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German Pages 250 Year 1991
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 607
Die abstrakte Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht und vor dem brasilianischen Supremo Tribunal Federal
Von
Gilmar Ferreira Mendes
Duncker & Humblot · Berlin
GILMAR FERREIRA MENDES
Die abstrakte Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht und vor dem brasilianischen Supremo Tribunal Federal
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 607
Die abstrakte Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht und vor dem brasilianischen Supremo Tribunal Federal
Von Dr. Gilmar Ferreira Mendes
Duncker & Humblot * Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Mendes, Gilmar Ferreira: Die abstrakte Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht und vor dem brasilianischen Supremo Tribunal Federal / von Gilmar Ferreira Mendes. - Berlin : Duncker und Humblot, 1991 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 607) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1990 ISBN 3-428-07277-4 NE: GT
D6 Alle Rechte vorbehalten © 1991 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-07277-4
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist im Wintersemester 1990 von der Rechts wissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen worden. Sie geht auf eine Anregung von Herrn Professor Dr. Hans-Uwe Erichsen zurück, der ihren Fortgang mit kritischem Rat betreut hat. Dafür sei ihm auch an dieser Stelle herzlich gedankt. Für weiterführende Hinweise bin ich ferner Herrn Professor Dr. Dirk Ehlers sehr verbunden, der das Zweitgutachten erstattet hat. Die sprachlichen Korrekturen der Arbeit hat Frau Stud. Dir. i. R. Ingeborg Scharpenseel besorgt, wofür ich an dieser Stelle zu danken habe. Für die Diskussionsbereitschaft und die kritische Lektüre der Arbeit bin ich Herrn Dr. Richard Weiss sehr verbunden. Zu danken habe ich auch dem DAAD, der die Entwicklung dieser Arbeit gefördert hat. Brasilia, im August 1991
Gilmar Ferreira
Mendes
Inhaltsverzeichnis Α. Einführung
15
Β. Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal I. Institution und Geschichte beider Gerichtshöfe 1. Bundesverfassungsgericht a) Einrichtung b) Geschichte c) Zuständigkeit d) Verfahren 2. Supremo Tribunal Federal a) Vorbemerkung b) Einrichtung c) Geschichte d) Zuständigkeit e) Verfahren II. Die abstrakte Normenkontrolle im Vergleich
17 17 17 17 21 28 30 33 33 34 38 46 50 53
1. Einleitung 53 2. Die abstrakte Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht .. 54 a) Vorgeschichte 54 aa) Vorbemerkung 54 bb) Die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 13 Abs. 2 der Weimarer Verfassung 54 cc) Die abstrakte Normenkontrolle und die Diskussion über die Monopolisierung der Kontrolle von Reichsgesetzen beim Staatsgerichtshof 56 b) Die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG und §§ 13 Nr. 6, 76 BVerfGG 58 aa) Vorbemerkung 58 bb) Die abstrakte Normenkontrolle in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts 61 3. Die abstrakte Normenkontrolle vor dem Supremo Tribunal Federal 67 a) Vorgeschichte 67 b) Entwicklung der abstrakten Normenkontrolle bis zum Inkrafttreten der Verfassung von 1988 70 aa) Vorbemerkung 70
Inhaltsverzeichnis
8
bb) Die abstrakte Normenkontrolle in der Praxis des Obersten Gerichtshofs (α) Vorbemerkung (ß) Zum Meinungsstreit über das Antragsrecht des Bundesgeneralstaatsanwaits (γ) Bedeutung der abstrakten Normenkontrolle während der Geltung der Verfassung von 1946 (Verfassungsnovelle Nr. 16, von 1965) und der Verfassung von 1967/69 .... c) Die abstrakte Normenkontrolle in der Verfassung vom 5. Oktober 1988
71 71 73 74 77
C. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht und vor dem Supremo Tribunal Federal .... I. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht 1. Einleitung 2. Antrag, Antragsberechtigung und Antragsbefugnis a) Antragsprinzip und Antrag
79 79 79 79
aa) Vorbemerkung
79
bb) Antragsprinzip und Rücknahme des Antrags
80
cc) Form des Antrags
81
b) Antragsberechtigung
81
aa) Vorbemerkung
81
bb) Limitierter Zugang
83
cc) Antragsrecht, rechtliches Interesse des Antragstellers und Kontrollbedürfnis dd) Die Stellung des Antrags c) Antragsbefugnis
85 86 87
aa) Vorbemerkung
87
bb) Begriffliche Klärung
89
(α) Zweifel (ß) Meinungsverschiedenheiten
89 89
cc) Zweck der Voraussetzungen
90
dd) Zur Verfassungsmäßigkeit des § 76 BVerfGG
91
(α) Vorbemerkung
91
(ß) Zur Verfassungsmäßigkeit des § 76 Nr. 1 BVerfGG ....
92
(γ) Zur Verfassungsmäßigkeit des § 76 Nr. 2 BVerfGG .... 3. Prüfungsgegenstand a) „Bundes- und Landesrecht"
94 96 96
aa) Vorbemerkung
96
bb) Bundesrecht
97
cc) Landesrecht
99
79
Inhaltsverzeichnis
dd) Die Existenz der Norm und die vorbeugende Normenkontrolle (α) Die Problematik der Vertragsgesetze (ß) Außerkraftgetretenes Recht b) Ausländische und supranationale Rechtsvorschriften aa) Vorbemerkung bb) Ausländisches Recht cc) Das Europäische Gemeinschaftsrecht 4. Prüfungsmaßstab der abstrakten Normenkontrolle a) Vorbemerkung b) Grundgesetz c) Überpositives Recht als Prüfungsmaßstab d) Stufenfolge von Verfassungsnormen e) Bundesrecht als Prüfungsmaßstab II. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle vor dem Supremo Tribunal Federal 1. Einleitung 2. Antrag, Antragsteller und Antragsbefugnis a) Antragsprinzip und Antrag aa) Antragsprinzip und Rücknahme des Antrags bb) Form des Antrags cc) Änderung des Antrags b) Antragsberechtigung aa) Vorbemerkung bb) Antragsrecht, rechtliches Interesse und öffentliches Interesse .. cc) Die Stellung des Antrags und ihre Problematik (α) Vorbemerkung (ß) Das Vetorecht des Präsidenten der Republik und die Ausübung des Antragsrechts (γ) Das Antragsrecht der Gewerkschaftskonföderationen und der auf nationaler Ebene organisierten Klassenorganisationen c) Antragsbefugnis 3. Prüfungsgegenstand a) Vorbemerkung b) Bundesrecht c) Landesrecht d) Vor- und nachkonstitutionelles Recht e) Die Existenz der Norm und die vorbeugende Normenkontrolle .. aa) Die Problematik des Staatsvertrags bb) Außerkraftgetretenes Recht f) Die Überprüfung von Rechtsverordnungen im abstrakten Normenkontrollverfahren
100 101 102 102 102 103 103 105 105 106 107 110 112 113 113 113 113 113 114 114 115 115 116 118 118 120 121 122 127 127 128 130 131 135 135 136 137
Inhaltsverzeichnis
10
4. Prüfungsmaßstab a) Vorbemerkung b) Die Verfassung c) Bundesrecht
141 141 141 144
D. Die Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Supremo Tribunal Federal I. Einführung II. Die Entscheidungen bei abstrakter Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht 1. Einleitung 2. Die Nichtigerklärung verfassungswidriger Normen a) Vorbemerkung b) Die Nichtigerklärung von Gesetzen aa) Die Nichtigerklärung eines Gesetzes als gesetzgebungstechnische Einheit bb) Die Gesamtnichtigerklärung cc) Die Erstreckung der Nichtigerklärung gem. § 78 S. 2 BVerfGG dd) Die „quantitative Teilnichtigerklärung" ee) Teilnichtigerklärung ohne Normtextreduzierung c) Grenzen der Nichtigerklärung 3. Die Verfassungswidrigerklärung von Gesetzen a) Einleitung b) Abgrenzung der Unvereinbarkeitserklärung gegen ähnliche Erscheinungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aa) Unvereinbarkeitserklärung und Appellentscheidung bb) Unvereinbarkeitserklärung und Feststellungsurteil in Organstreitigkeiten cc) Unvereinbarerklärung und fremdes Recht c) Überblick über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aa) Willkürlicher Begünstigungsausschluß und andere Gleichheitssatzverstöße bb) Das gesetzgeberische Unterlassen cc) Die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit dd) Das Rechtsfolgenargument d) Rechtsfolgen der Verfassungswidrigerklärung aa) Vorbemerkung bb) Verpflichtung des Gesetzgebers cc) Die Normanwendungssperre dd) Die Anwendbarkeit des verfassungswidrigen Gesetzes 4. Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen a) Einleitung b) Zulässigkeit der verfassungskonformen Auslegung c) Grenzen der verfassungskonformen Auslegung d) Qualifizierung der verfassungskonformen Auslegung
145 145 145 145 147 147 150 150 150 151 151 153 155 157 157 158 158 159 160 160 160 163 164 164 166 166 167 168 172 174 174 175 176 178
Inhaltsverzeichnis
5. Die Appellentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
180
a) Einleitung
180
b) Appellentscheidungen in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts
181
aa) Appellentscheidungen aus Anlaß von Änderungen der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse
181
bb) Appellentscheidungen wegen Nichterfüllung von Gesetzgebungsaufträgen
184
cc) Appellentscheidungen aus Anlaß fehlender Evidenz des Verfassungsverstoßes
186
c) Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Appellentscheidung
187
d) Rechtsfolgen der Appellentscheidung
188
6. Die Verfassungsmäßigkeitserklärung von Gesetzen
191
III. Die Entscheidungen bei abstrakter Normenkontrolle vor dem Supremo Tribunal Federal
193
1. Einleitung
193
2. Die Nichtigerklärung von Gesetzen
194
a) Vorbemerkung
194
b) Die ex tunc- und ipso jure-Nichtigkeit
196
c) Die Nichtigerklärung 200 aa) Die Nichtigerklärung eines Gesetzes als gesetzgebungstechnische Einheit 200 bb) Die Gesamtnichtigerklärung
201
cc) Die Teilnichtigerklärung
201
dd) Teilnichtigerklärung ohne Normtextreduzierung
202
3. Die verfassungskonforme Auslegung a) Einleitung b) Zulässigkeit und Grenzen der verfassungskonformen Auslegung ... c) Qualifizierung der verfassungskonformen Auslegung 4. Die Verfassungsmäßigkeitserklärung von Gesetzen
203 203 204 205 207
5. Entwicklung einer Unvereinbarerklärung im brasilianischen Recht? 208 a) Einleitung
208
b) Die Entscheidungen auf die mandado de injunçâo-Klage und auf die „abstrakte Unterlassungsfeststellungsklage" nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs 210 aa) Vorbemerkung
210
bb) Der verpflichtende Charakter der Entscheidung auf die mandado de injunçâo-Klage und auf die „abstrakte Unterlassungsfeststellungsklage" nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs 211
12
Inhaltsverzeichnis
c) Konzeptionelle Überlegungen aa) Vorbemerkung bb) Die stattgebende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs auf die mandado de injunçâo-Klage und auf die „abstrakte Unterlassungsfeststellungsklage" gegen Teilunterlassung cc) Die gesetzgeberische Unterlassung und die abstrakte Normenkontrolle
215 215 218 223
E. Zusammenfassende Thesen
225
Anhang
232
Literaturverzeichnis
235
Abkürzungen AuR DJZ FamRZ FG FS Hrsg. NZA s. S. Verw Arch. VVDStRL WRV zit.
= = = = = = = = = = = = =
Arbeit und Recht Deutsche Juristenzeitung Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Festgabe Festschrift Herausgeber Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht siehe Seite Verwaltungsarchiv Veröffentlichung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Die Verfassung des Deutschen Reiches (Weimarer Reichsverfassung) zitiert
Wegen der übrigen Abkürzungen wird auf Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 3. Aufl. Berlin u. a. 1983 verwiesen.
Α. Einführung Nach dem Vorbild des Art. 13 Abs. 2 WRV hat das Grundgesetz in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 ein Verfahren zur Überprüfung der Vereinbarkeit von Bundes- oder Landesrecht mit dem Grundgesetz oder von Landesrecht mit Bundesrecht auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Drittels der Mitglieder des Bundestags eingeführt. Für dieses in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§13 Nr. 6 und 76 BVerfGG geregelte Verfahren ist die Bezeichnung abstrakte Normenkontrolle allgemein üblich geworden 1. Der brasilianische Verfassungsgesetzgeber hat 1965 neben dem unter amerikanischem Einfluß entwickelten inzidenten richterlichen Prüfungsrecht ein abstraktes Normenkontrollverfahren vor dem Obersten Gerichtshof zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes oder eines normativen Akts des Bundes oder eines Landes eingeführt. Das Antragsrecht wurde allein dem Bundesgeneralstaatsanwalt anvertraut. Durch die Verfassung von 1988 wurde das Antragsmonopol des Bundesgeneralstaatsanwalts aufgehoben und der Kreis der Antragsberechtigten erweitert. Im Gegensatz zu dem deutschen System von Normenkontrolle, in dem das Verwerfungsmonopol für Parlamentsgesetze auf das Bundesverfassungsgericht konzentriert ist, darf im brasilianischen Recht jeder Richter oder jedes Gericht einem Gesetz in einer konkreten Streitigkeit die Anwendung verweigern, wenn das Gesetz für verfassungswidrig gehalten wird. Trotz der bedeutenden Unterschiede zwischen beiden Systemen von Normenkontrolle stellt sich die Gemeinsamkeit beider abstrakter Normenkontrollverfahren, bei denen der Schutz der Verfassung im Vordergrund steht, als Anknüpfungspunkt für eine vergleichende Betrachtung dar.
1
Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 189 und 193; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 66; Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (293); von Mutius, Jura 1987, S. 534 (535). Stern (Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 189) weist daraufhin, daß der Ausdruck abstrakte Normenkontrolle erstmals von Friesenhahn in dem 1932 erschienenen Handbuch des Deutschen Staatsrechts (Bd. II, S. 523 u. 526) benutzt wurde. Es ist aber nicht zu verkennen, daß Walter Jellinek bereits im Jahre 1925 in Art. 13 Abs. 2 WRV eine abstrakte Feststellung der Gültigkeit einer Rechtsnorm im Verhältnis zwischen Reichsrecht und Landesrecht gesehen hat (Der Schutz des öffentlichen Rechts, VVDStRL 2 (1925), S. 41 -42). Auch Flad (Verfassungsgerichtsbarkeit und Reichsexekution, S. 42) sprach damals von einer Vereinbarkeitsprüfung „in abstracto".
16
Α. Einführung
Zunächst gilt es aber, einen Überblick über die Einrichtungen, Zuständigkeiten und die Geschichte beider Gerichtshöfe zu gewinnen. Anschließend soll der Werdegang beider Verfahren und deren Bedeutung sowohl für die deutsche als auch für die brasilianische Verfassungsordnung betrachtet werden. Die dabei gewonnenen Ergebnisse können für die Untersuchung beider abstrakter Normenkontrollverfahren im Hinblick sowohl auf ihre Zulässigkeitsvoraussetzungen als auch auf die unterschiedlichen Entscheidungsformen hilfreich sein.
Β. Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal I. Institution und Geschichte beider Gerichtshöfe 1. Bundesverfassungsgericht a) Einrichtung Das Grundgesetz erwähnt in seinem Art. 92 das Bundesverfassungsgericht als einen Träger der rechtsprechenden Gewalt. Die Regelung der Verfassung des Gerichts und des Verfahrens hat das Grundgesetz in Art. 94 Abs. 2 S. 1 dem Gesetzgeber überlassen. Dieser hat von der Ermächtigung durch das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 (BVerfGG) Gebrauch gemacht. Das Bundesverfassungsgericht besteht gemäß § 2 BVerfGG aus zwei Senaten mit je 8 Richtern, die nach Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG und § 5 BVerfGG jeweils zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt werden. Nach Art. 94 Abs. 1 S. 1 GG besteht das Bundesverfassungsgericht „aus Bundesrichtern und anderen Mitgliedern". Beide Senate sind einander gleichgeordnet, jeder Senat ist „Das Bundesverfassungsgericht" Κ Die Zuständigkeiten der Senate sind in § 14 BVerfGG festgelegt. Das BVerfGG sieht aber in § 14 Abs. 4 BVerfGG vor, daß im Falle der Überbelastung eines Senats das Plenum des Bundesverfassungsgerichts abweichende Regelungen beschließen kann, um wieder eine gleichmäßige Auslastung der Senate zu erreichen 2. Für die Vorprüfung von Verfassungsbeschwerden (§§ 93b, 93c BVerfGG) gibt es bei jedem Senat mehrere Kammern, gebildet aus jeweils drei Richtern (§ 15 a BVerfGG). Wie bei anderen Gerichten gibt es beim Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit der Ausschließung und Ablehnung eines Richters. Ein Richter kann gem. § 19 BVerfGG auf Antrag wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, ι BVerfGE 1, 14 (29); 1, 89 (90); 2, 79 (95); Vgl. auch Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 25; Roellecke, Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge, S. 665 (667). 2 Das ist schon geschehen. Vgl. ζ. B. den Beschluß vom 6.10.1982, BGBl. 1, S. 1735; dazu auch Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 350 ff.; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 34. 2 Mendes
18
Β. Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
wenn irgendein Grund vorliegt, der Anlaß zu Mißtrauen gegen seine Unparteilichkeit gibt 3 . Das Bundesverfassungsgericht wendet indes § 19 BVerfGG bei dem Verfahren der Normenkontrolle nach Richtervorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 GG nicht an. Das Gericht geht davon aus, daß das „ objektive " Verfahren der konkreten Normenkontrolle überhaupt keine Prozeßbeteiligten kennt und daher in diesem Verfahren kein Raum für ein Ablehnungsverfahren ist 4 . Auch ein bloß nach § 77 BVerfGG Äußerungsberechtigter kann im abstrakten Normenkontrollverfahren keinen Ablehnungsantrag stellen5. Die Möglichkeit der Vertretung von Richtern des einen Senats durch Richter des anderen ist in § 15 BVerfGG für den Fall vorgesehen, daß etwa wegen längerer Erkrankung mehrerer Richter in einem Verfahren von besonderer Dringlichkeit der Senat nicht beschlußfähig ist. Gemäß § 15 Abs. 2 BVerfGG wird durch das Los bestimmt, welcher Richter die Vertretung im anderen Senat übernehmen soll. Eine entsprechende Regelung ist vorgesehen, wenn das Bundesverfassungsgericht die Ablehnung oder Selbstablehnung eines Richters für begründet erklärt hat. Auch hier wird gemäß § 19 Abs. 4 BVerfGG ein Richter des anderen Senats durch das Los als Vertreter bestimmt. Diese Regelung zielt darauf ab, Befangenheitsanträgen zu begegnen, die mit Berechnung die Zusammensetzung eines Senats zu beeinflussen versuchen 6. Die Verwaltung des Gerichts sowie die Dienstaufsicht und das Haushaltsrecht sind nicht gesetzlich geregelt. Im Jahre 1975 hat sich das Bundesverfassungsgericht eine Geschäftsordnung gegeben, die Bestimmungen über die Organisation und Verwaltung des Gerichts sowie verfahrensergänzende Vorschriften enthält7. Eine ausdrückliche Rechtsgrundlage für den Erlaß einer solchen Geschäftsordnung wurde erst am 1.1.1986 mit der in § 1 Abs. 3 BVerfGG eingefügten Bestimmung vorgesehen8. In der Begründung des Regierungsentwurfs heißt es, einer formellen gesetzlichen Ermächtigung bedürfe es hierzu von Rechts wegen nicht, da die Geschäftsordnungsautonomie sich aus dem Status des Bundesverfassungsgerichts als oberstem Verfassungsorgan ergebe; gleichwohl erscheine eine deklaratorische Regelung angezeigt, weil einzelne Vorschriften des Gesetzes ausdrücklich auf die Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts verweisen 9.
3 Vgl. BVerfGE 20, 1 (5); Vgl. auch 20, 9 (14); 32, 288 (290); 35, 171 (172); 43, 126 (127); 72, 296 (297); 73, 330 (335). 4 BVerfGE 46, 34 (36); Vgl. auch Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 41; Kritisch dazu Klein, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 19, RdNr. 10. 5 BVerfGE 1, 66 (68); Vgl. auch BVerfGE 46, 34 (36 ff.) 6 Vgl. dazu Wöhrmann, G., Reformvorschläge zum Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: FS W. Zeidler, Bd. 2, S. 1343 (1355). 7 Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts vom 2. September 1975 (BGBl. I S. 2515); Vgl. dazu Ritterspach, Theodor, EuGRZ 1976, S. 57-60. s Vgl. BT-Drucks. 10/2951. S. 8. 9 Vgl. BT-Drucks. 10/2951. S. 8.
I. Institution und Geschichte beider Gerichtshöfe
19
Die „Richter des Bundesverfassungsgerichts" müssen nach § 3 Abs. 2 BVerfGG mindestens 40 Jahre alt sein und die Befähigung zum Richteramt haben10. Die Altersgrenze ist das 68. Lebensjahr. Drei Richter jedes Senats werden gemäß Art. 94 Abs. 1 S. 1 GG; § 2 Abs. 3 BVerfGG aus der Reihe der Bundesrichter der anderen Bundesgerichte gewählt . Während die vom Bundesrat gemäß § 7 BVerfGG gewählten Richter durch direkte Wahl berufen werden, bei welcher die Stimmen jedes Landes nur einheitlich abgegeben werden können, sieht § 6 Abs. 1 BVerfGG für die Richter, die von dem Bundestag gewählt werden, eine indirekte Wahl durch zwölf Wahlmänner vor, ausgewählt nach den Regeln der Verhältniswahl. Die für die Dauer einer Wahlperiode gewählten Wahlmänner sind nicht abrufbar 11. Die Forderung einer Zweidrittelmehrheit (bis 1956 Dreiviertelmehrheit) zwingt zu einem breiten Konsens der beiden großen Volksparteien 12. Die Erfahrung mit Verzögerungen bei den Richterwahlen hat den Gesetzgeber dazu veranlaßt, dem Bundesverfassungsgericht ein außerordentliches Vorschlagsrecht einzuräumen, wenn innerhalb von zwei Monaten nach dem Ablauf der Amtszeit oder dem vorzeitigen Ausscheiden eines Richters kein Nachfolger gewählt worden ist und der Älteste der Wahlmänner oder der Präsident des Bundesrats das Bundesverfassungsgericht zu Vorschlägen aufgefordert hat (§ 7a BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat bisher von dem gesetzlichen Auftrag, der die Entscheidungsfreiheit des Wahlorgans nicht einschränkt, nur zurückhaltend Gebrauch gemacht13. Die Ernennung des gewählten Richters erfolgt durch den Bundespräsidenten, dessen Akt hier, wie von der Lehre überwiegend angenommen wird, lediglich deklaratorische Bedeutung hat 14 . Die Richter des Bundesverfassungsgerichts werden für eine Amtsperiode von 12 Jahren, längstens bis zur Altersgrenze, gewählt. Eine Wiederwahl ist gemäß § 4 BVerfGG ausdrücklich ausgeschlossen. Nach § 4 BVerfGG von 1951 waren
10 Bei den Beratungen über das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgerichtsgesetz wurde die Möglichkeit erwähnt, die Richterbank des BVerfG auch mit Laienbeisitzern zu besetzen. Vgl. dazu Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 26. 11 S. über Zusammensetzung des Ausschusses und zur Qualifikation der Mitglieder: Billing, Werner, Das Problem der Richterwahl, S. 166 ff; Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, S. 18; Geck, Wahl und Status der Bundesverfassungsrichter, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, S. 697 (702). 12 Geck, Wahl und Status der Bundesverfassungsrichter, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, S. 697 (702); Schiaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981), S. 99 (142). 13 Vgl. dazu Geck, Wahl und Status der Bundesverfassungsrichter, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, S. 697 (703-704). 14 Vgl. dazu Geck, Wahl und Status der Bundesverfassungsrichter in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 1987, S. 697 (705); Leibholz / Rupprecht, BVerfGG, § 10, Köln, S. 28; Lechner, BVerfGG, § 10, S. 76. 2*
2 0 Β .
Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
vier Richter (von damals zwölf) jedes Senats aus den Richtern an den oberen Bundesgerichten für die Dauer dieses Amtes, d.h. bis zum 68. Lebensjahr, zu wählen, die anderen Richter für acht Jahre. Bei den Richtern auf Zeit bestand die Möglichkeit der Wiederwahl. Seit 1970 gibt es nur noch Bundesverfassungsrichter auf Zeit mit einer Amtszeit von grundsätzlich zwölf Jahren, längstens bis zum 68. Lebensjahr 15. Hinsichtlich der Richterbesetzung hat sich eine Praxis entwickelt, die dazu geführt hat, daß Kandidaten der politischen Parteien in einem Verhältnis, das der Bedeutung der Parteien entspricht, berücksichtigt werden 16 . Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts und dessen Stellvertreter werden gemäß § 9 Abs. 1 BVerfGG im Wechsel von Bundestag und Bundesrat gewählt. Die Amtsdauer ist aber gesetzlich nicht besonders geregelt. Es wird in der Lehre allgemein davon ausgegangen, daß sie mit der Richtertätigkeit endet 17 . Gemäß § 15 Abs. 3 S. 2 BVerfGG entscheidet das Bundesverfassungsgericht mit der Mehrheit der an den Entscheidungen mitwirkenden Mitgliedern des Senats18. Nach § 15 BVerfGG ist jeder Senat beschlußfähig, wenn von den acht Richtern mindestens sechs anwesend sind. Es ist nicht ausgeschlossen, daß es zur Stimmengleichheit kommen kann. In diesem Falle kann gemäß § 15 Abs. 2 S. 3 BVerfGG ein Verstoß gegen das Grundgesetz oder sonstiges Bundesrecht nicht festgestellt werden 19 . Seit der Änderung des BVerfGG von 1970 kann jeder Richter seine während der Beratung vertretene abweichende Meinung zu der Entscheidung oder auch nur zu deren Begründung in einem offenen Sondervotum niederlegen(§ 30 Abs. 2 S. 1 BVerfGG) 20 .
is Gesetz zur Änderung des BVerfGG vom 21.12.1970, BGBl. I, S. 1765. 16 Schiaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981), 1981, S. 99 (142); Böckenförde, Verfassungsfrage der Richterwahl, 1974, S. 106. 17 Leibholz/Rupprecht, BVerfGG, §9; Klein , in: Maunz u.a., BVerfGG, §9, RdNr. 5. 18 Es gibt Ausnahmefälle, in denen eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich ist (BVerfGG §§ 15 Abs. 2, S. 2). Qualifizierte Mehrheiten sind auch in anderen Fällen erforderlich: Zurückweisung eines unzulässigen oder offensichtlich unbegründeten Antrags (§ 24 BVerfGG), Erlaß einer einstweiligen Anordnung in Eilfällen (§32 Abs. 5 BVerfGG), Nichtannahmebeschlüsse der Dreierausschüsse (§ 93 a Abs. 2 BVerfGG) und in Fällen der Dienstenthebung und Entlassung eines Bundesverfassungsrichters (§ 105 Abs. 4 und 5 BVerfGG). 19 Stimmengleichheit bei der Entscheidung über die Zulässigkeit des Antrags führt zu dem Ergebnis der Unzulässigkeit (BVerfGE 60, 360 (397). 20 Vgl. dazu u. a. Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, S. 65 ff.
I. Institution und Geschichte beider Gerichtshöfe
21
b) Geschichte Im Gegensatz zu verschiedenen anderen Ländern hat die Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland eine nur langsame Entwicklung genommen. Die Idee einer Staatsgerichtsbarkeit zum Schutz der Verfassung reicht aber in das frühe 19. Jahrhundert zurück. Sie fand ihren Eingang in das deutsche Verfassungsrecht ausgehend von dem Gedanken einer besonderen Gewähr oder Garantie der Verfassung 21. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation waren Reichskammergericht und Reichshofrat für die unter den Reichsständen entstandenen Streitigkeiten zuständig. Sie hatten auch die Befugnis, die reichsunmittelbaren Städte gegen Übergriffe der Territorialgewalten zu schützen. Beide Institutionen wirkten bis zu ihrer Auflösung als Schranke gegen die Macht der Reichsstände und als Schutz ihrer Untertanen 22. Preußen und Österreich hatten sich auf dem Wiener Kongreß auf die Einrichtung eines Bundesgerichts mit Zuständigkeit für Streitigkeiten der Bundesglieder untereinander und Beschwerden ihrer Bürger wegen Verletzung der Landesverfassung geeinigt. Hierin kam die Absicht zum Ausdruck, ein Gericht mit Kompetenz für die Entscheidung staatsrechtlicher Fragen auszustatten23. Dies scheiterte aber am Widerstand der süddeutschen Staaten24. Die Paulskirchenverfassung (1849) enthielt den ersten konkreten Entwurf einer Verfassungsgerichtsbarkeit 25. Dieser entsprach den zentralistischen Tendenzen, so daß der Schutz der Verfassungsordnung vornehmlich dem Reichsgericht anvertraut wurde 26 . Da diese Verfassung nicht in Kraft trat, wurde das Verfassungsgericht nicht Rechtswirklichkeit. In den Entwürfen zur Verfassung des Norddeutschen Bundes hat Bismarck die Möglichkeit der Anrufung eines Obersten Bundesgerichts durch eine dem 21 Scheuner, Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 1 (4); Vgl. auch Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 100. 22 Scheuner, Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 13; Hoke, Verfassungsgerichtsbarkeit in den deutschen Ländern, in: Starck, und Stern, Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Bd. I, S. 25 (33). 23 Scheuner, Überlieferung der Deutschen Staatsgerichtsbarkeit, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 1 (20). 24 Scheuner, Überlieferung der Deutschen Staatsgerichtsbarkeit, in: BVerfG und GG, Bd. I, Bd. I, S. 1 (13). 25 Scheuner, Überlieferung der Deutschen Staatsgerichtsbarkeit, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 1 (29). 26 Scheuner, Überlieferung der Deutschen Staatsgerichtsbarkeit, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 1 (29); Vgl. auch Faller, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Frankfurter Verfassung vom 28. März 1849, FS W. Geiger, 1974, S. 827 (841 ff.); Hoke, Verfassungsgerichtsbarkeit in den deutschen Ländern in: Starck / Stern, Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Bd. I, S. 25 (53); Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, S. 8.
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Β. Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
Bundesrat anvertraute politische Konfliktlösung ersetzt 27. Diese Lösung wurde in der Verfassung von 1871 verankert. Hierin wurde dem Bundesrat die Aufgabe zugewiesen, Streitigkeiten unter Bundesgliedern nach Anrufung eines Teiles von ihnen hin zu klären (Art. 76). Die Weimarer Verfassung von 1919 sah mit dem Staatsgerichtshof eine echte gerichtliche Instanz für die Entscheidung von Verfassungstreitigkeiten in den Ländern und für föderale Konflikte unter den Ländern sowie zwischen ihnen und dem Reich vor 2 8 . Sie bestimmte in Art. 19, daß der Staatsgerichtshof für Entscheidungen von Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes, in dem kein Gericht zu deren Erledigung bestand, zuständig war, soweit nicht ein anderer Gerichtshof dazu befugt war. Er war ebenfalls für Streitigkeiten nichtprivatrechtlicher Art zwischen den Ländern zuständig. Es wurde ihm auch die Kompetenz zuerkannt, Streitigkeiten nichtprivatrechtlicher Art zwischen Reich und Ländern zu entscheiden (Art. 19 WRV). Die in Art. 13 Abs. 2 WRV vorgesehene Überprüfung der Vereinbarkeit des Landesrechts mit dem Bundesrecht auf Antrag der Reichsregierung oder einer Landesregierung wurde indes dem Reichsgericht und dem Finanzhof anvertraut (Gesetze vom 8.4.1920 und vom 30.3.1920) 29 . Zu einer Konzentration der Verfassungsgerichtsbarkeit auf den Staatsgerichtshof ist es nicht gekommen, da von den vier Hauptgebieten der verfassungsrechtlichen Judikatur (Verfassungsstreitigkeiten innerhalb der Länder, Ministeranklage, föderale Fragen und Normenkontrolle im Verhältnis von Reichsrecht zu Landesrecht) nur die drei ersten aufgrund von Art. 19 und 59 WRV dem Staatsgerichtshof zugewiesen wurden 30 . In den Anfängen der Weimarer Republik war umstritten, ob ein inzident richterliches Prüfungsrecht bestand. Unbestritten war bereits damals die Zulässigkeit der gerichtlichen Überprüfung der Vereinbarkeit von Landesrecht mit Reichsrecht (Art. 13 WRV), der Verfassungsmäßigkeit des vorkonstitutionellen Rechts sowie die Überprüfung der Gesetz- und Verfassungsmäßigkeit von Verordnun-
27 Vgl. Binding, Karl, DJZ 1899, S. 69 (72), der den Bundesrat als Richter als ein „welthistorisches Unikum" bezeichnete; S. auch Triepel, Reichsaufsicht, S. 70; S. auch Scheuner, Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 1 (37). 28 Scheuner, Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit, in: BverfG und GG, Bd. I, S. 1 (44-45). 29 RGBl. S. 510 und 2117; Vgl. dazu auch Triepel, Streitigkeiten, S. 66. Das Landessteuergesetz vom 30.3.1920 hat den Finanzhof für zuständig erklärt, bei Streitigkeiten zwischen dem Reichsfinanzminister und einer Landesregierung über die Frage zu entscheiden, ob landesrechtliche Steuervorschriften mit dem Reichsrecht vereinbar sind (§ 6 Abs. 1). S. dazu unten B, //, 2, a, bb. 30 Vgl. dazu Triepel, Streitigkeiten, S. 36 ff., 46 ff.; S. auch Hoke, Verfassungsgerichtsbarkeit in den deutschen Ländern, Bd. I, S. 25 (81).
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gen 31 . Das inzidente richterliche Prüfungsrecht ist aber erst mit dem Urteil des Reichsgerichts vom 4.11.1925 anerkannt worden 32 . Die Staatsgerichtsbarkeit der Weimarer Verfassung wies, wie von der Kritik gezeigt wurde, Lücken auf 33 . Der 33. Deutsche Juristentag (1924) verlangte die Ausdehnung der Zuständigkeit des Staatsgerichtshofes auf Verfassungsstreitigkeiten des Reichs 34 . Bei der dritten Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer hat Walter Jellinek festgestellt, daß die Entwicklung zur österreichischen, auch in der Tschechoslovakei angenommenen Lösung neigte, wonach die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes dem Staatsgerichtshof vorzubehalten wäre 35 . Da die Ausdehnung der Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs auf Verfassungsstreitigkeiten angestrebt würde und auch sonstige Anzeichen einer abstrakten Feststellung der Gültigkeit von Rechtsnormen sich bemerkbar machten, dürfte die österreichische Regelung die Entwicklungsrichtung angeben36. Der Kölner Juristentag (1926) hatte einen Entwurf betreffs Änderung des Art. 19 WRV, der dem Staatsgerichtshof die Zuständigkeit zuwies, Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung der Reichsverfassung zu entscheiden, und einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen dem Staatsgerichtshof anvertraute 37. In Übereinstimmung mit diesem Vorschlag legte die Reichsregierung im Jahre 1926 dem Reichstag einen Entwurf vor, durch den das richterliche Prüfungsrecht geregelt und die endgültige Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit von Reichsgesetzen beim Staatsgerichtshof monopolisiert werden sollte 38 . Dieser Vorschlag, der neben der Verstärkung der Normenkontrolle eine Tendenz zur Vereinheitlichung der Verfassungsgerichtsbarkeit erkennen ließ 39 , hat keine praktische Bedeutung mehr gewinnen können 40 .
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Anschütz, Verfassung des Deutschen Reichs, S. 371, 476. 32 RGZ 111 (1925), S. 320 ff. (323). 33 Vgl. dazu Stem, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, S. 9. 34 Vgl. dazu Jellinek, W., Das Verfassungsrecht auf dem 33. Deutschen Juristentag, AöR NF Bd. 7, S. 351 (353). 35 Jellinek, W., Der Schutz des öffentlichen Rechts, VVDStRL (1925), S. 8 (38). 36 Jellinek, W., Der Schutz des öffentlichen Rechts, VVDStRL (1925), S. 8 (38). 37 Verhandlungen des 34. Deutschen Juristentags (1926), S. 192 (194 ff.). S. dazu auch unten Β, II, 2, a, cc. 38 Vgl. Verhandlungen des Reichstages, III. Wahlperiode, Drucksache Nr. 2855, Bd. 412; Zum Vorentwurf, S. femer Külz, DJZ 1926, S. 837 ff; Löwenthal, DJZ 1927, S. 1234. S. dazu unten Β, II, 2, a, cc. 39 Vgl. Verhandlungen des 34. Juristentags (1926) S. 193 ff.; S. auch Jellinek, W., Der Schutz des öffentlichen Rechts durch ordentliche und durch Verwaltungsgerichte, VVDStRL 2 (1925), S. 8 (38, 40, 41); S. auch Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 101. S. dazu unten Β, II, 2, a, cc. 40 Scheuner, Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 1 (47).
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In der Diskussion über die Erweiterung der Kompetenz des Staatsgerichtshofs wurde daher nicht nur die Einführung einer Kontrolle des Gesetzgebers41, sondern auch die Beseitigung des vom Reichsgericht in Anspruch genommenen Prüfungsrechts berücksichtigt 42. Der „Entwurf eines Grundgesetzes" des Herrenchiemseer Konvents enthielt bereits eine Konzeption zur Errichtung eines Bundesverfassungsgerichts 43. Im Parlamentarischen Rat hat sich zunächst der „Ausschuß für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege " dem Ausbau des Verfassungsgerichts gewidmet. Nach eingehenden Diskussionen entschied sich der Parlamentarische Rat für ein selbständiges Bundesverfassungsgericht, das in den neunten Abschnitt — die Rechtsprechung — eingeordnet worden ist 44 . Damit wurde der Vorschlag abgelehnt, der ein Oberstes Bundesgericht vorsah, das sowohl Bundesverfassungsgericht als auch oberstes Rechtsmittelgericht sein sollte 45 . Ob die Alliierten Einfluß auf die Entscheidung über die Errichtung des Bundesverfassungsgerichts ausgeübt haben, wie von Ridder angenommen wird 4 6 , ist nicht klar 47 . Die teilweise negative Bewertung der Weimarer Verfassung durch den Parlamentarischen Rat hat die Entscheidung für den Ausbau einer Verfassungsgerichtsbarkeit stark beeinflußt 48.
