das Bundesverfassungsgericht Anforderungen an das Ver­ fahren. Der dem Gesetzgeber hinsichtlich dieser aktuellen Tatsachen zuste­ hende „Beurteilungsspielraum“ sei kleiner als derjenige hinsichtlich drohen­ der Gefahren301. Im Urteil zum Güterkraftverkehr stellte das Gericht fest, dass die Gefahr, der vorgebeugt werden soll, nicht außerhalb aller Wahr­ scheinlichkeit liegen darf302. Mittlerweile haben sich jedoch sowohl hinsicht­ lich der Feststellung aktueller Tatsachen als auch im Hinblick auf Prognosen einheitliche Kriterien herausgebildet. Die Gefahr müsse entweder tatsächlich aktuell nachweisbar oder höchstwahrscheinlich sein303. Die Erwägungen zur tatsächlichen zukünftigen Lage (Prognose) seien erst dann vom Bundesverfassungsgericht zu beanstanden, wenn sie derart „wirt­ schaftlichen Gesetzen oder praktischen Erfahrungen“ widersprechen, dass sie „offensichtlich fehlsam sind“ und „vernünftigerweise“ keine Grundlage für gesetzgeberische Maßnahmen sein können304. In diesem Sinne stand zum Beispiel im Urteil zum privaten Rettungsdienst „außer Frage [d. h. es ent­ spricht vernünftigerweise wirtschaftlichen und praktischen Gesetzen], dass ein ausreichender Schutz der Bevölkerung nicht gewährleistet ist, wenn Not­ fallpatienten nicht schnell lebensrettende Hilfe erhalten“305. Den dem Ge­ setzgeber bezüglich dieser Prognosen zukommenden Spielraum bezeichnet das Gericht als „Einschätzungsspielraum“306 bzw. „Einschätzungs- und Prognosespielraum“307 oder „Beurteilungsspielraum“308. 300  BVerfGE

39, 210 (Rn. 46) – Mühlenstrukturgesetz (1975). 39, 210 (Rn. 46) – Mühlenstrukturgesetz (1975). 302  BVerfGE 40, 196 (Rn. 94) – Güterkraftverkehrsgesetz (1975). 303  BVerfGE 126, 112 (Rn. 96) – privater Rettungsdienst (2010); BVerfGE 25, 1 (Rn. 27) – Mühlengesetz (1968); BVerfGE 7, 377 (Rn. 79) – Apotheken-Urteil (1958). 304  BVerfGE 126, 112 (Rn. 96) – privater Rettungsdienst (2010); BVerfGE 39, 210 (Rn. 46) – Mühlenstrukturgesetz (1975); BVerfGE 25, 1 (Rn. 36) – Mühlengesetz (1968). 305  BVerfGE 126, 112 (Rn. 96) – privater Rettungsdienst (2010). 306  BVerfGE 126, 112 (Rn. 96) – privater Rettungsdienst (2010). 307  BVerfGE 126, 112 (Rn. 96) – privater Rettungsdienst (2010). 301  BVerfGE



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume165

Auch hinsichtlich der aktuellen tatsächlichen Bedingungen wird wie bei den Prognosen darauf abgestellt, ob diese „wirtschaftlichen Gesetzen oder praktischen Erfahrungen“ widersprechen, sodass sie „vernünftigerweise“ keine Grundlage für gesetzgeberische Maßnahmen sein können“309. Die Feststellung, dass gerade Spielhallen einen „Reiz des Verbotenen“ ausüben, der insbesondere auf Kinder und Jugendliche anziehend wirkt, sei nicht zu beanstanden310. Dieser Spielraum wird bezeichnet als „Einschätzungs- und Prognosespielraum“311 oder „Beurteilungsspielraum“312. Auch bei Berufsbeschränkungen der ersten Stufe („bloße“ Berufsaus­ übungsregelung) formuliert das Bundesverfassungsgericht, dass der Gesetz­ geber nur dann beanstandet werden kann, wenn seine Erwägungen offen­ sichtlich fehlsam sind, sodass sie vernünftigerweise keine Grundlage für ge­ setzgeberisches Handelns sein können313. Ein Unterschied zu den anderen Stufen ist insofern nicht zu erkennen – der Spielraum heißt jedoch einheitlich „Beurteilungsspielraum“314. Warum hinsichtlich der Begriffe auf den ver­ schiedenen Stufen differenziert wird, ergibt sich aus der Rechtsprechung nicht. (b) Fazit Insgesamt ist das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der Überprüfung der tatsächlichen Grundlagen der legitimen Zwecke sehr großzügig, Bean­ standungen erfolgen selten315. Die „Einschätzung der für die Konfliktlage maßgeblichen ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen liegt zu­ 308  BVerfGE

39, 210 (Rn. 46) – Mühlenstrukturgesetz (1975). 145, 20 (Rn. 137) – Spielhallenzulassung (2017). 310  BVerfGE 145, 20 (Rn. 136 ff.) – Spielhallenzulassung (2017). 311  BVerfGE 145, 20 (Rn. 137) – Spielhallenzulassung (2017). 312  BVerfGE 39, 210 (Rn. 46) – Mühlenstrukturgesetz (1975). 313  BVerfGE 121, 317 (Rn. 103) – Rauchverbot (2008); BVerfGE 77, 84 (Rn. 75) – Arbeitnehmerüberlassung Baugewerbe (1987); BVerfGE 117, 163 (Rn. 64) – An­ waltshonorar (2006); BVerfGE 30, 292 (Rn. 67) – Erdölbevorratung (1971). 314  BVerfGE 121, 317 (Rn. 103) – Rauchverbot (2008); BVerfGE 77, 84 (Rn. 75) – Arbeitnehmerüberlassung Baugewerbe (1987); BVerfGE 117, 163 (Rn. 64) – An­ waltshonorar (2006); BVerfGE 30, 292 (Rn. 67) – Erdölbevorratung (1971). 315  Im Apothekenurteil (BVerfGE 7, 377), welches grundlegende Maßstäbe für die hier besprochene Beurteilung gesetzt hat, teilte das Bundesverfassungsgericht jedoch die Einschätzung nicht, dass es ohne gesetzgeberisches Handeln durch den zu erwar­ tenden Konkurrenzkampf der Apotheken zu Gefahren für die Volksgesundheit kom­ men würde, d. h. dass eine schwere Gefahr eintritt, die einen legitimen Zweck be­ gründet. Die Wahrscheinlichkeitsprüfung erfolgt dort aber auch nicht unter Zugrunde­ legung des heutigen Kriteriums, dass das Gericht nur eingreifen dürfe, wenn die Überlegungen des Gesetzgebers derart „offensichtlich fehlsam“ seien und daher 309  BVerfGE

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

nächst in [… der] politischen Verantwortung“ des Gesetzgebers316. Es ist ein Vertretbarkeitsmaßstab anzusetzen. Die tatsächlichen Einschätzungen dürfen lediglich wirtschaftlichen Gesetzen oder praktischen Erfahrungen nicht wi­ dersprechen, sie dürfen nicht offensichtlich fehlsam sein sowie müssen ver­ nünftigerweise eine Grundlage für gesetzgeberische Maßnahmen bieten. (2) Geeignetheit Im Rahmen der Prüfung der Geeignetheit einer gesetzgeberischen Maß­ nahme, die in ein Grundrecht eingreift, ist eine „Prognose darüber, dass die Maßnahme zur Erreichung des gesetzten Ziels geeignet“317 ist, anzustellen, d. h. eine Prognose darüber, dass die im Rahmen des legitimen Zwecks fest­ gestellte Gefahr bzw. der angestrebte legitime Zweck durch die gesetzgeberi­ sche Maßnahme auf geeignete Art und Weise verhindert bzw. herbeigeführt wird. Während 1971 noch gefordert wurde, dass die Prognose „sachgerecht und vertretbar“318 gewesen sein müsse, führt das Gericht in einer aktuellen Ent­ scheidung zum Tarifeinheitsgesetz aus, dass der Beurteilungsspielraum dann nicht eingehalten sei, wenn „sich deutlich erkennbar abzeichnet, dass eine Fehleinschätzung vorgelegen hat“319. Das Gericht stellt damit letztendlich („deutlich erkennbar“) auf das Evidenz-Kriterium, welches das Gericht im Mitbestimmungsurteil für den Erforderlichkeits-Maßstab begründet hat, ab. Zum Teil begnügt sich das Gericht jedoch auch damit, darauf hinzuweisen, dass bestimmte Spielräume des Gesetzgebers bestehen, ohne weitergehende Ausführungen dazu zu machen, nach welchen Kriterien das Gericht die ­Einhaltung dieser Spielräume beurteilt320. Der dem Gesetzgeber in diesem Zusammenhang zukommende Spielraum wird vom Bundesverfassungsge­ richt als Beurteilungs- und Prognosespielraum321, Einschätzungsprärogati­ ve322 oder Einschätzungsspielraum323 bezeichnet.

„vernünftigerweise“ keine Grundlage für gesetzgeberische Maßnahmen darstellen können. 316  BVerfGE 142, 268 (Rn. 64) – Bestellerprinzip (2016). 317  BVerfGE 30, 250 (Rn. 36) – Absicherungsgesetz (1971). 318  BVerfGE 30, 250 (Rn. 36) – Absicherungsgesetz (1971). 319  BVerfGE 146, 71 (Rn. 159) – Tarifeinheitsgesetz (2017); BVerfGE 92, 365 (Rn. 112) – Kurzarbeitergeld (1995). 320  BVerfGE 126, 112 (Rn. 103 ff.) – privater Rettungsdienst (2010). 321  BVerfGE 126, 112 (Rn. 103) – privater Rettungsdienst (2010). 322  BVerfGE 126, 112 (Rn. 103) – privater Rettungsdienst (2010). 323  BVerfGE 146, 71 (Rn. 159) – Tarifeinheitsgesetz (2017).



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume167

(3) Erforderlichkeit (a) Rechtsprechungsentwicklung Gegenstand jeder Verhältnismäßigkeitsprüfung ist weiter die Prüfung, ob eine Maßnahme erforderlich ist. Auch im Hinblick auf die Erforderlichkeits­ prognose spricht das Gericht davon, ob „eindeutig“ ein sachlich gleichwerti­ ges Mittel (im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 GG324 sowie im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 GG325) bzw. ob ein „eindeutig gleich wirksames“ Mittel (in Bezug auf ein wirtschaftslenkendes Gesetz und Art. 12 GG326) oder ob „ein zweifelsfrei gleich wirksames, die Grundrechtsberechtigten weniger beeinträchtigendes Mittel“327 zur Verfügung steht sowie erneut, ob „deutlich erkennbar […] eine Fehleinschätzung vorgelegen hat“328. Es knüpft damit abermals an den Evi­ denzmaßstab an. Die Bezugnahme auf das Evidenz-Kriterium geht nicht immer, aber in wohl zutreffender Weise damit einher, den dem Gesetzgeber zustehenden Spielraum als „weit“ zu bezeichnen329. Auch im Rahmen der Rechtfertigung von Gleichheitseingriffen (hier in der Entscheidung zur Erbschaftssteuer) legt das Bundesverfassungsgericht für die Erforderlichkeit einen „großzügigen verfassungsrechtlichen Kontrollmaß­ stab“330 an, der in einen „weiten“331 Spielraum resultiere. Es sei lediglich erforderlich, dass die Prognose nicht geradezu der Lebenserfahrung wider­ spreche332. Sodann führt das Gericht jedoch aus, dass es darauf ankäme, dass die Gefahr „vertretbar und plausibel“ diagnostiziert wurde333. Das Gericht stellt somit auf einen Vertretbarkeitsmaßstab ab. Begrifflich spricht das Gericht von einem Beurteilungs- und Prognose­ spielraum334, der Einschätzungsprärogative335, dem Einschätzungsspiel­ 324  BVerfGE

146, 71 (Rn. 162) – Tarifeinheitsgesetz (2017). 146, 164 (Rn. 105) – Pflichtmitgliedschaft IHK (2017). 326  BVerfGE 37, 1 (Rn. 60) – Weinwirtschaftsabgabe (1974); BVerfGE 142, 268 (Rn. 72) – Bestellerprinzip (2016). 327  BVerfGE 149, 86 (Rn. 94) – Hofabgabeklausel (2018). 328  BVerfGE 146, 71 (Rn. 162) – Tarifeinheitsgesetz (2017). 329  BVerfGE 146, 164 (Rn. 105) – Pflichtmitgliedschaft IHK (2017). 330  BVerfGE 138, 136 (Rn. 141) – Erbschaftssteuer (2014). 331  BVerfGE 138, 136 (Rn. 142) – Erbschaftssteuer (2014). 332  BVerfGE 138, 136 (Rn. 144) – Erbschaftssteuer (2014). 333  BVerfGE 138, 136 (Rn. 144) – Erbschaftssteuer (2014). 334  BVerfGE 146, 71 (Rn. 162) – Tarifeinheitsgesetz (2017); BVerfGE 126, 112 (Rn. 103) – privater Rettungsdienst (2010); BVerfGE 116, 202 (Rn. 95) – Lohndum­ ping (2006). 335  BVerfGE 126, 112 (Rn. 103) – privater Rettungsdienst (2010); BVerfGE 141, 121 (Rn. 54) – Insolvenzverwalterbestellung (2016). 325  BVerfGE

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

raum336 sowie von einem Einschätzungs- und Prognosespielraum337, oder auch von einem Ermessensbereich338. Beachtung verdient die Erforderlichkeit-Rechtsprechung des Bundesver­ fassungsgerichts hinsichtlich einer Regelung im Telekommunikationsrecht, nach der der Rechtsschutz von Telekommunikationsanbietern hinsichtlich der Entgeltregulierung eingeschränkt wurde339. Diese Regelung sah das Bundes­ verfassungsgericht aufgrund von nach Erlass des Gesetzes veränderter tat­ sächlicher Umstände nicht mehr als erforderlich an340. Gegenstand des Ver­ fahrens war die Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG. Das Gericht erwähnt, dass dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative zukomme, die nun nicht mehr trage341, weil er keine konkreten Anhaltspunkte dafür vortragen könne, „dass und inwiefern das finanzielle Ungleichgewicht zwischen den Marktakteuren tatsächlich […] unverändert allgemein [fortbestehe]“342. Mit dem Verweis auf die „konkreten“ Umstände stellt das Bundesverfassungsge­ richt damit im Ergebnis auf einen intensiven Kontrollmaßstab und gerade nicht auf einen Evidenzmaßstab ab. Warum in diesem Fall der intensive Maßstab gelte, macht das Gericht nicht deutlich. In der Entscheidung zum Spielbankgesetz Baden-Württemberg ging es einen Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG. Hinsichtlich des Gesetzeszweckes, Einnahmen der Spielbanken in Baden-Baden und Konstanz weitgehend zuschöpfen, um sie für gemeinnützige Zwecke zu verwenden, wurde die forderlichkeit verneint, ohne auch nur einen Maßstab darzustellen343.

336  BVerfGE

um die ab­ Er­

146, 164 (Rn. 105) – Pflichtmitgliedschaft IHK (2017). 138, 136 (Rn. 142) – Erbschaftssteuer (2014). 338  BVerfGE 37, 1 (Rn. 60) – Weinwirtschaftsabgabe (1974). 339  BVerfGE 143, 216 – Telekommunikationsgesetz Entgeltregulierung (2016), die streitgegenständliche Regelung des TKG verhinderte im Falle einer Verpflichtungs­ klage die rückwirkende Geltung des tatsächlich rechtmäßigen Entgelts, wenn nicht vorher ein einstweiliges Verfahren angestrengt wurde. 340  BVerfGE 143, 216 (Rn. 56 ff.) – Telekommunikationsgesetz Entgeltregulierung (2016), siehe hinsichtlich der in diesem Zusammenhang aktuell gewordenen Nach­ besserungspflicht auch unten unter Teil 4 C. VI. 2. 341  BVerfGE 143, 216 (Rn. 72) – Telekommunikationsgesetz Entgeltregulierung (2016). 342  BVerfGE 143, 216 (Rn. 67) – Telekommunikationsgesetz Entgeltregulierung (2016). 343  BVerfGE, 197 (Rn. 76) – Spielbankgesetz Baden-Württemberg (2000); die Er­ forderlichkeit der Regelung konnte mit Verweis auf einen weiteren Gesetzeszweck (Gefahrenabwehr) festgestellt werden, auch diesbezüglich wurde jedoch kein Maß­ stab dargestellt. Das Gesetz wurde im Ergebnis aufgehoben, da es nicht verhältnismä­ ßig sei. 337  BVerfGE



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Auch gibt es Entscheidungen, in denen das Gericht gar nicht darauf ein­ geht, dass der Gesetzgeber einen bestimmten Spielraum hätte. Teilweise wird nur auf eine bestehende „Einschätzungsprärogative“344 hingewiesen und dass der Gesetzgeber zutreffender Weise von seinen Annahmen ausgehen durfte345, dass die Erforderlichkeitseinschätzung im Gestaltungsspielraum liege346, dass keine gleich wirksamen Alternativen in Betracht kämen347 oder dass der „Beurteilungs- und Prognosespielraum“ nicht überschritten sei348. Teilweise wird nur davon gesprochen, dass es eine „nötige“ Sicherheit geben muss, aber nicht, an welchem Maßstab diese zu messen sei349, teilweise wird noch nicht einmal der dem Gesetzgeber zustehende Spielraum erwähnt, sondern darauf hingewiesen, dass die Annahmen des Gesetzgebers „plausibel und nicht zu beanstanden“ seien350. (b) Fazit Der vom Bundesverfassungsgericht im Mitbestimmungsurteil aufgestellte Maßstab, nach dem die Erforderlichkeitsprognose lediglich einer Evidenz­ kontrolle unterliege und anhand des Eindeutigkeits-Kriteriums geprüft wird, setzt sich im Wesentlichen in aktueller Rechtsprechung fort. Im Rahmen der Erforderlichkeit des Mittels geht es allgemein darum, zu überprüfen, ob ein anderes Mittel den gleichen Erfolg versprochen hätte. Da aber potenziell unzählige andere Mittel in Betracht kommen, die allesamt zu prüfen wären, ist es richtig, wenn darauf hingewiesen wird, dass die Mittelwahl das „Herz­ stück der legislativen Gestaltungsfreiheit“ sei und die Prüfung des Gerichts diesbezüglich sehr beschränkt ist351. Gleichzeitig hält sich das Bundesverfassungsgericht nicht stringent an die­ sen Maßstab. Insbesondere die neueste Entscheidung zum Telekommunika­ tionsgesetz legt die Vermutung nahe, dass das Gericht dort, wo es zur Verfas­ sungswidrigkeit der Regelung kommen möchte, auch gerne einen intensiven Maßstab anwendet. Auch wenn das Urteil im Hinblick auf das Übergreifen des Bundesverfassungsgerichts in die gesetzgeberischen Spielräume weder von der Politik selbst noch aus der Literatur erheblich Kritik erfahren hat, 344  BVerfGE

117, 163 (Rn. 54) – Anwaltshonorar (2006). 141, 121 (Rn. 54) – Insolvenzverwalterbestellung (2016); BVerfGE, 197 (Rn. 77) – Spielbankgesetz Baden-Württemberg (2000). 346  BVerfGE 145, 20 (Rn. 153) – Spielhallenzulassung (2017). 347  BVerfGE 116, 202 (Rn. 95) – Lohndumping (2006). 348  BVerfGE 141, 143 (Rn. 66) – Akkreditierung von Studiengängen (2016). 349  BVerfGE, 197 (Rn. 77) – Spielbankgesetz Baden-Württemberg (2000). 350  BVerfGE 141, 82 (Rn. 84) – Sozietätsverbot (2016). 351  Ossenbühl, Kontrolle (Fn. 143), S. 515. 345  BVerfGE

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

sticht dieses Urteil doch als ein solches Urteil heraus, in dem das Gericht seine eigentliche Rechtsprechungslinie verlassen hat, was – im Hinblick auf andere Regelungen – zu problematischen Inkonsequenzen führen könnte. (4) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Auch sind Entscheidungen auszumachen, in denen die Prognoseentschei­ dung des Gesetzgebers in der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Maß­ nahme geprüft wird352. In der Entscheidung zum Atomausstieg353 war im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit der Ausgestaltung der Inhalts- und Schrankenbestimmung zu prüfen, ob es – im Hinblick auf Art. 14 GG i. V. m. Art. 3 GG – verhältnismäßig ist, dass einige Kraftwerksbetreiber ihre Rest­ strommengen nicht mehr verstromen können, während dies anderen möglich ist. Hinsichtlich der Frage, in welchem Umfang eine Verstromung noch statt­ finden kann, war eine Prognose anzustellen354. Das Bundesverfassungsge­ richt führte im Folgenden allerdings nicht aus, dass dem Gesetzgeber bezüg­ lich derartiger Prognosen nach seiner Rechtsprechung ein bestimmter Spiel­ raum zustünde. Das Gericht hätte allerdings auch nicht entscheiden müssen, ob die gesetzgeberische Prognose zutreffend und der verfassungsgerichtlichen Entscheidung zu Grunde zu legen sei: Es urteilte, dass in jedem Fall – d. h. auch bei Annahme der gesetzgeberischen Prognose – ein unverhältnismäßi­ ger Eingriff gegeben sei355. Hieraus lässt sich schließen, dass ein weiter Spielraum des Gesetzgebers für Prognoseentscheidungen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit gegeben sein kann, dieser aber faktisch wirkungslos ist, da das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Verhältnismäßigkeit noch immer das scharfe Schwert der materiellen Unverhältnismäßigkeit zücken kann. 2. Kriterien Nach dieser Analyse der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen soll nun untersucht werden, inwiefern die vom Bundesverfassungsgericht im Mitbestimmungsurteil aufgestellten Kriterien, dass die Intensität der Pro­ gnosekontrolle nach der „Möglichkeit, sich ein sicheres Urteil bilden zu können“, nach der „Eigenart des Sachbereichs“ sowie der „Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter“ variiere, passend sind. Diese Krite­ 352  In diesem Sinne auch BVerfGE 141, 220 (abw. Meinung 1 Rn. 3) – BKA-Ge­ setz (2016). 353  BVerfGE 143, 243 – Atomausstieg (2016). 354  BVerfGE 143, 243 (Rn. 317 ff.) – Atomausstieg (2016). 355  BVerfGE 143, 243 (Rn. 328) – Atomausstieg (2016).



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume171

rien sind im Einzelnen näher zu überprüfen und mit den bisher festgestellten Erkenntnissen, dass die Anwendung der verschiedenen Maßstäbe auch insbe­ sondere davon abhängt, an welcher Stelle der verfassungsgerichtlichen Über­ prüfung die Spielräume relevant werden, zu verbinden. a) Die Möglichkeit der Bildung eines sicheren Urteils Die Intensität der Kontrolle der Prognosen- und Tatsachenentscheidung des Gesetzgebers hängt nach dem Bundesverfassungsgericht von der Mög­ lichkeit ab, sich ein hinreichend sicheres Urteil bilden zu können356. Mit anderen Worten kommt es auf die Komplexität der Prognoseentscheidung an. Dem Gericht ist zuzustimmen. Das Bundesverfassungsgericht ist zwar grundsätzlich dazu berechtigt, die Verfassung zu interpretieren und zu konkretisieren und damit auch dazu be­ rechtigt, aus den Verfassungsnormen bestimmte Anforderung an die empiri­ sche Gewissheit abzuleiten. Dies geht jedoch nur soweit, wie die Konkreti­ sierung der empirischen Unsicherheit sich in rechtserhebliches Material um­ setzen lässt357. Je unüberschaubarer und komplexer der Sachverhalt ist, desto schwieriger wird es für das Bundesverfassungsgericht, die ergangenen Prog­ noseentscheidungen rational zu überprüfen358. Die bundesverfassungsge­ richtliche Gegenprognose wäre ebenso unsicher wie die Prognose des Ge­ setzgebers359. Eine erhöhte Komplexität der Prognoseentscheidung führt so­ mit zu einer Begrenzung der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrollmög­ lichkeiten. Insbesondere zeigt sich in diesem Zusammenhang auch, was es dem Ge­ setzgeber nützt, wenn er seinen verfahrensrechtlichen Obliegenheiten nach­ gekommen ist, Tatsachen ermittelt und eine eigene Prognose angestellt hat. In diesen Fällen hat sich das Bundesverfassungsgericht darauf zu beschrän­ ken, die vom Gesetzgeber aufgestellte Prognose zu falsifizieren. Je komple­ xer und unsicherer die Prognosemöglichkeiten sind, desto schwieriger wird jedoch eine solche Falsifizierung, und desto größer ist die Einschätzungsprä­ 356  BVerfGE 50, 290 (Rn. 110) – Mitbestimmungsurteil (1979); BVerfGE 117, 163 (Rn. 83) – Anwaltshonorar (2006); BVerfGE 121, 317 (Rn. 103) – Rauchverbot (2008). 357  Hwang, Die Begründung der gesetzgeberischen Einschätzungsspielräume aus den Grenzen der verfassungsrechtlichen Rechtsanwendung, KritV 92 (2009), 31 (45). 358  Ossenbühl, Kontrolle (Fn. 143), S. 505; Stuttmann, Gestaltungsfreiheit (Fn. 82), S. 188; in diesem Sinne auch BVerfGE 103, 172 (Rn. 53) – Altersgrenze für Kassen­ ärzte, in dem es dem Gesetzgeber einen „besonders weiten Einschätzungs- und Ge­ staltungsspielraum“ für die Erfüllung einer komplexen Aufgabe zuspricht. 359  Steinbach, Gesetzgebung (Fn. 191), Der Staat 54 (2015), 267 (273).

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

rogative des Gesetzgebers360. Dieser Maßstab lässt sich aus dem Demokra­ tieprinzip ableiten: Wenn eine eigentlich vom Gesetzgeber intendierte Folge nicht eintritt, wenn die Folgen einer Regelung nicht abschätzbar sind, dann wird für die Fehlerhaftigkeit der Prognose zuallererst der Gesetzgeber in die politische, öffentliche Verantwortung gezogen361. Ihm ist daher aus funktio­ nell-rechtlichen Gründen eine diesbezügliche Einschätzungsprärogative zu­ zugestehen. Dem Gericht ist also zuzustimmen, wenn es eine „besondere Zurückhal­ tung“ betont, „weil der Gesetzgeber bei der Wiederherstellung der durch ille­ gale Leiharbeit gestörten Ordnung auf dem Teilarbeitsmarkt des Baugewer­ bes auf besonders komplexe, schwer überschaubare und im einzelnen unklare Verhältnisse einwirken muß“362 oder weil „verläßliche wissenschaftliche Er­ kenntnisse über die Grenzen zumutbarer Fluglärmbelastungen noch nicht vorliegen“ und es „sich schon wegen der internationalen Verflechtung des Flugverkehrs um eine komplexe Materie handelt“363. b) Die Eigenart des Sachbereichs aa) Außenpolitische und wirtschaftspolitische Fragen Außenpolitische und wirtschaftspolitische Fragen könnten solche eigen­ ständigen Sachbereiche sein, in denen eine verringerte Kontrolldichte gilt, mit den Worten des Mitbestimmungsurteils, dass die „Einschätzungspräroga­ tive“ hinsichtlich dieser Politikfelder aufgrund der „Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs“364 besonders hoch sei und dass sich damit politische Prognosen einer verfassungsrechtlichen Beurteilung entzögen. Der weite Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ergibt sich jedoch nicht aus dem Umstand, dass es sich um außenpolitische oder wirtschaftspolitische Gesetze handelt und damit um einen „eigenständigen Sachbereich“ und dass diesen Gesetzen besonderen Situationen zu Grunde liegen (z. B. die Notwen­ digkeit, auf internationaler Ebene mit einheitlicher Stimme aufzutreten), sondern daraus, dass es sich um solche Gesetze handelt, die nur sehr schwer einer Rationalitätskontrolle zu unterziehen sind365. Durch internationale Be­ ziehungsgeflechte, Machtverschiebungen oder nicht vorhersehbare ideologi­ 360  Gusy, Grundgesetz (Fn. 50), ZRP 1985, 291 (294); BVerfGE 143, 243 (Rn. 389) – Atomausstieg (2016). 361  I. Augsberg/S. Augsberg, Elemente (Fn. 203), VerwArch 98 (2007), 290 (301). 362  BVerfGE 77, 84 (Rn. 75) – Arbeitnehmerüberlassung Baugewerbe (1987). 363  BVerfGE 56, 54 (Rn. 66) – Fluglärm (1981). 364  BVerfGE 50, 290 (Rn. 110) – Mitbestimmungsurteil (1979). 365  Vogel, Bundesverfassungsgericht (Fn. 138), S. 146.



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume173

sche Kursschwankungen unterliegen derartige Prognosen einer erheblichen Unsicherheit366, sodass gerade hieraus der hohe Prognosespielraum des Ge­ setzgebers resultiert367. Gleiches gilt für Prognosen im Rahmen der Wirt­ schaftspolitik368, die aufgrund des unsicheren Verhaltens der Wirtschafts­ akteure eine Rationalisierung in der Regel nur schwer zugänglich sind369. Dem Kriterium des „eigenständigen Sachbereichs“ kann somit kein eigener Erkenntniswert abgewonnen werden370. Die Erkenntnis, dass im Rahmen der Außen- und Wirtschaftspolitik häufig unsichere Prognosen anzustellen sind, erschöpft sich jedoch nicht in diesem pauschalen Hinweis. Dies zeigt ein analytischer Blick auf das Mitbestim­ mungsurteil selbst. Danach kann weiter differenziert werden. Wirtschaftspo­ litische Prognosen lagen dem Mitbestimmungsurteil und vielen in diesem zitierten Entscheidungen zu Grunde. Wirft man einen eingehenderen Blick auf die im Mitbestimmungsurteil aufgezeigte Systematik, so fällt auf, dass dem Gesetzgeber insbesondere dort ein weiter Spielraum zugestanden und lediglich eine Evidenz-Prüfung vorgenommen wurde, wo die Erforderlichkeit der gesetzgeberischen Maßnahme zur Debatte stand. Der Evidenz-Maßstab kann somit nicht allein mit Verweis auf die Komplexität der wirtschaftspoli­ tischen Entscheidung an sich begründet werden, sondern resultiert insbeson­ dere aus der relativ hohen Komplexität der Prüfung der Erforderlichkeit eines Eingriffs. Während im Rahmen der Feststellung des (geeigneten) legitimen Zwecks lediglich eine dahingehende Prognose aufzustellen ist, welche tat­ sächlichen Umstände eintreten, wenn die angestrebte gesetzliche Maßnahme ausbleibt, gebietet es das aus Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitete Verhältnismäßig­ keitsprinzip, im Rahmen der Erforderlichkeit zu prüfen, ob das Ziel auch gleich wirksam mit milderen Mitteln hätte erreicht werden könnte. Hierfür ist nicht nur eine dahingehende Prognose aufzustellen, welche Auswirkungen die konkret zur Debatte stehende gesetzliche Regelung hat, sondern es sind 366  Ossenbühl,

Kontrolle (Fn. 143), S. 505. Gesetzgeber (Fn. 1), S. 178; Lee, Schonung (Fn. 185), S. 208; Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfas­ sungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1984, § 34 Rn. 1672. 368  Ossenbühl, Kontrolle (Fn. 143), S. 505. 369  Insofern diese Analyse auf eine gewisse Vergleichbarkeit von außenpolitischen sowie wirtschaftspolitischen Prognosen hindeuten mag (zumindest im Hinblick auf die Erforderlichkeit), so darf jedoch nicht unberücksichtigt bleiben, dass hinsichtlich des Umfangs des gesetzgeberischen Spielraums auch noch andere Faktoren Berück­ sichtigung finden müssen, namentlich die Beschränkung des Spielraums durch die tangierten Grundrechte, welche eher bei wirtschafts- denn bei außenpolitischen Ent­ scheidungen betroffen sind, vgl. Vogel, Bundesverfassungsgericht (Fn. 138), S. 146; ähnlich auch bei Ossenbühl, Kontrolle (Fn. 143), S. 505. 370  So auch Gusy, Gesetzgeber (Fn. 1), S. 178; Stuttmann, Gestaltungsfreiheit (Fn. 82), S. 191. 367  Gusy,

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

darüber hinaus diverse – in unbestimmbarer und damit einer Konkretisierung kaum zugänglichen Anzahl – andere Prognosen darüber anzustellen, welche Auswirkungen andere Ausgestaltungen des Gesetzes haben würden, sodass dem Gesetzgeber diesbezüglich ein weiterer Spielraum für die Bestimmung dieser Möglichkeiten eingeräumt werden muss. Während im Mitbestim­ mungsurteil – wie bereits erwähnt – hinsichtlich des Evidenzmaßstabes auf Fundstellen verwiesen wurde, die eine Erforderlichkeitsprüfung in Bezug auf die Berufsfreiheit einschränkende Maßnahmen vorsahen371, wurden Fund­ stellen, die in Bezug auf die Berufsfreiheit den legitimen Zweck (und damit eine weniger komplexe Prognose) prüften, folgerichtig als Beispiele für eine Vertretbarkeitsprüfung angeführt372. bb) Staatsorganisationsrechtliche Fragen: Entscheidung in eigener Sache Eine die Kontrolldichte des Bundesverfassungsgerichts erhöhende Funk­ tion wird der Entscheidung in eigener Sache zugesprochen373. Im Sprachge­ brauch des Mitbestimmungsurteils könnten somit auch solche Entscheidun­ gen in eigener Sache bestimmte „Eigenarten des Sachbereiches“ aufweisen, die eine erhöhte Kontrolldichte rechtfertigen. Erneut differenzieren Rechtsprechung und Literatur nicht zwischen sol­ chen Entscheidungen in eigener Sache, in denen es um tatsächliche und sol­ che, in denen es um materielle Spielräume geht, vielmehr wird allgemein darauf abgestellt, dass Entscheidungen in eigener Sache insbesondere solche im Wahlrecht und im Abgeordnetenentschädigungsrecht seien und dass in diesen eine erhöhte Kontrolldichte indiziert sei. (1) Die Sperrklausel-Rechtsprechung Besondere Beachtung hinsichtlich tatsächlicher Spielräume bei Entschei­ dungen in eigener Sache verdient die Rechtsprechung zu den wahlrechtlichen Sperrklauseln der vergangenen Jahre. Während sich das Mitbestimmungs­ urteil und die in diesem Urteil zitierten Entscheidungen sowie Urteile, die 371  BVerfGE 37, 1 (Rn. 60) – Weinwirtschaftsabgabe (1974); BVerfGE 40, 196 (Rn. 97) – Güterkraftverkehrsgesetz (1975). 372  BVerfGE 25, 1 (Rn. 36) – Mühlengesetz (1968); BVerfGE 39, 210 (Rn. 53) – Mühlenstrukturgesetz (1975). 373  v. Arnim, Abgeordnetenentschädigung und Grundgesetz, 1975, S. 7; Petersen, Verfassungsgerichte als Wettbewerbshüter des politischen Prozesses, in: Elser/Bau­ mann (Hrsg.), Das letzte Wort – Rechtsetzung und Rechtskontrolle in der Demokra­ tie, 2014, S. 59 (78); Lang, Wahlrecht und Bundesverfassungsgericht, 2014, S. 63 für das Wahlrecht.



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume175

sich auf das Mitbestimmungsurteil beziehen, zumeist mit wirtschaftspoliti­ schen Fragestellungen und diesbezüglichen Prognosen befassten, hat das Bundesverfassungsgericht die Maßstäbe der Überprüfung von diesen wirt­ schafts­ politischen Prognosen in neuerer Zeit insbesondere auch auf das Wahlrecht übertragen374. Demnach wurde ein besonders intensiver Kontroll­ maßstab insbesondere bei Prognoseentscheidungen hinsichtlich der ProzentHürden im Kommunal- und Europawahlrecht festgestellt375. Dies resultiere aus dem Umstand, dass die Mehrheitsparteien im Parlament bei der Wahlgesetzgebung Angelegenheiten in eigener Sache entscheiden würden und daher die Gefahr bestehe, dass sie dem eigenen Machterhalt eine höhere Bedeutung als dem Gemeinwohl beimessen würden376. Daraus folge, dass insbesondere dort, wo der Gesetzgeber in „eigener Sache“ entscheide, eine höhere Überprüfungsdichte des Bundesverfassungsgerichts gelten soll377. (a) Sperrklausel-Urteil Schleswig-Holstein In der Entscheidung zur Sperrklausel im Schleswig-Holsteinischen Kom­ munalwahlrecht378 war eine tatsächliche Prognose darüber zu treffen, wie viele Parteien durch die Abschaffung der Fünf-Prozent-Hürde in die kommu­ nalen Parlamente einziehen würden und ob die Arbeitsfähigkeit der kommu­ nalen Parlamente dadurch beeinträchtigt wird bzw. mit welchem Gewicht, d. h. in welchem Umfang die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt wird. Dement­ sprechend formuliert das Bundesverfassungsgericht, dass „der Einsatz der Sperrklausel […] auf der Einschätzung des Gesetzgebers von der Wahr­ scheinlichkeit des Einzugs von Splitterparteien, durch sie künftig zu erwar­ tender Funktionsstörungen und deren Gewicht für die Aufgabenerfüllung der kommunalen Vertretungsorgane [basiere]“379. Der Landesgesetzgeber hatte diesbezüglich die tatsächliche Prognose ge­ troffen, dass derartige Beeinträchtigungen vorliegen. Im Hinblick auf diese Prognose sieht das Bundesverfassungsgericht eine große Gefahr, dass der 374  Kahl/Bews,

Verfassungswidrigkeit (Fn. 143), DVBl. 2014, 737 (742). 135, 259 – Drei-Prozent-Sperrklausel Europawahlgesetz (2014); BVerfGE 129, 300 – Fünf-Prozent-Sperrklausel EuWG (2011); BVerfGE 120, 82 – Kieler Sperrklausel (2008). 376  BVerfGE 135, 259 (Rn. 64) – Drei-Prozent-Sperrklausel Europawahlgesetz (2014). 377  Dafür auch v. Arnim, Kritisches zur Kritik der Sperrklausel-Rechtsprechung des BVerfG, DVBl. 2014, 1489 (1489 ff.). 378  BVerfGE 120, 82 – Kieler Sperrklausel (2008). 379  BVerfGE 120, 82 (Rn. 125) – Kieler Sperrklausel (2008). 375  BVerfGE

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Gesetzgeber respektive die Mitglieder der Parteien sich nicht von „gemein­ wohlbezogenen Erwägungen“, sondern vom Ziel des eigenen Machterhaltes haben leiten lassen. Die Ausgestaltung des Wahlrechts unterliege daher einer „strikten verfassungsrechtlichen Kontrolle“ und der Gesetzgeber dürfe nicht frei darüber entscheiden, ab welchem Wahrscheinlichkeitsgrad Funktions­ störungen eine ausreichende Gefahr darstellen, um den Eingriff zu rechtferti­ gen380. Im Hinblick auf diesen Wahrscheinlichkeitsgrad stellt das Bundesver­ fassungsgericht fest, dass nur die „mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwar­ tende Beeinträchtigung der kommunalen Vertretungsorgane“381 die FünfProzent-Sperrklausel rechtfertigen kann. Das Bundesverfassungsgericht wählt damit – ohne jedoch auf das Mitbestimmungsurteil zu rekurrieren – den dort aufgestellten intensiven Maßstab der Kontrolle. Beachtenswert ist, dass das Bundesverfassungsgericht sodann anerkannt, dass es „wahrscheinlich“ ist, dass es einem Einzug von mehr Parteien in die kommunalen Parlamente kommen wird und dass es „möglich“ ist, dass da­ durch auch die Entscheidungsfindung erschwert wird382. Sodann – in dersel­ ben Randziffer – vermischt das Bundesverfassungsgericht jedoch die Bewer­ tung der Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer tatsächlichen Funktionsbeein­ trächtigung kommen wird, mit der rechtlichen Bewertung dessen, wie „inten­ siv“ die Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit sein muss, um einen Eingriff in die Wahlgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien zu rechtfertigen, indem es ausführt, dass die „bloße „Erleichterung“ oder „Vereinfachung“ der Beschlussfassung nicht zur Rechtfertigung führt. Die Frage nach der erforderlichen Rechtfertigungsschwere des Eingriffs, ist keine Frage der Geeignetheit und Erforderlichkeit (hierzu genügt die Feststellung, dass es zu einer Erleichterung der Entscheidungsfindung kommt), sondern vielmehr eine Frage der Angemessenheit bzw. Verhältnismäßigkeit im enge­ ren Sinne, eine Frage der materiell-rechtlichen Rechtfertigung. Unter diesen Ausführungen leidet sodann auch die im Nachfolgenden vor­ genommene Erläuterung, warum die Prognose des Gesetzgebers nicht zutref­ fend ist, da in diesen Erläuterungen rechtliche Bewertung zur Intensität des Eingriffs mit der tatsächlichen Frage, wie wahrscheinlich die Beeinträchti­ gung ist, vermischt werden.

380  BVerfGE

120, 82 (Rn. 125) – Kieler Sperrklausel (2008). 120, 82 (Rn. 126) – Kieler Sperrklausel (2008). 382  BVerfGE 120, 82 (Rn. 127) – Kieler Sperrklausel (2008). 381  BVerfGE



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume177

(b) Fünf-Prozent-Sperrklausel EuWG Nach dem Erfolg im Verfahren zur Schleswig-Holsteinischen Fünf-Pro­ zent-Sperrklausel im Kommunalwahlrecht wurde schließlich 2011 in einer Wahlprüfungsbeschwerde die Fünf-Prozent-Sperrklausel im deutschen Euro­ pawahlrecht angegriffen383. In seinen Ausführungen wiederholt das Bundes­ verfassungsgericht zunächst die in der Schleswig-Holstein- Entscheidung von 2008 getätigte Aussage, dass die Ausgestaltung des Wahlrechts einer „strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle“ unterliege384 – dies erneut, ohne deutlich zu machen, was genau denn nun strikt zu prüfen sei. Insbeson­ dere formulierte das Gericht, dass die komplette „Ausgestaltung des Wahl­ rechts“ dieser strikten Kontrolle unterliege und verdeutlichte erst eine Rand­ ziffer später, dass es um die Prognoseentscheidung des Gesetzgebers zu der Frage, ob ein Wegfall der Hürde es wahrscheinlicher machen würde, dass Splitterparteien einziehen, es zu einer Funktionsstörung kommt und wie ge­ wichtig diese ist. Das entscheidende Problem und Missverständnis in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der dieser besprechenden Literatur be­ steht darin, dass der Spielraum im Hinblick auf die auf tatsächlichen Um­ ständen beruhenden Prognose, welches Ereignis eintritt, verbunden wird mit der rechtlichen Gewichtung dieses Ereignisses385. Diese ist jedoch aus­ schließlich eine Frage der verfassungsrechtlichen Abwägung und beinhaltet keine prognostischen Elemente. Es ist strikt zu trennen zwischen der Prog­ nose von Umständen, die die Funktionsfähigkeit gefährden und der Bestim­ mung der Umstände, die zu einer derart schweren Beeinträchtigung führen, dass eine Prozenthürde gerechtfertigt ist. Eine „Prognose darüber […,] [in­ wieweit das Bundesverfassungsgericht] die Funktionsfähigkeit des Europäi­ schen Parlaments für gefährdet hält“386, gibt es schlicht nicht, da die Funk­ tionsfähigkeit keine Frage ist, die mit einer in die Zukunft gerichteten Pro­ gnose beantwortet werden könnte, sondern von einer materiell-rechtlichen Bewertung abhängig ist. Bei der Prognose handelt es sich ausschließlich um eine Bewertung des­ sen, ob zulässigerweise angenommen werden darf, dass genau der tatsächli­ che Zustand eintritt, den der Gesetzgeber seinem Gesetzgebungsvorhaben zu Grunde gelegt hat. Im Sinne der Rechtsprechung zu den Prozenthürden be­ 383  BVerfGE

129, 300 – Fünf-Prozent-Sperrklausel EuWG (2011). 129, 300 (Rn. 91) – Fünf-Prozent-Sperrklausel EuWG (2011). 385  In diesem Sinne u. a. bei Kahl/Bews, Verfassungswidrigkeit (Fn. 143), DVBl. 2014, 737 (742 ff.); Frenz, 3 %-Klausel als europäischer Mindeststandard beim Wahl­ recht, DÖV 2014, 960 (962 ff.). 386  Frenz, 3 %-Klausel (Fn. 385), DÖV 2014, 960 (962). 384  BVerfGE

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

fasst sich die Prognoseentscheidung des Gesetzgebers somit damit, welche Beschränkungen der Arbeitsfähigkeit des Parlamentes aus objektiver Sicht eintreten werden. Die Frage danach, ob diese objektiven Einschränkungen auch rechtlich so stark wiegen, dass sie die Einschränkung von Grundrechten rechtfertigen, das heißt die Frage danach, ob erst die vollständige Funktions­ unfähigkeit die Prozenthürde rechtfertigen kann, oder ob eine bloße Er­ schwerung ausreicht, ist hingegen keine auf tatsächlichen Umständen beru­ hende Prognose, sondern eine Frage der rechtlichen Abwägung von Gütern und somit eine auf einer anderen Ebene vom Bundesverfassungsgericht zu klärende Frage. Die vorliegend zur Debatte stehende zu prognostizierende Frage ist dieje­ nige, wie wahrscheinlich es ist, dass es zu einer Funktionsbeeinträchtigung der Vertretungsorgane kommt. Den Unterschied zwischen den tatsächlichen und rechtlichen Bewertungen stellt das Bundesverfassungsgericht erneut nicht plausibel dar. Das Bundesverfassungsgericht formuliert in Bezugnahme auf das Schleswig-Holstein-Urteil, dass „deshalb […] die bloße „Erleichte­ rung“ oder „Vereinfachung“ der Beschlussfassung nicht [genüge]. Nur die mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Beeinträchtigung der Funk­ tionsfähigkeit der Vertretungsorgane kann die Fünf-Prozent-Sperrklausel rechtfertigen“387. Der Widerspruch, der in dieser Aussage liegt, ist folgender: Wird durch die Fünf-Prozent-Sperrklausel die Beschlussfassung vereinfacht, heißt das umge­ kehrt, dass diese ohne Klausel schwieriger und damit beeinträchtigt wird. Dies reicht nach Aussage des Bundesverfassungsgerichts im ersten Satz nicht aus, um zur Verfassungsgemäßheit des Gesetzes zu kommen. Sodann formu­ liert das Gericht aber, dass – sobald mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Be­ einträchtigung zu erwarten ist (was der Fall sein muss, wenn es umgekehrt zu einer Erleichterung kommt) – die Klausel gerechtfertigt werden kann. Das Bundesverfassungsgericht macht hiermit somit erneut nicht den Unterschied zwischen der tatsächlichen und rechtlichen Bewertung deutlich: Die „Beein­ trächtigung“ der Funktionsfähigkeit ist nämlich eine zunächst zu klärende rechtliche Bewertung. (c) Drei-Prozent-Sperrklausel Europawahlgesetz Diesem hier skizzierten Denkfehler unterliegt auch die abweichende Mei­ nung des Urteils zur Drei-Prozent-Sperrklausel aus dem Jahr 2014388, welche der Gesetzgeber in Reaktion auf die Entscheidung des Bundesverfassungsge­ 387  BVerfGE 388  BVerfGE

129, 300 (Rn. 92) – Fünf-Prozent-Sperrklausel EuWG (2011). 135, 259 – Drei-Prozent-Sperrklausel Europawahlgesetz (2014).



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume179

richts zur Fünf-Prozent-Sperrklausel eingeführt hatte. In dieser abweichenden Meinung wird ausgeführt, dass die Frage, „ab welchem Grad der Wahr­ scheinlichkeit von einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit eines Ver­ tretungsorgans auszugehen ist, […] angesichts der unvermeidlichen Unsi­ cherheiten derartiger Prognosen“ ein Entscheidungsspielraum des Gesetzge­ bers dahingehend besteht, dass eine vertretbare Entscheidung nicht durch eine eigene vertretbare Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu er­ setzen sei389. Solange jedoch nicht definiert ist, wie stark die Beeinträchti­ gung der Funktionsfähigkeit sein muss, um eine Prozenthürde zu rechtferti­ gen, besteht gar kein Maßstab, an dem sich die Wahrscheinlichkeit ausrichten kann. Bei der Überprüfung der Prognoseentscheidung geht es nicht um die Wahrscheinlichkeit der Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit, sondern um die Wahrscheinlichkeit des Eintritts von Umständen, die eine Funktionsunfä­ higkeit begründen. Was hier beschrieben wird – und unzutreffend als Beur­ teilungsspielraum über Prognosen bezeichnet wird – ist somit vielmehr ein Beurteilungsspielraum, den der Gesetzgeber im Hinblick auf rechtliche Be­ wertungen hat. Diese Frage ist jedoch an anderer Stelle zu verorten. Im Hinblick auf die Überprüfung von Prognoseentscheidungen geht es einzig darum, dass das Bundesverfassungsgericht zu bewerten hat, ab welchem Grad der Wahrscheinlichkeit für das Eintreten der Umstände der gesetzgebe­ rischen Prognose, es noch genau diese Prognose der verfassungsrechtlichen Bewertung zu Grunde legen kann. Die Drei-Prozent-Sperrklausel wurde entgegen dieser abweichenden Mei­ nung somit erneut vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben. Das Bundes­ verfassungsgericht knüpft diesbezüglich an seine bisherige Rechtsprechung an, arbeitet nun allerdings präziser heraus, was es eigentlich prüft: Der Ge­ setzgeber dürfe bei der Prognose, ob eine Sperrklausel zur Vermeidung einer Funktionsstörung der Volksvertretung erforderlich sei, nicht allein auf die Feststellung der rein theoretischen Möglichkeit einer solchen Beeinträchti­ gung der Funktionsfähigkeit abstellen, sondern die Beeinträchtigung müsse vielmehr mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein390. Es fehlt die explizite Erwähnung des Bundesverfassungsgerichts, dass es um ein Wahrscheinlichkeitsurteil im Hinblick auf die einzutretenden Um­ stände geht. Die Frage, ob ein Gesetz erforderlich ist, ist eine solche, die maßgeblich von tatsächlichen in die Zukunft gerichteten Umständen abhängt. Diese muss der Gesetzgeber bewerten. Hierbei hat er einen Einschätzungs­ spielraum in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit des Eintritts dieser Umstände. 389  BVerfGE 135, 259 (abw. Meinung Rn. 9) – Drei-Prozent-Sperrklausel Europa­ wahlgesetz (2014). 390  BVerfGE 135, 259 (Rn. 60f.) – Drei-Prozent-Sperrklausel Europawahlgesetz (2014).

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Im Urteil zur Drei-Prozent-Sperrklausel macht das Gericht erstmals deutlich, dass es diese Prognose ist, die es – aufgrund der Entscheidung in eigener Angelegenheit – nun besonders intensiv überprüfen möchte391. Das Gericht kommt sodann zu dem Ergebnis, dass die Entwicklungen des Europäischen Parlamentes so ungewiss sind, dass nicht vorausgesehen werden kann, ob es tatsächlich zu einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Parlamentes kommt. Die Sperrklausel ist somit bereits nicht erforderlich392. Korrekter­ weise wird dieses Mal damit – im Gegensatz zu den oben skizzierten Aus­ führungen in der abweichenden Meinung – erkannt, dass die Frage, wie hoch die Beeinträchtigung sein muss, um eine Prozentklausel zu rechtfertigen, eine rechtliche Entscheidung der Abwägung und keine Frage einer Prognose­ entscheidung durch den Gesetzgeber ist. (2) Weitere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Während es in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den Prozent-Hürden im Kommunal- und Europawahlrecht um tatsächliche Spiel­ räume ging, die aufgrund einer Entscheidung in eigener Sache eingeengt seien, diskutierte das Gericht 2017 in der Entscheidung zur Eventualstimme materiell-rechtliche Spielräume: Im Hinblick auf die Frage, ob es verfas­ sungsrechtlich geboten erscheint, bei Beibehaltung der Fünf-Prozent-Hürde dem Wähler wenigstens die Möglichkeit einer Eventualstimme (d. h. eine solche Stimme, die greift, wenn die zunächst gewählte Partei nicht in den Bundestag einzieht), betonte das Bundesverfassungsgericht, dass der Gesetz­ geber in „eigener Sache tätig wird und gerade bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr besteht, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von Gemein­ wohlerwägungen von dem Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt“393. Das Gericht begründete die strikte Kontrolle des materiell-rechtlichen Entschei­ dungsspielraums (nach der hiesigen Ansicht systemwidrig) mit explizitem Verweis auf die Prozent-Hürden-Entscheidungen394. Bereits vor den wahlrechtlichen Entscheidungen zur Prozenthürde wurde insbesondere in der Literatur ein „gesteigertes Kontrollbedürfnis“ für die ei­ genen Angelegenheiten angenommen. Insbesondere sei das Bundesverfas­ sungsgericht daher bei der Parteifinanzierung und bei der Diätenerhöhung

391  BVerfGE (2014). 392  BVerfGE (2014). 393  BVerfGE 394  BVerfGE

135, 259 (Rn. 64) – Drei-Prozent-Sperrklausel Europawahlgesetz 135, 259 (Rn. 83) – Drei-Prozent-Sperrklausel Europawahlgesetz 146, 327 (Rn. 63) – Eventualstimme (2017). 146, 327 (Rn. 63) – Eventualstimme (2017).



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume181

zur erhöhten Kontrolle berechtigt gewesen395. Tatsächlich formulierte das Bundesverfassungsgericht im Diätenurteil 1976, dass „wenn es um die Fest­ setzung der Höhe und um die nähere Ausgestaltung der mit dem Abgeordne­ tenstatus verbundenen finanziellen Regelungen geht“, der Gesetzgeber stets in „eigener Sache“ entscheide396. Das Gericht nutzte dieses jedoch – entge­ gen der o. g. Auffassungen – nicht, um eine besonders strenge inhaltliche Kontrolle zu begründen, sondern um den Parlamentsvorbehalt auf diese Entscheidungen auszudehnen: Es sei verfassungswidrig, dass bestimmte Be­ träge durch das Landtagspräsidium festgesetzt werden könnten397. (3) Bewertung Die Rechtsprechung hinsichtlich der Wahlrechtsurteile zeigt einmal mehr die Bedeutsamkeit einer klaren Unterscheidung zwischen materiell-rechtli­ chen und tatsächlich-prognostischen Spielräumen. Während insbesondere bei wirtschaftslenkenden Gesetzen tatsächliche Entwicklungen eine große Rolle spielen, stehen beim Wahlrecht die materiell-rechtlichen Bewertungen stärker im Fokus. Die Prognoserechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Mitbestimmungsurteil kann damit nicht kontextlos auf das Wahlrecht übertragen werden. Unabhängig von dieser notwendigen Differenzierung zwischen tatsächlichprognostischen sowie materiell-rechtlichen Spielräumen gibt das Grundgesetz für eine – wie auch immer geartete – veränderte Kontrolle des Bundesverfas­ sungsgerichts in den o. g. Situationen (Diätenerhöhung, Wahlrecht, Parteifinan­ zierung) nichts her. Befürworter einer erhöhten Kontrollintensität formulieren, dass die Kom­ petenzen des Bundesverfassungsgerichts bei Entscheidungen in eigener Sa­ che deswegen größer seien, weil bei derartigen Entscheidungen eine wirk­ same Kontrolle der Parlamentsmehrheit durch die Opposition nicht mehr si­ chergestellt werden könne398 und dass die Regierungsmehrheit stets versucht sei, insbesondere das Wahlrecht jeweils so zu ändern, dass bei den nächsten 395  Schenke, Der Umfang der bundesverfassungsgerichtlichen Prüfung, NJW 1979, 1321 (1327); Schmitt Glaeser, Das Bundesverfassungsgericht als „Gegengewalt“ zum verfassungsändernden Gesetzgeber? – Lehren aus dem Diäten-Streit 1995, in: Bur­ meister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburts­ tag, 1997, S. 1183 (1185); Petersen, Verfassungsgerichte (Fn. 373), S. 68 ff.; Lang, Wahlrecht (Fn. 373), S. 63; Britz, Das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, Jura 2015, 319 (323). 396  BVerfGE 40, 296 (Rn. 61) – Diätenurteil (1975). 397  BVerfGE 40, 296 (Rn. 61) – Diätenurteil (1975). 398  v. Arnim, Abgeordnetenentschädigung (Fn. 373), S. 73.

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Wahlen erneut die Mehrheit errungen werden kann399. Außerdem seien die Abgeordneten in diesen Entscheidungen befangen, im repräsentativen Ent­ scheidungsverfahren sei es in der Demokratie jedoch so, dass die Entschei­ denden kein persönliches Interesse am Ausgang der Entscheidung haben dürften400. Die Entscheidungen in eigener Sache würden kartellgleiche Wir­ kungen401 entfalten. Der politische Prozess sei ein Wettbewerb um Wähler­ stimmen. Regelmäßig verliefe daher die Einigkeit in einer politischen Frage analog zu einem breiten gesellschaftlichen Konsens. Bei den „Rahmenbedin­ gungen des politischen Prozesses“ bestehe hingegen die hohe Gefahr von wettbewerbswidrigen und gemeinwohlwidrigen Absprachen402. Aufgrund der hohen Gefahr solcher Absprachen bedürfen derartige Regelungen somit einer besonders engen Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht, das Gericht müsse als Wettbewerbshüter agieren403. Dies vermag nicht zu überzeugen. Insbesondere passen Vergleiche zu zi­ vilrechtlichen Instituten nicht, sei es der Vergleich zum Insichgeschäft gem. § 181 BGB oder aber der Rekurs auf kartellrechtsgleiche Wirkungen. Gem. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG sind Parlamentarier an Aufträge und Weisungen nicht gebunden, es besteht – im Gegensatz zum zivilrechtlichen Vertreter – kein imperatives Mandat404. Die Abgeordneten sind nur ihrem Gewissen ver­ pflichtet. Kartelle im zivilrechtlichen Sinne sind insbesondere auch nicht zu befürchten, da sich die jeweils regierende Mehrheit nie sicher sein kann, von einer die Opposition benachteiligenden Regelung betroffen zu sein405. Der stets mitschwingende Vorwurf der Befangenheit von Abgeordneten ist eine Überlegung, die bei primär rechtsstaatlich ablaufenden Verwaltungsent­ scheidungen zu berücksichtigen ist, jedoch nicht bei der unmittelbar demo­ kratischsten Entscheidung durch das direkt gewählte Parlament406. Befangen­ heit und die Frage, wem welche Entscheidung nützt, sind gerade solche Punkte, die in der demokratischen Willensbildung im politischen öffentlichen und parlamentarischen Prozess zu diskutieren sind. Das Kriterium der „Ent­ scheidung in eigener“ Sache scheint somit einzig an der allgemein herrschen­ 399  Ipsen, Wahlrecht im Spannungsfeld von Politik und Verfassungsgerichtsbarkeit, DVBl. 2013, 265 (265). 400  v. Arnim, Abgeordnetenentschädigung (Fn. 373), S. 73. 401  Petersen, Verfassungsgerichte (Fn. 373), S. 62 ff. 402  Petersen, Verfassungsgerichte (Fn. 373), S. 63. 403  Petersen, Verfassungsgerichte (Fn. 373), S. 78. 404  Schmitt Glaeser, Bundesverfassungsgericht (Fn. 395), S. 1194. 405  Lang, Wahlrecht (Fn. 374), S. 66; dieses Argument entfaltet gerade im Hinblick auf die im neuen Jahrzehnt umso mehr gespaltene Parteienlandschaft große Bedeu­ tung. 406  Schmitt Glaeser, Bundesverfassungsgericht (Fn. 395), S. 1195.



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume183

den Parteien- und Politikverdrossenheit der Bevölkerung anzuknüpfen als an rechtlichen Maßstäben407. Entscheidungen „in eigener Sache“ unterliegen daher keiner besonderen Kontrolle. Hierfür spricht auch bereits, dass sich gar nicht definieren ließe, wo die „eigene Sache“ beginnt und wo sie aufhört. Entscheidet derjenige Abgeordnete, der ein Hotel betreibt, bei der Senkung von Steuern für Hote­ liers, auch in eigener Sache? Sind allgemeine Mehrwertsteuersenkungen für jeden Abgeordneten Entscheidungen in eigener Sache? Das Argument, dass die Gefahr, dass sich der Gesetzgeber von seinen eigenen Interessen leiten lässt, eingeschränkt gehört, ließe sich somit auch auf jeden anderen Bereich der Gesetzgebung übertragen408. cc) Irreversibilität der gesetzlichen Maßnahme Gesetze verfolgen verschiedene gesellschaftspolitische Ziele und haben dementsprechend unterschiedliche Auswirkungen. Der Gesetzgeber hat nicht nur das Initiativrecht für gesetzgeberische Maßnahmen, sondern auch die Möglichkeit, gesetzgeberische Regelungen, die nicht die erwarteten Ziele erreichten, zu korrigieren. Jedoch ist zu beachten, dass das Gesetz je nach verfolgtem Ziel irreversible Auswirkungen haben kann, mit der Folge, dass trotz eines Rechtes zur Korrektur die Fehlentwicklung nicht mehr verhindert werden könnte. In diesen Fällen nimmt die Legitimation des Gesetzgebers für unsichere Prognosen ab. So sind insbesondere Dauergesetze, die über einen längeren Zeitraum wirken sowie solche Gesetze, die zu grundsätz­lichen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Umstrukturierungen führen, als „ex­ perimentierfeindlich“ zu bezeichnen mit der Folge eines eingeschränkten gesetzgeberischen Spielraums409. Gleiches gilt insbesondere für Gesetze, die das Rechtsgut Leben betreffen410. dd) Fazit Damit können weder außen- und wirtschaftspolitische Entscheidungen noch solche im Wahlrecht spezifische Sachbereiche sein, die eine vermin­ 407  Haug, Muss wirklich jeder ins Europäische Parlament? Kritische Anmerkun­ gen zur Sperrklausel-Rechtsprechung aus Karlsruhe, ZParl 45 (2014), 467 (485). 408  Schmitt Glaeser, Bundesverfassungsgericht (Fn. 395), S. 1195; Lepsius, Parla­ mentsrechte und Parlamentsverständnisse in der neueren Rechtsprechung des Bundes­ verfassungsgerichts, RuP 52 (2016), 137 (144). 409  Ossenbühl, Kontrolle (Fn. 143), S. 512; Schenke, Umfang (Fn. 395), NJW 1979, 1321 (1327). 410  Klein, Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, NJW 1989, 1633 (1638).

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

derte oder erhöhte Kontrolldichte des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der tatsächlichen Umstände begründen. Einzig kann die Irreversibilität der gesetzlichen Maßnahme ein solches Kriterium sein. Dies folgt daher, dass der Anknüpfungspunkt der Irreversibilität der gesetzlichen Maßnahme kein rechtsguts-, sondern ein tatsachenspezifischer ist – und damit allgemeingültig ist. c) Die Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter Das Bundesverfassungsgericht nennt weiter die „Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter“ als Kriterium, welches – je gewichtiger diese sind – zu einer Verkleinerung des gesetzgeberischen Spielraums führen würde411. Verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt sei der Verhältnismäßig­ keitsgrundsatz412. Als Entscheidung im Mitbestimmungsurteil, die nachwei­ sen soll, dass bei einem besonderen Wert des zu schützenden Verfassungs­ gutes ein intensiver Maßstab anzusetzen sei, dürfte der Verweis auf die erste Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch gelten, in der das Bundesver­ fassungsgericht einen besonders engen Freiheitsbereich des Gesetzgebers gesehen hat, weil Experimente bei dem hohen Wert des zu schützenden Rechtsgutes nicht zulässig seien413. aa) Grundsätzliche Bedeutung Die Überlegung, dass der Spielraum des Gesetzgebers umso kleiner wird, je wichtiger das zu schützende Verfassungsgut sei, bedarf jedoch einer diffe­ renzierenden Betrachtung danach, zu welchen Zwecken der Gesetzgeber mit bedeutsamen Rechtsgütern operiert. Wird ein Grundrechtseingriff damit ge­ rechtfertigt, ein aus einem anderen Grundrecht abgeleitetes legitimes Ziel zu erreichen, dann steht dem Grundrecht, in welches eingegriffen wird (von welcher Wertigkeit es auch immer sein mag) ein anderes Grundrecht entge­ gen, welches geschützt oder ausgestaltet werden soll. Sollte dieses zu schüt­ zende und auszugestaltende Grundrecht ein besonders wertiges sein, so würde der Verweis auf die besondere Wertigkeit gerade nicht dazu führen, dass man dem Gesetzgeber besonders geringe Spielräume einräumen müsste, sondern umgekehrt, dass der Gesetzgeber in Bezug darauf, ob dem zu schüt­ 411  In diesem Sinne auch Seetzen, Prognosespielraum (Fn. 286), NJW 1975, 429 (431); Brunn, Prognosen (Fn. 1), NJOZ 2014, 361 (364); Stuttmann, Gestaltungsfrei­ heit (Fn. 82), S. 189; Steinbach, Gesetzgebung (Fn. 3), S. 272. 412  Seetzen, Prognosespielraum (Fn. 286), NJW 1975, 429 (430); Schneider, Ver­ fassungsgerichtsbarkeit (Fn. 228), NJW 1980, 2103 (2105). 413  BVerfGE 39, 1 (Rn. 188) – Schwangerschaftsabbruch I (1975).



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zenden Grundrecht in tatsächlicher Hinsicht eine Gefahr droht, ein besonders weiter Spielraum einzuräumen ist, um dieses Rechtsgut von hoher Bedeutung effektiv schützen und die Gefahr verhindern zu können. Dem Gesetzgeber muss hier bereits eine Eingriffsbefugnis zustehen, auch wenn der Eintritt der Gefahr nicht höchstwahrscheinlich ist414. Im Rahmen der Prüfung des legiti­ men Zwecks korrespondieren damit stärkere Rechtsgüter mit einer geringe­ ren Kontrolldichte des Bundesverfassungsgerichts. bb) Keine Vorrangstellung des Bundesverfassungsgerichts Die besonders engen Spielräume des Gesetzgebers bei wichtigen Rechts­ gütern werden zuweilen damit gerechtfertigt, dass das Bundesverfassungsge­ richt das Organ sei, was zuvorderst und explizit zum Schutz der Verfassung berufen sei und daher dort, wo besondere Verfassungsgüter auf dem Spiel stehen, eine hohe Kontrolldichte gelten müsse415. Diese Aussage ist missver­ ständlich und unscharf: Es gilt nicht eine erhöhte Kontrolldichte, weil das Bundesverfassungsgericht zuvorderst zum Schutz der Verfassung berufen ist, sondern der Spielraum des Gesetzgebers ist eingeschränkt, weil besondere Gefahren für die Grundrechte des Bürgers bestehen. Das Verfassungsgericht hat sich daher an genauso enge Prognosemaßstäbe zu halten wie der Gesetz­ geber. Ein eingeschränkter Spielraum des Gesetzgebers führt nicht dazu, dass das Bundesverfassungsgericht die letztverbindliche Prognoseentscheidung treffen darf416. Vielmehr geht es darum, dass – wie das Bundesverfassungs­ gericht zutreffend formuliert – Experimente bei einem hohen Wert des zu schützenden Rechtsgutes nicht zulässig sind417. Ebenso wenig wie der Ge­ setzgeber darf in diesen Fällen auch das Bundesverfassungsgericht experi­ mentieren und eine eventuell unsichere Prognoseentscheidung durch seine ebenso unsichere Entscheidung zu ersetze. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht selbst die letztverbindliche Prognoseentscheidung zu treffen, sondern zu überprüfen, ob die vom Gesetzgeber getroffene Prognoseentscheidung in Relation zur drohenden Schadensgröße bestimmten Wahrscheinlichkeitsan­ forderungen gerecht wird.

414  So zum Beispiel in der Entscheidung zur Bundesnotbremse im Rahmen der Corona-Pandemie, BVerfG 1 BvR 781/21 u. a. (Rn. 171) – Bundesnotbremse I (Aus­ gangs- und Kontaktbeschränkungen) (2021). 415  In diesem Sinne Stuttmann, Gestaltungsfreiheit (Fn. 82), S. 189. 416  So allerdings Breuer, Prognoseentscheidungen (Fn. 213), Der Staat 16 (1977), 21 (47); Lee, Schonung (Fn. 185), S. 208; jedenfalls missverständlich formuliert auch bei Schenke, Umfang (Fn. 395), NJW 1979, 1321 (1326). 417  BVerfGE 39, 1 (Rn. 187) – Schwangerschaftsabbruch I (1975).