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Verhandlungen des 34. Deutschen Juristentags (1926), S. 193 ff. S. insbesondere die Positionen von Anschütz und Mende, in: Verhandlungen des 34. Deutschen Juristentags (1926), S. 209, 216-217; Vgl. auch Jellinek, W., Der Schutz des öffentlichen Rechts, VVDStRL, 2 (1925), S. 8 (38 ff.); Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 101. 43 S. Art. 97-100 des „Entwurfs" in: Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, 1948, S. 75; Vgl. dazu auch Säcker, Verfassungsgerichtsbarkeit in Herrenchiemsee, FS W. Zeidler, Bd. I, S. 265 (269); Stern, Staatsrecht, Bd. II, S.330 ff; Ders. Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, S. 8. 44 Nach dem Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses sollte die Formulierung der rechtsprechenden Gewalt so lauten: „Die rechtsprechende Gewalt wird durch das Oberste Bundesgericht, das Bundesverfassungsgericht, durch die im Grundgese vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt Auf Anregung von Carlo Schmid stellte der Rechtspflegeausschuß die Worte „Oberstes Bundesgericht" und „Bundesverfassungsgericht" um, um anzudeuten, daß dem BVerfG als „politisch akzentuiertem Gericht" die „höchste" Dignität zukam (Vgl. dazu, Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit im politischen Prozeß, S. 60). 45 Vgl. Parlamentarischer Rat, Schriftlicher Bericht über Die Rechtsprechung, Drucksache, 850/854, S. 43 (48); S. auch Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit im politischen Prozeß, S. 58-59. 4 6 Ridder, H., In Sachen Opposition: Rudolf Arndt und das Bundesverfassungsgericht, FS Arndt, S. 323 (333), meint, die Allierten hätten nur wegen der Verfassungsgerichtsbarkeit auf ein Vetorecht in der deutschen Gesetzgebung verzichtet (ohne nähere Belege). 47 Vgl. dazu Dolzer, Stellung des Bundesverfassungsgerichts, S. 28. 48 Vgl. dazu Dolzer, Stellung des Bundesverfassungsgerichts, S. 29. Dolzer hebt hervor, daß in der Diskussion im Parlamentarischen Rat um die Verfassungsgerichtsbarkeit der oft zitierte Satz des Abgeordneten Süsterhenn fiel: „Wir haben keine Angst vor der . . . Gefahr einer sogenannten justizförmigen Politik". 42
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Es wird die Auffassung vertreten, daß Kelsens Konzeption der Verfassungsgerichtsbarkeit, wie sie in seinen Schriften während der Weimarer Zeit zum Ausdruck kam, Eingang in das Grundgesetz gefunden habe 49 . Diese Konzeption sah im einzelnen die Errichtung eines speziellen Verfassungsgerichts, die Einräumung des Antragsrechts im abstrakten Normenkontrollverfahren für eine qualifizierte Minderheit, die Ausstattung bestimmter Entscheidungen des Verfassungsgerichts mit Gesetzeskraft sowie die später im BVerfGG vorgesehene Veröffentlichung der Entscheidungen des Gerichts im Gesetzesblatt vor 5 0 . Ein direkter Einfluß Kelsens geht allerdings aus den Materialien zum Grundgesetz nicht hervor 51 . Gegenüber der These, daß Kelsens Konzeption Einfluß auf die Errichtung des Bundesverfassungsgerichts ausgeübt habe, ist daraufhinzuweisen, daß die Veröffentlichung der Entscheidung im Gesetzesblatt sowie die Ausstattung bestimmter Entscheidungen eines Staatsgerichtshofs mit Gesetzeskraft einer in die Zeit vor Kelsen zurückreichenden deutschen Verfassungstradition entspricht. Bereits der Gesetzesentwurf zur Ausführung der Erfurter Unionsverfassung von 1850 52 sah im § 217 53 vor, daß, wenn auf die Klage eines Einzelstaats gegen Reichsgewalt erkannt worden ist, die Reichsverfassung durch Erlaß eines Reichsgesetzes verletzt wurde, das Erkenntnis im Reichsgesetzblatt bekannt zu machen sei. Das Erkenntnis erhielt durch die Bekanntmachung „die Kraft eines Reichsgesetzes" und bewirkte die sofortige Aufhebung derjenigen Bestimmungen, welche das Erkenntnis als die Reichsverfassung verletzend bezeichnet54. Ebenso verlieh § 223 55 dieses Gesetzes der Entscheidung des Reichsgerichts bei Streitigkeiten zwischen der Regierung eines Einzelstaats und dessen Volksvertretung über die Gültigkeit oder Auslegung der Landesverfassung „ die Eigenschaft eines Landesverfassungsgesetzes oder einer authentischen Interpretation desselben" 56. 4
9 Vgl. Dolzer, Stellung des Bundesverfassungsgerichts, S. 31. so Vgl. dazu Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 30 (51, 53, 70, 75, 77 ff.). 51 Vgl. dazu Dolzer, Stellung des Bundesverfassungsgerichts, S. 38; Über die Bedeutung des österreichischen Modells in der Diskussion über die Erweiterung der Kompetenz des Staatsgerichtshofs, S. Jellinek, W., Schutz des öffentlichen Rechts, VVDStRL (1925), S. 8 (38-41); Mende, Referat anläßlich des 34. Deutschen Juristentags (1926), Verhandlungen . . . (1926), S. 213 (216); Vgl. auch Begründung des Regierungsentwurfs vom 11.12.1926 „ über die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften des Reich rechts" (Reichstag II, Drucksache Nr. 2855, S. 4). S. dazu unten B, II, 2, a, bb. 52 Vgl. dazu Triepel, Reichsaufsicht, S. 65 ff.; Flad, Verfassungsgerichtsbarkeit und Reichsexekution, S. 48. 53 Abgedruckt in: Triepel, Reichsaufsicht, S. 67, Anm. 2. 54 Vgl. dazu Triepel, Reichsaufsicht, S. 67, Anm. 2; Flad, Verfassungsgerichtsbarkeit und Reichsexekution, S. 48-49; a. A. offenbar: Dolzer, Stellung des Bundesverfassungsgerichts, S. 31. 55 Abgedruckt in: Triepel, Reichsaufsicht, S. 67, Anm. 2. 56 Vgl. dazu Triepel, Reichsaufsicht, S. 67, Fn. 2; Flad, Verfassungsgerichtsbarkeit und Reichsexekution, S. 49; Vgl. auch § 3 des Gesetzes zur Ausführung des Art. 13 Abs. 2 WRV vom 8.4.1920 (RGBl. 510); S. femer Triepel, Streitigkeiten, S. 112; An-
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Ein Einfluß ging vom amerikanischen Supreme Court aus, dessen Modell die Diskussion im Parlamentarischen Rat stark geprägt hat. So hat Walter Strauss in einer Denkschrift detaillierte konkrete Vorschläge zur Errichtung eines Obersten Bundesgerichts gemacht, die stark am amerikanischen Obersten Gerichtshof orientiert waren und Beachtung gefunden haben57. Bereits auf der Konferenz in Herrenchiemsee haben verschiedene Teilnehmer auf das amerikanische Vorbild verwiesen 58. Dieser amerikanische Einfluß läßt sich nicht in Einzelheiten* des Herrenchiemseer Entwurfs und der im Parlamentarischen Rat ausgearbeiteten Vorschläge feststellen, doch in der Idee einer stark ausgebauten Verfassungsgerichtsbarkeit, die von einem mit umfassenden Kompetenzen versehenen Verfassungsgericht ausgeübt werden sollte 59 . Das im Grundgesetz vorgesehene Bundesverfassungsgericht wurde erst zwei Jahre nach der Konstituierung der Bundesorgane errichtet, und zwar durch das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 60 . Unmittelbar nach der Einrichtung des Gerichts begann der Kampf des Bundesverfassungsgerichts um seinen neuen Status61. Die unzureichenden Regelungen verschiedener Organisationsfragen führten dazu, daß das Bundesverfassungsgericht am 21.3.1952 eine Denkschrift an die Obersten Bundesorgane übersandte, in der es auf seine Qualitäten sowohl als einer echten richterlichen Körperschaft wie auch als eines mit höchster Autorität ausgestatteten Verfassungsorgans hinwies 62 und seine Forderungen nach einer Veränderung des bestehenden Zustands formulierte 63 . Die Berechtigung der gestellten Forderungen wurde von Thoma in einem Gutachten für die Bundesregierung bestritten 64. Die Einwände gegen die Denkschrift haben indes nicht verhindert, daß das Gericht sich mit seinen Forderungen durchgesetzt hat 65 . Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts haben von Anfang an großen Einfluß auf das politische Leben der Bundesrepublik Deutschland gehabt.
schütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 107; Jellinek, W., Der Schutz des öffentlichen Rechts, VVDStRL (1925), S. 8 (43 ff.). S. auch dazu unten B, II, 2, a, bb. 57 Dolzer, Stellung des Bundesverfassungsgerichts, S. 38; Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit im politischen Prozeß, S. 40-41. 58 Vgl. dazu Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, Plenarsitzungen, in: Bucher, P., Der Parlamentarische Rat, 1948-49, Akten und Protokolle, Bd. 2, S.S. 53 (76) Dolzer, Stellung des Bundesverfassungsgerichts, S. 38. 59 Vgl. Parlamentarischer Rat, Schriflicher Bericht über die Rechtsprechung, Druchsache 850/854, S. 43 (47); Dolzer, Stellung des Bundesverfassungsgerichts, S. 38. 60 BGBl. I S. 531. 61 Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit im politischen Prozeß, S. 278. 62 Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts, JöR 6 (1953), S. 144 (145). 63 Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts, JöR 6, S. 144 (148). 64 Thoma, Gutachten für die Bundesregierung, JöR Bd. 6 (1953), S. 161 (166). 65 Dolzer, Stellung des Bundesverfassungsgerichts, S. 49; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 20. Vgl. dazu oben Β, I, 1, a.
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Es ist schwierig, ein Gebiet des öffentlichen Lebens zu benennen, das nicht durch seine Rechtsprechung beeinflußt worden ist. Nicht selten steht das Gericht im Mittelpunkt kritischer Diskussionen, deren auslösende Momente bestimmte Entscheidungen des Gerichts gewesen sind 66 . Allein die exemplarischen Hinweise auf die Rechtsprechung des Gerichts zum Rundfunksystem 67, auf die Parteienrechtsprechung 68, die Volksbefragungsentscheidung 69, auf das Volkszählungsurteil 7 0 , auf das Grundlagenvertragsurteil 71, auf die Rechtsprechung über Extremisten im öffentlichen Dienst 72 , über die Hochschulpolitik 73 und die Diätenregelung 74 genügen, um das besondere Gewicht, das diese Institution dem politischen Prozeß verliehen hat, aufzuzeigen. Der politische Einfluß des Bundesverfassungsgerichts erweist sich nicht nur in den bei ihm anhängigen Verfahren. Schon während des Gesetzgebungsprozesses orientieren sich normalerweise die Abgeordneten an früheren und deshalb zu erwartenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 75. Die Orientierung der Gesetzgebung an der Rechtsprechung hat zur Folge, daß dem Bundesverfassungsgericht nicht selten die Verantwortung für eine innovations- und veränderungsfeindliche Entwicklung zugewiesen wird 7 6 . Unabhängig von den Gründen für dieses Phänomen, über die keine Einstimmigkeit herrscht 77, ist festzustellen, daß das politische System der Bundesrepublik Deutschland, wie es sich heute darstellt, ohne das Bundesverfassungsgericht unvorstellbar wäre 78 . 66 Vgl. Vogel, H.-J., DöV 1978, S. 665 ff. 67 BVerfGE 12, 205; 57, 295. 68 Z. B. BVerfGE 1, 208; 7, 99; 8, 51; 20, 56; 24, 300; 52, 63. 69 BVerfGE 8, 104, 122. 70 BVerfGE 65, 1. 71 BVerfGE 36, 1. 72 BVerfGE 39, 334. 73 BVerfGE 33, 303; BVerfGE 36,37; BVerfGE 37,104; BVerfGE 39,258; BVerfGE 40, 352; BVerfGE 42, 103; BVerfGE 43, 34; BVerfGE 42, 291; BVerfGE 49, 191; BVerfGE 49,378; BVerfGE 50,37; BVerfGE 51,130; BVerfGE 59,1; BVerfGE 59,172. 74 BVerfGE 40, 296 (314). 75 Starck, Das Bundesverfassungsgericht im politischen Prozeß der BRD, S. 16; Jekewitz, Der Staat, 19 (1980), S. 535 (547); Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, S. 52 ff. und 83 ff.; Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, S. 117. 76 Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, S. 86. 77 Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, S. 11 ff.; Hoffmann-Riem, W., Der Staat, 1980, S. 335 (358ff.); Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 105 ff. und 147 ff.; Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, S. 86; Vogel, H.-J., DöV 1978, S. 665 ff. Vgl. dazu Kimminich, Verfassungsgerichtsbarkeit und das Prinzip der Gewaltenteilung, in: Kaltenbrunner, Gerd-Klaus, Auf dem Weg zum Richterstaat, S. 63 ff.; S. auch Kaltenbrunner, Die Stunde des Richters, in: Auf dem Weg zum Richterstaat, S. 8 ff.; Stem, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, S. 10; Klein, Friedrich, Bundesverfassungsgericht und richterliche Beurteilung politischer Fragen, S. 14 ff.
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c) Zuständigkeit Das Bundesverfassungsgericht ist nicht in den Instanzenzug einzelner Gerichtsbarkeiten einbezogen, sondern übt eine besondere Gerichtsbarkeit, die Verfassungsgerichtsbarkeit, aus 79 . Es soll nicht eine weitere Revisionsinstanz oder ein „Superrevisionsgericht" sein, das die Urteile anderer Gerichte in vollem Umfang auf ihre Rechtmäßigkeit nachprüft 80. Seine Zuständigkeit ergibt sich nicht aus einer Generalklausel. Es gibt auch keinen „Rechtsweg " zum Bundesverfassungsgericht 81 . Es ist zuständig für die in Art. 93 und anderen Verfassungsnormen 82 genannten Fälle und für den in § 13 BVerfGG enthaltenen Katalog (Enumerationsprinzip), der mit seinen 15 Nummern diese Zuständigkeiten aufzählt 83 . Dem Bundesgesetzgeber steht es nach Art. 93 Abs. 2 GG frei, weitere Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts zu bestimmen. Das Grundgesetz eröffnet auch in Art. 99 GG die Möglichkeit, daß ein Bundesland durch Gesetz die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts in eigenen Landesverfassungsstreitigkeiten festlegen kann 84 . Eine der bedeutendsten Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts, nämlich die Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, wurde durch den Bundesgesetzgeber in §§ 90 ff. BVerfGG eingeführt. Erst im Jahre 1969 ist die verfassungsrechtliche Gewährleistung durch Art. 93 Abs. 1 Ziff. 4a GG geschaffen 78 Dazu Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, S. 11 ff; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 147 ff.; S. auch Starck, Das Bundesverfassungsgericht im politischen Prozeß der Bundesrepublik, S. 23. 79 Das Bundesverfassungsgericht spricht in Bezug auf die anderen Gerichte in der Regel von „den Gerichten", „den anderen Gerichten", „den Instanzgerichten" oder von den „dafür allgemein zuständigen Gerichten ". Seit dem 42. Band spricht es gelegentlich von den „Fachgerichten" bzw. der „Fachgerichtsbarkeit" (BVerfGE 42, 243 (248); 65 1, (38). Vgl. dazu Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 15. 80 Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 134; Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. I, S. 53 - 54, warnt davor, daß die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde bei Anerkennung der in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden objektiv-rechtlichen Wertordnung die Gefahr in sich birgt, daß im Ergebnis die privatrechtlichen Rechtsstreitigkeiten in der Regel mit diesem Rechtsmittel angreifbar gemacht werden. Dieses Verständnis kann dazu führen, daß das Bundesverfassungsgericht in eine „Superrevisionsinstanz" umgewandelt wird. 81 Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 43. S2 Vgl. Art. 18, S. 2; 21 Abs. 2; S. 2; 41 Abs. 2; 61 Abs. 1 S. 1, Abs. 2; 84 Abs. 4 S. 2; 115 h Abs. 1 S. 3 GG. 83 Roellecke, Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, S. 665 (666); Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 976. Schleswig-Holstein ist das einzige Land der Bundesrepublik Deutschland, das auf die Einrichtung eines eigenen Landesverfassungsgerichts verzichtet und von dem Angebot des Art. 99 GG Gebrauch gemacht hat (Landessatzung, Art. 37), Dazu S. auch Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 423.
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worden. Die Verfassungsbeschwerde ist nach dem Verständnis des Gerichts kein zusätzlicher Rechtsbehelf für das Verfahren vor den ordentlichen Gerichten oder den Verwaltungsgerichten, sondern ein dem Staatsbürger eingeräumter außerordentlicher Rechtsbehelf, mit dessen Hilfe er Eingriffe der öffentlichen Gewalt in seine Grundrechte abwehren kann 85 . Neben der Verfassungsbeschwerde übt das Bundesverfassungsgericht auch die Normenkontrolle durch die sogenannten abstrakten und konkreten Normenkontrollen aus (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG; §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG; und 100 Abs. 1 GG; §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG). Das abstrakte Normenkontrollverfahren kann gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 BVerfGG auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Drittels der Mitglieder des Bundestags eingeleitet werden. Aufgrund der in Art. 100 Abs. 1 GG, §§13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG festgelegten konkreten Normenkontrolle kann nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht jedes „Gesetz", sondern grundsätzlich nur ein formelles nachkonstitutionelles Gesetz zur Überprüfung gestellt werden 86 . Vorkonstitutionelle Gesetze kommen nur in Betracht, wenn der nachkonstitutionelle Gesetzgeber sie in seinen Willen aufgenommen hat 87 . Im Rahmen dieses Verfahrens müssen die Gerichte bei ihnen anhängige Verfahren aussetzen und die Vorlage an das Bundesverfassungsgericht beschließen, wenn sie ein für die Entscheidung erhebliches Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei ihrer Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig halten. Das Bundesverfassungsgericht hat insoweit das Verwerfungsmonopol 88. Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts besteht ferner gemäß Art. 93, Abs. 1 Nr. 1, §§ 13 Nr. 5, 63-67 BVerfGG für Bundesorganstreitigkeiten und für die in Art Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 und 4, § 13 Nr. 7, und §§68 ff. genannten föderativen Streitigkeiten. Mit den Organstreitigkeiten ist die unbestrittene Bindung der Verfassungsorgane an die Verfassung auch einer direkten gerichtlichen Kontrolle zugänglich gemacht89. Streitbeteiligte können i. S. des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG und § 63 BVerfGG der Bundespräsident, der Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung sowie jeder der Abgeordneten sein, soweit er nicht selbst als Verfassungsorgan Rechte aus seinem eigenen Status, sondern die Rechte des Gesamtorgans Bundestag geltend macht oder wenn er Rechte aus seinem Status als Abgeordneter geltend machen will 9 0 . Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind die politischen Parteien (Art. 21 GG) „andere Beteiligte" i. S. des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, „wenn und soweit sie um Rechte 85 BVerfGE 18, 325. 86 BVerfGE 2, 124 ff.; BVerfGE 6, 55 (65); 18, 241 (252); Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. I, S. 192. S. dazu unten C, II, 3, a, dd. 87 BVerfGE 45, 187 (221). 88 Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 72-73. 89 Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 5. 90 BVerfGE 10, 4 (10); 2, 143 (166); 60, 374 (378); 62, 1 (32).
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kämpfen, die sich aus seinem besonderen verfassungsrechtlichen Status ergeben" 9 1 . Im Grundgesetz haben auch die Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern betreffs deren wechselseitiger Rechte und Pflichten, besonders bei der Ausführung von Bundesrecht durch die Länder und bei der Ausübung der Bundesaufsicht (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 Art. 84 Abs. 4 S. 2 GG, §§13 Nr. 7, 68 ff. BVerfGG), ihren Platz gefunden. Um eine föderative Streitigkeit geht es auch bei der Zuständigkeit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG, §§ 13 Nr. 8,71 ff. BVerfGG. Danach entscheidet das Bundesverfassungsgericht über andere öffentlich-rechtliche Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern, zwischen verschiedenen Ländern oder innerhalb eines Landes, soweit nicht ein anderer Rechtsweg gegeben ist 92 . Dem Bundesverfassungsgericht kommen noch weitere Aufgaben von Bedeutung zu wie die speziellen Verfahren zum Schutz der Verfassung — Anklage des Bundespräsidenten (Art. 61 GG; §§ 13 Nr. 4, 49-57 BVerfGG), Parteiverbotsverfahren (Art. 21, Abs. 2 GG; § 13, Nr. 2, 43-47 BVerfGG), Verwirkung bestimmter Grundrechte (Art. 18 GG; §§ 13 Nr. 1, 40-41 BVerfGG) und das Wahlprüfungsverfahren (Art. 41 Abs. 2 GG; 13 Nr. 3, 48 BVerfGG).
d) Verfahren Obwohl das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 keine vollständige Prozeßordnung enthält, kommt dem Bundesverfassungsgericht keine „Verfahrensautonomie" zu 93 . Während das BVerfGG den äußeren Verfahrensablauf regelt, wird das interne Verfahren in der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts (GO BVerfG) festgelegt 94. Das Bundesverfassungsgericht wird grundsätzlich nur auf Antrag (§ 23 Abs. 1 S. 1 BVerfGG) tätig. Die Anträge sind schriftlich einzureichen und zu begründen; die erforderlichen Beweismittel müssen angegeben werden. Es ist fraglich, ob eine Antragsrücknahme in jedem Falle das Verfahren beendet oder ob das Gericht dieses im öffentlichen Interesse fortsetzen kann 95 . Ein Anwaltszwang besteht vor dem Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nicht; nur in den mündlichen Verhandlungen müssen sich die Beteiligten durch einen Anwalt oder Hochschullehrer des Rechts vertreten lassen. Im übrigen können sie gemäß § 22 BVerfGG ihre Sache selbst vortragen. § 22 Abs. 1 S. 2 BVerfGG sieht für gesetzgebende 91 BVerfGE 1, 208 (223 f); 4, 27; 24, 260 (263); 24, 300 (329); 44, 125 (137). 92 Vgl. dazu Friesenhahn, Jura, 1986, S. 505 (507); Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 37. 93 Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 35; Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 10281029. 94 S. dazu oben B, I, 1, a. 95 Vgl. dazu Schiaich, Bundesverfassungsgericht, S. 36; Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 1031. S. über die Rücknahme des Antrags bei dem abstrakten Normenkontrollverfahren. S. dazu auch unten C, //, 2, a, bb.
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Körperschaften und ihre Teile sowie für den Bund, die Länder und ihre Verfassungsorgane vor, daß sie sich durch ihre Mitglieder bzw. ihre Beamten (wenn Volljuristen) vertreten lassen. In allen Verfahren können unzulässige oder offensichtlich unbegründete Anträge gemäß § 24 BVerfGG durch einstimmigen Beschluß des Gerichts verworfen werden. Diese „a-limine-Abweisung" bedarf keiner Begründung, wenn der Antragsteller zuvor auf die Bedenken des Gerichts hingewiesen worden ist. Diese Entscheidungsform spielt bei der Verfassungsbeschwerde keine große Rolle, da seit dem Jahre 1970 96 das besondere Annahmeverfahren nach § 93 a BVerfGG zur Verfügung steht 97 . Beteiligte im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht sind der Antragsteller bei der abstrakten Normenkontrolle und der Beschwerdeführer bei der Verfassungsbeschwerde, wobei es in beiden Verfahren keine Antrags- bzw. Beschwerdegegner gibt 98 . Bei der konkreten Normenkontrolle sind weder das vorlegende Gericht noch die Parteien des Ausgangsverfahrens Beteiligte 99 . Das BVerfGG sieht in § 82 Abs. 2 BVerfGG die Möglichkeit des Beitritts von Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung und gegebenenfalls Landtagen und Landesregierungen zu konkreten Normenkontrollverfahren vor. Bei der Verfassungsbeschwerde können gemäß § 94 Abs. 5 S. 1 BVerfGG die Verfassungsorgane, deren Handlung oder Unterlassung in der Verfassungsbeschwerde beanstandet werden, dem Verfahren beitreten. Der Beitritt verschafft die Stellung eines Verfahrensbeteiligten (Recht auf Akteneinsicht, Ladung, Zustellung von Schriftsätzen und Entscheidungen, Recht auf Stellung von Anträgen im prozessualen Sinne, Recht auf Richterablehnung) 10 °. Ferner gewährleistet das BVerfGG verschiedenen Organen und Personen ein Äußerungsrecht. Bei der konkreten Normenkontrolle dürfen sich die Beteiligten des Ausgangs Verfahrens gemäß § 82 Abs. 3 und 1 BVerfGG äußern sowie alle in § 77 BVerfGG genannten Verfassungsorgane. Es ist gemäß § 82 Abs. 4 BVerfGG auch möglich, daß das Bundesverfassungsgericht die Gerichtshöfe des Bundes oder des Obersten Landesgerichts um eine Stellungnahme ersucht. Dies kann auch in anderen Verfahren geschehen (§ 22 Abs. 3 GeschO BVerfG). Bei der Verfassungsbeschwerde hat das „ verletzende " Organ (Gesetzgeber, Regierung, Gericht u. a.) gemäß § 94 Abs. 1, 2,4 BVerfGG Gelegenheit zur Äußerung. Bei der Urteilsverfassungsbeschwerde wird gemäß § 94 Abs. 3 BVerfGG auch dem durch die Entscheidung Begünstigten Gelegenheit zur Äußerung gewährt. 96 4. Gesetz zur Änderung des BVerfGG vom 21.12.1970 (BGBl. I S. 1765), BTDrucks. VI/388. 97 Vgl. dazu Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 40. 98 Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. II, S. 176. 99 Vgl. dazu Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 37. 100 Vgl. dazu Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz u. a.: BVerfGG, § 94 RdNr. 22; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 37.
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Β. Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
Im abstrakten Normenkontrollverfahren haben der Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung und auch die Landesregierungen bei Meinungsverschiedenheiten über die Gültigkeit von Bundesrecht gemäß § 77 BVerfGG ein Äußerungsrecht. Bei Meinungsverschiedenheiten über die Gültigkeit einer landesrechtlichen Norm ist auch dem Landesparlament, der Regierung des Landes, in dem die Norm verkündet worden ist, das Äußerungsrecht zu gewährleisten. Einen Verfahrensbeitritt im abstrakten Normenkontrollverfahren sieht aber das BVerfGG nicht vor. Das Bundesverfassungsgericht hat den Beitritt einer Gruppe von Abgeordneten im abstrakten Normenkontrollverfahren als nicht statthaft erklärt, wenn sie nicht nur den gestellten Antrag unterstützen, sondern innerhalb des bereits eingeleiteten Verfahrens selbständig auftreten — was durch die Benennung eines eigenen Bevollmächtigten eindeutig ist — und somit sachlich und verfahrensmäßig nicht uneingeschränkt die gleichen Interessen und Ziele des Antragstellers verfolgen wollen 101 . Selbst wenn in einem solchen Fall der Verfahrensbeitritt mit dem Ziel beantragt wird, allein den gestellten Antrag zu unterstützen, ist es fraglich, ob dies ohne Zustimmung des ursprünglichen Antragstellers möglich ist 1 0 2 . Gemäß § 22 Abs. 4 GeschO BVerfG ist das Gericht ermächtigt, von sich aus von Persönlichkeiten, die auf bestimmtem Gebiet über besondere Kenntnisse verfügen, Gutachten zu einer für die Entscheidung erheblichen Frage einzuholen. Aufgrund von § 26 Abs. 1 BVerfGG werden Sachverständige und Verbände gehört 103 . Auch Auskünfte der Länder werden eingeholt 104 . § 66 BVerfGG, der das Organstreitigkeitsverfahren regelt, sieht vor, daß das Bundesverfassungsgericht anhängige Verfahren verbinden und verbundene trennen kann. Diese Bestimmung, die einen allgemeinen Grundsatz der Prozeßökonomie zum Ausdruck bringt, ist über den Organstreit hinaus anzuwenden, wenn dies zweckmäßig erscheint 105 . Auch eine Verbindung von Prozessen verschiede101 BVerfGE 68, 346 (347-348). 102 BVerfGE 68, 346 (348). 103 Es äußern sich ζ. B. vor dem BVerfG Bundesminister zum Mitbestimmungsgesetz (BVerfGE 50, 290 (318), Gewerkschaften zur Besteuerung der Beamtenpensionen (BVerfGE 54, 11 (23), Umweltbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Genehmigungsverfahren für Atomkraftwerke (BVerfGE 53, 30 (44), Universitätsrektoren zur Berechnung der Ausbildungskapazitäten der Hochschulen (BVerfGE 54, 173 (186), die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, die Gewerkschaften und die Bundesanstalt für Arbeit zum Gesetz über die Fristen für Kündigung von Angestellten (BVerfGE 62, 256 (263), Kinderneurologen, der Deutsche Kinderschutzbund und der Deutsche Richterbund zum Sorgerecht Geschiedener (BVerfGE 61, 358 (371), die Bundesregierung,das BSG, der DGB, die DAG, das Kommissariat der Deutschen Bischöfe, die Evangelische Frauenarbeit in Deutschland e.V., der Deutsche Hausfrauenbund e.V. sowie die Beteiligten des Ausgangsverfahrens zum Mutterschaftsgeld (BVerfGE 65, 104 (109); S. auch Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 38-39. 104 Vgl. Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 38. 105 Vgl. BVerfGE 12, 205 (223); 51, 384 (385); S. auch Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 66 RdNr. 5.
I. Institution und Geschichte beider Gerichtshöfe
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ner Verfahrensart ist angezeigt, wenn es im wesentlichen um dieselben oder um voneinander abhängige Fragen geht 106 . So wird etwa die Verbindung eines Organstreits mit einer abstrakten Normenkontrolle, die sich auf dieselbe Norm bezieht, in Betracht kommen 107 . Den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kommt wie sonstigen Gerichtsentscheidungen materielle Rechtskraft zu 1 0 8 . Über diese allgemeine, den Verfahrensgegenstand betreffende Entscheidungswirkung hinausgehend, sieht §31 Abs. 1 BVerfGG vor, daß die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts „die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden binden" 109 . Gestützt auf Art. 94 Abs. 2 GG, sieht § 31 Abs. 2 BVerfGG vor, daß die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Normenkontrollverfahren einschließlich der Normenverifikationsverfahren in Normenqualifikationsverfahren, in Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen Gesetze und im Falle des § 95 Abs. 3 S. 2 BVerfGG Gesetzeskraft haben. Alle Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht sind gemäß § 34 Abs. 1 BVerfGG kostenfrei. Bei aussichtslosen Verfassungsbeschwerden kann das Gericht gemäß § 34 Abs. 1 und 5 BVerfGG dem Antragsteller eine Mißbrauchsgebühr auferlegen 110. Das Bundesverfassungsgericht kann gemäß § 34 Abs. 3 und Abs. 4 BVerfGG auch die Erstattung der notwendigen Auslagen anordnen 1 U .
2. Supremo Tribunal Federal a) Vorbemerkung Jeder Richter oder jedes Gericht kann nach der brasilianischen Rechtsordnung ein in einem konkreten Fall anzuwendendes Gesetz für verfassungswidrig erklären. Das für verfassungswidrig erklärte Gesetz wird aber nicht vernichtet, sondern lediglich nicht angewandt. Die Entscheidung hat daher Bedeutung nur im konkreten Verfahren. Doch hat 1934 der Verfassungsgeber in Art. 90IV die Möglichkeit geschaffen, durch einen Akt des Bundessenats der Entscheidung des brasilianischen Obersten Gerichtshofs, die inzident ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt hat, Gesetzeskraft zu verleihen (Aufhebung der Ausführung des Gesetzes — Verfassung von 1988, Art. 52 X). 106 Vgl. BVerfGE 12, 205 (223); 51, 384 (385); S. auch Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 66 RdNr. 6. ιόν BVerfGE 12, 205 (223); 51, 384 (385). los BVerfGE 4, 31 (38 ff.); BVerfGE 20, 56 (86 ff.); BVerfGE 33, 199 (203). 109 Über die umstrittene Bedeutung der ΒindungsWirkung S. Vogel, K., Rechtskraft und Gesetzeskraft, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 568 (572); Sachs, Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine Entscheidungen, S. 7 und 66 ff.; Stem, Staatsrecht, Bd. II, S. 1037. 110 BVerfGE 54, 39 (42). m BVerfGE 64, 203 (204); 44, 125 (167). 3 Mendes
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Β. Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
Den wegen der Möglichkeiten widersprüchlicher Entscheidungen potentiell anarchischen Folgen eines solchen Systems 112 wird vor allem durch die sogenannte außerordentliche Berufung entgegengetreten, die gemäß Art. 102 I I I „a", „b" und „c" der Verfassung von 1988 den Parteien eines Streitgegenstands nach der letztinstanzlichen Entscheidung Zugang zum Obersten Gerichtshof gewährt, wenn behauptet wird, daß durch die Anwendung oder Auslegung eines Gesetzes die letzinstanzliche Entscheidung eine Verfassungsnorm verletzt hat. Im Jahre 1965 ist eine abstrakte Normenkontrolle eingeführt worden, die dem Bundesgeneralstaatsanwalt die Befugnis anvertraute, ein abstraktes Verfahren zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Bundes- oder Landesgesetzen vor dem Obersten Gerichtshof einzuleiten 113 . Die Verfassung von 1988 hat in Art. 103 die Antragsberechtigung erweitert, um verschiedenen Verfassungsorganen des Bundes und der Länder, politischen Parteien mit Vertretung in Nationalen Kongreß und gesellschaftlichen Organisationen ebenfalls das Antragsrecht zur Einleitung des abstrakten Normenkontrollverfahrens zu gewähren. Die Kombination der beiden Systeme gibt dem brasilianischen Obersten Gerichtshof eine besondere Position sowohl als letztinstanzlichem Organ der einzelnen Gerichtsbarkeiten, deren Tätigkeit sich hauptsächlich auf die in konkreten Rechtsstreitigkeiten diskutierten Verfassungsfragen konzentriert, als auch als einem Verfassungsgerichtshof, der unmittelbar im abstrakten Normenkontrollverfahren die Verfassungsmäßigkeit von Bundes- und Landesgesetzen am Maßstab der Verfassung überprüfen soll.
b) Einrichtung Der Oberste Gerichtshof setzt sich gemäß Art. 101 der Verfassung von 1988 aus 11 Mitgliedern zusammen, die von dem Präsidenten der Republik nach der Bestätigung des jeweiligen Kandidaten durch die absolute Mehrheit des Bundessenats ernannt werden. In der Verfassungsversammlung wurden verschiedene Vorschläge zur Änderung der Bestellung eines Richters des Obersten Gerichtshofs diskutiert 114 . Am Ende wurde die Entscheidung für die Beibehaltung des traditionellen Systems getroffen. Art. 101 der Verfassung von 1988 verlangt, daß die Richter aus Bürgern von notorischer juristischer Qualifikation und unangreifbarem Ruf im Alter von mehr als 35 Jahren und weniger als 65 Jahren ausgewählt sind. Es wird nach Art. 95 I - III der brasilianischen Verfassung gemäß der brasilianischen Verfassungstradi-
H2 Vgl. dazu Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 99. 113 Verfassungsnovelle Nr. 16, vom 12.12.1965. 114 Vgl. dazu Assembléia Nacional Constituinte, Emendas oferecidas à Comissâo de Organizaçâo dos Poderes e Sistemas de Governo, S. 213, 308, 327 und 342.
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tion den Richtern des Obersten Gerichtshofs sowie jedem anderen Richter die Unverkürzbarkeit der Gehälter, die Ernennung auf Lebenszeit und die Unversetzbarkeit gewährleistet. Die Zwangspensionierung nach Erreichung des 70. Lebensjahres ist in Art. 93 V I der Verfassung ausdrücklich festgelegt. Die Bestätigung des Richters durch den Bundessenat erfolgt nach einer ausführlichen Befragung durch die Justizkommission (Geschäftsordnung des Bundessenats Art. 384). Bis jetzt sind aber die Fälle selten, in denen dieses Organ einem vorgeschlagenen Kandidaten die Bestätigung verweigert hat. Obwohl es keine festgelegte Amtszeit für Richter des Obersten Gerichtshofs gibt, ist die durchschnittliche Amtszeit nicht länger als 8 Jahre 115 . Die Spanne zwischen den jeweiligen Amtszeiten ist aber sehr unterschiedlich, wie eine neuerliche Untersuchung über die Periode von 1946-1987 zeigt. Einige Richter haben das Amt für mehr als 20 Jahre ausgeübt und andere nicht länger als 10 Monate 116 . Diese kürzere Amtszeit ermöglicht nicht selten, daß der Präsident der Republik während seines fünfjährigen Mandats die Gelegenheit hat, dieselbe Richterstelle zweimal zu besetzen. Art. 104 der neuen Verfassung, wonach ein Richter zur Zeit seiner Ernennung das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben darf, gewährleistet keine mindestens fünfjährige Amtszeit, da ein früheres Ausscheiden aus verschiedenen Gründen möglich ist. Der Oberste Gerichtshof wird sowohl als Plenum als auch durch 2 Kammern mit jeweils 5 Richtern tätig. Einige Verfahren wie die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, einstweilige Anordnung in abstrakten Normenkontrollverfahren, Anklage gegen den Präsidenten der Republik, Minister und Abgeordnete, Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern oder einem anderen Staat oder internationalen Organisationen und dem Bund, den Ländern, dem Bundesdistrikt oder dem Bundesterritorium (Geschäftsordnung, Art. 5) gehören zum Tätigkeitsbereich des Plenums. Die aufgehobene Verfassung von 1967/69 verlieh der Geschäftsordnung des Supremo Tribunal Federal in Art. 119 Abs. 3 Gesetzeskraft. Nach dieser Vorschrift mußte die Geschäftsordnung unter anderem Regelungen über die Zuständigkeit des Plenums, die Verfassung und Zuständigkeit der Kammer und das Verfahren und die Entscheidung bezüglich seiner Erstzuständigkeit oder seiner Kompetenz als Appellationsinstanz enthalten. Das Gericht hat von dieser Befugnis Gebrauch gemacht und bereits am 16.3.1967 eine Geschäftsordnung erlassen, die Regeln über Organisation und Verfahren enthielt. Angesichts der bedeutenden Änderung der Verfassung ist eine komplette Novellierung der Geschäftsordnung am 27.10.1980 von dem Obersten Gerichtshof eingeführt worden 117 . Die neue
us Corrêa, Oscar, Ο Supremo Tribunal Federal, S. 70-71. 116 Corrêa, Oscar, Ο Supremo Tribunal Federal, S. 71. 117 Geschäftsordnung veröffentlicht in: Bundesblatt vom 27.10.1980. 3*
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Β. Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
Verfassung enthält keine Ermächtigung zum Erlaß von Regeln über Verfahren und Entscheidung. Man wird davon auszugehen haben, daß bis zu ihrer Ablösung durch gesetzliche Bestimmungen die Vorschriften der Geschäftsordnung nach dem Kontinuitätsprinzip anzuwenden sind, es sei denn, sie stünden in unmittelbarem Widerspruch zur Verfassung. Nach Art. 66 der Geschäftsordnung gehört jeder Richter mit Ausnahme des Präsidenten des Gerichts einer Kammer an. Beide Kammern haben gleiche Zuständigkeiten, und die Verfahren, für die sie zuständig sind, werden nicht der ersten oder der zweiten Kammer zugeteilt, sondern einem berichterstattenden Richter, der der einer oder der anderen Kammer angehört. Der Vorsitzende jeder Kammer ist gemäß Art. 4 Abs. 4 der Geschäftsordnung der dienstälteste Richter. Das Plenum des Gerichts ist gemäß Art. 143 der Geschäftsordnung beschlußfähig, wenn von den elf Richtern mindestens acht anwesend sind. Für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit oder der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes ist gemäß Art. 173 i. V.m. Art. 174 der Geschäftsordnung immer eine Mehrheit von sechs Stimmen erforderlich. Auch beim Supremo Tribunal Federal besteht die Möglichkeit, einen Richter auszuschließen oder abzulehnen. Die Gründe für den Ausschluß eines Richters sind in der Zivilprozeßordnung und der Strafprozeßordnung geregelt (Geschäftsordnung, Art. 277; Zivilprozeßordnung, Art. 134; Strafprozeßordnung, Art. 9596). Das Gericht hat aber im Jahre 1985 festgelegt, daß der Ausschluß eines Richters im abstrakten Normenkontrollverfahren grundsätzlich nicht zulässig ist 1 1 8 . Seit Beginn der republikanischen Geschichte des Supremo Tribunal Federal hat sich die Praxis durchgesetzt 119, eine eventuell abweichende Meinung in einem Sondervotum ( voto vencido) niederzulegen (Geschäftsordnung, Art. 135). Dieses wird in der Entscheidungsformel ausdrücklich erwähnt, die das genaue Stimmverhältnis angibt, und später als Teil der Entscheidung in der Zeitschrift der Rechtsprechung des Gerichts ( Revista Trimestral de Jurisprudência) 120 veröffentlicht. Die Geschäftsordnung des Gerichts enthält in Art. 40 eine Regelung, wonach im Falle der Verhinderung von Richtern, die eine Frist von drei Monaten überschreitet, ein Richter des ehemaligen Bundesberufungsgerichts (Tribunal Federal de Recurso), heute Bundesgerichtshof (Superior Tribunal de Justiça ), geladen werden kann, um das geforderte Quorum zu erreichen. Obwohl diese Klausel, die eine lange Tradition des brasilianischen Rechts widerspiegelt, nur unter exzeptionellen Bedingungen angewandt werden kann, ermöglicht sie eine vor-
ne Vgl. Embargos na Representaçâo Nr. 1092, Berichterstatter: Richter Djaci Falcâo, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 117, S. 921 (944). 119 Vgl. Habeas Corpus Nr. 18.178, vom 27.9.1926, Revista Forense 47, S. 771. 120 Vgl. auch unten Β, I, 2, e.
I. Institution und Geschichte beider Gerichtshöfe
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übergehende Änderung der Zusammensetzung des Gerichts, die einen berechenbaren Einfluß auf die Entscheidung haben kann. Der Präsident des Obersten Gerichtshofs wird gemäß Art. 12 der Geschäftsordnung unmittelbar durch die Mitglieder für ein zweijähriges Mandat mit absoluter Mehrheit gewählt, eine Wiederwahl ist ausdrücklich ausgeschlossen. Traditionsgemäß werden zu Präsidenten und Vize- Präsidenten des Gerichts die zwei dienstältesten Richter gewählt, die diese Ämter noch nicht ausgeübt haben 121 . Entsprechend der Regelung des § 13 GO BVerfGs, wonach beim Bundesverfassungsgericht wissenschaftliche Mitarbeiter beschäftigt werden, sieht Art. 357 I der Geschäftsordnung vor, daß jeder Richter des Obersten Gerichtshofs über zwei juristische Assistenten (Assessores) verfügt, die von ihm selbst ausgewählt werden. Die politische Bedeutung des Obersten Gerichtshofs wird darin deutlich, daß er gemäß Art. 93 der Verfassung das alleinige Initiativrecht für die Gesetzesvorlage des sogenannten „Statuts der Judikatur" hat, das die Richtlinien über die nationale Organisation der Judikatur festlegen soll, also einen durch Spezialgesetze auszufüllenden Rahmen schafft. Dem Obersten Gerichtshof, den Hohen Bundesgerichtshöfen sowie den Justizgerichtshöfen der Länder (Tribunais de Justiça) wird gemäß Art. 96 I I „a", „b", „c" und „d" das Initiativrecht zuerkannt, Gesetzesvorschläge über Änderung der Zusammensetzung der niederen Gerichte, über Änderung der Organisation und Verteilung der Justizbezirke, Einrichtung und Aufhebung von Stellen und Festlegung von Bezügen ihrer Mitglieder und der Mitglieder der niederen Gerichte, der Hilfsdienste, und der ihnen zugeordneten Einzelgerichte den legislativen Organen vorzulegen. Dem Obersten Gerichtshof ist wie allen Gerichten die administrative Autonomie gewährleistet. Sie erstreckt sich gemäß Art. 96 I „a" der Verfassung auf die Wahl ihres Vorsitzes sowie auf den Erlaß einer Geschäftsordnung, die über die Befugnisse und Tätigkeiten der verschiedenen Verwaltungs- und Rechtsprechungsorgane in Einklang mit den gesetzlichen Verfahrensregelungen bestimmt. Die administrative und finanzielle Autonomie wird auch dadurch gesichert, daß der Verfassungsgeber in Art. 99 dem Obersten Gerichtshof sowie anderen Hohen Gerichtshöfen das Recht eingeräumt hat, eigene Vorschläge zum Haushalt zu machen. Art. 168 der Verfassung sieht vor, daß die Haushaltsmittel betreffs der Legislative, der Judikative und der Staatsanwaltschaft bis zum 20. Tage jedes Monats zur Verfügung stehen sollen.
121 Corrêa, Oscar, Ο Supremo Tribunal Federal, S. 70.
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Β. Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
c) Geschichte Nach der monarchistischen Verfassung von 1824 übte der Kaiser nicht nur die Funktion eines Chefs der exekutiven Gewalt (Art. 102), sondern eine sogenannte „mäßigende Gewalt" (Poder Moderador) aus (Art. 98). Diese „mäßigende Gewalt " sollte — so ausdrücklich die Verfassung — der Schlüssel der gesamten politischen Organisation sein. Hauptaufgaben dieser Institution waren die Gewährleistung der Unabhängigkeit, des Gleichgewichts und der Harmonie der Gewalten (Art. 98) 1 2 2 . Der Oberste Gerichtshof wurde unter der Verfassung von 1824 im Januar 1829 eingerichtet. Dieser Oberste Gerichtshof (Supremo Tribunal de Justiça), gebildet aus 17 Richtern (Gesetz vom 18.9.1828), hatte aber nur eine begrenzte Zuständigkeit, die sich grundsätzlich auf Revisionsberufungen, Zuständigkeitskonflikte und auf die Anklage gegen Träger bestimmter öffentlicher Ämter beschränkte 123 (Art. 164). Die Befugnis zum Erlaß von Beschlüssen mit Gesetzeskraft, die ihm ausdrücklich für die authentische Auslegung der Zivil-, Handels- und Strafgesetze verliehen wurde (Legislative Verordnung Nr. 2684, vom 23.10.1875; Dekret Nr. 6.142, vom 10.3.1876), hat keine Bedeutung erlangt, da das Gericht von dieser Kompetenz keinen Gebrauch gemacht hat 124 . Die Ausrufung der Republik im Jahre 1889 war entscheidend für die Aufnahme einer Verfassungsgerichtsbarkeit in die brasilianische Verfassungsordnung. Bereits die sogenannte vorläufige Verfassung vom 22. Juni 1890 hatte vorgesehen, daß der Supremo Tribunal Federal aus 15 Richtern zu bilden sei, die unter den dienstältesten Bundesrichtern und Bürgern von notorischer Kenntnis und unangreifbarem Ruf, die zum Bundessenat wählbar waren, ausgewählt werden sollten (Art. 55). Sie wurden von dem Präsidenten der Republik nach der Bestätigung durch den Bundessenat ernannt (Art. 47 Abs. 12). Dieser Oberste Gerichtshof ist aber erst am 28. Februar 1891 errichtet worden 125 . Die erste republikanische Verfassung vom 24. Februar 1891, die sich für eine föderative Republik, gebildet durch einen ewigen Bund der ehemaligen Provinzen, entschieden hatte (Art. 1), nahm eine Neukonzeption der rechtsprechenden Gewalt vor. Der Einfluß der amerikanischen Verfassungslehre hatte dazu beigetragen, daß dem Obersten Gerichtshof die Rolle des Hüters der Verfassung und 122 Souza, JöR 7 (1958), S. 353 (358). 123 Vgl. Araùjo, Justino Magno, Ο Poder Judiciârio a partir da Independência, Justitia, 81 (1973), S. 259 (277); Baleeiro, Aliomar, Ο Supremo Tribunal Federal, Revista Forense 242 (1973), S. 5 (7). 124 Silveira, J. Ν. da, Ο Supremo Tribunal Federal e a Interpretaçâo Juridica com Eficâcia Normativa, in: Arquivos do Ministério da Justiça Nr. 159 (1981), S. 7 (16). 125 Vgl. dazu Rodrigues, Leda Boechat, História do Supremo Tribunal Federal, Bd. I, S. 7 ff.
I. Institution und Geschichte beider Gerichtshöfe
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der föderativen Ordnung zuerkannt wurde, indem ihm die Kompetenz zur Prüfung der verfassungsmäßigen Anwendung des Rechts durch eine besondere Berufung eingeräumt wurde (Verfassung von 1891, Art. 59 Abs. 3 „a" und „b") 1 2 6 . Auch die Entscheidungen von Streitigkeiten und Konflikten zwischen Bund und Ländern und von Streitigkeiten zwischen den Ländern untereinander wurden dem Obersten Gerichtshof von Anfang an zugewiesen (Verfassung von 1891, Art. 59 Abs. 1 „c"). Voraussetzung der gerichtlichen Kontrolle war hiernach, daß jemand behauptete, effektiv oder vermeintlich in seinem Recht verletzt worden zu sein 127 . Eine „direkte Klage " war nicht vorgesehen. Das beruhte auf der Annahme, daß ihre Zulässigkeit zur Eröffnung eines Konfliktfalles zwischen den Gewalten beitragen würde 128 . Im Verfassungsausschuß der Verfassungsversammlung wurden zwei Vorschläge vorgelegt, die darauf abzielten, dem Obersten Gerichtshof die Zuständigkeit anzuvertrauen, wenn eventuelle Unvereinbarkeiten des Landesrechts mit grundlegenden Prinzipien der Bundesverfassung auftreten sollten 129 . Diese Entwürfe, die eine direkte Klage des Bundes gegen das verfassungswidrige Landesgesetz vorsahen, sind, soweit ersichtlich, die Vorgänger der interventiven Feststellungsklage und später der abstrakten Normenkontrolle im brasilianischen Recht 130 . Eine große Bedeutung gewann damals das Habeas Corpus-Verfahren als Rechtsschutzmittel gegen jeden willkürlichen Akt der öffentlichen Gewalt (Verfassung von 1891, Art. 73 Abs. 22). Diese besondere Beschwerde, in ihrer klassischen Bedeutung als gerichtliches Verfahren zur Wahrung der persönlichen Freiheit oder Bewegungsfreiheit gegen willkürliche Maßnahmen der öffentlichen Gewalt 131 , war in Brasilien ursprünglich auch dazu bestimmt, andere Grundrechte, die in direkter oder indirekter Verbindung zur persönlichen Freiheit stehen, wirksam zu schützen132. Diese Entwicklung wurde später als „brasilianische Lehre der Habeas-Corpus" bezeichnet133.
126 Die Berufung konnte eingelegt werden: a) wenn über die Gültigkeit oder die Anwendbarkeit von Verträgen oder Bundesgesetz diskutiert wurde und die Entscheidung des Landesgerichts das Gesetz oder den Vertr für ungültig gehalten hat; b) wenn über die Gültigkeit von Gesetzen oder Akte der Landesregierungen der Bunde verfassung gegenüber diskutiert wurde und die Entscheidung des Landesgerichts di Akte für verfassungsgemäß gehalten hat (Verfassung von 1891, Art. 59 Abs. 3 a und b). 127 Barbosa, Rui, Os Atos Inconstitucionais do Congresso e do Executivo, S. 98. 128 Barbosa, Rui, Os Atos Inconstitucionais do Congresso e do Executivo, S. 98. 129 Entwürfe von Joâo Pinheiro und Julio de Castilhos in: Annaes do Congresso Constituinte da Republica, 2. Aufl., Rio de Janeiro, 1924, S. 432; Vgl. auch Lerne, Emesto, A Intervençâo Federal nos Estados, 2. Aufl., Sâo Paulo, 1930, S. 90. 130 Vgl. Mendes, Controle de Constitucionalidade, S. 174-175. S. auch unten B, II, 3, a, aa und bb. 131 Nunes, José de Castro, Do Mandado de Segurança, S. 24.
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Β. Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
Vor allem haben die Entscheidungen in einigen Habeas Corpus-Yerfahren dazu beigetragen, daß der Supremo Tribunal Federal bereits am Anfang seiner Judikatur in ernste Krisen verwickelt worden ist. Im Jahre 1893 hat der Oberste Gerichtshof in einem Habeas Corpus- Verfahren das Strafgesetzbuch der Marine für verfassungswidrig erklärt. Obwohl die Regierung der Entscheidung Folge leistete, hat sie als Reaktion hierauf für die Besetzung zweier vakant gewordener Richterämter einen Arzt und einen General vorgeschlagen und weitere frei gewordene Richterämter unbesetzt gelassen134. Noch in der ersten Präsidentialamtsperiode hat der Präsident der Republik einigen Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs nicht Folge geleistet 135 . Die Bundesverfassungsnovelle von 1926 hat die Regelung über das Habeas Corpus- Verfahren dahingehend geändert, daß Rechtsschutz nur noch gegen Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit durch Verhaftung, Festnahme oder andere Beeinträchtigung gewährt wurde 136 . Die sogenannte „Revolution von 1930 " hat die erste Republik beendet und die republikanische Verfassung von 1891 aufgehoben 137. Die legislativen und exekutiven Aufgaben wurde vorläufig der provisorischen Regierung anvertraut (Dekret Nr. 19.398, vom 11.11.1930). Die provisorische Regierung hat am 3.2.1931 die Mitgliederzahl des Obersten Gerichtshofs von 15 auf 11 reduziert und das Gericht in zwei Kammern mit je 5 Richtern organisiert. Unmittelbar danach, am 18.2.1931, hat die vorläufige Regierung das Dekret Nr. 19.711 erlassen, wodurch die Amtsaufgabe von 6 Richtern erzwungen worden ist 1 3 8 . Die Verfassung von 1934, die die Grundlage einer demokratischen Verfassungsordnung schaffen sollte und den Obersten Gerichtshof mit einer Besetzung von 11 Mitgliedern ausstattete, hat keine wesentliche Änderung für die traditionellen Zuständigkeiten mit sich gebracht.
132 Vgl. dazu Fix-Zamudio, Die Verfassungskontrolle in Lateinamerika, in: Horn/ Weber, Richterliche Verfassungskontrolle in Lateinamerika, Spanien und Portugal, S. 129 (142). 133 Fix-Zamudio, Die Verfassungskontrolle in Lateinamerika, in: Horn / Weber, Richterliche Verfassungskontrolle in Lateinamerika, Spanien und Portugal, S. 129 (142); Nunes, Do Mandado de Segurança, S. 23 ff. 134 Rodrigues, Leda Boechat, História do Supremo Tribunal Federal, Bd. I, S. 42 und 46. 135 Seabra Fagundes, Miguel, A Funçâo Politica do Supremo Tribunal Federal, in: Revista de Direito Administrativo Nr. 134 (1978), S. 1 (6). 13 6 Art. 72, Abs. 22 nach der Fassung der Verfassungsnovelle vom 3. September 1926; Vgl. Campanhole, Adriano, Constituiçâo do Brasil, Sâo Paulo, 1984. 137 Vgl. dazu, Souza, JöR 7 (1958), S. 353 (362). 138 Dekret Nr. 19.711, vom 18.2.1931, Vgl. auch Baleeiro, Aliomar, Ο Supremo Tribunal Federal, Revista Forense 242 (1973), S. 5 (7).
I. Institution und Geschichte beider Gerichtshöfe
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Eine Art von direkter Klage, die sogenannte interventive Feststellungsklage, die zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Bundesintervention angewendet werden sollte, wurde eingeführt (Verfassung von 1934, Art. 12 V und Abs. 2). Es handelte sich um eine beschränkte Form gerichtsförmiger Austragung föderativer Streitigkeiten, die auf die Feststellung eines Verstoßes gegen bestimmte Bundesstaatsprinzipien (sensible Prinzipien) durch Handlung oder Unterlassen eines Landes abzielte (Art. 12 Abs. 2 i. V. m. Art. 7 I „a"-„h") 1 3 9 . Da der inzidenten Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, die ein Gesetz für verfassungswidrig erklärte, keine Gesetzeskraft zukam, hat der damalige Verfassungsgeber auch die Möglichkeit vorgesehen, das durch den Obersten Gerichtshof für verfassungswidrig erklärte Gesetz durch einen Akt des Bundessenats aufzuheben (Art. 90 IV). Diese sogenannte Aufhebung der Ausführung des Gesetzes, die noch heute bei der inzidenten Normenkontrolle praktiziert wird (Verfassung von 1988, Art. 52 X), wurde von dem Verfassungsgeber damals als die geeignetere Möglichkeit angesehen, der Verfassungswidrigerklärung eine allgemeine Wirkung zu verleihen 140 . Ein anderer Vorschlag, der die Nichtigkeit des Gesetzes im Falle eines zweiten Urteils des Gerichts über die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes vorsah, wurde abgelehnt141. In der Verfassungsversammlung von 1934 wurde auch ein Entwurf zur Einrichtung eines Verfassungsgerichtshofs, der dem österreichischen Modell folgte, vorgelegt. Die Begründung des Vorschlags nahm ausdrücklich Bezug auf das Referat von Kelsen über Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit 142. Nach diesem Entwurf sollte der Verfassungsgerichtshof durch 9 Mitglieder, die von dem Obersten Gerichtshof (2), von den Nationalen Parlamenten (2), von dem Präsidenten der Republik (2) und von der Nationalen Anwaltskammer (3) 139
Verfassung von 1934 Art. 7 I, a-h: a) repräsentative und republikanische Staatsform; b) Unabhängigkeit und Harmonie zwischen den Gewalten; c) zeitliche Begrenzung der Amtsperiode für eine durch Wahl erlangte Funktion in Übereinstimmung mit de Dauer der entsprechenden Bundesmandate; d) Verbot der Wiederwahl des Gouverneu und der Bürgermeister; e) Selbstverwaltung der Gemeinden; f) Ablegung der Verwaltungsrechenschaft; g) Garantien der rechtsprechenden Gewalt. 140 Dieses Institut sollte den Mangel an Wirkung inter omnes der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, die ein Gesetz für verfassungswidrig erklärte, in dem damaligen inzidenten Normenkontrollmodell abschaffen. Es ist aber offensichtlich, daß es bereits damals nicht der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit entsprach, wie die Bestimmungen über die allgemeine Wirkung der Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs (Österreichische Verfassung vom 1.10.1920, Art. 140 Abs. 6) und über die Gesetzeskraft der Beschlüsse des Reichsgerichts im Verfahren des Art. 13 Abs. 2 der Weimarer Verfassung (Gesetz zur Ausführung des Art. 13 Abs 2 WRV vom 8.4.1920, Art. 3 Abs. 2) zeigen. 141 Entwurf des Abgeordneten Godofredo Vianna, vom 16.12.1933, in: Alencar, A Competência do Senado Federal para suspender a execuçâo dos atos declarados inconstitucionais, Reyista de Informaçâo Legislativa Nr. 57, 1978, S. 223 (234-235). 142 Entwurf des Abgeordneten Nilo Alvarenga, vom 20.12.1933, in: Annaes da Assembléia Constituinte, Rio de Janeiro, 1935, S. 33-35.
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Β. Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
berufen werden sollten, gebildet werden. Auch sollte die gleiche Zahl von Ersatzmitgliedern gewählt werden. Dieser Entwurf vertraute dem Verfassungsgerichtshof das Normverwerfungsmonopol an. So hatte jeder Richter oder jedes Gericht das bei ihm anhängige Verfahren einzustellen bei Annahme der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes und die Verfassungsfrage dem Verfassungsgerichtshof vorzulegen. Dieser Vorschlag sah auch eine Art Popularklage zur Einleitung des abstrakten Normenkontrollverfahrens vor 1 4 3 , was den unmittelbaren Einfluß von Kelsen noch hervorhebt 144 . Der Vorschlag wurde ohne eingehende Diskussion von der Verfassungsversammlung abgelehnt. Es ist schwierig festzustellen, ob er nicht doch irgendwelchen Einfluß auf die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Brasilien gehabt hat. Die Verfassung von 1934 wurde durch einen Akt des damaligen Präsidenten im Jahre 1937 außer Kraft gesetzt. Unmittelbar danach wurde am 10.11.1937 eine neue Verfassung erlassen, die durch eine Volksabstimmung bestätigt werden sollte (Art. 80). Diese Volksabstimmung fand aber niemals statt. Die Verfassung von 1937, die als „polnische Verfassung" bekannt war, da sie nach dem Modell der Verfassung des Pilsudski-Regimes entwickelt wurde 145 , bedeutete einen echten Bruch mit der brasilianischen Verfassungsgeschichte. Nach der Präambel sollte die neue Verfassung außerordentliche Mittel enthalten, um den Kommunismus effektiv zu bekämpfen 146. Stellung, Einrichtung und Zuständigkeit des Obersten Gerichtshofs erfuhren formell keine bedeutenden Änderungen. Der Präsident der Republik beanspruchte aber, auch den Präsidenten des Supremo Tribunal Federal zu ernennen, was bis 1945 regelmäßig geschah147. In der Verfassung vom 1937 wurde die Möglichkeit geschaffen, gerichtliche Verfassungswidrigkeitsentscheidungen durch Gesetz aufzuheben. Das sollte — so der Verfassungstext — durch eine Resolution des nationalen Parlamentes erfolgen, die durch die Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit (zwei Drittel der Stimmen) gebilligt werden mußte (Art. 96). Dieses Institut sollte gleichzeitig eine Doppelfunktion erfüllen: die Gültigkeitsbestätigung des Gesetzes und die Aufhebung des Urteils 148 . Das bestätigte Gesetz hatte dann die Kraft einer Verfassungsnovelle149. Die Notwendigkeit dieses Instituts wurde mit dem angeblich
143 Entwurf des Abgeordneten Nilo Alvarenga, vom 20.12.1933, in: Annaes da Assembléia Nacional Constituinte, Rio de Janeiro, Bd. III, 1935, S. 33. 144 Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 30 (74). 145 Loewenstein, Verfassungslehre, S. 63. 146 Campanhole, Adriano, Constituiçâo do Brasil, S. 418. 147 Baleeiro, Aliomar, Ο Supremo Tribunal Federal, in: Revista Forense 242 (1973), S. 5 (11). 148 Nunes, Teoria e Pràtica do Poder Judiciârio, S. 593, RdNr. 25. 149 Bastos, Celso, Curso de Direito Constitucional, S. 63.
I. Institution und Geschichte beider Gerichtshöfe
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„ antidemokratischen Charakter " der Gerichtsbarkeit begründet, die die Normenkontrolle als Instrument einer aristokratischen Haltung oder als Ausdruck einer mäßigenden Gewalt ausübte150. Deshalb sollte vor allem wegen der Offenheit der Verfassung eine Instanz geschaffen werden, die eventuelle Abweichungen der Gerichtsbarkeit aufheben konnte 151 . Die Befugnis, die die Verfassung dem nationalen Parlament hatte anvertrauen wollen, wurde effektiv durch Erlaß von Dekreten-Gesetzen des Diktators ausgeübt (Verfassung von 1937, Art. 180) 152 . Das autokratische Regime, gestützt auf die Verfassung von 1937, wurde mit der Wahl einer Verfassungsversammlung beendet (Verfassungsgesetz Nr. 13 vom 12.11.1945). Die neue demokratische Verfassung trat am 18. September 1946 in Kraft. Die Verfassung legte die Mitgliederzahl des Obersten Gerichtshofs auf 11 fest. Es bestand aber die Möglichkeit, auf Vorschlag des Gerichts die Zahl anzuheben (Verfassung von 1946, Art. 98). Im Hinblick auf die Verfassungsgerichtsbarkeit hat der Verfassungsgeber von 1946 keine Änderung in das inzidente richterliche Prüfungsrechtsmodell eingeführt. Die Verfassungswidrigkeitserklärung eines Gesetzes durch den Obersten Gerichtshof — sowie die durch andere Gerichte — hat keine allgemeine Wirkung. Deswegen nahm die Verfassung das Institut der „ Aufhebung der Ausführung des Gesetzes " durch den Bundessenat auf, um der Erklärung der Verfassungswidrigkeit durch den Obersten Gerichtshof Gesetzeskraft zu verleihen (Art. 64). Die Verfassung von 1946 gab der interventiven Feststellungsklage ( representa çâo interventiva), die, wie bereits angedeutet, durch die Verfassung von 1934 in die brasilianische Verfassungsordnung eingeführt worden war, eine neue Gestaltung. Der Bundesgeneralstaatsanwalt, der gemäß Art. 126 für die Interessenvertretung des Bundes vor Gericht verantwortlich war, hatte die Befugnis, das Verfahren zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Akten der Landesorgane einzuleiten (Art. 8) 1 5 3 . Im Falle des Verstoßes gegen ein solches sensibles Prinzip 154 konnte die Bundesintervention erst nach Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch Urteil
150 Campos, Francisco, Diretrizes Constitucionais do novo Estado Brasileiro, in: Revista Forense Nr. 73, S. 229 (248). 151 Campos, Francisco, Diretrizes Constitucionais do novo Estado Brasileiro, in: Revista Forense Nr. 73, S. 229 (249). 152 Vgl. dazu das Dekret-Gesetz Nr. 1564 vom 5.9.1939. 153 Vgl dazu unten B, //, 3, a, bb. 154 Verfassung von 1946: Art. 7, VII: a) repräsentative und republikanische Staatsform; b) Unabhängigkeit und Harmonie zwischen den Gewalten ; c) zeitliche Begrenzung der Amtsperiode für eine durch Wahl erlangte Funktion in Übereinstimmung mit de Dauer der entsprechenden Bundesmandate; d) Verbot der Wiederwahl des Gouverneu und der Bürgermeister; e) Selbstverwaltung der Gemeinden; f) Ablegung der Verwaltungsrechenschaft; g) Garantien der rechtsprechenden Gewalt.
4 4 Β .
Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
des Obersten Gerichtshofes erklärt werden. Diese direkte Klage spielte damals als Instrument zur Verwirklichung dieser Homogenitätsgebote vor allem den Länderverfassungen gegenüber eine wichtige Rolle. Einige Streitigkeiten über die Vereinbarkeit der Verfassung von Ländern mit der Bundesverfassung waren bereits im Jahre 1947 entschieden worden 155 . Die militärische Bewegung vom April 1964 durchbrach die Verfassungsordnung von 1946. Der sogenannte institutionelle Akt Nr. 1 vom 10.4.1964 bestimmte, daß die Verfassung von 1946 mit den Änderungen, die durch diesen Akt in die Verfassungsordnung eingeführt wurden, aufrechterhalten werde (Art. 1). Im Rahmen einer großen Reform der Gerichtsbarkeit führte der Verfassungsgesetzgeber durch die Verfassungsnovelle Nr. 16 von 1965 mit ähnlicher Verfahrensstruktur und ausdrücklichem Bezug auf die interventive Feststellungsklage (representaçâo interventiva) die abstrakte Normenkontrolle vor dem Obersten Gerichtshof ein. Antragsberechtigt war allein der Bundesgeneralstaatsanwalt, der von dem Präsidenten der Republik ernannt wurde und jederzeit entlassen werden konnte 156 . Unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Militärs kam es oft dazu, daß Betroffene gerichtliche Schritte gegen die Regierungsmaßnahmen unternahmen. Die Militärregierung hat einige Landesgouverneure, die der Opposition angehörten, gestürzt. Im November 1964 wurde noch einem Habeas Corpus Verfahren zugunsten eines ehemaligen Gouverneurs stattgegeben, der durch militärische Gewalt verhaftet worden war 1 5 7 . Ebenfalls im November 1964 hatte das Gericht einem Habeas Corpus zugunsten des Landesgouverneurs des Bundeslands Goias stattgegeben, der ihm die Wahrnehmung seiner politischen Aufgaben gewährleistete 158. Sechs Tage danach wurde die Bundesintervention in diesem Bundesland erklärt, die den Sturz des Landesgouverneurs einschloß. Damit wurde die Entscheidung des Gerichts zu Makulatur gemacht 159 . Der „institutionelle Akt" Nr. 2 vom 5.11.1965, den die Militärregierung erlassen hatte, brachte eine breite Verfassungsreform mit sich, die die indirekte Wahl für das Präsidentialamt vorsah und die politischen Parteien abschaffte. Die Zahl der Richter des Obersten Gerichtshofs wurde gemäß Art. 16 dieses Aktes von 11 auf 16 angehoben und die Geltung verfassungsrechtlicher persönlicher Garantien für die Richter wurde gemäß Art. 14 ausdrücklich suspendiert 160. iss Representaçâo Nr. 94, vom 17.7.47, Arch. Judiciârio 85:34; Representaçâo Nr. 95, vom 30.7.47, Archivo Judiciârio 85:70; Representaçâo Nr. 93, vom 16.7.47, Archivo Judiciârio 85: 3; S. dazu unten Β, II, 3, a. 156 S. dazu unten Β, II, 3, b, (β). 157 Valle, Oswaldo T., Ο Supremo Tribunal Federai e a Instabilidade Politico-Institucional, S. 61 ff. 158 Valle, Oswaldo T., Ο Supremo Tribunal Federai e a Instabilidade Politico-Institucional, S. 85 ff. 159 Vgl dazu Valle, Oswaldo T., Ο Supremo Tribunal Federai e a Instabilidade PoliticoInstitucional, S. 93.
I. Institution und Geschichte beider Gerichtshöfe
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Die Verfassung vom Januar 1967 setzte diese exzeptionellen Maßnahmen außer Kraft. Kurze Zeit danach wurde durch die Regierung ein neuer „ institutioneller Akt " erlassen, der dem Präsidenten diktatorische Vollmacht gab und den Richtern die persönlichen Garantien nahm 161 . Aufgrund dieses Akts wurde am 16.1.1969 die erzwungene Amtsaufgabe von drei Richtern des Obersten Gerichtshofs dekretiert 162 . Am 1.2.1969 erließ die Regierung einen neuen Akt, der die Zahl der Richter des Supremo Tribunal Federal wieder auf 11 Mitglieder festlegte. Mit der Kassation von drei Richtern verlor der so gedemütigte Oberste Gerichtshof ein Gutteil seines politischen Gewichts 163 . Auch seine Zusammensetzung hat in dieser Zeit infolge der Ernennung von Berufsrichtern anderer Gerichtshöfe starke Veränderungen erfahren 164. Erst zehn Jahre später, mit der Wiederherstellung der Garantien der Unabhängigkeit der Judikatur und der Wiederkehr zur institutionellen Normalität, konnte das Gericht wieder Ansehen und Vertrauen gewinnen. Im Jahre 1985 wurde eine Verfassungsversammlung einberufen, die eine neue demokratische Verfassung ausarbeiten sollte. Vorher hatte die Regierung einen besonderen Ausschuß (Comissâo Afonso Arinos) mit der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs beauftragt 165. Dieser legte einen Vorentwurf mit 430 Artikeln vor, der am 26.9.1986 im Bundesblatt veröffentlicht wurde. Dieser Entwurf, der eine parlamentarische Regierungsform vorsah, stattet den Supremo Tribunal Federal als Oberstes Gericht mit einer weitgehenden Zuständigkeit (Erstzuständigkeit und Appellationszuständigkeit) (Art. 278) aus. In der Verfassungsversammlung wurde auch die Idee berücksichtigt, einen Verfassungsgerichtshof einzurichten 166 . Die neue Verfassung Brasiliens, die am 5. Oktober 1988 verkündet wurde, hat aber eine Kompromißlösung festgelegt, die die Erstzuständigkeit des Gerichts bezüglich neuer Rechtsbehelfe und der abstrakten Normenkontrolle erweitert, seine Appellationszuständigkeit dagegen einschränkt 167. 160 Diese Bestimmung ermächtigte den Präsidenten nach Anhörung des nationalen Sicherheitsrats, die Richter zu entlassen, zu versetzen oder in den Ruhestand zu versetzen, „wenn sie Inkompatibilität mit den Zielen der Revolution" erkennen ließen. 161 Ato Institucional Nr. 5, vom 13. Dezember 1968. 162 Vgl. dazu Corrêa, Oscar, Supremo Tribunal Federal, S. 17. 163 Valle, Oswaldo T., Ο Supremo Tribunal Federal e a Instabilidade politico-institucional, S. 166. 164 Valle, Oswaldo T., Ο Supremo Tribunal Federai e a Instabilidade politico-institucional, S. 154. 165 Dekret Nr. 91.450, vom 18.7.1986. 166 Corrêa, Oscar, Ο 1602 Aniversârio do STF e ο Novo Texto Constitucional, in: Arquivos do Ministério da Justiça 173, S. 67 (70). 167 Die sogenannte außerordentliche Berufung, die vorher auch bei Bundesrechts Widrigkeit gegen letztinstanzliche Entscheidung einzulegen war, beschränkt sich jetzt auf die Fälle von behaupteter Verfassungswidrigkeit (Verfassung vom 1988, Art. 102 III).
4 6 Β .
Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
d) Zuständigkeit Die Diskussion in der Verfassungsversammlung über die Errichtung eines Verfassungsgerichtshofes, der sich hauptsächlich mit der Verfassungsmäßigkeitsprüfung beschäftigen sollte 168 , hat dazu geführt, daß der Supremo Tribunal Federal grundsätzlich seine traditionellen Zuständigkeiten mit nur wenigen Abstrichen behalten und eine Fülle von neuen Befugnissen hinzugewonnen hat. Der brasilianische Oberste Gerichtshof vereinigt in sich zwei grundsätzliche Charakteristiken: er tritt sowohl als oberste Instanz der allgemeinen Gerichtsbarkeit auf — deswegen ist er in den Instanzenzug einzelner Gerichtsbarkeiten einbezogen —, wie auch als Organ einer getrennten Verfassungsgerichtsbarkeit. Die neue Verfassung hat die erstinstanzlichen Zuständigkeiten des Obersten Gerichtshofs stark erweitert, vor allem im Hinblick auf die abstrakte Normenkontrolle und auf die Kontrolle von Unterlassungen des Gesetzgebers (Art. 102 I „a" und 103 Abs. 2). Die Zuständigkeit des Supremo Tribunal Federal ergibt sich unmittelbar aus Art. 102, 103, 34 V I I i.V.m. 36 I I I der Verfassung. Das abstrakte Normenkontrollverfahren zur Überprüfung der Vereinbarkeit von Bundes- oder Landesrecht mit der Verfassung kann gemäß Art. 102 I i. V.m. 103 der Verfassung auf Antrag des Präsidenten der Republik, des Präsidiums des Bundessenats und des Abgeordnetenhauses, des Präsidiums eines Landesparlaments, auf Antrag des Landesgouverneurs sowie auf Antrag des Bundesgeneralstaatsanwalts, des Bundesrats der Anwaltskammer, einer politischen Partei mit Vertretung im Nationalen Kongreß und schließlich auf Antrag der nationalen Gewerkschaftskonföderationen und der Klassenorganisationen, die auf nationaler Ebene organisiert sind, eingeleitet werden 169 . Das Gericht hat gemäß Art. 102 I „p" die Möglichkeit, eine einstweilige Anordnung im abstrakten Normenkontrollverfahren mit dem Ziel zu erlassen, die Ausführung eines Gesetzes provisorisch aufzuheben 170. 168 Correa, Oscar, Ο 1602 Aniversârio do STF e ο Novo Texto Constitucional, in: Arquivos do Ministério da Justiça, Nr. 173, 1988, S. 67 (70). 169 Dieses Verfahren, früher einfach Verfassungswidrigkeitsantrag ( Representaçâo de inconstitucionalidade) genannt, wird in der neuen Verfassung alsAçâo Direta de Inconstitucionalidade (direkte Verfassungswidrigkeitsklage) bezeichnet. 170 Das Gericht hat die Befugnis, eine einstweilige Anordnung im abstrakten Normenkontrollverfahren zu erlassen, als immanente Kompetenz oder als Ausdruck der Natur der Sache in Anspruch genommen. Die Diskussion, die diese Praxis im Obersten Gerichtshof selbst entfacht hat (Vgl. Representaçâo Nr. 933, vom 5.6.1975, Berichterstatter: Thompson Flores, in: Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 76, S. 342 ff.), hat dazu geführt, daß bereits durch die Verfassungsnovelle von 1977 diese Zuständigkeit ausdrücklich in die Verfassung aufgenommen wurde (Art. 119 I, p). Der Verfassungsgeber von 1988 hat diese Befugnis auch in den Kompetenzenkatalog des Supremo Tribunal Federal aufgenommen (Verfassung von 1988, Art. 102 I p).
I. Institution und Geschichte beider Gerichtshöfe
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Die Verfassung von 1988 hat die sogenannte interventive Feststellungsklage (representaçâo interventiva) aufgenommen, die zur Überprüfung der Vereinbarkeit des Landesrechts mit bestimmten Prinzipien der föderativen Ordnung (sensiblen Prinzipien) 171 gemäß Art. 34 V I I i.V. m. Art. 36 III durch den Bundesgeneralstaatsanwalt eingeleitet werden kann. Dieses Verfahren ist Voraussetzung der Bundesintervention, die gemäß Art. 36 I I I und Abs. 1 der Verfassung durch den Präsidenten der Republik durchgeführt wird. Traditionsgemäß ist der Supremo Tribunal Federal auch für Streitigkeiten und Konflikte zwischen Bund und Ländern oder zwischen dem Bund und dem Bundesdistrikt sowie zwischen den Ländern untereinander zuständig (Art. 102 I „f"). Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichts schließt diese Kompetenz auch privatrechtliche Streitigkeiten ein. Wie auch andere Länder Lateinamerikas kennt Brasilien kein einheitliches Instrument zum Schutz der subjektiven öffentlichen Rechte 172 . Nach Art. 5 L X V I I I der Verfassung ist der Habeas Corpus in seiner traditionellen Bedeutung als prozeßrechtliches Mittel zum Schutze rechtswidrig in ihrer Freiheit beeinträchtigter Personen vorgesehen. Neben dem Habeas Corpus steht seit 1934 das mandado de segurança-V erfahren („Sicherheitsverfügung") zur Verfügung, das gemäß Art. 5 L X X I X „a" der Verfassung zur Gewährleistung eines „sicheren und bestimmten" Rechts eingesetzt wird, das nicht durch Habeas Corpus oder Habeas Data geschützt wird, wenn die hoheitliche Gewalt verantwortlich für die Gesetzeswidrigkeit oder den Mißbrauch der Gewalt ist. Dieses Institut kann nach dem Art. 5 L X X I „b" der Verfassung von 1988 auch durch politische Parteien mit Vertretung im Nationalen Kongreß, Gewerkschaften, klassenvertretende Organisationen oder Vereine, die seit mindestens einem Jahr bestehen, auch im Interesse ihrer Mitglieder angewendet werden („kollektive Sicherheitsverfügung") 173. Das Gericht hat den Anwendungsbereich des mandado de segurança-Ye rfahrens erweitert. Es geht davon aus, daß das mandado de se gurança-W erfahren, da es zum Schutz von öffentlichem subjektivem Recht geeignet sei, auch als
171 Angesichts dieser von der Lehre so genannten sensiblen Prinzipien bringt auch die Verfassung von 1988 eine Änderung mit sich. Statt der langen Enumeration der abgelösten Verfassung hat der Verfassungsgeber von 1988 folgende Grundsätze normiert, die von den Ländern zu beachten sind: a) republikanische und repräsentative Staatsform und demokratisches Regime; b) Menschenrechte; c) Autonomie der Gemeinden; d) Ablegung der Verwaltungsrechenschaft (Art. 34 VII). 172 Eine einzige Ausnahme kann in Mexico festgestellt werden, wo die Einrichtung des Amparo-Verfahrens unter einer scheinbaren Einheit tatsächlich die Entwicklung verschiedener Institutionen ermöglicht hat (Vgl. dazu Fix-Zamudio, JöR 25 (1976), S. 649 (663). 173 Vgl. dazu Fix-Zamudio, JöR 25 (1976), S. 652 (672); Derselbe, Die Verfassungskontrolle in Lateinamerika, in: Horn / Weber, Albrecht, Richterliche Verfassungskontrolle in Lateinamerika, Spanien und Portugal, S. 129 (159).
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Β. Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
einschlägig für die Lösung von Kompetenzenkonflikten zwischen Staatsorganen anzusehen sei. Nach dieser Rechtsprechung können mch funktionelle Rechte von politischer Natur durch das mandado de segurança-Vt rfahren geschützt werden 1 7 4 . Die Bedeutung dieses Instruments zur Austragung von Organstreitigkeiten ist aber beschränkt, da der Oberste Gerichtshof nur zur Beurteilung des mandado de segurança-Ve rfahrens gegen Akte oder Unterlassungen bestimmter Organe oder Behörden befugt ist. Die Verfassung von 1988 hat in Art. 5 L X X I neben dem Habeas Data, der gemäß Art. 5 L X X I I der Verfassung eine verfassungsverfahrensrechtliche Garantie zur Verwirklichung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung den öffentlichen Stellen gegenüber darstellt, den mandado de injunçâo eingefühlt, einen eigenartigen Rechtsbehelf, den jedermann mit der Behauptung einsetzen kann, daß die Unterlassung des normsetzenden Organs ihn daran hindert, ein verfassungsrechtlich gewährleistetes Recht auszuüben. Der Oberste Gerichtshof ist zuständig für Entscheidungen des Habeas CorpusVerfahrens gegen Akte des Präsidenten der Republik, des Vize-Präsidenten, des Bundesgeneralstaatsanwalts und anderer Amtsträger, deren Akte unmittelbar seiner Gerichtsbarkeit unterstellt sind (Verfassung, Art. 102 I „i"). Gemäß Art. 101 I „d" der Verfassung ist der Oberste Gerichtshof auch zuständig für das mandado de segurança-V erfahren und das Habeas-Data-Verfahren gegen Akte des Präsidenten der Republik, des Präsidiums des Abgeordnetenhauses und des Bundessenats, des Bundesrechungshofs, des Bundesgeneralstaatsanwalts sowie gegen Akte des Gerichts selbst. Für die Entscheidung des mandado de injunçâo ist der Supremo Tribunal Federal zuständig, wenn die Klage gegen beanstandete Unterlassungen des Präsidenten der Republik, des Nationalen Kongresses, des Abgeordnetenhauses oder des Bundessenates, des Vorsitzes des Abgeordnetenhauses und des Bundessenats, des Bundesrechnungshofes, eines der Hohen Gerichtshöfe oder des Supremo Tribunal Federal selbst erhoben wird (Verfassung, Art. 102 I „q"). Der Oberste Gerichtshof prüft auch in der sogenannten ordentlichen Berufung (recur so ordinàrio ) die definitiven Entscheidungen anderer Gerichtshöfe in Habeas Corpus- Verfahren, mandado de segurança- Verfahren, Habeas Data und in mandado de injunçâo , wenn der Klage nicht stattgegeben wurde (Art. 102 I I „a")· Bis zum Inkrafttreten der Verfassung von 1988 bildete die sogenannte außerordentliche Berufung (recur so extraordinàrio ) auch nach dem Maßstab der Häufigkeit die bedeutendste Zuständigkeit des Supremo Tribunal Federal 175. Dieser 174 Vgl. Recurso Extraordinàrio Nr. 74.836, Berichterstatter: Richter Rodrigues Alckmin, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 69, S. 475-481; Mandado de Segurança Nr. 20.257, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 99, S. 1031-1040). 175 Allein im Jahre 1986 wurden 4.124 außerordentliche Berufungen eingelegt. Viele davon — 2.549 — kamen zur Sachentscheidung nach einer Vorprüfung oder einem
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nach dem Modell des amerikanischen writ of err or 176 entwickelte außerordentliche Rechtsbehelf, der bereits durch die Verfassung von 1891 in die brasilianische Rechtsordnung aufgenommen worden ist, kann von einem Verfahrensbeteiligten eingelegt werden, der sich durch eine letztinstanzliche Gerichtsentscheidung benachteiligt fühlt 1 7 7 : — wenn die Gerichtsentscheidung gegen die Verfassung verstoßen hat; — wenn das letztinstanzliche Gericht einen Staats vertrag oder ein Bundesgesetz für verfassungswidrig erklärt hat — oder wenn ein gliedstaatliches Gesetz als verfassungswidrig angefochten wurde und das Gericht seine Gültigkeit angenommen hat (Verfassung, Art. 102 I I I „a", „b" und „c"). Die Verfassung von 1988 hat die Bedeutung dieses Rechtsmittels stark reduziert, indem sie in Art. 105 III „a", „b" und „c" die Entscheidung über Fälle von unmittelbarer Kollision zwischen Landesrecht und Bundesrecht einem anderen Gerichtshof, dem Superior Tribunal de Justiça, anvertraut hat. Besondere Beachtung hat der Verfassungsgeber der Unterlassung des Gesetzgebers gewidmet. Neben dem in Art. 5 L X X I i. V. m. Art. 1021 „q" der Verfassung vorgesehenen mandado de injunçâo- Verfahren hat die Verfassung in Art. 103 Abs. 2 auch ein abstraktes Verfahren zur Feststellung der Unterlassung des Gesetzgebers vorgesehen. Wie die abstrakte Normenkontrolle kann die abstrakte Unterlassungsfeststellungsklage der Verfassung durch den Präsidenten der Republik, das Präsidium des Bundessenats, das Präsidium des Abgeordnetenhauses, das Präsidium eines Landtages, den Landesgouverneur, den Bundesgeneralstaatsanwalt, den Bundesrat der Anwaltskammer, politische Parteien mit Vertretung im Nationalen Kongreß, Gewerkschaftskonföderationen oder Klassenorganisationen, auf nationaler Ebene organisiert, erhoben werden 178 .