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cc) Rangordnung von Rechtsgütern Infrage gestellt wird jedoch, ob eine Rangordnung von Rechtsgütern über­ haupt aus dem Grundgesetz herzuleiten ist418. Neben dem Schutz des Lebens werden häufig auch die Meinungsfreiheit sowie die Kommunikationsgrund­ rechte als solche Grundrechte mit hohem Wert genannt419, ebenso Art. 8, 9 Abs. 1, 10, 11 und 13 GG420. Das Grundgesetz sieht jedoch keine explizite Rangordnung vor421, sodass darauf verwiesen wird, dass die Werthaltigkeit eines Grundrechts für die Bestimmung von gesetzgeberischen Spielräumen daher nicht fruchtbar ge­ macht werden könne422. Eine Grundrechtshierarchie wird explizit abge­ lehnt423. Andere Ansichten schlagen dagegen vor, positivistisch an die grundrecht­ liche Schranken-Systematik anzuknüpfen424. Die Wertigkeit eines Grund­ rechtes lässt sich jedoch auch nicht pauschal mit Verweis auf ein schranken­ los gewährtes Grundrecht bestimmen, sondern ergibt sich stets nur im Zusammenhang mit den anderen betroffenen Rechtsgütern und somit im ­ Rahmen der materiellen Abwägung: Wenn ein nur unter besonderen Anforde­ rungen einschränkbares Grundrecht eingeschränkt wird, dann zu Gunsten eines anderen Grundrechtes. Erst in diesem Kontext ergeben sich die konkre­ ten Maßstäbe für einen Spielraum des Gesetzgebers425. Daher hat das Bun­ desverfassungsgericht zutreffend im Urteil zum Tarifeinheitsgesetz insofern trotz des nicht einschränkbaren Art. 9 Abs. 3 GG den weiten Einschätzungs­ 418  Ossenbühl,

Kontrolle (Fn. 143), S. 507. Die Kontrolldichte der Normenkontrolle in Skandinavien aus deutscher Sicht, 2011, S. 107. 420  Seetzen, Prognosespielraum (Fn. 286), NJW 1975, 429 (430). 421  Möllers, Rechtsgüterschutz im Umwelt- und Haftungsrecht, 1996, S. 145 stellt dagegen darauf ab, dass sich aus der nummerischen Auflistung eine solche Rangord­ nung ergeben würde. Dass die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG jedoch höheres Gewicht habe als z. B. die Meinungsfreiheit in Art. 5 Abs. 1 GG lässt sich nur schwer vertreten. 422  Vogel, Bundesverfassungsgericht (Fn. 138), S. 153. 423  Lange, Grundrechtsbindung des Gesetzgebers, 2010, S. 245. 424  Seetzen, Prognosespielraum (Fn. 286), NJW 1975, 429 (432 f.); Breuer, Prog­ noseentscheidungen (Fn. 213), Der Staat 16 (1977), 21 (44); Schneider, Verfassungs­ gerichtsbarkeit (Fn. 228), NJW 1980, 2103 (2105); Vogel, Bundesverfassungsgericht (Fn. 138), S. 154 ff.; Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1984, § 34 Rn. 1672. 425  Lange, Grundrechtsbindung (Fn. 423), S. 245; Bickenbach, Einschätzungsprä­ rogative (Fn. 83), S. 517; Herdegen, Verfassungsinterpretation als methodische Diszi­ plin, JZ 2004, 873 (877). 419  Kessel,



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spielraum sowohl im Hinblick auf die Prognoseentscheidungen als auch im Hinblick auf die materielle Abwägung betont426. Es kommt somit grundsätz­ lich nicht auf die Frage der Einschränkbarkeit des Grundrechtes an – nicht umsonst kann jedes Grundrecht prinzipiell eingeschränkt werden427. Weiter wird angeführt, dass sich lediglich der exponierten Stellung und der Formulierung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) eine abstrakt hohe Wertigkeit entnehmen lassen könne, da mit der Würde des Menschen – auch wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass kein Eingriff erfolgt – nicht experimentiert werden dürfe428. dd) Irreversibilität als entscheidendes Kriterium Tatsächlich sind die besonderen Anforderungen an eine plausible Pro­ gnosebegründung in den Entscheidungen, in denen es um den Schutz des menschlichen Lebens und der menschlichen Gesundheit geht429 jedoch nicht in der abstrakten Wertigkeit des jeweiligen Grundrechts zu sehen – was zu­ meist aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gefolgert wird –, sondern in dem Umstand, dass die Schädigung für das beeinträchtigte Rechtsgut nicht rückgängig zu machen ist (Diebstahl kann wieder gut ge­ macht werden, die Tötung nicht430). Für das Bundesverfassungsgericht steht damit – richtigerweise – nicht primär die Bedeutung des Rechtsgutes im Vordergrund, sondern schlicht die Tatsache, dass wirtschaftspolitische Maßnahmen eher reversibel sind als der Eingriff in das Leben oder die körperliche Unversehrtheit431. Der abstrakt hohe Wert der Menschenwürde und gegebenenfalls die Nähe des Lebens­

426  BVerfGE 146, 71 (Rn. 149, 157, 159, 162, 165) – Tarifeinheitsgesetz (2017); auch in BVerfGE 149, 1 (Rn. 65) – Hochschulkanzler auf Zeit (Brandenburg) (2018) betonte das Gericht hinsichtlich des nur durch verfassungsimmanente Rechtsgüter einschränkbaren Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG (Wissenschaftsfreiheit) einen weiten Gestal­ tungsspielraum (in materiell-rechtlicher Hinsicht). 427  Bickenbach, Einschätzungsprärogative (Fn. 83), S. 517. 428  In diesem Sinne Bickenbach, Einschätzungsprärogative (Fn. 83), S. 517. 429  Beispielsweise auch in BVerfGE 110, 141 (Rn. 79) – Kampfhunde (2004); BVerfGE 121, 317 (Rn. 111) – Rauchverbot (2008). 430  Klein, Schutzpflichten (Fn. 410), NJW 1989, 1633 (1638). 431  Es dürfte damit auch gerade diese Irreversibilität der gesundheitlichen Folgen gewesen sein, die das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zur sog. Bun­ desnotbremse während der Corona-Pandemie dazu veranlasste, die Geeignetheit der Maßnahmen zu bejahen, obwohl das Gericht schwere Grundrechtseingriffe in Frei­ heitsrechte feststellte, BVerfG 1 BvR 781/21 u. a. (Rn. 1185) – Bundesnotbremse I (Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen) (2021).

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schutzes zu diesem432 kann dagegen dann bei der in einer weiteren Stufe zu prüfenden Grenze der materiell-rechtlichen Spielräume von Bedeutung sein433. Zuletzt hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass auch Umwelteingriffe derart irreversibel sein können und daher eine dahingehende besondere Sorgfaltspflicht des Gesetzgebers bestehe, dass er bereits „belast­ bare Hinweise auf die Möglichkeit gravierender oder irreversibler Beein­ trächtigungen […] berücksichtigen muss“434. 3. Zeitliches Moment Es ergibt sich aus der Natur der Sache, dass die Überprüfung der Pro­ gnoseentscheidung des Gesetzgebers durch das Bundesverfassungsgericht zeitlich nachgelagert erfolgt. Oft kann seit der Verabschiedung des Gesetzes bis zur Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht eine erhebliche Zeit vergangen sein, sodass weitere tatsächliche Erkenntnisgewinne oder aber auch Veränderungen der tatsächlichen Entwicklungen vorliegen können. a) Zeitpunkt der Prognosen- und Tatsachenkontrolle aa) Überprüfung ex ante Überwiegend wird für einen ex ante-Zeitpunkt plädiert, also auf die Sicht des Gesetzgebers zum Zeitpunkt des Gesetzeserlasses abgestellt. Das Bun­ desverfassungsgericht könne bei einer Veränderung des Erkenntnisgewinnes sowie der tatsächlichen Lage die Verfassungswidrigkeit nicht feststellen, weil verfassungsgerichtlichen Prüfung einen Kontrollcharakter hätte und die Pro­ gnoseentscheidung des Gesetzgebers auf ihre Rationalität und nicht auf ihre Richtigkeit überprüft wird435. Die Anerkennung gesetzgeberischer Gestal­ tungsspielräume ergebe keinen Sinn, wenn sich die nachträgliche Offenba­ rung einer Fehlprognose ex nunc auf die Gültigkeit der Verfassungsnorm 432  Nach BVerfG NJW 2020, 1049 (Rn. 101) – Kopftuch III (2020) stehe auch die Glaubensfreiheit „in enger Verbindung mit der Menschenwürde als dem obersten Wert im System der Grundrechte“ und genieße daher einen hohen Schutz. 433  Siehe zu einer Grundrechtshierarchie bei materiell-rechtlichen Spielräumen Teil 4 D. II. 1. b). 434  BVerfG BeckRS 2021, 8946 (Rn. 229) – Klimaschutz (2021). 435  Ossenbühl, Kontrolle (Fn. 143), S. 517; Breuer, Prognoseentscheidungen (Fn. 213), Der Staat 16 (1977), 21 (53 f.); Lorenz, Kontrolle (Fn. 1), S. 212; Gusy, Gesetzgeber (Fn. 1), S. 182; im Ergebnis auch Steinberg, Verfassungsgerichtliche Kontrolle der „Nachbesserungspflicht“ des Gesetzgebers, Der Staat 26 (1987), 161 (164), nach dem das Gesetz „zumindest zunächst“ verfassungsmäßig bleibt, wenn sich die „Prognose ex post als unzutreffend erweist“; in diesem Sinne wohl auch Huster, Beobachtungspflicht (Fn. 201), ZfRSoz 24 (2003), 3 (8).



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auswirken würde. Es sei daher zu prüfen, ob zum ex ante Zeitpunkt keine unvertretbare und eindeutig widerlegbare Einschätzung vorgelegen habe436. Erweise sich eine Prognose nachträglich als fehlerhaft, seien die sich hieraus ergebenden Probleme vielmehr durch eine Anpassungspflicht des Gesetzge­ bers zu lösen437. bb) Überprüfung ex nunc Andere stellen hingegen darauf ab, dass die Rechtmäßigkeit einer Rechts­ norm immer an der gegenwärtigen Situation zu messen sei438 und alles an­ dere nicht mit dem Grundgesetz und dem Vorrang der Verfassung, der nicht nur zum Zeitpunkt der Entscheidung, sondern auch „mit der Zeit“ wirkt, vereinbar wäre439. cc) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Unklar ist insofern die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In der jüngsten Zensus-Entscheidung stellte das Gericht hinsichtlich der Prog­ nosekontrolle ausdrücklich auf die ex ante Sicht des Gesetzgebers ab440: Die „Zwecktauglichkeit eines Gesetzes kann nicht nach der tatsächlichen späte­ ren Entwicklung, sondern nur danach beurteilt werden, ob der Gesetzgeber aus seiner Sicht davon ausgehen durfte, dass die Maßnahme zur Erreichung des gesetzten Ziels geeignet“ war441. Für die (wohl grundsätzliche materiellrechtliche) verfassungsrechtliche Beurteilung sei „allein die objektive Verfas­ sungswidrigkeit der angefochtenen Entscheidungen im Zeitpunkt der Ent­ scheidung des Bundesverfassungsgerichts maßgeblich“, urteilte das Gericht hingegen im Hinblick auf die Grundrechtsverletzung durch eine Gerichtsent­ scheidung 2011442. In Bezugnahme auf diese Rechtsprechung stellte der 436  Breuer,

Prognoseentscheidungen (Fn. 213), Der Staat 16 (1977), 21 (54). Kontrolle (Fn. 143), S. 518; Breuer, Prognoseentscheidungen (Fn. 213), Der Staat 16 (1977), 21 (54). 438  Stuttmann, Gestaltungsfreiheit (Fn. 82), S. 181; Kahl/Bews, Verfassungswidrig­ keit (Fn. 143), DVBl. 2014, 737 (744), die jedoch ebenso zusätzlich eine Beobach­ tungs- und Nachbesserungspflicht des Gesetzgbers anerkennen. 439  Grabitz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 98 (1973), 568 (573). 440  BVerfGE 150, 1 (Rn. 175) – Zensus 2011 (2018). 441  So BVerfGE 113, 167 (Rn. 175) – Risikostrukturausgleich (2005); ebenso für eine ex ante Sicht BVerfGE 77, 84 (Rn. 83) – Arbeitnehmerüberlassung Baugewerbe (1987); BVerfGE 50, 290 (Rn. 117) – Mitbestimmungsurteil (1979). 442  BVerfGE 128, 326 (Rn. 175) – Sicherungsverwahrung (2011); in diesem Sinne wohl auch BVerfGE 149, 86 (Rn. 81) – Hofabgabeklausel (2018). 437  Ossenbühl,

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Zweite Senat sodann auch 2012 hinsichtlich einer Prognoseentscheidung da­ rauf ab, dass es auf die objektive Verfassungsrechtslage und nicht auf ein vorwerfbares Verhalten des Gesetzgebers ankäme, formulierte sodann aber dennoch, dass den Gesetzgeber eine Nachbesserungspflicht – also ein Verhal­ ten, dass ihm vorgeworfen werden kann – hinsichtlich der Prognoseentschei­ dung treffe443. In der Entscheidung zur sog. Bundesnotbremse (2021) führte das Gericht jedenfalls aufgrund der kurzen Geltungsdauer der angegriffenen Regelungen aus, dass „Unwägbarkeiten wissenschaftlicher Erkenntnisse“ nicht zu einer „nachträglichen Beschränkung des gesetzgeberischen Ein­ schätzungsspielraums“ führten444. b) Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht Zumeist wird die Frage nach dem konkreten Zeitpunkt der Prognosekon­ trolle gar nicht gestellt, sondern im Allgemeinen konstatiert, dass der Gesetz­ geber zur Beobachtung seiner Rechtsnorm und gegebenenfalls zu Korrektur verpflichtet sei445. Die Anerkennung einer solchen Pflicht führt im Ergebnis dazu, dass grundsätzlich auf einen ex ante Zeitpunkt abzustellen ist, dies den Gesetzgeber jedoch nicht vor einem Verfassungsbruch bewahrt, wenn er die Rechtsnorm nicht korrigiert. Auch das Bundesverfassungsgericht betont in ständiger Rechtsprechung, dass mit dem Gewähren eines dem Gesetzgeber zukommenden Prognosespielraumes dieser gleichzeitig auch zur Beobach­ tung und Nachbesserung verpflichtet sei446. 443  BVerfGE

132, 334 (Rn. 68) – Rückmeldegebühr (2012). 1 BvR 781/21 u. a. (Rn. 189) – Bundesnotbremse I (Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen) (2021). 445  Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 70 Rn. 124; Brunn, Prognosen (Fn. 1), NJOZ 2014, 361 (365); Steinbach, Gesetzgebung (Fn. 191), Der Staat 54 (2015), 267 (284). 446  Zuletzt BVerfGE 150, 1 (Rn. 176) – Zensus 2011 (2018); BVerfGE 143, 216 (Rn. 71) – Telekommunikationsgesetz Entgeltregulierung (2016); BVerfGE 132, 334 (Rn. 68) – Rückmeldegebühr (2012); BVerfGE 113, 167 (175) – Risikostrukturaus­ gleich (2005); BVerfGE 111, 333 (Rn. 154) – Brandenburgisches Hochschulgesetz (2004); BVerfGE 107, 150 (Rn. 77) – Sorgerechtsregelung für Altfälle (2003); BVerfGE 97, 271 (Rn. 89) – Hinterbliebenenrente (1998); BVerfGE 95, 267 (Rn. 181) – Alt­ schulden (1997); das Bundesverfassungsgericht selbst verweist in einigen jüngeren Entscheidungen (Zensus, Rückmeldegebühr) zudem auf BVerfGE 107, 286 (Rn. 25) – Kommunalwahl-Sperrklausel Schleswig Holstein (2003), dort geht es jedoch nicht um die Nachbesserung aufgrund veränderter tatsächliche Umstände, d. h. um die Nachbes­ serung der Prognose, sondern um die Nachbesserungspflicht, weil sich rechtliche Um­ stände geändert haben – diese Fälle sind jedoch nach der hier vorgenommenen Kon­ zeption strikt zu trennen; davor insbesondere BVerfGE 88, 203 (Rn. 307) – Schwan­ gerschaftsabbruch II (1993); BVerfGE 65, 1 (Rn. 179) – Volkszählung (1983); BVerfGE 57, 139 (Rn. 84 ff.) – Schwerbehindertenabgabe (1981); BVerfGE 56, 54 (Rn. 62 ff.) – 444  BVerfG



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume191

aa) Nachbesserungspflicht (1) Voraussetzungen und Herleitung Nach dem Bundesverfassungsgericht besteht eine solche Nachbesserungs­ pflicht dann, wenn „die Änderung einer zunächst verfassungskonform getrof­ fenen Regelung erforderlich ist, um diese unter veränderten tatsächlichen Bedingungen oder angesichts veränderter Erkenntnis- oder Tatsachenlage mit der Verfassung in Einklang zu halten“447. Der Gesetzgeber habe einem sol­ chen Zustand durch Nachbesserung entgegenzuwirken448, jedoch seien hier­ für konkrete Anhaltspunkte erforderlich449. Ein Verstoß gegen die Nachbes­ serungspflicht sei erst dann anzunehmen, „wenn evident ist, daß eine ur­ sprünglich rechtmäßige Regelung wegen zwischenzeitlicher Änderung der Verhältnisse verfassungsrechtlich untragbar geworden ist, und wenn der Ge­ setzgeber gleichwohl weiterhin untätig geblieben ist oder offensichtlich fehl­ same Nachbesserungsmaßnahmen getroffen hat“450. Begründet wird die Be­ obachtungs- und Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers mit dem Hinweis auf den Vorbehalt des Gesetzes451. Wenn sich tatsächliche Grundlagen geän­ dert haben, könne eben nicht mehr darauf geschlossen werden, dass der Ge­ setzgeber unter den aktuellen tatsächlichen Bedingungen die Regelung noch weiter aufrechterhalten wolle. Auch wird der Gedanke des gefahrerhöhenden Vorverhaltens durch unsichere Gesetzgebung als Anknüpfungspunkt ge­ nannt452. (2) Umfang und Geltendmachung Der konkrete Umfang der Beobachtungs- und Nachbesserungspflichten sowie insbesondere die Frage danach, welche Rechtsfolgen an die Verletzung dieser Pflichten geknüpft sind, wird sehr unterschiedlich beantwortet, ohne, dass hier bisher ein klares Konzept herausgearbeitet worden wäre. Angeführt Fluglärm (1981); BVerfGE 50, 290 (Rn. 117) – Mitbestimmungsurteil (1979); BVerfGE 49, 89 (Rn. 68) – Kalkar I (1978), zumeist als Pflicht zur „Korrektur“; solche Pflichten andeutend auch bereits BVerfGE 25, 1 (Rn. 55) – Mühlengesetz (1968); BVerfGE 16, 147 (Rn. 164) – Werkfernverkehr (1963). 447  BVerfGE 143, 216 (Rn. 71) – Telekommunikationsgesetz Entgeltregulierung (2016). 448  BVerfGE 132, 334 (Rn. 68) – Rückmeldegebühr (2012). 449  BVerfGE 150, 1 (Rn. 176) – Zensus 2011 (2018). 450  BVerfGE 56, 54 (Rn. 66) – Fluglärm (1981). 451  Steinberg, Kontrolle (Fn. 435), Der Staat 26 (1987), 161 (174); Smeddinck, Gesetzgebungsmethodik (Fn. 6), S. 80. 452  Schwerdtfeger, Krisengesetzgebung, 2018, S. 315.

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

wird, dass die Frage nach der Nachbesserungspflicht nur im Rahmen der Überprüfung des fraglichen, nachbesserungsbedürftigen Gesetzes relevant werden und die Erkenntnis der veränderten tatsächlichen Verhältnisse zu Verfassungswidrigkeit der Norm führen könne, wenn der Gesetzgeber seiner Prüfpflicht und seiner Verpflichtung zur Verbesserung nicht nachgekommen sei453. Dabei seien jedoch die Entscheidungsspielräume des Gesetzgebers zu beachten454. Die Verfassungswidrigkeit der Norm würde daher nur bei evi­ denten Grundrechtsverstößen eintreten455. Danach wäre als grundsätzlicher entscheidungserheblicher Zeitpunkt der Zeitpunkt der gesetzgeberischen Entscheidung anzusehen, die Verletzung der Nachbesserungspflicht würde sodann – unter Beachtung der flexiblen Einschätzungsspielräume (Evidenz) des Gesetzgebers – jedoch zu Verfassungswidrigkeit der Norm führen. Die Nachbesserungspflicht wird damit als echte verfassungsrechtliche, in der Normkontrolle zu überprüfende Pflicht verstanden. Anderer Ansicht nach würde die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes nicht sofort eintreten, sondern dem Gesetzgeber sei zunächst eine Frist einzuräu­ men456. Unklar bleibt, ob die Norm – sollte die Frist bereits abgelaufen sein – direkt für verfassungswidrig oder zumindest für unvereinbar erklärt werden kann457, oder ob das Bundesverfassungsgericht zunächst selbst eine – gewissermaßen offizielle – Frist setzen muss und erst nach Ablauf dieser Frist das Gesetz für verfassungswidrig erklärt werden könne458 – was freilich einen weiteren Antrag voraussetzte459 (das Bundesverfassungsgericht müsste zunächst eine Appellentscheidung an den Gesetzgeber richten, ehe die Norm 453  Pestalozza, Gesetzgebung (Fn. 7), NJW 1981, 2081 (2086); Smeddinck, Ge­ setzgebungsmethodik (Fn. 6), S. 80; für eine Pflicht zur Nachbesserung, wenn sich die Prognose als fehlerhaft erweist oder sich die maßgeblichen Umstände verändert haben, siehe auch Badura, Die verfassungsrechtliche Pflicht des gesetzgebenden Par­ laments zur „Nachbesserung“ von Gesetzen, in: Müller/Eichenberger (Hrsg.), Staats­ organisation und Staatsfunktion im Wandel. Festschrift für Kurt Eichenberger zum 60. Geburtstag, 1982, S. 481 (484). 454  Smeddinck, Gesetzgebungsmethodik (Fn. 6), S. 80. 455  Badura, Pflicht (Fn. 453), S. 487. 456  Hierfür Badura, Pflicht (Fn. 453), S. 488; Lee, Schonung (Fn. 185), S. 214; in diesem Sinne auch BVerfGE 89, 365 (Rn. 48) – Beitragssätze Krankenkassen (1994). 457  In diesem Sinne wohl Badura, Pflicht (Fn. 453), S. 488, 492, nämlich dann wenn sich das nachzubessernde Gesetz aufgrund der geänderten Umstände „über­ haupt“ einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung entzieht. 458  In diesem Sinne wohl Breuer, Prognoseentscheidungen (Fn. 213), Der Staat 16 (1977), 21 (54); Steinberg, Kontrolle (Fn. 435), Der Staat 26 (1987), 161 (184). 459  So wohl zumindest Breuer, Prognoseentscheidungen (Fn. 213), Der Staat 16 (1977), 21 (54), der Antrag habe sich mithin erneut auf die Feststellung der Verfas­ sungswidrigkeit des jeweiligen Gesetzes zu richten; nach Badura, Pflicht (Fn. 453), S. 492 sei jedoch nach Fristablauf (wenn nicht schon das Gesetz insgeamt für verfas­ sungswidrig erklärt werden kann, weil es „überhaupt“ keine Rechtfertigung mehr



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume193

aufgehoben werden könne460), oder aber ob es vielmehr stets der richtige Weg sei, nicht die Norm an sich anzugreifen, sondern gegen ein gesetzgebe­ risches Unterlassen der Nachbesserungspflicht vorzugehen461. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geht es in der über­ wiegenden Anzahl der Entscheidungen mit solchen Konstellationen, in denen das Gericht das Gesetz als „noch- verfassungsmäßig“ einstuft und lediglich an den Gesetzgeber appelliert, nach der drohenden Veränderung der Verhält­ nisse seiner Nachbesserungspflicht nachzukommen und er daher verpflichtet sei, das Gesetz zu beobachten462. Seltener sind Entscheidungen, in denen das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber trotz derzeitiger Verfassungsmäßigkeit bereits dazu verpflichtet, tätig zu werden, mal mit Frist463, mal ohne464, mal sogar mit Frist im Te­ nor465. Auch gibt es Entscheidungen, in denen das Bundesverfassungsgericht betont hat, dass Gesetze, die „sich erst infolge nachträglich erkannter Fehl­ prognosen als verfassungswidrig erwiesen, ihre Gültigkeit behielten, aber der legislativen Korrektur bedürften“466.

habe) ein Feststellungsantrag zu stellen, der sich darauf beziehe, dass der Gesetzgeber seine Pflicht nicht erfüllt habe und dadurch ein Grundrecht verletzt sei. 460  Steinberg, Kontrolle (Fn. 435), Der Staat 26 (1987), 161 (184); klar ablehend gegenüber Appell-Entscheidugnen und Fristsetzungen, für die kein Raum mehr sei, wenn Prognosefehler offenbar würden, hingegen Pestalozza, Gesetzgebung (Fn. 7), NJW 1981, 2081 (2086). 461  Für die Zulässigkeit eines solchen Antrags auf die Feststellung der Verfas­ sungswidrigkeit des gesetzgeberischen Unterlassens BVerfGE 56, 54 (Rn. 41 ff.) – Fluglärm (1981). 462  BVerfGE 111, 333 (Rn. 154) – Brandenburgisches Hochschulgesetz (2004); BVerfGE 107, 150 (Rn. 77) – Sorgerechtsregelung für Altfälle (2003); BVerfGE 97, 271 (Rn. 89) – Hinterbliebenenrente (1998); BVerfGE 95, 267 (Rn. 177) – Altschul­ den (1997). 463  BVerfGE 39, 169 (Rn. 90) – Hinterbliebenenrente (1975): „bis zum Ende der übernächsten Legislaturperiode“. 464  BVerfGE 54, 11 (Rn. 71) – Renten- und Beamtenpensionen (1980): „Der Ge­ setzgeber ist hiernach verpflichtet, eine Neuregelung in Angriff zu nehmen. Es ist seine Sache, in welcher Weise und mit welchen gesetzgeberischen Mitteln er die in­ zwischen eingetretenen Verzerrungen nunmehr beseitigen will“. 465  BVerfGE 78, 249 (Tenor) – Fehlbelegungsabgabe (1988): „Der Gesetzgeber ist aber verpflichtet, spätestens mit Wirkung ab 1. Januar 1990 eine Neuregelung zu tref­ fen, die den Anforderungen von Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes genügt“. 466  BVerfGE 49, 89 (Rn. 68) – Kalkar I (1978), unabhängig von dieser Aussage wurden § 7 Abs. 1 und 2 AtomG jedoch für mit dem Grundgesetz vereinbar gehalten, sodass es nicht darauf ankam, welche Rechtsfolgen die „Gültigkeit“, aber „Korrektur­ pflicht“ konkret auslösen.

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Dass das Unterlassen einer Nachbesserungspflicht auch unmittelbar zum Verfassungswidrigwerden der nicht nachgebesserten Norm führen kann, führte das Bundesverfassungsgericht nun in einer seiner jüngsten Entschei­ dungen zur Nachbesserungspflicht aus. In der Entscheidung zum Telekom­ munikationsgesetz tenorierte das Gericht ausdrücklich, dass § 35 Abs. 5 S. 2, 3 TKG „nicht mehr“ mit Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG vereinbar seien467. Dies sei darauf zurückzuführen, dass in tatsächlicher Hinsicht das Ungleichgewicht zwischen den Marktakteuren nicht mehr unverändert fortbestehe468. Die Vor­ aussetzungen für eine Nachbesserungspflicht seien daher erfüllt469. Das bis­ herige Recht bleibe bis zu einer Neuregelung weiter anwendbar, der Gesetz­ geber wurde verpflichtet, bis zum 31. Juli 2018 eine Neuregelung zu tref­ fen470. Diese ausdrückliche Unvereinbartenorierung (wenngleich sie mit der Anordnung der Fortgeltung verbunden war), fehlte sonst, das Gericht appel­ lierte lediglich, eine neue Regelung zu erlassen. Andere Meinungen führen dagegen aus, dass eine Nichtigkeitserklärung des Gesetzes grundsätzlich nicht in Betracht komme, da der Verfassungsver­ stoß lediglich durch das Verfahren der Legislative, nicht durch das Gesetz begründet würde, es käme daher allenfalls eine Appellentscheidung in Be­ tracht (was jedoch dem Rechtsschutzinteresse des Antragstellers nicht wirk­ lich entsprechen würde)471. bb) Beobachtungspflicht Unklar ist häufig auch das Verhältnis zwischen der Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht: Besteht nur deswegen eine Pflicht zur Beobachtung, weil die Nachbesserungspflicht nicht ohne die Beobachtungspflicht erfüllt werden kann, oder aber kommt der Beobachtungspflicht eigenständige Rechtsbedeutung zu, sodass allein die Verletzung der Beobachtungspflicht in formell-rechtlich Hinsicht zu Verfassungswidrigkeit der Norm führt472? Für 467  BVerfGE 143, 216 (Tenor) – Telekommunikationsgesetz Entgeltregulierung (2016). 468  BVerfGE 143, 216 (Rn. 67) – Telekommunikationsgesetz Entgeltregulierung (2016). 469  BVerfGE 143, 216 (Orientierungssatz 3c. dd.) – Telekommunikationsgesetz Entgeltregulierung (2016). 470  BVerfGE 143, 216 (Tenor) – Telekommunikationsgesetz Entgeltregulierung (2016), unklar ist somit, ob auch eine volltändige Nichtigkeitserklärung aufgrund der Verletzung der Nachbesserungspflicht in Betracht kommen kann. 471  Gusy, Grundgesetz (Fn. 50), ZRP 1985, 291 (294 f.). 472  In diesem Sinne Steinberg, Kontrolle (Fn. 435), Der Staat 26 (1987), 161 (176); nicht ganz eindeutig Gusy, Grundgesetz (Fn. 50), ZRP 1985, 291 (294).



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume195

die erstgenannte Auffassung spricht sich wohl insbesondere das Bundesver­ fassungsgericht473 aus474. c) Eigener Ansatz aa) Kritik an der Konturenlosigkeit Weder die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch die Litera­ tur konnten bisher klare Konturen der Beobachtungs- und Nachbesserungs­ pflicht herausarbeiten. Insbesondere die vom Bundesverfassungsgericht häu­ fig betonte in der Zukunft liegende Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht bleibt nicht nur kontur-, sondern zumeist auch folgenlos. Die Beobachtung, dass die Erwähnung der Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht in der Entscheidung wohl auch dazu dient, Meinungsverschiedenheiten zwischen den Richtern zu lösen475, ist damit nicht ohne jede Berechtigung. Gleiches gilt für die Beobachtung, dass die Politik diese als allgemeine und in der Regel folgenlose Hinweise versteht476. Insbesondere bleibt offen, wie sich diese Pflichten konkret ausgestalten477 und ob die Verletzung der Nachbesserungspflicht dazu führt, dass die jewei­ lige Norm als verfassungswidrig und damit nichtig oder zumindest unverein­ bar erklärt werden muss, oder ob sich das Gericht auf Appell-Entscheidungen mit unklaren Rechtswirkungen zu beschränken hat. Auch bleibt unklar, ob die Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht nur objektiv-rechtlich wirkt, oder ob aus ihr auch subjektiv-rechtliche Ansprüche hergeleitet werden kön­ nen478.

473  In diesem Sinne u. a. BVerfGE 88, 203 (Rn. 309) – Schwangerschaftsabbruch II (1993), wonach die Nachbesserungspflicht generell keine fortlaufende Kontrolle der Gesetze durch den Gesetzgeber einschließe, sondern sich die Pflicht erst dann aktua­ lisiert, wenn die Verfassungswidrigkeit erkannt wird. 474  So auch Huster, Beobachtungspflicht (Fn. 201), ZfRSoz 24 (2003), 3 (15) der bemerkt, dass das Bundesverfassungsgericht die Beobachtungspflicht als „notwen­ dige“ Voraussetzung der eigentlichen verfassungsrechtlichen Handlungspflicht ver­ steht; insofern Huster sodann Entscheidungen (BVerfGE 49, 89 [Rn. 97] – Kalkar I [1978]; BVerfGE 56, 54 [Rn. 69 ff.] – Fluglärm [1981]; BVerfGE 88, 203 [Rn. 309] – Schwangerschaftsabbruch II [1993]) anführt, die darauf schließen ließen, dass das Bundesverfassungsgericht der Beobachtungspflicht auch eine „gewisse“ eigenstän­ dige Bedeutung einräume, überzeugt diese Interpretation nicht. 475  Huster, Beobachtungspflicht (Fn. 201), ZfRSoz 24 (2003), 3 (24). 476  Nagel, Problemaffinität und Problemvergessenheit, DÖV 2010, 268 (270). 477  Hoffmann-Riem, Gesetz und Gesetzesvorbehalt im Umbruch, AöR 130 (2005), 5 (22, Fn. 84). 478  Dazu Badura, Pflicht (Fn. 453), S. 489 ff.

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

bb) Entscheidung für einen ex nunc Zeitpunkt Diese klaren Konturen fehlen jedoch nur, wenn man darauf abstellt, dass es für den Zeitpunkt der Gesetzeskontrolle auf den Zeitpunkt der parlamen­ tarischen Verabschiedung der Norm ankäme. Für Verrenkungen, die nicht nur dogmatisch unsauber, sondern auch sehr schwer nachvollziehbar sind479, be­ steht dann keine Notwendigkeit, wenn man hinsichtlich der Prüfung des Gesetzes auf den Zeitpunkt der bundesverfassungsgerichtlichen Überprüfung abstellt und sodann die Kontrolle gesetzgeberischer Prognosen einerseits unter Zuhilfenahme der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, anderer­ seits aber auch unter Berücksichtigung des zeitlichen Aspektes vornimmt480. Konkret bedeutet das folgendes: Das Grundgesetz stellt – wie beschrie­ ben481 – gerade keinerlei Anforderungen an den Gesetzgeber hinsichtlich der Ermittlung seiner tatsächlichen Grundlagen sowie Prognosen. Es ist somit nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, (lediglich) die gesetzgeberi­ sche Rationalität zu überprüfen482. Wenn das Bundesverfassungsgericht eine solche Rationalität (jedenfalls nicht unbedingt) überprüfen muss (sondern nur dann, wenn der Gesetzgeber Rationalitätserwägungen überhaupt angestellt hat), ist es dem Gericht gar nicht möglich, die ex ante Überlegungen des Gesetzgebers zu überprüfen. Es kommt somit nur auf die objektive Verfas­ sungskonformität des Gesetzes an. Zwar ist der Hinweis, dass eine ex ante Prüfung nicht absolut zwingend die Annahme von Verfahrenspflichten und eine Vorwerfbarkeitsprüfung vor­ aussetzt, sondern auch in diesen Fällen (d. h. auch wenn der Gesetzgeber selbst keine Feststellungen getroffen hat) schlicht auf die ex ante Sicht für den Zeitpunkt der verfassungsgerichtlichen Beurteilung abgestellt werden könnte (d. h. auf die Umstände, die der Gesetzgeber zumindest hätte erken­ 479  Beispielsweise dergestalt, dass bei nicht zutreffender Prognose das Gesetz „zu­ nächst“ nicht beanstandet wird, dann bei unterlassener Nachbesserungspflicht aber doch verfassungswidrig wird, vgl. Steinberg, Kontrolle (Fn. 435), Der Staat 26 (1987), 161 (14 ff.). 480  Dafür auch im Ergebnis Steinberg, Kontrolle (Fn. 435), Der Staat 26 (1987), 161 (170, 174); Grupp, Rechtsfragen der abschließenden Überprüfung prognostischer Entscheidungen bei der kommunalen Gebietsreform, in: Burmeister (Hrsg.), Verfas­ sungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 1099 (1104); auch bei Badura, Pflicht (Fn. 453), S. 492, jedoch wohl nur bei Evidenz (S. 487); Pestalozza, Gesetzgebung (Fn. 7), NJW 1981, 2081 (2086), der jedoch eine Pflicht zur Kontrolle erkennt. 481  Siehe dazu Teil 4 C. I. 1. 482  Das Bundesverfassungsgericht ist vielmehr selbst zur Tatsachen- und Progno­ sefeststellung verpflichtet. Die „gute“ gesetzgeberische Prognose ist vielmehr ledig­ lich Obliegenheit, die die Prognoseüberprüfung des Bundesverfassungsgerichts ver­ einfacht, siehe unter Teil 4 D. V. 1.



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume197

nen und seiner Entscheidung zu Grunde legen können)483, zutreffend. Rich­ tig ist aber auch, dass der Grund für eine solche Vorverlegung des Beurtei­ lungsspielraums der Respekt vor der Entscheidung des demokratisch legiti­ mierten Gesetzgebers ist484. Diesen Respekt (in anderen Worten: Spiel­ raum) – der umso höher ausfallen muss, wenn der Gesetzgeber seiner Obliegenheit hinsichtlich der Verfahrenspflichten nachgekommen ist – kann das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber jedoch auch entgegenbrin­ gen, wenn es auf den Zeitpunkt der bundesverfassungsgerichtlichen Prüfung als entscheidungserheblichen Zeitpunkt abstellt. Hintergrund ist, dass das Gesetz grundsätzlich auch zum Zeitpunkt der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle noch auf zukünftige Sachverhalte weiter einwirken wird und daher auch das Bundesverfassungsgericht selbst eine abschließende Beurteilung nicht vornehmen können wird. Auch das Bundesverfassungsgericht muss damit zum Zeitpunkt seiner Entscheidung eine Entscheidung über das immer noch Ungewisse treffen – das betrifft nicht nur die Prognosen: auch die sog. legislative facts sind einem sicheren Beweis zumeist nicht zugänglich. Aus diesem Grund ist mit der Anerkennung eines ex nunc Maßstabes kei­ neswegs die Ablehnung einer dem Gesetzgeber zukommenden Einschät­ zungsprärogative verbunden485. Da auch ex nunc immer noch Unsicherheit besteht, ist das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf diese Ungewiss­ heit aufgrund der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers gehalten, des­ sen Überlegungen zu berücksichtigen, sofern er denn welche angestellt hat. Diese Überlegungen des Gesetzgebers führen im Rahmen einer Gesamt­ abwägung zu einer Feststellung des Bundesverfassungsgerichts über die Plausibilität von tatsächlichen Entwicklungen. Zusätzliche bisher gemachte Erfahrungen dürfen und müssen in einer Gesamtabwägung sodann jedoch auch in die Entscheidung des Gerichts einfließen. Besteht eine absolute Ge­ wissheit, dass die vom Gesetzgeber zugrunde gelegte Prognose nicht eintritt (was in den seltensten Fällen der Fall sein dürfte), dann ist kein Grund mehr ersichtlich, dem Gesetzgeber eine tatsächliche Einschätzungsprärogative (das bedeutet nicht, das kein materiell-rechtlicher Spielraum mehr bestünde) ein­ zuräumen und der verfassungsgerichtlichen Bewertung die Einschätzung des Gesetzgebers zu Grunde zu legen. Diese Lösung ermöglicht, sowohl auf einen ex nunc Zeitpunkt abzustellen als auch die Einschätzung des Gesetzgebers hinreichend zu berücksichtigen. Begründete man dagegen, dass unterlassene Nachbesserungspflichten verfas­ sungsrechtlich justiziabel wären, dann müsste konsequenterweise der An­ 483  Raabe,

Grundrechte (Fn. 11), S. 440. Grundrechte (Fn. 11), S. 440. 485  So aber Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, 1983, S. 223. 484  Raabe,

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

knüpfungspunkt für den verfassungsrechtlichen Verstoß im heutigen Unter­ lassen der Nachbesserungspflicht gesehen werden und nicht in der in der Vergangenheit richtigen bzw. vertretbaren Prognoseentscheidung. Dies hätte die Folge, dass das zur Überprüfung gestellte Gesetz nicht für verfassungs­ widrig erklärt werden könnte, sondern das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber zum Tätigwerden auffordern müsste. In diesen Fällen könnte sich das Gericht nur auf den Appell an den Gesetzgeber beschränken, das Gesetz zu korrigieren. Eine justiziable Nachbesserungspflicht scheint damit nicht praktikabel. Auch eine fortlaufende Beobachtungspflicht begegnet be­ reits aus praktischer Sicht Bedenken, da sich die Pflicht konsequenterweise auf alle Gesetze erstrecken müsste, was erhebliche Ressourcen binden würde486. Da den Gesetzgeber keinerlei verfahrensrechtliche Anforderungen treffen und das Bundesverfassungsgericht in einer ex ante Perspektive kontrolliert, bestehen somit weder Beobachtungs- noch Nachbesserungspflichten. Es ist das Gesetz und nicht der Gesetzgeber, welches vor Gericht steht487. Der Gesetzgeber kann damit auch nicht für ein formales Fehlverhalten nach dem Erlass eines Gesetzes haftbar gemacht werden. Rein faktisch wird der Gesetzgeber in den Fällen, in denen sich entweder die tatsächliche Lage tatsächlich ändert oder aber bei ein Erkenntnisgewinn vorliegt, freilich gut beraten sein, Gesetze zu beobachten oder jedenfalls zu korrigieren, damit das Gesetz nicht für verfassungswidrig erklärt wird. Die „Verpflichtung“ des Gesetzgebers zum Handeln folgt dann aber nicht aus ei­ ner justiziablen Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht, sondern schlicht aus der Bindung des Gesetzgebers an die jeweilige Verfassungsnorm488. Es handelt sich dabei aber um keine Pflicht – sondern ähnlich wie bei den Pflich­ ten im Hinblick auf die ursprüngliche Ermittlung – um eine Obliegenheit, die einen Anreiz zur Beobachtung schafft. Die Beobachtungsobliegenheit spielt damit nicht nur eine Rolle hinsichtlich der Verhinderung des Verfassungswid­ rigwerden des ursprünglichen Gesetzes, sondern aktualisiert sich auch bei der Beurteilung von Nachfolgeregelungen durch das Bundesverfassungsgericht. Bei der Prüfung des Bundesverfassungsgerichts, in welchem Maße es der ge­ setzgeberischen Prognose vertrauen kann, wird es unter anderem auch berück­ sichtigen können, ob der Gesetzgeber die Vorgängerregelung beobachtet und Schlüsse für die nun aufgestellte Prognose hieraus gezogen hat489. Die Frage, 486  Huster, Beobachtungspflicht (Fn. 201), ZfRSoz 24 (2003), 3 (22); Nagel, Pro­ blemaffinität (Fn. 476), DÖV 2010, 268 (270). 487  Siehe dazu Teil 4 D. III. 1. b). 488  In diesem Sinne auch Huster, Beobachtungspflicht (Fn. 201), ZfRSoz 24 (2003), 3 (11). 489  In diesem Sinne auch BVerfGE 150, 1 (Rn. 177) – Zensus 2011 (2018).



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ob der Gesetzgeber sodann auch zur Nachbesserung verfassungsrechtlich ver­ pflichtet ist, ist sodann eine unabhängige Frage, die nach den Kriterien hin­ sichtlich der Möglichkeiten der konkreten Normenkontrollentscheidung zu beurteilen ist490.

V. Zusammenfassung Die Frage nach der Beurteilung der den einer gesetzgeberischen Entschei­ dung zu Grunde liegenden Tatsachen und Prognosen hat stets einen gewich­ tigen Einfluss auf die verfassungsrechtliche Bewertung. Es ist daher von großer Bedeutung, welche Spielräume der Gesetzgeber hinsichtlich dieser gegenüber dem Bundesverfassungsgericht hat. Verschiedene Kriterien helfen die Reichweite des Spielraums zu bestimmen. Entscheidend ist, dass streng zwischen Kriterien für tatsächlich-prognostische Spielräumen und materiellrechtliche Spielräumen unterschieden wird. Den Gesetzgeber selbst treffen keine Pflichten im Hinblick auf die Ermitt­ lung von tatsächlichen Grundlagen und die Anstellung von Prognosen. Es ist daher missverständlich, darüber zu diskutieren, inwiefern das Bundesverfas­ sungsgericht zur Tatsachen- und Prognosekontrolle des Gesetzgebers berech­ tigt ist. Zu fragen ist vielmehr danach, welcher Wahrscheinlichkeitsmaßstab an den Eintritt von tatsächlichen Ereignissen zu stellen ist und damit nach Kriterien, die helfen zu bestimmen, welche tatsächlichen respektive zukünf­ tigen Umstände das Gericht der Beurteilung der Verfassungsgemäßheit eines Gesetzes zu Grunde zu legen hat. Spricht das Bundesverfassungsgericht also davon, dass es „intensiv“ oder „streng“ prüft, dann geht es nicht um eine intensive Prüfung des Gesetzgebers, sondern schlicht darum, dass an das der bundesverfassungsgerichtlichen Prüfung zu Grunde zu legende Tatsachenund Prognosematerial hohe Wahrscheinlichkeitsanforderungen zu stellen sind. Auch geht es nicht darum, dass das Bundesverfassungsgericht sich mit einer eigenen Prognose an die Stelle des Gesetzgebers setzen dürfte. Insofern diskutiert und teilweise positiv beantwortet wird, dass das Bundesverfas­ sungsgericht der ungewissen Prognose des Gesetzgebers eine eigene Pro­ gnose entgegensetzen und die Prognose des Gesetzgebers ersetzen dürfe491, ist diesem entgegenzutreten. Das Bundesverfassungsgericht darf keine Prog­ nosen des Gesetzgebers ersetzen. Es darf nur überprüfen, ob gewisse Anfor­ 490  Siehe

dazu Teil 5. diesem Sinne Schenke, Umfang (Fn. 395), NJW 1979, 1321 (1326); Lee, Schonung (Fn. 185), S. 208; Kessel, Kontrolldichte (Fn. 419), S. 114; BVerfGE 143, 243 (abw. Meinung Rn. 9) – Atomausstieg (2016); BVerfGE 45, 187 (Rn. 176) – le­ benslange Freiheitstrafe (1977). 491  In

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

derungen an die Prognose eingehalten wurden. Eine strenge Kontrolle bedeu­ tet nicht die Kontrolle des Inhalts der Prognose und Ersetzung dieser durch eine eigene, sondern vielmehr den gänzlichen Ausschluss einer Prognose492. Insofern ist auch der Begriff der Prärogative missverständlich gewählt, da es nicht um einen Vorrang des Gesetzgebers geht. Wenn festgestellt wird, dass bei wichtigen Rechtsgütern Experimente nicht zulässig sind, dann gilt das Verbot des Experimentierens für den Gesetzgeber, aber auch genauso inten­ siv für das Bundesverfassungsgericht. Trotz der fehlenden Verpflichtung zur Tatsachenfeststellung durch den Gesetzgeber beginnt die Feststellung dessen, welche Tatsachenbasis das Bun­ desverfassungsgericht seiner Entscheidung zu Grunde legen hat, mit der Frage, ob der Gesetzgeber selbst Tatsachen festgestellt und in welchem Ver­ fahren er diese festgestellt hat. Auch wenn im verfassungsgerichtlichen Ver­ fahren prinzipiell der Untersuchungsgrundsatz gilt, muss anerkannt werden, dass im Hinblick auf legislative facts und insbesondere hinsichtlich der in die Zukunft gerichteten Prognosen der Amtsermittlungsgrundsatz an seine Gren­ zen gerät, nämlich dann, wenn alles getan wurde, was dieser erfordert, aber dennoch keine eindeutige Aussage zu finden ist493. Das ist regelmäßig bei Prognosen der Fall. Ab diesem Zeitpunkt kann das Gericht mögliche Beweis­ lastregeln und die Mitwirkung des Gesetzgebers unter Berücksichtigung ­seiner durch die Verfassung zugewiesenen Aufgaben anwenden und die Ob­ liegenheit zur Tatsachenfeststellung berücksichtigen: Kann der Gesetzgeber eine besonders intensive Tatsachenrecherche nachweisen, so sind die vom Gesetzgeber zu Grunde gelegten Tatsachen eher auch der verfassungsgericht­ lichen Bewertung zu Grunde zu legen als bei einem oberflächlichen Ermitt­ lungsverfahren. Darüber hinaus gibt es weitere funktionell-rechtliche Kriterien, die einer­ seits sowohl helfen, die Überprüfungsintensität der gesetzgeberischen An­ nahmen festzulegen bzw. – sollten solche nicht feststellbar sein – allgemein festlegen, welcher Wahrscheinlichkeitsgrad an die Annahme von bestimmten tatsächlichen Entwicklungen zu stellen sind. Auch diejenigen des Mitbestim­ mungsurteils können (richtig verstanden) fruchtbar gemacht werden. Von ei­ ner konsequenten Anwendung dieser Maßstäbe kann jedoch nicht gesprochen werden494. Beispielsweise hat die Drei-Stufen-Rechtsprechung im umfang­ reichen Urteil zum Zensusgesetz (2018) noch in der Maßstabdarstellung Er­ 492  Zutreffend insofern Benda/Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012 Rn. 313. 493  Hierzu auch I. Augsberg/S. Augsberg, Elemente (Fn. 203), VerwArch 98 (2007), 290 (295); Sanders/Preisner, Begründungspflicht (Fn. 25), DÖV 2015, 761 (770). 494  So auch Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11.  Aufl. 2018 Rn. 535.



C. Tatsächliche Spannungsfelder und Spielräume201

wähnung gefunden495, sodann fehlt in der Subsumtion jedoch die Zuordnung, welche Maßstäbe das Gericht nur anwendet496. Es verbietet sich zudem, die Kriterien des Mitbestimmungsurteils gewissermaßen „blind“ zu zitieren. Stets ist eine entsprechende Kontextualisierung notwendig. Eine genaue Analyse des Mitbestimmungsurteils und weiterer bundesver­ fassungsgerichtlicher Rechtsprechung hat gezeigt, dass es für die Bestim­ mung der Spielräume insbesondere auch darauf ankommt, an welcher Stelle der verfassungsgerichtlichen Prüfung die Frage nach der Prognose relevant wird. Ein Vertretbarkeitsmaßstab, der fragt, ob die Annahmen „wirtschaft­ lichen Gesetzen oder praktischen Erfahrungen“ widersprechen, dass sie „vernünftigerweise“ keine Grundlage sein könnten, findet insbesondere bei der Prüfung des legitimen Zwecks Anwendung. Hinsichtlich der Prüfung der Erforderlichkeit ist dagegen zu beachten, dass eine potenziell unendliche Vielzahl von möglichen Alternativen geprüft werden müsste. Es ist damit schwer bis unmöglich, die Erforderlichkeit mit absoluter Sicherheit zu be­ stimmen, da zumeist auch andere Alternativen denkbar sein werden. Wäh­ rend die Frage nach der Geeignetheit eher eine „unpolitische“ Rationalitäts­ frage ist497, manifestiert sich in der der Erforderlichkeitsprüfung zu Grunde liegenden Prognose-Entscheidung der ureigene Spielraum der politischen Entscheidung des Gesetzgebers. Der Gesetzgeber ist es, der sich politisch für eine fehlerhafte Prognose verantworten muss, der hierfür abgewählt werden kann. Ihm ist daher im Hinblick auf Prognoseentscheidungen ein großer Spielraum einzuräumen. Aus diesem Grund hat sich das Bundesverfassungs­ gericht auf einen Evidenz-Maßstab zu beschränken und darf lediglich prüfen, ob die gewählte Maßnahme „eindeutig“ nicht erforderlich ist. Aus dieser Überlegung leitet sich sodann auch ab, dass die Komplexität der Prognoseentscheidung ein solcher Maßstab ist, der eine bundesverfas­ sungsgerichtliche Kontrollrücknahme inzidiert. Besonders hohe Wahrschein­ lichkeitsanforderungen sind dagegen dort anzunehmen, wenn es um den Eingriff in wichtige Rechtsgüter geht – umgekehrt gilt im legitimen Zweck bei der Frage nach dem Schutz eines besonders wichtigen Rechtsgutes, dass hier ein relativ geringer Kontrollmaßstab anzusetzen ist. Die bloße Feststel­ lung, dass es sich um den Sachbereich der Außen- oder Wirtschaftspolitik oder aber um eine Entscheidung in eigener Angelegenheit handelt, ist grund­ sätzlich nicht dazu geeignet, einen besonders weiten oder engen Kontroll­ maßstab zu begründen. Im Rahmen der Kontrolle, ob der Gesetzgeber grund­ rechtliche Schutzpflichten erfüllt hat, besteht aufgrund der Zukunftsbezogen­ 495  BVerfGE

150, 1 (Rn. 173) – Zensus 2011 (2018). 150, 1 (Rn. 288 ff.) – Zensus 2011 (2018). 497  Lepsius, Chancen und Grenzen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 1 (20). 496  BVerfGE

202

Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

heit der Schutzpflicht und der potenziell unendlich verschiedenen Regelungs­ alternativen im Hinblick auf das Tatsächliche ebenso ein erheblicher Spielraum, der in der Regel auf einen Evidenzmaßstab beschränkt ist498. Die Kriterien zur Bestimmung des gesetzgeberischen Prognosespielraums sind somit insbesondere funktionell-rechtlich gesteuert, ein materiell-rechtliches Kriterium wie die Rangordnung von Grundrechten steuert diesen Spielraum gerade nicht499. Beobachtungs- und Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers bestehen nicht. Dies folgt allein aus dem Umstand, dass für die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes auf den Zeitpunkt der bundesverfassungsgerichtlichen Überprü­ fung abzustellen ist. Es ist das Gesetz und nicht der Gesetzgeber, welches vor Gericht steht. Das Gesetz kann daher nicht aufgehoben werden, weil der Gesetzgeber es nicht nachgebessert hat. Freilich setzt sich der Gesetzgeber – wenn er nicht beobachtet und nachbessert – der Gefahr aus, dass das Gesetz im Laufe der Zeit verfassungswidrig und aufgehoben wird. Daraus resultiert jedoch allenfalls eine faktische, keine rechtliche Pflicht zur Beobachtung und Nachbesserung. Die vorangestellten Kriterien können der gesetzgeberischen Prognose- und Tatsachenentscheidungen eine gewisse Struktur und Orientierung geben. Sie dürfen gleichwohl nicht verstanden werden als absolute Kriterien. Trenn­ scharfe Kriterien sind nicht möglich500. Stets sind die Besonderheiten der jeweils zu überprüfenden Norm zu berücksichtigen, stets ist in eine ausführ­ liche Abwägung zwischen „dem betroffenen grundrechtlichen Prinzip“ und dem „formellen Prinzip der Entscheidungskompetenz des Gesetzgebers“501 einzutreten.

498  Vgl. die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: „Das Bun­ desverfassungsgericht kann die Verletzung einer solchen Schutzpflicht nur feststellen, wenn […] die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind“, dazu nur: BVerfGE 142, 313 (Rn. 70) – ärztliche Zwangsbehandlung (2016); BVerfGE 125, 39 (Rn. 135) – Berliner Ladenöffnungszei­ ten (2009); siehe auch Hesse, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Wahrneh­ mung grundrechtlicher Schutzpflichten des Gesetzgebers, in: Däubler-Gmelin (Hrsg.), Gegenrede. Festschrift Mahrenholz, 1994, S. 541 (557). 499  Anders Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11.  Aufl. 2018 Rn. 537, wonach die funktionell-rechtlichen Kompetenzkriterien materiell-rechtlich gesteuert seien. 500  Ossenbühl, Kontrolle (Fn. 143), S. 506. 501  Raabe, Grundrechte (Fn. 11), S. 392.



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 203

D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume Während im Hinblick auf das Vorliegen von Tatsachen bereits umstritten war, ob das Bundesverfassungsgericht überhaupt zur Überprüfung dieser be­ fugt ist, fällt diese Antwort im Hinblick auf die Überprüfung der materiellen Verfassungsgrundsätze durch das Bundesverfassungsgericht zunächst eindeu­ tig aus. Die Überprüfung, ob das Gesetz in materiell-rechtlicher Hinsicht von den Normen der Verfassung gedeckt ist, ist dem Bundesverfassungsgericht unmittelbar zugewiesen. Obwohl diese Frage „normwissenschaftlich“ und insofern „juristisch“ zu betrachten ist, ist sie aber auch erheblich von politi­ schen Werturteilen abhängig1. Aus dem Grundgedanken der parlamentari­ schen Demokratie und der Funktionenordnung des Grundgesetzes ergibt sich, dass dem parlamentarischen Gesetzgeber eine politische Gestaltungsfreiheit und -befugnis zukommen muss und er nach insbesondere parteipolitischen Kriterien über ein Gesetz entscheiden darf2. Nicht nur das Demokratie­prinzip, sondern auch die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte sowie die in Art. 19 Abs. 1 GG geregelte Möglichkeit der Grundrechtseinschränkung weisen dem Gesetzgeber diese Aufgabe der politischen Gestaltung im Rahmen der Ver­ fassung zu3. Wie weit diese materiell-rechtlichen Spielräume konkret reichen, darüber besteht freilich Unklarheit. 1  Lepsius, Chancen und Grenzen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 1 (20). 2  Hesse, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Wahrnehmung grundrechtli­ cher Schutzpflichten des Gesetzgebers, in: Däubler-Gmelin (Hrsg.), Gegenrede. Fest­ schrift Mahrenholz, 1994, S. 541 (553); Badura, Die Verfassung im Ganzen der Rechtsordnung und der Verfassungskonkretisierung durch Gesetz, in: Isensee/Kirch­ hof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 265 Rn. 28; gänzlich anders aber offenbar Klein, Das Untermaßverbot – Über die Justiziabilität grundrechtlicher Schutzpflichterfüllung, JuS 2006, 960 (962), der den Spielraum zumindest in der Eingriffssituation aufgrund der präzisen Vorgabe des Übermaßverbotes lediglich auf Prognosen beschränkt wis­ sen möchte und einen Spielraum in materiell-rechtlicher Hinsicht nur bei der Erfül­ lung von Schutzpflichten, nicht aber in der Eingriffssituation erkennen will: „Der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum zur Erfüllung der Schutzpflicht ist auch de iure ein Spielraum, dem Gesetzgeber kommt hier echtes Bewertungsermessen zu. Der Gesetzgeber hat eine normative Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen rechtmäßi­ gen Maßnahmen. Der Prognosespielraum beim legislativen Eingriff ist dagegen rein tatsächlicher Art, rechtlich besteht die präzise Vorgabe des Übermaßverbotes. Norma­ tiv rechtmäßig kann hier nur eine Eingriffsmaßnahme sein, die mildeste nämlich. Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers beruht allein auf tatsächlichen Ungewiss­ heiten, sie eröffnet nur de facto einen Spielraum“; nach Lepsius, Chancen (Fn. 1), S. 20 sei dagegen der „potenzielle Übergriff auf den Entscheidungs- und Gestaltungs­ spielraum des Normerzeugers“ auf der Stufe der materiell-rechtlichen Angemessen­ heitsprüfung sogar noch größer als bei den prognostischen Fragen der Erfoderlichkeit. 3  Hufen, Entstehung und Entwicklung der Grundrechte, NJW 1999, 1504 (1508); Hermes, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Die Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in den ­ erfahren ab dem Jahr 2016 hat ergeben, dass das Gericht mit folgenden Be­ V griffen ausschließlich Spielräume in materieller Hinsicht beschreibt: „Spiel­ raum“, „Ausgestaltungsspielraum“, „Handlungsspielraum“, „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum“, „Regelungsspielraum“, „Spiel­ raum politischen Ermessens“, „Bewertungsspielraum“, „Einschätzungs- und Beur­ teilungsspielraum“, „Einschätzungs- und Wertungsspielraum“, „Wertungs­ spielraum“, „Gestaltungsfreiheit“, „Handlungsfreiheit“, „Ermessen“ oder „Ge­ staltungsermessen“. Die Begriffe „Gestaltungsspielraum“, „Entscheidungs­ spiel­raum“, „Einschätzungsspielraum“, „Beurteilungs- und Gestaltungsspiel­ raum“, „Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum“, „Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum“, „Einschätzungsprärogative“ finden sowohl auf die materiell-rechtlichen aus als auch die tatsächlichen Spielräume Anwendung.

I. Kontrolldichte und materiell-rechtliche Spielräume Die Entscheidungen beschränken sich nicht auf die bloße Erwähnung der Spielräume in materiell-rechtlicher Sicht (ohne jedoch freilich ausdrücklich zu erwähnen, dass es sich um materiell-rechtliche Spielräume handelt), son­ dern das Bundesverfassungsgericht schließt aus diesen bestehenden oder auch nicht bestehenden Spielräumen u. a., dass es einen „strengen Prüfmaß­ stab“4 geben, dass das Bundesverfassungsgericht eine „strikte“5 oder „inten­ sive verfassungsgerichtliche Kontrolle“6 vornähme, dass die „Kontrolldichte hoch“7 sei oder dass der Gesetzgeber einer „eingeschränkten Kontrolle“8 unterliege. Die Verwendung dieser Begriffe sowie auch des Terminus „Einschätzungsprärogative“9 deutet darauf hin, dass es nicht nur in tatsäch­ lich-prognostischer Hinsicht, sondern auch in materiell-rechtlicher Hinsicht Rechtsfragen gibt, für deren Beantwortung der Gesetzgeber ein Vorrang in seiner Einschätzung hätte und dass das Bundesverfassungsgericht Gesetze mal strenger und mal weniger intensiv auf die Vereinbarkeit mit der Verfas­ Fachgerichtsbarkeit, VVDStRl 61 (2002), 119 (129); Lepsius, Dynamik, Legitimität, Differenz, Interpretation – Das Grundgesetz wird 70, RuP 55 (2019), 118 (125). 4  BVerfGE 151, 101 (Rn. 65) – Stiefkindadoption (2019); BVerfGE 151, 1 (Rn. 46) – Wahlrechtsausschluss (2019). 5  BVerfGE 146, 327 (Rn. 63) – Eventualstimme (2017). 6  BVerfGE 147, 186 (Rn. 81) – KiFöG-LSA (2017). 7  BVerfG NJW 2020, 905 (Rn.  266) – geschäftsmäßige Sterbehilfe (2020); BVerfGE 145, 304 (Rn. 104) – Ostbesoldung Besoldungsangleichung (2017). 8  BVerfGE 134, 242 (Rn. 171) – Braunkohletagebau (2013). 9  BVerfGE 146, 71 (Rn. 143) – Tarifeinheitsgesetz (2017); BVerfGE 147, 186 (Rn. 81) – KiFöG-LSA (2017); BVerfGE 138, 136 (Rn. 159) – Erbschaftssteuer (2014).



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 205

sung in materiell-rechtlicher Hinsicht kontrollieren dürfte. Auch die Literatur stellt immer wieder auf den Begriff der „Kontrolldichte“ bei materiell-recht­ lichen Spielräumen ab10 (freilich ebenso ohne deutlich zu machen, dass es sich um materiell-rechtliche Fragen handelt). Der „Vorrang“ des Gesetzgebers in tatsächlicher Hinsicht resultiert aus der Anerkennung einer Obliegenheit zur Tatsachenfeststellung und Prognoseer­ mittlung. Den Gesetzgeber trifft zwar keine dahingehende Verpflichtung, seine tatsächlichen Annahmen festzustellen und ein bestimmtes Verfahren zur Ermittlung der tatsächlichen Grundlagen zu wählen. Gleichwohl verdich­ ten sich die Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Verfahren dahingehend zu einer Obliegenheit, dass die Spielräume des Gesetzgebers größer und der Umfang der bundesverfassungsgerichtlichen Prüfung geringer werden, desto umfangreicher das Verfahren und die tatsächlichen Erkenntnisse ermittelt und begründet wurden11. Einen solchen Vorrang – und damit unterschiedliche Kontrolldichten – kann es in materiell-rechtlichen Fragen daher nur dann geben, wenn auch im Hinblick auf den materiell-rechtlichen Spielraum Obliegenheiten hinsichtlich des Verfahrens bestehen und die Erfüllung der Obliegenheiten aus diesem Grund zu einer Verringerung der Kontrolldichte bzw. eine Schlechterfüllung zu einer Erhöhung der Kontrolldichte führen würde. Analog zur Diskussion hinsichtlich der tatsächlichen Verfahrenspflichten im „inneren Gesetzge­ bungsverfahren“12 ist daher im Folgenden auch hinsichtlich der materiellrechtlichen Spielräume zu diskutieren, ob ein ordnungsgemäßes Verfahren dazu führt, dass durch die Einhaltung bestimmter Obliegenheiten dem Ge­ setzgeber einen Vorrang in der Beurteilung der materiell-rechtlichen Verhält­ nisse einzuräumen wäre, der durch den Begriff der Kontrolldichte beschrie­ ben werden könnte. Es geht damit um die Frage, ob es im Hinblick auf die Feststellung der materiell-rechtlichen Verfassungsgemäßheit Verfahrensoblie­ genheiten gibt. 10  So u. a. Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1984, § 34 Rn. 1672; Ossenbühl, Abwägung im Verfassungsrecht, DVBl. 1995, 904 (909); Walter, Hüter oder Wandler der Verfassung?, AöR 124 (2000), 517 (543); Lorz, Die Er­ höhung der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte gegenüber berufsrechtlichen Einschränkungen der Berufsfreiheit, NJW 2002, 169 (169); Möllers, Dogmatik der grundgesetzlichen Gewaltengliederung, AöR 132 (2007), 493 (534). 11  Siehe dazu unter Teil 4 C. I. 3. 12  Während die äußeren Verfahrensvorschriften des Aktes der Gesetzgebung ex­ plizit in Art. 76 ff. GG (Zuständigkeit, Mehrheitsprinzip, Beteiligung des Bundesrates, ordnungsgemäße Verkündung und Ausfertigung etc.) geregelt sind, versteht man unter den inneren Verfahrensvorschriften Anforderungen an die Methodik der Entschei­ dungsfindung, siehe dazu Teil 4 C. I. 1.