Annahmeverfahren, das Ähnlichkeit mit dem amerikanischen certioriari-Verfahren aufwies. Dieses Annahmeverfahren, das nur für die Frage von beanstandeter Bundesgesetzwidrigkeit — nicht Verfassungswidrigkeit — oder angeblicher Divergenz mit der Rechtsprechung des Obersten Gerichts galt, ist inzwischen aufgehoben worden, denn die neue Verfassung überträgt die Entscheidung solcher Fälle einem anderen Gerichtshof, dem Superior Tribunal de Justiça , durch eine besondere Berufung (spezielle Berufung) (Vgl. dazu Corrêa, Oscar, Ο Supremo Tribunal Federal, S. 38-39). 176 Der writ of error wurde im amerikanischen Recht durch den sogenannten appeal abgelöst (Vgl. dazu Haller, W., Supreme Court und Politik in den USA, S. 105). 177 Die außerordentliche Berufung sowie andere Berufungen können auch durch den sogenannten benachteiligten Dritten eingelegt werden (Zivilprozeßordnung, Art. 499). Diese Vorschrift wurde nach dem Modell des Art. 283 der portugiesischen Verfassung entwikkelt, die bestimmt: Art. 283 (1) „Auf Antrag des Präsidenten, des Ombudsmanns für das Rechtswesen oder, mit der Begründung einer Verletzung der Rechte der selbständigen Regionen, auf Antra der Präsidenten der Regionalversammlungen, befindet und stellt das Verfassungsgeric die Nichterfüllung der Verfassung durch Unterlassung der erforderlichen gesetzgeb schen Maßnahmen zur Ausführung ihrer Bestimmungen fest. (2) Stellt das Verfassungsgericht das Vorhandensein einer Verfassungswidrigkeit du 4 Mendes
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Β. Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
Der Oberste Gerichtshof hat weitere Zuständigkeiten von Gewicht wie die Anklage gegen den Bundespräsidenten, den Vize-Präsidenten, Mitglieder des nationalen Kongresses, Minister und den Bundesgeneralstaatsanwalt (Art. 102 I „b"); die Zuständigkeitskonflikte zwischen anderen Bundesgerichtshöfen oder zwischen dem Obersten Gerichtshof und anderen Gerichtshöfen (Art. 102 I „o"); die Entscheidung über Streitigkeiten zwischen ausländischen Staaten oder internationalen Organisationen und dem Bund oder einem Land (Art. 102 I „e"); die Anerkennung von ausländischen Urteilen (Art. 102 I „h") sowie Auslieferungsverfahren (Art. 102 I „g").
e) Verfahren Die Verfassung von 1967/69 hat in Art. 119 Abs. 3 dem Supremo Tribunal Federal ausdrücklich eine Verfahrensautonomie zuerkannt, und deswegen waren für das Verfahren wesentliche Vorschriften in der Geschäftsordnung des Gerichts enthalten 179 . Diese Gewährleistung wurde aber nicht in die Verfassung von 1988 aufgenommen, so daß das Verfahren jetzt gesetzlich geregelt werden muß. Solange dies noch nicht geschehen ist, sind die Bestimmungen der Geschäftsordnung anzuwenden. Mit 369 Artikeln bestimmt die Geschäftsordnung des Supremo Tribunal Federal nicht nur die Organisation des Gerichts, sondern auch die einzelnen Verfahren seiner Zuständigkeit. Ein Anwaltszwang besteht vor dem Obersten Gerichtshof für sämtliche Verfahren. Eine Ausnahme gilt gemäß Art. 189 I der Geschäftsordnung für den Habeas Corpus, der von jedermann auch zugunsten Dritter eingelegt werden kann. Der Berichterstatter soll aber in diesem Fall gemäß Art. 191 I der Geschäftsordnung einen Anwalt ernennen, der sich um die Vertretung des Interesses der in ihrer persönlichen Freiheit beeinträchtigten oder bedrohten Person kümmern soll. Die Bestimmungen der Geschäftsordnung enthalten keine besonderen Formerfordernisse. Beteiligte vor dem Obersten Gerichtshof sind die Berufungskläger und die Berufungsbeklagten bei den Verfahren, in welchen das Gericht als Appellationsinstanz tätig ist. In Fällen der Erstzuständigkeit sind Beteiligte normalerweise die Kläger und die Beklagten, da die meisten Verfahren als adversarischer Prozeß konzipiert werden. Bei dem mandado de segurança- und Habeas Verfahren werden von der Behörde oder den Organen, deren Handlungen oder Unterlas-
Unterlassunç fest, so macht es davon dem zuständigen gesetzgeberischen Organ Mitte lung" (Vgl. Übersetzung von André Thomashausen, in: Kimmel, Adolf, Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, 1987, S. 278 (352). 179 Vgl. dazu oben B, 1,2, b.
I. Institution und Geschichte beider Gerichtshöfe
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sung beanstandet werden, Informationen verlangt (Geschäftsordnung, Art. 203 und 191). Der Art. 52 der Geschäftsordnung gewährleistet dem Bundesgeneralstaatsanwalt in wichtigen Fällen ein Äußerungsrecht. Dieses Äußerungsrecht wird heute ausdrücklich in der Verfassung anerkannt (Art. 103 Abs. 2). Bei dem abstrakten Normenkontrollverfahren, in dem es einen Antragsteller, aber keinen Antragsgegner gibt 1 8 0 , wird den Organen, die das Gesetz bzw. den normativen Akt erlassen oder an dessen Erlaß mitgewirkt haben, ein Äußerungsrecht eingeräumt (Geschäftsordnung, Art. 170). Der Bundesgeneralstaatsanwalt verfügt über eine besondere verfahrensrechtliche Position bei der abstrakten Normenkontrolle. Er ist jetzt gemäß Art. 103 V I der Verfassung einer der Antragsberechtigten und hat gemäß Art. 103 Abs. 1 der Verfassung und Art. 169 Abs. 1 der Geschäftsordnung auch ein Äußerungsrecht selbst in solchen Verfahren, die durch seine Initiative eingeleitet worden sind. Art. 103 Abs. 3 der Verfassung bestimmt, daß bei der abstrakten Normenkontrolle der Generalanwalt des Bundes (Advogado-Geral da Uniâo) 181 zu unterrichten sei, der — so ausdrücklich die Norm — die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes oder normativen Akts zu verteidigen hat. Es ist schwierig, die ratio dieser Regel nachzuvollziehen. Eine grammatische Auslegung würde dazu führen, daß der Generalanwalt des Bundes die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes in Schutz zu nehmen hätte, selbst wenn der Antrag zur Verfassungswidrigkeitsüberprüfung durch den Präsidenten der Republik gestellt worden ist. Andererseits könnte eine solche Auslegung dazu führen, daß dieses Organ sich verpflichtet sieht, das beanstandete Gesetz in Schutz zu nehmen, selbst wenn es dieses für offensichtlich verfassungswidrig hielte. Durch ein solches Verhalten könnte er sich zu einer Art Anwalt der Verfassungswidrigkeit entwickeln 182 . Diese absurden Folgen zeigen bereits, daß die einzig mögliche, mit der Verfassung zu vereinbarende Auslegung die ist, die in dieser Regelung nur ein Äußerungsrecht sieht. Eine Verpflichtung des Generalanwalts des Bundes, einen verfassungswidrigen Akt zu verteidigen, kann in der Verfassung keine Stütze finden und würde gegen das Verfassungstreueprinzip als immanenten Grundsatz verstoßen.
180
Representaçâo Nr. 1016, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 95, S. 993 (999); Açâo Rescisória Nr. 878, Berichterstatter: Richter Rafael Mayer, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 94, S. 49 (58); Representaçâo Nr. 1405, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diario da Justiça vom 1.7.88. 181 Die Verfassung von 1988 hat der sogenannten Doppelfunktion des Bundesgeneralstaatsanwalts mit der Einrichtung eines Organes, das sich ausschließlich um die gerichtliche Vertretung des Interesses des Bundes vor Gericht und um die juristische Beratung der Exekutive kümmern sollte, ein Ende gesetzt (Art. 131). Dieses Organ soll vom Generalanwalt des Bundes (Advogado-Geral da Uniâo) geleitet werden, der von dem Präsidenten der Republik ernannt wird und jederzeit entlassen werden kann. S. dazu unten C, III, 2, b, bb. 182 Mendes, Controle de Constitucionalidade, S. 261. *
5 2 Β .
Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
Gemäß Art. 5 L X der Verfassung und Art. 124 i.V.m. Art. 154 II der Geschäftsordnung entscheidet das Gericht aufgrund öffentlicher Verhandlung, es sei denn, der Schutz der Intimität oder des sozialen Interesses verlange anderes. Die Verteilung der Verfahren zwischen den 10 Richtern — der Präsident des Gerichts nimmt daran nicht teil — erfolgt nach Art. 66 und 67 der Geschäftsordnung in einer öffentlichen Sitzung durch Los, so daß von Anfang an der berichterstattende Richter festgelegt wird. Nach Art. 68 der Geschäftsordnung kommt eine neue Verfahrensverteilung nur in Betracht, wenn ein Richter für eine Zeitspanne von mehr als 30 Tagen verhindert ist. Besondere Bedeutung wird durch die Geschäftsordnung des Gerichts dem berichterstattenden Richter beigemessen. Er soll sich gemäß Art. 21 der Geschäftsordnung um die Leitung des Verfahrens kümmern, eventuell dem Plenum, der Kammer oder dem Präsidenten Vorfragen stellen, in dringenden Fällen auch einstweilige Verfügungen erlassen, die vom Plenum oder einer der Kammern zu bestätigen sind. Es ist auch zulässig, Prozesse verschiedener Verfahrensarten miteinander zu verbinden, wenn sie sich auf dieselben oder voneinander abhängigen Fragen beziehen183. Die Entscheidungen im abstrakten Normenkontrollverfahren, die in Rechtskraft erwachsen sind, haben gemäß Art. 175 i.V.m. Art. 178 der Geschäftsordnung allgemeine Wirkung (eficâcia geral) — eine Art von Gesetzeskraft 184. Im Gegensatz dazu haben die Entscheidungen, die im konkreten Fall ein Gesetz inzident für verfassungswidrig erklären, nur Wirkung inter partes. Seit 1934 besteht aber, wie angedeutet185, die Möglichkeit, diesen Entscheidungen Gesetzeskraft zu verleihen, wenn der Bundessenat das vom Obersten Gerichtshof inzident für verfassungswidrig erklärte Gesetz aufhebt. Dieses Erfordernis, obwohl es vor allem wegen der besonderen Bedeutung, die der Verfassungsgeber der abstrakten Normenkontrolle beigemessen hat, nicht mehr zeitgemäß zu sein scheint, wurde auch in Art. 52 X der neuen Verfassung aufgenommen. Deswegen ist das Gericht dazu verpflichtet, unmittelbar, nachdem die Entscheidung in Rechtskraft erwachsen ist, diese dem Bundessenat mitzuteilen, damit er über die Aufhebung der Ausführung des Gesetzes entscheidet186. 183 Vgl. Representaçâo Nr. 1293, Berichterstatter: Richter Sydney Sanches, Revista de Direito Administrativo Nr. 172, S. 137 und Mandado de Segurança Nr. 20.555, Berichterstatter: Richter Néri da Silveira, Diàrio da Justiça vom 25.3.88. 184 S. dazu unten D, III, 2, a. iss S. dazu oben B, /, 2, c. 186 Nach der herrschenden Lehre ist aber der Bundessenat nicht dazu verpflichtet, das für verfassungswidrig gehaltene Gesetz sofort aufzuheben (Vgl. Mandado de Segurança Nr. 16.512, vom 25.5.1966, in: Revista Trimestral de Jurisprudência 38, S. 1 ff.; S. auch Brossard, Paulo, Ο Senado e as leis inconstitucionais, Revista de Informaçâo Legislativa Nr. 50, S. 1 (62).
II. Die abstrakte Normenkontrolle im Vergleich
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Die Entscheidung, die der Oberste Gerichtshof in der sogenannten interventiven Feststellungsklage trifft, stellt gemäß Art. 36 I I I und Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 der Verfassung nur fest, daß durch die beanstandete Maßnahme ein Bundesland gegen ein sensibles Prinzip der föderativen Ordnung verstoßen hat. Ihre Rechtsunwirksamkeit wird nicht erklärt (Feststellungsurteil) 1* 1. Wenn der Klage stattgegeben wird, soll der Oberste Gerichtshof es dem Präsidenten der Republik mitteilen, der dann gemäß Art. 36 Abs. 1 der Verfassung und Art. 175 der Geschäftsordnung über den Einsatz der Bundesexekution entscheidet. Die Entscheidungsformel und die Leitsätze der Urteile des Obersten Gerichtshofes sowie Zwischenurteile werden zunächst im Diàrio da Justiça da Uniâo (Justizblatt des Bundes) veröffentlicht. Ferner verfügt das Gericht über ein offizielles Organ, die Revista Τ rime strai de Jurisprudência (Zeitschrift der Rechtsprechung) 1™, die eine selektive Sammlung der Entscheidungen publiziert. Für die Verfahren des Obersten Gerichtshofs werden grundsätzlich Gerichtskosten (Gerichtsgebühren und sonstige gerichtliche Auslagen) von den Parteien erhoben. Das Habeas Corpus-Verfahren, die Berufungen der Angeklagten in strafrechtlichen Verfahren und das abstrakte Normenkontrollverfahren sind dagegen kostenfrei.
I I . Die abstrakte Normenkontrolle im Vergleich 1. Einleitung Ein Vergleich der abstrakten Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht und der brasilianischen direkten Verfassungswidrigkeitsklage (açâo direta de inconstitucionalidade) hat davon auszugehen, daß beide jeweils verschiedenen Systemen von Normenkontrolle angehören, die nach zwei grundsätzlichen, differenzierten Konzeptionen entstanden sind. Die Untersuchung soll sich daher auf die historische Entwicklung sowie auf die mehrjährige Praxis beider Institute in der deutschen und brasilianischen Rechtsordnung erstrecken.
187 Die Entscheidung in der interventiven Feststellungsklage weist Ähnlichkeiten mit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bei den Bundesorganstreitigkeiten und bei den Bund-Länder Streitigkeiten auf, bei denen es sich lediglich um ein Feststellungsurteil handelt (BVerfGG § 67 S. 3). 188 Die Revista Trimestral de Jurisprudência , gegründet im Jahre 1957, hat inzwischen 126 Bände erreicht.
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Β. Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
2. Die abstrakte Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht a) Vorgeschichte aa) Vorbemerkung Die Möglichkeit der Ausbildung eines Verfahrens, das nicht notwendigerweise auf den Schutz von subjektiven Rechten abstellt, wurde von der deutschen Lehre bereits am Ende des letzten Jahrhunderts anerkannt 1. Der Gedanke, daß als Voraussetzung jeder Rechtsprechung zwei Subjekte über den Umfang ihres Rechtskreises miteinander streiten, d. h. jede Rechtsprechung nur als ein Schutz „subjektiver Rechte " anzusehen war, enthielt für von Gneist eine civilistische petitio principi 2. Bereits in der Beratung zur Weimarer Verfassung wurde vom Abgeordneten Ablaß eine Verfassungsvorschrift vorgeschlagen, die ein abstraktes Verfahren einführen sollte: „Wenn 100 Mitglieder des Reichstags es beantragen, ist der Staatsgerichtshof dazu berufen, die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und die Übereinstimmung von Verwaltungsakten mit den Grundsätzen der Verfassung zu prüfen. Die Entscheidung des Staatsgerichtshofes ist bindend"3. Dieser Entwurf stieß auf heftige Kritik und wurde abgelehnt4. bb) Die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 13 Abs. 2 der Weimarer Verfassung Art. 13 Abs 2 WRV sah vor: „Bestehen Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten darüber, ob eine landesrechtliche Vorschrift mit dem Reichsrecht vereinbar ist, so kann die zuständige Reichsoder Landeszentralbehörde nach näherer Vorschrift eines Reichsgesetzes die Entscheidung eines Gerichtshofes des Reichs anrufen". Dieser Verfassungsnorm entsprechend hat zunächst das Landessteuergesetz vom 30. März 19205 den Finanzhof für zuständig erklärt, bei Streitigkeiten zwi1
von Gneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland, 1879, S. 271; Vgl. dazu Stephan, Das Rechtsschutzbedürfnis, S. 84. 2 von Gneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland, 1879, S. 271. 3 39. Sitzung vom 6.6.1919 Vertr. d. Verfg. Dt. Vers. Bd. 336 Aktenstück Nr. 391, S. 483. Vgl. dazu Külz, DJZ 1926, S. 838; Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 38. 4 Vgl. Protokolle des Verfassungsausschusses Nr. 391, S. 483 ff. Ferner, S. auch Külz, DJZ 1926, S. 838. 5 RGBl. S. 402.
II. Die abstrakte Normenkontrolle im Vergleich
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sehen dem Reichsfinanzminister und einer Landesregierung über die Frage zu entscheiden, ob landesrechtliche Steuervorschriften mit dem Reichsrecht vereinbar seien (§ 6 Abs. 1). Unmittelbar darauf hat das Reichsgesetz zur Ausführung des Art. 13 Abs. 2 der Reichsverfassung, vom 8. April 19206, unter Aufrechterhaltung der Spezialklausel des Landessteuergesetzes, das Reichsgericht zur Entscheidung der Streitfragen i. S. des Art. 13 der Weimarer Verfassung berufen (§§ 1,4). Dieses Gesetz stellt in Aussicht, daß nach der Einrichtung eines Reichsverwaltungsgerichts dieses innerhalb seines Aufgabenbereichs für zuständig erklärt wurde, über Meinungsverschiedenheiten i.S. Art. 13 Abs. 2 WRV zu entscheiden. Zur Einrichtung dieses Gerichts ist es jedoch nicht gekommen7. Schließlich hat das sogenannte Besoldungssperrgesetz vom 21. Dezember 19208 i.S. Art. 13 Abs. 2 WRV die Entscheidung darüber, ob die landesrechtlichen Besoldungsvorschriften mit den Normen des Sperrgesetzes vereinbar seien, dem Reichsverwaltungsgericht zugewiesen. Solange dieses noch nicht errichtet wäre, sollte ein besonders organisiertes Reichsschiedsgericht die Entscheidung treffen (§§ 6, 7). Es mußte kein konkreter Rechtsstreit zwischen Reich und Ländern bestehen, um die Anrufung des Gerichts zu rechtfertigen. Veranlassung zur Anrufung des Gerichts war gegeben, wenn „Zweifel oder Meinungsverschiedenheit" über Reichsrecht bestanden. Nicht relevant waren auch die Stellen, bei welchen Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten entstanden9. Es genügte, daß die zuständige Reichs- oder Landeszentralbehörde i.S. Art. 13 Abs. 2 WRV sich die Zweifel zu eigen machte10 oder sie, wenn sie sie nicht teilte, doch für wichtig genug hielt, daß sie eine Gerichtsentscheidung herbeiführte 11. Schon damals erkannte die herrschende Lehre die besondere Qualität dieses Instituts, denn „die subjektivrechtliche Seite des Streites" ( . . . ) trat „so stark in den Hintergrund" (...), „ daß auch hier noch von dem Schutze zum mindesten überwiegend objektiven Rechts " gesprochen werden könnte 12 . Die Beschränkungen der Antragsberechtigung ermöglichten es dem einzelnen Staatsbürger, einer Partei oder einer öffentlichen Korporation nicht, von sich aus
6 RGBl. S. 510. Vgl. auch Apelt, W., Geschichte der Weimarer Verfassung, S. 167. s RGBl. S. 2117. 9 Vgl. dazu Flad, Verfassungsgerichtsbarkeit und Reichsexekution, S. 39-40; S. auch Triepel, Streitigkeiten, S. 67. Triepel nahm aber an, daß die Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten an einer beachtenswerten Stelle herrschen mußten. 10 Flad, Verfassungsgerichtsbarkeit und Reichsexekution, S. 40. 11 Vgl. Hoke, Verfassungsgerichtsbarkeit in den deutschen Ländern, in: Starck / Stern, Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Bd. I, S. 25 (93). 12 Jellinek, W., Der Schutz des öffentlichen Rechts, VVDStRL 2 (1925), S. 8 (4041); Flad, Verfassungsgerichtsbarkeit und Reichsexekution, S. 39-40; Triepel, Streitigkeiten, S. 39; Ders. Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL, 5 (1929), S. 2 (26-27). 7
Β. Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
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ein Verfahren in Gang zu setzen13. Ihnen blieb nur übrig, entweder die zuständige Landeszentralbehörde für die Rechtsfrage zu interessieren oder die Reichsaufsicht anzurufen 14. Nach § 3 Abs. 3 des Ausführungsgesetzes hatten die Beschlüsse, die das Reichsgericht oder der Reichsfinanzhof nach Maßgabe des Art. 13 Abs. 2 WRV erließ, Gesetzeskraft. In der Literatur wurde die Auffassung vertreten, daß neben der Aufhebung des Gesetzes mit allgemeiner Wirkung die Entscheidung auch die Bedeutung einer authentischen Interpretation des Reichsgesetzes haben müsse 15 . Das sollte mit anderen Worten bedeuten, daß das geltende Reichsrecht eine landesrechtliche Vorschrift wie die aufgehobene nicht dulden werde, auch nicht eine künftige sowie die gleichlautende oder gleichbedeutende eines anderen Landes16 . cc) Die abstrakte Normenkontrolle und die Diskussion über die Monopolisierung der Kontrolle von Reichsgesetzen beim Staatsgerichtshof Bereits auf dem Heidelberger Juristentag (1924) wurde im Zusammenhang mit der Zulässigkeit der Verfassungsänderungen die Einführung des Antragsrechts einer qualifizierten Reichstagsminderheit (mehr als ein Drittel der Mitglieder) gegen Reichsgesetze vor dem Staatsgerichtshof von Triepel und Graf von Dohna befürwortet 17. Im Hinblick auf eine Erweiterung der abstrakten Normenkontrolle hatte der Innenminister Külz einen Vorentwurf vorgelegt, der ein besonderes Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen und Reichsverordnungen beim Staatsgerichtshof vorsah 18 . Nach diesem Entwurf konnten der Reichstag, der Reichsrat 19 oder die Reichsregierung im Falle von Zweifel oder Mei13
Flad, Verfassungsgerichtsbarkeit und Reichsexekution, S. 41; S. dazu auch Hoke, Verfassungsgerichtsbarkeit in den deutschen Ländern in: Starck / Stem, Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Bd. I, S. 25 (93). 14 Flad, Verfassungsgerichtsbarkeit und Reichsexekution, S. 41. Der letzte angesprochene Weg wurde mit Erfolg eingeschlagen. 5 ι Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 107; Jellinek, W., Der Schutz des öffentlichen Rechts, VVDStRL 2 (1925), S. 8 (43); Triepel dagegen vertrat die Auffassung, daß die Urteilswirkung sich auf das beschränkte, was der im Reichsgesetzblatt veröffentliche Tenor besagte. Die Gründe, die nicht publiziert werden durften, nahmen daher an der Gesetzeskraft nicht teil. Deshalb könnte das Urteil nicht die Kraft einer authentischen Interpretation besitzen (Streitigkeiten, S. 112). 16 Jellinek, W., Der Schutz des öffentlichen Rechts, VVDStRL 2 (1925), S. 8 (43). 17 Verhandlungen des 33. Deutschen Juristentags(1925), S. 43 und 63. is Vgl. den Aufsatz von Reichsminister des Innern, Dr. Külz, DJZ, 1926, S. 837 ff. 19 Die Einräumung eines Antragsrechts für den Reichstag gestattete, wie von Grau hervorgehoben wurde, einfach der Reichstagsmehrheit, ein Reichsgesetz anzugreifen. Die Mehrheit dieser Körperschaften würde aber mit Sicherheit nicht dazu bereit sein,
II. Die abstrakte Normenkontrolle im Vergleich
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nungsverschiedenheit darüber, ob eine als Gesetz oder Verordnung verkündete Rechtsvorschrift des Reichsrechts mit der Reichsverfassung in Einklang stünde, den Staatsgerichtshof anrufen 20. Der 34. Juristentag in Köln (1926) hat die Forderung erhoben, das Prüfungsrecht auf den Staatsgerichtshof zu beschränken 21. Nach diesem Vorschlag sollte in Art. 19 WRV eine Bestimmung eingefügt werden, die dem Staatsgerichtshof die Zuständigkeit für die Entscheidung in Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung der Verfassung zuwies, soweit nicht ein anderer Gerichtshof des Reichs oder eines Landes zuständig gewesen wäre 22 . Der von Anschütz vorgelegte „Gesetzentwurf über die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften des Reichsrechts " sah vor, daß die Prüfung der Gültigkeit von Reichsgesetzen nur dem Staatsgerichtshof zustehe (§ 1). § 2 dieses Gesetzentwurfs sah ein abstraktes Normenkontrollverfahren vor, das auf Antrag des Reichstags, der Reichsregierung, des Reichsrats und der Minderheiten des Reichstags und des Reichsrats, die ein Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl übersteigt, eingeleitet werden konnte, wenn Zweifel oder Meinungsverscheidenheit über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetz und Verordnung vorlagen 23 . Gemäß § 7 dieses Entwurfs sollte die Entscheidung des Staatsgerichtshofs mit der „Kraft eines verfassungsändernden Reichsgesetzes" ausgestattet werden 24 . Im Jahre 1926 hat die Reichsregierung dem Reichstag den Entwurf eines Gesetzes über die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften des Reichsrechts vorgelegt 25 , der das richterliche Prüfungsrecht regeln und die endgültige Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit eines Reichsgesetzes beim Staatsgerichtshof monopolisieren sollte. Dieser endgültige Entwurf, der vor allem auf die Beschlüsse des 34. Juristentages zurückging 26 , sah ein abstraktes und konkretes Normenkontrollverfahren beim Staatsgerichtshof vor (§§1 und 6).
da sie dem Gesetz zugestimmt hatte (Grau, AöR 11 (1926), 287 (293). Auch die Einräumung des Antragsrechts für den Reichsrat, die ebenfalls gleichbedeutend mit der Anerkennung des Antragsrechts für dessen Mehrheit war, schien nicht folgerichtig zu sein, weil einerseits die Reichsratsmehrheit das Einspruchsrecht und andererseits jedes Land für sich das Recht hatte, ein Reichsgesetz als verfassungswidrig durch Klage vor dem Staatsgerichtshof anzugreifen (Grau, AöR 11 (1926), S. 287 (298-299). 20 Vgl. den Aufsatz von Reichsminister des Innern, Dr. Külz, DJZ, 1926, S. 837 ff.; S. auch Grau, AöR 11 (1926), S. 287 (288-289). 21 Vgl. Verhandlung des 34. Juristentags, 1926, S. 193 ff., 288 und 362. 22 Vgl. Verhandlungen des 34. Juristentags, 1926, S. 193 ff. 23 Verhandlungen des 34. Juristentags, 1926, S. 194; S. auch die Ausführungen von Anschütz, Verhandlungen, a.a.O., S. 202 ff. S. dazu auch oben Β, I, 1 b. 24 Verhandlungen des 34. Juristentags, 1926, S. 195. 25 Verhandlungen des 33. Reichstags, III. Wahlperiode, Drucksache Nr. 2855, Bd. 412. 26 Vgl. Verhandlungen des Reichstags, III. Wahlperiode, Drucksache Nr. 2855, Bd. 412, Amtliche Begründung zum Entwurf, S. 4 f; S. auch Maurer, DöV 1963, S. 683 (687).
5 8 Β .
Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
Nach diesem Vorschlag konnte das abstrakte Normenkontrollverfahren von mehr als einem Drittel der Mitglieder des Reichstags, mehr als einem Drittel der im Reichsrat vertretenen Stimmen oder der Reichsregierung beantragt werden, wenn Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes bestanden (§ 1). Dieser Entwurf sah auch die Möglichkeit einer Erweiterung des Prüfungsgegenstands vor, wenn der Staatsgerichtshof andere Bestimmungen des gleichen Gesetzes für verfassungswidrig hielt (§ 4). Die Entscheidung, die die Reichsregierung ohne Begründung im Reichsgesetzblatt zu veröffentlichen hatte, wurde mit Gesetzeskraft ausgestattet (§ 5). Der Entwurf wurde dem Reichsrat und, nachdem dieser ihn einstimmig angenommen hatte, am 11.12.1926 dem Reichstag vorgelegt als „Entwurf eines Gesetzes über die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften des Reichsrechts" 2 7 . Die Vorlage ist aber in dem zuständigen Reichstagsausschuß stecken geblieben und niemals zur weiteren Beratung ins Plenum gelangt 28 . Der Vergleich zwischen dem damaligen Entwurf und der heutigen Regelung zeigt, daß beide in der grundsätzlichen Konzeption übereinstimmen. Die Unterschiede bestehen nur darin, daß gemäß dem Entwurf der Prüfungsgegenstand auf das Reichsrecht beschränkt und die Antragsberechtigung der Reichsregierung und mehr als einem Drittel der Mitglieder des Reichstags oder auch mehr als einem Drittel der im Reichsrat vertretenen Stimmen anvertraut wurde.
b) Die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG und §§ 13 Nr. 6, 76 BVerfGG aa) Vorbemerkung Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG geht wie Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 und 4 auf Art. 44 des Herrenchiemseer Entwurfs zurück 29 . Dieser lautet: „(1) Bestehen Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und Ländern 1. über Vereinbarkeit von Bundesrecht mit dem Grundgesetz, 2. über Vereinbarkeit von Landesrecht mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht, 3. über gegenseitige Rechte und Rechtspflichten von Bund und Ländern, insbesondere auch im Vollzug von Bundesrecht und der Bundesaufsicht, 4. über sonstige Rechtsbeziehungen des öffentlichen Rechts zwischen dem Bund und einem Land,
27 Verhandlungen des Reichstags, III. Wahlperiode, Drucksache Nr. 2855, Bd. 412; S. auch Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 375. 28 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 375. 2 9 Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 21.
II. Die abstrakte Normenkontrolle im Vergleich
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so entscheidet auf Antrag des Bundes oder eines Landes das Bundesverfassungsgericht. (2) Das Bundesverfassungsgericht entscheidet auf Antrag eines Landes auch über Streitigkeiten öffentlich-rechtlicher Natur zwischen verschiedenen Ländern" 30. Der Art. 98 HCHE, der die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts aufzählt, bezieht sich auf Art. 44 mit folgenden Worten: „Das Bundesverfassungsgericht entscheidet... 3. über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten zwischen dem Bund und den Ländern (Art. 44)" 31. In den Kommentaren zu Art. 98 Ziff. 3 des Entwurfs wird hervorgehoben, daß der Begriff „öffentlich-rechtliche Streitigkeiten" nach Maßgabe des Art. 19 WRV auszulegen sei, wo von „Streitigkeiten nicht privatrechtlicher Art zwischen dem Reich und einem Land" 3 2 die Rede war 33 . Dies zeigt, daß Art. 44 HCHE sein Vorbild nicht im objektiven Verfahren 34 des Art. 13 Abs. 2 WRV hatte, sondern in einem Verfahren, in welchem Bund und Länder über Verfassungsfragen streiten 35. Auch die Stellung des Art. 44 HCHE im Abschnitt „Der Bund und die Länder " wies darauf hin, daß es bei der Normenkontrolle in erster Linie um den Schutz der Kompetenzordnung zwischen Bund und Ländern ging 36 . In den Verhandlungen des Parlamentarischen Rats hat Art. 44 HCHE viele Änderungen erfahren. Der Rechtspflegeausschuß vereinigte das abstrakte Normenkontrollverfahren mit der konkreten Normenkontrolle. Auf Antrag der Abgeordneten Chapeaurouge (CDU) und Dehler (FDP) wurde ein Antragsrecht der Minderheit des Bundestages (ein Drittel der Mitglieder) aufgenommen 37. Der 30 Bericht über den Verfassungskonvent von Herrenchiemsee vom 10. bis 23.4.1948, S. 67. 31 Bericht über den Verfassungskonvent von Herrenchiemsee vom 10. bis 23.4.1948, S. 67. 32 Bericht über den Verfassungskonvent von Herrenchiemsee vom 10. bis 23.4.1948,S. 89. 33 Vgl. dazu Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 21. 34 Dazu S. Triepel, Staatsgerichtbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 2 (26-27). 35 Vgl. Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. ?1. 36 Vgl. dazu Babel, Abstrakte Normenkontrolle, 1965, S. 22. 37 Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, S. 79. Das Antragsrecht eines Drittels der Mitglieder des Bundestags konkretisiert die Idee eines Minderheitsschutzes. S. dazu oben Β, II, 2, a, aa und cc. Die Idee eines Minderheitsschutzes im Wege der abstrakten Normenkontrolle gewann neue Qualität mit dem Referat von Kelsen auf der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer im Jahre 1928, der dieses Institut als geeignetes Instrument zur Verwirklichung der demokratischen Prinzipien vorgestellt hat (Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1925), S. 30 (75 und 80-81); Vgl. auch Marcie, René, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, S. 359-360). Die demokratische Idee kann nach dem Kelsenschen Modell nur beibehalten werden, wenn bestimmte Mechanismen vorliegen, die geeignet sind, eine Diktatur der Majorität mittels Durchsetzung der Verfassung zu vermeiden. Die Staatsgerichtsbarkeit könnte diese Durchsetzungsinstanz sein, indem sie die Verfassung gegen die „politische Macht" des Gesetzgebers verwirklicht (Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 30 (78, 80, 81).
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Β. Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
Vorschlag des Abgeordneten Seebohm, der sowohl dem Bundespräsidenten als auch jeweils 1/5 der Mitglieder des Bundestages oder eines Landstages ein Antragsrecht einräumen wollte, ist jedoch abgelehnt worden 38 . Die Fassung des Art. 128 Ziff. 3 nach dem Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses lautete: (Das Bundesverfassungsgericht entscheidet) . . . „Über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht und Landesrecht mit dem Grundgesetz oder die Vereinbarkeit von Landesrecht mit sonstigem Bundesrecht auf Antrag eines Gerichts (Art. 137 Abs. 1) oder auf Antrag der Bundesregierung oder einer Landesregierung (Art. 44, 148a) oder von einem Drittel der Mitglieder des Bundestages"39. Diese Bestimmung machte weder „Zweifel " noch „Meinungsverschiedenheit " zur Voraussetzung. Das Vorliegen von Zweifel oder Meinungsverschiedenheit war im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Bund und Ländern in der von dem Redaktionsausschuß vorgeschlagenen Fassung des Art. 44 vorgesehen 40. Hier stand fest, daß beim Antrag der Regierungen Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten zwischen Bundes- und Landesregierungen vorliegen mußten. Dieses Verständnis konnte jedoch nicht auf das Antragsrecht der Abgeordneten ausgeweitet werden 41 . Mit der definitiven Streichung des Art. 44 auf Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses wurde eindeutig festgestellt, daß die Voraussetzung des Bestehens von „Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten" auch für die Antragstellung von Abgeordneten galt 42 . Der für die dritte Lesung von dem Allgemeinen Redaktionsausschuß vorgeschlagene Wortlaut wurde am 10.2.1949 angenommen und entsprach bereits der Fassung des heutigen Art. 93 GG 4 3 . Die endgültige Fassung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG räumt der Bundesregierung, einer Landesregierung oder einem Drittel der Mitglieder des Bundestages im Falle von Zweifeln oder Meinungsverschiedenheit über die Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit dem Grundgesetz oder über die Vereinbarkeit von Landesrecht mit sonstigem Bundesrecht das Antragsrecht ein. Das BVerfGG hat die bestimmenden Zuständigkeits- und Verfahrensregeln in §§ 13 Nr. 6, § 76 ff BVerfGG festgelegt. § 76 BVerfGG hat die Zulässigkeit des Antrags restriktiv 44 konzipiert, indem er festlegt: 38
Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, S. 80. 39 JöR 1, S. 675. 40 JöR 1, S. 680. 41 Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 23. 42 Vgl. dazu Parlamentarischer Rat, Drucksache Nr. 591, S. 189; Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 23. 43 Vgl. dazu Parlamentarischer Rat, Drucksache Nr. 591, S. 225.
II. Die abstrakte Normenkontrolle im Vergleich
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„Der Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Drittels der Mitglieder des Bundestages gemäß Art. 93 Abs.l Nr. 2 des Grundgesetzes ist nur zulässig, wenn einer der Antragsberechtigten Bundes- oder Landesrecht 1. wegen seiner förmlichen oder sachlichen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz oder dem sonstigen Bundesrecht für nichtig hält oder 2. für gültig hält, nachdem ein Gericht, eine Verwaltungsbehörde oder ein Organ des Bundes oder eines Landes das Recht als unvereinbar nicht angewendet hat". Auf die Einzelheiten dieser Vorschrift und die gegen sie vorgebrachten Einwände soll an dieser Stelle noch nicht eingegangen werden. bb) Die abstrakte Normenkontrolle in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts Die abstrakte Normenkontrolle hat sich von Anfang an einen festen Platz in der verfassungsgerichtlichen Praxis gesichert, nicht zuletzt, weil vielfach Rechtsfragen von erheblicher, insbesondere politischer Tragweite Gegenstand eines Normenkontrollverfahrens waren und ein wesentlicher Teil der politisch bedeutenden Verfassungsprozesse in Form von abstrakten Normenkontrollverfahren durchgeführt worden ist 45 . Statistisch ist die abstrakte Normenkontrolle aber im Vergleich zu anderen Verfahrensarten eher unterrepräsentiert 46. In der Periode von 1951 -1989 wurden lediglich 56 Entscheidungen in abstrakten Normenkontrollverfahren getroffen 47. Bereits zu Beginn seiner Judikatur hat das Gericht die Doppelfunktion der abstrakten Normenkontrolle sowohl als geeignetem Instrument zum Schutz der Verfassung (Abwehrfunktion) 4* mit der Feststellung der VerfassungsWidrigkeit als auch zur Klärung einer umstrittenen Rechtslage mit der Klarstellung anerkannt, daß keine Normenkollision besteht49. 44 Vgl. § 70 des Regierungsentwurfs vom 28.3.1950, Drucksache 788 und Begründung dazu, S. 33; S. auch Verhandlungen des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht über das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht, 1. Wahlperiode, Bonn, 1949, S. 39; Vgl. dazu Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (302-303); Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 64-65. 45 Lechner, BVerfGG, § 76 Anm. 5; Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 293; von Mutius, Jura, 1987, S. 534. 46 In der Periode von 1951-1986 wurden z.B. 52 Entscheidungen in abstrakten Normenkontrollverfahren und 830 in konkreten Normenkontrollverfahren getroffen; Vgl. dazu von Mutius, Jura, 1987, S. 534 (535). 47 Vgl. die Statistik bis 1986 in: von Mutius, Jura, 1987, S. 534 (535). Dazu sind noch die Entscheidungen in den Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §116 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 und S. 2 des Arbeitsförderungsgesetzes in der Fassung des Gesetzes vom 15.5.86 (BVerfGE 76, 99), des Mediengesetzes von Baden-Württemberg vom 16.12.85 (BVerfGE 77,345), des § 57 a, 60,61 des Hessischen Personalvertretungsgesetzes vom 2.1.79 (BVerfGE 79,255) und des § 2 Abs. 1 des Bundeshaushaltsgesetzes vom 13.6.1981 (BVerfGE 79, 311) zu berücksichtigen. 4 » BVerfGE 1, 184 ff.