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

1. Verfahren als verfassungsrechtliche Vorgabe a) Obliegenheit im Hinblick auf materiell-rechtliche Spielräume In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist in diesem Zu­ sammenhang in jüngerer Vergangenheit insbesondere die Entscheidung zum Hartz-IV-Gesetz (2010) interessant, in der das Gericht feststellte, dass in materiell-rechtlicher Hinsicht eine Ergebniskontrolle nur schwer möglich sei13 (die Verfassung hierfür also nichts hergebe, m. a. W. dass diesbezüg­ lich ein großer Spielraum des Gesetzgebers bestehe). Daher müsse überprüft werden, ob nicht nur verlässliche Zahlen (Verfahrenspflichten im Hinblick auf das Tatsächliche), sondern auch ob schlüssige Berechnungsverfahren (Verfahrenspflichten im Hinblick auf die materiell-rechtliche Abwägungsent­ scheidung) verwendet wurden14. Den Gesetzgeber treffe daher eine „Oblie­ genheit“ die eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offenzulegen15. Über die Obliegenheit im Hinblick auf die Ermittlung der tatsächlichen Grundlagen und Prognosen hinaus stellt das Gericht somit eine – gleichfalls in der Literatur anerkannte16 – Obliegenheit auch hinsichtlich der materiel­ len Abwägungsentscheidung fest17. Als Begründung wird in der Literatur angeführt, dass das Gesetzgebungsverfahren kein rein politisches Verfahren sei, sondern der Gesetzgeber im Sinne einer präventiven Selbstkontrolle stets auch die Verfassungsgemäßheit des Gesetzes im Blick haben sollte. Ansons­ ten würden verfassungskonforme Gesetzesinhalte dem Zufall überlassen18. Eine solche Selbstkontrolle sei notwendig, um irreparable Verfassungsver­ stöße, die auch durch eine Aufhebung durch das Bundesverfassungsgericht nicht mehr rückgängig zu machen sind, zu verhindern19. Ebenso sei zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber schon deswegen zur Selbstkontrolle ermahnt sein müsse, weil nicht jedes Gesetz vom Verfassungsgericht über­

13  BVerfGE

125, 175 (Rn. 142) – Hartz-IV-Gesetz (2010). 125, 175 (Rn. 142) – Hartz-IV-Gesetz (2010). 15  BVerfGE 125, 175 (Rn. 144) – Hartz-IV-Gesetz (2010). 16  Kloepfer, Abwägungsregeln bei Satzungsgebung und Gesetzgebung, DVBl. 1995, 441 (448); in diesem Sinne auch Hofmann, Abwägung im Recht, 2008, S. 395 f.; Schwarz/Bravidor, Kunst der Gesetzgebung und Begründungspflichten des Gesetzge­ bers, JZ 2011, 653 (659) im Hinblick auf die Begründung von Gesetzen. 17  Dafür wohl auch Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S.  875  ff., 922 f. 18  Redeker/Karpenstein, Über Nutzen und Notwendigkeiten, Gesetze zu begrün­ den, NJW 2001, 2825 (2827); Reicherzer, Authentische Gesetzgebung, 2006, S. 439. 19  Reicherzer, Gesetzgebung (Fn. 18), S. 440. 14  BVerfGE



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 207

prüft werde20. Daher führe der bloße Verstoß gegen die Abwägungspflichten dazu, dass das Gesetz schon deshalb als verfassungswidrig verworfen werden kann21. Mag dies auf den ersten Blick auf ein übergriffiges Verhalten des Bundesverfassungsgerichts hindeuten, hätte dies im Ergebnis zur Folge, dass die gesetzgeberische Pflicht zur Abwägung im Parlament auch tatsächlich wahrgenommen würde. Das wiederum führe dazu, dass Gesetze nicht von Privaten vorgegeben werden könnten und damit im Ergebnis zu einem ver­ stärkten politischen Diskurs im Parlament und damit automatisch zur ge­ wünschten Entpolitisierung des Bundesverfassungsgerichts22. Diejenigen Vertreter solcher Ansichten, die bereits keine besonderen Ver­ fahrensanforderungen hinsichtlich der Ermittlung der tatsächlichen Grund­ lagen erkennen, stellen auch im Hinblick auf die materiell-rechtliche Abwä­ gung darauf ab, dass den Gesetzgeber keine Verfahrensanforderungen und Begründungspflichten hinsichtlich der Abwägungsentscheidung treffen23. Gleichlaufend liegt die Begründung hierfür in dem Umstand, dass das Grundgesetz schlicht keine derartigen Anforderungen stellt. Im Hinblick auf die materiell-rechtlichen Spielräume wird zudem ange­ führt, dass die aufgestellten Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Abwä­ gungsverfahren sowie an eine gesetzgeberische Begründung die fehlende Rationalität und große Widersprüchlichkeit des politischen Entscheidungs­ prozesses verkennen würden. Diese würden dazu führen, dass die geforderte Begründung genauso kompromissbehaftet daherkommen würde wie die Ge­ setzestexte selbst. Es entstünde damit eher Verwirrung denn Klarheit24 oder aber der Gesetzgeber würde zu Scheinbegründungen greifen25. Eine Be­ gründungspflicht müsse dann zwangläufig zu einem „infiniten Regress“ führen26.

20  Reicherzer,

Gesetzgebung (Fn. 18), S. 441. Gesetzgebung (Fn. 18), S. 442. 22  Reicherzer, Gesetzgebung (Fn. 18), S. 443, der gleichwohl auch den im Demo­ kratieprinzip wurzelnden politischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers anzuer­ kennen scheint und daher einen pragmatischen Ausgleich fordert, S. 447 ff. 23  So insbesondere Hebeler, Ist der Gesetzgeber verfassungsrechtlich verpflichtet, Gesetze zu begründen?, DÖV 2010, 754 (761). 24  Schulze-Fielitz, Wege, Umwege oder Holzwege zu besserer Gesetzgebung, JZ 2004, 862 (867); Schwarz/Bravidor, Kunst (Fn. 16), JZ 2011, 653 (658). 25  Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen (Fn. 17), S. 922. 26  Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, in: Depenheuer/ Isensee (Hrsg.), Staat im Wort, 2007, S. 325 (334). 21  Reicherzer,

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

b) Notwendigkeit einer differenzierenden Betrachtung Die Ansicht, dass der Gesetzgeber nicht zur Selbstkontrolle verpflichtet ist, überzeugt. Der Gesetzgeber ist nicht „Interpret und Kontrolleur“27, son­ dern vordergründing lediglich Interpret der Verfassung und das Bundesver­ fassungsgericht sein Kontrolleur. Der Gesetzgeber könnte seiner Interpretati­ onsrolle nicht ordnungsgemäß nachkommen, wenn er sich selbst ständig da­ durch beschränken würde, dass seine Gesetze möglicherweise verfassungs­ widrig sind. Richtigerweise ist der Gesetzgeber allein wegen Art. 20 Abs. 3 GG daran gebunden, verfassungsmäßige Gesetze zu erlassen. Wie er diese Pflicht erfüllt, ist jedoch allein ihm überlassen. Macht er Fehler, so sind diese vom Bundesverfassungsgericht zu kontrollieren und zu korrigieren. Hinsichtlich der Verfahrenspflichten ist daher zu differenzieren zwischen der materiell-rechtlichen Abwägungsentscheidung sowie der Tatsachen- und Prognoseentscheidung des Gesetzgebers. Hinsichtlich ersterer findet im Ge­ setzgebungsverfahren ein politischer Diskurs statt. Die der Abwägungsent­ scheidung zu Grunde liegenden Argumente und das Verfahren, in welchem diese ermittelt werden, zeichnen sich dadurch aus, dass es geradezu um den Kern des politischen Prozesses geht, um die Argumente, die zwischen den Parteien und Abgeordneten je nach politischer Ausrichtung in Streit stehen. Die Abwägungsentscheidung ist die ureigene politische Entscheidung, die sich auch am Zeitgeist und irrationalen Kriterien orientieren darf28 – nur so entsteht demokratische Legitimität29. Gesetzgebung ist gerade kein wissen­ schaftlicher Erkenntnisprozess, sondern ein politischer Prozess30. Dem Bun­ desverfassungsgericht ist es damit untersagt, sich in diesen argumentativen politischen Prozess einzumischen. Die Kontrolle des äußeren Gesetzgebungsverfahrens, insbesondere der Vorschriften der Art. 76 ff. GG, ist dagegen unbedingt ernst zu nehmen. Wäh­ rend ein Verzicht auf die Kontrolle des inneren Gesetzgebungsverfahrens Reicherzer, Gesetzgebung (Fn. 18), S. 439. Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 33 (49 f.); Stuttmann, Gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit und verfassungsrechtliche Kontrolle, 2014, S. 169; Brunn, Gesetzgebung und Grundgesetz, 2. Aufl. 2018, S. 158. 29  In diesem Sinne Schönberger, Die Stunde der Politik (29.3.2020), VerfBlog, https://verfassungsblog.de/die-stunde-der-politik/ (22.9.2020), die damit schon am Anfang der Corona-Krise 2020 auf die Notwendigkeit des demokratischen Diskurses über die die verordneten Corona-Maßnahmen hinwies. Demonstrationen von Gegnern der Maßnahmen und Corona-Leugnern, die ganz und gar irrationale Meinungen zum Gegenstand hatten, waren auch Folgen eines solchen zum Teil fehlenden Diskurses. 30  Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), 630 (641). 27  So

28  Ossenbühl,



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 209

bedeutet, dem Gesetzgeber gerade seine politische Handlungsfreiheit zu las­ sen, sind es die äußeren Verfahrensrechte, die erst das Funktionieren dieses politischen Prozesses möglich machen31. Das Bundesverfassungsgericht ist jedoch bei der Überprüfung von Verfahrensvorschriften regelmäßig äußerst zurückhaltend und scheint dem Gesetzgeber gerade im Vergleich zur mate­ riellen Grundrechtskontrolle mehr Spielräume zu lassen32. Die tatsächliche Prognoseentscheidung wiederum ist in ihrem Kern unpo­ litisch. Sie hat keine politische Bewertung zum Gegenstand, sondern richtet sich vielmehr an der Überzeugung der Wahrscheinlichkeit des Eintrittes be­ stimmter Umstände aus, als nach bestimmten politischen Wertauffassungen. Bereits unabhängig von der Frage, ob dem Bundesverfassungsgericht oder dem Gesetzgeber die Kompetenz zur Bestimmung der Prognose zukommt, ist zu beachten, dass eine richtige Prognose gar nicht möglich ist. Daher kommt dem inneren Verfahren zur Bestimmung der Prognosen eine wichtige Bedeutung zu. Hier liegt der entscheidende Unterschied zu den Verfahrens­ pflichten im Hinblick auf die materiell-rechtliche Abwägung. Bei dieser gibt es keine „unsicheren“ Entscheidungen. Damit ist eine Obliegenheit lediglich zur Tatsachen- und Prognosefeststel­ lung anzuerkennen, Verfahrensanforderungen an die materiell-rechtliche Ab­ wägungsentscheidung bestehen nicht. Entscheidend sind nach dem Grundge­ setz allein die formelle und materielle Verfassungsgemäßheit des Gesetzes, nicht aber die argumentative Konsistenz oder bestimmte Verhaltenswei­ sen33. Normenkontrolle bedeutet die Kontrolle der Norm und nicht die des optimierten Gesetzgebungsverfahrens34. Festgestellt werden Verfassungs­ mängel des Gesetzes, nicht Verfassungsunrecht des Gesetzgebers35. Es ist damit das Gesetz und nicht der Gesetzgeber, der vor Gericht steht.

31  Dazu auch Lepsius, Rechtswissenschaft in der Demokratie, Der Staat 52 (2013), 157 (178). 32  Hölscheidt/Menzenbach, Das Gesetz ist das Ziel: Zum Zusammenhang zwi­ schen gutem Verfahren und gutem Gesetz, DÖV 2008, 139 (141); mit diversen Nach­ weisen der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts siehe auch bei Lepsius, Rechtswissenschaft (Fn. 31), Der Staat 52 (2013), 157 (178). 33  Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen. Be­ steuerung und Eigentum., VVDStRl 39 (1981), 99 (144); Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 171; Kessel, Die Kontrolldichte der Normenkontrolle in Skandinavien aus deutscher Sicht, 2011, S. 116; Schulze, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung, in: Fadeev/Schulze (Hrsg.), Verfas­ sungsgerichtsbarkeit in der Russischen Föderation und in der Bundesrepublik Deutschland, 2013, S. 69 (73). 34  Gusy, Das Grundgesetz als normative Gesetzgebungslehre?, ZRP 1985, 291 (298). 35  Steiner, Der Richter als Ersatzgesetzgeber, NJW 2001, 2919 (2920).

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

2. Ergebnis Die unterschiedliche Strenge von Prüfmaßstäben resultierte hinsichtlich der tatsächlichen Spielräume daraus, dass die Einschätzung der tatsächlichen Situation, insbesondere diejenigen der zukünftigen tatsächlichen Situation, unsicher ist und dem Gesetzgeber aus demokratischer Sicht ein Vorrang hin­ sichtlich dieser Einschätzung zukommt – welchen er dadurch ausfüllen kann, indem er besonderen Anforderungen an das Verfahren nachkommt. Die Prü­ fung des Bundesverfassungsgerichts ist dann eingeschränkt, die Kontrolle weniger „dicht“. Hinsichtlich der Kontrolle von materiell-rechtlichen Spielräumen findet jedoch keine Kontrolle eines inneren Verfahrens statt. Es gibt keinen Ein­ schätzungsvorrang oder Prärogative des Gesetzgebers, keine intensive und weniger strikte Kontrolle. Es gibt auch keine Obliegenheitskontrolle, sondern es gibt schlicht eine Ergebnis-, keine Verhaltenskontrolle36. Daraus folgt für die materiell-rechtliche Überprüfung: „Nicht das Gericht, sondern die Verfassung als Prüfungsmaßstab ist entweder zurückgreifend oder deutlich greifend“37. Die rechtliche Entscheidung ist eine solche, die von vielen Wertungen abhängig ist und damit zwar auch eine solche Entscheidung (wie die Tatsachenfrage), die nicht „wahr“ oder „unwahr“ sein kann. Sie kann – im Gegensatz zur Tatsachenfrage – jedoch niemals „unsicher“ sein. Die rechtliche Bewertung ist vielmehr stets sicher, stets abschließend. Die Frage, inwiefern die Norm in rechtlicher Hinsicht vom Grundgesetz gedeckt ist, unterliegt daher der uneingeschränkten verfassungsgerichtlichen Kontrol­le38, es gibt keine unterschiedlich intensive Kontrolldichten.

II. Bestimmung materiell-rechtlicher Spielräume Die Feststellung, dass die materiell-rechtlichen Spielräume nicht unter­ schiedlich streng kontrolliert werden und dass es damit keine variierenden Kontrolldichten gibt, bedeutet jedoch nicht, dass der Gesetzgeber hinsichtlich seiner materiell-rechtlichen Entscheidungen keinen Spielraum hätte, der un­ terschiedlich weit sein kann. In der Rechtsprechung des Gerichts ab 2016 stehen 31 Erwähnungen eines besonders weiten Spielraums nur zehn Erwähnungen eines besonders gerin­ 36  Anders Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1984, § 34 Rn. 1673. 37  Schlaich, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 33), VVDStRl 39 (1981), 99 (112). 38  In dieser Eindeutigkeit Heun, Normenkontrolle, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 615 (631).



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 211

gen Spielraums bzw. strikter Kontrolle39 gegenüber. Die Weite des Spiel­ raums kann sich jeweils nur aus den Normen der Verfassung selbst ergeben, die als Rahmenordnung die Grenzen setzt, innerhalb der der Gesetzgeber einen Spielraum zum politischen Handeln hat. Es ist damit nach Kriterien zu suchen, die helfen, die Reichweite des Rahmens zu bestimmen und materiellrechtliche Spielräume zu systematisieren. 1. Allgemeine Vorfragen einer Systematisierung a) Funktionell-rechtliche Unterscheidung von Handlungs- und Kontrollnorm aa) Der Maßstab Die Unterscheidung zwischen Handlungs- und Kontrollnorm (auch Hand­ lungs- und Kontrolldichte oder Handlungs- und Kontrollmaßstab) ist als ein Unterfall der Abgrenzung nach funktionell-rechtlichen Argumenten zu ver­ stehen40. Danach sei die Bindung des Gesetzgebers durch die Handlungs­ norm strenger als jene durch die Kontrollnorm, die Maßstab für das Bundes­ verfassungsgericht ist41. Das Grundrecht sei somit strenger als die verfas­ sungsrechtliche Kontrolle. Es ergäben sich mithin Räume, die der Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht nicht zugänglich seien. Im Ergebnis geht die Differenzierung zwischen Handlungs- und Kontrollnorm damit nur insoweit über die Figur des Judicial Self-Restraint hinaus, als dass die Unter­ scheidung zwischen Kontrollmaßstab und Kontrolldichte nicht mehr freiwil­ lig vorgenommen wird, sondern bereits vorgegeben ist42. Die Differenzierung zwischen Handlungs- und Kontrollnorm wurde insbe­ sondere aus der ursprünglichen Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 1 GG herge­ leitet, wonach im Hinblick auf die Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG lediglich eine Willkür-Prüfung stattfindet, auf die sich das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich seines Kontrollmaßstabes zu beschränken habe. Diese Recht­ sprechung wurde jedoch teilweise aufgegeben. Die sog. Neue Formel erfor­ dert, dass Verletzungen des Art. 3 Abs. 1 GG einer Verhältnismäßigkeitsprü­ fung unterzogen werden. Bereits dadurch hat auch die Bedeutung der Hand­

39  Es wurde bereits festgestellt, dass der Begriff der „strikten“ Kontrolle falsch ist, richtigerweise geht es um einen engen Spielraum. 40  Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 158; Korioth/Schlaich, Das Bun­ desverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 515 f. 41  Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 207. 42  Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, 2014, S. 508.

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

lungs- und Kontrollnormdifferenzierung verloren43. Anderen Auffassungen zufolge besteht ein Unterschied zwischen Handlungs- und Kontrollnorm nur bei der verfassungsrechtlichen Kontrolle der Wahrnehmung von grundrecht­ lichen Schutzpflichten44. bb) Bewertung Die Trennung zwischen Handlungs- und Kontrollnorm beschreibt die ver­ fassungsrechtlichen Spielräume des Gesetzgebers unzureichend. Sie geht von der Annahme aus, dass der Gesetzgeber solche Entscheidungen treffen kann, die das Bundesverfassungsgericht nicht kontrollieren darf, der Gesetzgeber mit dieser Entscheidung aber gleichwohl einen Verfassungsverstoß begehen kann. Dies führt dazu, dass die Entscheidung eigentlich verfassungswidrig ist, aber nicht aufgehoben werden kann. Die Verfassung wird zum bloßen Programmsatz, zum „soft law“ verklärt45. Es ist jedoch gerade nicht Absicht des Grundgesetzes und der mit ihm eingerichteten Funktion des Bundesverfassungsgerichts, dass verfassungs­ widrige Zustände geduldet werden dürften. Eine solche Auslegung steht nicht mit Art. 1 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 93 GG sowie mit Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 100 GG in Einklang, nach denen die Verfassungsbindung des Gesetzge­ bers vollumfänglich durch das Bundesverfassungsgericht durchzusetzen ist und dabei keine Einschränkungen zu machen sind46. Ein solches Verfas­ sungsverständnis deckt sich darüber hinaus auch insbesondere nicht mit den historischen Erfahrungen mit programmatischen Verfassungen in Deutsch­ land47. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten bewusst ein starkes Verfassungsgericht. Eine Trennung zwischen kompetenzieller und materiell-rechtlicher Norm ergibt sich damit aus dem Grundgesetz nicht48. Der Gesetzgeber hat einen 43  Lange,

Grundrechtsbindung des Gesetzgebers, 2010, S. 236. Kontrolle (Fn. 2), S. 557. 45  Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen (Fn. 17), S. 411. 46  Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, Der Staat 29 (1990), 1 (27); Bickenbach, Einschätzungsprärogative (Fn. 42), S. 505. 47  Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen (Fn. 17), S. 411. 48  So auch Böckenförde, Grundrechte (Fn. 46), Der Staat 29 (1990), 1 (26); Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1992, S. 48; Klein, Der demokratische Grundrechtsstaat, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1995/I; Deutschlands Verfassung, 1995, S. 81 (89 f.); Heusch, Verfassungsgerichtliche Geset­ zeskontrolle, in: Kluth/Augsberg (Hrsg.), Gesetzgebung. Rechtsetzung durch Parla­ mente und Verwaltungen sowie ihre gerichtliche Kontrolle, 2014, S. 909 (951); Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 271 Rn. 15. 44  Hesse,



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 213

Spielraum, der ihm verfassungsrechtlich explizit eingeräumt ist. Er begeht dadurch, dass er innerhalb dieses Spielraumes agiert, keinen Verfassungs­ bruch. Insgesamt versucht die Unterscheidung zwischen Handlungs- und Kon­ trollnorm einen Erklärungsansatz für Spielräume des Gesetzgebers zu geben, hilft bei der Bestimmung der konkreten Reichweite dieser Spielräume jedoch nicht weiter49. Die Differenzierung zwischen Handlungs- und Kontrollnorm steht im engen Zusammenhang mit dem bereits diskutierten Begriff der Kon­ trolldichte50. Diese Differenzierung – d. h. dass die Kontrolldichte mal we­ niger umfassender und mal greifender sei – ergibt Sinn, wenn man anerkennt, dass es einen Unterschied zwischen Handlungs- und Kontrollnorm gibt. Folgt man jedoch der hier skizzierten Ansicht und lehnt eine derartige Diffe­ renzierung ab, dann ist die Verwendung des Begriffes der Kontrolldichte je­ denfalls missverständlich. Es geht nicht darum, dass der Gesetzgeber je nach Sachbereich unterschiedlich „intensiv“ kontrolliert wird (was auf eine nicht immer vollständig am Grundgesetz orientierte Prüfung hinauslaufen könnte), sondern der Begriff der Kontrolldichte beschreibt lediglich die unterschied­ liche Reichweite verschiedener gesetzgeberischer Spielräume, die sich aus dem Grundgesetz ergeben. Ob sich die Entscheidungen innerhalb dieser Spielräume bewegen, wird jedoch stets gleich intensiv bzw. mit voller Inten­ sität geprüft. Die Vorgaben für den Gesetzgeber als auch für das Bundesver­ fassungsgericht sind inhaltlich identisch51. b) Rangordnung von Rechtsgütern Der Einfluss eines besonderen Gewichtes von bestimmten Grundrechten auf den Spielraum des Gesetzgebers wurde bereits im Rahmen der tatsäch­ lichen Spielräume diskutiert52. Ging es hinsichtlich der tatsächlichen Spiel­ 49  Im Ergebnis dürften aber auch diejenigen Vertreter, die zwischen Handlungsund Kontrollnorm unterschieden den Unterschied in der Reichweite in den funktio­ nell-rechtlichen Grenzen sehen. Dass vorliegend eher die Begriffe in Streit stehen, zeigt sich bei Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 41), S. 304 ff., indem er erst aus­ führt, dass eine „Reduktion“ im funktionell-rechtlichen Sinne die normative Kraft der Verfassung gefährden würde (S. 304), die Abgrenzung der Kompetenzen von Bundes­ verfassungsgericht und anderen Organen somit nicht durch eine Reduktion des Ver­ fassungsinhaltes nach funktionell-rechtlichen Kriterien möglich sei (S. 306) und daher zwischen Handlungs- und Kontrollmaßstab unterschieden werden müsse (S. 307), diese Unterscheidung aber ebenso als „Zurücknahme“ bezeichnet (S. 307, 308). 50  Siehe unter Teil 4 B. II. 3. 51  Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), 174 (187); Heusch, Gesetzeskontrolle (Fn. 48), S. 951. 52  Siehe Teil 4 C. IV. 2. c).

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

räume darum, ob die abstrakte Schwere eines Rechtsgutes lediglich bezogen auf eine singuläre, ganz bestimmte Tatsachenfrage Einfluss hat, geht es nunmehr darum, ob bei der Abwägung von gegenläufigen Grundrechtsposi­ tionen im Rahmen der Angemessenheitsprüfung bestimmte Grundrechtsposi­ tionen höher zu gewichten sind. Die allgemeine Feststellung, dass in Literatur und Rechtsprechung be­ stimmte Kriterien zur Bestimmung gesetzgeberischer Spielräume gleicher­ maßen auf tatsächliche und materiell-rechtliche Spielräume übertragen wer­ den, gilt auch hinsichtlich der Frage danach, ob eine Hierarchie von Grund­ rechten diese Spielräume beeinflussen: Die von der Literatur zitierte Recht­ sprechung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Grundrechtsschwere bei materiell-rechtlichen Spielräumen beschäftigt sich bei genauerer Betrach­ tung zumeist mit den tatsächlichen Spielräumen. Das Bundesverfassungsge­ richt betont „das hohe Gewicht, das dem Schutz des menschlichen Lebens und der menschlichen Gesundheit in der Werteordnung des Grundgesetzes zukommt“53 insbesondere dort, wo es darum geht, die Plausibilität von Prognosen zu überprüfen. Es spricht dabei jedoch nicht von einer Hierarchie. Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur „Höher­ gewichtung“ einiger Grundrechte im tatsächlichen Bereich ist, dass Ein­ schränkungen der Rechtsgüter Leben und Gesundheit nicht mehr rückgängig zu machen sind und daher ein besonderer Sicherheitsgrad zu fordern ist, ein „Experimentieren“ ist eben nicht zulässig54. Die hohe Gewichtung dieses Grundrechtes hatte damit nur abstrakt zur Folge, dass hohe Anforderungen an die Tatsachenfeststellung zu stellen sind – mit ihr ist jedoch keine Aus­ sage darüber verbunden, dass bei einer Abwägung mit einem anderen Grund­ recht dieses Grundrecht vorgehen würde. Normativ stehen die Grundrechte nämlich auf ein und derselben Rang­ stufe55. Grundrechte können daher grundsätzlich nicht abstrakt abgewogen werden, sondern Rechtspositionen werden erst in der Sachverhaltskonkre­ tisierung abwägungsfähig56. Eine Grundrechtshierarchie hinsichtlich der ma­ teriell-rechtlichen Spielräume kann allenfalls in engen Grenzen angenommen werden57. Nicht nur die exponierte Stellung der Menschenwürde macht diese 53  BVerfGE 110, 141 (Rn. 79) – Kampfhunde (2004); BVerfGE 121, 317 (Rn. 111) – Rauchverbot (2008). 54  BVerfGE 39, 1 (Rn. 188) – Schwangerschaftsabbruch I (1975). 55  Lepsius, Abwägung (Version 22.10.2019, 17:30 Uhr), in: Staatslexikon online, https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Abw%C3%A4gung (22.9.2020). 56  Lepsius, Abwägung (Fn. 55). 57  Anders z. B. Klatt/Meister, Verhältnismäßigkeit als universelles Verfassungs­ prinzip, Der Staat 51 (2012), 159 (165), die anerkennen, dass es denkbar sei, neben der Menschenwürde auch dem Recht auf Leben ein abstrakt höheres Gewicht als beispielsweise dem Eigentum zuordnen.



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 215

abwägungsfest, sondern gegebenenfalls in bestimmten Konstellationen auch mit diesem Wert in Verbindung stehende andere Rechtsgüter wie das Le­ ben58 – es gibt allerdings auch Ausnahmen, man denke an die Notwehrkons­ tellationen. c) Verhältnis der Spielräume zueinander Der verfassungsrechtliche Überprüfungsprozess ist in zwei Stufen zu un­ terteilen. Einen solchen Vorschlag macht auch Mengel, wenn er auf der ers­ ten Stufe das „Procedere“ (welches dem Gericht transparent gemacht werden müsse) überprüfen und in der zweiten Stufe eine inhaltliche Überprüfung vornehmen möchte59. In dieser zweiten Stufe könne das Gericht bei ord­ nungsgemäßer Erfüllung der Anforderungen der ersten Stufe darauf verzich­ ten, zu prüfen, ob die gefundene Lösung geeignet, erforderlich, verhältnismä­ ßig oder systemgerecht ist60. Wenn die Anforderungen an die erste Stufe jedoch nicht erfüllt seien, dann müsse das Gesetz für verfassungswidrig er­ klärt werden. Mengel beschreibt damit zutreffend, dass es eine der materiellrechtlichen Prüfung vorgelagerte Prüfung gibt. Auch der in dieser Arbeit entwickelte Ansatz vertritt insofern eine zweistufige Prüfung. Entscheidender Unterschied ist jedoch, dass der hier vertretene Ansatz nicht zwischen mate­ rieller Prüfung und Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren unter­ scheidet, sondern zwischen materiell-rechtlicher Prüfung und Prüfung der dem Gesetz zu Grunde liegenden Tatsachen und Prognosen. Während der von Mengel vertretene Ansatz die jeweiligen Stufen miteinander vermischt und die materielle Prüfung auf eine Evidenz-Prüfung beschränkt, wenn die Verfahrensvoraussetzungen eingehalten sind, wird im hier vertretenen Ansatz die Prüfung der ersten Stufe (der tatsächlichen Grundlagen und Prognosen) selbst dadurch beschränkt (ein ordnungsgemäßes Verfahren ist nicht Pflicht, aber Obliegenheit und führt zu einer Plausibilität der tatsächlichen Annah­ men). Erst diese Selbstbeschränkung nimmt dann Einfluss auf die materielle Prüfung, weil diese mit den festgestellten Annahmen und Prognosen zu ar­ beiten hat. Diese materiell-rechtliche Prüfung bleibt dann aber vollumfäng­ lich und wird nicht auf einen Evidenzmaßstab o. Ä. beschränkt. Damit ist der Grundrechtsschutz des Einzelnen (der sich insbesondere in der Abwägung der materiellen Prüfung widerspiegelt) weiterhin vollumfänglich gewährleis­ tet. Gleichzeitig gewinnt der Gesetzgeber an Entscheidungsfreiheit, wenn er ein ordnungsgemäßes Verfahren wählt. Er muss dies aber nicht, weil in der verfassungsgerichtlichen Prüfung das Gesetz an sich, nicht aber (wie in Men­ 58  Siehe

Teil 4 C IV. 2. c). Gesetzgebung und Verfahren, 1997, S. 375. 60  Mengel, Gesetzgebung (Fn. 59), S. 376. 59  Mengel,

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

gels Vorschlag) der Gesetzgeber im Mittelpunkt der Prüfung steht. Daher verbietet sich auch die Annahme, dass Mängel im formellen Verfahren zur Verfassungswidrigkeit führen. Vielmehr führen Mängel in diesem Verfahren (und sodann auch nur solche, die die Ermittlung von Tatsachen und Progno­ sen dienen) lediglich zu einer Verringerung der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers im Hinblick auf diese tatsächlichen Umstände. Materiell-rechtlicher und tatsächlich prognostischer Spielraum sind somit grundsätzlich getrennt voneinander zu betrachten. Der verengte gesetzgeberi­ sche Spielraum in der Prognoseentscheidung wirkt sich mittelbar jedoch zum Teil ganz erheblich auch auf die Abwägungsentscheidung aus, die mit den durch die Überprüfung der Prognose festgestellten Annahmen zu arbeiten hat. Steht in tatsächlich-prognostischer Hinsicht beispielsweise sicher fest, dass ein Eingriff das Leben beeinträchtigt und wird in materiell-rechtlicher Hinsicht der absolute Wert des Lebens mit anderen Rechtsgütern, beispiels­ weise dem Eigentum, abgewogen, dürfte diese Abwägung zu Gunsten des Lebens ausgehen. Zumeist werden aber nicht absolute Rechtsgüter bzw. der sichere Eintritt eines Ereignisses abgewogen, sondern Risiken. Es ist damit nicht das Gewicht der Rechtsgutsverletzung, welches von allgemeiner Bedeutung für die Abwägung ist, sondern die im Rahmen der Prüfung der tatsächlich-prognostischen ermittelte Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts. Insofern beeinflusst die Feststellung der tatsächlich-prog­ nostischen Verhältnisse in erheblicher Weise auch den materiell-rechtlichen Spielraum des Gesetzgebers. Insofern das Bundesverfassungsgericht auf der Stufe der materiell-rechtlichen Spielräume einen tendenziell umfassenderen Spielraum hat, scheint das Gericht seine Fälle auch am liebsten auf der Stufe der Angemessenheit lösen zu wollen. Kann das Gericht jedoch den Fall we­ niger gut auf dieser Ebene lösen, weicht es darauf aus, erhöhte Tatsachenan­ forderungen festzulegen61. 2. Systematisierung der Spielräume Über die Frage nach der ermittelten Wahrscheinlichkeit hinaus lassen sich jedoch auch weitere abstrakte Kriterien ausmachen, nach denen gesetzgebe­ rische Spielräume systematisiert werden können. Diese – und das soll exem­ plarisch anhand der Rechtsprechung der vergangenen Jahre aufgezeigt wer­ den – orientieren sich insbesondere daran, welche Dimension und Funktion der Verfassung, insbesondere der Grundrechte, betroffen ist. Es ist zu unter­ teilen in die Abwehrfunktion der Freiheitsgrundrechte, ihre Leistungsfunk­ 61  Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Jestaedt et al., Das entgrenzte Ge­ richt. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011, S.  159 (206 ff.).



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 217

tionen, Gleichheitsgrundrechte und andere verfassungsrechtliche Struktur­ prinzipien. a) Abwehrfunktion der Freiheitsgrundrechte aa) Bestandsaufnahme der aktuellen Rechtsprechung Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der vergangenen Jahre hinsichtlich zugestandener Spielräume bei der Prüfung von Eingriffen in Freiheitsgrundrechte ist äußerst zurückhaltend. Sinnvoll ist es, danach zu differenzieren, in welcher Rechtfertigungssituation sich der Gesetzgeber beim Eingriff in die Freiheitsgrundrechte befindet. (1) Abwehrrechte kollidieren mit bloß legitimen Zielen (a) Bundesverfassungsgerichtsrechtsprechung Bei der in Teil 4 B. vorgenommenen Untersuchung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im exemplarischen Zeitraum seit 2016 wurde bereits darauf hingewiesen, dass nur wenige Entscheidungen überhaupt ohne eine Erwähnung eines dem Gesetzgeber zustehenden Spielraumes auskom­ men62. Diese Entscheidungen betreffen sämtlich solche Entscheidungen, in denen Eingriffe in Abwehrrechte zur Debatte standen. Zwei dieser Entscheidungen betreffen dabei Eingriffe in die Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG. Dabei wurde der Eingriff jeweils mit dem eher abstrakten legitimen Ziel der funktionierenden Rechtspflege gerechtfertigt: Weder in der Entscheidung zur Insolvenzverwalterbestellung63 noch in der Sozietätsverbot-Entscheidung64 ging das Gericht auf dem Gesetzgeber zu­ stehende Spielräume ein – lediglich in letzterer Entscheidung räumt das Ge­ richt dem Gesetzgeber im Rahmen der Bestimmung des legitimen Zwecks indirekt einen gewissen Spielraum ein, wenn es davon spricht, dass es ge­ nüge, wenn der Gesetzgeber sich bei der Auswahl des legitimen Zwecks von „vernünftigen Erwägungen“65 leiten lasse. Im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit wird der Spielraum des Gesetzgebers jedoch auch in diesem Fall nicht näher spezifiziert, sodass hieraus zu schließen ist, dass das Bun­ desverfassungsgericht kaum Spielräume des Gesetzgebers sieht. 62  Siehe

dazu Teil 4 B. I. 141, 121 – Insolvenzverwalterbestellung (2016). 64  BVerfGE 141, 82 – Sozietätsverbot (2016). 65  BVerfGE 141, 82 (Rn. 52) – Sozietätsverbot (2016). 63  BVerfGE

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Weiter formuliert das Bundesverfassungsgericht auch in der Entscheidung zum Dritten Geschlecht keine Spielräume. Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, dass die Regelung des Personenstandregisters, welche vorsieht, dass lediglich eine Eintragung als Mann oder Frau möglich ist, das allge­ meine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) verletzt und nicht gerechtfertigt werden kann66. Dies resultiere daher, dass das Gesetz zwar noch einen legitimen Ordnungszweck verfolge (das Bundesverfas­ sungsgericht geht mithin auch hier von einem grundsätzlich weiten Spiel­ raum hinsichtlich der Auswahl des legitimen Zwecks aus), dieser aber jeden­ falls nicht verfassungsrechtlich verpflichtend ist („Das Grundgesetz gebietet nicht, den Personenstand hinsichtlich des Geschlechts ausschließlich binär zu regeln“67). Der eher gering zu bewertende legitime Zweck korreliert damit auch hier mit einem geringen (noch nicht einmal erwähnenswerten) Spiel­ raum des Gesetzgebers in der sodann vorzunehmenden Abwägung von Rechtsgütern. Gleiches gilt für die Entscheidung zur Kfz-Kennzeichenkon­ trolle Baden-Württemberg und Hessen, in der kein Spielraum des Gesetzge­ bers erwähnt wurde. Gegentand der Entscheidung war, dass der Gesetzgeber bereits im Hinblick auf die Abwehr „jeder“ Gefahr das Allgemeine Persön­ lichkeitsrecht einschränken wollte. Geboten war jedoch der „Schutz von Rechtsgütern von zumindest erheblichem Gewicht“68. Dazu passt auch, dass in der Parallel-Entscheidung Kfz-Kennzeichenkontrollen Bayern lediglich einmal eher beiläufig die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers erwähnt wurde69 und ansonsten ebenso die „Beschränkung solcher Kontrollen auf den Schutz von Rechtsgütern von zumindest erheblichem Gewicht“ gefordert wurde70. (b) Zwischenergebnis Diese Analyse ergibt, dass zunächst im Rahmen der Feststellung des legi­ timen Zwecks ein größerer Spielraum des Gesetzgebers besteht. Es reicht, wenn der Gesetzgeber lediglich „vernünftige Erwägungen“71 zu Grunde legt, die jedoch nicht unmittelbar verfassungsrechtlich verankert sein müssen72. 66  BVerfGE

147, 1 (Rn. 36 ff.) – Drittes Geschlecht (2017). 147, 1 (Rn. 50) – Drittes Geschlecht (2017). 68  BVerfGE 150, 309 (Rn. 73) – Kfz-Kennzeichenkontrolle BW-HE (2018). 69  BVerfGE 150, 244 (Rn. 146) – Kfz-Kennzeichenkontrollen BY (2019). 70  BVerfGE 150, 244 (Rn. 104) – Kfz-Kennzeichenkontrollen BY (2019). 71  BVerfGE 141, 82 (Rn. 52) – Sozietätsverbot (2016). 72  Weitere Beispiele (mit entsprechenden Verweisen) listet Ossenbühl (Fn. 10), DVBl. 1995, 904 (907) auf: Erhaltung und Pflgege eines hohen Leistugnsstandes des Handwerks, Erhaltung eines leistungsfähigen einheimischen Winzerstandes, Erhal­ tung einer funktionierenden Steuerrechtspflege. 67  BVerfGE



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 219

Hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung der Regelung und damit der Ver­ hältnismäßigkeit im engeren Sinne gilt, dass sich mit einem weniger gewich­ tigen legitimen Ziel jedoch der Spielraum für zulässige Maßnahmen verklei­ nert. Dort, wo einseitige Freiheitseingriffe des Staates zur Debatte stehen und mit „bloß“ legitimen Zwecken gerechtfertigt werden, ist der Spielraum des Gesetzgebers besonders klein. (2) Freiheitsrechte kollidieren mit verfassungsunmittelbaren Rechtsgütern Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass sich der Spielraum des Gesetzge­ bers trotz Eingriffes in Freiheitsgrundrechte dort abbildet, wo nicht nur ir­ gendein legitimer Grund den Eingriff rechtfertigt, sondern wo der legitime Grund ein verfassungsunmittelbarer ist. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn exklusive und individuelle Güter statt abstrakter öffentlicher Güter zur Debatte stehen sowie in solchen Fällen, in denen von verschiedenen Seiten Eingriffe des Staates drohen. (a) Rechtsprechung des Gerichts Diese Einschätzung wird durch die der Analyse der Rechtsprechung des Gerichts ab 2016 bestätigt. (aa) Kollidierende Grundrechtspositionen In der Entscheidung zum Sampling sprach das Gericht dem Gesetzgeber einen weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum zu73 und begründete dies damit, dass es sich bei den streitgegenständlichen privatrechtlichen Re­ gelungen um keine „einseitige[n] Eingriffe des Staates in die Freiheitsaus­ übung Privater handelt, sondern um einen Ausgleich, bei dem die Freiheit der einen mit der Freiheit der anderen in Einklang zu bringen ist“74. Dabei müssten die kollidierenden Grundrechtspositionen in ihrer Wechselwirkung erfasst und nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz so in Ausgleich gebracht werden, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden75. Insofern vorliegend Art. 12 Abs. 1 GG mit Art. 14 Abs. 1 GG kol­ lidiere, stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass es „im Einzelnen Sa­ che des Gesetzgebers [sei,] im Rahmen der inhaltlichen Ausgestaltung des Leistungsschutzrechts nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG sachgerechte Maßstäbe 73  BVerfGE

142, 74 (Rn. 72) – Sampling (2016). 142, 74 (Rn. 70) – Sampling (2016). 75  BVerfGE 142, 74 (Rn. 70) – Sampling (2016). 74  BVerfGE

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

festzulegen“76. Dabei habe er einen weiten Beurteilungs- und Gestaltungs­ spielraum77. Ein solcher Ausgleich zwischen kollidierenden Grundrechtspositionen war auch in der Regelung zum Tarifeinheitsgesetz notwendig. Im Rahmen der Feststellung der grundsätzlichen Möglichkeit der Einschränkung des Grund­ rechtes aus Art. 9 Abs. 3 GG (Koalitionsfreiheit) begründete das Gericht, dass der Gesetzgeber bei der Regelung der Strukturbedingungen der Tarif­ autonomie über eine Einschätzungsprärogative und einen weiten Handlungs­ spielraum verfüge. Das Grundgesetz schreibe nicht vor, wie „Grundrechts­ positionen im Einzelnen abzugrenzen sind“. Es verlange auch „keine Opti­ mierung der Kampfbedingungen“78. Bei der „Ausgestaltung der Koalitions­ freiheit“79 sei zu berücksichtigen, dass mit der Regelung zum Nachteil der einen Tarifpartei zugleich die andere Tarifpartei berührt wird. Das Bundes­ verfassungsgericht führte aus, dass der Gesetzgeber „eine Einschätzungsprä­ rogative und Gestaltungsspielraum beim Ausgleich der sich gegenüberste­ henden Rechte“80 habe, den der Gesetzgeber nicht überschritten hätte. Einen „weiten Gestaltungsspielraum“ betonte das Gericht auch hinsichtlich der Regelung des Wissenschaftsbetriebes und den nur durch verfassungsimma­ nente Schranken einschränkbaren Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG81. (bb) Aufeinandertreffen mit einem Verfassungsprinzip Einen Spielraum erkennt das Gericht nicht nur bei der Ausgestaltung von privaten Rechtsbeziehungen hinsichtlich zweier Grundrechtspositionen an, sondern auch beim Aufeinandertreffen eines Freiheitsrechts mit einem ver­ fassungsrechtlichen Strukturprinzip. Rahmen der Entscheidung zur Pflicht­ mitgliedschaft in der IHK82 war. Gegenstand der Entscheidung Pflichtmit­ gliedschaft IHK war beispielsweise die Frage, ob der durch die Verpflichtung zur Mitgliedschaft in der IHK eingetretene Eingriff in die allgemeine Hand­ lungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG mit Verweis auf das Demokratieprinzip gerechtfertigt werden kann. Zunächst betonte das Gericht auch in dieser Entscheidung, dass der Gesetzgeber einen großen Spielraum hinsichtlich der Auswahl des legitimen Zwecks habe. Der Gesetzgeber habe ein „weites Er­ 76  BVerfGE 77  BVerfGE 78  BVerfGE 79  BVerfGE 80  BVerfGE 81  BVerfGE 82  BVerfGE

142, 142, 146, 146, 146, 149, 146,

74 (Rn. 72) – Sampling (2016). 74 (Rn. 72) – Sampling (2016). 71 (Rn. 149) – Tarifeinheitsgesetz (2017). 71 (Rn. 144) – Tarifeinheitsgesetz (2017). 71 (Rn. 155) – Tarifeinheitsgesetz (2017). 1 (Rn. 65) – Hochschulkanzler auf Zeit (Brandenburg) (2018). 164 – Pflichtmitgliedschaft IHK (2017).



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 221

messen“ und einen „weiten Entscheidungsspielraum“83 hinsichtlich der Ent­ scheidung, welche Aufgaben einer Selbstverwaltungskörperschaft übertragen werden sollen. Sodann erwähnte das Gericht jedoch auch außerhalb der Prüfung des legitimen Zwecks einen „politischen Gestaltungsspielraum“84 hinsichtlich der Frage, ob das Gesetz wegen Einführung der Wahl zur Voll­ versammlung der Industrie- und Handelskammer nach § 5 Abs. 3 IHKG als Gruppenwahl gegen das Demokratieprinzip verstößt. Einen „politischen“ sowie „weiten“ Spielraum betonte das Bundesverfassungsgericht auch bei der Frage, wie dem Sozialstaatsgebot (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG) Rechnung zu tragen ist und ob die Beschränkung der sachgrundlosen Befris­ tung auf die erstmalige Beschäftigung mit der individuellen Berufsfreiheit der Arbeitgeber gerechtfertigt ist (was der Fall ist)85. Dies zeigt: Der Spielraum des Gesetzgebers wird auch dann größer, sobald eine Abwägung mit verfassungsrechtlichen Strukturprinzipien vorzunehmen ist – Gefahren für die „demokratische und freiheitliche Ordnung“ begründe­ ten dementsprechend auch im Urteil zum BKA-Gesetz einen „Gestaltungs­ spielraum“ bei „der Abgrenzung und Ausgestaltung der zu schützenden Vertraulichkeitsbeziehungen“86. Einen solchen Gestaltungspielraum hat das Gericht auch beim Aufeinandertreffen von verschiedenen Freiheitsgrundrech­ ten (Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG) mit Art. 139 WRV festge­ stellt87. Der Gesetzgeber habe im Rahmen seiner Ausgestaltungsbefugnis beim Ausgleich dieser Rechte einen Gestaltungsspielraum und einen Ein­ schätzungs- und Wertungsspielraum, der in der Karfreitags-Entscheidung nur als dann überschritten angesehen worden wäre, wenn die Einstufung des Karfreitags als staatlich anerkannter Feiertag „offensichtlich fehlsam“ gewe­ sen wäre88. Dies hat das Gericht aufgrund des weiten Spielraums verneint. (b) Praktische Konkordanz Insbesondere die Entscheidung zum Sampling rückt damit den Begriff der Herstellung der praktischen Konkordanz in den Fokus der Diskussion. Dieser 83  BVerfGE

146, 164 (Rn. 88) – Pflichtmitgliedschaft IHK (2017). 146, 164 (Rn. 123) – Pflichtmitgliedschaft IHK (2017). 85  BVerfGE 149, 126 (Rn. 60 f.) – sachgrundlose Befristung (2018). 86  BVerfGE 141, 220 (Rn. 133) – BKA-Gesetz (2016); im Urteil zum BND-Ge­ setz fehlt ein solcher Hinweis jedoch wiederum, weite (Gestaltungs)Spielräume wer­ den nur hinsichtlich der Ausgestaltung der nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip vorgeschriebenen Kontrolle der Überwachung zugestanden, BVerfG NJW 2020, 2253 (Rn. 177, 182, 184) – BND-Ausland-Ausland-Aufklärung (2020). 87  BVerfGE 143, 161 (Rn. 62) – Karfreitag als stiller Tag (2016). 88  BVerfGE 143, 161 (Rn. 67) – Karfreitag als stiller Tag (2016). 84  BVerfGE

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

wurde schon früh als bedeutender Topoi der Auslegung anerkannt89 und wurde im Wesentlichen von den Smend-Schülern Bäumlin und Hesse ge­ prägt90. Nach Hesse müssen bei kollidierenden Rechtsgütern beide Güter so in Beziehung gesetzt werden, dass beide zur optimalen Wirksamkeit gelan­ gen. Verhältnismäßigkeit wäre demnach nicht die Relation zwischen einem konstanten Zweck und einem oder mehreren variablen Mitteln, sondern die Relation zweier variabler Größen91. Zutreffend wird darauf hingewiesen, dass diese Darstellung freilich abstrakt bleibt92. Die praktische Konkordanz wird teilweise als besondere Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei einem Eingriff in schrankenlos gewährte Grundrechte verstanden93, Hesse selbst wollte jedoch den Grundsatz wohl auch auf die Begrenzung von Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt angewen­ det wissen94. Das Bundesverfassungsgericht bezieht den Begriff der prakti­ schen Konkordanz entgegen anders lautender Auffassungen95 ebenso nicht nur auf schrankenlos gewährte Grundrechte, sondern wendet ihn auch im Rahmen von allgemeinen Gesetzesvorbehalten an96. Das Prinzip der praktischen Konkordanz sieht sich vermehrt Kritik ausge­ setzt, weil es dazu führen würde, dass es nur noch eine optimale Entschei­ dung gäbe, die das Bundesverfassungsgericht zu finden habe, ein solches Konzept jedoch der parlamentarischen Demokratie widerspreche97 und die Verfassung gerade keine Quelle von Optimierungspflichten sei98.

89  Schenke, Der Umfang der bundesverfassungsgerichtlichen Prüfung, NJW 1979, 1321 (1323). 90  Cremer, Praktische Konkordanz als grundrechtliche Kollisionsauflösungsregel, in: Kment (Hrsg.), Das Zusammenwirken von deutschem und europäischem Öffentli­ chen Recht: Festschrift für Hans D. Jarass zum 70. Geburtstag, 2015, S. 175 (176). 91  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, S. 27. 92  Cremer, Konkordanz (Fn. 90), S. 177. 93  So Reimer, „… Und machet zu Jüngern alle Völker“?, Der Staat 52 (2013), 27 (35); Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 14. Aufl. 2016, Vorb. Art. 1 Rn. 52. 94  Schladebach, Praktische Konkordanz als verfassungsrechtliches Kollisionsprin­ zip, Der Staat 53 (2014), 263 (269). 95  Diese andere Auffassung bei Schladebach, Konkordanz (Fn. 94), Der Staat 53 (2014), 263 (270). 96  Jüngst BVerfGE 142, 74 (Rn. 70) – Sampling (2016) in Bezug auf Art. 12 GG; davor u. a. in Bezug auf Art. 2 Abs. 1 GG in BVerfGE 89, 214 (Rn. 53) – Bürg­ schaftsvertrag (1993). 97  Cremer, Konkordanz (Fn. 90), S. 183. 98  Lerche, Die Verfassung als Quelle von Optimierungsgeboten, in: Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag,



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 223

Andere Auffassungen sehen das Prinzip der praktischen Konkordanz dage­ gen als Prinzip an, welches wesentlich zur Interpretation der Verfassung beiträgt. Es habe aufgrund seiner klaren Konturen prozedurale Vorzüge99. Zudem erlaube es inhaltlich alle grundgesetzlichen Kollisionsfragen zu lö­ sen100. Die Herstellung praktischer Konkordanz unterscheide sich von der normalen Abwägung dadurch, dass bei ersterer keine einseitige Prüfungsper­ spektive eingenommen würde, sich diese daher nicht ein einer vorschnellen Güterabwägung erschöpfen dürfe und es daher nicht ausreiche, eine Ange­ messenheitsgrenze zu ermitteln, sondern vielmehr ein situationsadäquater optimaler Ausgleich ermittelt werden müsse101. Praktische Konkordanz sei damit ein Spezialfall der Abwägung, genauer eine solche Abwägung, die qualitativ gesteigert und auf Optimierung gerichtet sei102. (aa) Kritik am Optimierungsgedanken der praktischen Konkordanz Der Optimierungsgedanke bei der Herstellung der praktischen Konkordanz könnte – versteht man ihn in dem Sinne, dass er auf einen zu ermittelnden Höchstpunkt abzielt – den gesetzgeberischen Spielraum vollständig vernach­ lässigen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der Grundsatz der prakti­ schen Konkordanz werden von der Literatur, aber auch vom Bundesverfas­ sungsgericht als „universeller materieller Verfassungsgrundsatz“103 verstan­ den. Problematisch ist es insbesondere, dass die Prüfung der Verhältnismä­ ßigkeit in diesem universellen Sinne nicht dahingehend differenziert, ob die Entscheidung von Legislative oder Exekutive überprüft wird104. Richtiger­ weise ist jedoch die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit einer gesetzgeberi­ schen Maßnahme eine andere als eine solche eines Einzelverwaltungsaktes oder Gerichtsurteils. Während das Gesetz generell-abstrakt formuliert ist und in einer ex-ante-Perspektive überprüft wird, hängen Einzelakte „punktuell“ von einem spezifischen Sachverhalt ab und werden ex-post überprüft105. Da­ mit bleiben bei der Verwaltungs- und Gerichtskontrolle Übergriffe auf den politischen Handlungsspielraum gering. Bei der Verhältnismäßigkeitskon­ trolle eines Gesetzes gerät das Bundesverfassungsgericht jedoch mit dem 1997, S. 197 (197 ff.); Fischer-Lescano, Kritik der praktischen Konkordanz, KJ 41 (2008), 166 (177); Reimer, Jüngern (Fn. 93), Der Staat 52 (2013), 27 (57). 99  Schladebach, Konkordanz (Fn. 94), Der Staat 53 (2014), 263 (278). 100  Schladebach, Konkordanz (Fn. 94), Der Staat 53 (2014), 263 (279). 101  Schladebach, Konkordanz (Fn. 94), Der Staat 53 (2014), 263 (271). 102  Schladebach, Konkordanz (Fn. 94), Der Staat 53 (2014), 263 (271 f.). 103  Lepsius, Chancen (Fn. 1), S. 11. 104  Zutreffend Lepsius, Chancen (Fn. 1), S. 12. 105  Lepsius, Chancen (Fn. 1), S. 10, 13.

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

demokratischen Gesetzgeber in Konflikt106 – dessen Spielräume sind stets zu achten. Richtigerweise erkennt die von Alexy entwickelte Prinzipientheorie, die seiner Auffassung nach mit der Optimierungspflicht der praktischen Konkor­ danz korrespondiere107, gesetzgeberische Spielräume an108. Auch Alexy er­ kennt in dem Prinzip der praktischen Konkordanz die Verpflichtung zur Op­ timierung, jedoch ohne, dass ein Höchstpunkt anzustreben wäre109 – Opti­ mierung darf insofern nicht mit Maximierung verwechselt werden110. Neben den Auffassungen, die – ohne einen Spielraum zu erwähnen – die praktische Konkordanz als Verpflichtung, einen Höchstpunkt anzustreben, sehen111 und solchen, die in der praktischen Konkordanz eine Pflicht zur Optimierung sehen112 sowie jenen, die das Prinzip ganz ablehnen113, gibt es auch solche Ansichten, die das Prinzip anerkennen, aber hieraus weder eine Verpflichtung, den Höchstpunkt zu erreichen, noch eine Verpflichtung zur Optimierung folgern114. (bb) Praktische Konkordanz und Bundesverfassungsgericht Das Bundesverfassungsgericht scheint sich zumindest in aktueller Recht­ sprechung letztgenannter Auffassung anzuschließen. Dass das Bundesverfas­ sungsgericht ein explizit anderes Verständnis hat, als die praktische Konkor­ danz als eine Pflicht, durch Optimierung einen gerichtlichen Höchstpunkt zu erreichen zu verstehen, beweist die Entscheidung zum Sampling, in der das Gericht zuletzt den Grundsatz der praktischen Konkordanz betont hat. Darin stellte das Gericht fest, dass es nicht um „einseitige Eingriffe des Staates in die Freiheitsausübung Privater“ gehe, sondern um einen herzustellenden Ausgleich. Dabei müssten die kollidierenden Grundrechtspositionen ihrer Wechselwirkung erfasst und nach dem Grundsatz der praktischen Konkor­ danz so ins Verhältnis gesetzt werden, dass sie für alle Beteiligten möglichst 106  Lepsius,

Chancen (Fn. 1), S. 10. Konkordanz (Fn. 94), Der Staat 53 (2014), 263 (279). 108  Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRl 61 (2002), 7 (15 ff.). 109  Alexy, Verfassungsrecht (Fn. 108), VVDStRl 61 (2002), 7 (25). 110  Dieser zutreffende Hinweis in Klein, Grundrechtsstaat (Fn. 48), S. 94. 111  In diesem Sinne wohl Schladebach, Konkordanz (Fn. 94), Der Staat 53 (2014), 263 (1 ff.). 112  Alexy, Verfassungsrecht (Fn. 108), VVDStRl 61 (2002), 7 (25). 113  Lerche, Verfassung (Fn. 98), S. 197 ff.; Cremer, Konkordanz (Fn. 90), S. 183. 114  Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), 485 (504). 107  Schladebach,



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 225

weitgehend wirksam werden115. Im Gegensatz zu denjenigen Ansichten, die bei dieser nicht-einseitigen Abwägung eine qualitativ gesteigerte Abwägung einfordern116, betonte das Gericht jedoch nicht, dass es besondere qualitativ (höhere) Anforderungen an den Gesetzgeber stelle, sondern vielmehr sprach das Gericht umgekehrt dem Gesetzgeber einen weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum zu117. Auch eine Optimierungspflicht erkennt das Bundesverfassungsgericht nicht an: Im Urteil zum Tarifeinheitsgesetz stellte das Gericht hinsichtlich eines unbeschränkbaren Grundrechts (Art. 9 Abs. 3 GG) fest, dass vom Ge­ setzgeber beim Ausgleich von zwei Grundrechtsgütern gerade „keine Opti­ mierung der Kampfbedingungen“118 verlangt wird. Den Begriff der Herstel­ lung praktischer Konkordanz hat das Gericht hier nicht genannt, die Aus­ gangssituation ist jedoch mit derjenigen aus dem Urteil zum Sampling ver­ gleichbar. (cc) Großer Spielraum bei der Herstellung praktischer Konkordanz Das Gericht erkennt somit den Begriff der praktischen Konkordanz an, spricht dem Gesetzgeber aber genau in diesen Fällen einen weiten Spielraum zu, der tendenziell weiter ist, als in solchen Fällen, in denen es um einseitige Freiheitseingriffe geht. Dies ist mit der Abwehrfunktion der Grundrechte gegen den Staat zu erklären, die zuvorderst vom Bundesverfassungsgericht wahrgenommen werden muss – einseitige Freiheitseingriffe können daher nur in besonderen Umständen gerechtfertigt werden. Dort, wo aber auch die Verwirklichung von anderen Grundrechten oder grundrechtsbeschränkenden Gütern angestrebt wird, besteht mehr Spielraum des Gesetzgebers, um diese Güter miteinander in Ausgleich zu bringen. Die Verpflichtung zur Herstel­ lung der praktischen Konkordanz erhöht damit gerade den Spielraum des Gesetzgebers, eine Optimierungspflicht ist ihr hingegen nicht zu entnehmen. Nicht wirklich passt in diese Systematik die Entscheidung des Gerichts zum Bestellerprinzip, in der das Gericht ausführte, dass der Gesetzgeber „über ei­ nen weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum“ verfüge und neben der „Einschätzung der für die Konfliktlage maßgeblichen ökonomischen und so­ 115  BVerfGE

142, 74 (Rn. 70) – Sampling (2016). Konkordanz (Fn. 94), Der Staat 53 (2014), 263 (271). 117  BVerfGE 142, 74 (Rn. 72) – Sampling (2016). 118  BVerfGE 146, 71 (Rn. 149) – Tarifeinheitsgesetz (2017); in BVerfG NJW 2020, 1049 (Rn. 92) – Kopftuch III (2020) sieht das Bundesverfassungsgericht dage­ gen den Staat zur Optimierung verpflichtet, spricht aber gleichwohl von einem „Ein­ schätzungsspielraum“, versteht Optimierung somit nicht in dem Sinne, dass ein opti­ maler Punkt erreicht werden müsste. 116  Schladebach,

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

zialen Rahmenbedingungen“ auch die „Bewertung der Interessenlage, das heißt die Gewichtung der einander entgegenstehenden Belange und die Be­ stimmung ihrer Schutzbedürftigkeit“, in der politischen Verantwortung des Gesetzgebers liegt119. Das ist insofern bemerkenswert, als das das Gericht hier den materiellen Spielraum auch bei der bloßen Einschränkung (und nicht ­Abwägung mit anderen Gütern) betont, d. h. bei dem einseitigen Eingriff des Staates in die Freiheitsausübung Privater, der legitime Zweck wurde in den sozialen oder wirtschaftlichen Ungleichgewichten gesehen120. (c) Zwischenergebnis Dem Gesetzgeber ist ein tendenziell größerer Spielraum zuzugestehen, wenn Freiheitsgrundrechte zu Gunsten von Gütern eingeschränkt werden, die verfassungsunmittelbar sind und somit auch im Hinblick auf schrankenlos gewährte Grundrechte grundrechtsbegrenzend wirken können. Es handelt sich dabei nicht um einen einseitigen Freiheitseingriff des Staates, sondern um einen Ausgleich von Rechtspositionen, bei der die Freiheit der anderen oder aber die grundrechtsbegrenzenden Rechtsgüter der Allgemeinheit121 in Ausgleich mit den anderen Rechtsgütern zu bringen sind. Die Herstellung praktischer Konkordanz bedeutet gerade nicht, dass eine Optimierung zu suchen wäre und der Gesetzgeber keinen Spielraum zur Ausgestaltung hätte – sie erhöht gerade den Spielraum des Gesetzgebers. (3) Freiheitsrechte kollidieren mit Schutzaufträgen Freiheitsgrundrechte können verfassungsunmittelbar nicht nur durch kolli­ dierende andere Freiheitsrechte eingeschränkt werden. Auch die Einschrän­ kung aufgrund eines staatlichen Schutzauftrages, der ebenfalls aus den Grundrechten abgeleitet wird, ist denkbar und erfolgt in vielen Fällen. Auch dies hat Auswirkungen auf den Spielraum des Gesetzgebers. In der Entscheidung Fixierung psychisch Kranker betonte das Bundesver­ fassungsgericht, dass dem Gesetzgeber hinsichtlich der Ausgestaltung seines 119  BVerfGE

142, 268 (Rn. 64) – Bestellerprinzip (2016). 142, 268 (Rn. 63) – Bestellerprinzip (2016). 121  Darüber, was zu den sonstigen mit Verfassung Rang ausgestatteten Rechts­ gütern, die schrankenlos gewährte Grundrechte beschränken können, besteht freilich Streit. Dazu gehören wohl die verfassungsmäßige Ordnung, die freiheitlich demokra­ tische Grundordnung, die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die Seuchengefahr oder der Jungendschutz, vgl. Schladebach, Konkordanz (Fn. 94), Der Staat 53 (2014), 263 (270); insgesamt ist das Bundesverfassungsgericht eher großzügig, einen Über­ blick gibt Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Vorb. Art. 1 GG Rn. 140. 120  BVerfGE



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 227

Schutzauftrages ein „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum“122 zugestanden wird (der Schutzauftrag aus Art. 2 Abs. 2 GG erfasse dabei auch einen Selbstschutz, sodass der Gesetzgeber berechtigt sei, hierzu Regelungen zu treffen). Ebenso in den Konstellationen, in denen ein Konflikt zwischen Freiheits- und Schutzdimension eines Grundrechts aufgelöst werden muss, erstreckte sich nach der Entscheidung zur geschäftsmäßigen Sterbehilfe „die verfassungsrechtliche Prüfung […] darauf, ob der Gesetzgeber die genannten Faktoren ausreichend berücksichtigt und seinen Einschätzungsspielraum in vertretbarer Weise gehandhabt hat“123. In beiden Fällen wurde dennoch die Verfassungswidrigkeit der Regelung festgestellt, und das Gericht betonte insofern, dass der Spielraum hinsichtlich der Ausgestaltung der Schutzrechte dort ende, wo der Gesetzgeber Abwehr­ rechte des Dritten beeinträchtigt. Hieraus ist zu schließen, dass der Spielraum für den Gesetzgeber tendenziell kleiner ist, wenn er klassische Freiheitsrechte „nur“ mit Verweis auf eine Schutzpflicht einschränken möchte (und keine anderen kollidierenden Freiheitsrechte betont). Diese Annahme bestätigt sich auch in der Entscheidung zum staatlichen Informationshandeln. In dieser Entscheidung ging es um einen Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG. Eine Einschränkung dieser Freiheit sollte durch das LFGB mit Verweis auf das legitime Ziel der Verbraucherinformation sowie der Gesundheit der Bevölkerung erfolgen – und damit zur Verwirklichung der Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG. Das Gericht erwähnte jedoch noch nicht einmal einen dem Gesetzgeber bei dieser Schutzpflichtrealisierung zu­ kommenden Spielraum und erklärte das Gesetz (zumindest insofern es keine zeitliche Begrenzung vorsieht) für verfassungswidrig124. In diesen Fällen geht der „gesetzgeberische Spielraum […], so könnte man sagen, zu Lasten des geförderten Grundrechts“, da die objektiv-rechtliche Seite eines Grundrechts geringeren Schutz erfährt als die Abwehrfunktion125. Während auf der einen Seite nicht jeder staatliche Grundrechtseingriff, der sich im Eingriffs-Rechtfertigungsschema als verfassungsgemäß erweist, auch unter Schutzpflicht-Gesichtspunkten geboten ist126, gilt auf der anderen Seite, dass der Gesetzgeber zwar einen weiten Gestaltungspielraum hinsichtlich der Ausgestaltung von Schutzrechten insbesondere hinsichtlich der Frage hat, ob das Untermaßverbot verletzt ist, er aber einen engen Spielraum hinsichtlich der Frage hat, ob freiheitliche Abwehrrechte beschränkt werden können. 122  BVerfGE

139, 293 (Rn. 74) – Fixierung PsychKG (2018). NJW 2020, 905 (Rn. 225) – geschäftsmäßige Sterbehilfe (2020). 124  BVerfGE 148, 40 (Rn. 56) – Staatliches Informationshandeln (2018). 125  Jarass, Grundrechte als Wertentscheidungen bzw objektivrechtliche Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 110 (1985), 363 (384). 126  Cremer, Konkordanz (Fn. 90), S. 183. 123  BVerfG

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Hinsichtlich des auf diese Freiheitsrechte bezogenen Übermaßverbotes be­ steht damit ein enger Spielraum. bb) Zusammenführung Nachdem der Schutzbereich eines Freiheitsgrundrechtes vom Bundesver­ fassungsgericht sehr weit verstanden wird127, sodass dem Gesetzgeber hin­ sichtlich der Definition der grundrechtlichen Schutzbereiche kaum Spiel­ räume bleiben128, rückt die Auslegung des Verhältnismäßigkeitsbegriffes, den das Bundesverfassungsgericht aus dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten herleitet129, in den Fokus der Spielraumdogmatik bei der Ab­ grenzung zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht. Er findet seine Anwendung in den Grundrechtsschranken – sollen Grundrechte einge­ schränkt werden, müssen die eingesetzten Mittel einen legitimen Zweck verfolgen, geeignet, erforderlich und angemessen sein. Bestimmte Kriterien können helfen, klarere Konturen hinsichtlich der Grenzen dieses Spielraums zu definieren. (1) Abwehrfunktion der Freiheitsgrundrechte Freiheitsgrundrechte sind die klassischen Abwehrrechte gegen den Staat. Sie dienen gerade dem Minderheitenschutz. Bereits die Verankerung an pro­ minenter Stelle des Grundgesetzes zeigt die Vorrangstellung der Grundrechte gegenüber nicht-verfassungsrechtlichen Gütern130. Auch die Einrichtung der Verfassungsbeschwerde sowie die Erfahrungen der Weimarer Zeit zeigen, dass der Schutz der Grundrechte im Besonderen Aufgabe des Bundesverfas­ sungsgerichts ist131. Das Bundesverfassungsgericht ist daher in hohem Maße dazu verpflichtet, diese Freiheitsgrundrechte zu schützen132.

127  Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 271 Rn. 48. 128  Hierzu haben insbesondere die Ausbreitung der obejktivrechtlichen Grund­ rechtsgehalte und der „Abwägungsenthusiasmus“ geführt, Reimer, Jüngern (Fn. 93), Der Staat 52 (2013), 27 (35 f.); siehe dazu auch oben unter Teil 3. 129  Für die Verankerung in den Grundrechten auch Reimer, Jüngern (Fn. 93), Der Staat 52 (2013), 27 (31); Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 271 Rn. 51; Lepsius, Chancen (Fn. 1), S. 8. 130  Klatt/Meister (Fn. 57), Der Staat 51 (2012), 159 (165). 131  Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Huber (Hrsg.), Recht als Prozess und Gefüge, 1981, S. 261 (266). 132  Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane, 1988, S. 151.



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 229

Die Schutzsituation ist insbesondere im Gegensatz zu ausgestaltungsbe­ dürftigen Grundrechten und solchen, aus denen staatliche Schutzpflichten hergeleitet werden, eine andere: Der Schutz besteht unmittelbar und ohne, dass der Gesetzgeber erst tätig werden müsste. Dem Gesetzgeber bleiben damit relativ wenige Wahlmöglichkeiten, seine Spielräume sind daher bei Eingriffen in klassische Freiheitsgrundrechte tendenziell besonders eng133. Dies gilt insbesondere, wenn es um einseitige Eingriffe in Freiheitsrechte geht, sowie dort, wo Freiheitsrechte eingeschränkt werden sollen, um Schutz­ aufträge zu realisieren. Insofern der Grund für das Zugestehen von gewissen politischen Entschei­ dungsspielräumen des Gesetzgebers im Demokratieprinzip liegt, sind die Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers zudem bei solchen Grundrechten, die Ergebnis des politischen Prozesses sind (Eigentumsgarantie und Berufs­ freiheit) tendenziell größer als bei solchen „politischen“ Grundrechten, die den politischen Prozess selbst tangieren (Meinungsfreiheit, Versammlungs­ freiheit, Vereinigungsfreiheit)134 und damit gewissermaßen Voraussetzung dafür sind, dass der Gesetzgeber die ihm definitiv und in größerem Maße zugewiesenen politischen Gestaltungsspielräume überhaupt effektiv wahr­ nehmen kann. (2) Ausgleichsfindung durch den Gesetzgeber Dort wo Freiheitsgrundrechte jedoch mit anderen abwehrrechtlichen Di­ mensionen der Grundrechte oder grundrechtsbeschränkenden Güter kollidie­ ren, ist ein Ausgleich zwischen diesen Gütern herzustellen, der in allererster Linie vom Gesetzgeber zu verantworten ist. Dies lässt sich nicht nur – jeden­ falls auch nicht primär – mit der vermeintlich stärkeren demokratischen Le­ gitimation begründen, sondern folgt aus dem besonderen gesetzgeberischen Verfahren135, welches am besten dafür geeignet ist, die verschiedenen ge­ sellschaftlichen Interessen zu vereinen. Die Verfassung enthält in diesen Fällen gerade keine Vorentscheidung zur Kollisionsauflösung136. Die Grund­ rechte kommen nicht mehr nur noch in ihrer Abwehrrichtung, in der der Schutz bereits unmittelbar aus dem Grundgesetz gewährleistet wird, sondern 133  So auch Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpreta­ tion, 1980, S. 41; Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1984, § 34 Rn. 1672; Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, 2003, S. 441. 134  Diese Unterscheidung bei Lepsius, Rechtswissenschaft (Fn. 31), Der Staat 52 (2013), 157 (183). 135  Schuppert, Grenzen (Fn. 133), S. 43. 136  Schuppert, Grenzen (Fn. 133), S. 41.