62
Β. Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
Es ist aber darauf hinzuweisen, daß es wegen der besonderen Auswahl der Antragsberechtigten zum Verfahren der abstrakten Normenkontrolle in der Regel kommt, wenn das betreffende Gesetz zwischen der Regierungsmehrheit und der parlamentarischen Opposition umstritten ist, was dieser selbst oder einem der von ihr regierten Bundesländer Anlaß gibt, die Regelung anzugreifen 50. Andererseits ermöglicht es die abstrakte Normenkontrolle wegen ihres engen numerus clausus von Antragsberechtigten, daß nur diejenigen Fragen überprüft werden, die die Antragsberechtigten zur Überprüfung stellen 51 (eine Übersicht der Entscheidungen im abstrakten Normenkontrollverfahren in der Periode von 1951 1989 wird in der Tabelle I vorgelegt). Außerdem wird das abstrakte Normenkontrollverfahren nicht selten zur Lösung von Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern in Anspruch genommen, da diese sich meist an Gesetzen entzünden52. Zum Austrag dieser föderativen Streitigkeiten scheint dieses Verfahren besonders geeignet zu sein, denn es kennt keine Frist, hat eine größere Zahl von Antragsberechtigten und inter omnes Wirkung 53 (S. die Übersicht in Tabelle I). Die verfahrensrechtliche Ausgestaltung der abstrakten Normenkontrolle eröffnet, wie bereits angedeutet, die Möglichkeit, daß sich die parlamentarische Opposition dieses Instruments im politischen Kampf bedient. Zwingend in dem Sinne, daß allein die Opposition davon Gebrauch machen könnte, ist das nicht, da § 76 BVerfGG zwei alternative Ansatzpunkte enthält, von denen der zweite die Einleitung eines Normenkontrollverfahrens durch die Regierung ermöglicht 54 . Damit könnte auch die Regierung einen Beitrag zur Klarstellung einer Norm leisten, wofür es auch Beispiele in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gibt 55 . 49 BVerfGE 1, 396 (413). 50 Vgl. vor allem die SPD-Klagen gegen die Adenauersche Außenpolitik: 1, 396 (Wehrpflicht, EVG); 4, 157 (Saar-Statut); die hessischen Klagen gegen Parteienfinanzierung (8,51; 20,56) und gegen NotstandsG (30,1), der Senate von Bremen und Hamburg und der Regierungen von Hessen und Nordrhein-Westfalen gegen das Kriegsdienstverweigerungs-Neuordnungsgesetz — KDVNG) (69, 1) sowie die Klagen der CDU / CSU gegen Fristenlösung (39, 1) und Wehrpflichtnovelle (48, 127), der bayerischen Staatsregierung gegen den Grundvertrag (36, 1), der niedersächsischen Regierung gegen § 10 b des Einkommensteuergesetzes vom 5.12.77 (53, 63), CDU-CSU gegen § 2 Abs. 1 des Haushaltsgesetzes 1981 (BVerfGE 79, 311)1; femer S. auch Bryde, Verfassungsentwicklung, 1980, S. 155; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 68; Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, S. 63 ff.; Säcker, BayVBl. 1979, S. 193 (198). 51 Vgl. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 105; Vgl. auch Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 68. 52 BVerfGE 37, 363; BVerfGE 39, 96; BVerGE 61, 149; Femer Vgl. dazu Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 55. 53 Stem, Bonner Kommentar, Art. 93 RdNr, 356; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 55. 54 Vgl. Jekewitz, JZ 1978, S. 667 (673-4). 55 BVerfGE 2, 307; BVerfGE 6, 104; BVerfGE 12,205 (217 ff.); Vgl. auch 2, 143 (158).
II. Die abstrakte Normenkontrolle im Vergleich
63
Tabelle I Übersicht über die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im abstrakten Normenkontrollverfahren 1952-1989 Jahr
Antragsteller
Prüfungsgegenstand
1952
Ein Drittel der Mitglieder des Bundestags
Entwürfe von Gesetzen betr. den Vertrag zwischen der BRD und den drei Mächten vom 26.5.1952, betr. das Abkommen über die steuerliche Behandlung der Streitkräfte vom 26.5.52, Entwurf betr. den Vertrag über die Gründung der Eur. Verteidigungsgemeinschaft vom 27.5.1952; Entwurf eines Gesetzes betr. den Vertrag zwischen dem Vereinigten Königreich und den Mitgliedstaaten der Eur. Verteidigungsgemeinschaft vom 27.5.1952, Entwurf eines Gesetzes betr. das Abkommen über die Rechtsstellung der Eur. Verteidigungskräfte und über Zoll- und Steuerwesen der Eur. Verteidigungsgemeinschaft vom 27.5.1952.
Reg. v. B.-Württ., Gesetz über den Finanzausgleich im Rechungsjahr 1950 Senat v. Hamburg vom 16.3.1951 und die 1. Verordnung zur Durchführung dieses Gesetzes vom 26.6.1951. Verordnung des Landesministeriums über Änderung des Landgerichtsbezirks Bückburg und Hannover vom 8.7.1952.
1953
1955
ein Drittel des Bundestags
Bundesgesetz vom 21.3.1955 betr. Abkommen über das Saar-Statut vom 23.10.1954.
1956
Bayer. Staatsreg.
Gesetz über die vorläufige Regelung der Errichtung neuer Apotheken v. 13.1.1953 i.d.F. des Änderungsgesetzes vom 4.7.1953 und vom 10.8.1954 und des 2. Gesetzes über die vorläufige Regelung der Einrichtung neuer Apotheken vom 23.12.1955.
1957
Reg. NRW
§ 30 Abs. 6 des Landesgesetzes über die Kommunal wählen von Nordrhein-Westfalen vom 12.6.1954.
1958
Reg. v. R.-Pfalz
Erste Anordnung des Verwaltungsamts des Reichbauernführers zur Verordnung über den Anbau von Weinreben v. 1.4.37.
Reg. v. Hessen
a) § 10 b des Einkommensteuergesetzes i.d.F. vom 21.12.1954; b) § 11 Ziff. 5 des Körperschaftssteuergesetzes i.d.F. v. 21.12.54; c) § 49 Ziff. 1 u. 2 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung v. 21.12.53; d) § 26 Ziff. 1 u. 2 der Körperschaftssteuer-DurchführungsVerordnung v. 23.12.55; e) zweite Verordnung über den Abzug von Spenden zur Förderung staatspolitischer Zwecke vom 23.10.56.
Reg. v. NRW
§ 9 Abs. 1 Buchst a, b, e und f des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht vom 23.9.1952.
Senat v. Hamburg § 14 Abs. 2 und § 17 des Gesetzes zur Regelung des Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 GG fallenden Personen vom 11.5.1951. Fortsetzung nächste Seite
64
Β. Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
Jahr
Antragsteller
1958
Bundesregierung
1959
1960 1961
1962 1966
1967
1968
Prüfungsgegenstand
Das hamburg. Gesetz vom 9.5.58 und das bremische Gesetz v. 20.5.58 betr. Volksbefragung über Atomwaffen. Polizeiverordnung des Innenministers des Landes NRW betr. das Verbot der Volksbefragung über die Remilitarisierung Deutschlands vom 28.4.1951. Senat v. Bremen §§59 bis 61 des bremischen Personalvertretungsgesetzes vom 3.12.1957. Reg. v. B.-Württ., Gesetz über Errichtung einer „Preußischen KulturbesitzHessen, Nieders. Stiftung" vom 25.7.57. Bayer. Reg. Gesetz über Tilgung von Ausgleichsforderungen v. 14.6.56 i.d.F. des § 11 des Ges. zur Aufbesserung von Leistungen aus Renten- und Pensionsversicherungen sowie aus Kapitalzwangsvers. v. 24.12.56 und des § 26 des Gesetzes über die Ergänzung von Vorschriften des Umstellungsrechts vom 23.3.57. Bayer. Staatsreg. § 127 des Beamtenrechtsrahmengesetzes — BRRG — vom 1.6.1957. Senat v. Hamburg § 3 des Staatsvertrags über den Nord-Deutschen Rundfunk vom 10.6.1955. Gesetz über Kreditwesen vom 10.7.61. Reg. NRW, Hessen, R.-Pfalz, Bremen Bundesregierung § 54 Abs. 1 der Durchführungsbestimmungen zum Umsatzsteuergesetz v. 23.12.38, angewandt als § 59 Abs. 1 der Durchführungsbestimmung zum Umsatzsteuergesetz i.d.F. vom 1.9.1951. Gesetz zur Reinhaltung der Bundeswasserstraßen vom Reg. v. Bayern, NRW, B.-Württ., 17.8.1960 Hessen Reg. v. Hessen § 1 des Gesetzes über die Feststellung des Haushaltsplans für das Rechnungsjahr 1965 v. 16.3.1941. Alle Mitgl. BTags Sammlungsgesetz vom 5.11.34 i.d.F. vom 26.9.1939 und vom 23.10.1941. Deutsche a) Ges. über das Zivilschutzkorps v. 12.8.65; b) Ges. über Friedens-Union den Selbstschutz der Zivilbevölkerung v. 9.9.1965; c) Ges. über bauliche Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung v. 8.4.65; d) Ges. über die Sicherstellung v. Leistungen auf dem Gebiet der gewerbl. Wirtschaft, sowie des Geldes und Kapitalverkehrs v. 24.8.65; e) Ges. zur Sicherstellung des Verkehrs vom 24.8.1965; f) Ernährungssicherstellungsgesetz vom 24.8.1965 Reg. v. Hessen, § 2 Abs. 2, § 5, Abs. 1 und Nr. 6, Abs. 2 u. 3 S. 2, § 7, § 8 Nieders., HamAbs. und §§ 9 Abs. 2, 12 bis 16, 18, 24, 25 Abs. 1 u. 37 burg, Bremen S. 4 des G. für Jugendwohlfahrt i.d.F. v. 11.8.1961; §§ 8 Abs. 2 S. 2, 10 Abs. 3 S. 2 und 3 und Abs. 2 S. 2 des Bundessozialhilfeges. v. 30.6.61. Bayer. Staatsreg. § 6 Abs. 1 Nr. 4 des Kapitalverkehrssteuergesetzes vom 24.6.1959. Fortsetzung nächste Seite
II. Die abstrakte Normenkontrolle im Vergleich
65
Jahr
Antragsteller
Prüfungsgegenstand
1969
ein Drittel des Bundestags
Gesetz über Feststellung des Haushaltsplans für 1964-65.
1969 1970
Bayer. Staatsreg. Reg. v. Hessen
1971
Bundesregierung
1972
Reg. v. Hessen Bundesregierung
1973
Bayer. Staatsreg.
1974
Reg. v. R.-Pfalz, Bayer. Staatsreg. Abgeordnete v. Schl.-Holstein ein Drittel des BTags, Reg. v. B.-Württ., Saarl., Bay.
1975
Bayer. Staatsreg. 1977
1978
1979 1980
1982
1985
1986 5 Me
Reg. Hessen
ein Drittel des Btags, Reg. v. Bayern, R.-Pfalz, B.-Württ. Reg. v. Nieders. Bayer. Staatsreg. Reg. v. B.-Württ, Nieders., R.-Pfalz., Schl.-Holstein, Bay. Reg. v. NRW, Hessen, Bay., Hamb., Brem., ein Drittel des BTags ein Drittel des Bundestags
§ 5 S. 2 u. 3, § 9 Abs. 1 u. 3, § 13 Abs. 1 S. 2 u. § 16 Abs. 2 des Eisenbahnkreuzungsgesetzes v. 14.8.63. § 1 Nr. 2 u. § 1 Nr. 6 des 17. Ges. zur Ergänzung des GG v. 24.6.68; §9 Abs. 5 des Ges. zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fergeheimnisses vom 13.8.1968. Hess. Ges. über Amtsbezüge der Richter und Staatsanwälte vom 4.3.70. §2 Abs. 3 S. 2 des Umsatzsteuergesetzes v. 29.5.67. 1. Hessisches Gesetz zur Anpassung an das 1. Gesetz zur Vereinheitlichung und Neuregelung des Besoldungsrechts in Bund und Ländern. Gesetz zum Vertrag vom 21.12.72 zwischen BRD und DDR vom 6.6.73. Viertes-Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 30.4.73. § 64 Abs. 3 der Gemeindordnung für Schleswig-Holstein i.d.F. des Gesetzes vom 22.12.72. §§218 bis 220 des Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 18.6.74. § 72 Abs. 3 S. 3 und 4 des Städtebauförderungsgesetzes vom 27.7.71. Teil A Nr. 3.2 S.l der Anlage zum Staatsvertrag über Vergabe v. Studienplätze v. 20.10.72 i.V.m. Art. 12 Abs. 3 des Staatsvertrages und die Zustimmungsbeschlüsse der Parlamente aller Länder. Gesetz zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes und des Zivildienstgesetzes vom 13.7.77. §10 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes i.d.F. der Bekanntmachung v. 5.12.77 u. § 9 Nr. 3 b des Körperschaftsteuerreformgesetzes i.d.F. des Gesetzes vom 31.8.76. Ausbildungsplatzförderungsgesetz vom 7.9.76. Staatshaftungsgesetz vom 26.6.81.
Art. 1 §§ 2 bis 15, Art. 2 Nr. 1, 4, 5b, und § 19 Abs. 2 des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Kriegdienstverweigerung und des Zivildienstes (KDVNG) vom 28.2.1983. niedersächisches Landesrundfunkgesetz vom 23.5.84. Fortsetzung nächste Seite
66
Β. Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
Antragsteller
Prüfungsgegenstand
Reg. NRW, B.-Württ., Hessen, Saarl., Hamb., Bremen
§ 5 Abs. 1 u. 2, S. 4 des G über Steuerberechtigung und die Zerlegung bei der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer v. 25.5.1971, mit späteren Änderungen, zuletzt v. 8.12.1981 u. §§ 7 Abs. 1 -4, 9 Abs. 2, 10 Abs. S. 2 und Abs. 4-7, IIa Abs. 1 und 2 des G. über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern zuletzt geändert durch das G. zur Wiederbelebung der Wirtschaft und Beschäftigung und zur Entlastung des Bundeshaushalts v. 20.12.1982. § 116 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 u. S. 2 des ArbeitsförderungsG i.d.F. Art. 1 Nr. 3 „b" des Gesetzes zur Sicherung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen vom 15.5.86. §§ 57 a Abs. 1 S. 1, 60 Abs. 3 S. 1, 61 Abs. Nr. 17 und 66 Abs. S. 1 des Hess. Personalvertretungsges. v. 2.1.79 i.d.F. des G. zur Änderung des Hess. Personalvertretungsgesetzes und Hess. Richterges. v. 11.7.84.
Reg. von Hessen
ein Drittel des Bundestags ein Drittel des Bundestags ein Drittel des Bundestags
Mediengesetz von Baden Württemberg vom 16.12.85. §2 Abs. 1 des Bundeshaushaltsgesetzes vom 13.6.81.
Quelle: Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen Bände 1-80
In der Praxis werden die abstrakten Normenkontrollverfahren jedoch fast ausschließlich durch die Initiative der Opposition eingeleitet, die dadurch versucht, ihre politische Vorstellung durchzusetzen 56. Wegen dieser Entwicklung, die eine starke „Justizialisierung" des politischen Lebens zur Folge haben kann, werden nicht selten Vorschläge mit der Absicht formuliert, die abstrakte Normenkontrolle einzuschränken 57 oder ganz abzuschaffen 58.
56 Dolzer, Stellung des Bundesverfassungsgerichts, S. 49 und 117; Ridder, In Sachen Opposition: Rudolf Arndt und das Bundesverfassungsgericht, FS Arndt, S. 323 (334 und 347 Fn 69); Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, S. 176. Andere Auffassung offenbar: Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, S. 27. 57 Vgl. dazu Jekewitz, Der Staat Nr. 19 (1980), S. 535 (554), der für sinnvoll hält, daß zur Einleitung der abstrakten Normenkontrolle ein konkreter Anlaßfall zu fordern ist, der die Antragsteller zwingt, statt abweichende politische Auffassungen zu vertreten, tatsächlich zu einem rechtlichen Ansatz zurückzukehren und gleichzeitig zu verhindern, daß unmittelbar nach Abschluß des Gesetzgebungsverfahrens die Mehrheitsmeinung des Parlaments mit der Mehrheitsrechtsmeinung des Bundesverfassungsgerichts konfrontiert wird. 58 Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, S. 176 ff.; Vgl. dazu auch Säcker, BayVBl. 1979, S. 193 (198).
II. Die abstrakte Normenkontrolle im Vergleich
67
3. Die abstrakte Normenkontrolle vor dem Supremo Tribunal Federal a) Vorgeschichte Die interventive Feststellungsklage stellt sich als Ausgangspunkt der Entwicklung einer abstrakten Normenkontrolle im brasilianischen Recht dar 59 . In der Verfassungsversammlung von 1891 wurde der Versuch unternommen, dem Supremo Tribunal Federal die Befugnis einzuräumen, bestimmte Verstöße eines Bundeslandes gegen die föderative Ordnung festzustellen. Erst wenn die Verletzung gerichtlich feststand, sollte die Bundesintervention erfolgen 60. Mit der Verfassung von 1934 ist dieser Vorschlag tatsächlich verwirklicht worden. Im Rahmen der Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern wurde ein besonderes Verfahren vor dem Supremo Tribunal Federal eingeführt. Die Zwangsmaßnahme der Bundesintervention im Falle eines Verstoßes gegen die sogenannten sensiblen Prinzipien 61 konnte nur in Gang gesetzt werden, nachdem der Oberste Gerichtshof die Verfassungsmäßigkeit des Bundesgesetzes festgestellt hatte, das über die Bundesintervention bestimmte. Die Anrufung des Gerichts sollte nach Art. 12 Abs. 2 der Verfassung von 1934 auf Initiative des Bundesgeneralstaatsanwalts erfolgen 62. Dieses Modell einer Feststellungsklage wurde mit Modifizierungen in die Verfassung von 1946 übernommen. Statt einer Feststellung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, das eine Bundesintervention auslösen konnte, wie sie in der Verfassung von 1934 festgelegt war, sollte der Oberste Gerichtshof unmittelbar die Unvereinbarkeit des Landesrechts mit den sogenannten „sensiblen Prinzipien" überprüfen. Der Bundesgeneralstaatsanwalt, der gemäß Art. 126 der Verfassung von 1946 für die Interessenvertretung des Bundes vor Gericht verantwortlich war, hatte nach Art. 8 der Verfassung die Befugnis, das Verfahren zur Überprüfung des Landesrechts einzuleiten. Kontrollmaßstäbe waren, wie dargelegt 63 , die „sensiblen Prinzipien die durch die Länder beachtet werden sollten. Obwohl es sich bei der interventiven Feststellungsklage eindeutig um eine besondere prozessuale Art der Austragung föderativer Streitigkeiten handelt, haben am Anfang die brasilianische Rechtsprechung und Lehre dieses Verfahren teilweise als eine abstrakte Normenkontrolle betrachtet.
59
Vgl. dazu auch oben B, 1,2, c. 60 Vgl. Entwürfe der Abgeordneten Joâo Pinheiro e Julio de Castilhos in: Annaes do Congresso Constituinte da Republica, 2. Aufl. Rio de Janeiro, 1924, Bd. I, S. 432; Lerne, Ernesto, A Intervençâo Federal nos Estados, Sâo Paulo, 1930, S. 90; Mendes, Contrôle de Constitucionalidade, S. 174-175. S. dazu auch oben Β, I, 2, c. 61 S. dazu oben B, 1,2, c. 62 S. dazu oben Β, I, 2, c. 63 S. dazu oben Β, I, 2, c. 5*
6 8 Β .
Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
Bereits in einer seiner ersten Entscheidungen in der interventiven Feststellungsklage hat der brasilianische Oberste Gerichtshof festgelegt, daß im Gegensatz zu der inzidenten Normenkontrolle das neue Institut auf die abstrakte Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Landesgesetzes ausgerichtet sei 64 . In diesen Fällen sollte die Verfassungswidrigkeit durch eine legislative oder quasi legislative, die Ungültigkeit eines bestimmten Gesetzes feststellende Formel abgelöst werden 65 . Die Idee, die in dieser besonderen Befugnis des Bundesgeneralstaatsanwalts die Ausübung der Tätigkeit eines Vertreters des öffentlichen Interesses sah, hatte sich durchgesetzt. Themistocles Brandâo Cavalcanti, ehemaliger Bundesgeneralstaatsanwalt, vertrat die Auffassung, daß dieser bei obengenannten Verfahren im Interesse der Allgemeinheit tätig sein sollte. Deswegen könne er sich nicht weigern, den Antrag vor dem Obersten Gerichtshof zu stellen, es sei denn, dieser sei offensichtlich unzulässig66. Auch Alfredo Buzaid sprach in seinem Werk über die „ direkte Klage " von einer Prozeßstandschaft des Bundesgeneralstaatsanwalts, der den Antrag im Gemeininteresse stellen sollte 67 . Er würde als Vertreter der gesamten Gesellschaft wirken, die daran interessiert sei, verfassungswidrige Akte zu beseitigen68. Der Charakter dieses Verfahrens als Austragung eines besonderen föderativen Konflikts kam nicht eindeutig zum Ausdruck. Die Entwicklung einer solchen Konzeption läßt sich nur dadurch erklären, daß der Bundesgeneralstaatsanwalt — und infolgedessen auch die Bundesgeneralstaatsanwaltschaft — bis zur Verkündung der Verfassung von 1988 eine Doppelfunktion ausübte: er fungierte nach der Verfassung sowohl als Vertreter des allgemeinen Interesses als auch als Vertreter des Bundesinteresses69. Die interventive Feststellungklage hat damals stark an Bedeutung gewonnen. Viele Entscheidungen, die in diesem Verfahren ergangen sind, klärten Fragen nach der Vereinbarkeit des Verfassungsrechts einzelner Länder mit der Bundesverfassung und nahmen damit bestimmenden Einfluß auf die weitere Entwicklung der Landesverfassungen. So hatte bereits im Jahre 1947 der Oberste Gerichtshof zu entscheiden, ob die Bestimmungen einiger Länderverfassungen, die sich eindeutig zum parlamentarischen Regierungssystem bekannt hatten, sich mit dem in Art. 7 V I I „b" vorgesehenen Prinzip der Harmonie und Unabhängigkeit zwischen den Gewalten vereinbaren ließen 70 . Das Gericht hat die Frage verneint w Representaçâo Nr. 94, vom 17.7.1947, Berichterstatter: Richter Castro Nunes, in: Archivo Judiciario, Bd. 85, S. 31 (33 ff.) . 65 Representaçâo Nr. 94, Berichterstatter: Richter Castro Nunes, in: Archivo Judiciario Nr. 85, S. 31 (33). 66 Cavalcanti, Themistocles B., Do Controle da Constitucionalidade, S. 115-118. 67 Buzaid, Da Açâo Direta, S. 107. 68 Buzaid, Da Açâo Direta, S. 107. 69 Mello, Oswaldo Aranha Bandeira de, Teoria da Constituiçâo Rigida, S. 192; Mendes, Controle de Constitucionalidade, S. 221-222.
II. Die abstrakte Normenkontrolle im Vergleich
69
mit der Begründung, daß der Grundsatz der Unabhängigkeit zwischen den Gewalten nur im Hinblick auf die Bestimmungen, die der Verfassungsgeber für die Bundesgewalt getroffen habe, definiert werden könne 71 . Die Verfassung hätte sich auf Bundesebene für das Präsidialsystem entschieden und dem Präsidenten der Republik die Befugnis anvertraut, die Minister ohne irgendeine Einschränkung zu ernennen, so daß die Länderverfassungsgeber sich nicht über diese Grenze hinwegsetzen könnten 72 . Andererseits würde eine Auflösung des Landesparlaments gegen die Bestimmung verstoßen, die eine zeitliche Begrenzung der Amtsperiode für eine durch Wahl erlangte Funktion in Übereinstimmung mit der Dauer der entsprechenden Bundesmandate vorsah 73 . Allein die Zahl der durch den Bundesgeneralstaatsanwalt gestellten Anträge zur Überprüfung der Vereinbarkeit des Landesrechts mit den sensiblen Prinzipien zwischen 1946 und 1965 74 — über 500 75 — belegt die Bedeutung der Feststellungsklage sowohl als Instrument der Austragung föderativer Konflikte als auch als Mittel der Normenkontrolle. Eine Betrachtung der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs zwischen den Jahren 1947 und 1965 zeigt, daß sich der Bundesgeneralstaatsanwalt in zahlreichen Fällen, in denen er von Dritten um einen Normenkontrollantrag ersucht worden war, allein darauf beschränkte, diesen zu stellen, doch auf eine eigene Begründung verzichtete, da ihm die Begründung des ersuchenden Dritten relevant erschien. Bereits im Jahre 1947 hat der Bundesgeneralstaatsanwalt einen Antrag des Justizministeriums, betreffend den für möglich gehaltenen Verstoß einer Landesverfassungsnorm gegen das in Art. 7 V I I „a" der Verfassung von 1946 vorgesehene Prinzip der republikanischen Staatsform, an den Obersten Gerichtshof weiter-
70 Representaçâo Nr. 94, vom 16.7.1947, Berichterstatter: Annibal Freire, Archivo Judiciârio, Bd. 85, S. 3 ff; Representaçâo Nr. 94, vom 17.7.1947, Berichterstatter: Richter Castro Nunes, Archivo Judiciârio, Bd. 85, S. 31 ff. 71 Representaçâo Nr. 94, vom 17.7.1947, Berichterstatter: Richter Castro Nunes, in: Archivo Judiciârio, Bd. 85, S. 31 (43 ff.). 72 Representaçâo Nr. 94, Berichterstatter: Richter Castro Nunes, Archivo Judiciârio Nr. 85, S. 31 (40, 45 ff.) 73 Representaçâo Nr. 94, Berichterstatter: Richter Castro Nunes, Archivo Judiciârio Nr. 85, S. 31 (42). 74 Im Jahre 1965 hat der Verfassungsgesetzgeber neben der Feststellungsklage als Voraussetzung der Bundesintervention im Falle eines Verstoßes gegen die Homogenitätsgebote eine abstrakte Normenkontrolle eingeführt, deren Antragsrecht ebenfalls dem Bundesgeneralstaatsanwalt anvertraut wurde. 7 5 Nach der Zahlenreihe der Anträge (Representaçôes) sind vor dem Obersten Gerichtshof bis zum Jahre 1965 689 Feststellungsklagen erhoben worden. Diese Zählung verlangt eine Präzisierung. Da die Gerichtspraxis bereits ein anderes Verfahren mit der Bezeichnung Representaçâo oder Reclamaçâo — kannte, begann die Zählung 1947 mit Nummer 93, obwohl es sich um verschiedene Sachen handelte (Vgl. dazu. Cavalcanti, Do Controle da Constitucionalidade, S. 111-112).
7 0 Β .
Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
geleitet, ohne sich seiner Begründung anzuschließen76. Im Gegenteil hob der Bundesgeneralstaatsanwalt damals hervor, daß er keinen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der beanstandeten Bestimmung der Landesverfassung habe. Weil aber die Bundesregierung durch das Justizministerium Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Normen angemeldet hatte und sich deshalb weigerte, eine noch andauernde Bundesintervention im Land zu beenden, hielt er sich für verpflichtet, beim Supremo Tribunal Federal den Antrag zu stellen 77 . Der Oberste Gerichtshof hat in seiner Entscheidung durch Mehrheit anerkannt, daß es sich eindeutig um eine föderative Streitigkeit über ein sensibles Prinzip und nicht bloß um eine konsultative Anfrage handelte78. Es ist darauf hinzuweisen, daß ein Verstoß gegen die sensiblen Prinzipien durch die Landesbehörden, der die Erhebung der interventiven Feststellungsklage rechtfertigte, sowohl durch Erlaß normativer Akte als auch durch andere Handlungen oder Unterlassungen erfolgen könnte. Unter diesem Gesichtspunkt hatte diese Klage in beschränktem Maß den Charakter sowohl des Feststellungsantrags des Art. 13 Abs. 2 als auch der Aufsichtsklage des Art. 15 Abs. 3 Weimarer Verfassung 79 . In der Praxis wurde die interventive Feststellungsklage allerdings ausschließlich oder zumindest ganz überwiegend als Normenkontrollverfahren eingesetzt80. Soweit ersichtlich, ist nicht ein einziger Fall bekannt, in dem ein Verstoß gegen solche föderativen Prinzipien durch Unterlassung oder andere Handlungen im Wege der Feststellungsklage geltend gemacht worden ist.
b) Entwicklung der abstrakten Normenkontrolle bis zum Inkrafttreten der Verfassung von 1988 aa) Vorbemerkung Die Verfassungsnovelle Nr. 16 vom 26. November 1965 hat neben der interventiven Feststellungsklage als Voraussetzung für die Bundesintervention nach ihrem Verfahrensmodell die abstrakte Normenkontrolle vor dem Obersten Gerichtshof zur Überprüfung von Gesetzen oder normativen Akten des Bundes oder eines Landes auf Antrag des Bundesgeneralstaatsanwalts eingeführt (Art. 101 I „k"). 76 Representaçâo Nr. 95, vom 30.7.1947, Berichterstatter: Richter Orozimbo Nonato, in: Archivo Judiciario Nr. 85, S. 55 ff. 77 Representaçâo Nr. 95, Berichterstatter: Richter Orozimbo Nonato, in: Archivo Judiciario Nr. 85, S. 55 (56). 78 Representaçâo Nr. 95, Berichterstatter: Richter Orozimbo Nonato, in: Archivo Judiciario Nr. 85, S. 55 (57 ff.). 79 Über die Problematik im deutschen Recht der Weimarer Zeit Vgl. Triepel, Streitigkeiten, S. 69; Flad, Verfassungsgerichtsbarkeit und Reichsexekution, S. 22 (29). so Vgl. dazu Buzaid, Da Açâo Direta, S. 107.
II. Die abstrakte Normenkontrolle im Vergleich
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Dieses Institut, das im Zusammenhang mit einer Reform der rechtsprechenden Gewalt in die brasilianische Verfassungsordnung aufgenommen worden ist, sollte vor allem dazu dienen, — so die Begründung des von dem Justizministerium ausgearbeiteten Vorentwurfs — zur Prozeßökonomie durch die unmittelbare Entscheidung des Obersten Gerichtshofs mit einer wesentlichen Entlastung des Gerichts beizutragen 81. Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit neuer Gesetze sollte allgemein die Gerichtsbarkeit bei der Beurteilung ähnlicher Fälle anleiten82.
bb) Die abstrakte Normenkontrolle in der Praxis des Obersten Gerichtshofs (α) Vorbemerkung Obwohl der Verfassungsgesetzgeber die abstrakte Normenkontrolle nach dem Verfahrensmodell der Feststellungsklage als Voraussetzung der Bundesintervention gestaltet und die Befugnis zur Einleitung des Verfahrens dem Bundesgeneralstaatsanwalt anvertraut hat, hat die abstrakte Normenkontrolle nur in der Form Ähnlichkeiten mit der sogenannten interventiven Feststellungsklage. Während diese einen anscheinenden oder tatsächlichen Verstoß gegen ein Homogenitätsgebot und deswegen einen besonderen Konflikt zwischen Bund und Land voraussetzte, zielte das neue Verfahren auf den allgemeinen Schutz der Verfassungsordnung gegen verfassungswidrige Gesetze ab 83 . Bei dem abstrakten Normenkontrollverfahren trat der Bundesgeneralstaatsanwalt als ein Verfassungsanwalt auf, der allein an dem Schutz der Verfassung interessiert sein sollte. Damit ist es dem brasilianischen Verfassungsgesetzgeber gelungen, den Vorschlag Kelsens über die Einrichtung eines Verfassungsanwalts zu verwirklichen, der von Amts wegen das Verfahren zur Überprüfung der vom ihm für verfassungswidrig erachteten Akte einzuleiten hat 84 .
si Emendas à Constituiçâo de 1946: Reforma do Poder Judiciârio, Brasilia, Câmara dos Deputados, 1968, S. 24. 82 Emendas à Constituiçâo de 1946: Reforma do Poder Judiciârio, Brasilia, Câmara dos Deputados, 1968, S. 24; Vgl. über den Zusammenhang „Normenkontrolle und Verfahrensökonomie" u. a. Huh, Young, Probleme der konkreten Normenkontrolle, S. 90 ff.; Engelhardt, D., JöR 8 (1959), S. 102 (108). 83 Representaçâo Nr. 700, Berichterstatter: Richter Amarai Santos, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 45, S. 690 (711, 713-714); Representaçâo Nr. 1016, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência 95, S. 999; Açâo Rescisória Nr. 878, vom 19.3.80, Berichterstatter: Richter Rafael Mayer, Revista Trimestral de Jurisprudência 94,: 58; Vgl. dazu auch Bastos, Celso, Direito Constitucional, S. 65; Mendes, Controle de Constitucionalidade S. 249 ff. 84 Vgl. dazu Kelsen, Staatsgerichtbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 30 (75).
7 2 Β .
Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
Im Gegensatz zu der interventiven Feststellungklage, die ein Rechtsschutzbedürfnis des Bundes, nämlich die Erhaltung der Grundprinzipien der föderativen Ordnung, voraussetzt, ist die Idee eines Rechtsschutzbedürfnisses dem abstrakten Normenkontrollverfahren fremd 85 . Deswegen waren die Befugnisse, die dem Bundesgeneralstaatsanwalt anvertraut worden waren, ganz eindeutig zu unterscheiden: bei dem ersten Verfahren vertrat er das Interesse des Bundes einem Land gegenüber, das vermeintlich oder tatsächlich gegen ein Homogenitätsgebot verstoßen hatte 86 ; bei der abstrakten Normenkontrolle trat er als Vertreter des allgemeinen Interesses auf, um die Normenkontrolle eines Bundes- oder Landesgesetzes oder eines normativen Akts des Bundes oder der Länder zu veranlassen 87. Nicht selten wurden aber beide Institute undifferenziert behandelt. Selbst die Geschäftsordnung des Obersten Gerichtshofs hat eine einheitliche Regelung für beide Verfahren getroffen (Art. 169-174). Die einzige Differenzierung lag darin, daß die Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit eines Landesgesetzes aufgrund des Verstoßes gegen ein Homogenitätsgebot unmittelbar den Länderorganen mitzuteilen war und nach dem Erwachsen in Rechtskraft auch dem Präsidenten der Republik, der für die Zwangsmaßnahme der Bundesintervention zuständig ist (Geschäftsordnung des Obersten Gerichtshofs, Art. 175). Im Gegensatz dazu wirkt die Entscheidung, die im abstrakten Normenkontrollverfahren getroffen worden ist, inter omnes unabhängig vom Erlaß irgendwelcher gestaltenden Akte (Geschäftsordnung, Art. 175 i.V.m. Art. 178). Dem Obersten Gerichtshof ist es aber allmählich gelungen, die interventive Feststellungklage, bei der ein besonderer Konflikt zwischen Bund und Land vorausgesetzt wird und der Bundesgeneralstaatsanwalt als Vertreter des Bundes auftritt, von dem abstrakten Normenkontrollverfahren, das allgemein den Schutz der Verfassung bezweckt und deswegen als objektives Verfahren zu charakterisieren ist 88 , genau zu unterscheiden.
85 Representaçâo Nr. 700, Berichterstatter: Richter Amarai Santos, S. 690 (714); Açâo Rescisória Nr. 848, Berichterstatter: Richter Rafael Mayer, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 95, S. 49 (58); Representaçâo Nr. 1405, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diàrio da Justiça vom 1.7.88. 86 S. dazu oben B,I2 c. 87 Vgl. Mello, Teoria da Constituiçâo Rigida, S. 189; Mendes, Contrôle de Constitucionalidade, S. 230 ff. 88 Representaçâo Nr. 700, Berichterstatter: Richter Amarai Santos, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 45, S. 690 (711-712 und 714), Representaçâo Nr. 1016, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 993, S. 999; Acâo Rescisória Nr. 878, Berichterstatter: Richter Rafael Mayer, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 94, S. 49 (58); Representaçâo Nr. 1405, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diario da Justiça vom 1.7.88.
II. Die abstrakte Normenkontrolle im Vergleich
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(ß) Zum Meinungsstreit über das Antragsrecht des Bundesgeneralstaatsanwalts Im Jahre 1970 hat sich die damals einzige Oppositionspartei im Nationalen Kongreß an den Bundesgeneralstaatsanwalt mit dem Gesuch gewandt, einen Antrag gegen ein Dekret-Gesetz der Regierung zu veranlassen, das die Zensur der Presse und der Bücher legitimierte. Dieser weigerte sich, das Verfahren einzuleiten, denn seiner Meinung nach war er dazu verfassungsrechtlich nicht verpflichtet. Die Beschwerde, die gegen diesen Akt erhoben wurde, ist von dem Obersten Gerichtshof mit der Begründung abgelehnt worden, daß nur der Bundesgeneralstaatsanwalt selbst entscheiden könne, ob er den Antrag zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes vor dem Gericht stellen sollte oder nicht 89 . Das Gericht hat mehrmals Gelegenheit gehabt, dieses Verständnis zu bestätigen90. Keine Frage hat in letzter Zeit in der Literatur zu einer heftigeren Diskussion geführt als diese vom „Ermessen" des Bundesgeneralstaatsanwalts91. Während wichtige Stimmen in der Lehre das Recht des Bundesgeneralstaatsanwalts anerkannten, nach seinem Ermessen den Antrag zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zu stellen, da verfassungsrechtlich allein dieses Organ über ein Antragsrecht verfüge 92 , vertraten andere die Auffassung, daß er dazu verpflichtet sei, den Antrag zu stellen, wenn mindestens ernste Zweifel über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes vorlägen 93 . Eine vermittelnde Position in der Frage wurde von Celso Bastos vertreten, wonach der Bundesgeneralstaatsanwalt sich nicht weigern könne, den Antrag vor dem Obersten Gerichtshof zu stellen, wenn ein Gesuch von irgendwelchen 89 Reclamaçâo Nr. 849, Berichterstatter: Richter Adalicio Nogueira, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 59, S. 336. 90 Reclamaçâo Nr. 121, Berichterstatter: Richter Djaci Falcâo, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 100, S. 955; Reclamaçâo Nr. 128, Berichterstatter: Richter Cordeiro Guerra, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 98, S. 3 ff.; Reclamaçâo Nr. 152, Berichterstatter: Richter Djaci Falcâo, Diario da Justiça vom 11.5.83, S. 6292. 91 S. dazu unten C, II, 2, b, aa. 92 Barbi, Celso Α., Evoluçâo do Contrôle de Constitucionalidade das Leis no Brasil, Revista de Direito Publico 4, 1968, S. 40; Mello, J. L. de Anhaia, Os Principios Constitucionais e sua Proteçâo, S. Paulo, 1966, S. 24. 93 Miranda, Pontes de, Comentârios à Constituiçâo de 1967, com a Emenda Nr. 1, de 1969, Rio de Janeiro, 1987, Bd. IV, S. 44; Marinho, Josaphat, Inconstitucionalidade de Lei — Representaçâo ao STF — in: Revista de Direito Pùblico Nr. 12, S. 50 ff; Pereira, Caio Mârio da Silva, Diskussion im Bundesrat der brasilianischen Anwaltskammer, Arquivos do Ministério da Justiça Nr. 118,, S. 25; Themistocles Cavalcanti, Arquivamento de Representaçâo por Inconstitucionalidade da Lei, in: Revista de Direito Pùblico Nr. 16, S. 169 ff.; Cardoso, Adaucto Lucio, in: Sondervotum, Reclamaçâo Nr. 849, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 59, S. 347-8; Vgl. auch Embargos na Representaçâo Nr. 1092, Berichterstatter: Djaci Falcâo, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 117, S. 921 (951-952).
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Β. Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
öffentlichen Organen vorläge, da hier ein öffentliches Interesse an der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes nicht in Zweifel gezogen werden könne 94 . Eine Bewertung dieses brasilianischen Modells abstrakter Normenkontrolle kann nicht die politischen Gegebenheiten, inmitten derer dieses Institut entwickelt worden ist, außer acht lassen. Die bereits von Kelsen als unabdingbar bezeichneten Voraussetzungen für das Amt eines solchen Verfassungsanwalts, wonach dieser mit allen denkbaren Garantien der Unabhängigkeit gegenüber der Regierung und dem Parlament versehen sein müßte 95 , waren unter ständigen Ausnahmezuständen offensichtlich nicht zu erreichen 96. (γ) Bedeutung der abstrakten Normenkontrolle während der Geltung der Verfassung von 1946 (Verfassungsnovelle Nr. 16, von 1965) und der Verfassung von 1967/69 Es sind viele bedeutende Entscheidungen in diesem Verfahren getroffen wie ζ. B. Urteile, die ausdrücklich die Verhältnismäßigkeit als verfassungsrechtliches Prinzip anerkannten 97, verschiedene Entscheidungen über die Verfassungswidrigkeit von Steuergesetzen unter Berücksichtigung des Prinzips des Rückwirkungsverbots 98 sowie zahlreiche Urteile, in welchen das Gericht das Erfordernis der öffentlichen Einstellungsprüfung bei der Ernennung von Beamten festgelegt hat 99 . Ein Großteil der abstrakten Normenkontrollverfahren betrifft aber Fälle von relativ geringer Bedeutung oder ist zur Lösung eines spezifischen Problems eingeleitet worden. So betrafen zahlreiche· Fälle von abstrakter Normenkontrolle die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Landesgesetzen, die neue Ge-
94 Bastos, Celso, Curso de Direito Constitucional, S. 74-75. 95 Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 30 (75); S. auch darüber, Marcie, Zur Reform der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: FS Gebhard Müller, 1970, S. 217 (255); Rinck, H.-J., „Initiative für die verfassungsmäßige Prüfung von Rechtsnormen", EuGRZ 1974, S. 91 (95). 96 S. dazu oben Β, I, 2 c. 97 Representaçâo Nr. 930, vom 10.3.1976, Berichterstatter: Richter Rodrigues Alckmin, Justizblatt 2.9.1977; Representaçâo Nr. 1054, vom 4.4.1984, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência 110, S. 967-8; Representaçâo Nr. 1077, vom 28.3.1984, Revista Trimestral de Jurisprudência 112, S. 34 (58-59, 62). 98 Representaçâo Nr. 1451, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diàrio da Justiça vom 24.6.88; Representaçâo Nr. 981, Berichterstatter: Richter Djaci Falcâo, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 87, S. 374 ff. 99 Representaçâo Nr. 888, Berichterstatter: Richter Aliomar Baleeiro, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 67, S. 324 ff.; Representaçâo Nr. 1052, Berichterstatter: Richter Rafael Mayer, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 101, S. 924 ff.; Representaçâo Nr. 1174, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 114, S. 80 ff.; Representaçâo Nr. 1113, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência 115, S. 47 ff.