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

aus den Grundrechten werden Prinzipien-Normen, die spätestens in dieser Kollisionssituation nicht mehr nur noch interpretiert werden, sondern viel­ mehr konkretisiert werden müssen137. Während Interpretation schlicht „ge­ wöhnliche Auslegung“ ist, stellt sich die Konkretisierung als ein rechtsschöp­ ferischer Akt dar138. Dieser rechtsschöpferische Akt ist aus Legitimations­ aspekten beim Gesetzgeber anzusiedeln, dem hierbei ein Spielraum einzuräu­ men ist139. Hintergrund ist, dass aufgrund der fehlenden verfassungsrechtlichen Vorentscheidung des Abwägungsergebnisses die unterschiedlichen gesell­ schaftlichen Wertauffassungen den Schutzumfang bestimmen, sodass diese Gelegenheit zur Artikulation bekommen müssen. Bei Kollisionsfällen rückt somit insbesondere die Rückkopplung an die öffentliche Meinung in den Fokus, die im Parlament und nicht im Bundesverfassungsgericht besser ab­ gebildet wird140. Bei Herstellung dieser praktischen Konkordanz hinsichtlich dieser kolli­ dierenden Grundrechte hat der Gesetzgeber einen Spielraum und ist zur Op­ timierung gerade nicht verpflichtet. Während die klassische Verhältnismäßig­ keitsprüfung mit der Orientierung am legitimen Zweck einen festen Bezugs­ punkt hat, auf welchen die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessen­ heit abgestimmt wird, fehlt dieser feste Bezugspunkt in Situationen, in denen gegenläufige normative Prinzipien miteinander zu vereinen sind141. Dies gilt auch insbesondere im Rahmen der Wirtschaftsregulierung, bei der der Ge­ setzgeber zumeist gleichzeitig mehrere Ziele mit mehreren Mitteln zu verfol­ gen versucht142. Die Prüfung wird schwieriger, der Spielraum des Gesetzge­ bers größer. Pauschale Aussagen zur Auflösung des Abwägungsproblems verbieten sich indes ebenso wie der Versuch, die Abwägung auf mathematische Mo­ delle herunter zu brechen. Die verfassungsrechtliche Prüfung hat stets die besonderen Gegebenheiten im Einzelfall zu berücksichtigen143. Die Gewich­ tung der Grundrechte selbst liegt dabei grundsätzlich im Spielraum des Ge­ setzgebers.

137  Böckenförde,

Grundrechte (Fn. 46), Der Staat 29 (1990), 1 (22). Grundrechte (Fn. 46), Der Staat 29 (1990), 1 (22). 139  Schuppert, Grenzen (Fn. 133), S. 29; Möllers, Die drei Gewalten, 2008, S.  144 f. 140  Schuppert, Grenzen (Fn. 133), S. 43. 141  Böckenförde, Grundrechte (Fn. 46), Der Staat 29 (1990), 1 (20). 142  Lepsius, Gewalt (Fn. 61), S. 235. 143  Sachs, Verfassungsrecht II – Grundrechte, 3. Aufl. 2017, S. 194. 138  Böckenförde,



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 231

(3) Spielraum und legitimer Zweck Ein weiter Spielraum kommt dem Gesetzgeber insbesondere auch bei der Bestimmung des legitimen Zwecks zu. Legitime Ziele werden teilweise in den Gesetzesvorbehalten der Grundrechte formuliert, anderenfalls kommen sämtliche verfassungslegitime Ziele in Betracht144. Legitime Zwecke dürfen damit lediglich nicht in Widerspruch zu Grundentscheidungen der Verfassung stehen145. Darüber hinaus ist der Gesetzgeber grundsätzlich darin frei, „wel­ che Sachverhalte, Personen, oder Unternehmen oder Ziele gefördert wer­ den“146. Der Gesetzgeber ist damit auch insbesondere nicht gehindert, Ziele zu verfolgen, die über den Verfassungsrang hinausgehen147. Gerade bei wirtschaftsrechtlichen Maßnahmen zeigt sich dieser weite Spielraum des Gesetzgebers hinsichtlich der Zwecksetzung. Hintergrund ist, dass Ziele der allgemeinen Wirtschaftspolitik gerade keinen Verfassungsrang haben, das Grundgesetz ist vielmehr wirtschaftspolitisch neutral148. Hinter­ grund ist ein Kompromiss der beiden großen Strömungen der Parlamentari­ schen Rates, die 1949 jeweils eher eine sozialistische Ordnung vor Augen hatten und jene, die den bürgerlichen Freiheiten einen hohen Stellenwert einräumen wollten149. Statt eine Vorentscheidung im Grundgesetz zu treffen, werden die wirtschaftspolitischen Zwecksetzungen somit insbesondere in die politischen Auffassungen der jeweils regierenden Parteien gestellt. Im Hin­ blick darauf, welche Aufgaben der Gesetzgeber in Angriff nehmen will, be­ tonte das Bundesverfassungsgericht auch im Urteil zum Stabilisierungsfonds in der Weinwirtschaft, dass der Gesetzgeber, einen „weiten Regelungsspiel­ raum“ habe, welcher nur dann nicht eingehalten wäre, wenn die Erwägungen des Gesetzgebers offensichtlich fehlsam seien, dass sie vernünftigerweise keine Grundlage für das Gesetz geben können.150. Mit dem Kriterium der offensichtlichen Fehlsamkeit knüpft das Gericht im Hinblick auf diesen ma­ teriellen Zwecksetzungs-Spielraum an den Evidenzmaßstab des Mitbestim­ mungsurteils, welches erst später ergehen sollte und lediglich tatsächliche Spielräume regelt, an. Dagegen stellte das Gericht darauf, dass das legitime 144  Ipsen,

Staatsrecht 1, 31. Aufl. 2019, S. 50. Berufs- und Gewerbefreiheit – Ende oder Fortbildung der Stufen­ theorie?, NVwZ 1991, 145 (147). 146  BVerfGE 138, 136 (Rn. 125) – Erbschaftssteuer (2014). 147  Britz, Das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, Jura 2015, 319 (322). 148  Manssen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 12 Rn. 127. 149  Scheuner, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, DÖV 1980, 473 (477). 150  BVerfGE 37, 1 (Rn. 59) – Weinwirtschaftsabgabe (1974). 145  Czybulka,

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Ziel von „vernünftigen Erwägungen“ geleitet sein muss, in der Entscheidung „Sozietätsverbot“ ab151. Das Gericht tut sich somit erneut schwer, einheit­ liche Kriterien festzulegen, lässt dem Gesetzgeber aber grundsätzlich richti­ gerweise umfangreiche Möglichkeiten der Zielfestsetzung. Die Auswahl des legitimen Zwecks ist damit die „eigentliche politische Entscheidung“152. b) Schutzpflichten, Leistungsfunktionen und Einrichtungsgarantien Neben der klassischen abwehrrechtlichen Funktion der Grundrechte ist anerkannt, dass den Grundrechten auch Leistungsfunktionen und Schutz­ pflichten zu entnehmen sind. Diese zielen genauso wie grundrechtliche Ein­ richtungsgarantien auf ein Tätigwerden des Staates und nicht – wie bei der Abwehrfunktion – auf den Schutz vor Eingriffen ab. aa) Schutzpflichten Schutzpflichten lösen Ansprüche auf staatliches Handeln aus, um durch diese Verletzungen und Gefährdungen grundrechtlich geschützter Güter durch Dritte zu verhindern153. Statt des aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip abgeleiteten Übermaßverbotes findet bei der Realisierung staatlicher Schutz­ pflichten das Untermaßverbot Anwendung154. Angesichts der vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich der Realisierung von Schutzkonzepten gilt, dass dem Gesetzgeber grundsätzlich weite Spielräume zukommen155. In aktueller Rechtsprechung und verfassungsrechtlicher Diskussion wird hier insbesondere die Frage relevant, inwiefern ein auf Schutzpflichten gestützter Anspruch auf mehr Klimaschutz (verfassungs-)gerichtlich durchgesetzt wer­ den kann156. 151  BVerfGE

141, 82 (Rn. 52) – Sozietätsverbot (2016). Offene Fragen zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber, ZG 2 (1987), 290 (293). 153  Klein, Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, NJW 1989, 1633 (1633). 154  Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, 2009, S. 27. 155  Hermes, Verfassungsrecht (Fn. 3), VVDStRl 61 (2002), 119 (136); Störring, Untermaßverbot (Fn. 154), S. 199 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 14. Aufl. 2016, Vorb. Art. 1 Rn. 56 f. 156  Spieth/Hellermann, Not kennt nicht nur ein Gebot – Verfassungsrechtliche Ge­ währleistungen im Zeichen von Corona-Pandemie und Klimawandel, NVwZ 2020, 1405 (1406); in der viel beachteten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz (BVerfG BeckRS 2021, 8946 – Klimaschutz [2021]) hat das Ge­ richt einen weiten Spielraum hinsichtlich der Erfüllung der Schuztpflichten betont und das Gesetz nicht wegen der Verletzung dieser, sondern aufgrund einer sog. ein­ griffsähnlichen Vorwirkung für die Freiheitsrechte in ihrer Abwehrdimension bean­ standet. 152  Herzog,



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 233

(1) Meinungsstand und Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat im Laufe der Zeit verschiedene Maß­ stäbe entwickelt, mit denen es die Verletzung von verfassungsrechtlichen Schutzpflichten geprüft hat. Dabei wird im zweiten Urteil zum Schwanger­ schaftsabbruch157 eine Zäsur erkannt: Während sich das Gericht in den meisten Fällen bis (und auch nach) dem zweiten Urteil zum Schwanger­ schaftsabbruch darauf beschränkt hätte, zu überprüfen, ob Schutzpflichten evident verletzt worden wären, habe das Gericht im zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch erstmals das Untermaßverbot rezipiert. Dieses Verbot führe im Gegensatz zur Evidenzkontrolle zu einem strengeren Prüf­ maßstab158. Das Untermaßverbot der Schwangerschaftsabbruch-Entschei­ dung und der Evidenzmaßstab werden somit als Alternativkonzepte bei der Prüfung der Verletzung gesetzgeberischer Schutzpflichten verstanden – als Begriffe, die jeweils unterschiedlich intensive Maßstäbe zur Bestimmung der Kontrollreichweite umschreiben. Andere Auffassungen verstehen das Untermaßverbot als Oberprinzip, im Rahmen dessen regelmäßig und allgemein ein Evidenz-Maßstab Anwendung finden159 bzw. erhebliche Spielräume gelten würden160, oder das in der Regel eine Evidenz-Kontrolle und ausnahmsweise eine Vertretbarkeitskon­ trolle vorsehen würde161. (2) Spezifisch materiell-rechtlicher Spielraum Auch die Diskussion um den Maßstab für die Kontrolle gesetzgeberischer Schutzpflichten leidet an dem Mangel einer fehlenden Differenzierung zwi­ schen den Spielräumen in materiell-rechtlicher und tatsächlich-prognostischer Sicht. Die Frage nach dem spezifischen materiell-rechtlichen Spielraum, der dem Gesetzgeber bei der Realisierung gesetzgeberischer Schutzpflichten zu­ zugestehen ist, ist erneut nicht zu beantworten, ohne zwischen tatsächlichprognostischen und materiell-rechtlichen Spielräumen zu unterscheiden.

157  BVerfGE

88, 203 – Schwangerschaftsabbruch II (1993). Das Untermaßverbot, ZG 10 (1995), 131 (131 f.); Calliess, Die Leis­ tungsfähigkeit des Untermaßverbotes als Kontrollmaßstab grundrechtlicher Schutz­ pflichten, in: Grote/Starck (Hrsg.), Die Ordnung der Freiheit, 2007, S. 201 (204 ff.). 159  Lang, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar zum GG, 45. Ed. 2020, Art. 2 Rn. 77. 160  Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 9. Aufl. 2021, Vorb. Ab­ schnitt 1 Rn. 35. 161  Hesse, Kontrolle (Fn. 2), S. 557. 158  Dietlein,

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Bis zur C-Waffen-Entscheidung162 zeichnete sich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich des Kontrollumfangs bei Schutz­ pflichten durch eine gewisse Inkohärenz aus. Zunächst stand zumeist nicht der konkrete Umfang, sondern die Frage, ob aus den Grundrechten überhaupt Schutzpflichten herzuleiten sind, zur Debatte163. Hinsichtlich der konkreten Realisierung von Schutzpflichten betonte das Bundesverfassungsgericht spä­ ter, dass in erster Linie die staatlichen Organe in eigener Verantwortung zu entscheiden hätten, wie Schutzpflichten umzusetzen seien, und dass sich das Gericht darauf zu beschränken habe, eine evidente Verletzung der in den Grundrechten verkörperten Grundentscheidungen zu prüfen164. Vom Gesetz­ geber könnten Regelungen, die mit absoluter Sicherheit Grundrechtsgefähr­ dungen ausschließen, nicht gefordert werden: „Ungewißheiten jenseits dieser Schwelle praktischer Vernunft haben ihre Ursache in den Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens“165. Diskutiert wurden damit Wahr­ scheinlichkeiten von Gefährdungen und damit tatsächliche Spielräume. Mit der C-Waffen-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht sodann die Voraussetzungen an die Kontrolle von Schutzpflichten präzisiert. In die­ ser Entscheidung und ständiger folgender Rechtsprechung betont das Gericht, dass das Bundesverfassungsgericht eine Verletzung der Schutzpflicht nur feststellen kann, „wenn die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen hat oder offensichtlich die getroffenen Regelungen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das Schutzziel zu erreichen“166. Das Bundesverfassungsgericht nimmt damit eine zweigeteilte Prüfung vor: Während die Frage, ob Schutzvorkehrungen überhaupt nicht getroffen wer­ den, eine klare Grenze des materiell-rechtlichen Untermaßverbotes darstellt, geht es bei der Frage, ob die Regelung gänzlich ungeeignet ist, um tatsäch­ liche Einschätzungen und Prognosen, hinsichtlich derer ein Evidenz-Maßstab („offensichtlich ungeeignet“) gilt. In neueren Entscheidungen hat das Gericht den Maßstab seiner Prüfung dahingehend erweitert, dass es nicht nur in materiell-rechtlicher Hinsicht 162  BVerfGE

77, 170 – C-Waffen-Einsatz (1987). BVerfGE 53, 30 – Mülheim-Kärlich (1979). 164  BVerfGE 56, 54 (Rn. 66) – Fluglärm (1981). 165  BVerfGE 49, 89 (Rn. 119 f.) – Kalkar I (1978). 166  BVerfGE 77, 170 (Rn. 101) – C-Waffen-Einsatz (1987); BVerfGE 79 (Rn. 82) – Straßenverkehrslärm (1998); die zeitlich auf die C-Waffen-Entscheidung folgende Entscheidung BVerfGE 77, 381 (Rn. 69) – Zwischenlager Gorleben (1988) enthält den Maßstab der C-Waffen-Rechtsprechung jedoch noch nicht.; zuletzt betonte das Gericht einen solchen Maßstab auch in BVerfG BeckRS 2021, 8946 (Rn. 172) – Kli­ maschutz (2021). 163  Exemplarisch



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 235

prüft, ob Schutzvorkehrungen überhaupt nicht getroffen worden sind oder ob in tatsächlich-prognostischer Hinsicht die Regelungen offensichtlich unge­ eignet sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, sondern zusätzlich, ob die Regelungen erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben167. Damit wird die Prüfung um einen dritten Schritt, konkret um einen weiteren materiellrechtlichen Maßstab erweitert: Die Regelung kann in materiell-rechtlicher Hinsicht nur verworfen werden, wenn sie „erheblich“ hinter dem Schutzziel zurückbleibt. In der Entscheidung zum Berliner Ladenschluss war daher festzustellen, dass in materiell-rechtlicher Hinsicht „auch eingedenk der Weite des Gestal­ tungsspielraums des Landesgesetzgebers“ die Regelung „hinsichtlich des gebotenen Mindestschutzniveaus […] hinter dem vorgegebenen Schutzziel erheblich zurück [bleibt]“168, während sich in tatsächlicher Hinsicht nicht feststellen ließ, ob „das Schutzkonzept insoweit völlig unzulänglich oder ungeeignet wäre, zumal auch die Höhe des angedrohten Bußgeldes nach der Ladenschlussgesetzgebung des Bundes nicht höher lag“169. Auch in der Ent­ scheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz vermochte das Gericht nicht festzustellen, dass der Gesetzgeber seinen Spielraum hin­ sichtlich der Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG in Bezug auf die Gefahren des Klimawandels verletzt hat170. Das Bundesver­ fassungsgericht beanstandete das Klimaschutzgesetz daher nicht wegen einer solchen Schutzpflichtverletzung, sondern wegen einer „eingriffsähnlichen Vorwirkung“171 auf die durch das Grundgesetz geschützte abwehrrechtliche Dimension der Freiheitsrechte der Beschwerdeführer. Bei der Prüfung des insofern festgestellten Verstoßes gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit vermeidet das Bundesverfassungsgericht sodann auch konsequenterweise die Erwähnung von gesetzgeberischen Spielräumen172. Die Bezeichnung, dass dem Gesetzgeber ein (weiter) „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum“173 zukäme, verwendet das Bundesver­ 167  Zuletzt BVerfG BeckRS 2021, 8946 (Rn. 172) – Klimaschutz (2021); BVerfGE 92, 26 (Rn. 74) – Seeschiffahrt (1995); BVerfGE 125, 39 (Rn. 135) – Berliner Laden­ öffnungszeiten (2009); BVerfGE 142, 313 (Rn. 70) – ärztliche Zwangsbehandlung (2016); die Formulierung, dass auch geprüft werden müsse, ob die Regelungen erheb­ lich hinter dem Schutzziel zurückbleiben, fehlt gleichwohl in BVerfG BayVBl. 2013, 334 (Rn. 10) – Schutzpflicht Waffengesetz (2013). 168  BVerfGE 125, 39 (Rn. 159) – Berliner Ladenöffnungszeiten (2009). 169  BVerfGE 125, 39 (Rn. 191) – Berliner Ladenöffnungszeiten (2009). 170  BVerfG BeckRS 2021, 8946 (Rn. 143 ff.) – Klimaschutz (2021). 171  BVerfG BeckRS 2021, 8946 (Rn. 184) – Klimaschutz (2021). 172  BVerfG BeckRS 2021, 8946 (Rn. 243 ff.) – Klimaschutz (2021). 173  BVerfGE 77, 170 (Leitsatz 2.1.) – C-Waffen-Einsatz (1987); BVerfGE 79 (Rn. 82) – Straßenverkehrslärm (1998); BVerfGE 125, 39 (Rn. 135) – Berliner

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

fassungsgericht gleichermaßen für materiell-rechtliche und tatsächlich-pro­ gnostische Spielräume – mit der Folge, dass die Differenzierung nicht immer deutlich wird. Darüber hinaus sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aber auch solche Entscheidungen auszumachen, in denen tatsächliche bzw. prognostische Unsicherheiten von vornherein schlicht nicht bestanden und das Gericht seine Prüfung damit auch nicht auf die genannten Kriterien (d. h. ob die Regelungen offensichtlich ungeeignet sind) gestützt hat. Ebenso hat es allerdings – und das macht die Rechtsprechung des Gerichts noch unüber­ sichtlicher – auch nicht erwähnt, dass der materiell-rechtliche Spielraum da­ nach zu prüfen sei, ob die Regelung erheblich hinter dem Schutzziel zurück­ bleibe. Vielmehr hat es festgestellt, dass es in der eigenen Verantwortung der staatlichen Organe stehe, zu entscheiden, wie sie ihre Schutzpflicht erfüllen. Dies gelte nicht nur für die Fälle, in denen es verschiedene Möglichkeiten gibt, den vom Grundgesetz geforderten Schutz zu verwirklichen (tatsächlichprognostischer Spielraum), sondern vielmehr sei es auch „Aufgabe der je­ weils zuständigen staatlichen Organe, zwischen den einander gegenüberste­ henden Grundrechten abzuwägen und die negativen Folgen zu berücksichti­ gen, die eine bestimmte Form der Erfüllung der Schutzpflicht haben könnte“174 (materiell-rechtlicher Spielraum). Hinsichtlich dieser materiellrechtlichen Spielräume betont das Bundesverfassungsgericht, dass die „Auf­ stellung und normative Umsetzung eines Schutzkonzepts Sache des Gesetz­ gebers ist, dem grundsätzlich auch dann ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukommt, wenn er verpflichtet ist, Maßnahmen zum Schutz eines Rechtsguts zu ergreifen“175. Weiter führ das Bundesverfas­ sungsgericht aus, dass die Verfassung den Schutz als Ziel vorgibt, „nicht aber seine Ausgestaltung im Einzelnen“, sondern diese „Aufgabe der jeweils zu­ ständigen staatlichen Organe [ist], denen bei der Erfüllung der Schutzpflich­ ten ein weiter Gestaltungsspielraum zukommt […]. Notwendig ist jedoch ein unter Berücksichtigung anderer, möglicherweise entgegenstehender Rechts­ güter angemessener Schutz, der auch wirksam ist“176. Es sei dem Gesetzge­ ber verwehrt, „diesen nicht vollständig auflösbaren Grundrechtskonflikt […] zugunsten oder zulasten allein einer Seite [zu entscheiden]“177, es gäbe einen Spielraum, im Rahmen dessen die widerstreitenden Güter in Ausgleich ge­ ­ adenöffnungszeiten (2009); BVerfG BayVBl. 2013, 334 (Rn. 5) – Schutzpflicht L Waffengesetz (2013); BVerfGE 142, 313 (Rn. 70) – ärztliche Zwangsbehandlung (2016). 174  BVerfG 96, 56 (Rn. 29) – Vaterschaftsauskunft (1997). 175  BVerfG 96, 56 (Rn. 30) – Vaterschaftsauskunft (1997). 176  BVerfGE 117, 202 (Rn. 63) – heimlicher Vaterschaftstest (2007). 177  BVerfGE 141, 186 (Rn. 66) – Abstammungserklärung (2016).



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 237

bracht werden müssen178. Der materiell-rechtliche Spielraum des Gesetzge­ bers wird offenbar als „Regelungsspielraum“179, „Ausgestaltungsspielraum“180 und „Gestaltungsfreiheit“181 bezeichnet. Auch der zumeist im zweiten Schwangerschaftsurteil erwähnte strenge Maßstab lässt sich unter Rekurs auf die Differenzierung zwischen materiellrechtlichen und tatsächlich-prognostischen Spielräumen begründen. In dieser Entscheidung hat das Gericht in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, dass der Evidenz-Maßstab auf die vorliegende Konstellation, in der es um die Erfül­ lung einer Schutzpflicht gegenüber dem menschlichen Leben geht, nicht an­ gewendet werden darf182. Dass in diesem Fall ein anderer Maßstab anzule­ gen sei, wird meist mit Verweis darauf begründet (oder zumindest die Dis­ kussion darüber geführt), dass das Leben ein besonders schützenswertes Gut ist183 und auch das Bundesverfassungsgericht formuliert in der Entschei­ dung, dass die in Rede stehenden Rechtsgüter einen „hohen verfassungs­ rechtlichen Rang haben“184. Dies ist jedoch ungenau. Die besondere Bedeu­ tung des Lebensschutzes mag lediglich der Grund für den verkleinerten ma­ teriell-rechtlichen Spielraum sein. Entscheidende Ursache für die erhöhten Prognose-Anforderungen ist jedoch die Tatsache – wie bereits erörtert185 –, dass das Leben ein irreversibles Rechtsgut ist – auch das erkennt das Bun­ desverfassungsgericht in seiner Entscheidung jedoch an, wenn es formuliert, dass das Ungeborene vom Schutz in jeder Hinsicht „existenziell abhängig ist“186. (3) Ergebnis Auch hinsichtlich der Realisierung grundrechtlicher Schutzpflichten diffe­ renziert das Bundesverfassungsgericht zwischen tatsächlichen bzw. prognos­ tischen Spielräumen und materiell-rechtlichen Spielräumen187. Wenn formu­ liert wird, dass das „gebotene Minimum an Schutz […] jedenfalls dann ver­ 178  BVerfGE

141, 186 (Rn. 39) – Abstammungserklärung (2016). 141, 186 (Rn. 49) – Abstammungserklärung (2016). 180  BVerfGE 141, 186 (Rn. 69) – Abstammungserklärung (2016). 181  BVerfGE 141, 186 (Rn. 40) – Abstammungserklärung (2016). 182  BVerfGE 88, 203 (Rn. 188) – Schwangerschaftsabbruch II (1993). 183  Klein, Untermaßverbot (Fn. 2), JuS 2006, 960 (961); Calliess, Leistungsfähig­ keit (Fn. 158), S. 208. 184  BVerfGE 88, 203 (Rn. 189) – Schwangerschaftsabbruch II (1993). 185  Siehe dazu Teil 4 C. IV. 2. c). 186  BVerfGE 88, 203 (Rn. 189) – Schwangerschaftsabbruch II (1993). 187  Auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt diese Dif­ fernzierung nicht immer hinreichend deutlich zum Ausdruck, vgl. nur BVerfG NJW 1998, 3264 (Rn. 23 ff.) – „Entschädigung für Waldschäden“ (1998). 179  BVerfGE

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

fehlt sei, wenn der Gesetzgeber seine Schutzpflicht evident verletzt hat (Evidenzformel)“188, dann wird hier ungenau an das aus dem Bereich der Tatsachenfeststellungen bekannte Evidenzkriterium angeknüpft, welches häufig im Rahmen der Tatsachen- und Prognoseprüfung bei den Schutzpflich­ ten Anwendung findet – die materiellen Spielräume werden jedoch nicht hinreichend erfasst. Der Evidenz-Maßstab gilt nur für die tatsächlichen Spielräume – insofern ergeben sich keine Besonderheiten zum bereits festgestellten Maßstab. Die „völlige Ungeeignetheit“ in tatsächlicher Hinsicht kann jedoch nur diskutiert werden, wenn überhaupt klar ist, wie konkret das Ziel aussieht. Hinsichtlich der Festlegung eben jenes Ziels hat der Gesetzgeber aber einen erheblichen materiell-rechtlichen Spielraum. Gleiches gilt für die Frage, wie spezifische Grundrechtspositionen miteinander in Ausgleich zu bringen sind. In mate­ riell-rechtlicher Hinsicht darf das Bundesverfassungsgericht die gesetzgeberi­ sche Regelung nur beanstanden, wenn diese erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleibt. Es ist somit primäre Aufgabe des parlamentarischen Gesetzgebers, grund­ rechtliche Schutzpflichten durch die Umsetzung eines normativen Schutz­ konzeptes zu gewährleisten189 – die aus den Grundrechten abgeleitete Wer­ teordnung gibt dem Gesetzgeber insofern lediglich „Richtlinien und Im­ pulse“190, die regelmäßig nicht eine ganz bestimmte gesetzliche Regelung erfordern, sondern mehrere Optionen offen lassen191. Die aus dem Lüth-Ur­ teil anzuerkennenden objektiv-rechtlichen Dimensionen der Grundrechte sind auch für die Überprüfung von Legislativakten anzuerkennen, jedoch nur un­ ter Berücksichtigung einer „gewaltenspezifisch graduell abgestufter[n] Bindungswirkung“192. Wenn das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz für nichtig erklären möchte, weil bestimmte Schutzpflichten nicht erfüllt sind, muss es diese Verfassungsfortbildung besonders begründen193. Ebenso wie in der Ein­ griffssituation hat der Gesetzgeber im Besonderen bei der Wahl des Mittels einen weiten Spielraum194, die Kontrolle ist auf eine Ergebniskontrolle be­

188  Klein,

Untermaßverbot (Fn. 2), JuS 2006, 960 (961). Kontrolle (Fn. 2), S. 553. 190  BVerfGE 7, 198 (Rn. 26) – Lüth (1958). 191  Klein, Schutzpflichten (Fn. 153), NJW 1989, 1633 (1637); Störring, Untermaß­ verbot (Fn. 154), S. 55. 192  Lepsius, Gewalt (Fn. 61), S. 199. 193  Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 271 Rn. 39. 194  Hesse, Kontrolle (Fn. 2), S. 555; Störring, Untermaßverbot (Fn. 154), S. 230. 189  Hesse,



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 239

schränkt195. Das Untermaßverbot ist der spezifische Begriff für die Güterab­ wägung196. Bis zur Grenze des Untermaßverbotes ist der Gesetzgeber jeden­ falls berechtigt, in die Rechte eines Dritten einzugreifen, und es besteht ein Anspruch auf die Realisierung der Schutzpflicht. Andererseits ist der Gesetz­ geber auf die Grenze des Untermaßverbotes nicht beschränkt. Er kann bis zur Grenze der praktischen Konkordanz auch noch darüber hinausgehen, muss dies aber nicht197. Bei den Kollisionen mit anderen Rechten handelt es sich damit um hochkomplexe Abwägungen, die nach dem Gewaltenteilungs­ prinzip vor allem im Parlament auszutragen sind198. bb) Leistungsrechte Bei den aus den Grundrechten abgeleiteten Leistungsrechten geht es dage­ gen nicht um die Gewährung von Rechtsgüterschutz gegen Dritte, sondern um die Gewährleistung von staatlichen Leistungen. Insofern diese jedoch ebenso ein gesetzgeberisches Tätigwerden erfordern, bestehen auch diesbe­ züglich weite Spielräume des Gesetzgebers. Diese weiten Spielräume betont das Bundesverfassungsgericht insbesondere in den Urteilen zum Existenzmi­ nimum. Hinsichtlich der exakten Höhe des Anspruches sei lediglich zu fra­ gen, ob die Leistungen evident unzureichend seien199. Entscheidendes Merkmal der Leistungsrechte ist, dass es sich um „finan­ ziell aufwendige Grundrechtseffektuierung“200 handelt. Staatliche Leistungs­ rechte sind von Haushaltsentscheidungen des parlamentarischen Gesetzge­ bers abhängig. Insofern das Haushaltsrecht eine dem Parlament allein zuste­ hende politische Aufgabe ist, können soziale und andere Leistungsrechte nicht mit der strengen Verbindlichkeit garantiert werden wie Abwehr­ rechte201. Für sie besteht zudem die Grenze der finanziellen Leistungsfähig­ keit – sie können daher nur in ganz besonderen Fällen aus den Grundrechten hergeleitet werden202. Der Spielraum des Gesetzgebers geht in diesen Fällen damit sogar über die Grenzen des allgemeinen Schutzpflicht-Spielraumes hinaus. 195  Klein,

Untermaßverbot (Fn. 2), JuS 2006, 960 (961). Grundrechte (Fn. 125), AöR 110 (1985), 363 (383). 197  Jarass, Grundrechte (Fn. 125), AöR 110 (1985), 363 (384). 198  Calliess, Leistungsfähigkeit (Fn. 158), S. 206. 199  BVerfGE 142, 353 (Rn. 41) – Grundsicherung für Arbeitssuchende (2016); BVerfGE 125, 175 (Rn. 141) – Hartz-IV-Gesetz (2010). 200  Schuppert, Grenzen (Fn. 133), S. 47. 201  Schuppert, Grenzen (Fn. 133), S. 47; Starck, Maximen der Verfassungsausle­ gung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 271 Rn. 60. 202  Klein, Grundrechtsstaat (Fn. 48), S. 95. 196  Jarass,

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

cc) Einrichtungsgarantien des Grundgesetzes Einige Vorschriften des Grundgesetzes benötigen eine einfachgesetzliche Ausgestaltung. Dazu gehören als sog. Institutsgarantien neben der Eigen­ tums- und Erbrechtsgarantie (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG) auch die Vertragsfrei­ heit (Art. 2 Abs. 1 GG) und der Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG)203. Daneben gibt es institutionelle Garantien, deren wichtigste Veranke­ rungen in Art. 33 Abs. 5 GG (Berufsbeamtentun) und Art. 28 Abs. 2 GG (Vorhandensein von Gemeinden), aber auch in Art. 19 Abs. 4 GG (Rechts­ weggarantie) zu finden sind. Die praktische Relevanz der Institutsgarantie ist indes angesichts der Anerkennung gesetzgeberischer Schutzpflichten gering, teilweise werden der Begriff Schutzpflicht und Institutsgarantie gleichge­ setzt204. Während das „Ob“ der Schutzpflichten zumeist zunächst noch einer expliziten Herleitung bedarf, ist das „Wie“ und damit die Frage nach den gesetzgeberischen Spielräumen sowohl bei den Schutzpflichten als auch den Einrichtungsgarantien zunächst vom Grundgesetz offengelassen, sodass die Kriterien der Schutzpflichten-Spielräume grundsätzlich auch auf die Einrich­ tungsgarantieren zu übertragen sind: Es ist in materiell-rechtlicher Hinsicht ein weiter Spielraum des Gesetzgebers anzuerkennen. (1) Bestandsaufnahme der aktuellen Rechtsprechung In der Entscheidung zum Atomausstieg betonte das Gericht, dass der Ge­ setzgeber bei Ausgestaltung von Inhalt und Schranken des Eigentums – im Gegensatz zur eingriffsintensiven Enteignung – einen weiten Gestaltungs­ spielraum habe205, der im vorliegenden Fall auch insbesondere deswegen weit sei, weil die Ausgestaltung im konkreten Fall mit extremen Schaden­ risiken verbunden sei und es sich zudem beim Eigentum an Energieversor­ gungsunternehmen um Eigentum mit hoher Sozialbindung handele206. Gemäß Art. 33 Abs. 5 GG ist das Recht des öffentlichen Dienstes unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln. Auch diesen Ausgestaltungsauftrag hat zunächst der Gesetzgeber vorzunehmen. In der Entscheidung zur Soldatenversorgung betonte das Gericht daher, dass es zwar einen Kernbestand an Strukturprinzi­ 203  Badura, Die Verfassung im Ganzen der Rechtsordnung und der Verfassungs­ konkretisierung durch Gesetz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 265 Rn. 394; Britz, Verhältnis (Fn. 147), Jura 2015, 319 (321). 204  Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 14. Aufl. 2016, Art. 14 Rn. 3 u. 31. 205  BVerfGE 143, 243 (Rn. 252) – Atomausstieg (2016). 206  BVerfGE 143, 243 (Rn. 219, 268) – Atomausstieg (2016).



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 241

pien gebe, die der Gesetzgeber zu beachten habe207, ansonsten komme dem Gesetzgeber aber ein grundsätzlicher Spielraum zu208. Der weite Entschei­ dungs- bzw. Ausgestaltungsspielraum zeige sich insbesondere daran, dass der Gesetzgeber in einem weiten Rahmen Struktur als auch Höhe der Besoldung regeln darf, da die Verfassung hierzu keine unmittelbaren Vorgaben ma­ che209. Das Bundesverfassungsgericht habe nicht festzustellen, ob der Ge­ setzgeber die gerechteste, zweckmäßigste oder vernünftigste Lösung gewählt hätte210. Der weite Entscheidungsspielraum führe dazu, dass eine Prüfung am Maßstab evidenter Sachwidrigkeit ausreichen würde211. Der Gestaltungsspielraum ist damit grundsätzlich weit und findet seine Grenzen lediglich im Kernbestand, d. h. an ganz grundsätzlich vorgegebenen Prinzipien. Hierauf hat das Gericht auch in der Entscheidung zum KiFöGLSA abgestellt. Bei der Ausgestaltung der kommunalen Selbstverwaltung gem. Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG bestehe keine ungebundene Gestaltungsfrei­ heit212, da der Gestaltungsspielraum seine Grenze im Kernbereich der Selbstverwaltung finde213. In der Entscheidung zum Telekommunikationsge­ setz wiederum betonte das Bundesverfassungsgericht, dass bei der Ausgestal­ tung der Rechtsweggarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG ein beträchtlicher Gestal­ tungsspielraum bestehe214. (2) Ergebnis Auch bei Einrichtungsgarantien bestehen grundsätzlich größere Spielräume des Gesetzgebers, insbesondere im Vergleich zur klassischen Eingriffsprü­ fung von Grundrechten215. Dies ist darin begründet, dass neben dem Verfas­ sunggeber (dessen Aktivwerden bei den abwehrrechtlichen Freiheitsrechten bereits ausgereicht hat, um Grundrechtsschutz zu gewährleisten) der einfache Gesetzgeber noch aktiv werden muss, damit der Grundrechtsschutz zur 207  BVerfGE 145, 1 (Rn. 27) – Wartefrist für Besoldungsanstieg (2017); BVerfGE 145, 249 (Rn. 47) – Soldatenversorgung (2017). 208  BVerfGE 145, 249 (Rn. 47) – Soldatenversorgung (2017). 209  BVerfGE 145, 249 (Rn. 51) – Soldatenversorgung (2017). 210  BVerfGE 145, 249 (Rn. 52) – Soldatenversorgung (2017). 211  BVerfGE 145, 249 (Rn. 52) – Soldatenversorgung (2017). 212  BVerfGE 147, 186 (Rn. 75) – KiFöG-LSA (2017). 213  BVerfGE 147, 186 (Rn. 88) – KiFöG-LSA (2017). 214  BVerfGE 143, 216 (Rn. 21) – Telekommunikationsgesetz Entgeltregulierung (2016). 215  Kessel, Kontrolldichte (Fn. 33), S. 111; Badura, Die Verfassung im Ganzen der Rechtsordnung und der Verfassungskonkretisierung durch Gesetz, in: Isensee/Kirch­ hof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 265 394; Britz, Verhältnis (Fn. 147), Jura 2015, 319 (319).

242

Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Wirksamkeit gelangt. Die Ausgestaltung ist damit primär Sache des Gesetz­ gebers, sodass dieser einen erheblichen Ausgestaltungsspielraum hat216. c) Gleichheitsgrundrechte Die Prüfung, ob ein Gesetz zu einer verfassungswidrigen Ungleichbehand­ lung führt, setzt zunächst das Bilden eines Vergleichspaares voraus. Die Verfassungswidrigkeit ergibt sich sodann aus einer solchen Gleichheitswid­ rigkeit der gesetzlichen Behandlung des Vergleichspaares, die nicht gerecht­ fertigt werden kann217. Zur Prüfung dieser Rechtfertigung sind das Differn­ zierungsziel (Zweck) und das Differenzierungskriterium (Mittel) herauszuar­ beiten und diese in eine Mittel-Zweck-Relation zu setzen218. Bei dieser Prüfung stellt das Bundesverfassungsgericht regelmäßig auf eine unterschiedlich intensive Kontrolldichte ab219, es prüft nach der Will­ kür- oder aber nach der sog. Neuen Formel. Es ist damit insbesondere der Gleichheitssatz, hinsichtlich dessen das Bundesverfassungsgericht bereits früh spezifische Prüfungsmaßstäbe entwickelt hat220. Während beim Kon­ trollmaßstab der Willkür bereits „ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonst wie sachlich einleuchtender Grund“ zur Recht­ fertigung der Ungleichbehandlung ausreicht221, hat nach der sog. Neuen Formel je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen eine Verhältnismäßigkeitsprüfung mit ausführlicher Abwägung stattzufinden222. In neuerer Rechtsprechung spricht das Bundesverfassungsgericht zumeist davon, dass ein „stufenloser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientier­ ter verfassungsrechtliche[r…] Prüfungsmaßstab“223 gelte. Die Grenzen des­

216  Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 14. Aufl. 2016, Vorb. Art. 1 Rn. 34. 217  Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Vorb. Art. 1 GG Rn. 151; Ipsen, Staatsrecht 1, 31. Aufl. 2019, S. 230. 218  Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, 1999, S. 121 ff. 219  Siehe dazu Teil 4 B. II. 3. 220  Simons, Grundrechte (Fn. 218), S. 114. 221  BVerfGE 1, 14 (Rn. 113) – Südweststaat (1951), stRspr.; zuletzt BVerfGE 152, 274 (Rn. 97) – Erstausbildungskosten (2019); BVerfGE 145, 106 (Rn. 101) – Verlust­ abzug nach schädlichem Beteiligungserwerb (2017). 222  BVerfGE 88, 87 (Rn. 35) – Transsexueller (1993), stRspr.; u.  a. auch in BVerfGE 91, 389 (Rn. 43) – Anrechnung BAföG (1995); BVerfGE 129, 208 (Rn. 253) – TKÜ-Neuregelung (2011); ebenso Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar zum GG, 45. Ed. 2020, Art. 3 Rn. 24. 223  Zuletzt u.  a. in BVerfGE 151, 101 (Rn. 64) – Stiefkindadoption (2019); BVerfGE 149, 222 (Rn. 64) – Rundfunkbeitrag (2018); BVerfGE 148, 147 (Rn. 94) –



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 243

sen lassen sich dabei nicht pauschal, sondern nur nach den betroffenen unter­ schiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen224. Zunächst ist anzumerken, dass die Verwendung des Begriffs der verfas­ sungsrechtlichen „Kontrolldichte“225 auch hinsichtlich der Gleichheitsgrund­ rechte ungenau ist. Es geht nicht darum, dass das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber streng oder weniger streng kontrolliert, sondern vielmehr darum, dass bestimmte Umstände vorliegen, die aufgrund verfassungsrechtli­ cher Gründe dazu führen, dass der gesetzgeberische Spielraum eingeengt ist, d. h. die Auswahl der verfassungsrechtlich zulässigen Varianten gering ist. Auch die Willkür-Prüfung reduziert damit nicht die Kontrolldichte der Ent­ scheidung oder führt dazu, dass eine Unterscheidung zwischen Handlungsund Kontrollnorm statthaft wäre226. Solche geringen Spielräume bestehen insbesondere dort, wo ein Unter­ scheidungsmerkmal betroffen ist, dass den Menschen in seinen vorgegebe­ nen, unbeeinflussbaren Merkmalen betrifft, was insbesondere dann der Fall ist, wenn sich die Differenzierungsmerkmale denjenigen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern227. Diese Rechte sind explizit in Art. 3 Abs. 3 GG verankert, sodass sich einerseits bereits aus dem Wortlaut der Verfassung ein enger Spielraum ergibt. Art. 3 Abs. 3 GG nimmt zudem typischerweise Minderhei­ ten in den Blick228. Die Gefahr einer Diskriminierung dieser durch die demo­ kratische Mehrheit ist besonders groß, sodass es deswegen gerade eines größeren Schutzes vor dieser demokratischen Mehrheit bedarf – dieser de­ mokratischen parlamentarischen Mehrheit kommt damit nur ein geringer Spielraum zur Ausgestaltung zu.

Einheitsbewertung Grundsteuer (2018); BVerfGE 145, 20 (Rn. 171) – Spielhallenzu­ lassung (2017); BVerfGE 138, 136 (Rn. 121) – Erbschaftssteuer (2014). 224  BVerfGE 129, 49 (Rn. 65) – Mediziner-BAföG (2011). 225  So Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar zum GG, 45. Ed. 2020, Art. 3 Rn. 26; auch das Bundesverfassungsgericht verwendet ge­ rade im Hinblick auf Art. 3 GG den Begriff der Kontrolldichte besonders häufig, siehe dazu oben unter Teil 3 B. II. 3. 226  Zur Unterscheidung zwischen Handlungs- und Kontrollnorm siehe oben unter Teil 4 D. II. 1. a); Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 517 bezeichnen dagegen die Willkür-Auslegung des Art. 3 Abs. 1 GG als Muster­ beispiel für die Unterscheidung zwischen Handlungs- und Kontrollnorm. 227  BVerfGE 151, 101 (Rn. 64) – Stiefkindadoption (2019); Simons, Grundrechte (Fn. 218), S. 122. 228  BVerfGE 88, 87 (Rn. 35) – Transsexueller (1993).

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

aa) Ungleichbehandlung und Freiheitsgrundrechte Besonders klein ist der Spielraum auch dann, wenn die Ungleichbehand­ lung gleichzeitig Auswirkungen auf grundrechtlich geschützte Abwehrdimen­ sionen der Freiheitsrechte hat229. In der Entscheidung zur Stiefkindadoption legte das Gericht einen „strengen“ Prüfmaßstab an, da die Adoption die Persönlichkeitsentfaltung und damit wesentliche Grundrechte des Kindes betreffen würde und das Differnzierungsmerkmal, die Ehe zwischen Elternund Stiefelternteil, nicht beeinflussbar sei230. Konsequenterweise wird dort, wo die Gleichheitsverletzung zu Lasten von Menschen mit Behinderung im Raum steht (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG), ebenso besonders streng geprüft231. bb) Gewährende Staatstätigkeit Steht nicht die Eingriffsdimension im Vordergrund, sondern geht es um Gleichbehandlung im Rahmen von gewährender Staatstätigkeit, hat der Ge­ setzgeber – analog zur Unterscheidung von Abwehr- und Schutzdimension der Freiheitsrechte – einen größeren Spielraum: „Im Gegensatz zu den ver­ fassungsrechtlichen Anforderungen an die steuerrechtliche Freistellung des Existenzminimums der Kinder fehlt es für eine dem Gleichheitssatz entspre­ chende Ausgestaltung des Kindergeldrechts im Übrigen weitgehend an präzi­ sen verfassungsrechtlichen Vorgaben“232. Regelmäßig wird sowohl im Beitragsrecht233, im Steuerrecht234 als auch im Gebührenrecht235 ein weiter Spielraum des Gesetzgebers betont. Gleiches gilt für das Besoldungsrecht, wenn die Differenzierung an situationsgebun­ dene Kriterien anknüpft und zudem keine Differenzierungsmerkmale, die in 229  In diesem Sinne BVerfGE 82, 126 (Rn. 73) – Kündigungsfristen für Arbeiter (1990); BVerfGE 107, 27 (Rn. 50) – doppelte Haushaltsführung (2002); BVerfGE 151, 101 (Rn. 64) – Stiefkindadoption (2019); Simons, Grundrechte (Fn. 218), S. 308. 230  BVerfGE 151, 101 (Rn. 65) – Stiefkindadoption (2019). 231  BVerfGE 151, 1 (Rn. 57) – Wahlrechtsausschluss (2019). 232  BVerfGE 110, 412 (Rn. 72) – Teilkindergeld (2004); siehe auch BVerfGE 61, 138 (Rn. 32) – Arbeitsförderungsgesetz (1982); BVerfGE 49, 280 (Rn. 11) – Zeugen­ entschädigung (1978). 233  BVerfGE 149, 222 (Rn. 65) – Rundfunkbeitrag (2018). 234  Jüngst BVerfGE 152, 274 (Rn. 100) – Erstausbildungskosten (2019); BVerfGE 148, 217 (Rn. 105) – Gewerbesteuerpflicht (2018); BVerfGE 148, 147 (Rn. 96) – Ein­ heitsbewertung Grundsteuer (2018); BVerfGE 145, 106 (Rn. 102) – Verlustabzug nach schädlichem Beteiligungserwerb (2017); jedoch mit Ausnahmen, siehe dazu ­Simons, Grundrechte (Fn. 218), S. 309. 235  BVerfGE 144, 369 (Rn. 66) – Rückmeldegebühr Brandenburgisches Hoch­ schulgesetz (2017).



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 245

der Nähe des Art. 3 Abs. 3 GG anzusiedeln sind, enthält236. Die Gleichheits­ rechte schreiben dem Gesetzgeber damit kein genaues Ergebnis vor237. Er schuldet – ebenso wie hinsichtlich der Freiheitsgrundrechte – keine Optimie­ rung238, nicht die „gerechteste, zweckmäßigste und vernünftigste Lösung“239. cc) Ergebnis Auch wenn das Bundesverfassungsgericht damit zumindest in begrifflicher Hinsicht relativ konsequent in den Fällen, in denen die Ungleichbehandlung keine Nähe zu den Differenzierungsmerkmalen aus Art. 3 Abs. 3 GG aufge­ wiesen hat, einen besonders weiten Spielraum des Gesetzgebers betont hat, herrschen immer noch dogmatische Unklarheiten in Bezug auf die Bedeu­ tung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für die Gleichheitsprüfung. Diese Unklarheiten versteht das Bundesverfassungsgericht, sich dahin zu Nutze zu machen, indem es die Spielräume des Gesetzgebers tendenziell verstärkt einengt240. d) Verfassungsrechtliche Strukturprinzipien und andere Grundrechtsnormen Auch im Bereich der Verfassungsprinzipien (Sozialstaat, Rechtsstaat, De­ mokratie, Bundesstaat, Republik) ist das Bundesverfassungsgericht zur zu­ rückhaltenden Interpretation gehalten241. Die Verfassungsprinzipien stellen sich als eher abstrakt bleibende und damit nur begrenzt juristisch konkreti­ sierbare Verfassungsnormen dar242. Aus den allgemeinen Staatsprinzipien können zwar speziellere, aber immer noch allgemein bleibende Rechtsgrund­ sätze wie das Übermaßverbot oder der Gedanke des Vertrauensschutzes ab­ geleitet werden, sie können aber nur schwer zur Grundlage einer konkreten Einzelfallentscheidung gemacht werden243, d. h. wenig dazu beitragen wie die Auflösung der Verhältnismäßigkeitsprüfung konkret zu erfolgen hat. Die 236  BVerfGE

145, 249 (Rn. 97) – Soldatenversorgung (2017). Systembindung (Fn. 51), AöR 124 (1999), 174 (186). 238  Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 9. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 95. 239  BVerfGE 149, 382 (Rn. 18) – Eingangsbesoldung (2018). 240  Simons, Grundrechte (Fn. 218), S. 126; Lepsius, Chancen (Fn. 1), S. 30. 241  Schuppert, Grenzen (Fn. 133), S. 44; Kreuter-Kirchhof, Verfassungsgerichts­ barkeit im Dienst der Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 272 Rn. 36. 242  Klein, Grundrechtsstaat (Fn. 48), S. 88  f.; für den Sozialstaat Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Sozialstaat) Rn. 25, 27. 243  Klein, Grundrechtsstaat (Fn. 48), S. 89. 237  Kischel,

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Strukturprinzipien müssen stets in Zusammenhang mit den anderen ausgelegt werden, eine isolierende Interpretation verbietet sich244. Dem Gesetzgeber wird ein sehr weiter Spielraum zugestanden, sodass das Bundesverfassungs­ gericht erst eingreifen kann, wenn eine Maßnahme eindeutig eine Staatsziel­ bestimmung verletzt245. Dieser weite Spielraum des Gesetzgebers bildet sich auch in der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ab. Richtigerweise hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber im Hinblick auf die komplexe Abwägungsentscheidung der mit den Zensus beeinträchtigten Rechtsgüter einen „substantiellen Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum“246 zuge­ wiesen. Auch hinsichtlich des interkommunalen Gebots der kommunalen Gleichbehandlung wird ein „weiter Einschätzungs- und Beurteilungsspiel­ raum“ festgestellt247. Auch bei der Erfüllung der Pflicht des Sozialstaats­ prinzips komme dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zu248. aa) Die rechtstaatliche Pflicht zu rationalen Gesetzen In der jüngeren bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur sind einige sol­ cher Entscheidungen auszumachen, in denen das Bundesverfassungsgericht das gesetzgeberische Ziel grundsätzlich für zulässig erachtete und im Ergeb­ nis befand, dass das Gesetz für sich genommen verfassungskonform sei. Das Gericht erklärte solche Gesetze jedoch dennoch für verfassungswidrig, weil diese Gesetze in Bezug auf andere bereits bestehende Gesetze und Grund­ sätze nicht in das Gesamtsystem passen würden, sie nicht „rational“ oder „folgerichtig“ seien, so z. B. in den Entscheidungen zur Pendlerpauschale249 oder zum Rauchverbot250. Auch hinsichtlich des Finanzausgleichsgesetzes wurde ein Mindestmaß an gesetzgeberischer Rationalität gefordert251. Die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht solche Anforderungen an die Folgerichtigkeit, Konsistenz bzw. Widerspruchsfreiheit eines Gesetzes zum Gegenstand seiner verfassungsrechtlichen Überprüfung machen darf, ist durch eine Auslegung und In-Beziehung-Setzung von Rechtsstaatsprinzip und Demokratieprinzip zu klären – und damit in einem Bereich, in welchem 244  Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 271 Rn. 66. 245  Vogel, Bundesverfassungsgericht (Fn. 132), S. 167. 246  BVerfGE 150, 1 (Rn. 171) – Zensus 2011 (2018). 247  BVerfGE 150, 1 (Rn. 213) – Zensus 2011 (2018). 248  BVerfGE 97, 169 (Rn. 54) – Kleinbetriebsklausel I (1998). 249  BVerfGE 122, 210 – Pendlerpauschale (2008). 250  BVerfGE 121, 317 – Rauchverbot (2008). 251  BVerfGE 101, 158 – Länderfinanzausgleich (1999).



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 247

dem Gesetzgeber nach dem oben Gesagten grundsätzlich ein weiter Spiel­ raum zugestanden wird. (1) Systematische Verortung Die Frage nach der Verpflichtung zur rationalen Gesetzgebung wird zu­ meist in der Debatte um die Anforderungen an das gesetzgeberische Verfah­ ren diskutiert252. Diese Verortung ist ungenau. Zunächst gilt, dass auch hinsichtlich einer möglichen Rationalitäts- und Folgerichtigkeitsverpflichtung dahingehend zu differenzieren ist, dass eine solche Verpflichtung den Bereich der materiell-rechtlichen (und nicht tatsächlichen) Spielräume betreffen würde253. Tatsächlich bestehen jedoch zu den in dieser Arbeit identifizier­ ten materiell-rechtlichen Verfahrensanforderungen (z. B. der Begründungs­ pflicht)254 keine Gemeinsamkeiten mit den Rationalitätsanforderungen an Gesetze. Die Frage der materiellen Verfahrensanforderungen, so zum Beispiel die Begründungspflicht, löst sich gewissermaßen von dem vorliegenden Ge­ setz – sie ist eine Frage, die allein und auch ohne inhaltliche Auseinanderset­ zung mit dem konkreten Gesetz beantwortet werden kann. Diejenige Frage nach der Folgerichtigkeit und Rationalität bezieht sich dagegen konkret auf das jeweilige Gesetz255 – sie kann nur unter Beachtung der inneren Geset­ zesbedingungen beantwortet werden. Während die Begründungspflicht des Gesetzgebers mit dem Argument abgelehnt werden konnte, dass der Gesetz­ geber nichts als das Gesetz schulde und das Gesetz und eben nicht der Ge­ 252  Zum Beispiel Walter, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 93 (2017) Rn. 111; auch bei Kischel, Rationalität und Begründung, in: Kube (Hrsg.), Leitgedan­ ken des Rechts, 1/Staat und Verfassung, 2013, S. 371 (375 ff.) wird die Pflicht zur Heranziehung, Aufbereitung und Abwägung des einschlägigen Entscheidungsmate­ rials bei der Frage nach der Rationalität angesprochen. 253  In diesem Sinne zutreffend und anschaulich ist auch die Unterteilung von ­Lücke, Die Allgemeine Gesetzgebungsordnung, ZG 16 (2001), 1 (4 ff.) in materielle Grundpflichten der Legislative (Dauerhaftigkeit der Gesetze, Verständlichkeit und Präzision der Gesetze, Rechtslogische Sinnigkeit der Gesetze, rechtliche Stimmigkeit der Gesetze im übrigen) und formelle Grundpflichten der Legislative (Erforschung der gesetzgeberischen Entscheidungsgrundlage, Rechtfertigung der gesetzgeberischen Entscheidungen [i. S. e. Begründungspflicht]), jedoch ohne die Differnzierung hin­ sichtlich der Anforderungen an die tatsächlichen und materiell-rechtlichen Verfah­ renspflichten darzulegen. 254  Siehe dazu unter Teil 4 D. I. 1. 255  Anders hingegen Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 1 (2008), 585 (593, 596), der aus dem Folgerichtigkeitsprinzip insbesondere die Pflicht des Gesetzgebers zu einer hin­ reichenden Begründung abgeleitet wissen will.

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

setzgeber vor Gericht steht, kann dieses Argument auf die Frage der Rationa­ lität und Folgerichtigkeit nicht übertragen werden. Wenn es nur das Gesetz ist, welches vor Gericht steht, dann ist es möglich, dass sich hieraus eine Folgerichtigkeit ergibt – oder eben auch nicht. Gleichwohl scheint das Bundesverfassungsgericht zumindest vermeintliche Konnexität zwischen dem Rationalitätsgebot und den Verfahrenspflichten herzustellen. Es ist zu beobachten, dass das Bundesverfassungsgericht, Ge­ setze auch deswegen auf Rationalität prüft, weil es zu großen Respekt davor hat, komplexe sachliche und tatsächliche Ermittlungen anzustellen. Die Prü­ fung der Rationalität soll in diesen Fällen den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers wahren, zugleich aber auch zu einer angemessenen intensiven Kontrolle führen256. Die Prüfung des Bundesverfassungsgerichts würde so durch die Prüfung von Rationalitätserwägungen stark erleichtert, da nicht mehr sämtliche Rechtfertigungsgründe geprüft und Tatsachen ermittelt wer­ den müssten257. Das überzeugt nicht. Die Furcht des Gerichts ist jedoch unbegründet, wenn das Gericht die Einschätzungsprärogative des Gesetzge­ bers im Hinblick auf die Ermittlung von Tatsachen und Prognosen anerkennt und sich darauf konzentriert, ob der Gesetzgeber seiner diesbezüglichen Obliegenheit nachgekommen ist258. Dann bedarf es keiner gesonderten Ra­ tionalitätsprüfung, um die Zurücknahme im Rahmen der Tatsachen- und Prognosekontrolle zu rechtfertigen. Materiell-rechtlicher und tatsächlicher Spielraum sind grundsätzlich getrennt voneinander zu untersuchen. (2) Verfassungsrechtliche Herleitung (a) Die rechtsstaatliche Pflicht zur Folgerichtigkeit und Rationalität (aa) Folgerichtigkeit und Gleichheitssatz Das Rationalitäts- und Folgerichtigkeitsgebot hat seinen Ursprung im all­ gemeinen Gleichheitssatz und wurde vom Bundesverfassungsgericht insbe­ sondere anhand von steuerrechtlichen Vorschriften entwickelt259. So sah das Bundesverfassungsgericht in der bereits angesprochenen Entscheidung zur Pendlerpauschale den grundsätzlich weiten Spielraum des Gesetzgebers im Beobachtung bei Kischel, Rationalität (Fn. 252), S. 379. Rationalität (Fn. 252), S. 378. 258  So zutreffend auch Kischel, Rationalität (Fn. 252), S. 379; zur Obliegenheit siehe oben unter Teil 4 C. I. 3. 259  Bulla, Verfassungsprinzip (Fn. 255), ZJS 1 (2008), 585 (589 f.); Brückner, Fol­ gerichtige Gesetzgebung im Steuerrecht und Öffentlichen Wirtschaftsrecht, 2014, S.  113 ff. 256  Diese

257  Kischel,



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 249

Hinblick auf das Steuerrecht durch das Gebot der Folgerichtigkeit begrenzt. Das Gericht argumentierte, dass das Gesetz nicht in das bisherige System passe und der Gesetzgeber von einem solchen System nur abweichen könne, wenn er bestimmte Ziele verfolgen würde, z. B. einen vollständigen System­ wechsel260. Es reiche nicht aus, dass das Gesetz bloße Fiskalinteressen ver­ folge. Beschränkte sich die Prüfung der Folgerichtigkeit im Rahmen des Art. 3 GG zunächst lediglich auf die Willkürkontrolle, findet seit Einführung der „Neuen Formel“ eine strengere Prüfung anhand von Art. 3 GG statt261. Diese strengere Prüfung ermöglichte dem Gericht noch intensivere Folge­ richtigkeitserwägungen anzustellen. Diese Rechtsprechung findet Zustim­ mung in der Literatur. Folgerichtigkeits- und Rationalitätserwägungen wür­ den im Rahmen der Gleichheitsrechte nicht unangemessen in das Demokra­ tieprinzip eingreifen262: Die Konstitutionalisierung des einfachen Rechtes sei hinsichtlich des Gleichheitssatzes unter dem Aspekt der Selbstbindung gerechtfertigt, da es eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung dar­ stelle, wenn der Gesetzgeber einen Sachverhalt grundsätzlich in einer be­ stimmten Weise behandele, sodann aber davon abweiche263. Die Frage nach der Folgerichtigkeit diene insbesondere dazu, bei der Gleichheitsprüfung den Vergleichsmaßstab nach der vom Gesetzgeber selbst gebildeten Wertungs­ kette zu bilden264. (bb) Folgerichtigkeit und Freiheitsrechte Mit der Entscheidung zum Rauchverbot hat das Bundesverfassungsgericht das Prinzip der Folgerichtigkeit erstmals im Rahmen der Prüfung der Ver­ hältnismäßigkeit eines Eingriffs in ein Freiheitsgrundrecht (hier Berufsaus­ 260  BVerfGE 122, 210 (Rn. 66  ff.) – Pendlerpauschale (2008); für eine höhere Kontrolldichte in solchen Fällen auch BVerfGE 145, 304 (Rn. 104) – Ostbesoldung Besoldungsangleichung (2017). 261  Bulla, Verfassungsprinzip (Fn. 255), ZJS 1 (2008), 585 (590); siehe dazu auch unter Teil 4 D. II. 2. c). 262  Zippelius, Der Gleichheitssatz, VVDStRl 47 (1989), 7 (30); Tipke, Mehr oder weniger Entscheidungsspielraum für den Steuergesetzgeber?, JZ 2009, 533 (539 f.); Thiemann, Das Folgerichtigkeitsgebot als verfassungsrechtliche Leitlinie der Besteu­ erung, in: Wiedmann/Emmenegger (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundes­ verfassungsgerichts, Bd. 2, 2011, S. 179 (189 ff.) betont, dass es kein allgemeines Verbot gibt, Folgerichtigkeitsaspekte zu berücksichtigen, sondern dies stets einer Entscheidung im Einzelfall bedarf und nicht-folgerichtige Gesetze lediglich einer er­ höhte Rechtfertigungslast unterlägen. 263  Thiemann, Folgerichtigkeitsgebot (Fn. 262), S. 189. 264  Thiemann, Folgerichtigkeitsgebot (Fn. 262), S. 212.

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

übungsfreiheit) zur Anwendung gebracht265. Gegenstand der Entscheidung waren sowohl das baden-württembergische als auch das berlinerische Nicht­ raucherschutzgesetz, nach denen in Gaststätten ein grundsätzliches Rauch­ verbot galt, für abgetrennte Nebenräume jedoch Ausnahmen vorgesehen waren. Das Gericht stellte in Bezug auf den Spielraum des Gesetzgebers fest, dass es dem Gesetzgeber grundsätzlich frei stehe, auch ein vollständiges Rauchverbot zu erlassen. Sodann urteilte das Gericht wieder im Rahmen der Verhältnismäßigkeit als Schranken-Schranke, dass der Gesetzgeber dann, wenn er Ausnahmen von diesem grundsätzlich zulässigen absoluten Rauch­ verbot machen möchte, diese „folgerichtig“ auszugestalten habe266. Diese Rechtsprechung steht im Widerspruch zum Apothekenurteil des Bundesverfassungsgerichts, in dem dieses recht früh festgestellt hat, dass „ein auf Grund des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 erlassenes Gesetz […] nicht deshalb verfassungsrechtlich beanstandet werden [kann], weil es etwa der sonstigen staatlichen Wirtschaftspolitik widerspricht“267. Anknüpfungspunkt für die vom Bundesverfassungsgericht abgeleiteten Rationalitätspflichten sind auch in der freiheitsrechtlichen Konstellation das Rechtsstaatsprinzip268 und der in diesem angelegte Verhältnismäßigkeits­ grundsatz269. Im Rahmen der Prüfung der Geeignetheit der gesetzgeberischen Maßnahme sei nicht lediglich eine einzelne Maßnahme isoliert zu untersu­ chen, sondern es müssten die Auswirkungen auf das Gesamtsystem diskutiert werden270. Auch käme ein geordnetes Zusammenleben der Bürger nicht ohne vernünftiges und sachlich begründetes Handeln aus. Hierzu sei das Bundes­ verfassungsgericht, welches nicht unter Zeitdruck stehe und aus gleichbe­ rechtigten und unabhängigen Richtern besetzt sei, besser geeignet als der Gesetzgeber, der sich an tagesaktuellen Strömungen ausrichte und zudem

265  Bulla, Verfassungsprinzip (Fn. 255), ZJS 1 (2008), 585 (585); Kischel, Ratio­ nalität (Fn. 252), S. 375. 266  BVerfGE 121, 317 (Rn. 164) – Rauchverbot (2008). 267  BVerfGE 7, 377 (Rn. 63) – Apotheken-Urteil (1958). 268  Kirchhof, Der Grundrechtsschutz des Steuerpflichtigen, AöR 128 (2003), 1 (44); Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRl 71 (2012), 49 (51); Brückner, Gesetzgebung (Fn. 259), S. 178. 269  Kirchhof, Bundesverfassungsgericht: Ungeschriebene Funktionen, in: Kube (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts, 1/Staat und Verfassung, 2013, S. 939 (941). 270  Bulla, Verfassungsprinzip (Fn. 255), ZJS 1 (2008), 585 (594), der aus dieser Feststellung folgert, dass dem Gesetzgeber immer noch ein Gestaltungsspielraum zukomme, seine Entscheidung jedoch im Sinne einer Besinnungs- und Disziplinie­ rungsfunktion einer rechtsstaatlichen Begründungspflicht unterliegen (S. 593); zur ablehnenden Haltung einer Begründungspflicht siehe bereits oben unter Teil 4 D. I.



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 251

teilweise bestimmte Entscheidungen nur treffe, weil diese Karrieren von Berufspolitikern sicherten271. Aus rechtstaatlichen Gesichtspunkten könnte es auch eine Überlegung sein, dass in vielen derjenigen Rechtsbereiche, in denen das Bundesverfas­ sungsgericht eine gewisse Rationalität fordert, das Grundgesetz relativ ge­ ringe materiell-rechtliche Anforderungen an die Ausgestaltung des Rechtsge­ bietes stellt. Gewissermaßen als Ausgleich für die geringen konkreten Anfor­ derungen könnten die Gesetze daher einer besonderen Kohärenz- und Ratio­ nalitätskontrolle zu unterziehen sein. (b) Bedeutung des Demokratieprinzips Das Prinzip gesetzgeberischer Rationalität und Folgerichtigkeit sieht sich einem unmittelbaren Spannungsverhältnis zum Demokratieprinzip272 ausge­ setzt. Unter Berufung auf dieses Prinzip wird vertreten, dass Folgerichtig­ keitserwägungen kein verfassungsrechtlicher Maßstab seien273. Die Rationa­ litätsanforderungen würden zu einer Konstitutionalisierung des einfachen Rechts führen, was vom Grundgesetz aber gerade nicht gewollt sei274. Im Hinblick auf die Folgerichtigkeit in den Gleichheitsfällen des Steuer­ rechts wird eingewandt, dass es durchaus differenzierende Kriterien (u. a. Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit) geben würde, die durch das Ge­ bot der Folgerichtigkeit als „formelles Metaprinzip“ ausgehöhlt würden275, welches ohnehin „diffus“ bleibe und daher nicht angewandt werden könne276. Auch sei nicht ersichtlich, warum ein vollständiger Systemwechsel besser sein sollte als ein langsames Herantasten an eine neue Lösung277. Das Steu­ errecht sei zudem bereits dadurch umfassend kontrolliert, als die Steuerpoli­ tik stets ein in der Öffentlichkeit breit diskutiertes Politikfeld ist, um welches Wahlkämpfe geführt werden278.

271  Kirchhof,

Bundesverfassungsgericht (Fn. 269), S. 940. Kontrolle (Fn. 30), Der Staat 49 (2010), 630 (640). 273  Dann, Kontrolle (Fn. 30), Der Staat 49 (2010), 630 (635); Grzeszick, Rationa­ litätsanforderungen (Fn. 268), VVDStRl 71 (2012), 49 (77); Heusch, Gesetzeskon­ trolle (Fn. 48), S. 952 f.; Steinbach, Rationale Gesetzgebung, 2017, S. 100. 274  Lepsius, Gewalt (Fn. 61), S. 177. 275  Lepsius, Anmerkung – Verfassungsrecht. Steuerrecht, JZ 2009, 260 (261). 276  Lepsius, Anmerkung (Fn. 275), JZ 2009, 260 (263). 277  Tappe, Festlegende Gleichheit – folgerichtige Gesetzgebung als Verfassungsge­ bot?, JZ 2016, 27 (33); anders hingegen BVerfGE 145, 304 (Rn. 104) – Ostbesoldung Besoldungsangleichung (2017). 278  Lepsius, Gewalt (Fn. 61), S. 251. 272  Dann,

252

Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

Auch sei es nicht überzeugend, verstärkte Rationalitätspflichten als Ersatz für fehlende grundgesetzliche Vorgaben anzuführen. Die relativ schwachen verfassungsrechtlichen Vorgaben führten schlicht gerade dazu, dass zu ak­ zeptieren sei, dass Regelungen auch eine geringe rechtsstaatliche Legitima­ tion erhalten und die Legitimation vielmehr über die demokratisch-politische Ebene erfolge279. Das Rechtsstaatsprinzip ziele hinsichtlich der Gesetzgebung lediglich darauf ab, eindeutige, inhaltlich hinreichende bestimmte und in sich widerspruchsfreie Gesetze, jedoch keinen gesetzesübergreifenden Anspruch auf Systemkohärenz zu fordern280. Auch folge aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem Prinzip der Rechtssicherheit, dass der Gesetzgeber die Rechtsord­ nung nicht auf einen Schlag umfassend reformieren dürfe. Tut er dies jedoch maßvoll und partiell, so seien damit zwingend Wertungswidersprüche ver­ bunden281. Widerstreitende Zwecksetzungen und irrationale Gesetze seien damit gerade rechtsstaatliche Normalität einer Gesetzgebung282. Weiter passe die Forderung nach gesetzgeberischer Rationalität nicht in das rechtsstaatlich anerkannte Prinzip des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, weil es zu „Alles-oder-Nichts- Lösungen“ führe283. Dies zeige sich besonders an der Rauchverbots-Entscheidung. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip zeichne sich insbesondere dadurch aus, dass der Gesetzgeber das mildeste Mittel zur Erreichung seiner Ziele zu wählen hat. In diesem Zusammenhang sei es wi­ dersprüchlich, dass das Bundesverfassungsgericht das strenge Mittel (absolu­ tes Rauchverbot) als zulässig erachten möchte, ein Gesetz, welches Ausnah­ men und damit mildere Mittel vorsieht, jedoch für verfassungswidrig er­ klärt284. Das Gericht verkenne bei seinen Überlegungen hinsichtlich der gesetzge­ berischen Rationalität auch, dass der Gesetzgeber keine vollziehende Be­ hörde, sondern ein unmittelbar demokratisch legitimiertes Organ sei285. Den Gesetzgeber treffe daher keine Gesetzesbindung, sondern nur die Konkreti­ sierung der Verfassung, in deren Rahmenordnung Spielräume anzuerkennen sind286. Dies erfordere, dass insbesondere Bereiche wie das Steuerrecht poli­ 279  Grzeszick,

Rationalitätsanforderungen (Fn. 268), VVDStRl 71 (2012), 49 (71). Kontrolle (Fn. 30), Der Staat 49 (2010), 630 (633). 281  Lücke, Gesetzgebungsordnung (Fn. 253), ZG 16 (2001), 1 (18); in diesem Sinne auch Tappe, Gleichheit (Fn. 277), JZ 2016, 27 (33). 282  Tappe, Gleichheit (Fn. 277), JZ 2016, 27 (32). 283  Lepsius, Anmerkung (Fn. 275), JZ 2009, 260 (262). 284  Dann, Kontrolle (Fn. 30), Der Staat 49 (2010), 630 (635). 285  Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsge­ richts, in: Jestaedt et al., Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sech­ zig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 281 (407). 286  Kischel, Rationalität (Fn. 252), S. 374. 280  Dann,



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 253

tischen und wirtschaftlichen Entwicklungen offen sein müssten287 und die Kontrolle dieser Gesetze durch die stets laufende Debatte in Wahlkämpfen erfolge288. Im Steuerrecht gebe es einen „Wettbewerb der Ideen“, in dem sodann typischerweise Kompromisse geschlossen würden289. Ferner wird darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber schon deshalb nicht zu einer wertungswiderspruchsfreien Gesetzgebung angehalten sei, weil er dies angesichts der Vielzahl der geltenden Rechtsnormen290 nicht leisten könne291. (c) Bewertung: Bedeutung des Demokratieprinzips Das Bundesverfassungsgericht stellt Anforderungen an die Rationalität und Folgerichtigkeit, die dem Grundgesetz nicht zu entnehmen sind. Das Gesetz ist nur an höherrangigen Normen zu messen, das einfache Gesetz hingegen kann nie den materiellen Prüfungsrahmen liefern292. Folgerichtig­ keits- und Rationalitätserwägungen sind auch mit dem Demokratieprinzip nicht zu vereinbaren. Der Bundestag ist keine wissenschaftliche Institution und keine Einrichtung, die verpflichtet wäre, Gesetze systematisch, umfas­ send und kohärent zu fassen. Vielmehr führt das Wesensmerkmal der Demokratie – der Kompromiss – geradezu zwingend zu irrationalen Gesetzen293. Bei politischen Entschei­ dungen geht es stets auch um Taktik und Öffentlichkeitsdarstellung, was zwangsläufig zu Formelkompromissen führt294. Wenn die CSU in einer Großen Koalition die sog. Mütterrente und die SPD die sog. Grundrente einführen möchte und der Finanzminister die hohen Kosten aus verschiede­ nen Töpfen und insbesondere aus Geldern, die eigentlich nicht für die Rente 287  Lepsius,

Gewalt (Fn. 61), S. 251. Anmerkung (Fn. 275), JZ 2009, 260 (261). 289  Lepsius, Anmerkung (Fn. 275), JZ 2009, 260 (261). 290  Nach der Bundestags-Drucksache 14/9993 vom 07.10.2002 waren nach Aus­ kunft der Bunderegierung bis Mitte 2002 auf Bundesebene 2.197 Gesetze mit 46.779 Einzelvorschriften in Kraft. Diese Anzahl dürfte sich in den vergangenen Jahren noch einmal erheblich erhöht haben. Eine Statistik des Bundestages vom 5.3.2018 zeigt, dass in den Wahlperioden seit 1990 zumeist in jeder Wahlperiode mehr als 500 Ge­ setze verabschiedet wurden, vgl. https://www.bundestag.de/resource/blob/196202/_ee 30d500ea94ebf8146d0ed7b12a8972/Kapitel_10_01_Statistik_zur_Gesetzgebung-data. pdf (22.09.2020). 291  Lücke, Gesetzgebungsordnung (Fn. 253), ZG 16 (2001), 1 (18). 292  Lepsius, Anmerkung (Fn. 275), JZ 2009, 260 (262). 293  Mengel, Gesetzgebung (Fn. 59), S. 344; Dann, Kontrolle (Fn. 30), Der Staat 49 (2010), 630 (640). 294  Steinbach, Gesetzgebung (Fn. 273), S. 82. 288  Lepsius,

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

gedacht sind, refinanzieren muss, so mag dies systemwidrig und nicht ratio­ nal sein, ist aber am Ende das Ergebnis eines langwierigen Kompromisses der regierenden Parteien, ohne den keine vernünftige Regierung hätte gebil­ det werden können295. Demokratische Gesetzgebung ist nicht rational296. Politik ist nicht rational, sondern „Politik ist das, was möglich ist“297 – oder: „Die Rationalität der Politik funktioniert anders als die Rationalität des Rechts“298, eine objektiv richtige Lösung gibt es in der Demokratie nicht299. Demgemäß sind auch die explizit im Grundgesetz vorgesehenen Regelungen zur Beschlussfassung gerade darauf ausgelegt, der Entscheidung „politische Akzeptanz“ und nicht „sachliche Richtigkeit“ zu verschaffen300. Der Ver­ mittlungsausschuss (Art. 77 Abs. 2 GG) soll vermitteln und Kompromisse, aber keine „richtige“ Entscheidung schaffen und dazu zur Akzeptanz der Entscheidung beitragen. Gleiches gilt für den Öffentlichkeitsgrundsatz der parlamentarischen Verhandlung (Art. 42 Abs. 2 GG)301. Auch die in Art. 20 Abs. 1 GG garantierte föderale Ordnung und damit verbundene Eigenstän­ digkeit der Länder und Gemeinden steht in Konflikt mit einer umfassenden Kohärenz-Prüfung des Bundesverfassungsgerichts. Der Landesgesetzgeber wäre nämlich erheblich in seiner Eigenständigkeit eingeschränkt, müsste er seine Landesgesetze stets danach ausrichten, dass diese kohärent und wer­ tungswiderspruchsfrei zu den Bundesgesetzen sind302. Deutlich wird der Widerspruch zum Demokratieprinzip auch im Hinblick auf die ganz und gar willkürliche Wahlentscheidung des Wählers, die dem Wahlgeheimnis (Art. 38 Abs. 1 GG) unterliegt. Ebenso wenig wie sich dieser 295  Bundesverfassungsrichter Bryde begründet den dem Gesetzgeber in dieser Hinsicht zukommenden Spielraum in seiner abweichenden Meinung zum Rauchver­ bot mit den Widerständen mächtiger Lobbys, die einen Kompromiss erfordern wür­ den (BVerfGE 121, 317 [Rn. 175] – Rauchverbot [2008]). Auch wenn Lobby-Ver­ bände ihre berechtigte Funktion in der parlamentarischen Demokratie haben, dürften es doch eher die verschiedenen Interessen der im Bundestag vertretenen Parteien, insbesondere der Regierungskoalition sein, die die Bereitschaft zum Kompromiss er­ fordern und damit zu irrationalen Gesetzen führen. 296  Tappe, Gleichheit (Fn. 277), JZ 2016, 27 (33). 297  Eine Aussage von Angela Merkel zum Klimapaket der Bundesregierung in 2019, vgl. „Merkel präsentiert Klimapaket“ (21.09.2019) auf www.welt.de, https:// www.welt.de/print/die_welt/article200683076/Merkel-praesentiert-Klimapaket-Politik -ist-das-was-moeglich-ist.html (22.09.2020). Für solche und ähnliche Aussagen wird Angela Merkel häufig kritisiert als „unpolitisch“ (Ulrich, Bevor da was verdirbt, Die Zeit 74, 46, 7. November 2019, S. 3). Jedenfalls diese Analyse zeigt, dass die MerkelAlternativlosigkeit und Kompromissbereitschaft im besten Sinne „Politik“ sind. 298  Lepsius, Gewalt (Fn. 61), S. 209. 299  Kischel, Rationalität (Fn. 252), S. 381. 300  Gusy, Grundgesetz (Fn. 34), ZRP 1985, 291 (298). 301  Siehe dazu auch unter Teil 3 A. I. 1. c) aa). 302  Lücke, Gesetzgebungsordnung (Fn. 253), ZG 16 (2001), 1 (18).



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 255

für seine Wahlentscheidung zu rechtfertigen braucht, gilt dies für die von den Wählern gewählten Abgeordneten, die legitimerweise auf die Stimmen der Wähler hoffen und deswegen nicht immun sind und sein müssen gegen irra­ tionale Stimmungen der Wähler303. Der Abgeordnete ist nur seinem Gewis­ sen und damit einem ganz und gar irrationalen Maßstab unterworfen304. Den Wählern wiederum verlangt das Funktionieren einer Demokratie ab, dass sie die Folgen schlechter Gesetze auch tatsächlich spüren und diese Folgen nicht vom Bundesverfassungsgericht korrigiert werden – nur so können sie bei der nächsten Wahl das Parlament wirksam kontrollieren305. Im Übrigen ist dar­ auf hinzuweisen, dass sogar ganz und gar rationale Politik in Widerspruch zum Recht geraten kann (bspw. die Erzwingung einer Aussage, die Leben retten kann, unter Folter306). So wie das Bundesverfassungsgericht damit solche Gesetze zu erhalten hat, die zweckwidrig sind, hat das Gericht umgekehrt auch solche Gesetze zu verwerfen, die zweckgemäß, aber verfassungswidrig (z. B. aufgrund von for­ mellen Fehlern) sind307. Anforderungen an die Stimmigkeit von Gesetzen sind daher nur insoweit zu stellen, dass nicht zwei Regelungen erlassen wer­ den dürfen, deren Rechtsfolgen sich gegenseitig zwingend ausschließen308. Darüber hinaus hat das Gebot der Folgerichtigkeit seinen Platz in der bipola­ ren Prüfung des Gleichheitsgrundrechtes. Es ist lediglich die Ungleichbe­ handlung einer Personengruppe oder Sachverhaltes mit einer anderen Ver­ gleichsgruppe am Maßstab der Systemstimmigkeit zu prüfen309, jedoch nicht zu prüfen, ob sich ein Gesetz in ein komplexes Gesamtsystem stimmig einfügt. bb) Art. 38 GG: Wahlrecht Auch die Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 38 Abs. 1 GG sind und waren immer wieder Gegenstand umstrittener Entscheidungen. Die Entscheidungen, in denen das Bundesverfassungsgericht gesetzgeberische Maßnahmen, die 303  Isensee,

Diskussionsbeitrag, VVDStRl 71 (2012), 82 (86 f.). Rationalität (Fn. 252), S. 381. 305  Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 41), S. 346. 306  Isensee, Die Rationalität des Staates und die Irrationalität des Menschen, AöR 140 (2015), 169 (177): „Der rationale Zweck heiligt nicht das rechtswidrige Mittel“. 307  Korinek, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRl 39 (1981), 7 (41). 308  Lücke, Gesetzgebungsordnung (Fn. 253), ZG 16 (2001), 1 (17). 309  Dabei ist jedoch stets nur das System der jeweiligen Teilrechtsordnung maß­ stabsbildend, vgl. Bulla, Verfassungsprinzip (Fn. 255), ZJS 1 (2008), 585 (590). Eine Betrachtung des Gesamtsystems würde den Gesetzgeber aufgrund der Vielzahl ge­ setzlicher Normen überfordern. 304  Kischel,

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

das Wahlrecht betreffen, als Entscheidungen in eigenen Angelegenheiten ge­ wertet hat, die eine erhöhte Kontrolldichte oder einen verringerten Spielraum begründen würden, wurden bereits im Rahmen der Darstellung der tatsächli­ chen Spielräume erörtert – und dabei zugleich darauf verwiesen, dass in Er­ örterung dieser Frage weder Rechtsprechung noch Literatur zwischen mate­ riell-rechtlichen und tatsächlichen Spielräumen differenzieren310. Nachdem in tatsächlicher Hinsicht Entscheidungen in eigener Angelegen­ heit insbesondere die gesetzgeberischen Regelungen zu den Prozent-Hürden in Kommunal- und Europawahl betraf, stand hinsichtlich materiell-recht­ licher Spielräume der „eng bemessene Spielraum“311 bei Entscheidungen in eigenen Angelegenheiten, der zu einer „strikten Kontrolle“ führen würde312, zuletzt bei der Entscheidung zur Eventualstimme zur Debatte. Trotz dieses angeblich engen Spielraums hat das Bundesverfassungsgericht die streitge­ genständliche Norm des BWahlG für verfassungsgemäß erklärt. Und das zu Recht, kann doch die Entscheidung in eigener Angelegenheit auch in materiell-rechtlicher Hinsicht kein Kriterium für einen verringerten Spielraum des Gesetzgebers sein – die Frage, wann Abgeordnete in eigener Sache entscheiden, kann schon nicht einheitlich beantwortet werden, viel­ mehr ist die Diskussion hierüber der parlamentarischen Volksvertretung zu überantworten. In der jüngsten wahlrechtlichen Entscheidung des Bundesverfassungsge­ richts ging es um den Ausschluss von Betreuten von Bundestagswahlen und damit um eine gesetzliche Regelung, die den Art. 38 Abs. 2 GG ausgestaltet. Die Regelung wurde nicht nur aufgeboben, sondern zugleich ein enger Spiel­ raum des Gesetzgebers sehr deutlich betont. Das Gericht hat ausgeführt, dass aus dem „formalen Charakter des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl“ folge, „dass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Wahlberechtigung nur ein eng bemessener Spielraum für Beschränkungen verbleibt“313. Es wurden ein „eng bemessener Spielraum“314 und ein „strenger Maßstab“315 betont. Hintergrund dürfte sein, dass es sich bei Art. 38 Abs. 2 GG um ein subjektives grundrechtsgleiches Recht handelt316 und damit in der Wirkweise den Freiheitsrechten gleichkommt. Gleichzeitig wird klargestellt, dass es 310  Siehe

Teil 4 C. V. 146, 327 (Rn. 61, 63) – Eventualstimme (2017). 312  BVerfGE 146, 327 (Rn. 63) – Eventualstimme (2017). 313  BVerfGE 151, 1 (Rn. 43) – Wahlrechtsausschluss (2019). 314  BVerfGE 151, 1 (Rn. 46) – Wahlrechtsausschluss (2019). 315  BVerfGE 151, 1 (Rn. 46) – Wahlrechtsausschluss (2019). 316  Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 38 Rn. 128; Magiera, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 9. Aufl. 2021, Art. 38 Rn. 105. 311  BVerfGE



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grundsätzlich Aufgabe des Gesetzgebers sei, die kollidierenden Belange in Ausgleich zu bringen und dass das Bundesverfassungsgericht nicht prüfe, ob der Gesetzgeber eine zweckmäßige oder rechtspolitisch erwünschte Lösung gefunden habe317. Der Gesetzgeber dürfe auch generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen treffen318. cc) Bedeutung des öffentlichen Diskurses für den Spielraum Wiederum auf das Demokratieprinzip stützt sich ein Ansatz, der davon ausgeht, dass das öffentliche Interesse an der vom Gesetzgeber entschiede­ nen Frage Einfluss auf die verfassungsgerichtliche Kontrolle habe319. Neue gesetzgeberische Entwicklungen würden mal von mehr, mal von weniger Interesse der Öffentlichkeit begleitet. Daher sei es geboten, solche Vorhaben, die weniger von der Öffentlichkeit begleitet werden, einer strengen Kontrolle zu unterwerfen. Gebe es erhebliche öffentliche Diskussionen über nicht um­ strittene Gesetze, sei hingegen eine geringe Kontrolle anzusetzen. Für solche Gesetze, die ebenso erheblich in der Öffentlichkeit diskutiert werden, die aber hoch umstritten sind, gelte wieder eine intensive Kontrolle320. Diese Auffassung ist bereits in sich widersprüchlich. Erhebliche öffentli­ che Diskussionen über ein Gesetzesvorhaben gibt es in aller Regel erst dann, wenn es in der Öffentlichkeit umstritten ist, sodass es kaum Gesetze geben würde, die keiner intensiven Kontrolle unterzogen würden. Diese Auffassung muss jedoch auch ganz grundsätzlich vor dem Hintergrund der repräsentati­ ven Demokratie des Grundgesetzes Ablehnung finden. Das Grundgesetz hat auf plebiszitäre Elemente verzichtet und auch die Entscheidung für die maß­ geblichen gesellschaftlichen Fragen dem demokratischen Gesetzgeber über­ verantwortet. Eine erhöhte oder verminderte Kontrolldichte des Bundesver­ fassungsgerichts in vorgenannten Fällen würde diese Repräsentationsfunktion unterlaufen. Darüber hinaus könnte aus demokratischer Sicht auch in umge­ kehrte Richtung argumentiert werden, d. h. dass es bei höherem Diskussions­ bedarf der Bevölkerung um eine Frage handeln müsse, die auch einer recht­ lichen Bewertung nicht abschließend zugänglich ist und bei der das am un­ mittelbarsten demokratisch legitimierteste Organ, das Gesetzgebungsorgan, die letzte Entscheidung treffen müsse321. Auch ist diese Ansicht nicht mit 317  BVerfGE

151, 1 (Rn. 47) – Wahlrechtsausschluss (2019). 151, 1 (Rn. 47) – Wahlrechtsausschluss (2019). 319  Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, 297 (303 f.). 320  Häberle, Gesellschaft (Fn. 319), JZ 1975, 297 (303). 321  Ossenbühl, Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und Prognoseentschei­ dungen durch das Bundesverfassungsgericht, in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungs­ 318  BVerfGE

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

dem Rahmencharakter der Verfassung zu vereinen. Die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ gilt dennoch – sie schränkt das Gericht nicht in seiner Kontrolle ein, hat aber Bedeutung für den Maßstab der Kontrolle322.

III. Zusammenführung der Ergebnisse 1. Bedeutung der materiell-rechtlichen Spielräume Das Grundgesetz determiniert nicht sämtliche Bereiche staatlichen Han­ delns. Ansonsten ergäbe Politik und gesetzgeberisches Handeln schon keinen Sinn mehr. Die Verfassungsinterpretation ist nicht allein Aufgabe des Bun­ desverfassungsgerichts, sondern vielmehr aller Staatsorgane323. Der Gesetzgeber hat damit nicht nur einen tatsächlichen Spielraum bezüg­ lich der Bestimmung der Wahrscheinlichkeit der Realisierung der mit einem Gesetz verbundenen Risiken324, sondern ihm kommt auch ein Spielraum bei der Frage der Gewichtung der ermittelten Risiken zu. Schon Kelsen betonte insofern, dass die „Antwort auf die Frage nach der Rangordnung der Werte – wie Leben und Freiheit, Freiheit und Gleichheit, Freiheit und Sicherheit, Wahrheit und Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit, Individuum und Nation – verschieden ausfallen [muss], je nachdem die Frage sich an einen gläubigen Christen richtet […] oder an einen Materialisten“325. Wenn die Bundeskanzlerin als Mitglied einer Partei, die in ihrem Namen ihre christlichen Werte betont, während der Corona-Krise 2020 von „Öffnungs­ diskussionsorgien“ spricht326 und damit den Schutz des Lebens (bei dem hinsichtlich der Gefahrenrealisierung eine hohe Unsicherheit besteht) in einer Risikoabwägung trotz der hohen Unsicherheit höher gewichten will als die wirtschaftlichen Belange (hinsichtlich derer eine Beeinträchtigung mit hoher Wahrscheinlichkeit im großen Umfang eintritt), dann ist dies genauso eine verfassungsrechtlich legitime politische Position wie die Position des Vorsit­ zenden einer wirtschaftsliberalen Partei, der die Bundeskanzlerin hierfür kritisiert und die Belange der Wirtschaft stärker gewichten will327. Während gericht und Grundgesetz: Festgabe aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Bundes­ verfassungsgerichts, Bd. I, 1976, S. 458 (511). 322  Siehe dazu Teil 6 B. I. 323  Isensee, Bundesverfassungsgericht – quo vadis?, JZ 1996, 1085 (1091). 324  Siehe dazu Teil 4 C. 325  Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, 2016 (Original 1953), S. 19. 326  Diese Aussage zitierend „Keine Öffnungsdiskussionsorgie“ (20.4.2020) auf ta­ gesschau.de, https://www.tagesschau.de/inland/merkel-lockdown-101.html (22.9.2020). 327  Vgl. hierzu die Aussagen von FDP-Chef Christian Lindner in „Parteichef Christian Lindner plädiert für maßvolle Öffnung“ (22.4.2020), https://www.deutsch



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 259

schon fraglich war, inwiefern sich die Gesetzgebung an weiter unsicheren Prognosen der Wissenschaft orientieren muss328, kann die Wissenschaft erst recht nicht die komplexe politische Abwägungsentscheidung ersetzen. Materielle Entscheidungsspielräume können auch als politische Entschei­ dungsspielräume, die im Hinblick auf die Bewertung und Einschätzung von bestimmten Umständen bestehen, umschrieben werden. Die Verwendung des Begriffes der „politischen Einschätzungsprärogative“329 ist jedoch ungenau. Der Gesetzgeber hat kein „Prä“, kein Recht zur „vorherigen“ oder „ersten“ Bewertung, er darf in den ihm zugewiesenen Bereichen vielmehr ganz frei entscheiden. Dem Gesetzgeber kommen grundsätzlich bereits auf der Ebene des „Ob“, d. h. im Hinblick darauf, ob der Gesetzgeber überhaupt tätig wer­ den und ein bestimmtes Ziel verfolgen soll, Spielräume zu. Er hat damit im Hinblick auf diverse gesellschaftliche Themen die freie Entscheidung, ob er sich dieser überhaupt annimmt. Neben der Frage des „Ob“ hat der Gesetzge­ ber auch in Bezug auf das „Wie“ wesentliche Freiheiten. Im Rahmen seiner politischen Gestaltungsbefugnis kann der Gesetzgeber regelmäßig aus einem Korridor verschiedener verfassungsrechtlich zulässiger Entscheidungs- und Handlungsoptionen wählen. Auch in den Fällen, in denen das Grundgesetz das „Ob“, d. h. das Ziel vorgibt, gibt es regelmäßig einen Korridor von ver­ schiedenen möglichen zulässigen Regelungen im Rahmen dessen dem Ge­ setzgeber die konkrete Ausgestaltung überlassen ist. Auch Formulierungen, dass diese politischen Gestaltungspielräume einer eingeschränkten verfassungsgerichtlichen Kontrolle oder einer bestimmten Kontrolldichte unterliegen, irritieren. Es geht eher darum, dass das Grundge­ setz für politische Entscheidungen keinen Maßstab bereithält und politische Entscheidungen somit auch nicht am Grundgesetz gemessen werden können. Dort, wo aber kein Maßstab besteht, kann dieser auch nicht eingeschränkt werden. Materielle Entscheidungsspielräume bestehen entweder oder nicht. Sie werden nicht unterschiedlich dicht kontrolliert. 2. Systematisierung von Spielräumen Auch wenn die eingangs dieser Arbeit erwähnten Begriffe, mit denen das Bundesverfassungsgericht gesetzgeberische Spielräume beschreibt, unein­ heitlich sind und der Begriff der Kontrolldichte nicht passend ist, kann dem Bundesverfassungsgericht eine gewisse Stringenz in seiner Argumentation attestiert werden. Die differenzierende Handhabe verschiedener Spielräume, landfunkkultur.de/fdp-kritik-an-angela-merkel-parteichef-christian-lindner.2950.de. html?dram:article_id=475204 (22.9.2020). 328  Siehe dazu Teil 4 C. III. 3. 329  Beispielsweise BVerfGE 134, 242 (Rn. 298) – Braunkohletagebau (2013).

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

je nachdem inwiefern bestimmte grundrechtliche Positionen betroffen sind, hilft dabei, die Reichweite gesetzgeberischer Spielräume zu bestimmen. Zutreffend erkennt das Bundesverfassungsgericht bei einseitigen Eingrif­ fen in Freiheitsrechte, insbesondere in der klassischen Eingriffsverwaltung im Über-/Unterordnungsverhältnis, weniger Spielräume an als bei Ausgestal­ tungsregelungen oder der Realisierung von Schutzpflichten330. Kollidieren jedoch zwei Freiheitsgrundrechte miteinander, betont das Gericht zutreffend einen größeren gesetzgeberischen Spielraum. Gleiches gilt für die Umset­ zung von Schutzpflichten und Einrichtungsgarantien. In Widerspruch auch zur eigenen Rechtsprechung, nach der der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung von staatsorganisationsrechtlichen Fragestellungen einen größeren Spielraum besitzt, setzt sich das Gericht aber, wenn es für sog. Entscheidungen in eige­ ner Angelegenheit jenen Spielraum reduziert. Zur Bestimmung des gesetzgeberischen Spielraums kann nicht darauf ab­ gestellt werden, ob die Grundrechte vorbehaltlos gewährt wurden oder nicht. Die Auffassung, dass die Spielräume bei solchen vorbehaltlos gewährten Grundrechten aufgrund der besonderen Bedeutung dieser Grundrechte beson­ ders eng sind331, wurde vielmehr durch die durchgeführte Analyse widerlegt. Bei der Prüfung eines Eingriffs in ein vorbehaltlos gewährtes Grundrecht sind die Spielräume des Gesetzgebers tendenziell größer. Ein höherer Spiel­ raum folgt jedoch nicht daraus, dass die vorbehaltlos gewährten Grundrechte weniger wertig wären, sondern schlicht aus dem Umstand, dass ein Eingriff überhaupt nur zu Gunsten von grundrechtsbegrenzenden Rechtsgütern mög­ lich ist. Dieser Eingriffszweck steht in diesen Fällen dem Gesetzgeber ein­ griffslegitimierend zur Seite. Die Bestimmung der Wertigkeit von Grund­ rechten liegt somit gerade im politischen Spielraum des Gesetzgebers. Die Bestimmung der materiell-rechtlichen Kontrolle des Gesetzgebers ist vom Verhältnismäßigkeitsprinzip und dem diesen prägenden Angemessen­ heitsgrundsatz geprägt. Rechtswissenschaftliche und bundesverfassungsge­ richtliche Diskussionen scheinen dieses Prinzip zumeist als universellen verfassungsrechtlichen Grundsatz zu verstehen. Die Überprüfung der Ver­ hältnismäßigkeitsanwendung durch die gesetzgebende (unmittelbar demokra­ 330  Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum das Bundesverfas­ sungsgericht in dem unter Teil 4 B. I. genannten Entscheidungen ausnahmsweise noch nicht einmal im Maßstabteil einen Spielraum des Gesetzgebers betont hat. Diese Entscheidungen befassten sich insbesondere mit Eingriffen in die klassischen Frei­ heitsrechte gem. Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG sowie Art. 2 Abs. 2 GG. 331  So bei Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1984, § 34 Rn. 1672; Britz, Verhältnis (Fn. 147), Jura 2015, 319 (323).



D. Materiell-rechtliche Spannungsfelder und Spielräume 261

tisch legitimierte) Gewalt ist jedoch etwas anderes als diejenige der Verwal­ tung und Rechtsprechung. Insbesondere bei der Normenkontrolle ist damit zu berücksichtigen, dass der politische Prozess auf Kompromisse ausgerichtet ist, die dem Verhältnismäßigkeitsprinzip eigentlich fremd sind – das Verhält­ nismäßigkeitsprinzip muss bei der Kontrolle von Legislativakten damit „durch institutionelle Rücksichtnahme ergänzt werden“332. Insbesondere an die objektiv-rechtlichen Dimensionen der Grundrechte ist der Gesetzgeber weniger gebunden als Judikative und Exekutive333. Das Bundesverfassungs­ gericht täte gut daran, sich dies vor Augen zu halten und auch in seinen Entscheidungen zu betonen. Im Rahmen dessen ist zu beachten, dass die Grundrechte als Prinzipien verstanden werden können und auch der Grund­ satz der praktischen Konkordanz seine Berechtigung hat. Dies darf jedoch nicht dazu führen, dass die Verfassung auf Optimierung ausgerichtet wird und das nicht homogene Normgefüge der Art. 1–19 GG aufgelöst wird in eine Reihe von Prinzipien mit Optimierungsgeboten334. Hierzu dient die differenzierende Handhabe verschiedener Spielräume je nachdem inwiefern bestimmte grundrechtliche Positionen betroffen sind. Dem Bundesverfassungsgericht wäre zu raten, eine einheitliche Benen­ nung der materiell-rechtlichen Spielräume vorzunehmen. Es bietet sich der Begriff des politischen (Gestaltungs-) Spielraums an. Der in der Rechtspre­ chung des Bundesverfassungsgerichts relativ neue Begriff des „Ausgestal­ tungsspielraums“335 wird nicht stringent durch das Bundesverfassungsgericht angewandt. Passend ist der Begriff für solche – grundsätzlich weiten – Spiel­ räume bei der Ausgestaltung von Schutzrechten oder ausgestaltungsbedürfti­ gen Freiheitsrechten, weniger bei Eingriffen in klassische Freiheitsrechte.

332  Lepsius,

Chancen (Fn. 1), S. 37; dazu auch Lepsius, Gewalt (Fn. 61), S. 210 ff. Gewalt (Fn. 61), S. 199. 334  Reimer, Jüngern (Fn. 93), Der Staat 52 (2013), 27 (40). 335  Dazu Teil 4 B. 2. b) aa). 333  Lepsius,

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

E. Zusammenfassung Lässt die uneinheitliche Verwendung von Begriffen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf den ersten Blick auch in inhaltlicher Hin­ sicht ein fehlendes Konzept vermuten, so stellt sich bei genauerer Betrach­ tung der Rechtsprechung des Gerichts zumindest eine gewisse inhaltliche Stringenz heraus. Diese zeigt sich insbesondere darin, dass das Bundesver­ fassungsgericht mit der Verwendung von Spielraum- und Freiheitsbegriffen eher vorsichtig ist, wenn es in materieller Hinsicht Eingriffe in die Abwehr­ dimension von Freiheitsgrundrechten prüft. Auch hinsichtlich der tatsächlichprognostischen Spielräume ist der Rechtsprechung eine gewisse Stringenz bei der Verwendung der im Mitbestimmungsurteil aufgestellten Maßstäbe zu entnehmen. Rechtsprechung und Literatur sprechen sowohl im Hinblick auf materiellrechtliche als auch tatsächlich-prognostische Spielräume von unterschiedlich „strenger“, „strikter“ oder „intensiver“ Kontrolle und weisen damit auf eine unterschiedliche Kontrolldichte von gesetzgeberischen Entscheidungen hin. Hinsichtlich der materiell-rechtlichen Spielräume kann es eine solche ver­ schiedene Intensität der Kontrolle von politischen Entscheidungen nicht ge­ ben. Der Gesetzgeber hat einen Korridor von möglichen politischen Ent­ scheidungen, die allesamt aus rechtlicher Sicht mit der Verfassung über­ einstimmen. Im Hinblick auf die materiell-rechtliche Bewertung, ob das gesetzgeberische Tätigwerden mit der Verfassung übereinstimmt, gibt es ­ möglicherweise verschiedene Rechtsansichten, aber letztlich nur eine Mög­ lichkeit der letztverbindlichen Entscheidung. Die Frage, ob ein Gesetz – aus rein rechtlichen Gründen – „wahrscheinlich“ mit der Verfassung in Einklang steht, stellt sich schlicht nicht. Aus diesem Grund stellt sich auch nicht die Frage, ob diese rein materiell-rechtlichen Entscheidungsspielräume intensiv, strikt oder auf offensichtliche Fehler geprüft werden1. Gleichwohl gibt es in vielen Fällen mehrere Regelungsmöglichkeiten, die „sicher“ mit der Ver­ fassung übereinstimmen. In dieser Auswahl einer der sicher mit der Verfas­ sung übereinstimmenden Regelungsmöglichkeiten liegt der Spielraum des Gesetzgebers. Ein Vorrang oder eine Vorhand des Gesetzgebers hinsichtlich der Einschätzung besteht aber gerade nicht – es geht vielmehr darum, dass Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht verschiedene Kompetenzen zu­ kommen2. 1  Jüngst betonte das Gericht im Urteil zur geschäftsmäßigen Sterbehilfe eine „hohe Kontrolldichte“, BVerfG NJW 2020, 905 (Rn. 266) – geschäftsmäßige Sterbe­ hilfe (2020). 2  Treffend auch Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 514.



E. Zusammenfassung263

Feststellungen von Tatsachen sowie insbesondere Prognosen hingegen sind im Gegensatz zur rechtlichen Bewertung nicht mit Sicherheit genau, sondern unterliegen teils erheblichen Unsicherheiten. Im Hinblick auf diese ist es daher verfassungsrechtlich geboten, je nach Intensität des verletzten Rechts­ gutes differenzierende Maßstäbe daran anzusetzen, ob eine hohe Wahrschein­ lichkeit notwendig ist oder nicht, d. h. ob man sich darauf beschränken kann, festzustellen, dass der verfassungswidrige Fall offensichtlich nicht eintritt (d. h. eine gewisse Unsicherheit akzeptiert), oder ob man eine hohe Sicher­ heit fordert und daher streng prüft. Tatsächlich-prognostische und materiell-rechtliche Spielräume können da­ mit voneinander abgegrenzt werden. Durch die verschiedenen vom Bundes­ verfassungsgericht verwendeten Begriffe gelingt dies dem Gericht nicht im­ mer eindeutig, auch wenn der Verwendung der Begriffe zumindest auch in Bezug auf die Abgrenzung der Spielräume zum Teil eine gewisse Stringenz zu entnehmen ist. Dem Bundesverfassungsgericht ist dennoch zu raten, die Unterscheidung, ob materielle oder tatsächliche Entscheidungsspielräume geprüft werden, deutlicher zu machen. Ebenso wie die Spielräume abgrenzbar sind, beeinflussen sie sich gegen­ seitig: Die Prüfung der Angemessenheit muss stets auf vorher gemachte Feststellungen von Tatsachen und Prognosen abstellen. Je nachdem welche Tatsachen und Prognosen man annimmt, desto unterschiedlicher fällt die Angemessenheitsprüfung aus. Die Bestimmung der exakten tatsächlichen Spielräume ist damit auch für die Prüfung der materiell-rechtlichen Ange­ messenheit von großer Bedeutung. Die Prüfung der Geeignetheit und Erfor­ derlichkeit ist damit unbedingt ernst zu nehmen und noch stärker interdiszi­ plinär zu öffnen: „Über Tatsachen können Juristen, anders als über Rechts­ fragen, kein Interpretationsmonopol beanspruchen“3. Als Glücksfall für die Entpolitisierung der verfassungsgerichtlichen Prü­ fung erweist sich zudem das Verhältnismäßigkeitsprinzip mit seinem gestuf­ ten Prüfprogramm, welches die Begründung von verfassungsgerichtlichen Entscheidungen strukturiert und rationalisiert4. Während die Bestimmung des legitimen Zwecks eine urpolitische Entscheidung ist, stellt sich insbeson­ dere die Geeignetheit der Maßnahme als eine dem Tatsächlichen zugängliche „unpolitische“ Rationalitätsfrage dar5. Die Prognoseprüfung im Rahmen der Erforderlichkeit ist schon eher auf politische Bewertungen angewiesen – die politische Einschätzungsprärogative erhöht sich somit, je komplexer und unsicherer die Entscheidung ist. Die Prüfung der Angemessenheit ist wiede­ 3  Lepsius, Chancen und Grenzen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 1 (40). 4  Lepsius, Chancen (Fn. 3), S. 21. 5  Lepsius, Chancen (Fn. 3), S. 20.

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Teil 4: Spannungsfelder im Normenkontrollvorgang

rum in erheblichem Maße von politischen Wertungen und Gütergewichtun­ gen abhängig, sodass das Bundesverfassungsgericht den politischen Spiel­ raum des Gesetzgebers zu achten hat. Damit können funktionell-rechtliche Gründe sowohl für materiell-recht­ liche als auch tatsächliche Spielräume fruchtbar gemacht werden. Im Hin­ blick auf den Spielraum hinsichtlich prognostischer Entscheidungen ist es die politische Verantwortlichkeit für fehlerhafte Prognosen und damit die Mög­ lichkeit der Abwahl, welche dem Gesetzgeber die primäre Zuständigkeit für Prognosen zuweist. Im Hinblick auf die materiellen Spielräume ist es nicht primär die erhöhte demokratische Legitimation des Gesetzgebers, sondern vielmehr das besondere Verfahren des politischen Prozesses, des Für und Wider, des Austausches der parteipolitischen Positionen, der verschiedenen Überzeugungen und der dies alles begleitende mediale und öffentliche Diskurs, der dazu führt, dass der Spielraum des Gesetzgebers insbesondere bei mehrdimensionalen Freiheitsproblemen, Gleichheitsrechten und Ausgestal­ tungsaufträgen groß ist. Das Bundesverfassungsgericht sollte nicht nur in der Verwendung der Be­ griffe klarer werden, sondern auch darin, die Spielräume des Gesetzgebers tatsächlich ernst zu nehmen. Der stets beschworene Appell, die Entschei­ dungsspielräume des Gesetzgebers zu berücksichtigen stellt sich häufiger eher als Floskel dar, als dass er tatsächlich den Entscheidungen des Gerichts zu Grunde gelegt würde6. Der Sprachgebrauch des Gerichts ist damit teil­ weise von einer „stillosen Degradierung der Ersten Gewalt“7 geprägt. Das Bundesverfassungsgericht wird dann die Spielräume auch bei der Anwen­ dung auf den konkreten Fall berücksichtigen und die Spielräume nicht nur als Floskeln in einem Maßstabsteil aufgreifen, wenn das Gericht seine Recht­ sprechung stärker kontextualisiert, d. h. einen stärkeren Fokus auf den Sub­ sumtionsteil legt, anstatt das Verfassungsrecht selbstreferenziell durch aus­ wuchernde Maßstäbeteile zu konkretisieren.

6  Korioth/Schlaich, 7  Lepsius,

Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 531. Chancen (Fn. 3), S. 11.

Teil 5

Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung: Spielräume des Bundesverfassungsgerichts Neben den Fragen, inwiefern dem Bundesverfassungsgericht durch den Antrag Grenzen gezogen werden können, sowie inwieweit dem Gesetzgeber im Rahmen des konkreten bundesverfassungsgerichtlichen Kontrollvorgangs eines Gesetzes (d. h. in der Überprüfung, ob eine Norm mit der Verfassung übereinstimmt) Spielräume zustehen, in die das Bundesverfassungsgericht nicht eingreifen darf, besteht ein Spannungsfeld zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht auch bei der abschließenden Normenkontrollentscheidung des Bundesverfassungsgerichts. An diesem Punkt kehrt sich das Spielraum-Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht gewissermaßen um. Statt um die Spielräume des Gesetzgebers bei der Aus­ gestaltung der Norm geht es um die Spielräume des Gerichts bei der Ausge­ staltung seiner Entscheidung. Diese Spielräume könnte das Gericht versucht sein, zu stark in Anspruch zu nehmen. Das Gericht könnte Spielraumgrenzen überschreiten, wenn es eine Entscheidung trifft, die einer gestalterischen ge­ setzgeberischen Entscheidung gleichkommt – es besteht die Gefahr, dass das Gericht zum Ersatzgesetzgeber1 wird. Die mögliche Entgrenzung des Ge­ richts zeigt sich damit auch bei den Entscheidungsvarianten des Bundesver­ fassungsgerichts2. Grundgesetz und Bundesverfassungsgerichtsgesetz regeln die Entschei­ dungsoptionen des Bundesverfassungsgerichts nur oberflächlich. Während das Grundgesetz zu der Frage, was die konkrete Folge der Feststellung eines Verfassungsverstoßes ist, schweigt, regelt das Bundesverfassungsgerichtsge­ setz in § 78 S. 1 BVerfGG explizit, dass ein Gesetz für nichtig zu erklären ist, wenn seine Regelung gegen die Verfassung verstößt. Dies hat konkrete erhebliche Folgen nicht nur für den Gesetzgeber, sondern für alle staatlichen Organe. Die Entscheidung bindet jene (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) und hat Geset­ zeskraft (§ 31 Abs. 2 BVerfGG). Die Entscheidung greift tief in die Befug­ nisse des Gesetzgebers ein, stellt jedoch keine Grenzüberschreitung dar, ist 1  Zum Beispiel Götz/Schneider, Das Bundesverfassungsgericht als Ersatzgesetz­ geber, DVBl. 2012, 145 (145 ff.). 2  Aust/Meinel, Entscheidungsmöglichkeiten des BVerfG, JuS 2014, 113 (117) in Bezug auf Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht 2011.

266

Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

die Erklärung der Nichtigkeit doch logische und vom Verfassunggeber ge­ wollte Konsequenz eines Verfassungsverstoßes. Nach § 78 S. 2 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht für den Fall, dass weitere Bestimmungen des gleichen Gesetzes aus denselben Gründen mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht unvereinbar sind, diese Bestimmungen ebenso für nichtig erklären. Darüber hinaus hat sich ein Kanon von weiteren Entscheidungsoptionen herausgebildet3, die von Unvereinbarerklärungen über Weitergeltungsan­ ordnungen bis zu Übergangsregelungen reichen. Ebenso wie die verfassungsund einfachrechtlichen Anknüpfungspunkte für diese Entscheidungsoptionen nicht eindeutig sind, lassen die Entscheidungsvarianten in ihrer konkreten Tenorierung immer noch erhebliche Formulierungsunterschiede erkennen4. Flexible Entscheidungsmöglichkeiten tragen zunächst einmal zur Entspan­ nung des Verhältnisses von Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht bei, weil diese dazu führen, dass Entscheidungen nicht als „Alles-oder-NichtsEntscheidungen“ ergehen müssen. Eine breite Palette von Entscheidungs­ möglichkeiten“ zwischen den beiden grundsätzlichen Polen, den Entschei­ dungsalternativen der Normbestätigung und Normnichtigerklärung stellt damit ein „geschmeidiges, elastisches Instrumentarium“ dar, welches den ­ Gesetzgeber besonders schont5. Trotzdem sind gewisse Konfliktfelder im Rahmen der verschiedenen Entscheidungssituationen auszumachen. Das Bundesverfassungsgericht unterläuft der Gefahr, dem politischen Prozess vorzugreifen – was sogar unbewusster erfolgen kann, als dies beim Zücken des scharfen Schwertes der Aufhebung einer gesetzgeberischen Entscheidung der Fall ist6. Im Bereich der Normenkontrollentscheidung sind somit – je nach Entscheidungssituation – verschiedene Konfliktfelder auszumachen.

3  Heusch, Verfassungsgerichtliche Gesetzeskontrolle, in: Kluth/Augsberg (Hrsg.), Gesetzgebung. Rechtsetzung durch Parlamente und Verwaltungen sowie ihre gericht­ liche Kontrolle, 2014, S. 909 (928). 4  So auch Rixen, Wie lange gilt die Übergangsregelung des Tarifeinheitsurteils?, NVwZ 2018, 784 (785). 5  Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Huber (Hrsg.), Recht als Prozess und Gefüge, 1981, S. 261 (268); Bethge, in: Maunz et al. (Hrsg.), BVerfGG, § 31 (2019) Rn. 202 ff. 6  Dazu Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, 2021, S.  58: „Sosehr das Gericht auch zögert, Entscheidungen der politischen Organe aufzuheben, so wenig steht es doch an, dem politischen Prozess vorzugreifen und selbst gesetzgeberische Funktio­ nen zu übernehmen“.



A. Vereinbarkeit mit der Verfassung: Verfassungskonforme Auslegung 267

A. Vereinbarkeit mit der Verfassung: Verfassungskonforme Auslegung In dem für den Gesetzgeber günstigsten Fall und damit in der Situation mit dem vermeintlich geringsten Konfliktpotenzial stellt das Bundesverfas­ sungsgericht die Vereinbarkeit mit der Verfassung fest. Eine derartige Verein­ barkeitserklärung hat keine Folgen für den Gesetzgeber, sondern stellt ledig­ lich eine Bestärkung der Norm dar1. Der Tenor der Bestätigung erwächst in Gesetzeskraft2, § 31 Abs. 2 BVerfGG. Von einer Verwerfung der Norm sieht das Bundesverfassungsgericht auch in solchen Fällen ab, in denen das Gericht das Gesetz nur in einer bestimm­ ten verfassungskonformen Auslegung für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt. Aufgrund von § 31 Abs. 1 BVerfGG sowie der faktischen Autorität des Gerichts sind alle Gerichte und Behörden an die vom Gericht festge­ stellte Auslegungsvariante gebunden3. Dass das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit einer solchen Rechts­ folgenregelung hat, ist zwar nicht ausdrücklich im Grundgesetz oder BVerfGG geregelt, wird gleichwohl durch die Regelung des § 79 Abs. 1 BVerfGG4 ­anerkannt5. Hält das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz nur unter Zugrun­ delegung einer bestimmten Auslegung für verfassungskonform, so stellt das Gericht seine dahingehende Auslegung nicht nur in den Gründen dar, sondern tenoriert diese verfassungskonforme Auslegung ausdrücklich6 und formuliert, dass das Gesetz mit „der sich aus den Gründen ergebenden Auslegung“7 mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

1  Blasberg,

Verfassungsgerichte als Ersatzgesetzgeber, 2003, S. 15. Verfassungsgerichtliche Gesetzeskontrolle, in: Kluth/Augsberg (Hrsg.), Gesetzgebung. Rechtsetzung durch Parlamente und Verwaltungen sowie ihre gericht­ liche Kontrolle, 2014, S. 909 (928). 3  Blasberg, Verfassungsgerichte (Fn. 1), S. 43; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 93 Rn. 52; Walter, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 93 (2017) Rn. 113. 4  Dort heißt es: „Gegen ein rechtskräftiges Strafurteil, das auf einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder nach § 78 für nichtig erklärten Norm oder auf der Auslegung einer Norm beruht, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist, ist die Wiederaufnahme des Verfahrens nach den Vorschriften der Strafprozeßordnung zulässig“ [Hervorhebungen durch den Verfas­ ser]. 5  Höpfner, Gesetzesbindung und verfassungskonforme Auslegung im Arbeitsund Verfassungsrecht, RdA 2018, 321 (329). 6  Heusch, Gesetzeskontrolle (Fn. 2), S. 928. 7  BVerfGE 30, 1 (Tenor) – Abhörurteil (1970), stRspr. 2  Heusch,

268

Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

Die Begründung, dass ein Gesetz „gerade noch“ verfassungskonform aus­ gelegt werden kann, ist zunächst als Respekt vor der Autorität des unmittel­ bar demokratisch legitimierten Gesetzgebers zu verstehen, da sein Gesetz aufrecht erhalten bleibt, statt verworfen zu werden8. Bei genauerer Betrach­ tung ist jedoch zu differenzieren. Während man dem Bundesverfassungsge­ richt zu Gute halten kann, dass es den gesetzgeberischen Willen gewahrt hat, weil es das Gesetz nicht für nichtig erklärt hat, besteht die Gefahr, dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetz gegen den Wortlaut eine zwar verfas­ sungskonforme, aber „andere“ Auslegung gegeben hat, die gegebenenfalls dem Willen und der Intention des Gesetzgebers widerspricht9. Das ist dann der Fall, wenn die vom Bundesverfassungsgericht festge­ stellte Auslegungsvariante der Norm einen anderen als vom Gesetzgeber ge­ wollten Sinngehalt erhält. Aufgrund der bereits festgestellten Bindungswir­ kung der Auslegungsvariante findet sodann eine Konstitutionalisierung der einfachen Rechtsordnung statt10 und gesetzliche Alternativen werden aus­ geschlossen11. Dem Gesetzgeber wird die Möglichkeit verwehrt, selbst ein verfassungskonformes Gesetz zu erlassen. Das Spannungsverhältnis zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht zeigt sich nicht in einer konkre­ ten Verwerfungshandlung, sondern vielmehr subtil in der verfassungskonfor­ men Auslegung. Nicht mit Unrecht wird an dieser Stelle der Vorwurf laut, dass es sich um „Normverwerfung im anderen Gewande“ handeln würde und dass Fragen vermengt würden, die eigentlich nur mit gesetzgeberischer Rechtsetzung beantwortet werden könnten12. 8  Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber, 1997, S. 18; Blasberg, Ver­ fassungsgerichte (Fn. 1), S. 41; Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, 2021, S. 53 nennt die verfassungskonforme Auslegung neben der Anerkennung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit als einen der beiden stets wiederkehrenden Grundsätze, nach de­ nen das Gericht versuchen würde, die Grenze zur Gesetzgebung zu wahren. 9  Die verfassungskonforme Auslegung wirft jedoch auch rechtsstaatliche Probleme im Verhältnis zum rechtsschutzsuchenden Bürger auf. Die verfassungskonforme Aus­ legung kann daher möglicherweise zu Gunsten des Gesetzgebers, aber zum Nachteil des Bürgers erfolgen. In einer abweichenden Meinung zum Urteil zum Tarifeinheitsge­ setz (2017) formulierten die Richter daher, dass das Urteil auf eine „mühevolle“ Aus­ legung hätte verzichten sollen, welche nur erfolgt sei, um den „Wünschen“ des Gesetz­ gebers Folge zu leisten. Vielmehr hätte man im Sinne des Grundrechtsschutzes gleich das scharfe Schwert zücken und die Vorschrift für verfassungswidrig erklären müssen, BVerfGE 146, 71 (abw. Meinung Rn. 24) – Tarifeinheitsgesetz (2017). 10  Ossenbühl, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 75 (83). 11  Hermes, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRl 61 (2002), 119 (140). 12  Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, in: Jestaedt et al., Das ent­ grenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 77 (140).



A. Vereinbarkeit mit der Verfassung: Verfassungskonforme Auslegung 269

I. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht erklärt in ständiger Rechtsprechung, dass die verfassungskonforme Auslegung dort endet, „wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch“ trete13. Damit vertritt das Bundesverfassungsgericht eine grundsätzlich weite Auffas­ sung, die es allerdings mal strenger und mal weniger streng handhabt14. Konkret bedeutet das, dass sich das Gericht auch über den Wortlaut hinweg­ setzen dürfe und erst dort eine Auslegungsgrenze finde, wo sich ein Wider­ spruch zum Willen des Gesetzgebers auftut: Der Wortlaut sei damit keine Grenze der verfassungskonformen Auslegung15. Vielmehr sei auf den Zweck der Vorschrift abzustellen. Die Auslegung dürfe nur nicht so weit gehen, dass dieser verfehlt und verfälscht wird16. Darüber hinaus wird sogar vertreten, – und in der Entscheidung zum EuroRettungsschirm auch praktiziert – dass das Bundesverfassungsgericht auch politische Faktoren ausnahmsweise berücksichtigen und eine verfassungs­ konforme Auslegung vornehmen dürfe, wenn ansonsten der Ruin der Verfas­ sung drohe17. Das Bundesverfassungsgericht müsse eine Folgenkontrolle betreiben, damit es nicht – nur, um dem Grundgesetz zur Geltung zu verhel­ fen – zum „Selbstmord“ des Staates beitrage18. Diesen Maßstab hat das Bundesverfassungsgericht offenbar zum Gegenstand der genannten Entschei­ dung zum Euro-Rettungsschirm19 gemacht, die im Hinblick auf das Einmi­ schen in die gesetzgeberische Tätigkeit einerseits gelobt20, anderseits kriti­ siert wurde21. Zur Sicherung der Stabilität des Euro, dessen Existenz durch die weltweite Finanz- und Währungskrise zu Beginn des neuen Jahrzehnts auf dem Spiel stand, hatte der Bundestag im Mai 2010 die Bundesregierung zu umfangreichen Kreditvergaben ermächtigt. Im hiergegen gerichteten Ver­ 13  BVerfGE 18, 97 (Rn. 50) – Zusammenveranlagung (1964); BVerfGE 33, 52 (Rn. 94) – Verbringungsgesetz (1972); zuletzt z. B. in BVerfGE 148, 69 (Rn. 150) – Richter auf Zeit (2018); BVerfGE 138, 64 (Rn. 86) – Planungsschadensrecht (2014). 14  Steiner, Zum Entscheidungsausspruch, in: Isensee/Leisner (Hrsg.), Freiheit und Eigentum, 1999, S. 569 (573). 15  Zustimmend Höpfner, Gesetzesbindung (Fn. 5), RdA 2018, 321 (330). 16  Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen unter besonderer Be­ rücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1966, S. 68. 17  Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 44. 18  Siedler, Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1999, S. 50. 19  BVerfGE 129, 124 – Griechenlandhilfe (2011). 20  Klotz, Die Machtbalance zwischen Politik und verfassungsgerichtlicher Recht­ sprechung, ZRP 2012, 5 (5 ff.). 21  Götz/Schneider, Das Bundesverfassungsgericht als Ersatzgesetzgeber, DVBl. 2012, 145 (145 ff.).

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Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

fassungsbeschwerde-Verfahren stimmte das Bundesverfassungsgericht den Beschwerdeführern grundsätzlich zu und stellte fest, dass sich aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG ergebe, dass der Bundestag seine Budgetverantwortung nicht auf andere Akteure übertragen dürfe, wenn es dadurch zu nicht überschauba­ ren, dauerhaften haushaltsbedeutsamen Belastungen mit schwer kalkulierba­ ren Folgewirkungen käme22 – eine derartige Belastung stellte das Bundesver­ fassungsgericht jedoch gerade nicht fest, da die Gesetze der Höhe, dem Zweck und der Modalitäten nach hinreichend beschränkt seien23. Bemer­ kenswert kurz und fast schon lapidar führte das Bundesverfassungsgericht jedoch sodann in dieser 142 Randnummern umfassenden Entscheidung in lediglich einer Randnummer (141) aus, dass das im Gesetz vorgesehene bloße Bemühen um Einvernehmen mit dem Haushaltsausschuss keine ange­ messene Wahrnehmung der Budgetverantwortung darstelle, diese Vorschrift aber verfassungskonform dahingehend auszulegen sei, dass statt des Bemü­ hens um Einvernehmen eine vorherige Zustimmung des Haushaltsausschus­ ses einzuholen sei24. Eine derartige Auslegung widerspricht nicht nur of­ fensichtlich dem Wortlaut des zu überprüfenden Gesetzes, sondern auch dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers: Denn die Frage nach der Beteiligung des Parlaments war ja nicht gänzlich von diesem vergessen, sondern es war bewusst nur eine Unterrichtung des Haushaltsausschusses geregelt wor­ den25. Hintergrund der Auslegungs-Entscheidung des Gerichts war, dass die Er­ klärung der Verfassungswidrigkeit aus Gründen der allgemeinen europäi­ schen und innerstaatlichen Sicherheit jedoch hoch problematisch gewesen wäre. Die verfassungskonforme Auslegung erfolgte offenbar deswegen, um weitreichende politische Folgen für die Europäische Union zu verhindern26. Das Gericht hat damit politische Folgen gegen die eigentlich verfassungs­ rechtlich korrekte Entscheidung abgewogen. Damit wird das politische Argu­ ment über die politische Wirkung hinaus heraufgesetzt zu einem der Verfas­ sung selbst immanenten rechtlichen Aspekt. Es bleibt aber schon unklar, was unter dem drohenden Ruin für den Staat überhaupt zu verstehen ist. Allenfalls könnte daran zu denken sein, quasi staatsnotrechtliche Befugnisse dann auszuüben, wenn sich ein anderes Ver­ fassungsorgan funktionsunfähig oder-unwillig zeigt27. Solange dies jedoch nicht der Fall ist, darf das Bundesverfassungsgericht nicht in die Sphäre des 22  BVerfGE

129, 124 (Rn. 125 ff.) – Griechenlandhilfe (2011). 129, 124 (Rn. 139 f.) – Griechenlandhilfe (2011). 24  BVerfGE 129, 124 (Rn. 141) – Griechenlandhilfe (2011). 25  Götz/Schneider, Bundesverfassungsgericht (Fn. 21), DVBl. 2012, 145 (148). 26  Klotz, Machtbalance (Fn. 20), ZRP 2012, 5 (6). 27  Knöpfle, Bundesverfassungsgericht und Staatsraison, DVBl. 1969, 442 (443). 23  BVerfGE



A. Vereinbarkeit mit der Verfassung: Verfassungskonforme Auslegung 271

Gesetzgebers eingreifen, zumal es ihm in diesen Fällen offensteht, als primä­ res Mittel Kontakt mit dem Gesetzgeber aufzunehmen, damit dieser entspre­ chende Maßnahmen ergreift. Politische Klugheit kann daher kein Maßstab einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung sein28. Genauso wie der poli­ tische Aspekt einer Entscheidung kein Grund zur verfassungsgerichtlichen Zurückhaltung ist, können politische Gründe auch kein Grund zum verfas­ sungsgerichtlichen Übergriff sein29. Eine politische Wertung der rechtlichen Verhältnisse würde das Vertrauen in die Gewaltenteilung zu stark beschränken. Vielmehr ist dem Bundesver­ fassungsgericht zu raten, durch tatsächliche Maßnahmen darauf hinzuwirken, dass die Folgen seiner Entscheidung absehbar bleiben. Neben der Möglich­ keit, dem Gesetzgeber die Entscheidung vorab mitzuteilen und damit zu empfehlen, vorbereitende Maßnahmen zu treffen, hat es das Gericht auch zu einem gewissen Maße in der Hand, mit der Entscheidungsverkündung zu warten30.

II. Grenzen der verfassungskonformen Auslegung Eine verfassungskonforme Auslegung darf damit nur erfolgen, solange es sich um eine Reduzierung des gesetzgeberischen Norminhaltes handelt. So­ bald die Norm durch die Auslegung jedoch ein ganz anderes Verständnis bekomme, als dies durch den Gesetzgeber beabsichtigt war, überschreitet das Bundesverfassungsgericht seine Grenzen31 – die verfassungskonforme Ausle­ 28  Scholz, Karlsruhe im Zwielicht, in: Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlich­ keit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 1201 (1210). 29  So auch der aktuelle Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Har­ barth im Gespräch mit den ZDF-Chefredakteuren Peter Frey und Bettina Schausten anlässlich der Ernennung zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts auf Frage, ob das PSPP-Urteil vom 5.5.2020 nicht ein fatales Signal für Gerichte in Polen oder Ungarn sei, ihren EuGH-skeptischen Kurs fortzuführen: „Man kann nicht völlig aus­ schließen, dass unser Urteil im Ausland in einer entsprechenden Weise verwendet wird. Aber was ist die Aufgabe eines Gerichts? Die Aufgabe eines Gerichts ist Recht zu sprechen. Und wenn ein Gericht zu dem Ergebnis kommt, ein Beschwerdeführer, der sich an das Gericht gewandt hat, ist im Recht: Soll dann das Gericht dann nach reiflicher Überlegung, dass die Rechtslage so ist, sagen, wir entscheiden den Fall zu Lasten des Bürgers, weil wir befürchten, dass das im Ausland negative politische Konsequenzen nach sich zieht. Das ist ein Stück weit die Selbstaufgabe des Rechts­ staates.“, Harbarth, Was nun, Herr Harbarth? (22.06.2020), ZDF, ab Minute 17:45. 30  Knöpfle, Bundesverfassungsgericht (Fn. 27), DVBl. 1969, 442 (443). 31  Starck, Das Bundesverfassungsgericht in der Verfassungsordnung und im poli­ tischen Prozess, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsge­ richt, Bd. I, 2001, S. 1 (11); Austermann, Die rechtlichen Grenzen des Bundesverfas­ sungsgerichts im Verhältnis zum Gesetzgeber, DÖV 2011, 267 (271).

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Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

gung berechtigt nicht zur „Verbesserung von Gesetzen“32 und ebenso wenig zur „verfassungskonformen Rechtsfortbildung“33. Verfassungskonforme Aus­ legung darf immer nur zu einem Minus, nie zu einem aliud zum ursprüngli­ chen Gesetz werden34,es darf nicht dazu kommen, dass Recht gesetzt anstatt Recht an der Verfassung gemessen wird35. Die Tenorierungen verweisen hinsichtlich der verfassungskonformen Aus­ legung zumeist auf die Gründe, die im Gegensatz zur Tenorierung jedoch gerade nicht im Bundesgesetzblatt veröffentlicht werden. Dem Bürger wird die Anwendung der Norm damit erheblich erschwert36. Auch aus diesem Grund ist dem Bundesverfassungsgericht daher zur Zurückhaltung hinsicht­ lich verfassungskonformer Auslegungen zu raten. Selbstverständlich steht es dem Gesetzgeber frei, auch ein verfassungskon­ form ausgelegtes Gesetz wieder aufzuheben. Schonender dürfte es – ange­ sichts des politischen Aktes, dessen eine derartige Aufhebung noch bedarf – in einem solchen Fall jedoch meistens sein, das Gesetz vollständig aufzuhe­ ben und dem Gesetzgeber die Möglichkeit zu geben, ein neues verfassungs­ konformes Gesetz, welches seinem Willen entspricht, zu schaffen. Aufgrund der bestehenden Regelungslücke wäre für den Gesetzgeber ein solches Pro­ jekt nämlich politisch wesentlich einfacher und druckvoller umzusetzen als die Kassation des alten Gesetzes und Etablierung eines neuen. Ebenso wohnt der extensiven verfassungskonformen Auslegung die Gefahr inne, dass Ge­ setze, schon bevor sich der Gesetzgeber überhaupt geäußert hat, gegen den grundgesetzlichen Gesetzesvorbehalt eine bestimmte Bedeutung erhalten, die so einfach nicht mehr rückgängig gemacht werden kann und den Gesetzge­ ber zementiert37.

32  Ehmke,

Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRl 20 (1963), 54 (75). Theorie und Praxis der verfassungskonformen Auslegung von Geset­ zen durch Fachgerichte, AöR 125 (2000), 177 (197). 34  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, S. 31. 35  Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980, S. 7. 36  Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 386; glei­ ches gilt im Übrigen für die noch zu behandelnden Übergangsregelungen. Lamprecht, Oligarchie in Karlsruhe – Über die Erosion der Gewaltenteilung, NJW 1994, 3272 (3273) weist zutreffend daraufhin, dass das umfangreiche Urteil zum Schwanger­ schaftsabbruch aufgrund der Uneinigkeit der Richter von Widersprüchen geprägt ist und daher „alles andere als eine Glanzleistung“ sei. 37  Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 33 (47 f.). 33  Voßkuhle,



B. Ausnahmen von der Nichtigkeitserklärung 273

B. Ausnahmen von der Nichtigkeitserklärung Gemäß § 78 S. 1 BVerfGG sind verfassungswidrige Gesetze für nichtig zu erklären. Das Bundesverfassungsgericht tenoriert dann, dass die entsprechen­ den Vorschriften mit dem Grundgesetz „unvereinbar und nichtig“ sind1. Dabei handelt es sich nach herrschender Auffassung um eine Feststellung und keine Annullierung, um eine ipso iure-Nichtigkeit ex tunc2. Damit muss das Gericht jedoch grundsätzlich zwischen Alles-oder-Nichts entscheiden – für die Feststellung der Nichtigkeit des Gesetzes oder dessen vollständiger weiteren Anwendbarkeit. Früh hat das Gericht erkannt, dass dies nicht immer zu zufriedenstellenden Ergebnissen führt. Im Fundus der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts lassen sich daher neben den Hop- oder Top-Entscheidungen für oder gegen die Verfassungswidrigkeit ei­ ner Norm weitere flexible Entscheidungsoptionen ausmachen. Eine für den Gesetzgeber weitestgehend schonende Entscheidung nimmt das Bundesverfassungsgericht dann vor, wenn es ein Gesetz lediglich für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt3 oder sogar die (befristete) Wei­ tergeltung4 der Norm anordnet und dem Gesetzgeber die Beseitigung des Verfassungsverstoßes aufgibt5. Ein intensiverer Eingriff besteht dann, wenn das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarerklärung mit einer ei­ genen Übergangsregelung verbindet und damit selbst gestaltend tätig wird6. 1  Zuletzt z. B. BVerfG juris 1 BvR 3214/15 (Tenor 1) – Antiterrordateigesetz II (2020); BVerfG NJW 2020, 905 (Tenor 2) – geschäftsmäßige Sterbehilfe (2020); BVerfG GRUR 2020, 506 (Tenor 2) – Einheitliches Patentgericht (2020); BVerfGE 151, 1 (Tenor 2) – Wahlrechtsausschluss (2019); BVerfGE 150, 345 (Tenor) – Ver­ mittlungsausschuss (2019); BVerfGE 150, 309 (Tenor 1) – Kfz-Kennzeichenkontrolle BW-HE (2018); BVerfGE 149, 382 (Tenor) – Eingangsbesoldung (2018); BVerfGE 149, 1 (Tenor) – Hochschulkanzler auf Zeit (Brandenburg) (2018); BVerfGE 146, 294 (Tenor 1) – medizinische Zwangsbehandlung (2017); BVerfGE 145, 141 (Tenor) – Kernbrennstoffsteuer (2017); BVerfGE 144, 369 (Tenor) – Rückmeldegebühr Bran­ denburgisches Hochschulgesetz (2017); BVerfGE 145, 1 (Tenor) – Wartefrist für Be­ soldungsanstieg (2017); BVerfGE 143, 161 (Tenor 1) – Karfreitag als stiller Tag (2016); BVerfGE 143, 38 (Tenor 2) – Rindfleischetikettierung (2016). 2  Dazu nur Bethge, in: Maunz et al. (Hrsg.), BVerfGG, § 78 (2018) Rn. 7; Battis, Der Verfassungsverstoß und seine Rechtsfolgen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 275 Rn. 48. 3  Zuletzt z. B. BVerfGE 151, 101 (Rn. 131) – Stiefkindadoption (2019); BVerfGE 147, 1 (Tenor 1) – Drittes Geschlecht (2017). 4  Zuletzt z. B. BVerfG NJW 2020, 2253 (Tenor 3) – BND – Ausland-AuslandAufklärung (2020); BVerfG WM 2020, 1691 (Tenor 3) – Windenergie-auf-See-Gesetz (2020); BVerfG GRUR 2020, 506 (Tenor 3) – Einheitliches Patentgericht (2020); BVerfGE 150, 202 (Tenor 3) – Biersteuergesetz (2019). 5  Laumen, Die Vollstreckungskompetenz nach § 35 BVerfGG, 1997, S. 91. 6  Zuletzt z. B. BVerfGE 152, 68 (Tenor 2) – Sanktionen im Sozialrecht (2019).