II. Die abstrakte Normenkontrolle im Vergleich
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meinden geschaffen hatten, ohne auf bestimmte verfassungsrechtliche Bestimmungen zu achten I0 °. Bedeutend ist ebenfalls die Zahl von abstrakten Normenkontrollverfahren zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Landesgesetzen, die versuchten, das verfassungsrechtliche Erfordernis der öffentlichen Einstellungsprüfung für Beamte zu umgehen 101 . Die große Zahl von abstrakten Normenkontrollverfahren, die sich allein in der Periode von 1966-1988 unter dem viel kritisierten Antragsmonopol des Bundesgeneralstaatsanwalts auf über 900 belief, bringt aber eine Besonderheit des brasilianischen Modells der Normenkontrolle zum Ausdruck. Nicht selten beschränkte sich der Bundesgeneralstaatsanwalt darauf, den Antrag eines Verfassungsorgans oder von irgend jemandem an das Gericht mit dem Hinweis weiterzuleiten, daß er die angeführten Gründe für die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes als relevant anerkenne. Der Antrag wurde daher oft unter Vorbehalt einer definitiven Äußerung der Bundesgeneralstaatsanwaltschaft gestellt, die erst nach Informationen des Gerichts durch die Behörde oder das zuständige Organ für den Erlaß des beanstandeten Akts zu erteilen war (eine Übersicht der Zahl der Verfahren in der Periode 1966-89 wird in der Tabelle II vorgelegt). Im Gegensatz zum System eines speziellen Verfassungsgerichts, in dem die abstrakte Normenkontrolle nur eine Verfahrensart unter vielfachen Normkontrollbefugnissen ist 1 0 2 , stellt die abstrakte Normenkontrolle bei dem noch heute in Brasilien herrschenden Verständnis praktisch die einzige Möglichkeit dar, die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes direkt vor dem Obersten Gerichtshof anzugreifen.
100
Representaçâo Nr. 1369, Berichterstatter: Richter Octavio Gallotti, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 125, S. 478 ff.; Representaçâo Nr. 1413, Berichterstatter Richter Sydney Sanches, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 124, S. 146 ff.; Representaçâo Nr. 1467, Berichterstatter: Richter Aldir Passarinho, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 123, S. 438 ff.; Representaçâo Nr. 1465, Berichterstatter: Francisco Rezek, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 126, S. 77 ff.; Representaçâo Nr. 1263, Berichterstatter: Richter Carlos Madeira, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 124, S. 881 ff.; Representaçâo Nr. 1432, Berichterstatter: Richter Aldir Passarinho, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 122, S. 940 ff. !oi Representaçâo Nr. 1356, Berichterstatter: Richter Francisco Rezek, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 124, S. 424 ff.; Representaçâo Nr. 1388, Berichterstatter: Richter Celio Borja, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 124, S. 443 ff.; Representaçâo Nr. 1400, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 124, S. 451 ff.; Representaçâo Nr. 1305, Berichterstatter: Richter Sydney Sanches, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 123, S. 852 ff.; Representaçâo Nr. 1449, Berichterstatter: Richter Aldir Passarinho, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 123, S. 889 ff.; Representaçâo Nr. 1420, Berichterstatter: Richter Octavio Gallotti, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 124, S. 156 ff.; Representaçâo Nr. 1330, Berichterstatter: Richter Sydney Sanches, Revista Trimestral Jurisprudência Nr. 124, S. 883; Representaçâo Nr. 1368, Berichterstatter: Richter Moreira Àlves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 122, S. 828. 102 Vgl. dazu Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, S. 47.
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Β. Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
Tabelle II Übersicht der eingeleiteten abstrakten Normenkontrollverfahren vor dem Obersten Gerichtshof in der Periode 1966-1989 eingeleitete abstrakte Normenkontrollverfahren Jahr
Anzahl
Jahr
Anzahl
1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977
22 31 1 26 15 23 20 17 18 24 20
1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989
29 15 40 42 37 26 55 70 81 114 191* 152
217
1978-1989
841
1966-1977
—
Quelle: amtliche Berichte des Obersten Gerichtshofs * Diese Ziffer bezieht sich sowohl auf die Verfahren, die bis zur Verkündung der Verfassung am 5. Oktober 1988 (180) als auch auf die, die weiterhin eingeleitet worden sind (11). Unter diesem Gesichtspunkt erfüllte das abstrakte Normenkontrollverfahren in der brasilianischen Rechtsordnung eine ergänzende und korrektive Funktion des allgemeinen inzidenten richterlichen Prüfungsrechtssystems. Es ermöglichte die unmittelbare Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, die im Wege der inzidenten Prüfung niemals gerichtlich beanstandet werden könnten, weil sie prinzipiell nicht als Vorfrage für eine Rechtsstreitigkeit geeignet sind. Die abstrakte Normenkontrolle hatte auch eine korrektive Aufgabe, indem sie durch die unmittelbare und definitive Entscheidung des Obersten Gerichtshofs die Überwindung der Rechtsunsicherheit sowie die Korrektur von eventuellen Ungerechtigkeiten ermöglichte, die sich aus den unterschiedlichen und nicht selten widersprüchlichen Urteilen von verschiedenen Gerichten ergeben 103. 103 In der Lehre wird oft die Unterschiedlichkeit der Beurteilung bestimmter Verfassungsfiragen durch die verschiedenen Richter und Gerichte kritisiert, die nicht selten zu einem ungerechten Ergebnis für den einzelnen führen (Vgl. dazu Silva, J. A. da, Tribunais
II. Die abstrakte Normenkontrolle im Vergleich
77
c) Die abstrakte Normenkontrolle in der Verfassung vom 5. Oktober 1988 Wenn die heftige Ausseinandersetzung über das Antragsmonopol des Bundesgeneralstaatsanwalts auch nicht zu einer Änderung der Rechtsprechung geführt hat, ist doch festzustellen, daß sie entscheidend war für die radikale Änderung, die der Verfassungsgeber von 1988 mit der Erweiterung der Antragsberechtigung bei der abstrakten Normenkontrolle eingeführt hat. Der Verfassungsgeber hat zwar dem Bundesgeneralstaatsanwalt weiterhin ein Antragsrecht zur Einleitung des abstrakten Normenkontrollverfahrens eingeräumt. Dieser ist jetzt aber nur einer der ca. 100 Antragsberechtigten 104. Nach Art. 103 der Verfassung von 1988 sind antragsberechtigt der Präsident der Republik, das Präsidium des Bundessenats, das Präsidium des Abgeordnetenhauses, das Präsidium eines Landtags, der Landesgouverneur, der Bundesgeneralstaatsanwalt, der Bundesrat der Anwaltskammer, politische Parteien mit Vertretung im Nationalen Kongreß, Gewerkschaftskonföderationen oder Klassenorganisationen, auf nationaler Ebene organisiert. Damit hat der Verfassungsgeber nur teilweise den Forderungen entsprochen, die im Zusammenhang mit der Verfassungsreform erhoben wurden. Sie schlossen etwa die Gewährleistung des Antragsrechts auch für eine Gruppe von zehntausend Bürgern ein 1 0 5 oder befürworteten sogar die Einführung einer Popularklage 106. Hervorzuheben ist, daß diese Vorschläge, die überwiegend im Rahmen bestimmter Entwürfe zur Errichtung eines Verfassungsgerichtshofs gemacht worden sind, nicht die Beseitigung der inzidenten Normenkontrolle durch die allgemeine Justiz voraussetzten. Dies verstärkt den Eindruck, daß der Verfassungsgeber mit der Einführung dieser weitergefaßten Antragsberechtigung und insbesondere mit der Einräumung des Antragsrechts an verschiedene gesellschaftliche Organisationen auch dem Gedanken Rechnung tragen wollte, der in der abstrakten Normenkontrolle ebenfalls einen besonderen korrektiven Mechanismus des allgemein inzidenten richterlichen Prüfungsrechtssystems sieht (eine Übersicht der eingeleiteten Verfahren im Jahre 1988-89 wird in der Tabelle III vorgelegt). Constitucionais e Jurisdiçâo Constitucional, Revista Brasileira de Estudos Politicos Nr. 60-61, 1985, S. 495 (516-517). km Vgl. dazu Correa, Oscar, Ο 1602 Aniversârio do Supremo Tribunal Federal e ο Novo Texto Constitucional, in: Arquivos do Ministério da Justiça Nr. 173 (1988), S. 67 (76). los Vgl. dazu die Vorschläge von Abgeordneten Vilson Souza und Vivaldo Barbosa an den Ausschuß von Gewaltenorganisation und Regierungssystem der Verfassungsversammlung, in: Assembléia Nacional Constituinte, Emendas oferecidas à Comissâo da Organizaçâo dos Poderes e Sistema de Governo, 1988, S. 214 und 342. 106 Silva, J. A. da, Tribunais Constitucionais e Jurisdiçâo Constitucional, in: Revista Brasileira de Estudos politicos Nr. 60/61, 1985, S. 495 (522).
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Β. Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal
Tabelle III Übersicht über die eingeleiteten abstrakten Normenkontrollverfahren vor dem Brasilianischen Obersten Gerichtshof (Periode Oktober-Dezember 1988 und im Jahre 1989): Anzahl von Anträgen
Antragsteller
1988 Präsident der Republik Landesgoverneure Präsidium des Bundessenats Präsidium des Abgeordnetenhauses Gewerkschaftekonföderationen und Klassenorganisationen Politische Parteien Bundesrat der Anwaltskammer Bundesgeneralstaatsanwalt Präsidium eines Landtags
—
1989 —
2
56
—
—
—
—
7
52
2
17 6 20 1
11
152
— —
Die besondere Gestaltung gibt dem abstrakten Normenkontrollverfahren eine neue Bedeutung als föderalistischem Instrument, das die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Bundesgesetzen auf Antrag eines Landesgouverneurs und die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Landesgesetzen auf Antrag des Präsidenten der Republik ermöglicht. Das Antragsrecht der politischen Parteien mit Vertretung im Nationalen Kongreß verwirklicht andererseits die Idee des Schutzes von Minderheiten, weil es auf dem Umweg über die Partei auch der geringsten parlamentarischen Fraktion die Möglichkeit an die Hand gibt, jedwedes Gesetz anzugreifen. Obwohl diese weitergefaßte Antragsberechtigung die steigende Tendenz zur Einleitung von abstrakten Normenkontrollverfahren, die seit 1984 eindeutig festzustellen ist (Vgl. Tabellen II und III), erhalten soll, lassen sich durch die vorliegenden Zahlen nicht die negativen Erwartungen bestätigen, die wegen der Aufnahme des neuen Modells eine Überflutung des Obersten Gerichtshofs mit diesen direkten Klagen vorausgesehen haben 107 . Welche weiteren Folgen die neue Ausgestaltung des abstrakten Normenkontrollverfahrens haben wird, ist noch nicht abzusehen. >07 Corrêa, Oscar, Ο 1602 Aniversârio do Supremo Tribunal Federal, Arquivos do Ministério da Justiça Nr. 173, S. 67 (77).
C. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht und vor dem Supremo Tribunal Federal I. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht 1. Einleitung Das Verfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 BVerfGG wird eingeleitet durch den Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Drittels der Bundestagsabgeordneten. Der Antrag ist nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§13 Nr. 6, 76 BVerfGG zulässig, wenn Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel über die förmliche oder sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht mit dem Grundgesetz oder von Landesrecht mit dem Grundgesetz oder dem sonstigen Bundesrecht vorliegen. Dieser Regelungskomplex wirft eine Reihe von Fragen bereits über die Zulässigkeitsvoraussetzungen auf: Welche Bedeutung kommt dem Antragsprinzip zu? Welchen Zweck muß der Antragsteller verfolgen? Muß zur Anrufung des Bundesverfassungsgerichts ein rechtliches Interesse vorliegen? Was sind Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten, und wann liegen sie vor? Was ist unter den Begriffen „Bundes- und Landesrecht" zu verstehen? Wie soll sich das Bundesverfassungsgericht gegenüber dem Recht der Europäischen Gemeinschaft verhalten? An welchem Maßstab soll die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemessen werden? Darf das Gericht ein Gesetz wegen Verstoßes gegen überpositives Recht als verfassungswidrig verwerfen?
2. Antrag, Antragsberechtigung und Antragsbefugnis a) Antragsprinzip und Antrag aa) Vorbemerkung Das Bundesverfassungsgericht wird grundsätzlich nur auf Antrag tätig. Das Antragsprinzip ist ein Essentiale der Verfassungsgerichtsbarkeit, denn von ihm
80
C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
hängt in bestimmtem Maß die Qualifikation der entscheidenden Stelle als Gericht ab 1 . Das Bundesverfassungsgericht hat nicht das Recht zur Eigeniniative2. Während das Parlament frei darüber entscheiden kann, zu welchem Zeitpunkt ein Sachgebiet eine normative Regelung erfährt, ist das Bundesverfassungsgericht bezüglich der Wahl des Zeitpunkts seiner Kontrolle nicht frei 3 . Dieser Grundsatz gilt auch für die Rechtsprechungsänderung, die nicht durch eigeninitiierte Korrekturen des Gerichts herbeigeführt werden kann 4 . Das Antragsprinzip ist insofern Kennzeichen und Voraussetzung dieser passiven Hüterfunktion des Bundesverfassungsgerichts 5. Mit Recht hebt daher Hesse hervor, daß das Erfordernis eines Antrags eine bedeutende Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit zu ziehen vermag 6. Damit wird bewußt eine Schranke gegen eine eventuelle Suprematie der Verfassungsgerichtsbarkeit aufgerichtet 7. bb) Antragsprinzip
und Rücknahme des Antrags
Das Bundesverfassungsgericht zieht aus dem Antragsprinzip nicht den Schluß, daß eine Antragsrücknahme unbedingt zur Beendigung des Verfahrens führen muß 8 . Gegen die Einstellung des Verfahrens in diesem Fall könnten Gründe des öffentlichen Interesses sprechen, die mit dem „Offizialcharakter" des Verfahrens im Einklang stünden9. Dieses Verständnis des Bundesverfassungsgerichts ist in der Literatur nicht unumstritten. So stellt Friesenhahn fest, daß dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz nichts anderes entnommen werden könne, „als daß Anhängig werden und damit mangels ausdrücklicher gegenteiliger Regelung auch das Anhängigbleiben einer Sache vom Willen des Antragsberechtigten abhängen, also die Dispositionsmaxime gelten soll" 10 . 1 Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 6; Vgl. auch Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (296); Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 222. 2 Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 222. 3 Gusy, Gesetzgeber, S. 124. 4 Gusy, Gesetzgeber, S. 124. 5 Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 307. 6 Hesse, K., Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, In: Ausgewählte Schriften, S. 312. 7 Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle,in: BVerfG und GG, in: Bd. I, S. 292 (307); Kimminich, Verfassungsgerichtsbarkeit und das Prinzip der Gewaltenteilung, in: Auf dem Weg zum Richterstaat, S. 65. s BVerfGE 1, 396 (414); 8, 183 (184); 25, 308 (309). 9 BVerfGE 1, 396 (414); 8, 183 (184); 25, 308 (309). ] o Friesenhahn, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 99; zustimmend auch Wolf, G., DVB1. 1966, 884 (888).
I. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem
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Dem Einwand Friesenhahns ist nicht zu folgen. Dem Wesen des abstrakten Normenkontrollverfahrens entsprechend verfolgt der Antragsteller hier nicht ein eigenes Interesse und begehrt damit nicht den Schutz einer Rechtsstellung11. Deshalb ist auch das Erfordernis einer Ungewißheit, die durch die Entstehung von Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten charakterisiert werden soll, verfassungsrechtlich nicht unbedingt mit der Beteiligung eines der Antragsberechtigten an eben dieser zweifelhaften Rechtslage verknüpft 12 . Der Antragsteller leitet das objektive Verfahren wie ein Verfassungsanwalt ein, wie zutreffend von Friesenhahn an anderer Stelle bemerkt wird 1 3 . Deshalb ist die Annahme gerechtfertigt, daß das objektive Klarstellungsinteresse die Rücknahme des Antrags überdauern kann 14 . Insofern ist dem Bundesverfassungsgericht zuzustimmen, wenn es die Möglichkeit sieht, ein durch den Antrag eines Antragsberechtigten eingeleitetes Verfahren fortzuführen 15. In der Regel indiziert aber die Antragsrücknahme das Fehlen eines öffentlichen Interesses 16. cc) Form des Antrags Für die Form des an keine Frist gebundenen Antrags nach § 76 BVerfGG gilt § 23 BVerfGG. Der Antrag muß schriftlich beim Bundesverfassungsgericht eingereicht werden. Das Antragsschreiben muß ein bestimmtes Begehren erkennen lassen, eine Begründung enthalten und dartun, daß und welche Voraussetzungen des § 76 für die Einleitung des Verfahrens vorliegen 17 .
b) Antragsberechtigung aa) Vorbemerkung Von der Antwort auf die Frage, von wem das Verfahren vor dem Verfassungsgericht eingeleitet werden darf, hängt in erster Linie die Garantie und Effektivität der Verfassungsgerichtsbarkeit ab 18 . Deswegen ist die Entscheidung darüber, 11
Stephan, B., Das Rechtsschutzbedürfnis, S. 147-148; Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (310). 12 Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (310); Vgl. auch Stephan, Das Rechtsschutzbedürfnis, S. 150; so auch BVerfGE 1, 208 (219220); 1, 396 (407 e 414); 20, 350 (351). 13 Friesenhahn, Jura, 1982, S. 505 (509). 14 Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 68. is So im Ergebnis auch Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, S. 292 (309-310); Vgl. auch Engelmann, Prozeßgrundsätze im Verfassungsprozeßrecht, S.39-40; Geiger, W., Einige Besonderheiten im verfassungsrechtlichen Prozeß, S. 12. 16 Stem, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 205. 17 Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 76, RdNr. 60. is Vgl. Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 30 (74). 6 Mendes
C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
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wem die Antragsberechtigung zusteht, von erheblicher Bedeutung dafür, ob die Zwecke der abstrakten Normenkontrolle erreicht werden können. Eine Begrenzung der Antragsbefugnis könnte die Wirksamkeit der abstrakten Normenkontrolle stark einschränken 19. Hingegen kann eine uneingeschränkte Antragsbefugnis eine Überlastung des Verfassungsgerichts mit sich bringen 20 . Deswegen spielt die Entscheidung über diese Frage eine nicht unerhebliche Rolle für die Gestaltung und Bedeutung der abstrakten Normenkontrolle in verschiedenen Ländern. Das österreichische Bundesverfassungsgesetz von 1920, das die Befugnis zur Normenkontrolle erstmalig einem besonderen Verfassungsgericht zuwies, hat am Anfang das Antragsrecht im abstrakten Normenkontrollverfahren nur der Bundesregierung gegenüber Landesgesetzen und den Landesregierungen gegenüber Bundesgesetzen eingeräumt (Art. 140 (1)). Das entsprach der österreichischen Konzeption, die die abstrakte Normenkontrolle historisch vorwiegend als föderalistisches Instrument gedacht hatte 21 . Die Verfassungsnovelle von 1975 hat aber das Fraktionsantragsrecht in die österreichische Verfassungsordnung eingefügt (Art. 140 (1)). Die portugiesische Verfassung von 1976 hat ebenfalls das System der abstrakten Normenkontrolle eingeführt, die dem Präsidenten der Republik, dem Präsidenten der Versammlung der Republik, dem Ministerpräsidenten, dem Ombudsman für das Rechtswesen, dem Generalstaatsanwalt der Republik sowie einem Zehntel der Abgeordneten der Versammlung der Republik ein Antragsrecht eingeräumt hat (Art. 281 (1) „a"). Auch die jeweiligen Regionalversammlungen oder die Präsidenten der Regionalregierungen können mit der Begründung, daß Rechte der selbständigen Regionen verletzt sind, das Antragsrecht ausüben (Art. 281 (1) „a"). Nach der spanischen Verfassung von 1978 können der Ministerpräsident, 50 Mitglieder des Abgeordnetenhauses, 50 Senatoren sowie die ausführenden Kollegialorgane und gesetzgebenden Versammlungen der Autonomen Gemeinschaften, was ihren Autonomiebereich angeht, den Antrag im abstrakten Normenkontrollverfahren stellen (Art. 162 Abs. la). Das Gesetz der Organisation des spanischen Verfassungsgerichtshofs (Ley Organica del Tribunal Constitucional) sieht eine Frist für die Einlegung des abstrakten Normenkontrollverfahrens von 3 19
Ein gutes Beispiel dafür bieten die brasilianischen Verfassungen von 1946 und 1967/69, die die direkte Anrufung des Obersten Gerichtshofes nur einem einzigen Organ, dem Bundesgeneralstaatsanwalt, anvertraut haben. Die unbefriedigende Bilanz, die aus dieser brasilianischen Erfahrung gezogen wurde, ergibt sich nicht nur aus der Einräumung des Antragsrechts ausschließlich an dies Organ, sondern auch aus dem Mangel an Unabhängigkeit eben dieses Organs in den damaligen brasilianischen Verfassungsordnungen. S. dazu oben B, II, 3, a, bb, φ). 20 Vgl. auch Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 30 (74). Die bayerische Verfassung von 1946 hat die Popularklage gegen Gesetze und Verordnungen, die ein Grundrecht verfassungswidrig einschränken, zugelassen (Art. 98, S. 4). 21 Vgl. Oberndorfer, EuGRZ, 1988, S. 194.
I. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem Bundesverfassungsgericht
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Monaten ab dem Datum der Veröffentlichung des Gesetzes oder der jeweiligen Bestimmung oder Handlung mit Gesetzeskraft vor (Art. 33). Nach Ablauf dieser Frist ist eine Überprüfung der Norm nur noch durch eine konkrete Normenkontrolle oder mittelbar über eine andere verfassungsrechtliche Verfahrensart möglich 22 . Auch die Anerkennung des Antragsrechts für jedermann in einem objektiven Verfahren wäre nicht zweckfremd 23. bb) Limitierter
Zugang
Das Grundgesetz legt die Zahl potentieller Antragsteller ausdrücklich fest (Art. 93 Abs. 1 Nr.2) 24 . Antragsberechtigte sind nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG die Bundesregierung, die Landesregierungen oder ein Drittel der Mitglieder des Bundestages. Der Kreis der Antragsberechtigten wird insoweit von § 76 BVerfGG übernommen. Die Begrenzung de.r Antragsteller soll eine Ausweitung der Normenkontrolle vermeiden, die zu einer Überforderung des Bundesverfassungsgerichts führen könnte 25 . In diesem Sinne hat die Einschränkung der Antragstellung eine Siebfunktion 26. Damit wird auch der politischen Bedeutung des Verfahrens Rechnung getragen, denn die Einräumung des Antragsrechts für die kollegialen Exekutivspitzen und eine qualifizierte Bundestagsminderheit beschränkt die Möglichkeit, das Bundesverfassungsgericht anzurufen, auf sehr bedeutende Fälle 27 . Im Gegensatz zu der Formulierung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, die einem nicht genau bestimmten Kreis der Bundesorgane und anderer Beteiligter die Antragsbefugnis einräumt, ist die Aufzählung der Antragsberechtigten in Art. 93
22 Vgl. dazu, Weber, Α., JöR 34 (1985), S. 245 (254). 23 Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 30 (74); S. auch Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 296; Renck, L., DöV, 1964, 1 (4); Vgl über die bayerische Popularklage (Art. 98, S. 4) Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 242-243. 24 Maunz, in: Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Grundgesetz, Art. 93, RdNr. 13; Stem, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 207; Meyer, W., in: von Münch, GrundgesetzKommentar, Art. 93, RdNr. 40; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 67; von Mutius, Jura 1987, S. 534 (537); Vgl. auch BVerfGE 1, 184 (196), fl,.52 (53), 32, 42 (43 f.). 25 Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 14; Stem, Bonner Kommentar (Zweite Bearbeitung), Art. 93, RdNr. 208; Söhn, Die Abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (297); Vgl. auch Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 30 (73-74). Nach der Meinung Kelsens würde die stärkste Garantie die Zulassung einer actio popularis sein. Dagegen spräche aber die Möglichkeit mutwilliger Anfechtung, die zu einer unerträglichen Überbelastung des Verfassungsgerichts beitragen könnte (a.a.O., S. 74). 26 Stem, Bonner Kommentar (Zweitbearbeitung), Art. 93, RdNr. 208. 27 Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (297); Stem, Bonner Kommentar (Zweitbearbeitung). Art. 93, RdNr. 208. *
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C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
Abs. 1 Nr. 2 GG abschließend. Eine Erweiterung des Kreises der Antragsteller im Wege der Auslegung würde einen Verfassungsverstoß bedeuten28. Mit Recht hat das Bundesverfassungsgericht eine Erweiterung abgelehnt. Die Antragsberechtigung könne daher nicht im Wege der Analogie aus Gründen eines vermeintlichen Sachbedürfnisses erweitert werden, da damit das Gericht die der Verfassungsgerichtsbarkeit vom Grundgesetz gezogenen Grenzen durch Zulassung neuer Verfassungsstreitigkeiten überschreiten und so von einer wichtigen Grundentscheidung des Verfassungsgebers abweichen würde 29 . In Betracht kommt allenfalls eine Erweiterung durch gesetzliche, auf Art. 93 Abs. 2 GG, § 13 Nr. 15 BVerfGG gestützte Regelung30. Gleichwohl läßt sich nicht übersehen, daß es eine gewisse Zufälligkeit bei der Bestimmung der Antragsberechtigten gegeben hat. Es ist anzunehmen, daß im System der checks and balances sicherlich auch andere bedeutsame Organe in Betracht kämen 31 , wie auch die verfassungsrechtliche Entwicklung in verschiedenen Ländern zeigt 32 . Eine historische Betrachtung zeigt, daß Art. 13 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung, der das Antragsrecht den zuständigen Behörden der Reichsregierung und der Landesregierungen übertragen hat, partieller Vorgänger des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG ist 33 . Die Antragsberechtigung der Bundesregierung und der Landesregierungen in Art. 93 Abs.l Nr. 2 GG ist auf Art.44 des Herrenchiemseer Entwurfs zurückzuführen, der bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und Ländern über die Vereinbarkeit von Bundesrecht mit dem Grundgesetz und von Landesrecht mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf Antrag des Bundes oder eines Landes vorsah 34 . Das Antragsrecht eines Drittels der Mitglieder des Bundestags wurde 28 BVerfGE, 21, 52 (53-54); BVerfGE 1, 184 (196-197); Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 209; Meyer, W., in: von Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 93, RdNr. 40; Maunz, in: Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Grundgesetz, Art. 93, RdNr. 2 und 29. 29 BVerfGE 21, 52 (53-54). 30 Vgl. dazu Maunz, in: Maunz u. a. BVerfGG, § 13, RdNr. 105, der die Auffassung vertritt, daß es wohl zu bejahen sei, daß der Bundesgesetzgeber eine in Art. 93 Abs. 1 GG aufgeführte Zuständigkeit gegenständlich oder hinsichtlich des Personenkreises aufgrund des Art. 93 Abs. 2 GG erweitern darf. 31 Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr.209; Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (297). 32 Wie oben hervorgehoben wurde (C, II, 2, b (aa)), scheinen die differenzierten Ausgestaltungen des Antragsrechts bei der abstrakten Normenkontrolle in verschiedenen Ländern zu bestätigen, daß die Entscheidung über die Auswahl der Antragsberechtigten nicht einer logisch zwingenden Richtlinie folgt und vor allem durch die geschichtlichen Gegebenheiten bedingt wird. 33 Söhn (Die abstrakte Normenkontrolle, S. 297) hebt hervor, daß Art. 13 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung als partieller Vorgänger des Art. 93, Abs. 1 Nr. 2 GG zu betrachten sei. S. dazu oben Β, II, 2, a, bb und b, aa.
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auf Anregung einiger Abgeordneter erst im Verlauf der Beratung des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege eingefügt 35.
cc) Antragsrecht,
rechtliches Interesse des Antragstellers und Kontrollbedürfnis
Die begrenzte Auswahl der Antragsteller, die Zwecke und die Gestaltung des Verfahrens weisen schon darauf hin, daß ein Rechtsschutzbedürfnis der Antragsteller als Voraussetzung der Normenkontrolle nicht zu verlangen ist. Es könnte de lege ferenda erwogen werden, ob eine gewisse Einschränkung des Antragsrechts nicht sinnvoll oder zweckmäßig wäre. Es könnten vermeintlich seltsame Erscheinungen wie u. a. die Zulässigkeit des Antrags einer Landesregierung, der auf Überprüfung von Normen anderer Bundesländer oder zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Bundesgesetzes, das wegen vermutlicher Unvereinbarkeit mit bestimmten Grundrechten in Zweifel gezogen wird, gerichtet ist, oder etwa die Prüfung von Landesnormen auf Antrag von Bundestagsabgeordneten vermieden werden 36 . Die Frage nach der Kontrolle von fremdem Landesrecht durch eine Landesregierung ist schon in der Weimarer Zeit aufgeworfen worden und hat zu einer umstrittenen Auslegung des Art. 13 Abs. 2 WRV geführt. Während Mende ein „berechtigtes Interesse" auch an der Überprüfung fremden Landesrechts sah 37 , vertrat Flad die Auffassung, daß eine solche Legitimation den Ländern eine Popularklage zugestehen würde, an die in Art. 13 schwerlich gedacht worden sei und die auch politisch verderblich wirken könnte 38 . Das Reichsgericht konnte diese Frage in einem Antrag auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des sog. „ Gothaischen Konfiskationsgesetzes " des Landes Thüringen, der von Bayern gestellt worden war, offenlassen, denn auch der Reichsminister des Innern hatte die Normenkontrolle beantragt 39. 34 Vgl. JöR η F Bd. 1 (1951), S. 669 ff.; S. auch Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (297-298). S. dazu oben Β, II, 2, a, bb. 3 5 S. dazu oben Β, II, 2, b, aa. 36 Vgl. Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 45 ff. 37 Mende, H., AöR NF 10, 248 ff. 38 Flad, Verfassungsgerichtsbarkeit und Bundesexekution, S. 41; Vgl. auch Merk, W. Verfassungsschutz, S. 499. Die Argumentation mit der Popularklage und der Legitimation ist, worauf zutreffend von Babel (Abstrakte Normenkontrolle, S. 49) hingewiesen wird, schon verfehlt, weil die Zulässigkeit der Überprüfungsvereinbarkeit fremder Landesnormen durch eine Landesregierung weder zu einer Ausweitung des Verfahrens noch zu einer Popularklage führt. Andererseits scheint die Anwendung des Begriffs Legitimation nicht geeignet für dieses Verfahren, da dieser mit der Idee von Rechtsschutzbedürfnis oder einer Rechtsbetroffenheit zusammenhängt. Flad selbst hatte an anderer Stelle ausgeführt, daß der Antragsteller „den Nachweis eines besonderen rechtlichen Interesses für die Anrufung" nicht zu führen braucht (a.a.O., S. 40). 39 RGZ 111, 123 ff.
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C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG enthält keine Anhaltspunkte, die eine Limitierung der Antragsbefugnis zuließe. Selbst die Stimmen, die wie Friesenhahn 40 für eine Einschränkung des Rechts einer Landesregierung plädieren, gegen Normen anderer Bundesländer einen Normenkontrollantrag zu stellen, müssen einräumen, daß die Verfassung für eine solche Begrenzung nichts hergibt 41 . Der Verfassungsgeber hat schon seinerseits Einschränkungen vorgenommen, indem er den Kreis der Antragsberechtigten begrenzte. Das abstrakte Normenkontrollverfahren dient vor allem dem Schutz der Rechtsordnung gegen verfassungswidrige Gesetze und der Rechtssicherheit und wird im Interesse der Allgemeinheit eingeleitet42. Deswegen kann Friesenhahn mit Recht feststellen, daß bei der abstrakten Normenkontrolle der Antragsteller wie ein Verfassungsanwalt das Verfahren in Gang bringt 43 . Die Mitwirkung beim Zustandekommen der angegriffenen Norm, ein Betroffensein oder ein spezifisches rechtliches Interesse sind daher nicht notwendig 44 . Die Zulässigkeit eines abstrakten Normenkontrollverfahrens ist lediglich an ein öffentliches Klarstellungsinteresse oder an ein Kontrollbedürfnis gekoppelt45 . dd) Die Stellung des Antrags Die Bundesregierung übt das Antragsrecht durch den federführenden Bundesminister aufgrund eines Kabinettsbeschlusses aus 46 . Maßgeblich für die Stellung der Normenkontrollanträge durch die Landesregierung ist das Landesverfassungsrecht 47 . Ein „Drittel der Mitglieder des Bundestages" bedeutet i.S. des Art. 121 GG ein Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl 48 . 40 Friesenhahn, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 37 Fn. 88. 41 Vgl. Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (306). 42 Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (306); Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 219. 43 Friesenhahn, Jura 1982, S. 505 (509). 44 Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (306); Stephan, Das Rechtsschutzbedürfnis, S. 147 ff.; Goessl, Organstreitigkeiten, S. 173 und 219. 45 Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (304); Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 68-69; Goessl, Organstreitigkeiten, S. 173 und 219; Stephan, Das Rechtsschutzbedürfnis, S. 150. 46 § § 18 und 19 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien, Besonderer Teil — GGO II — abgedruckt in Lechner-Hulshoff, Parlament und Regierung, München 1971, S. 414 ff. 47 Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 212; Ulsamer,in: Maunz u. a., BVerfGG, § 76, RdNr. 47. 48 Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 76, RdNr. 48; Maunz, in: Maunz-DürigHerzog-Scholz, Grundgesetz, Art. 121, RdNr. 2. Maunz, (a.a.O: Art. 121, RdNr. 5) macht aber darauf aufmerksam, daß für die Höhe der gesetzlichen Mitgliederzahl nicht nur solche wahlrechtlichen Einflüsse von Bedeutung sind, die zum dauernden Erlöschen eines Mandats führen, sondern auch solche, die nur vorübergehende Vakanz herbeiführen.
I. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem
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c) Antragsbefugnis aa) Vorbemerkung Zu den Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Normenkontrollverfahrens gehört weiterhin die Antragsbefugnis. Sie liegt vor, wenn Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel über die Vereinbarkeit von Bundesrecht mit dem Grundgesetz oder von Landesrecht mit dem Grundgesetz oder mit dem Bundesrecht bestehen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG). Die Begriffe Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten sind schon im Art. 13 Abs. 2 der Weimarer Verfassung verwendet worden. Nach der damaligen h. M. war gleichgültig, bei wem und wo die Zweifel entstanden sind. Die Gültigkeit einer landesrechtlichen Bestimmung konnte z.B. bei der Reichs- oder Landeszentralbehörde selbst in Zweifel gezogen werden 49 . Es schien damals auch nicht erforderlich, daß die Zweifel bei einer ranghohen Stelle entstanden sind 50 . Die Begriffe Zweifel und Meinungsverschiedenheit sind mehrfach im Grundgesetz verwendet worden. Sie sind dennoch nicht immer eindeutig. Der Begriff Meinungsverschiedenheit findet sich, abgesehen von der hier behandelten Normenkontrolle, auch in Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG (Bund-Länder Streitigkeiten) und in Art. 126 GG. Bereits in der Weimarer Verfassung wurde dieser Begriff unterschiedlich verwendet 51. Meinungsverschiedenheiten liegen vor, wenn zwei Stellen in einer Rechtsfrage verschiedene Ansichten vertreten 52. Diese Definition schließt auch die „Streitigkeit" ein, denn hier geht es um die Meinungsverschiedenheit zweier Stellen über den Bestand oder über den Nicht-Bestand eines Rechtsverhältnisses 53. Die Beteiligten kümmern sich hier prinzipiell um den Schutz eigener Interessen 54. Bei der Organstreitigkeit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG) entscheidet das Bundesverfassungsgericht über die Auslegung des Grundgesetzes aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter. Hier handelt es sich eindeutig um Streitigkeiten im engeren Sinne, denn es geht um Rechte und Pflichten von Bundesorganen 55. 4
9 Flad, Verfassungsgerichtsbarkeit und Bundesexekution, S. 40; Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 103; Triepel, Streitigkeiten, S. 67; Jerusalem, Die Staatsgerichtsbarkeit, S. 111. S. dazu oben Β, II, 2, a, bb. so Vgl. Rad, Verfassungsgerichtbarkeit und Reichsexekution, S. 39-40; a. A. offenbar Triepel, Streitigkeiten, S. 67. S. dazu oben Β, II, 2, a, bb. 51 Vgl. dazu Art. 15, 19, 90, 57 und 13 Abs. 2 WRV; S. auch Triepel, Streitigkeiten, S. 43-44. 52 Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 17. 53 Triepel, Streitigkeiten, S. 43-44; Flad, Verfassungsgerichtsbarkeit und Bundesexekution, S. 41; Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 17. 54 Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 17. 55 Vgl. Lorenz, D., Der Organstreit vor dem Bundesverfassungsgericht, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 225 (235).
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C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
Gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG entscheidet das Bundesverfassungsgericht auch bei Meinungsverschiedenheiten über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder. Im Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 nimmt das Grundgesetz Bezug auf diese Meinungsverschiedenheiten mit den Worten „ andere öffentlich-rechtliche Streitigkeiten ( . . . )". Dem Wortlaut dieser Vorschriften ist zu entnehmen, daß das Grundgesetz hier zwischen Meinungsverschiedenheit und Streitigkeit nicht unterscheidet. Auch im Art. 126 verwendet das Grundgesetz den Begriff Meinungsverschiedenheit. Eine solche ist hier Voraussetzung dafür, daß das Bundesverfassungsgericht über das Fortgelten von Recht als Bundesrecht zu entscheiden hat. Ob es sich hier um eine Streitigkeit im eigentlichen Sinne handelt oder nicht, ist noch schwieriger festzustellen, da Art. 126 über die Antragsteller nichts sagt. V. Mangoldt vertrat die Auffassung, daß sich die Meinungsverschiedenheiten des Art. 126 GG nur zwischen Verfassungsorganen entwickeln könnten (Verfassungsstreitigkeiten) 56. Hingegen behauptet Holtkotten, daß die Meinungsverschiedenheiten konkrete Streitigkeiten seien, aber die Antragsteller an ihnen nicht beteiligt zu sein brauchten 57. Der Begriff Zweifel wird auch in Art. 100 Abs. 2 GG verwendet: „Ist in einem Rechtstreit zweifelhaft, ob eine Regel des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts ist, so hat das Gericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen". Aus dem Wortlaut dieser Vorschrift ist zu entnehmen, daß die Zweifelsfrage aus Anlaß eines Rechtsstreites aufgeworfen werden muß 58 . Wie sich aus diesen Ausführungen ergibt, hängen die Begriffe Zweifel oder Meinungsverschiedenheit im Grundgesetz nicht notwendigerweise mit Rechtstreitigkeiten zusammen59. Dem Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG ist zu entnehmen, daß die Durchführung des abstrakten Normenkontrollverfahrens von Erörterungen oder verschiedenen Meinungen abhängt. Diese Umstrittenheit der Norm oder diese Rechtsungewißheit ist ein Indiz für ihre Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz, die die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts rechtfertigt 60. § 76 BVerfGG legt fest, wer Zweifel haben oder an Meinungsverschiedenheiten über die Gültigkeit der Norm beteiligt sein muß. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG hingegen enthält keine diesbezüglichen Vorgaben. Es ist daher zu untersuchen, ob sich § 76 BVerfGG mit der verfassungsrechtlichen Vorschrift vereinbaren läßt. 56 v. Mangoldt, Bonner Grundgesetz, 1. Aufl. 1953, Art. 126 Anm. 2. 57 Holtkotten, Bonner Kommentar, Art. 126 Anm. II 3 a e b. 58 Lechner, BVerfGG, § 13 Ziff. 12 Anm. 3 u. 4; Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 20. 59 Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 20.