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Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

I. Unvereinbarerklärung Nachdem vom Bundesverfassungsgericht bloße Unvereinbarerklärungen zunächst ohne explizite gesetzliche Grundlage vorgenommen wurden, hat die Unvereinbarerklärung 1970 durch die Formulierungen der §§ 31 Abs. 2 S. 2, 79 Abs. 1 ausdrücklichen Niederschlag im BVerfGG gefunden und wird dadurch gesetzlich gebilligt7. Auch das Bundesverfassungsgericht stützt ­ die Erklärung der Unvereinbarkeit regelmäßig auf § 31 Abs. 2 Satz 2, 3 BVerfGG8. Insbesondere bei Gleichheitsverstößen, die eine Unvereinbar­ keit zur Folge haben, unterbleibt dieser Hinweis jedoch meist9. Unverein­ barerklärungen sind aufgrund der gesetzlichen Verankerung damit grundsätz­ lich als rechtmäßig anzusehen10. Über die konkreten Voraussetzungen der Unvereinbarerklärungen sagt das BVerfGG freilich nichts aus11. Gleiches gilt für die Rechtsfolgen dieser Erklärungen, die das BVerfGG nicht eindeu­ tig regelt. 1. Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung Auf Rechtsfolgenseite hat die Unvereinbarerklärung im Unterschied zur Erklärung der Nichtigkeit jedenfalls zunächst einmal zur Folge, dass die Norm nicht nichtig wird bzw. keine solche Feststellungswirkung eintritt. Auf Anwendungsebene, d. h. hinsichtlich der Frage, welche konkreten Folgen die Unvereinbarerklärung für die Verfahren hat, war die Wirkung der Unverein­ barerklärung zunächst umstritten, ehe das Bundesverfassungsgericht festge­ stellt hat, dass die Unvereinbarerklärung die „gleiche Wirkung wie die Nich­ tigerklärung [hat]: die Norm darf ab sofort, d. h. vom Zeitpunkt der Entschei­ 7  Steinberg, Verfassungsgerichtliche Kontrolle der „Nachbesserungspflicht“ des Gesetzgebers, Der Staat 26 (1987), 161 (161); Klein, Verfahrensgestaltung durch Ge­ setz und Richterspruch, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfas­ sungsgericht, Bd. I, 2001, S. 507 (519). 8  Zuletzt BVerfG NJW 2020, 2253 (Rn. 329) – BND-Ausland-Ausland-Aufklä­ rung (2020). 9  So zuletzt in BVerfGE 151, 101 (Rn.  130  ff.) – Stiefkindadoption (2019); BVerfGE 151, 1 (Rn. 136 ff.) – Wahlrechtsausschluss (2019); BVerfGE 148, 147 (Rn. 170 ff.) – Einheitsbewertung Grundsteuer (2018); ausnahmsweise mit Hinweis auf § 31 Abs. 2 und § 79 Abs. 1 BVerfGG aber BVerfGE 145, 106 (Rn. 152) – Ver­ lustabzug nach schädlichem Beteiligungserwerb (2017). 10  So auch Sachs, Verfassungsprozessrecht, 4.  Aufl. 2016, S. 49; Pestalozza, „Noch verfassungsmäßige“ und „bloß verfassungswidrige“ Rechtslagen, in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz: Festgabe aus Anlass des 25jäh­ rigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. I, 1976, S. 519 (521). 11  Willers, Verfassungsgerichtliche Übergangsfristen im Mehrebenensystem, 2011, S. 42.



B. Ausnahmen von der Nichtigkeitserklärung 275

dung des Bundesverfassungsgerichts an, in dem sich aus dem Tenor ergeben­ den Ausmaß nicht mehr angewandt werden“12. Hinsichtlich des laufenden Verfahrens gilt sodann, dass dieses bis zum Ende der neuen Regelung auszusetzen ist13. Neben die Anwendungssperre tritt damit als entscheidender Unterschied zur Erklärung der Nichtigkeit eine Aussetzungspflicht für Verfahren. Dies betrifft im Verfahren der Urteilsver­ fassungsbeschwerde zunächst konkret das Ausgangsverfahren, welches nach Zurückverweisung an das Instanzgericht von diesem auszusetzen ist und im Verfahren der konkreten Normkontrollverfahren das bereits ausgesetzte Ver­ fahren, welches weiter auszusetzen ist. Aufgrund der Bindungswirkung und der Gesetzeskraft der Normkontrollentscheidung (§ 31 Abs. 1, 2 BVerfGG) gilt diese Anwendungssperre und Aussetzungspflicht aber auch für sämtliche laufende und neue Parallelverfahren, in denen die für unvereinbar erklärte Norm einschlägig ist14. Darüber hinaus ordnet das Bundesverfassungsgericht die Pflicht des Ge­ setzgebers an, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen15. Diese Pflicht wird entweder an eine explizite Frist gebunden oder aber das Bundes­ verfassungsgericht geht davon aus, dass eine Neuregelung in angemessener Zeit erfolgen müsse16. Erst nach einer Neuregelung können die „eingefrore­ nen“17 Verfahren auf Grundlage der Neuregelung fortgesetzt werden. Die Pflicht zur Neuregelung ergibt sich damit aus der Verpflichtung des Gesetzgebers, den Schwebezustand zu beseitigen und damit aus der Garantie des effektiven Rechtsschutzes und der Rechtssicherheit18. 12  Erstmals so deutlich BVerfGE 37, 217 (Rn. 127) – Staatsangehörigkeit von Kindern (1974). 13  Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 93 Rn. 49; Hömig, in: Maunz et al. (Hrsg.), BVerfGG, § 95 (2017) Rn. 52; in der früheren Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht die Frage nach der An­ wendungssperre noch offen gelassen, mittlerweile sei jedoch aus den expliziten Wei­ tergeltungsanordnungen zu schließen, dass es stets zu einer Anwendungssperre komme, vgl. Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11.  Aufl. 2018 Rn.  417 ff. 14  BVerfGE 87, 234 (Rn. 88) – Arbeitslosenhilfe (1992); Gerontas, Die Appell­ entscheidungen, Sondervotumsappelle und die bloße Unvereinbarkeitsfeststellung als Ausdruck der funktionellen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, DVBl. 1982, 486 (488); Willers, Übergangsfristen (Fn. 11), S. 55; Wroblewski, Die Unvereinbar­ erklärung mit Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts und das Straf­ recht, 2016, S. 84. 15  Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 423. 16  Wroblewski, Unvereinbarerklärung (Fn. 14), S. 86. 17  Treffend Wroblewski, Unvereinbarerklärung (Fn. 14), S. 85. 18  Graßhof, Die Vollstreckung von Normenkontrollentscheidungen des Bundes­ verfassungsgerichts, 2003, S. 164.

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Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

Die Unvereinbarerklärung wirkt ex tunc19, sodass sich die Verpflichtung zur verfassungsmäßigen Neuregelung auch auf den vor der Unvereinbar­erklärung liegenden Zeitraum erstreckt, ausgenommen sind nicht mehr anfechtbare Ent­ scheidungen20 – das entspricht der Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG. In einigen Fällen beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht nicht auf die bloße Erklärung der Unvereinbarkeit, sondern ordnet daneben die Fort­ geltung des für unvereinbar erklärten Gesetzes an21 (sog. Weitergeltungsan­ ordnung), man kann insofern zwischen aussetzungs- und anwendungsorien­ tierten Unvereinbarerklärungen unterscheiden22. 2. Anwendungsfälle der Unvereinbarerklärung Die bloße (d. h. aussetzungsorientierte) Unvereinbarerklärung wird vom Bundesverfassungsgericht in der Regel ausgesprochen, wenn es Verstöße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz feststellt23. Verletzt eine gesetzliche Regelung den allgemeinen Gleichheitssatz, so wird es in der Regel mehrere Möglichkeiten geben, den Gleichheitsverstoß zu beseitigen. Daher würde nur eine Unvereinbarerklärung in Betracht kommen. Der Gesetzgeber könnte vollständig auf die Begünstigung verzichten, die Begünstigung auch auf die benachteiligte Gruppe ausdehnen oder aber andere Differnzierungskriterien zum Gegenstand der gesetzlichen Regelung machen24. In wenigen Fällen soll die Unvereinbarerklärung auch über die Fallgruppe des Gleichheitsver­ stoßes bei Freiheitsverstößen in Betracht kommen25. Typische Anwendungs­ fälle der Unvereinbarerklärungen sind das Beamten- und Steuerrecht26. 19  Heußner, Folgen der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes ohne Nichtigerklä­ rung, NJW 1982, 257 (258). 20  BVerfGE 87, 153 (Rn. 90) – Grundfreibetrag, (1992); Wroblewski, Unverein­ barerklärung (Fn. 14), S. 88. 21  Zuletzt BVerfG NJW 2020, 2253 (Tenor 3) – BND-Ausland-Ausland-Aufklärung (2020); BVerfGE 148, 147 (Tenor 2) – Einheitsbewertung Grundsteuer (2018); BVerfGE 148, 40 (Tenor 3) – Staatliches Informationshandeln (2018); BVerfGE 147, 253 (Tenor 3) – NC Humanmedizin (2017); BVerfGE 143, 243 (Tenor 4) – Atomaus­ stieg (2016); BVerfGE 143, 216 (Tenor) – Telekommunikationsgesetz Entgeltregulie­ rung (2016); BVerfGE 141, 143 (Tenor 2) – Akkreditierung von Studiengängen (2016). 22  Dietz, Verfassungsgerichtliche Unvereinbarerklärungen, 2011, S. 41. 23  Zuletzt BVerfGE 151, 101 (Rn. 131) – Stiefkindadoption (2019); BVerfGE 151, 1 (Rn. 138) – Wahlrechtsausschluss (2019); BVerfGE 147, 1 (Rn. 65) – Drittes Geschlecht (2017); BVerfGE 145, 106 (Rn. 152) – Verlustabzug nach schädlichem Beteiligungserwerb (2017). 24  Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 93 Rn. 48; Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 401. 25  Beispielsweise in BVerfGE, 276 (Rn. 147) – Sportwettenmonopol (2006), wo das Bundesverfassungsgericht diese Tenorierungsform auch bei Freiheitsgrundrechten



B. Ausnahmen von der Nichtigkeitserklärung 277

Teilweise scheint das Bundesverfassungsgericht davon auszugehen, dass es ihm (voraussetzungslos) alternativ möglich sei, entweder die Nichtigkeit festzustellen oder das Gesetz nur für unvereinbar zu erklären (das Gericht formuliert dann: „Allerdings kann sich das Bundesverfassungsgericht, wie sich aus § 31 Abs. 2 Satz 2 und 3 BVerfGG sowie § 79 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ergibt, auch darauf beschränken, eine verfassungswidrige Norm nur für mit der Verfassung unvereinbar zu erklären“27). Begründungen da­ für, dass die Normen bloß für unvereinbar erklärt werden dürfen oder müs­ sen, erfolgen dann nicht mehr, oder bleiben sehr vage und werden jedenfalls nicht verfassungsrechtlich begründet. Dies scheint mit Blick auf die Rechts­ schutzinteressen der von Grundrechtsverstößen betroffenen Personen proble­ matisch. 3. Verfassungsrechtliche Herleitung Die Unvereinbarerklärung – insbesondere solche mit Weitergeltungsanord­ nungen – kann nämlich für den durch den Verfassungsverstoß Beeinträchtig­ ten mit Benachteiligungen verbunden sein: Mit Blick auf das Recht auf ef­ fektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG sind solche Erklärungen daher rechtsstaatlich bedenklich28. Aus diesem Grund ist die Annahme des Bun­ desverfassungsgerichts, dass es ihm alternativ möglich sei, Normen für ent­ weder nichtig zu erklären oder die bloße Unvereinbarkeit anzuordnen, nicht hinnehmbar. Dieses Verhältnis zwischen Rechtsschutzsuchenden und Bun­ desverfassungsgericht ist jedoch nicht primärer Gegenstand der vorliegenden Diskussion, sondern dasjenige zwischen Bundesverfassungsgericht und Ge­ setzgeber.

noch nicht einmal weiter problematisiert („regelmäßig […] für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt“); so auch in BVerfGE 114, 1 (Rn. 238) – Bestandsübertragung (2005), wenngleich in beiden Entscheidungen nicht nur die Unvereinbarkeit, sondern auch die weitere Anwendbarkeit ausgesprochen wurde (dazu nachfolgend ausführ­ licher); kritisch zu Unvereinbarerklärungen bei Freiheitsgrundrechten dagegen Ko­ rioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 404. 26  Willers, Übergangsfristen (Fn. 11), S. 47. 27  BVerfGE 150, 309 (Rn.  94) – Kfz-Kennzeichenkontrolle BW-HE (2018); BVerfGE 146, 71 (Rn. 216) – Tarifeinheitsgesetz (2017); BVerfGE 141, 220 (Rn. 355) – BKA-Gesetz (2016); ähnlich auch: „Das Bundesverfassungsgerichtsge­ setz bestimmt als Rechtsfolge der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes nicht aus­ nahmslos die Nichtigkeit (§ 95 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG); es lässt auch die Erklärung bloßer Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu (§ 31 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG)“, BVerfGE NJW 2004, 750 (Rn. 163) – nachträgliche Sicherungsverwahrung (2004). 28  Kreutzberger, Die gesetzlich nicht geregelten Entscheidungsvarianten des Bun­ desverfassungsgerichts, 2007, S. 171; Dietz, Unvereinbarerklärungen (Fn. 22), S. 36.

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Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

a) Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers Dieses Spannungsverhältnis scheint durch die Unvereinbarerklärung eine gewisse Entspannung zu erfahren. Es wird insofern angeführt, dass die bloße Erklärung der Unvereinbarkeit den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers besonders wahre, weil der Gesetzgeber aus der Rechtslage, die aus einer Nichtigkeitserklärung folgen würde, schließen könnte, dass er an diesem Status festhalten müsse und nicht, dass es ihm auch möglich wäre, eine an­ dere verfassungskonforme Regelung zu treffen29. Diese Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers stellt damit einen der häufigsten Begründungsansätze des Bundesverfassungsgerichts für Unvereinbarerklärungen dar30. Dies gilt nicht nur im Rahmen von Verfassungsverstößen gegen Gleichheitsgrundrechte, sondern auch bei Verstößen gegen Freiheitsgrundrechte31. Dies vermag nicht zu überzeugen. In der Aussage, dass der Gesetzgeber eventuell nicht erkennen könnte, dass er nach einer Nichtigkeitserklärung erneut tätig werden könnte, steckt eine Bevormundung, die eines selbstbe­ wussten Gesetzgebers, der der Bundestag ist und sein sollte, nicht würdig ist. Dem Gesetzgeber ist mehr zuzutrauen, als erst auf Aufforderung des Bundes­ verfassungsgerichts tätig zu werden. Möchte er sein eigentliches gesetzgebe­ risches Ziel weiterverfolgt wissen, so kann und soll er aus freien Stücken selbst tätig werden32. Wenn argumentiert wird, dass es nicht schädlich ist, wenn das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Urteilsgründe auf mögliche alternative Regelungen hinweist, weil der Gesetzgeber ja noch eine eigene Entscheidung treffen könne33, ist es ebenso wenig schädlich, wenn das Bundesverfassungsgericht das Gesetz schlicht für nichtig erklärt, weil der Gesetzgeber ebenso weiterhin eine eigene Entscheidung treffen kann. Darüber hinaus ist aus der Sicht des Gesetzgebers zu berücksichtigen, dass es nicht zutreffend ist, dass die Unvereinbarerklärung diesen gar nicht beein­ 29  Rupp-von-Brünneck, Darf das Bundesverfassungsgericht an den Gesetzgeber appellieren?, in: Ritterspach/Müller (Hrsg.), Festschrift für Gebhard Müller, 1970, S. 355 (368); Heußner, Folgen (Fn. 19), NJW 1982, 257 (257); Karpenstein, in: Wal­ ter/Grünewald (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar BVerfGG, 9. Ed. 2020, § 78 Rn. 33; Hömig, in: Maunz et al. (Hrsg.), BVerfGG, § 95 (2017) Rn. 45. 30  Dazu ausführlich Hein, Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze durch das Bundesverfassungsgericht, 1988, S. 78 ff. 31  Willers, Übergangsfristen (Fn. 11), S. 46. 32  In diesem Sinne auch Hartmann, Verfassungswidrige und doch wirksame Rechtsnormen?, DVBl. 1997, 1265 (1269), nach dem erst „auf Grundlage der tabula rasa“ der Gesetzgeber seine Gestaltungsfreiheit voll ausüben könne; ebenso Sachs, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2016, S. 48 f. 33  In diesem Sinne Hömig, in: Maunz et al. (Hrsg.), BVerfGG, § 95 (2017) Rn. 45.



B. Ausnahmen von der Nichtigkeitserklärung 279

trächtigt. Der Gesetzgeber wird sehr wohl durch das Bundesverfassungsge­ richt zu etwas verpflichtet – nämlich dazu, den Zustand neu zu regeln. Die Erklärung der bloßen Unvereinbar- statt Nichtigkeit könnte im politischen Diskurs als Argument dafür gebraucht werden, dass die Nichtigkeit vom Bundesverfassungsgericht gerade nicht gewollt sei und daher eine Neurege­ lung zu erfolgen habe – obwohl tatsächlich auch die Streichung der gesamten Norm verfassungsgemäß wäre. Diese radikale Entscheidung der endgültigen und vollständigen Nichtigkeit zu treffen, dürfte durch die Erklärung der blo­ ßen Unvereinbarkeit im politischen und öffentlichen Prozess erschwert wer­ den – der Gesetzgeber ist damit in seinen Handlungsoptionen beeinträchtigt. In solchen Situationen kann es vielmehr zu politischen Blockaden kommen, und der Gesetzgeber könnte versucht sein, das Problem zunächst gar nicht in Angriff zu nehmen – das führt zu verfassungsrechtlich nicht hinnehmbaren Schwebezuständen34. Trotz Aufrechterhaltung der Norm wird der Gesetzgeber aufgrund des bundesverfassungsgerichtlichen Auftrages, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen, beschränkt. Aus funktionell-rechtlichen Gründen ist es der Gesetzgeber, der sich für den Verfassungsverstoß verantwortlich zeigen und hieraus Konsequenzen ziehen muss35. Erst durch die Erklärung der Nich­ tigkeit wird der Gesetzgeber vollständig frei und berechtigt, dieser Gestal­ tungsaufgabe selbstständig nachzukommen. Der Hinweis auf die bloße Ge­ staltungsfreiheit des Gesetzgebers vermag die Unvereinbarerklärung damit nicht zu rechtfertigen. b) Gestaltungsfreiheit und Besonderheiten des Gleichheitssatzes Die Unvereinbarerklärung muss sich daher anders rechtfertigen lassen als mit dem Hinweis auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Der zweite große Begründungsansatz für Unvereinbarerklärungen findet sich in den Be­ sonderheiten des Gleichheitssatzes, die in Verbindung mit der Gestaltungs­ freiheit des Gesetzgebers dazu führen würden, dass gleichheitsverstoßende Gesetze in der Regel nur für unvereinbar zu erklären seien. Bei Gleichheits­ verstößen läge eine Situation vor, in der nicht die eine oder andere Regelung verfassungswidrig sei, sondern nur die Relation von Normen zueinander36. Damit sei weder der Ausschluss von einer Begünstigung als solcher noch die 34  Sachs,

Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2016, S. 49. Unvereinbarerklärungen (Fn. 22), S. 161. 36  Seer, Die Unvereinbarkeitserklärung des BVerfG am Beispiel seiner Rechtspre­ chung zum Abgabenrecht, NJW 1996, 285 (286); Löwer, Zuständigkeiten und Verfah­ ren des Bundesverfassungsgerichts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 70 Rn. 121; Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 402. 35  Dietz,

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Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

gewährte Begünstigung an sich grundrechtswidrig, sondern nur das Verhält­ nis zwischen Begünstigung und Nichtbegünstigung. Während bei Freiheitsverstößen der Verfassungsverstoß durch den ipso iure-Grundsatz bereits von selbst beseitigt und aus der Rechtsordnung ausge­ schieden würde, könne dies bei Gleichheitsverstößen nicht angenommen wer­ den, sondern der Gesetzgeber müsse selbst tätig werden und darüber entschei­ den, ob die für sich genommen verfassungsgemäße Regelung in eine andere Relation gesetzt werden soll, um insgesamt verfassungsgemäß zu werden. Bei Freiheitsverstößen würde dagegen nur die bereits bestehende ipso iure-Nich­ tigkeit festgestellt. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers hinsichtlich der Beseitigung des Verfassungsverstoßes könne damit in diesen Fällen gar nicht eingeschränkt werden, da sie bei Freiheitsverstößen nie bestehe37. Das überzeugt nicht. Die Vertreter der verfassungswidrigen Normenrela­ tion setzen voraus, dass die streitgegenständliche Norm in zwei Normen aufgespalten werden könnte, die im Verhältnis zueinander verfassungswidrig sind. In den Fällen des gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses würde dies bedeuten, dass die streitgegenständliche Regelung, nach der die Begüns­ tigung der einen Personengruppe angeordnet wird, auch eine weitere, zweite, Norm enthält, die konkludent das Verbot der Förderung einer anderen Gruppe bestimmt. Dies ist aber nicht der Fall. Eine solche Annahme führte vielmehr dazu, dass die Regelung künstlich aufgespalten wird in zwei Regelungen. Würde eine Regelung erlassen, nach der der konkludente Begünstigungsaus­ schluss aufgehoben wird, führte dies noch nicht dazu, dass der Nicht-Be­ günstige einen Anspruch auf die Begünstigung erhielte38. Der Ausschluss von der Begünstigung ist lediglich Reflex der beschränkten begünstigenden Regelung39. Die Verfassungswidrigkeit begründet sich nicht durch die Re­ lation mehrerer Normen, sondern vielmehr nur aus dem Vergleich unter­ schiedlicher Sachverhalte, auf die die eine Norm angewandt wird40. Es liegt damit schlicht eine Norm vor41, die verfassungswidrig ist. In den Fällen, in denen der Gleichheitsverstoß tatsächlich auf zwei eigenständigen unter­ schiedlichen Regelungen beruht, sind durch das In-Verhältnis-Setzen der Normen beide Normen in diesem Zustand verfassungswidrig42 – es ist kein 37  Hein,

Unvereinbarerklärung (Fn. 30), S. 115. Vollstreckung (Fn. 18), S. 113. 39  Graßhof, Vollstreckung (Fn. 18), S. 115. 40  Graßhof, Vollstreckung (Fn. 18), S. 112. 41  Dafür plädieren auch Blüggel, Unvereinbarerklärung statt Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht, 1998, S. 158; Sachs, Zur dogmatischen Struktur der Gleichheitsrechte als Abwehrrechte, DÖV 1984, 411 (419). 42  Sachs, Bloße Unvereinbarerklärung bei Gleichheitsverstößen?, NVwZ 1982, 657 (661). 38  Graßhof,



B. Ausnahmen von der Nichtigkeitserklärung 281

Grund ersichtlich, warum es nicht möglich wäre, beide verfassungswidrige Normen für nichtig zu erklären43. Das Grundgesetz verbietet gleichermaßen gleichheits- als auch freiheits­ widrige Eingriffe. Grundrechte schützen damit vor Gesetzen, die in diese eingreifen. Das Grundgesetz differenziert insofern nicht zwischen Freiheitsund Gleichheitsrechten44. Es schafft auch keinen Anspruch der Beschwer­ deführer auf materielle Besserstellung, wenn der Verfassungsverstoß auch durch die Nichtigkeit beseitigt werden kann45. Im Übrigen setzen auch die Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung – die Aussetzung und die Anwen­ dungssperre – die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer bestimmten Norm voraus. Eine Normenrelation kann hingegen ebenso wenig für unver­ einbar wie für nichtig erklärt werden46. c) Rechtsfolgenargument Es bedarf daher für die Erklärung der bloßen Unvereinbarkeit anderer zwingender verfassungsrechtlicher Gründe. Dabei kann auch das Rechts­ sicherheitsprinzip nicht als Argument für die bloße Unvereinbarerklärung herangezogen werden – der Betroffene vertraut regelmäßig auf die Voll­ zugsebene (der durch § 79 BVerfGG, §§ 48, 49 VwVfG, §§ 818 ff. BGB Rechnung getragen wird), jedoch nicht auf den Fortbestand verfassungswid­ riger Normen47. aa) Rechtsfolgenargument und Weitergeltung Das Rechtsfolgenargument rückt dagegen die Rechtsfolgen der Nichtig­ keitserklärung in den Vordergrund. Der sich aus dieser Nichtigkeitserklärung ergebende Zustand ist danach daraufhin zu überprüfen, ob auch dieser zu einem verfassungswidrigen Zustand führen würde. Es sind die Rechtsfolgen von Nichtigkeitserklärung und bloßer Unvereinbarerklärung miteinander zu vergleichen. Sollte durch die Nichtigkeitserklärung ein verfassungsrechtlich noch unerträglicherer Zustand eintreten als dies bei der Unvereinbarerklä­ rung der Fall wäre, d. h. wenn „die sofortige Ungültigkeit der zu beanstan­ denden Norm dem Schutz überragender Güter des Gemeinwohls oder grund­ rechtlich geschützter Belange des Betroffenen selbst oder Dritter die Grund­ 43  Graßhof,

Vollstreckung (Fn. 18), S. 117. Vollstreckung (Fn. 18), S. 110. 45  Sachs, Struktur (Fn. 41), DÖV 1984, 411 (419). 46  Graßhof, Vollstreckung (Fn. 18), S. 109. 47  Hartmann (Fn. 32), DVBl. 1997, 1265 (1267). 44  Graßhof,

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Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

lage entziehen“ würde und wenn „eine Abwägung mit den betroffenen Grundrechten ergibt, dass der Eingriff für eine Übergangszeit hinzunehmen ist“48, dann sei die Anordnung einer Unvereinbarerklärung verfassungs­ rechtlich gerechtfertigt. Die Unvereinbarerklärung mit bloßer Anwendungssperre und Aussetzungs­ pflicht ist in diesen Fällen jedoch nicht ausreichend, um den verfassungs­ rechtlich nicht gewünschten Zustand zu vermeiden, denn Unvereinbarerklä­ rung und Nichtigkeitserklärung haben auf Anwendungsebene die identische dahingehende Rechtsfolge, dass die Norm nicht mehr angewandt werden darf. Der verfassungsrechtlich nicht gewünschte Zustand kann nur vermieden werden, wenn die Norm auf Anwendungsebene weiter fort gilt. Aus diesem Grund müssen die Fälle der Unvereinbarerklärung, die sich auf diesen Be­ gründungsstrang des Rechtsfolgenargumentes stützten, mit Weitergeltungsan­ ordnungen verknüpft werden49. Mittlerweile wird diese Erklärung zumeist mit einer Frist zur Korrektur der Maßnahme verbunden50. Das „Rechtsfol­ genargument dient [somit nur] dazu, die ausnahmsweise weitere Anwendbar­ keit der Norm herzuleiten“51. Damit ist die vom Bundesverfassungsgericht geäußerte Auffassung, dass die Unvereinbarerklärung die gleiche Wirkung wie die Nichtigerklärung habe, d. h. „die Norm darf ab sofort, d. h. vom Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an, in dem sich aus dem Tenor ergebenden Ausmaß nicht mehr angewandt werden“52, nicht haltbar. Wenn nur das Rechtsfolgenargument – auch bei Gleichheitsverstößen – die Unvereinbarer­ klärung rechtfertigen kann, dieses Argument jedoch nur dann Gültigkeit entfaltet, wenn die weitere Anwendbarkeit der Norm angeordnet wird, dann bedeutet das, dass entweder die Auffassung, dass die bloße Unvereinbarer­ klärung die gleiche Wirkung wie die Erklärung der Nichtigkeit habe, unzu­ treffend ist, oder aber, dass die Unvereinbarerklärung stets mit der Weitergel­ 48  Zuletzt

BVerfGE 139, 293 (Rn. 119) – Fixierung PsychKG (2018). Weitergeltungsanordnung bei Freiheitsrechten zum Beispiel hinsicht­ lich Verstoß gegen Art. 10 Abs. 1 GG in BVerfG NJW 2020, 2253 (Tenor 3) – BNDAusland-Ausland-Aufklärung (2020); Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsge­ richt, 11. Aufl. 2018 Rn. 405 ff.; Dietz, Unvereinbarerklärungen (Fn. 22), S. 66 sieht nur zwei Entscheidungen, in denen sich „aussetzungsorientierte“ Unvereinbarerklä­ rungen außerhalb von Gleichheitsverstößen finden lassen; die von ihm zitierten Ent­ scheidungen (BVerfGE 72, 278 – Kirchenfreiheit Berufsbildung [1986]; BVerfGE 53, 366 – konfessionelles Krankenhaus [1980]) fallen sehr knapp aus und thematisieren die Frage nach der Rechtsfolge noch nicht einmal. 50  BVerfGE 151, 101 (Rn. 132) – Stiefkindadoption (2019); BVerfGE 148, 147 (Rn. 172) – Einheitsbewertung Grundsteuer (2018). 51  Hein, Unvereinbarerklärung (Fn. 30), S. 85. 52  BVerfGE 37, 217 (Rn. 127) – Staatsangehörigkeit von Kindern (1974). 49  Aktuelle



B. Ausnahmen von der Nichtigkeitserklärung 283

tung verknüpft werden muss und daher nicht die gleiche Wirkung wie die Nichtigkeit haben kann. Hierfür spricht, dass die Unvereinbarerklärung im BVerfGG vom Gesetzgeber als zulässige Entscheidungsform anerkannt wurde. Die Unvereinbarerklärung hat daher stets mit einer Anordnung der Weitergeltung der Norm zu ergehen. Gegen das Rechtsfolgenargument wird eingewandt, dass der ipso iureGrundsatz dazu führen würde, dass nach der Nichtigkeit des verfassungswid­ rigen Gesetzes in der Regel das alte Gesetz wieder aufleben und daher gar keine unerträgliche Regelungslücke entstehen würde53. Dass dies so ist, ist jedoch nicht unumstritten und wird zudem nicht immer möglich sein – es ist daher kein Argument dafür, dass das Rechtsfolgenargument nicht ganz grundsätzlich berechtigt wäre. bb) Voraussetzungen Verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar ist der durch die Nichtigkeitserklä­ rung eintretende Zustand dann, wenn das Verfassungsrecht unmittelbar Ge­ setzgebungsaufträge gibt und den Gesetzgeber verpflichtet, ein Gesetz zu erlassen. Art. 33 Abs. 5 GG verpflichtet den Gesetzgeber beispielsweise zur Ausgestaltung der Besoldungsregelung. Erachtete das Bundesverfassungsge­ richt eine Besoldungsregelung für verfassungswidrig, so hätte die Nichtigkeit der Norm genau das Gegenteil zur Folge dessen, was der Beschwerdeführer erreichen wollte, da ansonsten die Grundlage für eine Besoldung komplett entfallen würde54. Auch dort, wo aus den Grundrechten verfassungsrechtli­ che Schutzaufträge hergeleitet werden, ordnet das Bundesverfassungsgericht die Weitergeltung der Norm an55. Zudem kann es Situationen geben, in denen aufgrund des legislativen Ge­ samtsystems ein verfassungsrechtlich nicht hinnehmbarer Zustand entsteht – dies ist dann der Fall, wenn Rechtsunsicherheit oder chaotische soziale oder finanzielle Regelungsdefizite drohen56. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch vor einer Unvereinbarerklärung auch zu prüfen, ob nicht durch die Erklärung der Nichtigkeit die Altrechts­ lage wieder aufleben würde, der Vorzug zu geben wäre. Diese lebt dann aber nicht wieder auf, wenn der gesetzgeberischen Neuregelung ein unbedingter Aufhebungswille dieser Altregelung zu entnehmen ist (insbesondere, wenn 53  Hein,

Unvereinbarerklärung (Fn. 30), S. 121. Appellentscheidungen (Fn. 14), DVBl. 1982, 486 (489); Willers, Übergangsfristen (Fn. 11), S. 47. 55  BVerfGE 148, 40 (Tenor 3 Rn. 63) – Staatliches Informationshandeln (2018). 56  Gerontas, Appellentscheidungen (Fn. 14), DVBl. 1982, 486 (488). 54  Gerontas,

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Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

der Gesetzgeber erkennen lässt, dass aus seiner Sicht die Altregelung verfas­ sungswidrig sei)57. d) Ergebnis Das Bundesverfassungsgericht kann Normen statt für nichtig lediglich für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklären. Die Unvereinbarerklärung ist jedoch keine alternative Möglichkeit, die das Gericht frei wählen könnte58. Die Unvereinbarerklärung ist vielmehr an Voraussetzungen geknüpft. Die Besonderheiten des allgemeinen Gleichheitssatzes vermögen die Unverein­ barerklärung nicht zu legitimieren. Vielmehr ist eine Rechtfertigung auf Rechtsfolgenebene zu suchen. In diesen Fällen des Rechtsfolgenarguments wird die Unvereinbarerklärung stets mit einer Weitergeltungsanordnung ver­ knüpft werden müssen. Unvereinbarerklärung und Weitergeltungsanordnung sind damit nicht verschiedene Institute, sondern müssen zusammengedacht werden. Die Figur der Weitergeltungsanordnung ist zwar kompetenzrechtlich nicht unproblematisch. Im Hinblick auf das Verhältnis zum Gesetzgeber schont sie diesen weitestgehend, m. a. W. fügt sich die Weitergeltungsanord­ nung ebenso wie die Unvereinbarerklärung in die negative Ausrichtung der Normenkontrolle ein, stellt sich als Einschränkung der Nichtigkeit dar59. Sie ist insbesondere dann aus gewichtigen verfassungsrechtlichen Gründen, wenn eine Nichtigkeitserklärung der Norm nicht in Betracht kommt, eine Lösung im Sinne der Gewaltenteilung, weil das Bundesverfassungsgericht darauf verzichtet, eine verfassungsgemäße Lösung selbst anzuordnen60. Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung ist damit in einigen Fäl­ len zwingend geboten, muss aber dennoch auf strenge Ausnahmen begrenzt bleiben61.

57  Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 70 Rn. 116. 58  So allerdings das Bundesverfassungsgericht, wenn es formuliert, dass „sich das Bundesverfassungsgericht, wie sich aus § 31 Abs. 2 Satz 2 und 3 BVerfGG sowie § 79 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ergibt, auch darauf beschränken [kann], eine verfas­ sungswidrige Norm nur für mit der Verfassung unvereinbar zu erklären“, BVerfGE 146, 71 (Rn. 216) – Tarifeinheitsgesetz (2017). 59  Graßhof, Vollstreckung (Fn. 18), S. 258. 60  Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 70 Rn. 121. 61  Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 407.



B. Ausnahmen von der Nichtigkeitserklärung 285

II. Übergangsregelungen Während Unvereinbarerklärungen mit Weitergeltungsanordnungen den Gesetzgeber grundsätzlich schonen, aber dennoch unzulässig in die Gestal­ tungsfreiheit des Gesetzgebers eingreifen können, stellt die teilweise mit ei­ ner Unvereinbarerklärung verbundene Schaffung von eigenen vom ursprüng­ lichen Gesetz abweichenden Übergangsregelungen einen intensiven Eingriff in die gesetzgeberischen Freiheiten dar. 1. Arten von Übergangsregelungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Der Begriff der Übergangsregelung meint daher mehr als die bloße Anord­ nung der Fortgeltung des bisher anwendbaren Rechts in der Übergangs­ zeit62 – vielmehr ist unter diesem Begriff das Setzen eigener Regelungen durch das Bundesverfassungsgericht oder zumindest die Abänderung der für weiter anwendbar erklärten Norm zu verstehen. Die bisher deutlichste und wohl auch umstrittenste Übergangsregelung hat das Bundesverfassungsgericht in der zweiten Schwangerschaftsabbruch-Ent­ scheidung getroffen63. Die nach der Wiedervereinigung neu parlamentarisch ausgehandelten Regeln des StGB zur Strafbarkeit hatte das Gericht zunächst für unvereinbar und nichtig erklärt, weil der nach Beratung vorgenommene nicht indizierte befristete Schwangerschaftsabbruch nicht für „nicht rechts­ widrig“ erklärt werden könne64. Diese Wertung könne vor dem Hintergrund der hohen Bedeutung des Lebensschutzes nicht getroffen werden. Sodann ordnete das Gericht ausdrücklich im Tenor gestützt auf § 35 BVerfGG ver­ bindliche und ausführliche eigene Regelungen an65. Von der Anordnung solcher eigenen neuen Regelungen können solche Übergangsregelungen unterschieden werden, die nicht eigenständig neues Recht setzen, sondern auf der beanstandeten Norm aufbauen und diese in­ haltlich modifizieren66. Bis zur zweiten Schwangerschaftsabbruch-Entscheidung hatte das Bundes­ verfassungsgericht lediglich in elf weiteren Fällen Maßnahmen nach § 35 62  Diese

Regelung jedoch als Übergangsregelung bezeichnend: ebd. Rn. 421. Kritik zum Beispiel bei Lamprecht, Oligarchie in Karlsruhe – Über die Erosion der Gewaltenteilung, NJW 1994, 3272 (3272 ff.); Schneider, Die Vollstre­ ckungskompetenz nach § 35 BVerfGG, NJW 1994, 2590 (2590 ff.). 64  BVerfGE 88, 203 (Tenor I) – Schwangerschaftsabbruch II (1993). 65  BVerfGE 88, 203 (Tenor II) – Schwangerschaftsabbruch II (1993). 66  In diesem Sinne Dietz, Unvereinbarerklärungen (Fn. 22), S. 104. 63  Starke

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Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

BVerfGG getroffen, wobei es meist um wenig einschneidende Fristen oder die Aussetzung der Vollziehung ging67. Auch nach 1993 folgten lediglich drei weitere Entscheidungen mit einer ausdrücklich im Tenor auf § 35 BVerfGG gestützten Übergangsregelung68. Davon abzugrenzen sind solche Entscheidungen, in denen tenoriert wird, dass die bisherige Regelung mit der „der Maßgabe [der Gründe] weiter an­ wendbar“ bleibt69 oder „mit der Maßgabe fortgilt“70. Auf § 35 BVerfGG werden solche Maßgaben jedoch regelmäßig nicht gestützt71. Zuletzt hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zu den Sanktionen im Sozialrecht (2019) im Tenor von Übergangsregelugnen gesprochen, ordnete aber gerade keine „neue“ Regelung eigenständig an, sondern tenorierte, dass das bisherige Recht „in der Fassung folgender Übergangsregelungen weiter anwendbar“ bleibt72. § 35 BVerfGG wurde nicht erwähnt. In den Gründen der Entscheidung verwendete das Bundesverfassungsgericht sodann den Be­ griff der Maßgabe73. Schon das zeigt: Ein stringentes Konzept verfolgt das Bundesverfassungsgericht nicht.

67  Schneider,

Vollstreckungskompetenz (Fn. 63), NJW 1994, 2590 (2590). heißt dann: „Gemäß § 35 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht wird angeordnet: […]“, vgl. BVerfGE 128, 326 (Tenor III) – Sicherungsverwahrung (2011); BVerfGE 130, 372 (Tenor 2) – Maßregelvollzugszeiten (2012); BVerfGE 139, 293 (Tenor 4) – Fixierung PsychKG (2018); als weitere Entscheidung ist jedoch auch BVerfGE 132, 134 (Tenor 3) – Asylbewerberleistungsgesetz (2012) zu nennen, in der das Gericht im Tenor die Formulierung „Bis zum Inkfraftreten eine Neuregelung wird angeordnet“ verwendet und sodann detaillierte Regelungen erlässt, aber nicht auf § 35 BVerfGG als Rechtsgrundlage hinweist. 69  BVerfGE 149, 222 (Tenor 2) – Rundfunkbeitrag (2018); BVerfGE 127, 132 (Tenor 2 und 3) – gemeinsames Sorgerecht (2010); BVerfGE NJW 2004, 750 (Tenor 2c) – nachträgliche Sicherungsverwahrung (2004); BVerfGE 74, 40 (Tenor I. 2) – Parteispendenurteil III (1986). 70  BVerfGE 146, 71 (Tenor 3) – Tarifeinheitsgesetz (2017); BVerfGE 141, 220 (Tenor 4) – BKA-Gesetz (2016); BVerfGE 130, 131 (Tenor 2) – Hamburgisches Pas­ sivraucherschutzgesetz (2012); BVerfGE 121, 317 (Tenor 1) – Rauchverbot (2008). 71  Unklar ist insofern der Hinweis auf § 35 BVerfGG zwar nicht im Tenor, wohl aber in den Gründen in BVerfGE 121, 317 (Rn. 167) – Rauchverbot (2008); in BVerfGE 48, 127 (Rn. 104) – Wehrpflichtnovelle (1978) wird § 35 BVerfGG auch erwähnt, dort spricht das Gericht auch (noch) nicht von Maßgaben. 72  BVerfGE 152, 68 (Tenor 2) – Sanktionen im Sozialrecht (2019). 73  BVerfGE 152, 68 (Rn. 210) – Sanktionen im Sozialrecht (2019); teilweise fehlt jedoch auch der Hinweis auf die Maßgabe, vgl. BVerfGE 121, 108 (Tenor 3) – kom­ munale Wählervereinigung (2008): „Bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber gilt die Steuerbefreiung des § 13 Absatz 1 Nummer 18 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes (ErbStG) auch für kommunale Wählervereinigungen und ihre Dachverbände, soweit sie § 34g Satz 1 Nummer 2 des Einkommensteuergesetzes unterfallen“. 68  Es



B. Ausnahmen von der Nichtigkeitserklärung 287

2. § 35 BVerfGG als Rechtsgrundlage Das Bundesverfassungsgericht stützt zumindest zum Teil Übergangsrege­ lungen ausdrücklich auf § 35 BVerfGG. In den überwiegenden Fällen wird die Fortgeltung der bisherigen Regelung unter inhaltlicher Modifikation an­ geordnet, ohne dass hierfür eine Rechtsgrundlage angegeben würde. In der Literatur wird die Vollstreckungskompetenz des § 35 BVerfGG als taugliche Rechtsgrundlage angesehen74. Dies ist nicht ohne Kritik geblie­ ben: Die Anordnung einer Übergangsregelung stelle eine feststellende Ent­ scheidung dar, die im klassischen vollstreckungsrechtlichen Sinne weder eine Vollstreckung einer anderen Entscheidung darstelle noch selbst vollstre­ ckungsfähig sei75. § 35 BVerfGG wird damit als Rechtsgrundlage für Voll­ streckungsregelungen abgelehnt76. Alternativ wird als Rechtsgrundlage auf allgemeine verfassungsrechtliche Erwägungen abgestellt, um Chaos und Verfassungskonflikte zu vermeiden – die Anordnung von Übergangsregelun­ gen sei eine Annexkompetenz77 oder eine Notkompetenz78 im Rahmen der Normenkontrolle. Auch wird die einstweilige Anordnung gem. § 32 BVerfGG als mögliche Rechtsgrundlage genannt79. 3. Verstoß gegen Verfassungsrecht Übergangsregelungen greifen erheblich in die legislative Tätigkeit der Ge­ setzgebungsorgane ein. Im Hinblick auf das Abtreibungsurteil aus 1993 74  Laumen, Vollstreckungskompetenz (Fn. 5), S. 100; Starck, Das Bundesverfas­ sungsgericht in der Verfassungsordnung und im politischen Prozess, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 1 (11); Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 70 Rn. 124. 75  Bethge, Entscheidungswirkungen und Konsequenzen des Sportwetten-Urteils des Bundesverfassungsgerichts, DVBl. 2007, 917 (920), der jedoch – da § 35 BVerfGG einen weiten Vollstreckungsbegriff meine – dennoch in dieser Vorschrift eine ausreichende Rechtsgrundlage für Übergangsregelungen sieht; Zustimmung bei Willers, Übergangsfristen (Fn. 11), S. 205. 76  Frenz, Die Rechtsfolgenregelung durch das Bundesverfassungsgericht bei ver­ fassungswidrigen Gesetzen, DÖV 1993, 847 (855); Sachs, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2016, S. 187; Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 430. 77  Roth, Grundlage und Grenzen von Übergangsanordnungen des Bundesverfas­ sungsgerichts zur Bewältigung möglicher Folgeprobleme seiner Entscheidungen, AöR 124 (1999), 470 (491). 78  Lerche, Das Bundesverfassungsgericht als Notgesetzgeber, in: Heinze (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Gitter. Zum 65. Geburtstag am 30. Mai 1995, 1995, S. 509 (511). 79  Schneider, Vollstreckungskompetenz (Fn. 63), NJW 1994, 2590 (2593).

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Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

wurden vor diesem Hintergrund gar Vergleiche mit dem unheilvollen Notver­ ordnungsrecht des Reichspräsidenten in der Weimarer Republik gezogen80. Aus ganz grundsätzlichen Gründen wird die Zulässigkeit solcher Übergangs­ regelungen daher abgelehnt. Durch derartige gestaltende Rechtsfolgenanord­ nungen würde das Bundesverfassungsgericht vom Rechtssprechungsorgan – was es ist und bleiben sollte – zum Gesetzgebungsorgan81. Es füge sich ein in ein „kaum noch trennbares zweitstufiges Gesetzgebungsverfahren“ wel­ ches sich unterteilt in das „legislative Rahmengesetz“ und die „judikative Konkretisierung“82. Übergangsregelungen würden gegen die Gewaltenglie­ derung verstoßen, in dem sich das Gericht aus dem gerichtlichen Verfahren entfernen würde. Das Gericht habe zwar ein Verwerfungsmonopol, darf aber nur auf Antrag entscheiden und ist dabei auf ein Veto beschränkt. Übergangsregelungen seien damit aus demokratischer Sicht problematisch, da das Bundesverfassungsgericht eine deutlich geringere demokratische Le­ gitimation besitzt als der Bundestag. Selbst in den Fällen, in denen sich dem Grundgesetz eindeutige Gesetzgebungsaufträge entnehmen lassen, lässt es regelmäßig mehrere Möglichkeiten zu, diesen Auftrag zu erfüllen. Das Bun­ desverfassungsgericht legt sich hingegen in diesen Fällen auf eine Möglich­ keit fest83. Auch aus funktionell-rechtlicher Sicht seien Übergangsregelun­ gen daher nicht möglich84. Das dem Bundesverfassungsgericht zustehenden Verwerfungsmonopol führe nicht dazu, dass das Gericht auch der bessere Gesetzgeber sei85. Dies kann es gar nicht, da Merkmal von Gesetzen auch stets ist, dass es aus einer politischen Gestaltung hervorgeht – hierzu ist das Bundesverfassungsgericht aber gerade nicht berufen und hat auch keinen entsprechenden Verwaltungsapparat, der die Gesetze vorbereiten könne, die sodann politisch zu diskutieren sind. Die aus der Gewaltenteilung abgeleitete Gesetzgebungsfunktion des Gesetzgebers sei dabei nicht nur ein Selbstzweck, die das Gesetzgebungsmonopol des Gesetzgebers sichern soll, sondern auch ein wesentliches Element der rechtsstaatlichen Freiheitssicherung86. Der Bür­ ger soll nur an das gebunden sein, was der Gesetzgeber entschieden hat.

80  Schneider,

Vollstreckungskompetenz (Fn. 63), NJW 1994, 2590 (2591). Das Bundesverfassungsgericht als Ersatzgesetzgeber, DVBl. 2012, 145 (147). 82  Schorkopf, Gesetzgebung durch Höchstgerichte und Parlamente, AöR 144 (2019), 202 (218). 83  Graßhof, Vollstreckung (Fn. 18), S. 267. 84  Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 533; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 93 Rn. 50. 85  Frenz, Rechtsfolgenregelung (Fn. 76), DÖV 1993, 847 (854); Graßhof, Voll­ streckung (Fn. 18), S. 266. 86  Frenz, Rechtsfolgenregelung (Fn. 76), DÖV 1993, 847 (854). 81  Götz/Schneider,



B. Ausnahmen von der Nichtigkeitserklärung 289

Problematisch sei auch, dass gesetzgeberische Übergangsregelungen gegen den Vorbehalt des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) verstoßen könnten – dort, wo wesentliche Sachverhalte entschieden werden, bedürfen diese einer ge­ setzlichen Grundlage (sog. Wesentlichkeitslehre). Weitergeltungsanordnun­ gen und Übergangsregelungen seien auch bei Gesetzen, die einen Freiheits­ entzug rechtfertigen, aufgrund von Art. 104 Abs. 1 GG problematisch, wo­ nach ein förmliches Gesetz erforderlich ist. Übergangsregelungen käme zwar gem. § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft zu, jedoch keine Gesetzesquali­ tät87. Insbesondere Übergangsregelungen im Strafrecht – wie in den Urteilen zum Schwangerschaftsabbruch ersichtlich – seien daher ­verfassungswidrig ergangen88. Anderer Auffassung nach würden Übergangsregelungen, insbe­ sondere dann, wenn man diese nicht auf § 35 BVerfGG, sondern auf eine Notkompetenz gestützt würden, den Erfordernissen des Gesetzesvorbehaltes genügen, weil aufgrund der Notkompetenz das Gericht gerade vollständig in die Position des Gesetzgebers einrücke89. 4. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Diese strikte Ablehnung der Zulässigkeit von Übergangsregelungen lässt jedoch praktische Probleme außer Betracht. So wird darauf verwiesen, dass Fälle denkbar seien, in denen sowohl die Erklärung der Nichtigkeit der Norm zu erheblichen staatsorganisatorischen Defekten führen und damit eine der Verfassung noch weniger entsprechende Sachlage entstehen würde als auch die Anordnung der Weitergeltung der Norm nicht zumutbar erscheint90. Nun können aber bloße praktische Gründe und der Hinweis, dass die Gegen­ position nicht erklären könne, was in Anbetracht der schwerwiegenden Fol­ gen die Alternative zu verfassungsgerichtlichen Übergangsregelungen sein sollte91, nicht die unbestreitbar dogmatischen Argumente der Gegenposition entkräften. Die Zulässigkeit der Übergangsregelung lässt sich jedoch auch ohne Ver­ stoß gegen diese dogmatischen Argumente herleiten, wenn man auf funktio­ nell-rechtliche Argumente rekurriert: Der Grundsatz der Gewaltenteilung oder-verschränkung meint lediglich, dass die Befugnisse der Gewalten nicht 87  Kreutzberger, Entscheidungsvarianten (Fn. 28), S. 190; dazu auch Schneider, Vollstreckungskompetenz (Fn. 63), NJW 1994, 2590 (2594). 88  Kreutzberger, Entscheidungsvarianten (Fn. 28), S. 189. 89  Lerche, Bundesverfassungsgericht (Fn. 78), S. 514. 90  Laumen, Vollstreckungskompetenz (Fn. 5), S. 94; Löwisch, Reparatur der Tarif­ einheit als Sache des Gesetzgebers, NZA 2017, 1423 (1426). 91  Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 33 (46).

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Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

in ihrem Grundsatz angetastet werden dürfen92. Zwar ist es richtig, dass der Bereich der Gesetzgebung in erster Linie dem Gesetzgeber obliegt. Die un­ streitig verfassungsrechtlich zulässige und notwendige Rechtssatzkontrolle greift jedoch bei der Nichtigkeitserklärung fraglos auch bereits in den eigent­ lich dem Gesetzgeber vorbehaltenen Bereich der Gesetzgebung ein93. Der Kernbereich der dem Gesetzgeber zugewiesenen Aufgaben besteht damit nicht darin, dass der Gesetzgeber ein Gesetzgebungsmonopol hat, sondern er besteht in den Gestaltungsspielräumen des Gesetzgebers. Einen – zumindest abschließenden – Eingriff in diese Spielräume enthalten die Übergangsrege­ lungen jedoch gerade nicht, da es der Gesetzgeber jederzeit in der Hand hat, durch eine Neuregelung seine Entscheidungsspielräume zu realisieren. Der Gesetzgeber kann unmittelbar eine neue Entscheidung treffen und ist dabei nicht an die Empfehlungen des Bundesverfassungsgerichts bzw. dessen vor­ gegebenen Übergangsregelungen gebunden94. Auch die Begrenzung des Bundesverfassungsgerichts auf den Antragsge­ genstand führt nach funktionell-rechtlicher Betrachtung nicht zur grundsätz­ lichen Unzulässigkeit von Übergangsregelungen. In funktionell-rechtlicher Sicht hat das Bundesverfassungsgericht die Kompetenz zur Überprüfung und Verwerfung zugewiesen bekommen, um verfassungsmäßige Zustände zu wahren95. Aus dieser Kompetenz erwächst auch die Berechtigung das ge­ samte übrige Recht auf seinen inneren Zusammenhang mit dem verfassungs­ widrigen Recht zu überprüfen. Schlussendlich ist es die große Bedeutung des Gebotes der Verfassungs­ mäßigkeit, welches im Grundgesetz unbedingten Ausdruck insbesondere durch Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 1  Abs. 3  GG und Art. 79 Abs. 3 GG erhält, welche dem Bundesverfassungsgericht nicht nur die Beanstandung verfas­ sungswidrigen Rechts zuweist, sondern auch die zumindest rechtliche Fol­ genverantwortung und damit die Wiederherstellung eines verfassungsgemä­ ßen Zustandes96. 5. Voraussetzungen Durch das Bundesverfassungsgericht gesetzte Übergangsregelungen kön­ nen damit grundsätzlich gerechtfertigt werden. An ihre Zulässigkeit sind aus Gewaltenteilungsaspekten jedoch besondere Voraussetzungen zu stellen. 92  Laumen,

Vollstreckungskompetenz (Fn. 5), S. 104. Vollstreckungskompetenz (Fn. 5), S. 105. 94  Starck, Bundesverfassungsgericht (Fn. 74), S. 11; Laumen, Vollstreckungskom­ petenz (Fn. 5), S. 105; Frenz, Rechtsfolgenregelung (Fn. 76), DÖV 1993, 847 (853). 95  Roth, Grundlage (Fn. 77), AöR 124 (1999), 470 (497). 96  Frenz, Rechtsfolgenregelung (Fn. 76), DÖV 1993, 847 (851). 93  Laumen,



B. Ausnahmen von der Nichtigkeitserklärung 291

a) Unterscheidung zwischen echten Übergangsregelungen und modifizierten Fortgeltungsanordnungen aa) Tenorierungen des Bundesverfassungsgerichts Während das Bundesverfassungsgericht im Tenor Übergangsregelungen teilweise explizit gestützt auf § 35 BVerfGG anordnet, tenoriert es in den meisten Fällen lediglich, dass die bisherige Regelung mit den sich aus den Gründen oder Tenor ergebenden Maßgaben weiter anwendbar bleibt. Gegen­ stand solcher Maßgaben sind – so zumindest die Auffassung des Bundesver­ fassungsgerichts – in der Regel Einschränkungen97 der bisherigen und nun für zunächst weiter anwendbar erklärten Regelung. In der – im Tenor auf § 35 BVerfGG gestützten-Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch war eine solche Einschränkung der Regelung hingegen nicht möglich, weil das StGB nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts in seiner geltenden Regelung den Schutz des ungeborenen Lebens nicht ausreichend sicher­ stellte98. Hintergrund der Anordnung gem. § 35 BVerfGG war die Verlet­ zung einer sich aus dem Grundgesetz ergebenden Schutzpflicht und damit des Untermaßverbotes. Insofern weder die Erklärung der Nichtigkeit noch die Einschränkung der bisherigen Regelung zu einem Zustand geführt hätte, der das erforderliche Schutzniveau erreicht hätte, musste entweder die Fort­ geltung der bisherigen Regelung oder aber eine positive, erweiternde Anord­ nung einer Übergangsregelung erfolgen. Bei einer Einschränkung einer Regelung dagegen könnte es sich – orien­ tiert man sich an dieser soeben skizzierten Rechtsprechung – daher gar nicht um eine „echte“ Übergangsregelung handeln (die § 35 BVerfGG als Rechts­ grundlage bedürfte), sondern vielmehr im Ergebnis um eine Kombination einer (unproblematischen) Teil-Nichtigkeitserklärungen mit einer Unverein­ barerklärungen mit Weitergeltungsanordnung – es ginge damit letztendlich um ein Minus zu Weitergeltungsanordnungen. Diese aus der Rechtsprechung des Gerichts abgeleitete Annahme benötigt jedoch eine Kontextualisierung: Der genaue Blick auf den Kontext der übri­ gen Entscheidungen, in denen im Tenor eine Übergangsregelung ausdrück­ lich auf die Vollstreckungsanordnung gemäß § 35 BVerfGG gestützt ange­ 97  So auch ausdrücklich in den Urteilsgründen, vgl. BVerfGE 152, 68 (Rn. 218) – Sanktionen im Sozialrecht (2019): Das Gericht urteilte konkret, dass vor Verhängung der in § 31a Abs. 1 SGB II vorgesehenen Sanktionen, d. h. der Kürzung der Leistung, eine Einzelfallprüfung erfolgen müsse. Die in § 31a Abs. 1 S. 2, 3 vorgesehene voll­ ständige Kürzung bzw. Kürzung um 60 Prozent dürfe zudem maximal 30 Prozent betragen. 98  BVerfGE 88, 203 (Tenor I.1) – Schwangerschaftsabbruch II (1993).

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Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

ordnet wurde99, widerlegt diese Annahme. Gegenstand dieser Entscheidun­ gen waren stets Gesetze, die die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 GG) ein­ schränkten. In der Entscheidung Fixierung PsychKG (2018) wurde diese Einschränkung zwar auch mit dem Gebot, die jeweils betroffene Person auch vor sich selbst zu schützen, gerechtfertigt100 – im Unterschied zur Schwan­ gerschaftsabbruch-Entscheidung wurde die Schutzpflicht jedoch nicht „unter­ maß“ erfüllt, sondern so, dass sie „übermaß“ in das entgegenstehende Frei­ heitsrecht (Art. 2 Abs. 2 GG) eingegriffen hat. In den Entscheidungsgründen erklärte das Bundesverfassungsgericht daher auch, dass „Fixierungen vorü­ bergehend auf Grundlage des § 25 PsychKHG unter der weiteren Maßgabe“ erlaubt sein können101. Gegenstand der Entscheidung war damit im Ergebnis ebenso eine modifizierte Fortgeltung, eine „Reduzierung“ der bestehenden Regelung dahingehend, dass eine Fixierung nur unter Richtervorbehalt erfol­ gen dürfe. Gleiches gilt für die Entscheidung zum Maßregelvollzug, in der das Gericht in den Gründen erklärte, dass „bis zu einer gesetzlichen Neure­ gelung […] § 67 Abs. 4 StGB mit folgenden Maßgaben fort“ gilt102 – auch hier wurde „Übermaß“ in Art. 2 Abs. 2 GG eingegriffen. Ein intensiver „Übermaß“-Eingriff in Art. 2 Abs. 2 GG war auch in der Entscheidung zur Sicherungsverwahrung Grund für das Gericht, die Weitergeltung der Norm mit den sich aus dem Tenor ergebenen Maßgaben103 anzuordnen. Damit lagen den nach dem Schwangerschaftsabbruch-Urteil ergangenen Entscheidungen, die ebenso auf § 35 BVerfGG gestützt wurden, ganz andere Voraussetzungen als der Schwangerschaftsabbruch-Entscheidung zu Grunde. Während es bei der Schwangerschaftsabbruch-Entscheidung um eine Verlet­ zung des Untermaßverbotes ging, waren die Eingriffe in den anderen Ent­ scheidungen wegen einer übermäßigen staatlichen Tätigkeit unverhältnismä­ ßig. Entscheidungen hingegen, in denen das Bundesverfassungsgericht ebenso wie im Schwangerschaftsurteil eine unzureichende Erfüllung gesetzgeberi­ scher Schutzpflichten erkannt hat, wurden nicht auf § 35 BVerfGG gestützt: Hinsichtlich des Asylbewerberleistungsgesetzes betonte das Gericht, dass die dort vorgesehenen Leistungen seiner Auffassung nach evident unzureichend waren und daher das Untermaßverbot verletzt sei104. Die daher gebotene 99  BVerfGE 128, 326 (Tenor III) – Sicherungsverwahrung (2011); BVerfGE 130, 372 (Tenor 2) – Maßregelvollzugszeiten (2012); BVerfGE 139, 293 (Tenor 4) – Fixie­ rung PsychKG (2018). 100  BVerfGE 139, 293 (Rn. 120) – Fixierung PsychKG (2018). 101  BVerfGE 139, 293 (Rn. 121) – Fixierung PsychKG (2018). 102  BVerfGE 130, 372 (Rn. 84) – Maßregelvollzugszeiten (2012). 103  BVerfGE 128, 326 (Rn. 171) – Sicherungsverwahrung (2011). 104  BVerfGE 132, 134 (Rn. 80) – Asylbewerberleistungsgesetz (2012).



B. Ausnahmen von der Nichtigkeitserklärung 293

Übergangsregelung wurde „angeordnet“, jedoch nicht nach § 35 BVerfGG105. Eine unzureichende Erfüllung der Pflicht zur Gewährung von Sozialleistun­ gen stellte das Bundesverfassungsgericht auch in der Hartz-IV-Entscheidung fest, sodass angeordnet wurde, dass der „Anspruch auf Leistungen zur Sicher­ stellung eines unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs für die nach § 7 Sozialgesetzbuch Zweites Buch Leistungsberechtig­ ten […] Bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber […] nach Maßgabe der Urteilsgründe unmittelbar aus Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz zu Lasten des Bundes geltend gemacht werden kann“106. Das Bundesverfassungsgericht wurde damit erweiternd bzw. gestaltend tätig. Ein Hinweis auf § 35 BVerfGG erfolgte nicht. Die Verwendung des § 35 BVerfGG als Rechtsgrundlage für Übergangs­ regelungen ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts somit nicht konsequent. Eine Anwendung auf gestaltende Regelungen aufgrund der unzureichenden Ausfüllung eines vom Gesetzgeber zu erfüllenden Schutz­ auftrages – wie es die Schwangerschaftsabbruch-Entscheidung vermuten ließ – kann nicht festgestellt werden. Vielmehr scheint das Bundesverfas­ sungsgericht Übergangsregelungen immer dann im Tenor ausdrücklich auf § 35 BVerfGG zu stützen, wenn das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG zur Debatte steht. Während es im Schwangerschaftsurteil um eine unzureichend erfüllte Schutzpflicht ging, war Gegenstand der Entscheidungen in den ande­ ren Urteilen jeweils ein unverhältnismäßiger Eingriff in Art. 2 Abs. 2 GG, der durch Übergangsregelungen gem. § 35 BVerfGG korrigiert werden musste. Eine Erklärung hierfür bleibt das Bundesverfassungsgericht schuldig. bb) Differenzierung in inhaltlicher Hinsicht Die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewählten An­ wendungsfälle von § 35 BVerfGG taugen damit nicht zur hinreichenden Differenzierung. Weiter ist damit zu fragen, ob zumindest in inhaltlicher Hinsicht echte Übergangsregelungen von modifizierten Fortgeltungsanord­ nungen unterschieden werden können. Dies böte sich dann an, wenn die Annahme, dass es sich bei modifizierten Fortgeltungsanordnungen tatsäch­ lich stets um Einschränkungen der fortgeltenden Regelung und damit um ein Minus zu Weitergeltungsanordnungen handelte, zutreffend ist, während die echten Übergangsregelungen neue von der bisherigen Regelung unabhängige inhaltliche Anordnungen enthielten. Dann könnten weitaus geringere Anfor­ derungen an erstere zu stellen sein als an echte Übergangsregelungen, die sodann auf § 35 BVerfGG gestützt werden könnten. 105  BVerfGE 106  BVerfGE

132, 134 (Tenor 3) – Asylbewerberleistungsgesetz (2012). 125, 175 (Tenor 3) – Hartz-IV-Gesetz (2010).

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Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

Modifizierte Weitergeltungsanordnungen enthalten jedoch alles andere als lediglich Einschränkungen der gesetzgeberischen Regelung und damit der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit. Wenn das Bundesverfassungsgericht weiter anzuwendende Regelungen dahingehend modifiziert, dass Härtefall­ prüfungen durchzuführen sind, Kürzungsregelungen von 60 auf 30 Prozent erfolgen oder Richtervorbehalte durchgesetzt werden107, dann handelt es sich zwar um eine Einschränkung des Grundrechtseingriffs, jedoch nicht um eine bloße Reduzierung des gesetzgeberisch Gewollten. Vielmehr geht es auch bei den modifizierten Übergangsregelungen um neue Rechtsetzungsakte durch das Bundesverfassungsgericht, um Anordnungen, die der Gesetzgeber so nicht gewollt oder zumindest nicht bedacht hat. Wenn das Gericht diese Re­ gelungen als „Maßgaben“ bezeichnet, täuscht es vor, dass es sich lediglich um Interpretationsrichtlinien handeln könnte – tatsächlich handelt es sich auch hierbei um gesetzesvertretende Regelungen108. Die modifizierte Fortgeltung gestaltet damit ebenso wie unabhängige Übergangsregelungen. Es besteht kein inhaltlicher, sondern nur ein dahinge­ hender struktureller Unterschied, dass die modifizierte Fortgeltungen bei übermäßigen Eingriffen noch ein zutreffender Begriff ist und Übergangsrege­ lungen bei unterlassenen Schutzpflichten angeordnet werden müssen. Die inhaltlichen Kriterien für eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung können von dieser Differenzierung nicht beeinflusst werden. b) Systematik inhaltlicher Kriterien Übergangsregelungen kommen in unterschiedlichen Situationen in Be­ tracht. Sie setzen zunächst voraus, dass eine sofortige Nichtigkeitserklärung als auch die bloße Unvereinbarerklärung nicht in Frage kommt, sondern zu­ mindest die weitere Anwendbarkeit der Norm erklärt werden muss. aa) Nichtigerklärung nicht möglich Dies ist zunächst der Fall, wenn gesetzgeberische Schutzaufträge entweder zu stark (z. B. die aus Art. 2 Abs. 2 GG abgeleitete Schutzpflicht besteht zwar, sie erfordert aber bestimmte verfahrensrechtliche Regelungen für die Fixierung psychisch Kranker109) oder nicht hinreichend erfüllt wurden, mit­ 107  So

die „Einschränkungen“ in den vorstehend zitierten Entscheidungen. auch Graßhof, Vollstreckung (Fn. 18), S. 260. 109  BVerfGE 139, 293 (Rn. 120) – Fixierung PsychKG (2018); es wäre gar keine Fixierung mehr möglich gewesen, obwohl die Schutzpflicht dies grundsätzlich erfor­ dert, die Regelung war jedoch zu intensiv (insb. kein Richtervorbehalt). 108  So



B. Ausnahmen von der Nichtigkeitserklärung 295

hin bei einer Verletzung des Untermaßverbotes110, insbesondere wenn le­ bensbedrohliche Gesundheitsschäden drohen111, weil mit Nichtigkeitserklä­ rung das zu schützende Gut gar keinen Schutz mehr erfahren würde. In den Fällen unzureichend erfüllter Schutzpflichten bedeutet eine Nichtig­ keitserklärung zumeist auch die Vertiefung des bestehenden Unrechts, d. h. dass ein Zustand geschaffen würde, der von der verfassungsmäßigen Ord­ nung noch weiter entfernt wäre als der bisherige112. Dieses „Vertiefungs­ argument“ kann auch außerhalb der Schutzpflichten-Dogmatik eine Über­ gangsregelung rechtfertigen, nämlich dann, wenn eine Teilregelung eines Rechtsgebietes unverhältnismäßig ist und die Aufhebung der Teilregelung noch stärker unverhältnismäßige Zustände herbeiführen würde113. Darüber hinaus können überragend wichtige verfassungsrechtlich ge­ schützte Gemeingüter, wie das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit114, die vom internationalen Terrorismus für den freiheitlichen und demokrati­ schen Rechtsstaat ausgehenden Gefahren115 oder nicht zu ertragende staat­ liche Finanzlücken116 das Absehen von einer Nichtigerklärung rechtfertigen. bb) Abwägung Sodann hat das Bundesverfassungsgericht jedoch auch den Zustand in den Blick zu nehmen, der durch die bloße Anordnung der weiteren Anwendbar­ keit der gesetzgeberischen Regelung bestünde. Dieser Zustand ist mit dem Zustand der geplanten Übergangsregelung zu vergleichen und sodann in eine Abwägung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers mit den berechtigten Interessen der Grundrechts-Betroffenen einzutreten117. Das Bundesverfas­ 110  BVerfGE 132, 134 (Rn. 180) – Asylbewerberleistungsgesetz (2012); BVerfGE 125, 175 (Tenor 3) – Hartz-IV-Gesetz (2010). 111  BVerfGE 88, 203 (Leitsatz 7) – Schwangerschaftsabbruch II (1993); in BVerfGE 142, 313 (Tenor 3) – ärztliche Zwangsbehandlung (2016) wurde zwar nicht die Verfas­ sungswidrigkeit des § 1906 Abs. 3 BGB festgestellt, aber aufgrund einer Schutzlücke und eines bestehenden Schutzauftrages die vorübergehende Geltung des § 1906 Abs. 3 BGB auch auf stationär Betreute angeordnet. 112  BVerfGE 132, 134 (Rn. 97) – Asylbewerberleistungsgesetz (2012). 113  BVerfGE 130, 372 (Rn. 86) – Maßregelvollzugszeiten (2012): Maßregelvoll­ zugszeiten wären gar nicht mehr auf Freiheitsstrafen angerechnet worden, obwohl es verfassungswidrig war, dass nicht ausreichend Zeiten angerechnet wurden. 114  BVerfGE 130, 372 (Rn. 53) – Maßregelvollzugszeiten (2012); BVerfGE 128, 326 (Rn. 169) – Sicherungsverwahrung (2011). 115  BVerfGE 141, 220 (Rn. 357) – BKA-Gesetz (2016). 116  BVerfGE 149, 222 (Rn. 153) – Rundfunkbeitrag (2018). 117  BVerfGE 139, 293 (Rn. 119) – Fixierung PsychKG (2018); BVerfGE 141, 220 (Rn. 335) – BKA-Gesetz (2016).

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Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

sungsgericht muss sich aus funktionell-rechtlichen Gründen, wenn es „irgend möglich“ ist, auf die Nichtigkeit oder zumindest auf die Erklärung der Un­ vereinbarkeit der Norm beschränken118. Im Rahmen der Abwägung wird insbesondere zu berücksichtigen sein, dass die bloße durch die Weitergeltung der Norm eintretende verfassungs­ widrige Rechtslage nicht ausreicht, um eine Übergangsregelung zu rechtfer­ tigen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich auch stets zu fragen, ob Ge­ setzgeber, Verwaltung und Fachgerichtsbarkeit nicht sinnvoll Verfassungs­ verstöße vermeiden können119. Auch der bloße Hinweis darauf, dass das Bundesverfassungsgericht nicht unzulässig in die gesetzgeberische Gestal­ tungsfreiheit eingreife, weil die verfassungsgerichtlich angeordnete Regelung wieder rückgängig gemacht werden könne, vermag als Rechtfertigung nicht auszureichen120. Vielmehr muss geltend gemacht werden, dass ohne Über­ gangsregelung schwerwiegende und irreparable Folgeschäden drohen121, dass die Übergangsregelung „erforderlich und unabdingbar [ist,] weil sie zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten“ ist122. Danach kommt insbesondere bei der Verletzung des Untermaßverbotes eine Übergangsregelung in Betracht. Hat der Einzelne einen aus den Grund­ rechten ableitbaren Erfüllungsanspruch auf den Erlass einer Norm, so spricht hier auch die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG für die Anordnung einer Übergangsregelung123. In diesen Fällen kann es sogar unter Umstän­ den möglich sein, eine Übergangsregelung zu erlassen, wenn der Gesetzgeber trotz Anspruch auf gesetzgeberisches Tätigwerden bislang gänzlich untätig geblieben ist124. Insbesondere dann, wenn das Untermaßverbot hinsichtlich der „existenzsichernden Bedeutung der Grundleistungen“ verletzt ist und zusätzlich erkennbar ist, dass verfassungskonforme Regelungen im politi­ schen Prozess nicht bald ersichtlich sind125, können Übergangsregelungen gerechtfertigt sein126. Auch eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG kann nicht 118  Korioth/Schlaich,

Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 546. Bundesverfassungsgericht (Fn. 78), S. 510; Roth, Grundlage (Fn. 77), AöR 124 (1999), 470 (499). 120  Graßhof, Vollstreckung (Fn. 18), S. 265. 121  Frenz, Rechtsfolgenregelung (Fn. 76), DÖV 1993, 847 (854). 122  Bethge, in: Maunz et al. (Hrsg.), BVerfGG, § 35 (2019) Rn. 39. 123  Frenz, Rechtsfolgenregelung (Fn. 76), DÖV 1993, 847 (852 f.). 124  In diesen Fällen wird zunächst jedoch der Weg über eine Appellentscheidung zu suchen sein, vgl. Bethge, in: Maunz et al. (Hrsg.), BVerfGG, § 90 (2020) Rn. 227; siehe dazu auch unter Teil 5 C. 125  BVerfGE 132, 134 (Rn. 99) – Asylbewerberleistungsgesetz (2012). 126  Dazu auch Frenz, Rechtsfolgenregelung (Fn. 76), DÖV 1993, 847 (853), der zwar darauf hinweist, dass das Bundesverfassungsgericht auch nicht berechtigt ist, 119  Lerche,



B. Ausnahmen von der Nichtigkeitserklärung 297

nur vorübergehend hingenommen werden127. Dagegen wird bei Normverwer­ fungen zu prüfen sein, wie lange das verfassungswidrige Recht schon ange­ wandt wurde und ob eine kurzfristige weitere vorübergehende Anwendbarkeit nicht eher hinzunehmen ist als eine bundesverfassungsgerichtliche Neurege­ lung128. Dieser zweite Prüfungspunkt – derjenige der Abwägung – kommt in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts häufig zu kurz129: Eine Be­ gründung für die ausdrücklich auf § 35 BVerfGG gestützte Übergangsrege­ lung blieb beispielsweise im Urteil Fixierung PsychKG gänzlich aus. Der Vergleich mit den anderen ebenso wie in jenem Urteil auf § 35 BVerfGG gestützten Anordnungen zeigt jedoch, dass das Bundesverfassungsgericht offenbar davon ausgeht, dass Grundrechtsbeeinträchtigungen des Art. 2 Abs. 2 GG regelmäßig auch nicht übergangsweise hingenommen werden können und daher eine Übergangsregelung anzuordnen ist130. Der Übergangsregelung in der jüngsten Entscheidung zum Rundfunkbei­ trag lag die Vorstellung zu Grunde, dass die verfassungsrechtlich geforderte Finanzierung des öffentlich- rechtlichen Rundfunks bei einer Nichtigkeits­ erklärung gefährdet würde131 – dies wäre ein Zustand, der der verfassungs­ mäßigen Ordnung noch ferner stünde als die verfassungswidrige Regelung132. Bereits eine solche Aussage bleibt ohne konkrete Zahlen vage und kann da­ her der erforderlichen verfassungsrechtlichen Rechtfertigung kaum genügen. Auch die Frage, ob ein kurzfristiger Ausfall tatsächlich nicht überbrückbar wäre, bleibt offen. Mit dem Argument, dass Zustände entstehen, die von der Verfassung noch weiter entfernt seien, ist nur die Weitergeltung begründet, nicht aber die Übergangsregelung. Eine spezifische Begründung hierfür fehlt. Lohnenswert ist ein Vergleich: Die verlässliche Haushalts- und Finanzpla­ nung hat das Gericht auch bei der Grundsteuer als Argument genannt, auf­ grund dessen die Regelung fortgelten müsse133. Im Gegensatz zum Rund­ funkbeitrag hatte das Gericht hier eine Modifizierung aber gerade nicht für einen verfassungswidrigen Einzelakt selbst neu anzuordnen, jedoch ausführt, dass bis zum Inkraftreten eines neuen Gesetzes im Gegensatz zur Einzelentscheidung meist eine sehr lange Zeit vergeht. 127  BVerfGE 125, 175 (Rn. 220) – Hartz-IV-Gesetz (2010). 128  Schneider, Vollstreckungskompetenz (Fn. 63), NJW 1994, 2590 (2594). 129  Anders z. B. in BVerfGE 141, 220 (Rn. 335 ff.) – BKA-Gesetz (2016). 130  In BVerfGE 130, 372 (Rn. 87) – Maßregelvollzugszeiten (2012) erfolgt zur Rechtfertigung allerdings auch lediglich der Hinweis auf den „verfassungswidrigen Grundrechtseingriff“; ebenso uneindeutig auch BVerfGE 128, 326 (Rn. 171) – Siche­ rungsverwahrung (2011). 131  BVerfGE 149, 222 (Rn. 153) – Rundfunkbeitrag (2018). 132  BVerfGE 149, 222 (Rn. 151) – Rundfunkbeitrag (2018). 133  BVerfGE 148, 147 (Rn. 170) – Einheitsbewertung Grundsteuer (2018).

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Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

notwendig erachtet, sondern sich mit der Fortgeltung zufriedengegeben. Die dagegen im Rundfunkurteil vorgenommene Modifizierung wäre also erklä­ rungsbedürftig gewesen. Im Urteil zum Tarifeinheitsgesetz war es die „große Bedeutung der struk­ turellen Rahmenbedingungen für die Aushandlung der Tarifverträge“134, aufgrund derer von einer Nichtigkeitserklärung abgesehen wurde. Dies ist jedoch kein verfassungsrechtliches Argument. Auch in dieser Entscheidung geht das Gericht jedoch davon aus, dass Unvereinbarkeit und Nichtigkeit alternative Rechtsfolgenanordnungen sind und erstere daher keine besondere Begründung bedürfe135. Das ist nicht nachvollziehbar. Es mag aus Sicht des Gesetzgebers angenehm sein, dass das Bundesverfassungsgericht ausdrück­ lich den „Respekt gegenüber dem Gesetzgeber“136 betont. Das Bundesver­ fassungsgericht ist jedoch nicht verpflichtet, bei einem verfassungswidrigen Gesetz den Eingriff in das gesetzgeberische Konzept so gering wie möglich zu halten137, sondern das Bundesverfassungsgericht hat verfassungswidrige Gesetze für verfassungswidrig zu erklären. Im Tarifeinheitsurteil hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber insgesamt einen weiten Spiel­ raum zur Ausgestaltung eingeräumt und verschiedene Möglichkeiten aufge­ zeigt, dass nur bei einer nachhaltigen Beeinträchtigung der Funktionsfähig­ keit des Tarifsystems überhaupt eine Pflicht zur Änderung bestehe138. Da eine solche nicht in Sicht war, hat das Bundesverfassungsgericht im Ergebnis klar gemacht, dass es dem Gesetzgeber auch freistehe, das Gesetz vollständig aufzuheben139. Die Anordnung der Nichtigkeit des § 4a Abs. 2 S. 2 TVG hätte weder zur Folge, dass Grundrechte verletzt würden, noch dass erheb­ liche staatsorganisatorische Defekte eintreten würden140. Der Gesetzgeber hat gerade keine Verpflichtung zum Tätigwerden. Besteht eine solche nicht, ist das Gesetz schlicht bereits im Normenkontrollvorgang für nichtig zu erklä­ ren. Übergangsregelungen und Fortgeltungsanordnungen verbieten sich. c) Ergebnis Inhaltliche Modifizierungen und echte Übergangsregelungen lassen sich nicht voneinander trennen. Modifizierte Fortgeltungsanordnungen stellen Reduzierungen des Grundrechtseingriffs, jedoch keine Reduzierung des ge­ 134  BVerfGE

146, 71 (Rn. 216) – Tarifeinheitsgesetz (2017). 146, 71 (Rn. 216) – Tarifeinheitsgesetz (2017). 136  BVerfGE 146, 71 (Rn. 217) – Tarifeinheitsgesetz (2017). 137  Starck, Bundesverfassungsgericht (Fn. 74), S. 11. 138  BVerfGE 146, 71 (Rn. 117 ff.) – Tarifeinheitsgesetz (2017). 139  Löwisch, Reparatur (Fn. 90), NZA 2017, 1423 (1426). 140  Löwisch, Reparatur (Fn. 90), NZA 2017, 1423 (1427). 135  BVerfGE



B. Ausnahmen von der Nichtigkeitserklärung 299

setzgeberischen Willens dar – der Eingriff in die gesetzgeberische Gestal­ tungsfreiheit ist somit sowohl bei echten Übergangsregelungen als auch bei modifizierten Fortgeltungsanordnungen gegeben. Die Anordnung solcher Regelungen bedarf über die bloße Rechtfertigung für die Fortgeltung hinaus stets einer besonderen verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Der Hinweis auf § 35 BVerfGG als Rechtsgrundlage für Übergangsregelungen entbindet nicht von der Pflicht zur Rechtfertigung im konkreten Fall. Die Übergangsreglung setzt zunächst voraus, dass die Erklärung der Nich­ tigkeit nicht in Frage kommt, weil diese zu einem Zustand führen würde, der von der Verfassung noch weiter entfernt wäre als der verfassungswidrige gesetzliche Zustand. Damit ist klar, dass zunächst die Unvereinbarerklärung gerechtfertigt werden muss. Das kann insbesondere aufgrund des Schutzes überragend wichtiger Güter des Gemeinwohls (z. B. Finanzierung des Rund­ funks, Schutz vor Terrorismus) der Fall sein oder aber, wenn die Regelung dazu dient, eine Schutzpflicht durchzusetzen (Schutz insbesondere der Ge­ sundheit und des Lebens aus Art. 2 Abs. 2). Darüber hinaus ist jedoch eine Abwägung mit den Folgen der Nichtigkeit geboten. Diese Abwägung gelingt dem Bundesverfassungsgericht nicht immer vollständig. Aus Gründen der Rechtsklarheit sollte das Bundesverfassungsgericht die Übergangsregelung zudem klar kennzeichnen und in den Tenor aufnehmen141. Auch das gelingt dem Gericht nicht immer. Inhaltlich sollte sich die Übergangsregelung dann auf den „legislatorischen Willen“ des Gesetzgebers, auf dessen „Rohmaterial“, stützen, welches in eine verfassungsgemäße Form gegossen wird142. Die Übergangsregelung muss strikt auf den Zweck, einen verfassungsgemäßen Zustand herzustellen, beschränkt sein und darf keine darüberhinausgehenden Anordnungen bein­ halten, die eine Neuregelung des Gesetzgebers erschweren könnten143. Kri­ tikwürdig werden Übergangsregelungen freilich zumeist erst deswegen, weil das Bundesverfassungsgericht – wie in den Urteilen zum Schwangerschafts­ abbruch – die Spielräume des Gesetzgebers bei der Umsetzung normativer Schutzkonzepte stark beschränkt. Würde das Gericht die materiell-recht­ liche Verfassungskontrolle großzügiger handhaben, so käme es auch nicht so schnell in die Bedrängnis, Übergangsregelungen erlassen zu müssen. Kommt das Gericht erst einmal zu der Überzeugung, dass Schutzpflichten nicht aus­ reichend erfüllt sind, dann kommt das Gericht bei der inhaltlichen Ausgestal­ tung gar nicht umhin, wie ein Gesetzgeber zu handeln – dies gebieten schon die Anforderungen an Rechtsklarheit und Vollständigkeit144. 141  Graßhof,

Vollstreckung (Fn. 18), S. 291. Rechtsfolgenregelung (Fn. 76), DÖV 1993, 847 (849). 143  Frenz, Rechtsfolgenregelung (Fn. 76), DÖV 1993, 847 (855). 144  Lerche, Bundesverfassungsgericht (Fn. 78), S. 513. 142  Frenz,

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Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

Die Möglichkeit zum Erlass von Übergangsregelungen muss daher klar begrenzt werden. Ebenso wie Fortgeltungsanordnungen sollten diese grund­ sätzlich nur dann erfolgen, wenn das Grundgesetz Gesetzgebungsaufträge vorschreibt und ansonsten auf Ausnahmen begrenzt bleiben. Hinzuweisen ist aber auch darauf, dass es der Gesetzgeber stets selbst in der Hand hat, be­ stimmte Übergangsregelungen wieder – auch zeitnah – aufzuheben. Der Eingriff in die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit ist mithin im Vergleich zu der Deutungshoheit, die das Bundesverfassungsgericht in Auslegungs­ fragen hat, geringer145. Zudem ist aus funktionell-rechtlicher Sicht darauf hinzuweisen, dass das Bundesverfassungsgericht sich zwar auf seine Befug­ nisse zu beschränken und keine legislativen Kompetenzen wahrzunehmen hat, wohl aber auch aus funktionell-rechtlicher Sicht gerade dazu verpflichtet ist, die Verfassung zu wahren – diesem Ziel kommt es durch Übergangsrege­ lungen gerade nach146.

III. Fristabläufe Sowohl Unvereinbarerklärungen, Weitergeltungsanordnungen als auch Übergangsregelungen werden mal mit einer Frist verbunden und mal bleiben sie ohne ein solche. Damit ist die Frage zu klären, welche Folgen es hat, wenn die Frist abläuft, ohne dass der Gesetzgeber eine Regelung erlassen hat. Die Tenorierungspraxis des Bundesverfassungsgerichts ist diesbezüglich sehr uneinheitlich und selten eindeutig. Während die einen der Auffassung sind, dass das Versäumen der Frist „stets“ die Nichtigkeit des Gesetzes zur Folge hätte147, stellen andere darauf ab, ob die Fortgeltungsanordnungen oder Übergangsregelungen mit der Neuregelungspflicht derart verknüpft sind, dass die eine mit der anderen stehen und fallen soll, denn dann würde der Ablauf der Frist zur Nichtigkeit der Norm führen148. Anderer Ansicht nach müsse die Unvereinbarerklärung dagegen ausdrücklich mit der Nichtig­ keitsfolge nach Fristablauf verknüpft werden, die Nichtigkeit also explizit angeordnet werden149. 145  Anders Burmeister, Stellung und Funktion des Bundesverfassungsgerichts im System der Gewaltengliederung, in: Koenig (Hrsg.), Die Kontrolle der Verfassungs­ mäßigkeit in Frankreich und in der Bundesrepublik Deutschland, 1985, S. 33 (40). 146  Frenz, Rechtsfolgenregelung (Fn. 76), DÖV 1993, 847 (850). 147  Bethge, in: Maunz et al. (Hrsg.), BVerfGG, § 31 (2019) Rn. 252; Löwisch, Reparatur (Fn. 90), NZA 2017, 1423 (1426). 148  Rixen, Wie lange gilt die Übergangsregelung des Tarifeinheitsurteils?, NVwZ 2018, 784 (785). 149  Rixen, Übergangsregelung (Fn. 148), NVwZ 2018, 784 (786).



B. Ausnahmen von der Nichtigkeitserklärung 301

Zunächst spricht dafür, dass bei Fristablauf auch die Nichtigkeit des frag­ lichen Gesetzes eintritt, dass es ansonsten zu einer sanktionslosen Perpetuie­ rung des Grundrechtsverstoßes kommen würde150. Nichtsdestotrotz ist dieser Auffassung bereits ganz grundsätzlich zu widersprechen: Wenn nach Ablauf der Frist das kontrollierte Gesetz nichtig wird, dann ließe sich im Umkehr­ schluss daraus schließen, dass durch die Nichtigkeit des Gesetzes grundsätz­ lich ein verfassungskonformer oder zumindest akzeptabler Zustand geschaf­ fen werden könnte. Wenn es aber möglich ist, unter Feststellung der Nichtig­ keit einen solchen verfassungskonformen oder zumindest akzeptablen Zu­ stand herzustellen, so hätte gar nicht die Notwendigkeit bestanden, eine Übergangsregelung zu erlassen oder die weitere Anwendbarkeit der Norm zu erklären, sondern es wäre nicht nur möglich gewesen, das Gesetz direkt für nichtig zu erklären, sondern das Bundesverfassungsgericht wäre auch ver­ pflichtet gewesen, diese Nichtigkeit festzustellen. Der Eintritt der Nichtigkeit kann somit nicht Folge eine Fristverletzung sein. Wohl aber könnte das Bundesverfassungsgericht insbesondere bei einer bloßen Weitergeltungsanordnung für den Fall des Fristablaufs eine neue Übergangsregelung anordnen (die einen verfassungsmäßigen Zustand her­ stellen würde), die die alte Regelung des Gesetzgebers ersetzt und ihn da­ durch sanktioniert und zum Handeln zwingt151 – eine solche Übergangsre­ gelung wäre dann verfassungsrechtlich weniger bedenklich, weil im Rahmen der vor dem Setzen einer solchen Übergangsregelung zwingend vorzuneh­ menden Abwägung152 zwischen dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und den berechtigten Interessen der Betroffenen das Verstreichenlassen der Frist (diese muss freilich angemessen sein) zu Lasten des Gesetzgebers geht – der Gesetzgeber hatte genug Zeit zum Handeln und kann sich über einen Eingriff in seine Gestaltungsfreiheit daher nicht beschweren. Problematisch ist jedoch, dass die hypothetisch drohende Übergangsrege­ lung schon in der Ausgangsentscheidung formuliert werden und daher durch die dortige Formulierung den Gesetzgeber bereits eine bestimmte Richtung für die Neuregelung weisen müsste. Daher wäre es rechtspolitisch überle­ genswert, das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht so auszugestal­ ten, dass es im Falle des Fristablaufs eine „Wiedervorlage“ vor dem Bundes­ verfassungsgericht gibt, sodass das Gericht erst nach Fristablauf und bei Wiedervorlage seine Überlegungen zur Übergangsregelung formuliert.

150  Drüen, Wegfall oder Fortgeltung des verfassungswidrigen Erbschaftsteuerge­ setzes nach dem 30.6.2016?, DStR 2016, 643 (645). 151  Dazu auch Steiner, Zum Entscheidungsausspruch, in: Isensee/Leisner (Hrsg.), Freiheit und Eigentum, 1999, S. 569 (575 f.). 152  Siehe dazu Teil 5 B. II. 5. b) bb).

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Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

C. Vorgaben an den Gesetzgeber: Appellentscheidungen Im Rahmen der Unvereinbarerklärungen mit Fortgeltungsanordnungen und der Übergangsregelungen verpflichtet das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber dazu, den Verfassungsverstoß zu beseitigen – bei der Unverein­ barerklärung ist es gerade diese Anweisung, die den Eingriff in die gesetzge­ berische Freiheit ausmacht. Ein solcher Eingriff ist somit ebenso dann gegeben, wenn das Bundes­ verfassungsgericht dem Gesetzgeber derartige Verpflichtungen auferlegt, wenn es das Gesetz für vollumfänglich nichtig oder verfassungskonform er­ klärt oder aber wenn sich das Begehren gegen ein Unterlassen des Gesetzge­ bers richtet, also überhaupt keine Norm zu überprüfen ist. Auch wenn das Gericht bei noch verfassungsgemäßen Rechtslagen von einer drohenden Verfassungswidrigkeit ausgeht, kann es sein, dass es an den Gesetzgeber appelliert, Maßnahmen zu ergreifen oder das Gesetz zumindest zu beobachten. Eine ähnliche Konfliktsituation zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber ergibt sich auch in denjenigen Situationen, in denen das Bun­ desverfassungsgericht zwar nicht explizit (insbesondere im Tenor) an den Gesetzgeber zum Tätigwerden appelliert, sich aber in den Gründen ausführ­ lich mit der Zulässigkeit möglicher Regelungsalternativen auseinandersetzt.

I. Ausdrückliche Appellentscheidungen Als Appellentscheidungen werden zumeist die Entscheidungen bezeichnet, in denen das Bundesverfassungsgericht (noch) nicht die Verfassungswidrig­ keit feststellt, gleichwohl aber erklärt, dass das Gesetz in absehbarer Zeit verfassungswidrig werden wird und der Gesetzgeber daher eine Neuregelung treffen möge1 oder aber solche Entscheidungen, bei denen das Gericht die 1  Hein, Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze durch das Bun­ desverfassungsgericht, 1988, S. 15; Klein, Verfahrensgestaltung durch Gesetz und Richterspruch, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsge­ richt, Bd. I, 2001, S. 507 (526); Blasberg, Verfassungsgerichte als Ersatzgesetzgeber, 2003, 80; Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 70 Rn. 124; Kreutzberger, Die gesetzlich nicht geregelten Entscheidungsvarianten des Bundesverfassungsgerichts, 2007, S. 213; Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 431; Lechner/Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2019, § 95 Rn. 35; Karpenstein, in: Walter/Grüne­ wald (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar BVerfGG, 9. Ed. 2020, § 78 Rn. 73; wohl auch Gerontas, Die Appellentscheidungen, Sondervotumsappelle und die bloße



C. Vorgaben an den Gesetzgeber: Appellentscheidungen 303

bereits feststehende Verfassungswidrigkeit erkennt, aber es das Gesetz nicht für nichtig erklärt, sondern sich aus übergeordneten Härtefall-Gründen auf einen Appell beschränkt2. Appellentscheidungen kämen demnach insbesondere dann in Betracht, wenn sich tatsächliche oder rechtliche Verhältnisse geändert haben oder sich das Verfassungsverständnis gewandelt hat3. Solche Appelle seien – mit der Folge des Verfassungswidrigwerden der Norm bei Fristablauf – bindend, wenn sie in den Tenor aufgenommen würden und bloße nicht bindende obiter dicta, wenn eine Aufnahme in den Tenor nicht erfolgt4. Dagegen enthalten auch solche Entscheidungen, in denen die in denen die Verfassungswidrigkeit bereits feststeht und auch vom Bundesverfassungsge­ richt festgestellt wird (Weitergeltungsanordnungen und Übergangsregelun­ gen), häufig eine Aufforderung und damit einen „Appell“ zur Beseitigung schon als verfassungswidrig – aber nicht als nichtig – ausdrücklich festge­ stellten Rechtslage, sodass in der Literatur auch diese als Appellentscheidun­ gen bezeichnet werden5. In diese Kategorie sind auch solche Entscheidun­ gen einzuordnen, in denen der Gesetzgeber einen Verfassungsauftrag durch Unterlassen missachtet hat6. Unvereinbarkeitsfeststellung als Ausdruck der funktionellen Grenzen der Verfas­ sungsgerichtsbarkeit, DVBl. 1982, 486 (486), wobei unklar bleibt, wo der Unter­ schied zwischen Appell und Warn- und Signalentscheidungen liegt; Schneider, Ver­ fassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, NJW 1980, 2103 (2110) hingegen be­ zeichnet die Entscheidungen bei „noch“ verfassungsgemäßer Rechtslage als Warn- und Signalentscheidungen. 2  Hömig, in: Maunz et al. (Hrsg.), BVerfGG, § 95 (2017) Rn. 74; Battis, Der Verfassungsverstoß und seine Rechtsfolgen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 275 Rn. 57. 3  Kreutzberger, Entscheidungsvarianten (Fn. 1), S. 214 f.; Hömig, in: Maunz et al. (Hrsg.), BVerfGG, § 95 (2017) Rn. 74. 4  Bethge, in: Maunz et al. (Hrsg.), BVerfGG, § 31 (2019) Rn. 252. 5  In diesem Sinne Bernd, Legislative Prognosen und Nachbesserungspflichten, 1989, S.  134 ff.; Bethge, in: Maunz et al. (Hrsg.), BVerfGG, § 31 (2019) Rn. 180; Bang, Übergangsregelungen in Normenkontrollentscheidungen des Bundesverfas­ sungsgerichts, 1996, S. 38 bezeichnet ausschließlich diejenigen Entscheidungen, in denen der Verfassungsverstoß schon feststeht und die Weitergeltung sowie Beseiti­ gung angeordnet wird, als Appellentscheidungen – die hier angesprochenen Entschei­ dungen bei der „Noch-nicht-Verfassungswidrigkeit“ werden als Signalentscheidungen bezeichnet. 6  Solche Entscheidungen als Appellentscheidungen bezeichnend, jedoch ohne die hier vorgenommene Differnzierung vorzunehmen Battis, Der Verfassungsverstoß und seine Rechtsfolgen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 275 Rn. 57; Bethge, in: Maunz et al. (Hrsg.), BVerfGG, § 31 (2019) Rn. 181 bezeichnen solche Entscheidungen auch als Appellentscheidungen, jedoch ohne die hier vorgenommene Differnzierung vorzunehmen.

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Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

1. Noch verfassungsgemäße Rechtslagen Appellentscheidungen in dem erstgenannten Sinne, d. h. solche bei noch nicht verfassungswidrigen Gesetzen, greifen grundsätzlich noch weniger in den dem Gesetzgeber vorbehaltenen Bereich ein als die Unvereinbarerklä­ rungen, die ihrerseits bereits die scharfe Waffe der Erklärung der Nichtigkeit beschränken. Appellentscheidungen in diesem Sinne wohnt daher die Gefahr inne, dass sich das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber gegenüber zu weit zurückhält7, wenn es eine solche Entscheidung trifft, nur um die Nichtigkeitserklärung zu vermeiden. Dazu ist folgendes zu bemerken: Ist die Regelung (bereits) materiell ver­ fassungswidrig und stellt die Erklärung der Nichtigkeit keine angemessene Lösung dar, so ist die Vorschrift unabhängig von den möglichen Folgen zu­ nächst einmal für unvereinbar zu erklären. Die Kontrollintensität von den Folgen her zu bestimmen, ist dagegen ein dogmatisch unzulängliches Ergebnis8. Problemen auf der Rechtsfolgen­ seite kann vielmehr mit einer Weitergeltung begegnet werden9. Freilich handelt es sich bei einer Entscheidung, in der die Verfassungswidrigkeit er­ kannt, diese jedoch nicht erklärt, sondern bloß ein Appell an den Gesetzgeber zur Beseitigung der verfassungswidrigen Rechtslage gerichtet wird, um eine „implizite Unvereinbarkeitserklärung“10, mit der im Ergebnis gleichen Rechtsfolge einer Fortgeltungsanordnung. Nichtsdestotrotz sollte das Gericht hier dogmatisch sauber differenzieren und auch stets explizit eine Weitergel­ tungsanordnung erlassen. Eine solche Weitergeltungsanordnung wird dann auch mit einem Appell verknüpft, den Verfassungsverstoß zu beseitigen. Für einen Verzicht auf eine Unvereinbarerklärung ist aus rechtstaatlichen Grün­ den jedoch kein Platz.

7  Rupp-von-Brünneck, Darf das Bundesverfassungsgericht an den Gesetzgeber appellieren?, in: Ritterspach/Müller (Hrsg.), Festschrift für Gebhard Müller, 1970, S. 355 (370); Blasberg, Verfassungsgerichte (Fn. 1), S. 82. 8  Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 70 Rn. 121; zur Frage der Kontrollintensität siehe auch Teil 4. 9  Andere Auffassung Kleuker, Gesetzgebungsaufträge des Bundesverfassungs­ gerichts, 1993, S. 47, der die Auffassung vertritt, dass dann wenn die Verfassungswid­ rigkeit zwar objektiv eingetreten ist aus bestimmten Gründen (insb. weil sie dem Gesetzgeber nicht subjektiv vorwerfbar ist [keine Fehlprognose]) die Feststellung der Verfassungswidrigkeit unterbleiben kann und sich das Gericht auf einen Appell zu beschränken habe. Die Arbeit hat jedoch bereits herausgearbeitet, dass das Anknüpen an ein subjektiv vorwerfbares Verhalten des Gesetzgebers unzulässig ist. 10  Yang, Die Appellentscheidungen des Bundesverfassungsgericht, 2003, S. 193.



C. Vorgaben an den Gesetzgeber: Appellentscheidungen 305

Kann dagegen tatsächlich noch kein Verfassungsverstoß festgestellt wer­ den, darf das Bundesverfassungsgericht das Gesetz weder für nichtig noch unvereinbar erklären. Dass das Gericht den Gesetzgeber sodann aber jeden­ falls auf die drohende Verfassungswidrigkeit hinweisen und an ihn appellie­ ren darf, diese zu beseitigen, wird damit begründet, dass es sich bei solchen Appellentscheidungen lediglich um bloße Mahnungen des Bundesverfas­ sungsgerichts handele11. Der Gesetzgeber werde durch die Appelle bei seinen Aufgaben gar unterstützt12. Appellentscheidungen in den Fällen der noch verfassungsgemäßen Rechts­ lagen trifft das Bundesverfassungsgericht, um dem Gesetzgeber Beobach­ tungs- und Nachbesserungspflichten aufzuerlegen13. Wie bereits festgestellt, trifft den Gesetzgeber jedoch bei noch – verfassungsmäßigen Rechtslagen weder eine Nachbesserungs- noch Beobachtungspflicht14 – er ist damit nicht verpflichtet, dem Appell des Bundesverfassungsgerichts Folge zu leis­ ten. Appelle bei noch verfassungsgemäßen Rechtslagen entfalten damit we­ der eine Bindungswirkung noch haben sie Rechtskraft15, es handelt sich im Ergebnis um eine Vereinbarerklärung16. Der Appell wird in diesen Fällen mit der Prognose von sich verändernden tatsächlichen Umständen begrün­ det17. Kommt jedoch aus funktionell-rechtlichen Gründen dem Gesetzgeber die Prärogative für die Einschätzung zukünftiger tatsächlicher Zustände zu, dann besteht kein Grund, dass das Bundesverfassungsgericht aufgrund seiner Prognose über die Entwicklung der tatsächlichen Umstände an den Gesetzge­ ber appelliert. Dem Bundesverfassungsgericht steht der Blick in die Zukunft nicht zu18. Die Zulässigkeit von Appellentscheidungen ist demnach abzu­ lehnen19.

11  Bernd,

Prognosen (Fn. 5), S. 139. Entscheidungsvarianten (Fn. 1), S. 228. 13  Aust/Meinel, Entscheidungsmöglichkeiten des BVerfG, JuS 2014, 113 (117). 14  Siehe dazu Teil 4 C. IV. 3. b). 15  Austermann, Die rechtlichen Grenzen des Bundesverfassungsgerichts im Ver­ hältnis zum Gesetzgeber, DÖV 2011, 267 (271); Korioth/Schlaich, Das Bundesver­ fassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 439. 16  Yang, Appellentscheidungen (Fn. 10), S. 194; Korioth/Schlaich, Das Bundes­ verfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 431. 17  Yang, Appellentscheidungen (Fn. 10), S. 194. 18  Klein, Verfahrensgestaltung (Fn. 1), S. 527. 19  Hierfür auch Klein, Verfahrensgestaltung (Fn. 1), S. 527; als „höchst proble­ matisch“ bezeichnet dies auch Battis, Der Verfassungsverstoß und seine Rechtsfolgen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 275 Rn. 57. 12  Kreutzberger,

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Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

2. Verfassungswidrige Rechtslagen In den Situationen der mit einer Unvereinbarkeitserklärung, Übergangs­ regelung oder aber auch Erklärung der Nichtigkeit verbundenen Appellent­ scheidung stellt sich die verfassungsrechtliche Lage dagegen dergestalt dar, dass (entgegen der Appellsituation bei Erklärung der Vereinbarkeit des Ge­ setzes) tatsächlich bereits die derzeitige Regelung verfassungswidrig ist. Wird das Gesetz aufgrund dessen für nichtig erklärt und besteht eine ge­ setzgeberische aktuelle Pflicht des Gesetzgebers zum Tätigwerden, dann wohnt den Appellentscheidungen kein verbotenes gestaltendes Element inne, weil in diesen Fällen nicht das Bundesverfassungsgericht, sondern schon und auch allein die Verfassung wirkt20. Damit verpflichtet das Bundesverfas­ sungsgericht nicht den Gesetzgeber, sondern stellt fest, dass sich aus der Verfassung eine Pflicht ergibt. In diesen Fällen ist die Appellentscheidung deutlich weniger einschneidend als wenn das Bundesverfassungsgericht selbst Übergangsregelungen erlassen würde. Auch dann, wenn der Gesetzgeber trotz ausdrücklichen Verfassungsauftra­ ges überhaupt nicht tätig geworden ist21, können Appellentscheidungen ge­ rechtfertigt sein. Solche Aufträge ergeben sich unter anderem aus Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG hinsichtlich der Gleichstellung von Mann und Frau22 ebenso wie hinsichtlich Art. 6 Abs. 5 GG hinsichtlich der Gleichstellung von nichtehelichen Kindern23. Gleiches gelte für Art. 33 Abs. 5 GG sowie für Art. 14 Abs. 3 GG24. Ebenso kann sich aus der Verletzung einer Schutzpflicht ein Verfassungsauftrag zum Tätigwerden ergeben. Während das Bundesverfas­ sungsgericht zunächst noch skeptisch war, darin, dass der Gesetzgeber es unterlassen hat, in Handlungs- und Schutzpflichten, „die erst im Wege der Verfassungsinterpretation aus den in den Grundrechten verkörperten Grund­ 20  Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 151; Kleuker, Gesetzgebungsaufträge (Fn. 9), S. 21. 21  Laumen, Die Vollstreckungskompetenz nach § 35 BVerfGG, 1997, S. 77; Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 33 (39); Schulze, Bun­ desverfassungsgericht und Gesetzgebung, in: Fadeev/Schulze (Hrsg.), Verfassungsge­ richtsbarkeit in der Russischen Föderation und in der Bundesrepublik Deutschland, 2013, S. 69 (74). 22  Kleuker, Gesetzgebungsaufträge (Fn. 9), S. 48. 23  BVerfGE 25, 167 (Leitsatz) – Nichtehelichkeit (1969); Kleuker, Gesetzgebungs­ aufträge (Fn. 9), S. 48; Bernd, Prognosen (Fn. 5), S. 137. 24  Pestalozza, „Noch verfassungsmäßige“ und „bloß verfassungswidrige“ Rechts­ lagen, in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz: Festgabe aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. I, 1976, S. 519 (527 f.).



C. Vorgaben an den Gesetzgeber: Appellentscheidungen 307

entscheidungen herleitbar sind“25, einen tauglichen Beschwerdegegenstand einer Verfassungsbeschwerde zu sehen, kann mittlerweile „ein Unterlassen des Gesetzgebers […] Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein, wenn sich der Beschwerdeführer auf einen ausdrücklichen Auftrag des Grundgeset­ zes berufen kann, der Inhalt und Umfang der Gesetzgebungspflicht im Wesent­lichen umgrenzt hat“26. Auch hinsichtlich des Organstreitverfahrens wird vertreten, dass das gesetzgeberische Unterlassen tauglicher Antragsge­ genstand sein kann27. Damit kann nunmehr auch gegen ein echtes Unterlas­ sen in Form einer Schutzpflichtverletzung vorgegangen werden28. Die Be­ gründetheit der Verfassungsbeschwerde vorausgesetzt ergeht auch eine Ap­ pellentscheidung29. Der Gesetzgeber hätte die Möglichkeit gehabt, selbst tätig zu werden und kann sich daher über die Tätigkeit des Gerichts nicht beklagen, der Minderheitenschutz geht vor30. Gleichwohl besteht ein solcher aus einer Schutzpflichtverletzung hergeleiteter Anspruch nur in sehr engen Grenzen31. 3. Zwischenergebnis Appelle können damit an den Gesetzgeber gerichtet werden, wenn das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarkeit, die vorübergehende Weiter­ geltung der Norm oder eine Übergangsregelung anordnet oder aber, wenn der Gesetzgeber einer Pflicht zur Gesetzgebung nicht nachgekommen ist. Der Appell ist in diesen Fällen im Ergebnis lediglich notwendige Folge der Übergangsregelung oder Weitergeltungsanordnung, da mit Blick auf die Ge­ waltenteilung eine eigene Regelung des Bundesverfassungsgerichts noch problematischer ist als der bloße Appell an den Gesetzgeber, eine neue Rege­ lung zu erlassen. Die bundesverfassungsgerichtliche Regelung als auch der verfassungswidrige Zustand dürfen nicht auf Dauer bestehen. Sind Über­ gangsregelungen und Fortgeltungen bereits zulässig, ist jedoch auch der Ap­ pell zulässig. 25  BVerfGE

56, 54 (Rn. 47) – Fluglärm (1981). 139, 321 (Rn. 82) – Verleihung des Körperschaftsstatus an Religions­ gemeinschaft (2015). 27  Lechner/Zuck (Fn. 1), § 64 Rn. 9. 28  Bethge, in: Maunz et al. (Hrsg.), BVerfGG, § 13 (2020) Rn. 31; Korioth/ Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 218. 29  Bethge, in: Maunz et al. (Hrsg.), BVerfGG, § 13 (2020) Rn. 31. 30  Ossenbühl, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 75 (79); in diesem Sinne auch Starck, Das Bundesverfassungsgericht in der Verfassungsordnung und im politischen Prozess, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfas­ sungsgericht, Bd. I, 2001, S. 1 (10). 31  Bethge, in: Maunz et al. (Hrsg.), BVerfGG, § 13 (2020) Rn. 31. 26  BVerfGE

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Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

Appelle bei noch verfassungsmäßigen Lagen kommen dagegen nicht in Betracht, wohl aber wenn es der Gesetzgeber gänzlich unterlassen hat, tätig zu werden. Appelle enthalten demnach verbindliche Handlungsaufträge an den Gesetzgeber und sind nicht lediglich „staatspädagogische Ermahnun­ gen“32, sie sind somit auch vollstreckungsfähig im Sinne des § 35 BVerfGG33. Diese Vollstreckung stellt dann eine Übergangsregelung dar, die bereits im Entscheidungstenor aufgenommen werden oder auf erneuten Antrag hin aus­ gesprochen werden kann34.

II. Präjudiz-Wirkung von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen Appellentscheidungen – ob ausdrücklich tenoriert oder nicht, als Entschei­ dungen im Rahmen der Noch-Verfassungsgemäßheit oder zusammen mit einer Weitergeltungsanordnung oder Übergangsregelung – haben zunächst ­ keine unmittelbare gesetzgeberische Wirkung und der Gesetzgeber wird durch diese nicht gebunden, genau die gesetzliche Regelung zu schaffen, die dem Bundesverfassungsgericht vorschwebt35. Nicht zu vernachlässigen ist jedoch die signifikante inhaltliche PräjudizWirkung von Appellen, die dazu führen kann, dass der Gesetzgeber faktisch gebunden wird36. Aus einem eindeutig tenorierten Auftrag, ein Gesetz zu erlassen, mag sich zwar kein unmittelbarer Zwang ergeben, genau diese Re­ gelung zu erlassen, gleichwohl genießt das Bundesverfassungsgericht gesell­ schaftlich hohe Anerkennung und Autorität, sodass den Gesetzgeber im Ge­ setzgebungsverfahren verfassungspolitische und gesellschaftliche Zwänge treffen, sich zumindest nah an der vom Bundesverfassungsgericht vorge­ schlagenen Lösung zu orientieren, da das Bundesverfassungsgericht in einer erneuten Kontrolle jedenfalls diese Lösung als verfassungskonform erachten wird, da es sich insofern jedenfalls selbst präjudiziert hat37. Während eine neue – eventuell auch verfassungskonforme – Lösung mit Unsicherheiten hinsichtlich der „Bestandskraft“ vor dem Bundesverfassungsgericht behaftet 32  Bethge,

in: Maunz et al. (Hrsg.), BVerfGG, § 31 (2019) Rn. 180. man legt dem § 35 BVerfGG einen weiten Vollstreckungsbe­ griff zu Grunde, siehe dazu unter Teil 5 B. II. 2. 34  Lechner/Zuck (Fn. 1), § 35 Rn. 17. 35  Unmittelbare Wirkung entfaltet dagegen die teilweise mit einer Appellent­ scheidung erlassene Übergangsregelung, an die – wie aufgezeigt – strenge Anforde­ rungen zu stellen sind, vgl. Teil 5 B. II. 36  Austermann, Grenzen (Fn. 15), DÖV 2011, 267 (271). 37  Schulte, Appellentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, DVBl. 1988, 1200 (1204). 33  Vorausgesetzt,



C. Vorgaben an den Gesetzgeber: Appellentscheidungen 309

ist, ist die vom Verfassungsgericht vorgeschlagene Lösung relativ sicher ver­ fassungskonform. Entscheidenden Einfluss auf das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber hat damit nicht nur die Frage, ob das Bundesverfassungsge­ richt (formal) berechtigt ist, an den Gesetzgeber zu appellieren, sondern im Besonderen auch, in welcher Weise das Gericht den Gesetzgeber durch kon­ krete inhaltliche Vorgaben einengt. Der Gesetzgeber darf niemals zu einem bestimmten Gesetz, sondern nur zum bloßen Tätigwerden verpflichtet wer­ den38. In Konflikt mit dem Gesetzgeber gerät das Bundesverfassungsgericht damit dort, wo es dem Gesetzgeber für die Schaffung eines neuen Gesetzes solche konkreten Vorgaben macht, die für die Gestaltung eines verfassungs­ konformen Gesetzes notwendig sind, sodass der Gesetzgeber zwar formell eigenständig Gesetze schafft und er diesbezüglich auch vollständig frei bleibt, aber inhaltlich faktisch durch die Rechtsprechung des Bundesverfas­ sungsgerichts gebunden wird39. Dieser Konflikt – und damit das eigentliche Problem der Appellentschei­ dungen – kann nicht nur im Rahmen formalisierter Appell-, Signal-, Warnoder Übergangsentscheidungen auftreten, sondern in den Entscheidungsgrün­ den aller Entscheidungen: in Form von sog. obiter dicta40, d. h. von neben­ bei (obiter) erwähnten (dictum) Rechtsansichten, die nicht der Urteilsbegrün­ dung dienen. Der Blick auf die klassischen Appellentscheidungen ist damit zu eng. 1. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts In der Rechtsprechung des Bundessverfassungsgerichts lassen sich inso­ fern einige Entscheidungen ausmachen, die zumindest grenzwertige Hinweise an die Neugestaltung eines Gesetzes enthalten. Prominent ist die Entschei­ dung zur Wählbarkeit eines saarländischen Landtagskandidaten41. Das Bun­ desverfassungsgericht beschränkte sich nicht nur auf die Beantwortung dieser konkreten Frage, sondern machte vielmehr ausführliche Ausführungen zum parlamentarischen Berufsrecht und der Zulässigkeit der Diätenerhöhung ins­ 38  Gerontas, Appellentscheidungen (Fn. 1), DVBl. 1982, 486 (487); Kleuker, Gesetzgebungsaufträge (Fn. 9), S. 26; Ossenbühl, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 30), S.  79 f. 39  Schenke, Der Umfang der bundesverfassungsgerichtlichen Prüfung, NJW 1979, 1321 (1329); Klein, Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, NJW 1989, 1633 (1638); Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber, 1997, S. 34. 40  Rupp-von-Brünneck, Bundesverfassungsgericht (Fn. 7), S. 367; Yang, Appell­ entscheidungen (Fn. 10), S. 289; Möllers, Juristische Methodenlehre, 2019, S. 273. 41  BVerfGE 40, 296 – Diätenurteil (1975).

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Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

gesamt – zu Recht wurden diesen Ausführungen als unzulässiger verfas­ sungsgerichtlicher Rundumschlag verstanden42. In der Rauchverbots-Ent­ scheidung43 begründete das Gericht die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes zunächst damit, dass die Ausnahmeregelungen in sich nicht folgerichtig wa­ ren und daher als verfassungswidrig aufzuheben seien44. Darüber hinaus äu­ ßerte sich das Bundesverfassungsgericht jedoch auch zu der grundsätzlichen Frage, ob ein generelles und radikales Rauchverbot zulässig wäre. Diese Äußerungen wurden mit Blick darauf, dass eine derartige Diskussion für die verfassungsrechtliche Beurteilung der in Streit stehenden Vorschriften nicht notwendig sei, im zweiten abweichenden Votum zur Entscheidung ebenso zu Recht als „unzulässiger Übergriff in die Gesetzgebungspolitik“ beurteilt45. Das Gericht hätte sich darauf beschränken können, die Verfassungswidrigkeit festzustellen. Überflüssige Ausführungen zur zulässigen Neugestaltung der gesetzlichen Regelung hat das Gericht in der Entscheidung zur Vermögensteuer gemacht46, in der es darlegte, dass unter den Bedingungen des gegenwärtigen Steuer­ rechts die Verfassung nur erlaube, die Vermögenssteuer als Sollertragsteuer auszugestalten47. Insbesondere in sicherheitspolitischen Fragestellungen agiert das Bundes­ verfassungsgericht sehr vorsichtig und beanstandete in den vergangenen Jahren unter anderen die gesetzlichen Regelungen zur Vorratsdatenspeiche­ rung48 sowie das BKA-Gesetz49 und die Ausland-Ausland-Überwachung im BND-Urteil50. Das Bundesverfassungsgericht beschränkte sich jedoch nicht darauf festzustellen, dass die Gesetze nicht mit der Verfassung übereinstim­ men, sondern gab dem Gesetzgeber vielmehr sehr konkrete Vorgaben, wie das Gesetz zukünftig auszusehen habe. Hier brauchte es noch nicht einmal die Kritik von Politik und Wissenschaft, sondern die Kritik an dieser Ent­ scheidung wurde in der BKA-Entscheidung bereits ein abweichendes Votum deutlich. Dieses führte aus, dass die Verfassung „Vorgaben dieser Strenge und Detailgenauigkeit an den Gesetzgeber“ nicht hergebe: „Nicht alle der dem Gesetzgeber vorgeschriebenen Anforderungen an Verfahren, Transpa­ 42  Benda, Das Verhältnis von Parlament und Bundesverfassungsgericht, in: Thaysen (Hrsg.), US-Kongress und Deutscher Bundestag, 1988, S. 217 (223). 43  BVerfGE 121, 317 – Rauchverbot (2008). 44  Dazu schon unter Teil 4 D. II. 2. d) aa). 45  Abw. Meinung in BVerfGE 121, 317 (Rn. 185) – Rauchverbot (2008). 46  Korioth/Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018 Rn. 439. 47  BVerfGE 93, 121 (Rn. 40 ff.) – Einheitsbewertung (1995). 48  BVerfGE 125, 260 – Vorratsdatenspeicherung (2010). 49  BVerfGE 141, 220 – BKA-Gesetz (2016). 50  BVerfG NJW 2020, 2253 – BND – Ausland-Ausland-Aufklärung (2020).



C. Vorgaben an den Gesetzgeber: Appellentscheidungen 311

renz und Kontrolle sind, selbst wenn viele von ihnen sinnvoll und richtig sein mögen, auch verfassungsrechtlich genau so gefordert“51. Gleiches gelte für die Entscheidung in Sachen Vorratsdatenspeicherung – auch hier habe das Bundesverfassungsgericht die Funktion des Ersatzgesetzgebers einge­ nommen52. Besonders umstritten im Hinblick auf detailgetreue Vorgaben sind auch Entscheidungen des Gerichts zum Wahlrecht. Eindrücklich ist die Entschei­ dung zum negativen Stimmgewicht53, in der das Bundesverfassungsgericht vollkommen unverblümt selbst – d. h. noch nicht einmal im Rahmen einer abweichenden Meinung – feststellte, dass der dort vorgenommene Akt rich­ terlicher Normkonkretisierung (die Ausführungen, dass das Wahlrecht max. 15 ausgleichslosen Überhangmandat vorsehen darf) nicht vollständig verfas­ sungsrechtlich begründet werden kann54. Die Anzahl von 15 Überhangman­ daten war vollkommen aus der Luft gegriffen, sodass diese Formulierung als „schlicht unhaltbar“55 qualifiziert wurde. Die Begründung sei politischer und nicht juristischer Natur56, die Konkretisierung stelle unter Gewaltenteilungs­ aspekten einen äußerst fragwürdigen Übergriff in die Domäne des Gesetzge­ bers dar57, da der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers auf Null reduziert sei58. Eine feste nummerische Grenze setzte das Bundesverfassungsgericht auch in der Entscheidung zur Wahlkampfkostenerstattung fest, in der es aus­ führte, dass die Grenze, jenseits derer eine Partei einen Wahlkampfkostener­ stattungsanspruch habe, bereits auf 0,5 Prozent festgesetzt werden müsse und nicht auf – wie vom Gesetzgeber gewollt – 2,5 Prozent59.

51  BVerfGE

141, 220 (Abw. Meinung 1 Rn. 2) – BKA-Gesetz (2016). Vorratsdatenspeicherung – der Gesetzgeber gefangen zwischen Europa­ recht und Verfassung?, NVwZ 2010, 751 (752). 53  BVerfGE 131, 316 – negatives Stimmengewicht (2012). 54  BVerfGE 131, 316 (Rn. 144) – negatives Stimmengewicht (2012). 55  Lang, Wahlrecht und Bundesverfassungsgericht, 2014, S. 71 f. 56  Haug, Das Bundesverfassungsgericht als Gesetzgeber anstelle des Gesetzge­ bers: ein kritischer Blick auf das Wahlrechtsurteil vom 25. Juli 2012, ZParl 43 (2012), 658 (670). 57  Haug, Bundesverfassungsgericht (Fn. 56), ZParl 43 (2012), 658 (674). 58  Haug, Bundesverfassungsgericht (Fn. 56), ZParl 43 (2012), 658 (671 f.). 59  BVerfGE 24, 300 – Wahlkampfkostenpauschale (1968); es gibt jedoch auch die Auffassung, die die Bestimmung solcher konkreten nummerischen Angaben ge­ rade beim Bundesverfassungsgericht besser angesiedelt sieht, vgl. Simons, Grund­ rechte und Gestaltungsspielraum, 1999, S. 329. 52  Wolff,

312

Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

2. Bewertung Für die Zulässigkeit von solchen Ausführungen wird eingewandt, dass diesen keinerlei rechtliche Bindungswirkung zukomme60. Dies mag zutref­ fend sein, gleichwohl stellt sich die Frage, warum das Bundesverfassungsge­ richt dann überhaupt Ausführungen zu Dingen machen sollte, denen keine rechtliche Wirkung zukommt. Sinn und Zweck der Einrichtung eines Ge­ richts ist es aus funktionell-rechtlicher Sicht gerade, einen rechtlichen Sach­ verhalt verbindlich zu entscheiden. Das Initiativrecht dagegen, d. h. das Recht über Sachverhalte zu entschei­ den, ist im Grundgesetz ausdrücklich in Art. 76 GG dem Bundestag zugewie­ sen. Das Bundesverfassungsgericht unterliegt hingegen einem strikten Initia­ tivverbot und darf sich mit keiner anderen Materie befassen, als mit der Materie, zu der es angerufen wird61. Das Initiativrecht ist funktionellrechtlich dem Gesetzgeber zugewiesen, obiter dicta führen jedoch gerade dazu, dass richterliches Gesetzesrecht geschaffen wird62. Genauso wie es dem Bundesverfassungsgericht verboten ist, in die Gesetzgebungskonkreti­ sierungskompetenz des Gesetzgebers einzugreifen, darf sich der Gesetzgeber auch nicht aus der Verantwortung für diese Konkretisierung ziehen – das Gericht hat sich daher darauf zu beschränken, lediglich in den Gründen ein Tätigwerden des Gesetzgebers anzumahnen, ohne jedoch konkrete Rege­ lungsvorschläge zu machen63. Teilweise ist zu beobachten, dass die Verfahrensbeteiligten selbst wün­ schen, dass das Gericht ihnen Regelungsalternativen mit auf den Weg gibt. Appellative Entscheidungen des Verfassungsgerichts dürfen jedoch nicht dazu dienen, Sachverhalte, in denen es politische Blockaden gibt und eine Kompromissfindung erschwert ist, einer Lösung zuzuführen64. Nach und zum Teil auch bereits vor einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung ist eine mögliche Neugestaltung des Gesetzes häufig Gegenstand kontroverser politischer Diskussionen. Es ist nicht Aufgabe des Gerichts, durch mögliche Hinweise in der Entscheidung Partei für die eine oder andere Seite zu ergrei­ fen – auch wenn sich einige der von Parteien diskutierten Regelungen mög­ licherweise an der Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen bewegen. Das Gericht ist kein „Verfassungsgutachter“, welcher Meinungsverschiedenheiten

60  Brohm, Die Funktion des BVerfG – Oligarchie in der Demokratie?, NJW 2001, 1 (1). 61  Gusy, Gesetzgeber (Fn. 20), S. 124. 62  Schenke, Umfang (Fn. 39), NJW 1979, 1321 (1329). 63  Schulte, Appellentscheidungen (Fn. 37), DVBl. 1988, 1200 (1206). 64  Ossenbühl, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 30), S. 78.



C. Vorgaben an den Gesetzgeber: Appellentscheidungen 313

der zum Kompromiss berufenen Institutionen klären dürfte65. Aus diesem Grund beschränkt das Grundgesetz die Überprüfung durch das Bundesverfas­ sungsgericht auch ausdrücklich auf Gesetze und räumt dem Bundesverfas­ sungsgericht kein Recht ein, Gesetzesentwürfe zu prüfen66. Dagegen wird eingewandt, dass es ein „Gebot der Prozessökonomie“ sei, durch Hinweise nach Möglichkeit neue Verfassungsrechtstreitigkeiten zu vermeiden67. In einer Abwägung zwischen prozessökonomischen Gründen und der Beeinträchtigung der Gewaltenteilung und des demokratischen Pro­ zesses muss ersteres aber zwingend hinter letzterem zurücktreten. Der politi­ sche Prozess muss frei diskutieren können, ohne dass die eine oder andere Lösung bereits mit dem Merkmal der „Verfassungswidrigkeit“ gebrandmarkt ist – innovative und kreative Lösungen und solche, die nicht nur rechtlich ausgeglichen sind, sondern auch tatsächlich die Interessen aller Beteiligten wahren, wird sonst von vorherein der Weg beschnitten. Das Bundesverfassungsgericht dient auch nicht dazu, „Kompromiss- und Entscheidungsschwächen im politischen Raum“ zu kompensieren.68 Dies muss dem politischen Wettbewerb vorbehalten sein, muss durch die Medien kritisiert und als öffentliche Debatte ausgetragen werden. Auch das noch so sinnvolle Gesetzgebungsvorhaben darf nicht durch das Bundesverfassungs­ gericht angemahnt werden, da dieses vielleicht gut gemeint ist, im Ergebnis das Vertrauen in die Institutionen und das System noch mehr schwächt, als dies durch die politische Lethargie der Fall ist. Besteht der Druck, dass ein­ zig und allein der Gesetzgeber durch Einigung ein Problem regeln kann, dann wird dieses Problem vom Gesetzgeber schneller gelöst und eine Eini­ gung erzielt werden können, als in den Fällen, in denen sich die beteiligten Parteien darauf zurückziehen, dass es das Bundesverfassungsgericht schon richten werde.

65  Bertrams, Verfassungsgerichtliche Grenzüberschreitungen, in: Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 1027 (1038). 66  Vogel, Gewaltenvermischung statt Gewaltenteilung?, NJW 1996, 1505 (1510). 67  Rupp-von-Brünneck, Bundesverfassungsgericht (Fn. 7), S. 367. 68  Dagegen Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht (Fn. 21), S. 42.

314

Teil 5: Spannungsfelder bei der Normenkontrollentscheidung

D. Zusammenfassung Bereits bei der vermeintlich den Gesetzgeber schonenden Vereinbarerklä­ rung droht das Bundesverfassungsgericht zu stark in gesetzgeberische Frei­ heiten einzugreifen. Die Anwendung von verfassungskonformen Auslegun­ gen muss begrenzt bleiben, da sie ansonsten zu einer Konstitutionalisierung der Rechtsordnung führt. Sie ist nur zulässig, wenn sie den gesetzgeberischen Norminhalt begrenzt. Unvereinbarerklärungen und Weitergeltungsanordnungen sind grundsätz­ lich zulässig. Sie sind zwar aus rechtsstaatlicher Sicht insbesondere bei Ver­ fassungsbeschwerden für den Beschwerdeführer problematisch, im Hinblick auf das hier zu diskutierende Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber stellen solche Erklärungen aber gerade ein den Gesetzgeber besonders schonendes Mittel dar. Unvereinbarerklärungen führen jedoch zu erheblicher Unsicherheit beim Gesetzgeber hinsichtlich der Frage nach den Voraussetzungen, aber auch bei Behörden und Gerichten hinsichtlich der Frage der Rechtsfolgen1. Es ist daher problematisch, dass das Bundesverfas­ sungsgericht Unvereinbarerklärungen offenbar mittlerweile als gleichberech­ tigte alternative Form zu Nichtigkeitserklärungen ansieht. Übergangsregelungen dagegen sind teilweise zwar nur ein Weniger der verfassungsgerichtlichen Nichtigkeitserklärung, greifen jedoch zumeist er­ heblich in die vom Gesetzgeber vorgenommenen Wertungen ein. Sie sind mit der funktionell-rechtlichen Funktion des Bundesverfassungsgerichts als „Ge­ richt“ nur schwer in Einklang zu bringen, sind aber „der Preis, der gezahlt werden muss, man der Verfassungsgerichtsbarkeit die Befugnis zur Verwer­ fung von Gesetzen zugesteht“2. Das Bundesverfassungsgericht darf recht­ liche und praktische Folgen seiner Entscheidungen berücksichtigen und an­ hand derer flexibel reagieren – dabei hat es seinen Blick jedoch stets nur auf den Bestand Verfassungsordnung und nicht auf die Interessen der Beteiligten zu richten. Das Bundesverfassungsgericht täte gut daran, sich deutlicher be­ wusst zu machen, dass es dem Gericht obliegt zu rechtfertigen, dass die Übergangsregelung die einzig mögliche Alternative sei. Die diesbezüglich erforderliche Abwägung fällt meist zu kurz aus oder erfolgt gar nicht. Inhalt­ lich muss die Übergangsregelung auf das absolut Notwendige beschränkt sein, jedoch dennoch ausführlich genug sein, um Rechtsklarheit zu schaffen. Insofern ist die „Frage, ob die Sachentscheidung des Gerichts […] überzeugt

1  Dietz,

Verfassungsgerichtliche Unvereinbarerklärungen, 2011, S. 33. Der Richter als Ersatzgesetzgeber, NJW 2001, 2919 (2922).

2  Steiner,



D. Zusammenfassung315

oder nicht […] zu trennen von dem Vorwurf, die Anordnung gehe zu sehr in die Einzelheiten“3. Der Gesetzgeber hat es auch bei der Anordnung von Übergangsregelungen stets selbst in der Hand, zeitnah eine neue Regelung zu treffen. Problema­ tisch ist somit nicht nur die Übergangsregelung an sich, sondern insbeson­ dere, inwiefern das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber hiermit ze­ mentiert. In den meisten Fällen wird es neben der vom Verfassungsgericht vorgeschlagenen Lösung auch weitere verfassungskonforme Lösungen des Gesetzgebers geben. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht in seiner Ent­ scheidung auf diese Möglichkeiten hinweist, so erschwert ein bereits „verfas­ sungskonformer Weg“ des Bundesverfassungsgerichts doch rein praktisch das Finden einer neuen Lösung. Im politischen Prozess verbleibt dem Ge­ setzgeber oft kaum eine andere Möglichkeit, als sich zumindest nah an dem vom Bundesverfassungsgericht vorgeschlagenen Konzept zu orientieren4. Detailanweisungen führen damit nicht selten zu „einer Verfestigung und Er­ starrung des Verfassungsrechts selbst, das dadurch ein „erhebliches Stück seiner Weite, Offenheit und Wandlungsfähigkeit einbüßt, mithin auch an in­ tegrierender Kraft verliert“5. Das Bundesverfassungsgericht hat sich somit mit Übergangsregelungen weitestgehend zurückzuhalten und stets die Vor­ läufigkeit dieser Regelungen zu betonen. Dort wo möglich, sollte sich das Gericht auf den bloßen Appell zur Neuregelung beschränken, ohne inhalt­ liche Vorgaben zu machen.

3  Lerche, Das Bundesverfassungsgericht als Notgesetzgeber, in: Heinze (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Gitter. Zum 65. Geburtstag am 30. Mai 1995, 1995, S. 509 (513). 4  Schneider, Die Vollstreckungskompetenz nach §  35 BVerfGG, NJW 1994, 2590 (2591). 5  Schneider, Acht an die Macht! Das BVerfG als „Reparaturbetrieb“ des Parla­ mentarismus?, NJW 1999, 1303 (1305).

Teil 6

Schlussbetrachtungen Insofern sich aus dem Vorstehenden die Erkenntnis ergibt, dass rechtliche Grenzen zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber nur schwer gefunden werden können, ist zum Schluss zu überlegen, inwiefern tatsächli­ che, politische und gesellschaftliche Strukturen auf das Spannungsfeld zwi­ schen Gericht und Bundesverfassungsgericht einwirken und ob diese gegebe­ nenfalls auch rechtlich gesteuert werden können. Eine rechtliche Steuerung kommt insbesondere über eine Neuregelung der Wahl der Bundesverfas­ sungsrichter, die durch ihre Persönlichkeit in tatsächlicher Sicht erheblichen Einfluss auf die Verfassungsrechtsprechung nehmen, in Betracht (dazu A.). Zudem ist an eine „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (Häberle) zu appellieren. Sowohl Bundesverfassungsgericht, Gesetzgeber als auch die Gesellschaft können durch ihr Auftreten einen Beitrag zu einer Stabilisierung des Verhältnisses zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung leisten (dazu B.). Sodann sind in diesem Schlussteil die wesentlichen Ergeb­ nisse der vorliegenden Untersuchung zusammenzufassen (dazu C.), ehe in einer abschließenden Bewertung noch einmal auf die durchaus produktive Unauflösbarkeit des Spannungsfeldes eingegangen wird (dazu D.).



A. Das Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber317

A. Das tatsächliche Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber In der 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestages gehörten dem Parla­ ment 136 Juristen an1. Damit saß in mehr als jedem fünften Abgeordnetenbüro ein Jurist. Die Berufsgruppe der Juristen ist traditionell die mit Abstand am stärksten vertretene berufliche Gruppe im Bundestag. Die folgenden Berufs­ gruppen der Politologen, Volkswirte und Lehrer erreichten in o. g. 18. Wahlpe­ riode zusammen nicht die Zahl von 136 Berufsträgern. Wer könnte also be­ streiten, dass Juristen nicht nur politisch interessiert sind, sondern viele auch einen politischen Gestaltungsanspruch haben. Während sich der Jurist in sei­ ner Funktion als Abgeordneter im Bundestag (Art. 38 Abs. 1 GG) zweifels­ ohne lediglich dem eigenen Gewissen und nicht einmal dem eigenen Wähler verpflichtet sieht, sieht er sich als Richter in der normalen Gerichtsbarkeit sowie am Bundesverfassungsgericht aber eben durch jenen – den Bundestag – eingegrenzt. Immer wieder wechseln auch aktive Politiker an das Bundesver­ fassungsgericht. Zuletzt hat die Wahl Stephan Harbarths zum Vorsitzenden des Zweiten Senats und zwei Jahre später sogar zum Präsidenten des Bundesver­ fassungsgerichts einige Kritik auf sich gezogen2. Harbarth wechselte unmittel­ bar aus dem Bundestag zum Bundesverfassungsgericht3. Das Spannungsfeld zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzge­ bung erfährt daher gerade dann eine besondere Entspannung, wenn sich der Verfassungsrichter vollständig auf seine Rolle als Richter über die Verfas­ sung beschränkt und nicht in Versuchung gelangt, seine eigene – unvermeid­ liche – persönliche politische Wertauffassung derjenigen zu überlagern, die der parlamentarische Gesetzgeber in Gesetzesform gegossen hat4. Fragen der Richterwahl werden damit zu Verfassungsfragen5, deren konkrete Ausge­ 1  Deutscher Bundestag, zitiert nach de.statista.com, 2018, vgl. https://de.statista. com/statistik/daten/studie/36615/umfrage/berufe-der-bundestagsabgeordneten-16wahlperiode/, zuletzt abgerufen am 11.8.2020. 2  Kritik zum Beispiel in „Aus dem Bundestag ans Verfassungsgericht“ (22.11.2018) auf www.zeit.de, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-11/stephan-harbarthbundesverfassungsgericht-andreas-vosskuhle-nachfolge-gewaltenteilung-kritik (22.09. 2020). 3  Das ist im Übrigen für das Bundesverfassungsgericht nichts Neues. Schon der erste Präsident des Gerichts, Hermann Höpker-Aschoff, war unmittelbar zuvor Bun­ destagsabgeordneter, vgl. Webarchiv des Deutschen Bundestages (13.01.2005), http:// webarchiv.bundestag.de/cgi/show.php?fileToLoad=627&id=12 (22.9.2020), S. 88. 4  Mahrenholz, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 23 (23); Steiner, Der Richter als Ersatzgesetzgeber, NJW 2001, 2919 (2923). 5  Rüthers, Demokratischer Rechtsstaat oder oligarchischer Richterstaat?, JZ 2002, 365 (371); auch Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, S. 268

318

Teil 6: Schlussbetrachtungen

staltung nicht auf der Ebene des Rechts abschließend entschieden ist und damit von der politischen Gestaltung und dem gesellschaftlichen Bewusst­ sein abhängt6. Dies gilt auch gerade vor dem Hintergrund, dass die besondere Autorität der bundesverfassungsgerichtlichen Richterpersönlichkeiten als ein Grund für den Erfolg und Akzeptanz des Gerichts herausgestellt wird7. Es ist somit auch die fachliche und persönliche Integrität der Richter, die zum An­ sehen des Gerichts in der Öffentlichkeit und damit zu seinem Erfolg insge­ samt beiträgt8. Es bietet sich mithin an, Reformvorschläge zu diskutieren, um eben jene Integrität der Richter sicherzustellen.

sieht es als „drängende Frage“, welche Personen mit der außerordentlichen Macht­ fülle des Gerichtes betraut werden. 6  Müller, „Jeder, der versuchen würde, das Bundesverfassungs­ gericht auszuhe­ beln, würde sich verheben“ (24.02.2017), VerfBlog, https://verfassungsblog.de/jederder-versuchen-wuerde-das-bundesverfassungsgericht-auszuhebeln-wuerde-sich-verhe ben/ (22.09.2020). 7  Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, in: Jestaedt et al., Das ent­ grenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 77 (82); auch Herbert, Was nützt eine Historisierung des Bundesverfassungs­ gerichts?, in: Meinel (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bonner Republik. Aspekte einer Geschichte des Bundesverfassungsgerichts, 2019, S. 15 (18) weist da­ rauf hin, dass die starke moralische Legitimation des Bundesverfassungsgerichts in den Anfangsjahren auch insbesondere daraus resultierte, dass das „neue“ Gericht Bundesverfassungsgericht mit Richtern besetzt wurde, die den nationalsozialistischen Unrechtsstaat abgelehnt oder sogar am eigenen Leibe erlitten hatten. Freilich ist da­ rauf hinzuweisen, dass dies jedenfalls nicht für alle Richter gilt und das Bundesver­ fassungsgericht erst jüngst (Anfang 2020) eine umfangreiche Aufarbeitung der eige­ nen noch zum Teil ungeklärten NS-Vergangenheit beschlossen hat (vgl. „NS-Erbe soll aufgearbeitet werden“ (19.02.2020), www.tagesschau.de, https://www.tagesschau.de/ inland/bundesverfassungsgericht-ns-erbe-101.html (22.09.2020).; zu einem „Schat­ ten“, der den ersten Präsidenten Hermann Höpker-Aschoff begleiten würde, siehe zum Beispiel Darnstädt, Verschlusssache Karlsruhe, 2018, S. 52 ff. 8  Zur Einbettung von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen in den histori­ schen persönlichen Kontext der Richterpersönlichkeiten siehe Doering-Manteuffel, Richter und Richterinnen des Bundesverfassungsgerichts, in: Meinel (Hrsg.), Verfas­ sungsgerichtsbarkeit in der Bonner Republik. Aspekte einer Geschichte des Bundes­ verfassungsgerichts, 2019, S. 81 (87 ff.): „stoßen wir auf den Zusammenhang von politisch-gesellschaftlichen Zeitströmungen und der Zugehörigkeit der Richter und Richterinnen zu bestimmten Alters- und Erfahrungskohorten, der sicherlich nicht als alleiniger Grund, aber als ein besonders wichtiger Grund für die Entstehung eine be­ stimmten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ins Feld geführt werden muss“.



A. Das Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber319

I. Direktwahl des Bundesverfassungsgerichts Um den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts eine höhere de­ mokratische Legitimität zu verschaffen, könnte es eine Überlegung sein, die Bundesverfassungsrichter unmittelbar zu wählen, um so die verwerfende Einrichtung auf das gleiche Legitimationsniveau wie den gestaltenden Ge­ setzgeber zu stellen. Schließlich können Richterwahlen „die Gestalt der Re­ publik auf Dauer nachhaltiger prägen als Parlamentswahlen“9. Folge einer solchen unmittelbar demokratischen Wahl wäre wohl ein auf­ sehenerregender Wahlkampf mit „Inquisition und Denunziationen“, wie sie auch bei den Anhörungen der zur Wahl stehenden Richter zum US-amerika­ nischen Supreme Court üblich sind10. Dort ist Ernennung der Richter sowie ihre Tätigkeit stets ein Akt von hoher politischer Bedeutung, die Verteilung der Richterposten dient gewissermaßen als politische Verhandlungsmasse11. Die Richter erfahren in den USA daher eine gewisse öffentliche Bekanntheit. Eine Direktwahl der Bundesverfassungsrichter führt daher eher zu einer sich verstärkenden Politisierung12 und ist daher kritisch zu sehen: Erst ein­ mal im Fokus der Öffentlichkeit stehend, könnte die Gefahr steigen, auch politische Maßstäbe in die Entscheidung mit einzubeziehen. Gerade unter Berufung auf ein unmittelbar demokratisch legitimiertes Mandat könnten für die Richter die Gründe, sich in der viel beschworenen Zurückhaltung zu üben, geringer werden. Die Richter wären im notwendigen Wahlkampf quasi gezwungen, politische Position zu beziehen13, zudem bestünde aufgrund 9  Isensee, Bundesverfassungsgericht – quo vadis?, JZ 1996, 1085 (1086); auch Rüthers, Rechtsstaat (Fn. 5), JZ 2002, 365 (365) weist darauf hin, dass die Richter­ wahlen ein entscheidendes Machtinstrument für die Umgestaltung der Rechtsordnung sind. 10  Isensee, Bundesverfassungsgericht (Fn. 9), JZ 1996, 1085 (1092); Wittreck, Reform der Bundesverfassungsrichterwahlen?, RuP 47 (2011), 141 (144). 11  Vgl. nur die Debatte 2018 um die Ernennung von Brett Kavanaugh als ­Supreme Court Richter, die in der FAZ als „politisches Spektakel“ beschrieben wurde (vgl. „Die Mitte rückt nach rechts (12.09.2018), FAZ+, http://www.faz.net/aktuell/politik/ ausland/supreme-court-die-richterliche-mitte-rueckt-nach-rechts-15782986.html (22.9. 2020) oder die Debatte um die Nachbesetzung der kurz vor der Präsidentschaftswahl im November 2020 verstorbenen Richterin Ruth Bader-Ginsburg, die zu einem großem Politikum im Wahlkampf wurde (Vgl. „Kampf um Amerika“ (21.9.202), www.faz.net, https://www.faz.net/aktuell/politik/wahl-in-amerika/trumps-plan-nach-ruth-baderginsburg-kulturkampf-um-die-usa-16962908.html (22.09.2020): „Die Richterpersonalie wird die Wähler zusätzlich mobilisieren“. 12  Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, 2021, S. 144. 13  Wittreck, Empfehlen sich Regelungen zur Sicherung der Unabhängigkeit der Justiz bei der Besetzung von Richterpositionen?, in: Ständige Deputation des Deut­ schen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 73. Deutschen Juristentages. Ham­

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Teil 6: Schlussbetrachtungen

eines kostenintensiven Wahlkampfs eine nur schwer zu kontrollierende Ab­ hängigkeit von finanziellen Strömen14. Insofern die Letztentscheidungskompetenz beim Bundesverfassungsgericht angesiedelt wäre, würde eine solche unmittelbar demokratische Wahl auf eine Machtkonzentration beim Bundesverfassungsgericht hinauslaufen15. Es dürfte damit auch gerade im Interesse des Bundestages und Bundesrates sein, im sich gegenseitig kontrollierenden System, sich diejenigen selbst auszusuchen, von denen sie kontrolliert werden16. Die Wahl der Richter durch die parlamentarischen Gremien führt auch dazu, dass die Politik in die Entscheidungen der Richter vertraut und akzeptiert17. Auch steht eine solche Direktwahl im Gegensatz zur wichtigsten Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, dem Minderheitenschutz, sondern wäre viel­ mehr im Sinne eines Demokratiemodells, in dem es sich bei dem durch Ab­ stimmung gebildeten Mehrheitswillen notwendig auch um den Volkswillen handelt18. Dem Grundgesetz liegt jedoch ein pluralistisches Demokratiemo­ dell zu Grunde, welches einen Hüter der Minderheiten benötigt und diesen im Bundesverfassungsgericht gefunden hat19.

II. Änderung des parteipolitischen Wahlverfahrens Zumindest könnte jedoch zu überlegen sein, das Wahlverfahren dahinge­ hend zu ändern, dass die parteipolitischen Einflüsse geringer werden, ist doch gerade dieses parteipolitische Auswahlverfahren geeignet, die Richter in eine Abhängigkeit zum Parlament und zur Regierung zu rücken und damit politischen Einflüssen auszusetzen. Mit anderen Worten könnte man sagen, dass aufgrund der gar nicht möglichen Trennung zwischen Politik und Recht nicht ein politisches Urteil bzw. die politische Ausrichtung eines Urteils an sich problematisch ist und auch nicht die persönliche Integrität der Richter, sondern dass die Gewaltenteilung insbesondere dann gefährdet ist, die Ge­ richte gar zu „korrupten Institutionen werden, wenn das Gericht dem Willen burg 2020/Bonn 2022, 2020, S. I/G (71) weist darauf hin, dass in der Schweiz eine Parteimitgliedschaft für viele Rechtsprechungsämter obligatorisch sei. 14  Ebd., S. I/G (72). 15  Drossel, Das letzte Wort des Bundesverfassungsgerichts – Ein undemokrati­ scher Mechanismus?, in: Elser/Baumann (Hrsg.), Das letzte Wort – Rechtsetzung und Rechtskontrolle in der Demokratie, 2014, S. 255 (264). 16  Wittreck, Reform (Fn. 10), RuP 47 (2011), 141 (141). 17  Klein, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 49 (60). 18  Siehe dazu Teil 2 B. I. 19  Drossel, Wort (Fn. 15), S. 260.



A. Das Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber321

einer bestimmten politischen Partei unterworfen ist“20. Damit wird die Unabhängigkeit der Richter von den Parteien als funktionell-rechtlich bedeu­ tenderer Faktor betont als jener, dass die Richter keine Politik treiben dürf­ ten. 1. Ausgangssituation Die Bundesverfassungsrichter werden zur Hälfte vom Bundesrat und zur anderen Hälfte vom Bundestag gewählt (Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG, § 5 Abs. 1 S. 1 BVerfGG), dabei jeweils mit einer Zweidrittelmehrheit, §§ 6 Abs. 1 S. 2, 7 BVerfGG. Soweit sich hieraus zunächst eine zumindest formelle klare de­ mokratische personelle Legitimation herausstellen lässt, ist zu berücksichti­ gen, dass die Auswahl in der Praxis erheblich überlagert wird durch ein infor­ melles Verfahren der Parteien untereinander21. Vorgebracht wird, dass insbe­ sondere die Rückkopplung der Wahl an die Parlamentarier im Bundestag auf­ grund des lediglich zwölf Mitglieder umfassenden Wahlausschusses gering sei. Die Abgeordneten würden weder den Namen noch die Qualifikation und beruflichen Werdegang der nach Karlsruhe entsandten Richter kennen, sie würden vielmehr von diesen aus der Zeitung erfahren22. Die parteipolitische Auswahl der Richter – die sich zudem nicht auf eine Berufung von Bundes­ richtern beschränkt, sondern auch Politiker können berufen werden23 – habe 20  In diesem Sinne Steinbeis, Aktion und Reaktion (25.9.2020), VerfBlog, https:// verfassungsblog.de/aktion-und-reaktion/ (26.9.2020) zur Entwicklung am US-ameri­ kanischen Supreme Court kurz nach dem Tod der demokratischen Richterin Ruth Bader Ginsburg, deren freigewordener Platz der republikanische Präsident Trump noch kurz vor der Präsidentschaftswahl 2020 mit einer neuen konservativen Richterin Amy Coney Barrett ersetzt hat: „Das Problem ist nicht, dass sie [die Richter] zu rechts sind (oder zu links). […] Das Problem ist, dass ein Gericht, das einer bestimm­ ten politischen Partei zu Willen ist, nicht mehr als Gericht funktioniert. Ein solches Gericht kann von Klägern und Beklagten kaum erwarten, sich ihrem Spruch auch im Fall ihres Unterliegens zu beugen. Es wird zu einer hohlen, peinlichen, geschminkten Pappmascheekarikatur seiner selbst, von allen verachtet und nicht am wenigsten von seinen eigenen politischen Herren selbst“. 21  Wittreck, Verwaltung (Fn. 5), S. 268  ff. mit weiterer ausführlicher Beschrei­ bung des Verfahrens; zur parteipolitischen Überlagerung siehe auch Zuck, Das Bun­ desverfassungsgericht als Dritte Kammer, ZRP 1978, 189 (195); Simon, Verfassungs­ gerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1984, § 34 Rn. 1658; Starck, Verfassungen, 2009, S. 138; Kessel, Die Kontrolldichte der Normenkontrolle in Skandinavien aus deutscher Sicht, 2011, S. 190. 22  Lamprecht, Oligarchie in Karlsruhe – Über die Erosion der Gewaltenteilung, NJW 1994, 3272 (3273). 23  Gemäß § 2 Abs. 3 S. 1 BVerfGG müssen pro Senat drei Mitglieder aus der Zahl der Richter an den obersten Bundesgerichten gewählt werden.

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Teil 6: Schlussbetrachtungen

zu einer Zementierung der Auswahlkriterien geführt24. Als Alternativen wer­ den zum Beispiel die Wahl durch einen besonderen Beirat – besetzt mit Mit­ gliedern aus verschiedenen Gremien und Institutionen – oder die Wahl durch den Bundespräsidenten vorgeschlagen25. 2. Reformbedarf Inwieweit diesbezüglich aber tatsächlicher Reformbedarf besteht, darf be­ zweifelt werden: Zunächst zwingt auch oder gerade das informelle System von gegenseitigen Absprachen, dass die Parteien nur Kandidaten präsentie­ ren, die dem Gericht fachlich und persönlich präsentabel sind und zudem nur solche, die auch dem politischen Gegner gerade noch politisch zumutbar sind26. Schließlich ist insgesamt zu beobachten, dass – anders als dies mög­ licherweise in den USA der Fall ist – sich der einmal gewählte Bundesver­ fassungsrichter schnell einzig und allein dem Karlsruher Gericht und nicht seinen parteipolitischen Unterstützern in Berlin verantwortlich fühlt und der parteipolitische Hintergrund der Richter sich dementsprechend nicht in den Entscheidungen niederschlägt27. Eines der ersten vielbeachteten Urteile des Zweiten Senates unter dem Vorsitz des ehemaligen Politikers Harbarth war das Urteil zum BND-Gesetz im Mai 2020. Es mag nur von anekdotischer Evidenz sein, bemerkenswert ist es dennoch, dass in diesem Urteil der kon­ servative, von der Union nominierte Senatsvorsitzende ein Urteil zu Deutsch­ lands Selbstbeschränkung in der Welt und nur zwei Wochen zuvor der schei­ dende, von der SPD normierte Präsident Voßkuhle mit dem ultra-vires Urteil zum ESPP- Programm der Europäischen Zentralbank ein Urteil zur Deutsch­ lands Selbstbehauptung in der Welt verkündet hat28. Alter und neuer Präsi­ 24  Stern,

Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber, 1997, S. 37. Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 24), S. 37; zu weiteren möglichen NeuRegelungen der Besetzungsverfahren im Hinblick auf zumindest die ordentliche Ge­ richtsbarkeit siehe Wittreck, Regelungen (Fn. 13), S. I/G (70 ff.), der u. a. zutreffend feststellt, dass der reine Losentscheid nicht mit dem Prinzip der Bestenauslese (Art. 33 Abs. 2 GG) vereinbar ist, aber die Idee, den Losentscheid mit einem Auswahlaus­ schuss zu verbinden, für einen zumindest diskussionswürdigen Ansatz hält. 26  Wittreck, Verwaltung (Fn. 5), S. 271. 27  Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, 198, Fn. 783; Riecken, Verfas­ sungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, 2003, S. 290; Jestaedt, Phänomen (Fn. 7), S. 108; Kessel, Kontrolldichte (Fn. 21), S. 192; auch Engst/Gschwend/Schaks/Sternberg/Wittig, Zum Einfluss der Parteinähe auf das Abstimmungsverhalten der Bundes­ verfassungsrichter – eine quantitative Untersuchung, JZ 2017, 816 (826) analysieren, dass sich das Abstimmungsverhalten der Richter nicht pauschal auf die parteipoliti­ sche Prägung zurückführen lasse, die jedoch auch nicht ganz außer Acht gelassen werden dürfe. 28  So die treffende Analyse von Moini, FAZ Einspruch – Folge 122 (20.5.2020), Podcast, FAZ, ab Minute 21:10. 25  Stern,



A. Das Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber323

dent scheinen zumindest in diesen Urteilen gänzlich gegenteilig zur ver­ meintlichen Parteilinie geurteilt zu haben29. Hierzu tragen auch die bereits im BVerfGG vorgesehenen normativen Absicherungen der richterlichen Unab­ hängigkeit, u. a. die Begrenzung der Amtszeit auf zwölf Jahre (§ 4 Abs. 1 BVerfGG) bei30. Auch die hohe Zahl an einstimmig ergangenen bundesver­ fassungsgerichtlichen Entscheidungen spricht dafür, dass das Parteibuch oder die Parteinähe im Gericht nur eine geringe Rolle spielt31. Der Umstand, dass in den 1970er Jahren eher vermeintlich sozialliberale Gesetze zugunsten konservativer Ansichten aufgehoben wurden (Schwanger­ schaftsabbruch, Hochschulreform, Kriegsdienstverweigerung) und in den 90er-Jahren eher jene Konservativen Kritik an Urteilen des Bundesverfas­ sungsgerichts übten (Sitzblockaden, Soldaten sind Mörder, Kruzifixe)32, deutet noch nicht auf eine bestimmte politische Färbung des Gerichts zu diesem Zeitpunkt hin. Vielmehr ist dies lediglich dem Umstand geschuldet, dass verfassungsgerichtliche Entscheidungen naturgemäß mehr Aufmerksam­ keit finden, wenn sie eine aufhebende Entscheidung zum Gegenstand haben. Insofern das Bundesverfassungsgericht ein naturgemäßer „Gegenspieler“ zur Bundesregierung bzw. zu den die Regierung tragenden Fraktionen ist – weil es ja nur diese sind, die Gesetze verabschieden, die vom Bundesverfassungs­ gericht überprüft werden können – es nicht überraschend, dass diese Regie­ rungen in den 1970er Jahren sozialliberal (Helmut Schmidt) und in den 1990er Jahren konservativ (Helmut Kohl) geprägt waren. Parteipolitische Neutralität wird man dem Bundesverfassungsgericht auch insbesondere im Hinblick auf die Entscheidungen zur Verfassungswidrigkeit der Prozenthür­ den im Europawahlrecht zusprechen können, die von Vertretern aller (gro­ ßen) Parteien kritisiert wurden.

29  Diese Beobachtung hat auch Bundesverfassungsrichter Müller in einer Dis­ kussion mit Stipendiaten der Konrad-Adenauer-Stiftung am 19.11.2019 in Karlsruhe geäußert, in der Müller deutlich machte, dass die Diskussionen im Gericht stets quer durch die vermeintlichen Parteilinien verlaufen würden. Dass sich die Richter nicht von den sie vorschlagenden Parteien beeinflussen lassen, wurde in der Vergangenheit auch durch öffentliche Dispute zwischen den Richtern und den Parteien, die sie vor­ geschlagen haben, deutlich, z. B. der Konflikt zwischen CDU-Innenminister Schäuble und Bundesverfassungsgerichtspräsident Papier über das Luftsicherheitsgesetz, wel­ cher 2008 in einer öffentlichen Rüge duch den Bundesinnenminister gipfelte, vgl. Lamprecht, Vom Untertan zum Bürger – Wie das Bonner Grundgesetz an seinem Karlsruher „Über-Ich“ gewachsen ist, NJW 2009, 1454 (1455). 30  Hierzu mit weiteren Nachweisen der normativen Absicherung richterlicher Unabhängigkeit in Wittreck, Verwaltung (Fn. 5), S. 272 ff. 31  Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 12), S. 147. 32  Raab, Einführungsvortrag, in: Robbers/Raab (Hrsg.), Die Kontrolle parlamen­ tarischer Gesetzgebungsakte durch das Bundesverfassungsgericht, 2014, S. 7 (9 f.).

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Teil 6: Schlussbetrachtungen

Auch die Einflüsse sowohl aus Wissenschaft, Justiz und Politik scheinen sich am Bundesverfassungsgericht gut zu ergänzen. Die ausgewählten Wis­ senschaftler genießen zumeist parteiübergreifend im Hinblick auf ihre wis­ senschaftliche Laufbahn einen exzellenten Ruf33. Ehemalige Politiker bringen hingegen das Wissen um politische Zusammenhänge mit, was gerade den Blick für die Abgrenzung des politischen Bereiches vom verfassungs­ rechtlichen Bereich schärft34. Darüber hinaus scheint auch das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit bei der Richterwahl sicherzustellen, dass solche Kandidaten gewählt werden, die „hinreichende qualifiziert“ und „parteipoli­ tisch nicht zu exponiert“ sind35. Jedenfalls ist daher zu überlegen, dieses Erfordernis der qualifizierten Mehrheit verfassungsrechtlich in Art. 94 GG abzusichern36.

33  Wittreck,

Reform (Fn. 10), RuP 47 (2011), 141 (141).

34  Bertrams, Verfassungsgerichtliche Grenzüberschreitungen, in: Burmeister (Hrsg.),

Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 1027 (1030). 35  Wittreck, Regelungen (Fn. 13), S. I/G (51); Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 12), S. 145. 36  Wittreck, Regelungen (Fn. 13), S. I/G (51).



B. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“325

B. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ Das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber unter dem Grundgesetz ist seit Beginn der Bundesrepublik Gegenstand wissenschaft­ licher, politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzung, ohne dass der Diskussionsbedarf abreißen würde. Viele aufsehenerregende Entscheidungen wurden in der Öffentlichkeit diskutiert und das Bundesverfassungsgericht immer wieder scharf kritisiert. Die Debatte ist somit nicht neu und war auch von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes zu erwarten. Bereits Bis­ marck hatte die Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit abgelehnt, weil die Richter nicht Gesetzgeber werden und Politik gestalten sollten1. 1949 hatten jedoch sowohl das Deutsche Reich von 1871 als auch die Weimarer Republik versagt und jeweils nur wenige Jahrzehnte bestehen können. Die Stabilität der Bundesrepublik in den vergangenen 70 Jahren ist ohne Zweifel nicht nur auf die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts zurückzuführen, das Gericht war aber für die Entwicklung der Republik gewiss ein wichtiger Faktor. Die Entscheidung des Parlamentarischen Rates für die Bundesverfas­ sungsgerichtsbarkeit ist somit auch heute noch als richtig und wegweisend zu beurteilen. Das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Politik, zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht, wird die Verfassungsordnung weiter prägen. Die grundsätzliche Konzeption der beiden Organe hat sich jedoch bewährt. In der Diskussion um die juristischen Grenzen der Zuständigkeitsbereiche wird kein Spruch des Gerichts den Anspruch absoluter Richtigkeit erheben können2. Rechtswissenschaft ist eben keine Naturwissenschaft, die Natur­ gesetzen folgt, sondern Geisteswissenschaft, etwas, das sich aus der Diskus­ sion des Für und Wider entwickelt3. Damit kommt es für ein geordnetes Verfassungsleben auch insbesondere darauf an, wie die beteiligten Akteure mit dem Konflikt zwischen Bundesver­ fassungsgericht und Gesetzgeber umgehen. Sowohl die Gesellschaft als auch die Politik und das Bundesverfassungsgericht haben ihren Beitrag zu einem gelungenen Verfassungsleben beizutragen. Es bedarf der „offenen Gesell­ schaft der Verfassungsinterpreten“ (Häberle) – die oben genannten Prinzipien und Methoden der Verfassungsinterpretation haben ihre Berechtigung, aber: „Sie sind ‚Filter‘ […, die] die vielfältigen Formen der Einwirkung verschiede­ 1  Isensee, Diskussionsbeitrag, in: Stern (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber, 1997, S. 39 (41). 2  Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Huber (Hrsg.), Recht als Prozess und Gefüge, 1981, S. 261 (271). 3  Gaier, Diskussionsbeitrag, in: Robbers/Raab (Hrsg.), Die Kontrolle parlamen­ tarischer Gesetzgebungsakte durch das Bundesverfassungsgericht, 2014, S. 17 (20).

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Teil 6: Schlussbetrachtungen

ner Beteiligter [disziplinieren und kanalisieren]“4. Es ist ein sinnvolles Para­ doxon der grundgesetzlichen Gewaltenteilung, dass „die höchste Entschei­ dungskompetenz beim schwächsten aller Organe“, dem die Befehls- und ­Vollstreckungsgewalt fehlt, liegt5. Da es in Verfassungsfragen „keinen Ge­ richtsvollzieher“6 gibt bedarf das Bundesverfassungsgericht des Vertrauens aller anderen Beteiligten, damit seine Entscheidungen auch respektiert wer­ den7. Das Bundesverfassungsgericht ist zwingend auf die Akzeptanz der Ver­ waltung, Politik und Bevölkerung angewiesen. Während das Bundesverfas­ sungsgericht formell gesehen zwar stets das letzte Wort hat, haben in mate­ rieller Hinsicht „alle“ das letzte Wort8, d. h. die Entscheidung des Bundesver­ fassungsgerichts muss auch stets in der Öffentlichkeit Akzeptanz finden, „Hüter der Verfassung“ ist stets das gesamte Volk9. Dies gilt freilich nur, so­ lange konkretisierungsbedürftige Verfassungsfragen zur Debatte stehen – das Verfassungsrecht an sich kann seine normative Geltung nicht verlieren, auch wenn es von der Bevölkerung nicht mehr getragen wird. Die Bevölkerung muss sich vielmehr auf das Verfahren zur förmlichen Änderung des Grundge­ setzes verweisen lassen10. Das Bundesverfassungsgericht ist in der Verfas­ sungsinterpretation damit nicht vollständig frei, es bleibt rechtsgebunden. Es ist eine kluge und wichtige Entscheidung des Grundgesetzes, dass die Interpretation der Verfassung vielfältig erfolgt, durch ein „Dreigestirn aus Urteil, Wahl und Diskurs“11. Vor diesem Hintergrund dürfte daher auch ins­ 4  Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, 297 (303), die Beteiligten unterteilt Häberle dabei in die staatlichen Funktionen (Bundes­ verfassungsgericht, Rechtsprechung und Legislative), die nicht-notwendigerweise staatlichen Verfahrensbeteiligten (Antragsteller, -gegner, Beschwerdeführer, sonstige Verfahrensbeteiligte, Gutachter, Sachverständige, Lobbyisten, in die demokratische pluralistische Öffentlichkeit (Medien, Verbäne, Parteien, Inititativen, Kirchen, Ver­ lage) sowie in die Wissenschaft (S. 299). 5  Isensee, Bundesverfassungsgericht – quo vadis?, JZ 1996, 1085 (1086). 6  Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, 2021, S. 70. 7  BVerfGE 7, 198 (272) – Lüth (1958); Isensee, Diskussionsbeitrag (Fn. 1), S. 40; Heun, Normenkontrolle, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfas­ sungsgericht, Bd. I, 2001, S. 615 (617); Austermann, Die rechtlichen Grenzen des Bundesverfassungsgerichts im Verhältnis zum Gesetzgeber, DÖV 2011, 267 (272). 8  Häberle, Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 1 (16). 9  Steffani, Demokratischer Entscheidungsprozeß, in: Häberle (Hrsg.), Verfas­ sungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 374 (383); Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit als po­ litische Kraft, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Politik und Rechtswissenschaft, Zwei Studien, 1980, S. 55 (79). 10  Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII. 2014, § 268 Rn. 134. 11  Lepsius, Dynamik, Legitimität, Differenz, Interpretation – Das Grundgesetz wird 70, RuP 55 (2019), 118 (126).



B. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“327

besondere entscheidend sein, wie die handelnden Persönlichkeiten ihre Funk­ tionen verstehen12. Sowohl im Bundestag, am Bundesverfassungsgericht als auch in der Zivilgesellschaft sowie Wissenschaft braucht es starke Persön­ lichkeiten, die dafür sorgen, dass verschiedene Auffassungen immer wieder mit aller Macht aufeinandertreffen und zu heftigen Diskussionen führen, um so jedoch insgesamt für die Funktionsfähigkeit der beiden Verfassungsorgane zu sorgen. Im Nachfolgenden sollen konkrete Aufgaben an diese offene Ge­ sellschaft der Verfassungsinterpretation, an die Gesellschaft, Politik und auch an das Bundesverfassungsgericht selbst gestellt werden.

I. Aufgaben der Gesellschaft Dem Bundesverfassungsgericht wird in der Öffentlichkeit grundsätzlich eine hohe Anerkennung entgegengebracht. Die starke Stellung des Bundes­ verfassungsgerichts hat sich in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens auch insbesondere daraus entwickelt, dass das totalitäre Regime des Nationalsozi­ alismus das Vertrauen in die Politik erheblich erschüttert hatte. Die rechts­ staatliche Tradition war in der jungen Bundesrepublik daher tiefer verwurzelt als die demokratische Prägung, u. a. auch durch das zur Zeit des Kaiserreichs entstandene Bürgerliche Gesetzbuch sowie Strafgesetzbuch13. Mit der positi­ ven Einstellung zum Bundesverfassungsgericht ging aber auch schon immer die Gefahr einer negativen Einstellung dem Gesetzgeber gegenüber einher14. 70 Jahre stabile demokratische Entwicklung sollten die Gesellschaft nun­ mehr aber auch Vertrauen gewinnen lassen in die parlamentarische Gesetz­ gebung. Das Misstrauen gegenüber dem Parlament hat aufzuhören, ist dieses doch eine der wichtigsten, wenn nicht sogar wichtigste Institution des Grundgesetzes15 und gerade kein bloßes verfassungsvollstreckendes Organ16. Damit einher gehen sollte eine öffentliche Kultur, die das Rollenverständ­ nis zwischen Bundesverfassungsgericht und Bundestag als Institutionen, die beide zur Interpretation der Verfassung beitragen, akzeptiert und den vor dem 12  Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 33 (37). 13  Klein, Gedanken zur Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Burmeister (Hrsg.), Ver­ fassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 1135 (1136); Herbert, Was nützt eine Historisierung des Bundesverfassungsgerichts?, in: Meinel (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bonner Republik. Aspekte einer Geschichte des Bundesverfassungsgerichts, 2019, S. 15 (17). 14  Dazu auch Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 79. 15  So Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen. Besteuerung und Eigentum., VVDStRl 39 (1981), 99 (118 f.). 16  Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980, S. 55.

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Teil 6: Schlussbetrachtungen

Bundesverfassungsgericht Unterlegenen nicht als „Verfassungsbrecher“ brandmarkt17 – es sind solche Vorwürfe, die den politischen Prozess läh­ men18. Es muss Verständnis dafür gewonnen werden, dass es zwar Fälle echten Verfassungsbruchs gibt, aber es häufig Grenzfragen sind, über die das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden hat19. Fragen, bei denen eine Ant­ wort nicht eindeutig ist. Vor diesem Hintergrund sind auch die sorgfältige Analyse und Diskussion der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung durch Presse und Wissenschaft notwendig. Zugleich sind sie ausdruckstarkes Zei­ chen einer lebendigen Demokratie. Darüber hinaus bedarf jedoch auch das Bundesverfassungsgericht des Rückhaltes der Bevölkerung, damit das Bundesverfassungsgerichtsbarkeit nicht durch die Politik ausgehebelt wird (wie z. B. in Polen)20.

II. Aufgaben der Politik Auch das Auftreten der politisch gewählten Volksvertreter bestimmt die Grenze des Verfassungsgerichts. Die Politik braucht ein stärkeres Bewusst­ sein dafür, nicht zu sehr nach Karlsruhe zu gucken und zudem den Mut, an die Grenze der Verfassungsmäßigkeit und vielleicht auch darüber hinaus zu stoßen21. Nicht selten ist zu beobachten, dass wenig entschlussfreudige Politiker bestimmte Entscheidungen, insbesondere die sog. obiter dicta, des Bundes­ verfassungsgerichts gerne sehen, um sich aus der Verantwortung für ihre politische Entscheidung zu ziehen22. Auch ist immer wieder zu beobachten, dass Politiker eine politische Auseinandersetzung als verfassungsrecht­lichen 17  Benda, Das Verhältnis von Parlament und Bundesverfassungsgericht, in: Thaysen (Hrsg.), US-Kongress und Deutscher Bundestag, 1988, S. 217 (218); Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfas­ sungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1984, § 34 Rn. 1654. 18  Reyes y Ráfales, Mindestrationalität im inneren Gesetzgebungsverfahren als Verfassungspflicht, Rechtstheorie 45 (2014), 35 (48). 19  Herzog, Offene Fragen zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber, ZG 2 (1987), 290 (295). 20  Müller, „Jeder, der versuchen würde, das Bundesverfassungs­ gericht auszuhe­ beln, würde sich verheben.“ (24.02.2017), VerfBlog, https://verfassungsblog.de/jederder-versuchen-wuerde-das-bundesverfassungsgericht-auszuhebeln-wuerde-sich-verhe ben/ (22.9.2020). 21  Schäfer, Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, in: Schäfer/Roellecke (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, 1980, S. 10 (23). 22  Schenke, Der Umfang der bundesverfassungsgerichtlichen Prüfung, NJW 1979, 1321 (1329).



B. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“329

Disput führen. So wie es ein beliebtes Argument der Opposition ist, auf die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzgebungsvorhabens hinzuweisen, ist es eine gern gesehene Möglichkeit der Regierungsfraktionen, die Notwendig­ keit eines Gesetzgebungsvorhabens mit einer verfassungsrechtlichen Pflicht zu begründen. Es ist gefährlich, wenn die Opposition ihr Verhalten darauf ausrichtet, dass das Bundesverfassungsgericht bestimmte Entscheidungen der Mehrheit schon zurücknimmt – obwohl sie doch eigentlich beim Bürger um eine Mehrheit werben sollte. Die Mehrheit wiederum wird gegebenenfalls von der Verantwortung für „falsche“ Gesetze schon durch das Bundesverfas­ sungsgericht befreit – obwohl doch eigentlich die Bürger sie bei den kom­ menden Wahlen hierfür zur Verantwortung ziehen sollten23. Gleiches gilt für die Begründungen der parlamentarischen Mehrheit, be­ stimmte Gesetzgebungsvorhaben gleich zu unterlassen, weil diese verfas­ sungsrechtlich nicht durchsetzbar wären. Zurückgedacht sei nur an die Dis­ kussion um die Einführung von Euro-Bonds im Jahr 2011/2012. Bundes­ kanzlerin Angela Merkel und die Bundesregierung begründeten den europäi­ schen Nachbarn gegenüber ihre ablehnende Haltung Euro-Bonds betreffend auch mit verfassungsrechtlichen Bedenken und folglich mit Verweis darauf, dass das Bundesverfassungsgericht eine solche Regelung ohnehin wieder kassieren würde24. Das andere französische Verfassungsverständnis wurde in dieser Zeit insbesondere dadurch offenbar, dass der (spätere) französische Präsident François Hollande im Wahlkampf in Zeiten der Finanzkrise formu­ lierte, dass er kein Verständnis für die Position von Angela Merkel habe, weil seiner Ansicht nach kein Gericht der Welt die Haushaltspolitik der demokra­ tisch legitimierten Parlamente ersetzen könne25. Seine Landsfrau Christine Lagarde, damals geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungs­ fonds, soll gar im Hinblick auf die Rücksicht der deutschen Politik auf das Bundesverfassungsgericht damit gedroht haben, auf der Stelle den Raum zu verlassen, wenn sie noch einmal das Wort „Karlsruhe“ höre26. In Wahrheit versteckt sich die Politik dadurch im politischen Diskurs hin­ ter dem Bundesverfassungsgericht und versucht, sich ihrer Verantwortung zu 23  Schlaich,

Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 15), VVDStRl 39 (1981), 99 (117). Aussage wird nachgewiesen in „Merkel erwartet Streit-Gipfel in Brüs­ sel“ (27.6.2012) auf www.spiegel.de, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/mer kel-lehnt-euro-bonds-in-regierungserklaerung-ab-a-841213.html (22.9.2020). 25  Diese Aussage wird nachgewiesen in „Merkel gibt Marschroute vor“ (5.12.2011) auf www.zeit.de, https://www.zeit.de/wirtschaft/2011-12/schuldenkrisemerkel-sarkozy/komplettansicht (22.9.2020). 26  Diese Aussage wird nachgewiesen in „Das Wohl der Finanzwelt hängt am Richterspruch“ (10.7.2012) auf www.welt.de, https://www.welt.de/finanzen/article 108242889/Das-Wohl-der-Finanzwelt-haengt-am-Richterspruch.html (22.9.2020). 24  Diese

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Teil 6: Schlussbetrachtungen

entziehen27 und schwächt sich dadurch selbst, weil diejenigen Bereiche, die einmal dem Gericht überlassen wurden, nur schwerlich in die Politik zurück­ gewonnen werden können28. Wer so agiert, muss sich nicht wundern, wenn dann auch das Verfassungsgericht dies zum Anlass nimmt, um durch das Verfassungsgerichtsverfahren politisch zu gestalten29. Die Politik und insbesondere der Gesetzgeber als das am unmittelbarsten demokratisch legitimierteste Organ können jedoch mehr. Die Politik täte gut daran, sich stets bewusst machen, dass es insbesondere auch an ihr selbst liegt, dem Bundesverfassungsgericht Schranken zu setzen – durch eine selbstbewusste, kluge und mutige Gesetzgebung. Diese hat zur Aufgabe, zwar sorgfältig und genau gesetzgeberische Vorhaben auf die Vereinbarkeit mit der Verfassung hin zu untersuchen, darf jedoch nicht der Versuchung erliegen, die verfassungsrechtlichen Argumente zur politischen Maxime aus­ zurufen30. Vielmehr sollte die Politik stets vom Gestaltungsanspruch für die Gesellschaft ausgehen und im politischen Diskurs die gesellschaftlichen Vorund Nachteile diskutieren, um sodann eine kluge verfassungskonforme Lö­ sung für das gesetzgeberische Vorhaben zu suchen. Wie stets im Leben gilt: Man ist ein Stück weit auch immer so stark, wie man sich selbst fühlt. Der Gesetzgeber ist damit angehalten, mutiger zu entscheiden31. So we­ nig rechtliche Bedeutung – wie aufgezeigt – der Grundsatz des Judicial SelfRestraint hat und haben kann, so ist er aber als Appell an die Bundesverfas­ sungsrichter genauso wichtig wie die Aufforderung an die Politik ihren Ge­ staltungsanspruch auch tatsächlich geltend zu machen. Dem Gesetzgeber ist damit zu „Political Activism“ zu raten.

27  Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht (Fn. 12), S. 44; Zuck, Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge, DVBl. 1979, 383 (388); Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber, 1997, S. 26. 28  Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 6), S. 60. 29  Schuppert, Grenzen (Fn. 16), S. 32. 30  Zuck, Stellung (Fn. 27), DVBl. 1979, 383 (388); in diesem Sinne auch Benda, Wirklich Götterdämmerung in Karlsruhe?, NJW 1995, 2470 (2471). 31  Klein, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 49 (56); in diesem Sinne auch die ehemalige Bundesjustizministerin in einem Vortrag vor dem Bundesverfassungsge­ richt, vgl. Leutheusser-Schnarrenberger, Und der Gesetzgeber behält das Heft doch in der Hand!, in: Karpen/Limbach (Hrsg.), Der Richter als Ersatzgesetzgeber, 23. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Gesetzgebung (DGG) im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, 2002, S. 39 (41 f.).



B. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“331

III. Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht seinerseits wird trotz der hohen Anerken­ nung, welches ihm entgegengebracht wird, nur dann Autorität behalten, wenn es seine Entscheidungen überzeugend begründet und mit Augenmaß ent­ scheidet. Es ist dabei vor allem entscheidend, dass das Bundesverfassungsge­ richt die Gerichtsform wahrt. Der Gesetzgeber ist aus sich heraus legitimiert, er ist an keine besondere Methodik und Begründung von Gesetzen gebunden. Das Bundesverfassungsgericht ist jedoch an eine strenge juristische Metho­ dik gebunden. Seine Entscheidung ist nur haltbar, wenn er sich an diese Methodik hält. Wenn Bundesverfassungsrichter a. D. Gaier hier den entschei­ denden Unterschied zum Gesetzgeber sieht und formuliert, dass Politik dort beginnt und Rechtsanwendung aufhört, wenn juristische Methodik ver­ sagt32, so sollte sich das Bundesverfassungsgericht daran festhalten lassen. Die Untersuchung dieser Arbeit hat jedoch aufgezeigt, dass diese Metho­ dik in der Rechtsprechung nicht immer ersichtlich ist. Dem Bundesverfas­ sungsgericht ist daher zu empfehlen, nicht nur klarere Begriffe zu wählen, sondern seiner Prüfung eine klarere Struktur zu Grunde zu legen sowie stär­ ker zu kontextualisieren. Genauso wie sich ein gutes Verfahren und ordnungsgemäße Begründung des Gesetzgebers positiv auf seine Einschätzungsprärogative auswirkt, wirkt sich eine klare und stringente dogmatische Begründung positiv auf die Ak­ zeptanz der verfassungsgerichtlichen Entscheidung aus mit der Folge, dass der Vorwurf, das Gericht treibe Politik, abnimmt. Verfahren und Methodik haben am Anfang der Entscheidung zu stehen anstatt dass Methodik, Dog­ matik und das Verfahren der zunächst festgelegten Entscheidung angepasst werden33. Dazu gehört auch, dass Bundesverfassungsrichter sich nicht an­ lasslos zu politischen Themen äußern und auch öffentlichen Äußerungen zu Urteilen auf das Mindeste beschränken sollten. Beide Organe – Bundestag und Bundesverfassungsgericht – müssen sich stets ihrer wechselseitigen Grenzen bewusst machen und das nicht aufzulö­ sende Spannungsverhältnis einerseits aushalten34, andererseits dieses auch durch die gegenseitige respektvolle Diskussion positiv gestalten. Für das Bundesverfassungsgericht kann dies nicht bloß dadurch gelingen, dass es sich in Zurückhaltung übt, sondern wenn es sich der kritischen Diskussion – insbesondere mit der Wissenschaft – über seine Urteile stellt35. Dazu gehört 32  Gaier,

Diskussionsbeitrag (Fn. 3), S. 33. Diskussionsbeitrag, in: Robbers/Raab (Hrsg.), Die Kontrolle parlamen­ tarischer Gesetzgebungsakte durch das Bundesverfassungsgericht, 2014, S. 17 (33). 34  Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 27), S. 38. 35  Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 27), S. 46. 33  Rath,

332

Teil 6: Schlussbetrachtungen

auch, dass es gerade bei Normenkontrollen stets das Spannungsverhältnis zum Gesetzgeber im Blick behält und sich nicht nur als „Bürgergericht“ versteht, welches um der Reputation willen (vermeintlich) bürgerfreundliche Entscheidungen fällt36.

36  Lepsius, Parlamentsrechte und Parlamentsverständnisse in der neueren Recht­ sprechung des Bundesverfassungsgerichts, RuP 52 (2016), 137 (145).



C. Zusammenfassung333

C. Zusammenfassung 1.  Das Grundgesetz ist als Rahmenordnung zu verstehen. Danach setzt die Verfassung nur äußerste Grenzen, die von der „offenen Gesellschaft der Ver­ fassungsinterpreten“ (Häberle) zu konkretisieren und auszugestalten sind. Dem Gesetzgeber kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Bei der Über­ prüfung gesetzgeberischer Maßnahmen durch das Bundesverfassungsgericht sind dem Gesetzgeber Spielräume zuzugestehen. 2.  Es existieren funktionell-rechtliche und materiell-rechtliche Ansätze zur Bestimmung dieser Spielräume. Richtigerweise können die funktionell-recht­ lichen Ansätze allerdings als Bestandteil der materiell-rechtlichen systemati­ schen Auslegung verstanden werden. Ein Streitentscheid ist damit nicht not­ wendig. Funktionell- und materiell-rechtliche Ansätze der Verfassungsinter­ pretation können vielmehr im Einzelfall flexibel fruchtbar gemacht werden. 3.  Damit rückt die Betrachtung des Einzelfalls in den Fokus der Verfas­ sungsinterpretation. Durch die in der Rechtsprechung des Bundesverfas­ sungsgerichts üblich gewordene Maßstabsbildung und die Bezugnahme auf alte Maßstäbe in den Maßstäben von neuen Entscheidungen verselbstständigt sich die Verfassungsinterpretation des Gerichts zunehmend und löst sich vom konkreten Fall. Diese Maßstabsbildung hat zu einer unübersichtlichen Struk­ tur der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genannten dem Gesetzgeber zustehenden Spielräumen geführt. Das Bundesverfassungsge­ richt sollte in seinen Entscheidungen eine – richtig verstandene – stärkere Kontextualisierung betreiben. Eine solche bedeutet nicht den Verzicht auf einen abstrakt-generellen Ansatz, Dogmatik und Systematik insgesamt. Viel­ mehr führt eine angemessene Kontextualisierung gerade zu einer stärkeren Systematisierung der Entscheidungen als sie angesichts von circa 60.000 veröffentlichter Seiten Entscheidungssammlung derzeit mit den darin formu­ lierten Maßstäben möglich ist. 4.  Nichtsdestoweniger ist es möglich, bestimmte Kategorien von Spielräu­ men auszumachen und damit, den verschiedenen Spielräumen einen eigenen Erkenntniswert zu entnehmen. Sinnvoll ist es zu unterteilen in Spielräume in tatsächlich-prognostischer Hinsicht und Spielräume in materieller Hinsicht. 5. Rechtsprechung und Literatur bleiben bei der Nennung und Differen­ zierung von Spielräumen dagegen zumeist im Hinblick auf die Frage, welche Arten von Spielräumen es gibt, sehr diffus. Auch die Konsequenzen aus einer Unterscheidung für die verfassungsrechtliche Prüfung werden nicht hin­ reichend deutlich. Allein in den letzten 13 veröffentlichten Bänden der Ent­ scheidungssammlungen des Bundesverfassungsgerichts finden sich über dreißig verschiedene Begriffe für das Phänomen „Spielräume des Gesetzge­ bers“. Die begriffliche Vielfalt des Bundesverfassungsgerichts sorgt dafür,

334

Teil 6: Schlussbetrachtungen

dass die Prüfung des Bundesverfassungsgerichts häufig willkürlich, jeden­ falls aber nicht immer nachvollziehbar erscheint. Das Bundesverfassungsge­ richt erkennt damit Spielräume des Gesetzgebers an, lässt im Hinblick auf verschiedene Arten von Spielräumen jedoch allenfalls Ansätze einer Struktu­ rierung erkennen. Darunter leiden die Qualität und Vorhersehbarkeit der Prüfung. 6.  Dem Bundesverfassungsgericht ist damit zu raten, einheitliche Begriffe zu verwenden. Das Bundesverfassungsgericht könnte zum Beispiel den Be­ griff des (politischen) Gestaltungsspielraumes wählen, um materiell-recht­ liche Spielräume zu umschreiben. Begrifflich unpassend ist jedoch die Be­ zeichnung von tatsächlich-prognostischen Spielräumen als Gestaltungsspiel­ raum. Tatsächlich-prognostische Spielräume können als Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum umschrieben werden. 7. Tatsächlich-prognostische Spielräume und materiell-rechtliche Spiel­ räume unterscheiden sich dadurch, dass eine vom Gesetzgeber vorgenom­ mene materiell-rechtliche Bewertung stets „sicher“ ist, d. h. stets mit Gewiss­ heit gesagt werden kann, ob eine bestimmte materiell-rechtliche Bewertung mit der Verfassung übereinstimmt oder nicht. Es gibt allerdings zumeist nicht nur eine solche sicher mit der Verfassung übereinstimmende Entscheidungs­ option, sondern mehrere. In der Auswahl dieser Entscheidungsoption liegt der materiell-rechtliche Spielraum des Gesetzgebers. Tatsächlich-prognosti­ sche Spielräume zeichnen sich dagegen dadurch aus, dass der Eintritt der Tatsachen zumeist „nicht sicher“, sondern nur „wahrscheinlich“ ist. Dafür gibt es allerdings nicht mehrere, sondern lediglich eine Sachverhaltskonstel­ lation, die schlussendlich tatsächlich eintritt. Der tatsächlich-prognostische Spielraum des Gesetzgebers besteht somit darin, dass der Gesetzgeber bis zu einem bestimmten Wahrscheinlichkeitsgrad Unsicherheiten über die tatsäch­ liche Entwicklung für sich in Anspruch nehmen darf. 8.  Aus dieser Differenzierung folgt, dass den Gesetzgeber im Hinblick auf die tatsächlich-prognostischen Umstände zwar keine Verfahrenspflichten treffen, er aber gleichwohl durch eine ordnungsgemäße Tatsachen- und ­Prognoseermittlung seinen Einschätzungsspielraum zu erhöhen vermag. Den Gesetzgeber trifft damit eine Verfahrensobliegenheit: Die Kontrolldichte des Bundesverfassungsgerichts wird geringer, wenn der Gesetzgeber diese Oblie­ genheit ordnungsgemäß erfüllt. Insofern die materiell-rechtliche Entschei­ dung stets sicher, also stets richtig oder falsch ist, kann diese Bewertung auch nicht durch ein bestimmtes gesetzgeberisches Verfahren beeinflusst werden. Verfahrenspflichten des Gesetzgebers im Hinblick auf die materiellrechtliche Bewertung bestehen damit nicht. Der Begriff der Kontrolldichte ist damit in diesem Zusammenhang missverständlich und sollte daher ver­ mieden werden.



C. Zusammenfassung335

9.  Das Bundesverfassungsgericht hat im Mitbestimmungsurteil ein grund­ sätzlich brauchbares Konzept zur Differenzierung verschiedener tatsächlichprognostischer Spielräume aufgestellt – wenngleich die zitierten Verweise nur in Teilen stimmig sind. Häufig wirken Textbausteine und Verweise auf andere Rechtsprechung willkürlich – eben kontextlos (dazu 3.) – zusammen­ gesetzt. Einige Erkenntnisse lassen sich den Entscheidungen und dem Mitbe­ stimmungsurteil dennoch entnehmen. Dem Gericht ist zuzustimmen, wenn es die Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht von der Möglichkeit, sich ein sicheres Urteil zu bilden, abhängig macht. Typischerweise wird diese Möglichkeit im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung – da diese eine unend­ liche Vielzahl von möglichen Alternativen in den Blick zu nehmen hat – be­ sonders gering und daher an dieser Stelle der gesetzgeberische Spielraum besonders hoch sein. Die „Eigenart des Sachbereichs“ kann nur dann ein Anknüpfungspunkt sein, wenn der Sachbereich tatsachen-spezifisch ist und nicht auf inhaltliche Kriterien abstellt. Damit kann die tatsachen-spezifische Irreversibilität einer Maßnahme ein solcher Sachbereich sein, der den Spiel­ raum des Gesetzgebers verkleinert. Außen- und wirtschaftspolitische Fragen führen dagegen nicht per se aufgrund der Zuordnung zu diesem Sachbereich zu einem größeren Spielraum. Die Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Güter führt indes auf tatsächlicher Ebene zu keiner Verkleinerung des Spiel­ raums. Häufig sind Eingriffe in diese vermeintlich wichtigen Güter jedoch irreversibel, sodass dies der Grund für den geringeren Spielraum ist. 10.  In materiell-rechtlicher Hinsicht weist das Bundesverfassungsgericht – im Ergebnis wohl zutreffend, aber möglicherweise eher unbewusst – dort, wo der Spielraum des Gesetzgebers besonders klein ist, noch nicht einmal auf einen bestehenden Spielraum des Gesetzgebers hin. Das ist insbesondere bei einseitigen Eingriffen in Freiheitsrechte in ihrer Abwehrdimension der Fall. Ist praktische Konkordanz zwischen zwei Grundrechten herzustellen, ist dem Gesetzgeber ein erhöhter Spielraum zuzusprechen. Gleiches gilt für Grundrechte in ihrer Schutzdimension und für Ausgestaltungsaufträge. Auch im Hinblick auf die Staatsstrukturprinzipien ist ein Spielraum anzuerkennen. Aus dem Rechtsstaatsprinzip lassen sich keine Rationalitätsverpflichtungen ableiten. 11. Der tatsächlich-prognostische Spielraum des Gesetzgebers resultiert aus funktionell-rechtlichen Gründen insbesondere aus der politischen Verant­ wortlichkeit für fehlerhafte Prognosen und damit aus der Möglichkeit der Ab­ wahl nach fehlerhafter Entscheidung. Im Hinblick auf die materiellen Spiel­ räume ist es aus funktionell-rechtlicher Sicht nicht primär die erhöhte demo­ kratische Legitimation des Gesetzgebers, sondern vielmehr das besondere Verfahren des politischen Prozesses, des Für und Wider, des Austausches der parteipolitischen Positionen, der verschiedenen Überzeugungen und der dies

336

Teil 6: Schlussbetrachtungen

alles begleitende mediale und öffentliche Diskurs, der dazu führt, dass der Spielraum des Gesetzgebers insbesondere bei mehrdimensionalen Freiheits­ problemen, Gleichheitsrechten und Ausgestaltungsaufträgen groß ist. 12.  Beobachtungs- und Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers beste­ hen nicht. Dies folgt allein aus dem Umstand, dass für die Verfassungsmä­ ßigkeit des Gesetzes auf den Zeitpunkt der bundesverfassungsgerichtlichen Überprüfung abzustellen ist. Es ist das Gesetz und nicht der Gesetzgeber, welches vor Gericht steht. Das Gesetz kann daher nicht aufgehoben werden, weil der Gesetzgeber es nicht nachgebessert hat. Freilich setzt sich der Ge­ setzgeber – wenn er nicht beobachtet und nachbessert – der Gefahr aus, dass das Gesetz im Laufe der Zeit verfassungswidrig und aufgehoben wird. Da­ raus resultiert jedoch allenfalls eine faktische, keine rechtliche Pflicht zur Beobachtung und Nachbesserung. 13. Auf Rechtsfolgenseite sind Unvereinbarerklärungen mit Weitergel­ tungsanordnungen in Bezug auf das hier gegenständliche Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber unproblematisch. Das Bundes­ verfassungsgericht scheint Unvereinbarerklärungen offenbar mittlerweile als gleichberechtigte alternative Form zu Nichtigkeitserklärungen anzusehen. Diese Auffassung ist mit dem Grundgesetz und BVerfGG nicht zu vereinba­ ren. Unvereinbarerklärungen bedürfen stets einer Rechtfertigung. Unverein­ barerklärungen können jedoch nicht mit der Gestaltungsfreiheit des Gesetz­ gebers erklärt werden, sondern bedürfen eines Rechtsfolgenargumentes zur Rechtfertigung. Insofern die Rechtfertigung nur über das Rechtsfolgenargu­ ment möglich ist, sind Unvereinbarerklärungen stets zwingend mit Weiter­ geltungsanordnungen verbunden. 14.  Übergangsregelungen des Bundesverfassungsgerichts sind dagegen im Verhältnis zum Gesetzgeber hoch problematisch. Dabei ist es unerheblich, ob das Bundesverfassungsgericht diese nur als modifizierte Fortgeltungsanord­ nung oder als echte Übergangsregelung ausgestaltet. Erstere kommt bei Ver­ letzungen des Übermaßverbots in Betracht, zweite bei Verletzung des Unter­ maßverbotes. Solche Regelungen sind dann unvermeidlich, wenn weder der Zustand, der bei Nichtigerklärung eintreten würde noch der Zustand, der bei Weitergeltung der Norm eintreten würde, hingenommen werden können. Sodann sind diese Zustände mit dem Zustand der geplanten Übergangsrege­ lung zu vergleichen und dabei in eine Abwägung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers mit den berechtigten Interessen der Grundrechts-Betroffenen einzutreten. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt diese Abwägung häufig zu kurz. Das Gericht hat sie ernster zu nehmen. Zu­ dem ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht einheitlich, wenn es um die Rechtsgrundlage für Übergangsregelungen geht. Auch hier sollte das Gericht die Herleitung seiner Kompetenz deutlich machen.



C. Zusammenfassung337

15. Rechtswissenschaft ist keine Naturwissenschaft. Eine exakte, gleich­ sam mathematische, Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Bundesver­ fassungsgericht und Gesetzgeber ist nicht möglich. Die Grenze bestimmt sich im Rahmen der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ auch insbesondere nach dem Handeln der am Prozess der Verfassungsinterpreta­ tion Beteiligten. In dieser Gesellschaft ist insbesondere dem Gesetzgeber zu raten, mutiger aufzutreten. Während für das Bundesverfassungsgericht Judicial Self-Restraint weder rechtlicher Maßstab ist noch es dieses zum politi­ schen Maßstab seiner Entscheidungen machen darf, ist dem Gesetzgeber mehr „Political Activism“ durchaus zu raten.

338

Teil 6: Schlussbetrachtungen

D. Unauflösbarkeit des Spanungsfeldes Trotz allem: Eine klare Grenze zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber konnte nicht gefunden werden. Mag dieses Ergebnis auf den ersten Blick enttäuschen, gewinnt man auf den zweiten die Erkenntnis, dass dies nicht nur zu akzeptieren, sondern für das Verfassungsleben notwendig, ja dass diese Unsicherheit gar das „Tollste am Verfassungsrecht [ist…]. Die verfassungsrechtlich geordnete Welt ist keine Welt der Ordnung und Harmo­ nie, sondern eine von Unvereinbarkeiten, die es durch ein prekäres Kräftefeld aus Grundrechten, Schutzpflichten, Zuständigkeiten und Verfahrensregeln in einer instabilen Balance hält: Individualität und Sozialität, Einheit und Viel­ falt, Herrschaft und Bindung – ein wildes, faszinierendes, nie zur Ruhe kom­ mendes, aber bei aller Instabilität staunenswert dauerhaftes Durcheinander­ gewirbel von Unvereinbarem“1. Die Unsicherheit über die Grenze zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber sowie das offen zu Tage liegende Spannungsfeld zwischen die­ sen beiden Institutionen führt damit zwar immer wieder zu Konflikten, aber in Summe zu einer Stärkung des demokratischen Verfassungsstaates. Dies gilt nicht nur für das Spannungsfeld zwischen Gesetzgeber und Bundesver­ fassungsgericht, sondern auch für andere verfassungsrechtliche Spannungs­ felder – wie z. B. für das soeben von Steinbeis treffend skizzierte Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof, welches zwar anstrengend und kompliziert sein mag, aber der Integration der Bundes­ republik in das europäische System dadurch zuträglich ist, dass weder das eine noch das andere Gericht Übergewicht erlangt und damit nicht nur aus­ gewogene Entscheidungen sondern insbesondere auch Akzeptanz schafft (in Großbritannien dagegen hat wohl auch das Verständnis eines allmächtigen und allzuständigen britischen Parlaments und die damit verbundene Ableh­ nung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs eine wichtige Rolle bei der Brexit-Entscheidung gespielt). Für große Spannungen, Widersprüche und Unverständnis sorgte in der Corona-Krise auch der Föderalismus und die verschiedenen einzelstaatlichen und lokalen Maßnahmen zur Pandemiebe­ kämpfung. Der Föderalismus behindere ein effizientes zentralstaatliches Vorgehen gegen die Pandemie, so der Vorwurf. Das ständige Für und Wider und die jeweiligen Diskussionen, ob Lockerungen oder Einschränkungen des einen Bundeslandes dem anderen zum Vorbild dienen können, haben jedoch zu einer lebendigen demokratischen Diskussion geführt und somit dazu, dass 1  Steinbeis, Entsetzliche Ordnung (29.5.2020), VerfBlog, https://verfassungs blog.de/entsetzliche-ordnung/ (22.9.2020). Hintergrund dieser Aussage war primär die Bestimmung der Kompetenz-Kompetenz im Streit zwischen Bundesverfassungs­ gericht und Europäischem Gerichtshof – hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Ge­ setzgeber und Bundesverfassungsgericht trifft die Aussage freilich ebenso den Kern.



D. Unauflösbarkeit des Spanungsfeldes339

Maßnahmen angepasst und in der Breite der Bevölkerung akzeptiert wur­ den – die Abwägung zwischen Gesundheitsschutz, Freiheitsrechten und wirtschaftlichen Interessen wurde somit besser aufgelöst als dies ein Bundes­ verfassungsgericht durch die Herstellung praktischer Konkordanz gekonnt hätte. All diese skizzierten Spannungen sind anstrengend zu ertragen und kom­ pliziert – und auch sie führen teilweise zu falschen Entscheidungen und zu spannungsvollen Momenten. Das Scheitern, Momente, in denen das Span­ nungsband zu zerreißen droht, sollten jedoch dazu genutzt werden, um aus Fehlern zu lernen. Auch diese Fähigkeit fordert die lebendige und interpretie­ rungsbedürfte Verfassung, dieses „staunenswert dauerhaftes Durcheinander­ gewirbel von Unvereinbarem“, ein. Besteht nun ein „Judicial Activism“ des Bundesverfassungsgerichts? Oder nimmt sich der Gesetzgeber zu stark zurück? Ist das Bundesverfassungsge­ richt zum Ersatzgesetzgeber mutiert, oder ist die Kritik des Gesetzgebers am Bundesverfassungsgericht haltlos? Die Antwort hierauf fällt eindeutig wie unsicher aus – passend ist auch hier das Fazit von Steinbeis: „Ich will mich […] nicht entscheiden müssen. Ich bestehe auf Unentschiedenheit. Ich be­ stehe auf dem ausgehaltenen Widerspruch, auf dem tertium datur, auf dem offenen Spannungsfeld zwischen den Polen“2.

2  Steinbeis,

Ordnung (Fn. 1).

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Sachregister Abwägungspflicht  121–123, 207 Appellentscheidung  192, 194, 302–313 Ausgestaltungsbefugnis  103, 105, 221 Ausgestaltungsspielraum  92, 97, 104, 204, 237, 241, 261 Begründungspflicht  117, 120–132, 207, 247 Beobachtungspflicht  194, 198 Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum  99, 105, 110, 204, 219, 225 Beurteilungs- und Prognosespielraum  97, 105, 111, 166, 167, 169 Beurteilungsspielraum  92, 15, 111, 164–166, 179, 197, 204, Bewertungsspielraum  102, 105, 204 Bundesnotbremse  27, 162, 187, 190 Demokratieprinzip  32, 124, 251–255 Direktwahl  319 Eigenart des Sachbereichs  170, 172–184, 335 Einrichtungsgarantien  232, 240–241, 260 Einschätzungs- und Beurteilungsspiel­ raum  100, 105, 204, 246, 334 Einschätzungs- und Entscheidungsspiel­ raum  102 Einschätzungs- und Gestaltungsspiel­ raum  101, 105, 204 Einschätzungs- und Wertungsspielraum  102, 105, 204, 221 Einschätzungs-, Wertungs- und Gestal­ tungsspielraum  98, 104, 110, 204, 227, 235, 236 Einschätzungsspielraum  96, 97, 105, 138, 145, 154, 164, 166, 190, 204, 227

Entscheidungsspielraum  96, 105, 110, 204, 221 Evidenz  149–154, 160–161, 167–169, 215, 233, 238 Fortgeltungsanordnung  291–299,336 funktionell-rechtliche Auslegung  49, 54–60, 172, 200, 202, 211–213, 264, 279, 288–290, 296–300, 305, 312, 314, 321, 333, 335 Gestaltungs- und Entscheidungsspiel­ raum  100, 105, 204, 246 Gestaltungsbefugnis  103, 105, 118 Gestaltungsfreiheit  102, 105, 204, 237, 278–280 Gestaltungsspielraum  93–95, 105, 108, 111, 115, 169, 204, 220–221, 240, 246, 334 Gewaltenteilung  23–24, 32, 38, 54–57, 68, 133, 239, 271, 313, 326 Handlungsfreiheit  102, 105, 204, 209 Handlungsspielraum  98, 104, 204 intensive Kontrolle  109, 149, 150, 156–160, 257 Irreversibilität  183–184, 187–188, 335 Judicial Self-Restraint  44–49, 211, 330, 337 Klimaschutzgesetz  27, 84, 110, 232, 235 Kontextualisierung  64–67, 111, 156, 201, 291, 331, 333 Kontrolldichte  106–109, 185, 204–205, 211–213, 243, 259, 334

360 Sachregister Leistungsrechte  239 Maßstabsbildung  26, 62–67, 105–106, 111, 333 materiell-rechtliche Spielräume  333, 334 Menschenwürde  123, 159, 187, 214 Mitbestimmungsurteil  107, 143, 148–170, 173, 335 Nachbesserungspflicht  190, 191–194, 195 Nichtigkeitserklärung  279–284, 290, 295,297, 314, 336 Political Activism  330, 337 Political Question Doctrine  47–48 Politischer Gestaltungsspielraum  101 Politischer Spielraum  101, 111 Praktische Konkordanz  221–226, 335 Prärogative  89, 103, 105, 109, 133, 138, 148, 166–168, 172, 197, 204, 220 Prognosespielraum  101, 105, 111, 140, 161, 167, 173 Rahmenordnung  43–44, 333 Rationalität  196, 246–255, 335 Regelungsspielraum  99, 153, 204, 231, 137

Sachaufklärungspflicht  117, 120 Sachverhalts-Dynamik  161 Schutzpflicht  227, 236–240, Spielraum politischen Ermessens  98, 105, 204 tatsächlich-prognostische Spielräume  333, 334 Transparenzpflicht  122, 124 Übergangsregelung  285–301, 307, 314–315, 336 Übermaßverbot  122, 130, 135, 228, 232, 245, 336 Untermaßverbot  232–233, 239, 292, 296, 336 Unvereinbarerklärung  274–285 Verfahrensobliegenheit  136–139, 205, 334 Verfahrenspflicht  114–138, 196, 206–209, 334 Vertretbarkeit  148–151, 154–156, 159–162, 167, 174, 201, 233 Weitergeltungsanordnung  266, 276, 277, 282–284, 291–294, 300–304, 314, 336 Wertungsspielraum  102, 105, 110, 204