60 Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 53 und 56; S. auch Goessl, Organstreitigkeiten, S. 173; Stephan, Das Rechtsschutzbedürfnis, S.150; Lechner, BVerfGG, § 13, Nr. 6, b), S. 110. Lechner vertritt aber die Auffassung, daß die prozessuale Voraussetzung die Funktion des „Rechtsschutzbedürfnisses" erfülle (a.a.O., S. 110-111).
I. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem
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Zunächst gilt es aber, die Begriffe Zweifel und Meinungsverschiedenheit zu präzisieren und die Zwecke dieser Voraussetzungen darzustellen. bb) Begriffliche
Klärung
(α) Zweifel Vom Wortlaut her setzt der Zweifel eine hypothetische Meinung voraus, die Ungewißheit über die Rechtmäßigkeit anmeldet61. Eine abschließende Meinungsbildung oder das Bestreiten der Rechtmäßigkeit der Norm, wie von Schumann gefordert wird 6 2 , ist hier nicht erforderlich 63. Der Zweifelnde bestreitet die Verfassungsmäßigkeit der Norm nicht notwendigerweise, er stellt sie nur in Frage. Auch eine systematische Betrachtung der Verfassung spricht für diese Interpretation. Das Grundgesetz unterscheidet in Art. 100 GG deutlich das Erfordernis einer Überzeugung („Für-verfassungswidrig-Halten ") (Art. 100 Abs. 1) von dem Zweifel (Art. 100 Abs. 2). Der Begriff des „Zweifels " setzt nicht die Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit voraus. Es genügt also, daß die Verfassungswidrigkeit ernsthaft für möglich gehalten wird 6 4 . Nicht ausreichend sind aber rein theoretische Rechtsfragen oder fiktive Rechtsbehauptungen65. Von diesem Standpunkt aus ist mit Stern festzustellen, daß Zweifel als Überzeugung, aber mehr als Bedenken sind 66.
weniger
Die Zweifel sind auch dadurch gekennzeichnet, daß sie nicht mehr als einen Meinungsträger voraussetzen, wodurch sie sich auch von den Meinungsverschiedenheiten unterscheiden 67. (ß) Meinungsverschiedenheiten Der Begriff Meinungsverschiedenheiten setzt eine sachliche Differenz zwischen verschiedenen Stellen voraus 68 . Schon in der Weimarer Zeit wurde dieser 61
Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 54. Schumann, E., Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde gegen richterliche Entscheidungen, S. 72. 63 Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 54; Stem, Bonner Kommentar, Art. 93 RdNr. 217. w Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 65; Vgl. auch Bachof, AöR 87, S. 1 (24). 65 Schumann, E., Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde gegen richterliche Entscheidungen, S. 76; Stem, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 217; Stephan, Das Rechtsschutzbedürfnis, S. 150; von Mutius, Jura 1987, S. 534 (539). 66 Stem, Bonner Kommentar, Art. 100, RdNr. 239. 67 Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 54. 68 Triepel, Streitigkeiten, S. 43-44; Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reichs, S. 103. 62
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C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
Ausdruck so ausgelegt, daß Verschiedenheit von Meinungen zwischen unterschiedlichen Stellen genügte. Nach der herrschenden Meinung war es entbehrlich 6 9 , daß die Umstrittenheit sich auf die Antragsteller beschränkte. Es ist nicht nötig, daß es sich um einen Streit über Rechtspositionen oder subjektive Rechte handelt. Eine Meinungsverschiedenheit kann aber eine Streitigkeit einschließen70. Es müssen jedoch mindestens zwei divergierende Stellungnahmen vorliegen, eine, die die Verfassungsmäßigkeit der Norm angreift oder in Frage stellt, eine andere, die die Bedenken gegen ihre Verfassungsmäßigkeit verwirft 71 . cc) Zweck der Voraussetzungen Das abstrakte Normenkontrollverfahren dient vor allem dem Schutz der Verfassung und der Bundesrechtsordnung und soll Rechtssicherheit schaffen, indem es die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Bundes- und Landesrecht unabhängig von einem konkreten Fall ermöglicht 72 . Rechtssicherheit kann sich sowohl aus der Feststellung der Unvereinbarkeit der Norm mit der Verfassung (negative Zielrichtung) als auch aus der Anerkennung ihrer Rechtmäßigkeit ergeben 73. Obwohl die abstrakte Normenkontrolle unabhängig von einem Rechtsschutzbedürfnis durchzuführen ist, verhindert die Verfassung eine ausufernde Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts. Nur das Bestehen eines Streits oder einer Ungewißheit, die durch das Vorhandensein von Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten ausgedrückt wird, rechtfertigt die gerichtliche Entscheidung. Die Entstehung dieses ungewissen Zustandes führt also zum Bedürfnis nach gerichtlicher Klärung und sichert damit ab, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht ohne Belang mobilisiert wird 7 4 . Liegen die Voraussetzungen vor, so ist damit impliziert, daß ein öffentliches Kontrollbedürfnis oder ein öffentliches Interesse besteht. Die Norm ist daher als überprüfungsbedürftig anzusehen75.
69 Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reichs, S. 103-104; Flad, Verfassungsgerichtsbarkeit und Reichsexekution, S. 40; Morstein Marx, AöR 45 (1924), S. 218 (221 Fn. 12); Jerusalem, Die Staatsgerichtsbarkeit, 1930, S. 112; Triepel, Streitigkeiten, S. 67. Triepel vertrat immerhin die Auffassung, daß die Zweifel oder Meinungverschiedenheiten irgendwie an einer beachtenswerten Stelle herrschen sollten. S. dazu oben Β, II, 2, a, bb. 70 Triepel, Streitigkeiten, S. 15, 44 und 66; Schumann, Verfassungs- und Menschenrechtsverfassungsbeschwerde gegenrichterliche Entscheidungen, S. 73. 71 Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 54 und 17; Schumann, E., Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde gegenrichterliche Entscheidungen, S. 72-74; Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 216. 72 Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (294); Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 54. 73 Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (294). 74 Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 56. 75 Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (301, 304-305); Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 56-57; Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 218.
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Das Erfordernis von Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG soll daher verhindern, daß das Gericht sich mit rein theoretischen Zweifelsfragen ohne praktische Bedeutung zu befassen hat 76 . Daher konkretisiert das Vorliegen von Zweifeln oder Meinungsverschiedenheiten ein Entscheidungs- oder Kontrollbedürfnis 77 . dd) Zur Verfassungsmäßigkeit
des § 76 BVerfGG
(α) Vorbemerkung Für die Verfassungsmäßigkeitsüberprüfung verlangt § 76 BVerfGG, daß einer der Antragsberechtigten die Normen für nichtig hält. Der Antrag ist weiterhin zulässig, wenn ein Gericht, eine Verwaltungsbehörde oder ein Organ des Bundes oder eines Landes das Recht nicht angewendet haben, weil sie es für unvereinbar mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht halten und der Antragsteller einer anderen Auffassung ist. Diese Erfordernisse sind strenger als die in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG festgelegte Voraussetzung. Die gesetzliche Einschränkung könnte gerechtfertigt sein, wenn die Verfassung eine Ermächtigung an den Gesetzgeber zur Ausführung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG enthielte. Eine solche Ermächtigung könnte in Art. 94 Abs. 2 GG enthalten sein, der ausführt: „Ein Bundesgesetz regelt seine Verfassung und das Verfahren"™. Art. 94 Abs. 2 GG verpflichtet den Gesetzgeber zum Erlaß von Regeln über die Verfassung des Gerichts und das Verfahren. Dazu gehören auch die Prozeßvoraussetzungen. Für eine Einschränkung des Antragsrechts im Wege der einfachen Gesetzgebung findet sich in dieser Bestimmung jedoch keine Stütze, denn das hätte die Änderung einer Entscheidung des Verfassungsgebers zur Folge 79 . Zudem handelt es sich bei einer Einschränkung des verfassungsrechtlich festgelegten Antragsrechts nicht um eine Regelung des Verfahrens 80. Eine Modifizierung oder eine Einschränkung dieser Entscheidung durch einfaches Gesetz wäre daher als eine Verfassungsdurchbrechung zu betrachten 81. 76
Stephan, Das Rechtsschutzbedürfnis, S. 150; Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 56-57. 77 Goessl, Organstreitigkeit, S. 173; Stephan, Das Rechtsschutzbedürfnis, S. 150. Es scheint immerhin jeder Versuch mit dem Ziel, das Rechtsschutzbedürfnis durch die Begriffe Meinungsverschiedenheiten und Zweifel zu ersetzen, verfehlt, wie ζ. B. von Lechner angenommen wird (BVerfGG, § 13, Anm. 6b). Auch eine Unterstellung des Rechtsschutzbedürfnisses, wie sie u. a. von Goessl (Organstreitigkeit, S. 173) angenommen wird, ist auszuschließen. 7 8 So Geiger, BVerfGG, § 76, Anm. 8, S. 245; Lechner, BVerfGG, § 76, Anm. 3. 7 * Renck, L., JZ, 1964, S. 249 (250); Bachof, AöR 87, S. 1 (24, Fn.53); Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (302); von Mutius, Jura 1987, S. 534 (540). so Bachof, AöR 87 (1962), S. 1 (24, Fn. 53).
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(ß) Zur Verfassungsmäßigkeit des § 76 Nr. 1 BVerfGG Nach § 76 Nr. 1 BVerfGG muß einer der Antragsberechtigten die Norm für nichtig halten. Fraglich ist, ob der Gesetzgeber mit dieser Forderung den Begriff Zweifel nur näher definiert hat 82 . Es könnten insoweit nur solche Zweifel an der Gültigkeit der Norm genügen, die sich bereits zur Überzeugung von deren Verfassungswidrigkeit verdichtet haben83. Das Kontrollbedürfnis wird deutlicher und stärker, wenn eine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit vorhanden ist. Diese apodiktische Meinung könnte daher als eine besondere Qualifikation des Zweifels betrachtet werden 84 . Wie bereits angedeutet worden ist, erfolgte die Auslegung des Begriffs Zweifel in Art. 13 Abs. 2 WRV unabhängig von einer definitiven Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Norm. Damals genügte die Anführung von wichtigen Gründen, die gegen die Verfassungsmäßigkeit der Norm sprachen. Die Überzeugung von der Nichtigkeit wurde nicht gefordert 85. Die be wußte Anlehnung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG an das Weimarer Modell läßt auch den Schluß zu, daß der in dieser Vorschrift verwandte Begriff Zweifel nicht mit einem „Für-verfassungswidrig-Halten" gleichzusetzen ist. Auch eine systematische Betrachtung des Grundgesetzes ergibt keine Anhaltspunkte für die abgelehnte Ansicht. Die Zulässigkeit der Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG setzt voraus, daß das Gericht das anzuwendende Gesetz für verfassungswidrig hält. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung wird zur Einleitung der konkreten Normenkontrolle eine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes verlangt („Für-verfassungswidrig-Halten"). Andererseits wird nach Art. 100 Abs. 2 GG nur das Vorhandensein von Zweifel vorausgesetzt. Dies bestätigt, daß das Grundgesetz eine Gleichsetzung von Zweifel und Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit oder ein „Für-verfassungswidrig-Halten" nicht zuläßt. Die Entstehungsgeschichte des § 76 BVerfGG belegt auch, daß der Gesetzgeber keine präzise Konkretisierung des Antragsrechts beabsichtigte, sondern seine ausdrückliche Einschränkung anstrebte. Nach dem Regierungsentwurf sollte es nicht ausreichend sein, daß „irgendwo" Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Norm entstanden waren 86 . Vielmehr sollte einer der Antragsberechtigten die Norm für verfassungswidrig halten, denn sonst bestünde die Möglichkeit, daß si Renck, JZ, 1964, S. 249 (250); Vgl. auch von Mutius, Jura 1987, S. 534 (540). 82 Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 62; Vgl. auch Maunz, in: Maunz-DürigHerzog-Scholz, Grundgesetz, Art. 93, RdNr. 30. 83 Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 76, RdNr. 51. 84 Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 63. 85 Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 68. 86 Vgl. Begründung des Regierungsentwurfs vom 28.3.1950, Drucksache Nr. 788, Bd. 3, S. 39.
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Landesregierungen Anträge mit dem Ziel stellten, dem Bund „Schwierigkeiten zu machen " oder „ ein Drittel des Bundestages, nur um Schwierigkeiten zu bereiten, das Verfahren einleite"Der Abgeordnete Dr. Arndt hat auf die Verfassungswidrigkeit des Entwurfs aufmerksam gemacht und hinzugefügt, daß weder die Bundesregierung noch die Landesregierungen zum Vergnügen „Prozesse führten" und auch das Drittel des Bundestages ein gewisses Vertrauen verdiene 88. Jedoch setzte sich die Regierung mit ihren Vorstellungen durch 89 . Zweifel liegen bereits vor, wenn die Ungültigkeit der Norm ernsthaft für möglich gehalten wird 9 0 . Allein die Entstehung von Zweifel legitimiert die Antragstellung. Schon deshalb läßt sich die Einengung des Begriffs Zweifel in § 76 BVerfGG nicht aufrechterhalten. Deshalb ist § 76 Nr. 1 BVerfGG mindestens teilnichtig, denn das Wort nur ist verfassungswidrig 91. § 76 Nr. 1 BVerfGG schränkt das verfassungsrechtliche Antragsrecht dahingehend ein, daß der Antragsteller selbst die Zweifel hegt 92 oder daß einer der Antragsberechtigten Träger der Zweifel sein muß 93 . Indes ergibt sich aus dem Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG nur das Erfordernis des Vorhandenseins von Zweifeln oder Meinungsverschiedenheiten. Die Forderung, daß der Antragsteller die Zweifel selbst hegen soll oder daß mindestens einer der Antragsberechtigten Träger der Zweifel sein muß, ist daher nicht begründet 94. Selbst wenn anzunehmen wäre, daß der Gesetzgeber eine Bestimmung deroder desjenigen, die die Gültigkeit der Norm bezweifeln, vornehmen dürfte 95 , ist schwerlich anzuerkennen, daß die Beschränkung dieser Meinungsträger auf die Antragsberechtigten sich mit dem Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG vereinbaren läßt 96 . Hinsichtlich derjenigen, bei denen Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten aufgetreten sein müssen, enthält das Grundgesetz keine Bestimmung. Deshalb genügt
87 Vgl. Verhandlungen des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht über das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht, 1. Wahlperiode, Bonn, 1949, S. 39; S. auch Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (302303); Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 64-65. 88 Vgl. Verhandlungen des Ausschusses für Rechts wesen und Verfassungsrecht über das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht, 1. Wahlperiode, Bonn, 1949, S. 39; S. uch Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (303). S9 Vgl. auch Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (303). 90 Vgl. auch Bachof, AöR 87 (1962), S. 1 (23-24). 91 Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 67; Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 76, RdNr. 52; Vgl. auch Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 70. 92 Vgl. Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. II, S. 176. 93 Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 68. 94 Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (303); Vgl. auch von Mutius, Jura 1987, S. 534 (540). 95 Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 84. 96 Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 67.
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es, daß sie irgendwo entstanden sind. Weitere Erfordernisse enthält Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG nicht 97 . In Betracht kommt allenfalls eine verfassungskonforme Interpretation des § 76 Nr. 1 BVerfGG in der Weise, daß die Antragsbefugnis bei Vorhandensein von ernsthaften Zweifeln oder Meinungsverschiedenheiten besteht98. Diese Auslegung überschreitet jedoch die Grenzen des möglichen Wortsinns. Deshalb ist § 76 BVerfGG mit dem Grundgesetz nicht nur unvereinbar, weil er den Begriff Zweifel durch ein „Für-verfassungswidrig-Halten" ersetzt, sondern auch, weil er die Zweifel ausschließlich beim Antragsberechtigten voraussetzt. (γ) Zur Verfassungsmäßigkeit des § 76 Nr. 2 BVerfGG Nach § 76 Nr. 2 BVerfGG ist der Antrag weiterhin zulässig, wenn einer der Antragsberechtigten Bundes- oder Landesrecht für gültig hält, nachdem ein Gericht, eine Verwaltungsbehörde oder ein Organ des Bundes oder eines Landes das Recht als unvereinbar mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht nicht angewendet hat. § 76 Nr. 2 BVerfGG bestimmt nicht nur die Träger der Gegenmeinung — Gerichte, Verwaltungsbehörden, Staatsorgane —, sondern auch, in welcher Weise diese Stellen ihre Meinung zum Ausdruck bringen sollen 99 . Gemäß § 76 Nr. 2 BVerfGG wird verlangt, daß die genannten Träger der Gegenmeinung die betreffende Norm ihrer Verfassungswidrigkeit wegen bei einer konkreten Amtshandlung nicht angewendet haben. Um eine gerichtliche Entscheidung i. S. § 76 Nr. 2 BVerfGG handelt es sich, wenn die Norm erheblich für den zu entscheidenden Sachverhalt war, aber wegen ihrer Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht „außer Anwendung" gelassen worden ist 1 0 0 . Das betrifft vor allem Rechtsnormen, die nicht dem Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts unterworfen sind (vorkonstitutionelles Recht und Recht im Rang unterhalb der förmlichen Gesetze) 101. Auch ein Aussetzungsbeschluß nach
97 Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 305; Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. II, S. 176; Stem, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 218; Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 89; Renck, L., JZ 1964, S. 249 (250). 98 Maunz, in: Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Grundgesetz, Art. 93, RdNr. 30; Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. II, S. 176. 99 Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 71. 100 Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 76 RdNr. 54; Babel, a.a.O. S. 72. Wie von Babel hervorgehoben wird, genügt nicht obiter dicta (Abstrakte Normenkontrolle, S. 73 74). 101 Ulsamer, in: Maunz, u. a., BVerfGG, § 76, RdNr. 54; Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 72.
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Art. 100 Abs. 1 GG bedeutet zwar eine Nichtanwendung i.S. des § 76 Nr. 2 BVerfGG. Ein Antrag, der diese Vorlage zum Anlaß nehmen würde, wäre jedoch überflüssig, weil das Bundesverfassungsgericht sich bereits im Rahmen der konkreten Normenkontrolle mit der Norm befassen muß 102 . Die abstrakte Normenkontrolle ist weiterhin bei solchen Normen zulässig, die von Verwaltungsbehörden wegen Verstoßes gegen das Grundgesetz oder sonstiges Bundesrecht nicht angewendet worden sind 103 . Verwaltungbehörden sind Behörden der unmittelbaren und mittelbaren Staatsverwaltung, auch die obersten Bundes- und Landesbehörden in ihrer verwaltenden Funktion sowie Kommunalbehörden 104. Die Nichtanwendung kann bei Verwaltungsbehörden auch durch Nichtbefolgung und Mißachtung bewirkt werden 105 . Bloße Untätigkeit ist als Nichtanwendung zu charakterisieren, wenn sie erkennbar damit begründet wird, daß die anzuwendende Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz oder höherrangigem Bundesrecht gehalten wird 1 0 6 . Auch in einer Weisung einer oberen an eine nachgeordnete Behörde handelt es sich um eine Nichtanwendung 107 . Neben Gerichten und Verwaltungsbehörden nennt § 76 Nr. 2 BVerfGG die Organe des Bundes und der Länder. In Betracht kommen hier die Verfassungsorgane, die gesetzgebenden Körperschaften (Bundestag, Bundesrat, Länderparlamente), Bundespräsident, Regierungen (Bundesregierung und Landesregierungen), soweit letztere nicht schon unter den Begriff der „Verwaltungsbehörde" fallen 108 . Auch hier bedeutet die Nichtanwendung nicht nur die Verweigerung des hoheitlichen Vollzugs der Norm, sondern auch die Nichtbeachtung109. § 76 Nr. 2 BVerfGG bestimmt die Position der Antragsberechtigten (Fürgiiltig-Halten) und beschränkt ausdrücklich die anderen an der Meinungsverschiedenheit (Gericht, Verwaltungsbehörde, Organe des Bundes oder der Länder) eventuell Beteiligten, die ihre Überzeugung über die Unvereinbarkeit der Norm durch die Nichtanwendung zu erkennen geben.
102 Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 72. 103 § 76, Nr. 2 BVerfGG ist in dem Meinungsstreit um das Prüfungs- und Verwerfungsrecht der Verwaltung als Argument dafür verwendet worden, daß das geltende Recht die Befugnis der Behörde anerkenne, für verfassungs- oder bundesrechtswidrig gehaltene Normen unangewendet zu lassen (Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 75). 104 Lechner, BVerfGG, § 76, Anm. 4 bb); Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 76, RdNr. 55. los Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 75; Ulsamer, in: Maunz u. a., § 76, RdNr. 56. 106 Lechner, BVerfGG, § 76, Anm. 4b; Ulsamer, in: Maunz u. a., § 76, RdNr. 56. 107 Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 75-76; Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 76, RdNr. 56. los Lechner, BVerfGG, § 76, Anm. 4a bb. 109 BVerfGE 12,205 (221 - 222). Hier hat das Gericht festgestellt: „ Organe des Bundes werden niemals zum hoheitlichen Vollzug von Landesrecht zuständig sein". Kritisch dazu Zeidler, Karl, AöR 86 (1961), S. 361 (380-381); S. auch Babel, Abstrakte Normenkontrolle, S. 68.
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Diese Einschränkung läßt sich, wie dargestellt, nicht mit dem Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und Art. 94 Abs. 2 GG vereinbaren. § 76 nimmt eine unmittelbare Begrenzung des Antragsrechts vor, die keine Stütze im Grundgesetz findet. Die Ermächtigung an den Gesetzgeber, ein Gesetz über das verfassungsrechtliche Verfahren zu erlassen (Art. 94 Abs. 2 GG), gestattet, wie oben ausgeführt wurde, nicht, das verfassungsrechtlich festgelegte Antragsrecht zu modifizieren oder einzuschränken 1 1 0 . Da eine verfassungskonforme Auslegung des § 76 Nr.2 wie eine solche des § 76 Nr. 1 über die Grenze des möglichen Wortsinns hinausgehen würde, ist § 76 Nr. 2 BVerfGG mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.
3. Prüfungsgegenstand a) „Bundes- und Landesrecht" aa) Vorbemerkung Prüfungsgegenstand des abstrakten Normenkontrollverfahrens kann „Bundesoder Landesrecht" sein (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG; §§ 13 Nr. 6, 76 BVerfGG), d.h. alle Rechtssätze, die von Bundes- bzw. Länderorganen erlassen worden sind. Diese Formulierung trägt dem Zweck der abstrakten Normenkontrolle Rechnung, der in der Wahrung des Vorrangs der Verfassung bzw. dem Schutz der Bundesrechtsordnung und der Klärung von Zweifeln über Maßstabskonformität von Rechtsnormen besteht 111 . In Betracht kommt daher grundsätzlich jede Rechtsnorm als Prüfungsgegenstand der abstrakten Normenkontrolle 112 . Die Ausdrücke Bundesrecht und Landesrecht sollen den Gegenstand des abstrakten Normenkontrollverfahrens möglichst umfassend bezeichnen, damit deutlich wird, daß Bundes- und Landesrecht jeder Rechtsstufe der verfassungsgerichtlichen Prüfung unterliegt 113 . Bundesrecht liegt vor, wenn der Rechtssatz von einem Bundesorgan, Landesrecht, wenn die Vorschrift von einem Landesorgan erlassen wurde. Maßgeblich ist mithin, wem das Organ, das den Rechtssatz erlassen hat, zuzurechnen ist 1 1 4 .
no Vgl. dazu Bachof, AöR 87 (1962), S. 1 (24); Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 302; Zeidler, K , AöR 86 (1961), S. 361 (381); Renck, L., JZ 1964, S. 249 (250). m Stem, Bonner Kommentar (Zweitbearbeitung), Art. 93, RdNr. 220. 112 BVerfGE 4,157 (162), 20,56 (89); Stem, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 226; Maunz, in: Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Grundgesetz, Art. 93, RdNr. 24; Ulsamer, in: Maunz, u. a. Kommentar zum BVerfGG, § 76, RdNr. 3. us Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 76, RdNr. 19 u. 26; Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 312.
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bb) Bundesrecht Bei Durchsicht der einzelnen Kategorien des Bundesrechts im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG ergeben sich: (1) die Bestimmungen des Grundgesetzes selbst. Hinsichtlich des sogenannten sekundären Bundesverfassungsrechts, d. h., der vom Bundesgesetzgeber geänderten oder eingefügten Verfassungsnormen ist die Verfassungsmäßigkeitsprüfung nach Maßgabe des Art. 79 Abs. 2 und 3 GG unproblematisch 115. Nicht unumstritten ist dagegen die Überprüfungsmöglichkeit primären Verfassungsrechts an überpositiven Maßstäben, wie sie von dem Bundesverfassungsgericht und einer verbreiteten Lehre angenommen wurde 116 . (2) Bundesgesetze jeder Art und jeden Inhalts, ohne Rücksicht darauf, ob es sich um vor- oder nachkonstitutionelles Recht handelt 117 . Die abstrakte Normenkontrolle knüpft ausschließlich an die Rechtssatzform an, daher kann Kontrollgegenstand jeder Rechtssatz sein, unabhängig von seinem materiellen Rechtssatzgehalt 118 . Hierzu sind u. a. zu rechnen: (2.1) inkorporierte allgemeine Regeln des Völkerrechts gemäß Art. 25 S. 1 GG, die nach h. M eine Zwischenposition zwischen Verfassung und einfachen Bundesgesetzen einnehmen119. Die Einbeziehung dieser Regeln in die Bundesrechtsordnung schließt eventuelle Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz nicht aus 120 . 114 Vgl. BVerfGE 18,40 (414); S. auch Stern, Staatsrecht, Bd. I, § 19 7, III f, S. 571; Gubelt, M.,in: von Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 31, Bd. I, RdNr. 6 u. 11; Leibholz-Rupprecht, BVerfGG, § 76, Anm. 2. us Maunz, in: Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Grundgesetz, Art. 93, RdNr. 23; Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 222; Ulsamer, in: Maunz u. a. BVerfGG, § 76, RdNr. 21; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 68-69; Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 313; Sigloch, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 80, RdNr. 46; Leibholz-Rupprecht, BVerfGG, § 76, Anm. 2; Nawiasky, JZ, 1954, S. 717 (718); vgl. auch BVerfGE 12, 45 (50), 30, 1 (15 ff.). 116 BVerfGE 1, 14 (18), 3, 225 (230); S. auch BVerfGE 4, 294 (296), BVerfGE 5, 85 (137); Vgl. auch Bayer.VerfGH Verw. Rspr. 2, Nr. 65, S. 273; Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen? in: Ders., Wege zum Rechtstaat, 1979, S. 21 ff.; Vgl. dazu auch unten C, I, 4, (c). in BVerfGE 2, 124 (130); BVerfGE 24,174 (179); Maunz, in: Maunz-Dürig-HerzogScholz, Grundgesetz, Art. 93, RdNr. 24, 25; Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 76, RdNr. 14. us BVerfGE 1, 396 (410); Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 67-68; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 69; Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 76, RdNr. 14; Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 226; Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (312). 119 Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 223; Staatsrecht, Bd I, § 14, II, 8a, S. 364. ι 2 0 Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 223. Es ist zu bemerken, daß die Formulierung des Art. 25 S. 2 Anlaß zu Streitigkeiten gegeben hat, da einige die Auffassung vertreten haben, daß dem Völkerrechtssatz Überverfassungsrang zukomme (Mangel, 7 Mendes
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C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
(2.2) alle anderen förmlichen Bundesgesetze. Hierunter sind Bundesgesetze jeder Art und jeden Inhalts zu verstehen, auch: (2.2.1) Zustimmungsgesetze nach Art. 59 Abs. 2 GG, bei deren Kontrolle der Vertrag mittelbar in die Prüfung einbezogen wird 1 2 1 . Gegenstand der abstrakten Normenkontrolle kann nicht der Vertrag als solcher, sondern nur das Zustimmungsgesetz sein, da die zwischenstaatliche Vereinbarung selbst nur subjektive Rechte und Pflichten völkerrechtlicher Qualität zwischen den Vertragsschließenden bzw. subjektive Rechte Dritter bei einem Vertrag zugunsten Dritter erzeugt 122 . (2.2.2) Gesetze im nur formellen Sinne wie etwa Haushaltsgesetze (Art. 110 Abs. 2 S. 1 GG) 1 2 3 , gesetzliche Bestimmungen zur Errichtung einer Stiftung 124 oder einer Bundesbehörde 125. (3) Rechtsverordnungen der Bundesregierung oder eines Bundesministers oder anderer (Sub-) Delegationsempfänger des Bundes gemäß Art. 80 sowie solche, die unmittelbar auf Grund des Grundgesetzes (Art. 119 S. 1; Art. 127; Art. 132 Abs. 4 GG) erlassen worden sind 126 . Es genügt, daß sich die Norm ihrer äußeren Form nach als Rechts Verordnung darstellt, d.h., daß die erlassende Behörde sie als Verordnung bezeichnet, eine Ermächtigung zu ihrem Erlaß angibt und sie in den für die Verkündung von Rechtsnormen bestimmten Publikationsblättern bekanntgibt 127 . (4) Satzungen. Soweit der Bund vor allem nach Art. 86 und 87 Abs. 2 und 3 GG befugt ist, Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts zu schaffen, ist das von ihnen gesetzte Recht Bundesrecht 128.
Bonner Kommentar (1. Bearb.) Art. 25, Erl. II 4; Pigorsch, W., Die Einordnung völkerrechtlicher Normen in das Recht der Bundesrepublik Deutschland, 1959, S. 25). Auch Döehring (Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik, VVDStRL 32 (1964), S. 22) nimmt an, daß diese Regeln einen Verfassungsrang haben. In der Entscheidung vom 26.3.1957 (BVerfGE 6, 440) hat das BVerfG nicht eindeutig über den Verfassungsrang der allgemeinen Regeln des Völkerrechts entschieden, aber seinen Vorrang vor „jeder Norm aus Deutschen Rechtsquellen " anerkannt. 121 BVerfGE 1, 396 (410), 4, 157 (161); 12 281 (288). 122 BVerfGE 1, 396 (410); 4, 157 (162); 12, 281 (288); 14, 1 (6); 14, 1 (6); 29, 348 358); Ulsamer, BVerfGG § 76, RdNr 22; § 80, RdNr. 51; Lechner, BVerfGG, § 13 Ziff. 6 Anm. 3a; Vgl. auch Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (312 ff.); Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. II, S. 167. 123 BVerfGE 20, 56; 38, 121 (127). 124 BVerfGE 10,20 (35). 125 BVerfGE 14, 197 (209). 126 BVerfGE 1, 117 (128); 1, 184 (196); Ulsamer, BVerfGG, § 76, RdNr. 25; Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (313); Stem, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 228. 127 BVerfGE 2, 307 (312); Ulsamer, BVerfGG, § 76, RdNr. 25. 128 Stem, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 229; Ulsamer, BVerfGG, § 76, RdNr. 25; Gubelt, M., in: von Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 31, RdNr. 7.
I. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem Bundesverfassungsgericht
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(5) auch die im Gesetzgebungsnotstand des Art. 81 GG und im Verteidigungsfall gem. Art. 115c und 115e GG zustandegekommenen Gesetze129; (6) Gewohnheitsrecht kann auch Gegenstand der Vereinbarkeitsprüfung im abstrakten Normenkontrollverfahren sein 13°. Gewohnheitsrecht ist Bundesrecht, wenn es bundesweit gilt 1 3 1 . (7) Auch für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge können der abstrakten Normenkontrolle unterliegen, „weil es sich um einen staatlichen Rechtssetzungsakt handelt" und die Allgemeinverbindlichkeit sich aus einem Akt des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung als einem Bundesorganen ergibt 132 . cc) Landesrecht Landesrecht sind alle Rechtssätze, die von Landesorganen geschaffen werden bzw. ihnen zuzurechnen sind 133 . Dem abstrakten Normenkontrollverfahren unterliegen u. a.: (1) Landesverfassungsbestimmungen, die trotz gleicher staatsrechtlicher Qualität wie die des Grundgesetzes 134 als Verfassung eines Gliedstaats mit der Rechtsfolge des Art. 31 GG in das höherrangige Recht des Gesamtstaates eingebunden sind 135 ; (2) förmliche Landesgesetze jeder Art und jeden Inhalts, gleichgültig, ob sie über materiellen Gehalt verfügen oder es sich nur um Gesetze im formellen Sinne handelt 136 . Hierzu zählen auch die Zustimmungsgesetze zu Staatsverträgen, die ein Land im Rahmen seiner Gesetzgebungszuständigkeit nach Maßgabe des Art. 32 Abs. 3 GG mit einem auswärtigen Staat schließt 137 , die Zustimmungsgesetze zu Staatsverträgen der Länder untereinander 138 und der Länder mit dem 129 Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 225; Ulsamer, BVerfGG, §76, RdNr. 23. 130 Geiger, BVerfGG, § 76, Anm. 4; Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 230; Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (313). 131 Gubelt, M., in: von Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 31, RdNr. 6; Stern, Staatsrecht I, § 19, III 7 f a, S. 723. 132 BVerfGE, 44, 322 (348 ff.); Stern, Bonner Kommentar, Art. 93 RdNr. 231; Bernhardt, Bonner Kommentar, Art. 31 (Zweitbearbeitung), RdNr. 20. 133 BVerfGE 18, 407 (414); Gubelt, M., in: von Münch, Grundgesetz Kommentar, Art. 31, RdNr. 11; Stern, Staatsrecht, I, § 19, 7, III, f, S. 571. 134 BVerfGE 36, 342 (360). 135 Ulsamer, in: Maunz u.a, BVerfGG, § 76, RdNr. 27; Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 233. 136 Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 234. 137 Ulsamer, BVerfGG, § 80, RdNr. 51; bezweifelt Gubelt, in: von Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 31 RdNr. 11. 138 Vgl. BVerfGE 12, 205 (220); 12, 281 (288); 37 191 (197); 43, 291 (362); S. auch Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 76, RdNr. 28; Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 234. 7*
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C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
Bund 139 . Der Vertrag selbst kann nicht Gegenstand der abstrakten Normenkontrolle sein 140 . Die unmittelbare Nachprüfung könnte eventuell auf dem anderen Weg nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 oder 4 1 4 1 geschehen. (3) parlamentarische Zustimmungsbeschlüsse zu Staatsverträgen (z. B. Art. 72 Abs. 2 BayVerf.), sofern sie den normativen Teil des Staatsvertrages zu Landesrecht im Rang eines Gesetzes erheben 142. (4) Rechts V e r o r d n u n g e n , die unmittelbar aufgrund einer Landesverfassung, vor allem im Notstandsfall, erlassen worden sind 143 und solche, die aufgrund bundes- oder landesgesetzlicher Ermächtigung erlassen worden sind 144 . (5) autonome Satzungen der Gemeinden, Gemeindeverbände und Landkreise, da zum Landesrecht auch das von den Kommunen gesetzte Recht gehört 145 , und die Satzungen anderer landeszugehöriger juristischer Personen des öffentlichen Rechts 146 . (6) Gewohnheitsrechte auf Landesebene147. dd) Die Existenz der Norm und die vorbeugende Normenkontrolle Die abstrakte Normenkontrolle soll vor allem dem Schutz der Rechtsordnung gegen verfassungswidrige Normen dienen und setzt deshalb das formelle Vorhandensein der zu prüfenden Rechtssätze voraus 148 . So ist, abgesehen vom Gewohnheitsrecht, die Verkündung des Rechtssatzes erforderlich, weil damit das Normsetzungsverfahren abgeschlossen und das Recht als existent zu betrachten ist 1 4 9 .
139 BVerfGE 35, 377; Ulsamer, BVerfGG, § 76, RdNr. 51. 140 Ulsamer, in: Maunz u. a, BVerfGG, § 76, RdNr. 51b; Maunz, in: Maunz-DürigHerzog-Scholz, Grundgesetz, Art. 93, RdNr. 24. 141 Maunz, in: Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Grundgesetz, Art. 93, RdNr. 24; Sigloch, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 80, RdNr. 52. 142 BVerfGE 37, 191 (197); Stem, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 235; Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 76, RdNr. 28. 143 Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 76 RdNr. 29. 144 Stem, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 236; ders., Staatsrecht, I, § 19, III, 7 f, S. 723; Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 76, RdNr. 30; Bernhardt, Bonner Kommentar, Art. 31 (Zweitbearbeitung), RdNr. 27. 145 Gubelt, M., in: von Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 31, RdNr. 11; Stem, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 237; Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 76, RdNr. 31. 146 Bernhardt, Bonner Kommentar, Art. 31 (Zweitbearbeitung), RdNr. 21; Stem, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 237; Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 76, RdNr. 31. 147 Stem, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 238. 148 BVerfGE 1,396 (410); Vgl. auch Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (313); Stem, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 256; Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 76, RdNr. 15; Maunz, in: Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Grundgesetz, Art. 93, RdNr. 20; Geiger, BVerfGG, Anm. 5 zu § 76.
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Maßgebender Zeitpunkt für die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts ist daher die Verkündung der Vorschrift im offiziellen Publikationsorgan. Wird die ordnungsgemäße Verkündung des Gesetzes beanstandet, so ist auf den Zeitpunkt der fraglichen Publikation abzustellen.150 (α) Die Problematik der Vertragsgesetze Aus dem Wortlaut des Grundgesetzes ergibt sich, daß die abstrakte Normenkontrolle kein Instrument präventiver Normenkontrolle ist 1 5 1 . Eine Normenkontrolle könnte hier gar nicht vorliegen, weil es im Falle eines werdenden Rechts an einer Norm fehlt. 152 Immerhin sieht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Sonderregelung für Vertragsgesetze vor, die die gerichtliche Prüfung vor der Ausfertigung und Verkündung zuläßt 153 . Zur Begründung weist das Gericht auf die Gefahr hin, völkerrechtliche Verpflichtungen entstehen zu lassen, die nur unter Verletzung der Verfassung erfüllt werden könnten 154 . Die Befürchtung des Bundesverfassungsgerichts mag gerechtfertigt sein, denn in bestimmten Fällen könnte bis zur Ratifikation des Vertrages vielleicht nicht hinreichend Zeit sein, das Normenkontrollverfahren durchzuführen 155. Ob diese Ausnahme sich mit dem Wesen der Normenkontrolle vereinbaren läßt, ist zweifelhaft, denn die Normenkontrolle setzt begrifflich die Existenz von Normen voraus 1 5 6 . Im Regelfall dürfte die Ratifizierung des Vertrags, mit der dieser und das Zustimmungsgesetz in Kraft treten, auch hinausgeschoben werden können, wenn somit keine hinreichende Zeitspanne zur Durchführung des Normenkontrollverfahrens zur Verfügung stünde 157 . Ohne Zweifel könnte dies auch durch den Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG erreicht werden 158 . 149 BVerfGE 34, 9 (23-24); 42, 263 (283); Vgl auch Ulsamer, BVerfGG, §76, RdNr. 16; Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 257; Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (314). 150 Ulsamer, BVerfGG, § 76, RdNr. 16; Geiger, BVerfGG, Anm. 5 zu § 76. 151 Holzer, Norbert (Präventive Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgerichts, S. 95 ff.) vertritt die Auffassung, daß eine präventive Normenkontrolle sich mit dem Grundgesetz vereinbaren läßt. 152 Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, S. 314; Geiger, BVerfGG, Anm. 5, zu § 76, stellt fest, daß schon der Begriff „ vorbeugende Normenkontrolle " eine contradictio adjecto enthalte. 153 BVerfGE 1, 396 (413); 2, 143 (169); 12, 281 (288); 35, 257 (261 ff.); Vgl. auch Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 314; Stern, Bonner Kommentar, Art. 93. RdNr.262; Ulsamer, BVerfGG, § 76, RdNr. 17. 154 BVerfGE 1, 396 (412 f.). 155 Bernhardt, R., Bundesverfassungsgericht und völkerrechtliche Verträge, in: BVerfG und GG, Bd. II, S. 171 -172. 156 Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (314315); Geiger, BVerfGG, § 76, Anm. 5; Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 261. 157 Geiger, BVerfGG, § 76, Anm. 5; Stern, Bonner Kommentar, RdNr. 262. Es ist aber nicht zu verkennen, daß nach der heutigen h. A. die Wirksamkeit eines Völkerver-
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C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle (ß) Außerkraftgetretenes Recht
Es ist allgemein anerkannt, daß auch nach Außerkrafttreten eines Rechtssatzes eine Normenkontrolle zulässig sein kann. Da das außerkraftgesetzte Recht über den Zeitpunkt des Außerkrafttretens hinaus Anwendung finden kann, entspricht seine Überprüfung dem Ziel der abstrakten Normenkontrolle, so daß diese als zulässig anzusehen ist 1 5 9 . Entscheidend ist bei materiellen Rechtsnormen, ob sie noch Rechtswirkungen haben, und bei nur formellen Rechtssätzen, ob ihre spezifische Bedeutung „im Bereich der staatlichen Organisation" andauert 160. Das ist ζ. B. bei einem Haushaltsgesetz bis zur Entlastung der Bundesregierung durch Bundestag und Bundesrat der Fall 1 6 1 .
b) Ausländische und supranationale Rechtsvorschriften aa) Vorbemerkung Da das Bundesverfassungsgericht für die Prüfung des deutschen Rechts zuständig ist, fehlt ihm grundsätzlich die Gerichtsbarkeit zur Prüfung ausländischer oder supranationaler Rechtsvorschriften sowie Rechtsnormen von Rechtsträgern, die weder dem Bund noch einem Land zuzuordnen sind wie solche der Religionsgesellschaften und der Tarifverträge 162. trags nicht von der Beachtung von innerstaatlichen Erfordernissen abhängt. Daraus resultiert, daß ein Vertragsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG die Verfassung verletzen kann, während der Vertrag selbst völkerrechtlich bindend bleibt (Vgl. dazu Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. II, S. 168). 158 Vgl. BVerfGE 35, 193 (196); S. auch Erichsen, Die einstweilige Anordnung, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 170 (186); Ipsen, Rechtsfolgen, S. 226 (230); Klein: in: Maunz u. a., BVerfGG, § 32, RdNr. 32. 159 BVerfGE 5, 25 (28); BVerfGE 20, 56 (94); Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (315); Stem, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 258; Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 76, RdNr. 18. 160 BVerfGE 5, 25 (28); BVerfGE 20, 56 (94); Vgl. auch Stem, Bonner Kommentar, Art 93, RdNr. 258. 161 BVerfGE 20, 56 (94). 162 Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 76, RdNr. 32, 33 und 34; Stem, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 241-249; Ders., Bonner Kommentar, Art. 100 Abs. 1, RdNr. 79-83. Trotz ihres verfassungsrechtlich verankerten Status unterliegen die Rechtsnormen der Religionsgesellschaften nicht der Verfassungsgerichtsbarkeit, da es an einer Eingliederung der Kirchen in die staatliche Organisation fehlt (BVerfGE 18, 385 (387); 42, 312 (333); 53, 408 (410). Auch die Tarifverträge unterliegen trotz ihres anerkannten Rechtsnormencharakters (BVerfGE 34, 307 (317); 44, 322 (341) nicht der Normenkontrolle, denn es handelt sich hier um vom Staat abgeleitete Rechtssetzungen, die weder dem Bund noch einem Land zuzurechnen sind (Vgl. Maunz, in: Maunz-Dürig-ScholzHerzog, Grundgesetz, Art. 31, RdNr. 10; Stem, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 249). Anders ist es bei allgemeinverbindlichen Tarifverträgen, über deren staatliche Normenqualität kein Zweifel besteht.
I. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem Bundesverfassungsgericht
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bb) Ausländisches Recht Ausländische Rechtsnormen können als solche keine Wirkung in der Bundesrepublik entfalten. Eine Geltung kann sich aus den deutschen Bezugs- oder Verweisungsnormen ergeben. In diesem Fall kann Gegenstand einer abstrakten Normenkontrolle nicht das ausländische Recht als solches sein, sondern die nationalen Bezugs- oder Verweisungsnormen mit dem Inhalt, den sie in Verbindung mit dem ausländischen Recht entfalten 163 . cc) Das Europäische Gemeinschaftsrecht Ein besonderes Problem ergibt sich aus der Zugehörigkeit der Bundesrepublik zur Europäischen Gemeinschaft. Obwohl das Zustimmungsgesetz zum EWGVertrag der gerichtlichen Überprüfung unterliegt und damit mittelbar die Vereinbarkeit des Gründungsvertrages als primäres Gemeinschaftsrecht zu prüfen ist 1 6 4 , erscheint die Prüfung des sogenannten sekundären Gemeinschaftsrechts, das von den Organen der Gemeinschaft erlassen worden ist, problematisch. Die Mehrheit des 2. Senats des BVerfG hatte in seinem Beschluß vom 29.5.74 im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 100 Abs. 1 GG die Zuständigkeit beansprucht, eine Norm des sekundären Gemeinschaftsrechts zu überprüfen, solange das Gemeinschaftsrecht keinen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Grundrechtskatalog enthielte, der dem Grundrechtskatalog der Verfassung adäquat wäre 165 . Nach dieser Rechtsprechung ließe sich der Grundrechtsteil des Grundgesetzes, der ein unaufgebbares, zur Verfassungsstruktur des Grundgesetzes gehörendes Essentiale der geltenden Verfassung ist, durch Art. 24 GG nicht vorbehaltlos relativieren 166 . Der eindeutigen Haltung des BVerfG nach können Prüfungsgegenstand des konkreten Normenkontrollverfahrens nur Gesetze im formellen Sinne sein 167 . Diese Einschränkung versuchte das Gericht im Fall von sekundärem Gemeinschaftsrecht zu umgehen, indem es ausführte: „Da das Gemeinschaftsrecht die im nationalen Recht herkömmliche Unterscheidung zwischen Vorschriften eines förmlichen Gesetzes und Vorschriften einer auf ein förmliches Gesetz gestützten Verordnung nicht kennt, ist jede Norm einer Verordnung der Gemeinschaft i.S. der Verfahrensvorschriften für das BVerfG eine gesetzliche Vorschrift" 16*. Das wäre anzuerkennen, wenn der Gesetzgeber der Bundesrepublik mit Erlaß des 163 BVerfGE 31,58 (70 ff.); Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG § 76, RdNr.32; Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 242. 164 Ulsamer, BVerfGG, § 80, RdNr. 55; Sachs, NJW, 1982, S. 465 (468). 165 BVerfGE 37, 271 ff. 166 BVerfGE 37, 271 (280). 167 BVerfGE 1, 184 (197); 2, 124 (130). 168 BVerfGE 37, 271 (283).
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C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
Zustimmungsgesetzes zum EWG-Vertrag die von der Gemeinschaft erlassenen Rechtsregeln antizipierend transformiert hätte 169 . Dieser Ausweg war aber dadurch verschlossen, daß das Gericht vorher bereits zu dem Ergebnis gelangt war, daß das Gemeinschaftsrecht und das innerstaatliche Recht „zwei selbständige, voneinander verschiedene Rechtsordnungen " seien, weil das vom EWG-Vertrag geschaffene Recht aus einer „autonomen Rechtsquelle fließen würde" 170. Immerhin sah das BVerfG in der Vollziehung einer Verordnung der Gemeinschaft durch eine Verwaltungsbehörde der Bundesrepublik oder in ihrer Anwendung durch ein deutsches Gericht die Ausübung deutscher Staatsgewalt171. Das Gericht hat ausdrücklich offengelassen, ob für das Verhältnis des Rechts des Grundgesetzes außerhalb seines Grundrechtskatalogs zum Gemeinschaftsrecht dasselbe gelten würde 172 . Die Entscheidung des 2. Senats ist auf heftige Kritik gestoßen, weil nach der h. M. eine Normenkontrolle des sekundären Gemeinschaftsrechts bereits an der Zuständigkeit des Gerichts scheitern müßte 173 . Diese Feststellung ergibt sich daraus, daß Gegenstand des Normenkontrollverfahrens vor dem BVerfG nur Emanationen deutscher öffentlicher Gewalt sein können 174 . Die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts werden, wie zutreffend in der dissenting opinion angenommen wurde, durch ihre Anwendung von Behörden der Bundesrepublik nicht Bestandteil der deutschen Rechtsordnung 175. Die der Entscheidung zugrundeliegende Position hat das Bundesverfassungsgericht später im sogenannten Vielleicht-Beschluß vom 25. 7.1979 abgeschwächt, in dem es offenließ, „ob und gegebenenfalls inwieweit—etwa angesichts mittlerweile eingetretener politischer oder rechtlicher Entwicklungen im europäischen Bereich —für künftige Vorlagen von Normen des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts die Grundsätze des Beschlusses vom 29.5.1974 weiterhin uneingeschränkt Geltung beanspruchen können " 176. Dieses obiter dictum wurde schon von einem Teil der Lehre als Abrücken von der Solange-Doktrin angesehen177. Die beiden sogenannten Eurocontrol-Beschlüsse, die sich nicht mit Gemeinschaftsrecht, son-
169 Rupp, NJW, 1974, S. 2153 (2155); S. auch Erichsen, Verw. Arch. 66 (1975). S. 176 (178). no BVerfGE 22, 293 (296). πι BVerfGE 37, 271 (283). 172 BVerfGE 37, 271 (277). 173 Meier, Gert, NJW 1974, S. 1704. Meier behauptet, daß dieser Beschluß als ein doppelter Rechtsbruch zu qualifizieren sei, denn er verstoße gegen deutsches Verfassungsrecht (Art. 100 GG) und tragende Grundsätze des Europäischen Gemeinschaftsrechts (Art. 189 EWGV). 174 Meier, Gert, NJW 1974, 1704,; Erichsen, Verw. Arch. 66 (1975), 177 (185). 175 BVerfGE 37, 271 (301). 176 BVerfGE 52, 187 (202). 177 Tomuschat, NJW, 1980, 2611; Fastenrath, DVB1., 1981, 490.
I. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem
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dem mit völkerrechtlichem europäischen Organisationsrecht befaßten 1 7 8 , wurden schließlich als eindeutige Abkehr von der Solange-Doktrin aufgefaßt 179. Das Gericht ist mit dem Beschluß vom 22.10.1986 zu einem Ergebnis gelangt, das trotz aller Vorbehalte von der Solange-Doktrin (Solange I) Abstand nimmt. „Solange die Europäische Gemeinschaft, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofes der Gemeinschaft, einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist", — führte das Gericht aus —, „zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgen, wird das BVerfG seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte oder Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüf en" 180. Das Gericht hat daher Abstand von der Forderung genommen, daß der Grundrechtsschutz eines formellen Parlamentsgesetzes bedürfe 181 . Ein endgültiger Verzicht auf die These, wonach sekundäres Gemeinschaftsrecht an den Grundrechten des Grundgesetzes zu überprüfen sei, ist in dem Beschluß vom 22.10.1986 aber nicht zu erblicken, da das Gericht in den Kautelen des 2. Leitsatzes die Formulierung des berühmten Solange-Satzes von 1974 — allerdings mit ungekehrtem Ergebnis — aufgegriffen hat. Immerhin ist festzuhalten, daß diese Rechtsprechung keinen Raum läßt für die Überprüfung von sekundärem Gemeinschaftsrecht an den Grundrechten des Grundgesetzes.
4. Prüfungsmaßstab der abstrakten Normenkontrolle a) Vorbemerkung Nach dem Wortlaut des Art. 93 Abs 1 Nr. 2 GG ist Prüfungsmaßstab der abstrakten Normenkontrolle für Bundesrecht das Grundgesetz und für Landesrecht das Grundgesetz und „sonstiges Bundesrecht". Gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG soll das Bundesverfassungsgericht über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit des Bundes- oder Landesrechts entschei-
178 BVerfGE 58, 1; BVerfGE 59, 63. 179 Everling, U., DVB1. 1985, 1202; Schwarze, J., EuGRZ, 1983, 124; Stettner, Ruppert, AöR 111 (1986), S. 535 (567 ff.). 180 BVerfGE 73, 339 (387). 181 Erichsen, JK, 87, GG Art 24, 1/lb.
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C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
den. Diese Formulierung ist nicht von Belang für den Umfang der Prüfungskompetenz des BVerfG. Das Bundesverfassungsgericht darf die zur Prüfung gestellte Norm unter allen rechtlichen Gesichtspunkten untersuchen, gleichgültig, ob sie geltend gemacht worden sind oder nicht 182 . Außerdem kommt der Qualifizierung als förmlicher oder sachlicher Vereinbarkeit für die abstrakte Normenkontrolle keine praktische Bedeutung zu 1 8 3 .
b) Grundgesetz Der Begriff Grundgesetz ist hier nicht formell im Sinne der „einzelnen Sätze der geschriebenen Verfassung" 184 zu verstehen. Einerseits umfaßt dieser Begriff alle in die Verfassungsur künde aufgenommenen Rechtssätze. Andererseits schließt dieser Begriff die sich aus der gesamten Verfassung als Einheit ergebenden Rechtsgrundsätze ein wie das Demokratiegebot 185, das bundesstaatliche Prinzip 186 und den aus diesem entwickelten Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens 187 , das Rechtsstaatsprinzip 188, die freiheitliche demokratische Grundordnung 189 und das Sozialstaatsprinzip 190. Daher zählen zu dem Begriff „Grundgesetz" nicht nur die einzelnen Artikel und die in diesen formulierten Rechtsregeln 191, die Präambel des Grundgesetzes 192 und die Bestimmungen der Weimarer Verfassung, die ausdrücklich durch Art. 140 GG in die Verfassung aufgenommen wurden 193 , sondern auch, wie das Bundesverfassungsgericht for231 BVerfGE 1, 14 (19, Leitsatz 33); Ulsamer, in: Maunz u.a., BVerfGG, §76, RdNr. 37. ι«3 Geiger, BVerfGG, Anm. 3 zu § 76. 184 BVerfGE, 2, 403. iss BVerfGE 1, 33; 8, 65; 9, 279; 11, 321; 14, 132; Stem, Bonner Kommentar, Art 100, RdNr. 107. 186 BVerfGE 1, 131, 315; 6,361; 8, 138; 16 143. 187 BVerfGE 1, 315; 3, 57; 4, 140; 6, 361; 8, 140; 12, 254; Vgl. auch Stem, Bonner Kommentar, Art. 100, RdNr. 107. iss BVerfGE 2, 403; 6, 41; 7, 196; 10, 363; 11, 145; 12, 296; 13, 261; 14, 296; 15, 207;, 17, 313; 18, 440; Vgl. auch Stem, Bonner Kommentar, Art. 100, RdNr. 107; Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, S. 316. 189 BVerfGE 2, 12; 5, 140; 6, 361; 8, 140; 12, 254; Stem, Bonner Kommentar, Art. 100, RdNr. 107. 190 BVerfGE 3,381; 6,41; 10,363; 13,29; 14,296; 18,267; Stem, Bonner Kommentar, Art. 100, RdNr. 107. 191 Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 76, RdNr. 36; Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (316); Stem, Bonner Kommentar, Art. 100, Abs 1, RdNr. 107. 192 V. Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, 1957, 2. Aufl., Präambel Anm. 11,2; Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. II, S. 177. Es ist zu bemerken, daß kein Zweifel besteht — im Gegensatz zur Reichsverfassung und der Weimarer Verfassung —, daß die Präambel Bestandteil des GG ist. 193 BVerfGE, 19, 192.
I. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem
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muliert, die „gewissen, sie verbindenden, innerlich zusammenhängenden allgemeinen Grundsätze und die Leitideen, die der Verfassungsgeber, weil sie das verfassungsmäßige Gesamtbild geprägt haben, von dem er ausgegangen ist, nicht in einem besonderen Rechtssatz konkretisiert hat" 1 9 4 . Die Prüfung der Vereinbarkeit einer Norm mit diesen Rechtsprinzipien bereitet keine Schwierigkeit, denn hier handelt es sich um immanente Rechtsgrundsätze der geschriebenen Verfassung 195.
c) Überpositives Recht als Prüfungsmaßstab Schon auf der Tagung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer im Jahr 1928 spielte die Frage über die Möglichkeit, ein Gesetz an überpositiven Maßstäben zu messen, eine wichtige Rolle. Kelsen und Merkl haben damals die Ansicht vertreten, daß das Verfassungsgericht die ihm vorgelegten Streitfragen nur und ausschließlich am Maßstab der Verfassung messen und beurteilen darf 196 . Zutreffend bemerkte Kelsen, daß es sich in diesen Fällen normalerweise um Anwendung von Prinzipien handelt, die in der Verfassung oder in anderen Rechtsnormen verwirklicht sind 197 . Die Frage gewann eine neue Qualität in der Nachkriegszeit. Bereits in der Entscheidung vom 10. Juni 1949 hat der bayerische Verfassungsgerichtshof festgelegt, daß der Bayerische Verfassungsgeber die elementaren Grundrechte als dem positiven Recht vorgegebene, allen Menschen zustehende natürliche Rechte auffasse, die die Staatsgewalt beschränken und für sie eine unübersteigbare Schranke bilden 198 . In seiner Entscheidung vom 10.6.1950 zu Art. 184 Bayerischer Verfassung hat der Verfassungsgerichtshof eindeutig die Möglichkeit bejaht, daß eine Verfassungsvorschrift gegen bestimmte Verfassungsgrundsätze verstoßen könne und daher als nichtig zu betrachten sei 199 . Es gebe Verfassungsgrundsätze, die so elementar und so sehr Ausdruck eines auch der Verfassung vorausliegenden Rechts seien, daß sie den Verfassungsgesetzgeber selbst binden und daß andere Verfassungsbestimmungen, denen dieser Rang nicht zukomme, wegen ihres Verstoßes gegen sie nichtig sein könnten 200 . 194 BVerfGE 2, 380 (403). 195 Stern, Bonner Kommentar, Art. 100, Rdnr. 107; Vgl. auch BVerfGE 1, 14 (32); 2, 380 (403). 196 Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 30 (65 ff. und 97 ff.). 197 Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 30 (68-70). 198 Vgl. Marcie, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, S. 205. 199 Verw. Rspr. II Nr. 65, 273 (279-280); S. auch Spanner, Rechtliche und politische Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 65. 200 Verw. Rspr. II Nr. 65, 273 (280); Vgl. auch Marcie, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, S. 205; Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnorm?, in: Ders. , Wege Zum Rechtsstaat, S. 9 ff.
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C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
In einer dritten Entscheidung vom 14.3.1951 stellte der Bayerische Verfassungsgerichtshof fest, daß auch der Verfassungsgeber an das Recht gebunden sei, zu dessen Wesen und Sinngehalt es gehöre, den sittlichen Werten der Menschenwürde und Gerechtigkeit und damit der Freiheit zu dienen. Alle Staatsgewalt — und damit auch die verfassungsgebende Gewalt — sei durch die Idee des Rechts von vornherein begrenzt. Nur wenn man — mit dem extremen Rechtspositivismus — von der Voraussetzung ausgehe, der Verfassungsgeber sei der alleinige Schöpfer des Rechts im Sinne einer Zwangsordnung mit beliebigem Inhalt, könne der Vorwurf erhoben werden, der Verfassungsgerichtshof habe mit der Entscheidung vom 10. Juni 1950 verfassungsgebende Gewalt usurpiert. Es sei die Auffassung des Verfassungsgebers selbst, daß er diese Rechte nicht geschaffen, sondern vorgefunden habe. Damit sei zugleich anerkannt, daß oberste Grundsätze des Rechts, die zugleich wesentliche Bestandteile der Rechtsidee seien, nämlich die Achtung und der Schutz der Personenwürde und der Gleichheitsgrundsatz im Sinne materieller Gerechtigkeit, die Souveränität des Verfassungsgebers und die Staatsgewalt begrenzen 201. In Anlehnung an diese These hat sich Bachof in seiner Schrift „ Verfassungswidrige Verfassungsnorm?" ausdrücklich für eine Einbeziehung des übergesetzlichen Rechts in die Rechtsordnung geäußert 202. Er ist daher zu einem Ergebnis gelangt, das die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts zur Prüfung der Gültigkeit von Verfassungsnormen an überpositiven Maßstäben bejaht. Dafür spräche einerseits, daß das übergesetzliche Recht jeder Rechtsordnung immanent sei. Andererseits sollte berücksichtigt werden, daß das Bestehen übergesetzlichen Rechts im Grundgesetz anerkannt würde, wobei eine gegen derartiges Recht verstoßende Verfassungsnorm keine Verbindlichkeit beanspruchen könnte 203 . Auch Geiger weist daraufhin, daß das Grundgesetz in einigen seiner Vorschriften ausdrücklich auf überpositives Recht Bezug nehme und dadurch dieses Recht in die Verfassungsordnung einbeziehe, wie vor allem in Art. 20 Abs. 3 und in Art. 1 Abs. 2 zum Ausdruck komme. Das Bundesverfassungsgericht könne deshalb prüfen, ob eine Vorschrift wegen Widerspruchs mit jenem überpositiven Recht nichtig sei 204 . Das sollte aber „ nur in extremen, da für die Erhaltung des Rechtsstaates umso bedeutsameren Einzelfällen" in Betracht kommen 205 . Im Anschluß an den Bayerischen Verfassungsgerichtshof und in Übereinstimmung mit zahlreichen Verfassern 206 hat das Bundesverfassungsgericht im Urteil 201
Vgl. Marcie, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, S. 206. » Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnorm?, in: Wege zum Rechtsstaat, S. 2728 u. 34-36. 203 Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnorm?, in: Wege zum Rechtsstaat, S. 272 2
28.2
04 Geiger, BVerfGG, § 76, Anm. 6, S. 244-245. 5 Geiger, BVerfGG, § 76, Anm. 6, S. 245. 206 Vgl. Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnorm? in: Ders., Wege zum Rechtsstaat, S. 27-28, 34-36 ff.; Ders., NJW 1952, S. 242; Ders., DöV, 1961, S. 927 ff.; Schäf2
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vom 23.10.1951 die Existenz überpositiven Rechts sowie seine Zuständigkeit, das gesetzte Recht daran zu messen, anerkannt 207. In einer späteren Entscheidung hat das Gericht sogar ausgeführt, daß eine ausnahmslose Geltung der Verfassungsnorm „ einen Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivismus bedeuten würde, wie sie in der juristischen Wissenschaft und Praxis seit längerem überwunden ist" 20S. So wäre denkbar, daß im Falle eines unerträglichen Widerspruchs zwischen Gesetz und Gerechtigkeit das positive Recht als unrichtiges Recht weichen müßte. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß ein freiheitlich demokratischer Verfassungsgeber diese Grenze überschritte, erscheine so gering, daß diese theoretische Möglichkeit originärer „ verfassungswidriger Verfassungsnorm" einer praktischen Unmöglichkeit gleichkäme 209 . Das Bundesverfassungsgericht erkannte hier, daß die Frage der Existenz überpositiven Rechts von der Prüfungszuständigkeit zu unterscheiden war 2 1 0 . Es bejaht aber seine Prüfungszuständigkeit mit der Begründung, daß das Bundesverfassungsgericht die Unantastbarkeit der im Grundgesetz getroffenen Grundentscheidung zu gewährleisten habe, so daß der Verfassungsgerichtsbarkeit nach ihrer konkreten Ausgestaltung im Grundgesetz sinngemäß auch die Prüfung von Verfassungsnormen am Maßstab des in die Verfassung einbezogenen und ihr vorausgesetzten übergesetzlichen Rechts obliegen müsse 211 . Mit der genannten Einschränkung hätte das BVerfG indes nach der Meinung Nawiaskys die praktische Bedeutung dieser Ausnahme auf Null begrenzt 212 . Einerseits ist auf die Frage nach der Existenz ûberpositiven Rechts hinzuweisen. Zum anderen gilt es zu untersuchen, ob ein auf Grund einer Verfassung errichteter Gerichtshof legitimiert ist, sich über die seine einzige Grundlage bildende Verfassung hinwegzusetzen und Teilinhalte derselben für nichtig zu erklären 213 . Ein großer Teil der Lehre beschäftigt sich nicht unmittelbar mit der Frage nach der Existenz eines überpositiven Rechts, sondern benutzt funktionell-rechtliche Argumente, die gegen die Überprüfung originärer Verfassungsbestimmungen an überpositiven Maßstäben durch das Bundesverfassungsgericht sprechen. In diesem Sinne erkennt Ehmke an, daß die Verneinung eines möglichen Widerspruchs zwischen einer Verfassungsbestimmung und elementaren Grundsätzen fer, H., NJW 1954, S. 1 ff.; Hammann, Α., NJW, 1959, S. 1465 ff.; Geiger, BVerfGG, Anm. 4 (S. 242) und Anm. 6 (S. 245), zu § 76; Marcie, René, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, S. 258, und 275; Götz, NJW 1958, S. 1020 ff. 207 BVerfGE 1, 14 (17). 208 BVerfGE 3, 225 (232-233). 209 BVerfGE, 3, 225 (233). 210 BVerfGE 3, 225 (233). 211 BVerfGE 3, 225 (234-235). 212 Nawiasky, JZ, 1954, S. 717. 213 Nawiasky, JZ, 1954, S. 717; Vgl. auch Apelt, NJW, 1952, S. 1-3.
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C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
zwar in der Tat Positivismus wäre 214 . Aber gegen die Überprüfung von Bestimmungen der ursprünglichen Verfassung könnte erwogen werden, daß auch das Bundesverfassungsgericht eine Schöpfung der Verfassung ist, die die Grundlage seiner Befugnisse enthält. Wenn daher zulässig wäre, daß es verfassungsrechtliche Bestimmungen überprüfen könnte, dann könnte es auch den Verfassungsgeber korrigieren und seine eigene Kompetenzgrundlage re vidieren 215 . Ein weiteres Bedenken ergibt sich daraus, daß das Prüfungsmonopol des Gerichts auf positives Recht gestützt ist. So fragt Ehmke, ob das Bundesverfassungsgericht auch ein Prüfungsmonopol für überpositives Recht beanspruchen könnte oder die Überprüfung der einfachen Gesetze an überpositiven Rechten auch den ordentlichen Gerichten überlassen müßte 216 . Diese funktionell-rechtlichen Erwägungen zeigen, daß die Anerkennung der Existenz überpositiven Rechts durch das Bundesverfassungsgericht noch nicht seine Zuständigkeit impliziert, Recht i.S. des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG am Maßstab des überpositiven Rechts zu messen217. Außerdem dürfte die Vielfalt von Naturrechtslehren, wie das Bundesverfassungsgericht selbst angedeutet hat, ein unüberwindliches Hindernis zur Heranziehung von überpositivem Recht als Prüfungsmaßstab sein 218 . Tatsache ist, daß bisher weder das Bundesverfassungsgericht noch andere Verfassungsgerichtshöfe eine Verfassungsnorm am Maßstab des überpositiven Rechts gemessen und sie für verfassungswidrig erklärt haben 219 . Daher mag hier dahingestellt bleiben, ob es möglich wäre, unter Heranziehung überpositiver Maßstäbe eine originäre Verfassungsnorm gerichtlich zu verwerfen.
d) Stufenfolge von Verfassungsnormen Fraglich ist, ob selbst innerhalb der Verfassung eine Rangordnung einzelner Verfassungsnormen besteht. Bereits im Südweststaatsurteil hat der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts eine innere Einheit zwischen den Vorschriften der Verfassung angenommen. Nach der damaligen Auffassung des Gerichts ergäben sich aus dem Gesamtinhalt der Verfassung gewisse verfassungsrechtliche Grundsätze und Grundentscheidungen, denen die einzelnen Verfassungsbestim214 Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (79). 215 Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (79). 216 Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (79). 217 Vgl. Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (316). 218 BVerfGE 10,59 (81); Vgl. auch Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (316); Häberle, Verfassungstheorie ohne Naturrecht, in: Ders. Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 93 (100); Leibholz-Rupprecht, BVerfGG, § 76, Anm. 3. 219 Spanner, Rechtliche und politische Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 70.
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mungen untergeordnet seien. Hier gehe auch das Grundgesetz, wie sich insbesondere aus Art. 79 Abs. 3 ergebe, ersichtlich von dieser Auffassung aus 220 . Infolgedessen müsse jede Verfassungsnorm „so ausgelegt werden, daß sie mit jenen elementaren Grundsätzen und Grundentscheidungen des Verfassungsgebers vereinbar ist" 221. In einem späteren Urteil hat das Gericht sich auch auf das Prinzip der Einheit der Verfassung berufen, um eine Stufenfolge von Verfassungsnormen zu verneinen 222 . Das Grundgesetz könne nur als Einheit begriffen werden. Daraus ergebe sich aber, daß auf der Ebene der Verfassung selbst ranghöhere und rangniedrigere Normen in dem Sinne, daß sie aneinander gemessen werden könnten, grundsätzlich nicht denkbar seien 223 . Das Gericht hebt hervor, daß dieser Schluß nichts mit der Bedeutung und dem inneren Gewicht der einzelnen Normen zu tun habe und auch nichts damit, ob sie umgekehrt durch Art. 79 Abs. 3 einer Verfassungsänderung entzogen, also für unverbrüchlich erklärt worden seien 224 . Demgegenüber vertritt der Bayerische Verfassungsgerichtshof die Auffassung, daß es selbst innerhalb der Verfassungsordnung eine Rangordnung gebe, so daß eine höherrangige Verfassungsnorm zum Maßstab für eine andere Verfassungsnorm, der dieser Rang nicht zukomme, genommen und daran im verfassungsrechtlichen Verfahren die Gültigkeit dieser Norm geprüft werden könne 225 . Trotz der Anerkennung der besonderen Bedeutung von bestimmten Verfassungsvorschriften oder, wenn man so will, von „Verfassungsnormen unterschiedlichen Gewichts, je nachdem, ob sie grundlegende oder weniger grundlegende Fragen des politischen Gesamtsystems regeln" 226 , ist die Annahme einer Rangordnung innerhalb der Verfassung nicht unproblematisch. Selbst die Einteilung der Verfassungssätze nach ihrer „Standfestigkeit", welcher eine verfassungstheoretische Vorstellung zugrundeliegt, die insbesondere von Carl Schmitt im Hinblick auf die Weimarer Verfassung formuliert worden ist 2 2 7 , macht es nicht einfacher, eine Rangordnung der Rechtssätze innerhalb der Verfassung zu konstatieren. Während nach Schmitts Vorstellung die Verfassung als die bewußte Bestimmung der besonderen Gesamtgewalt, für welche sie sich entscheidet, zu bezeichnen ist 2 2 8 , setzen die Verfassungsgesetze eine Verfassung voraus und gelten erst auf Grund dieser Verfassung. In diesem Sinne ist eine Verfassungsänderung nur 220 BVerfGE 1,14 (32). 221 BVerfGE 1, 14 (32-33). 222 BVerfGE 3, 225 (231-232). 223 BVerfGE 3, 225 (231-232). 224 BVerfGE 3, 225 (232). 225 Vgl. Verw. Rspr. 2, Nr. 65, S. 273 ff. (Leits. 1 S. 279-280 ff.); S. auch Verw. Rspr. 11, Nr. 218, S. 905 (Leits. 1 S. 909). 226 Maunz, Theodor / Zippelius, Reinhold, Deutsches Staatsrecht, S. 39. 227 Schmitt, Verfassungslehre, 6. Aufl. 1983, S. 21. 228 Schmitt, Verfassungslehre, S. 21.
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C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
dann zulässig, wenn die „Identität und Kontinuität der Verfassung als ein Ganzes gewahrt bleibt " 229. Diese verfassungstheoretische Vorstellung, auf der die Regelung des Art. 79 Abs. 3 GG basiert, würde die Verfassungsmäßigkeitsprüfung von Verfassungsgesetzen am Maßstab dieser Ewigkeitsklausel ermöglichen 230 . Es ist indes darauf hinzuweisen, daß die Wirkung einer solchen Änderung des Grundgesetzes nach Maßgabe von Art. 79 Abs. 1 und 2 sich nicht darauf beschränkt, die Verfassung nur in einer oder mehreren Vorschriften zu modifizieren, sondern daß sie insgesamt geändert wird 2 3 1 . Danach wäre eine Unterscheidung zwischen originären und verfassungsgeänderten Bestimmungen beinahe unmöglich 232 .
e) Bundesrecht als Prüfungsmaßstab Das Landesrecht ist, wie bereits dargelegt, auch auf die Vereinbarkeit mit sonstigem — unterverfassungsrechtlichem — Bundesrecht hin zu überprüfen (Schutz der Bundesrechtsordnung). Nach dem Wortlaut des § 76 BVerfGG kommt auch eine Prüfung untergesetzlichen Bundesrechts am Maßstab der formellen Bundesgesetze in Betracht. Man wird aber mit der herrschenden Meinung davon auszugehen haben, daß § 76 BVerfGG mißverständlich formuliert, da die Worte „oder dem sonstigen Bundesrecht" sich nur auf die Prüfung von Landesrecht beziehen233. Das „oder" ist daher korrigierend im Sinne eines „beziehungsweise" zu interpretieren 234.
229 Schmitt, Verfassungslehre, S. 103. 230 Vgl. dazu BVerfGE 12, 45; 30, 1 ff. (Abhörurteil). 231 Vgl. Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. II, S. 19; Ders. Verw.Arch. 62 (1971), S. 291 (293); Schlink, Der Staat, 12 (1973), S. 84 (88). 232 Schlink, Der Staat, 12 (1973), S. 84 (88); Vgl. auch Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. II, S. 19; Ders., Verw.Arch. 62 (1971), S. 291 (293). 233 Schäffer, JZ, 1951, 199 (201); Lechner, BVerfGG, § 76, Anm. 3; Leibholz-Rupprecht, BVerfGG, § 76, Anm. 3 (anders — offenbar — in § 78, Anm. 3); Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (317); Meyer, W., in: von Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 93, RdNr. 46. 234 Lechner, BVerfGG, § 76, Anm. 3; Leibholz / Rupprecht, BVerfGG, § 76, RdNr. 3; Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (317). Nach der Meinung Stems (Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 264) dagegen sei § 76 verdeutlichend formuliert, „da jedes Nichtbeachten höherrangigen Rechts die Normhierarchie als Ausprägung des Rechtstaatsprinzips verletzt So mit einigen Differenzierungen auch von Mutius, Jura, 1987, S. 534 (540-541).
II. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem Supremo Tribunal Federal
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I I . Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle vor dem Supremo Tribunal Federal 1. Einleitung Nach Art. 102 I „a" i.V.m. Art. 103 I - I X der Verfassung entscheidet der brasilianische Oberste Gerichtshof über die direkte Verfassungswidrigkeitsklage, die durch den Präsidenten der Republik, den Vorsitz des Bundessenats, den Vorsitz des Abgeordnetenhauses, den Vorsitz eines Landesparlaments, einen Landesgouverneur, den Bundesgeneralstaaatsanwalt, den Bundesrat der nationalen Anwaltskammer, durch politische Parteien mit Vertretung im nationalen Kongreß oder durch Gewerkschaftskonföderationen oder Klassenorganisationen, auf nationaler Ebene organisiert, erhoben werden kann. Die Vorschriften der Geschäftsordnung des Obersten Gerichtshofs, die die verfahrensrechtliche Regelung der abstrakten Normenkontrolle noch unter dem System der Verfassung von 1967/69 enthielten, werden nach dem Kontinuitätsprinzip, solange keine gesetzliche Regelung erlassen wird, weiter angewendet. Die neue Ausgestaltung der Antragsberechtigung wirft Fragen auf. Sie gelten vor allem der Antragstellung und der Definition der Antragsbefugnis; Fragestellungen, die unter der abgelösten Verfassungsordnung durch die ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs gelöst zu sein schienen wie diejenige nach der Zulässigkeit der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit vorkonstitutioneller Rechte und die Verfassungsmäßigkeitsprüfung von Rechtsverordnungen, müssen neu durchdacht werden.
2. Antrag, Antragsteller und Antragsbefugnis a) Antragsprinzip und Antrag Das abstrakte Normenkontrollverfahren wird gemäß Art. 103 der Verfassung nur auf Antrag einer der Antragsberechtigten eingeleitet. aa) Antragsprinzip
und Rücknahme des Antrags
Ursprünglich hat der Oberste Gerichtshof die Rücknahme des Antrags für zulässig gehalten1. Das Gericht hat aber diese Auffassung aufgegeben, und seit 1970 sieht die Geschäftsordnung des Gerichts in Art. 169 Abs. 1 ausdrücklich vor, daß die Rücknahme des Antrags als unzulässig anzusehen ist. 1
Representaçâo Nr. 287, Berichterstatter: Richter Nelson Hungria, Diario da Justiça vom 16.4.1958. 8 Mendes
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C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
bb) Form des Antrags Der Antrag ist an keine Frist gebunden. Weder die Gerichtsordnung noch andere Verfahrensgesetze enthalten eine Bestimmung über die Form des Antrags. Es ist aber allgemein anerkannt, daß er schriftlich beim Obersten Gerichtshof eingereicht werden, ein bestimmtes Begehren erkennen lassen und eine Begründung enthalten muß 2 . Nicht selten hat der Bundesgeneralstaatsanwalt das von einem Dritten vorgetragene Begehren zur Stellung des Antrags für relevant gehalten und deswegen das Verfahren eingeleitet, ohne sich den vorgetragenen Begründungen anzuschließen. Normalerweise wurden die Anträge in diesen Fällen unter Vorbehalt einer definitiven Äußerung der Bundesgeneralstaatsanwaltschaft über die Verfassungsmäßigkeit des beanstandeten Gesetzes gestellt3. Gelegentlich wurde der Antrag aus Anlaß einer Meinungsverschiedenheit zwischen Organen der Rechtsprechung und der Verwaltung gestellt, so daß sich der Bundesgeneralstaatsanwalt in seinem Antrag auf eine Zusammenfassung beider gegensätzlich vertretenen Thesen beschränkte, deren Begründungen er für relevant hielt. Eine definitive Auffassung über die Verfassungsmäßigkeit des beanstandeten Gesetzes kann er dann in einem Gutachten, das die Bundesstaatsanwaltschaft im abstrakten Normenkontrollverfahren zu erteilen hat 4 , äußern5. cc) Änderung des Antrags Obwohl eine Änderung des Antrags nicht ausdrücklich durch die Geschäftsordnung geregelt worden ist, hat die Rechtsprechung des Gerichts die Möglichkeit von Änderungen oder Ergänzungen des Antrags bejaht6.
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Representaçâo Nr. 1399, Berichterstatter: Richter Aldir Passarinho, Diàrio da Justiça vom 9.9.88; Representaçâo Nr. 1389, Berichterstatter: Richter Oscar Corrêa, Diario da Justiça vom 12.8.88. 3 In diesen Fällen enthielt normalerweise der Antrag des Bundesgeneralstaatsanwalts folgenden Vorbehalt: „Der Bundesgeneralstaatsanwalt stellt den Antrag unter Vorbehalt einer durchgehenden Überprüfung aus Anlaß der definitiven Äußerung " (Representaçâo Nr. 1348, Berichterstatter: Richter Célio Borja, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 124, S. 59; Representaçâo Nr. 1321, Berichterstatter: Richter Aldir Passarinho, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 122, S. 923; Representaçâo Nr. 1420, Berichterstatter: Richter Octavio Gallotti, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 124, S. 156). 4 Verfassung von 1988, Art. 103 Abs. 1 ; Geschäftsordnung des Obersten Gerichtshofs, Art. 171. 5 Representaçâo Nr. 1.451, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diario da Justiça vom 24.6.88. 6 Representaçâo Nr. 1182, Berichterstatter: Richter Soares Munoz, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 112, S. 97 ff.
II. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem Supremo Tribunal Federal
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b) Antragsberechtigung aa) Vorbemerkung Die alleinige Antragsberechtigung des Bundesgeneralstaatsanwalts war, wie dargelegt 7, immer ein äußerst umstrittenes Thema des brasilianischen Verfassungsrechts. Zahlreiche Stimmen in der Lehre haben versucht, aus dem Verfassungssystem in bestimmten Fällen eine Verpflichtung des Bundesgeneralstaatsanwalts zur Einleitung des abstrakten Normenkontrollverfahrens abzuleiten. Es wurde vertreten, daß der Bundesgeneralstaatsanwalt es nicht unterlassen dürfe, den Antrag zu stellen, wenn die Beantragung durch ein politisches Organ des Bundes, der Länder oder der Gemeinden dies anrege, da sonst die Gefahr bestehe, daß sein Ermessen zur Willkür pervertiere 8. Wie dargelegt, hat das Gericht, nachdem die Regierung das Dekret-Gesetz Nr. 1077 von 1970 erlassen hatte, das die Pressezensur legitimierte, bestätigt, daß der Verfassungsgeber allein dem Bundesgeneralstaatsanwalt die Antragsberechtigung anvertraut hat 9 . Gegen diese Haltung wurde in der Literatur die Auffassung vertreten, daß bei Zweifeln oder Kontroversen über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes der Bundesgeneralstaatsanwalt als custos legis sich nicht weigern könne, den Antrag dem Supremo Tribunal Federal weiterzuleiten 10. Den Kritikern der Auffassung des Supremo Tribunal Federal ist zuzugeben, daß die Wirksamkeit eines solchen Systems vor allem von den dem Amtsträger eingeräumten sachlichen und persönlichen Garantien sowohl gegenüber dem Parlament als auch gegenüber der Regierung abhängen11. Jedoch bietet die Ausstattung eines Anwalts des öffentlichen Interesses mit sachlicher und persönlicher Unabhängigkeit keine Garantie für eine einwandfreie Tätigkeit dieses Organes, da diese letztlich von der Persönlichkeit abhängt, die das Amt bekleidet 12 . Das Wissen um diese Grenze hat dazu geführt, daß der Verfassungsgeber von 1988 das ehemalige System durch eine wesentlich erweiterte Antragsberechtigung abgelöst hat. Im Gegensatz zu der ehemaligen Regelung, die das Antragsrecht ausschließlich dem Bundesgeneralstaatsanwalt anvertraut hat, können ge7 Vgl. dazu oben B, II, 3, b, (bb), φ). 8 Bastos, Celso, Curso de Direito Constitucional, S. 74-75; Marinho, Josaphat, Inconstitucionalidade de Lei — Representaçâo ao STF, Revista de Direito Pùblico Nr. 12/ 150; Cavalcanti, Themistocles Brandâo, Arquivamento de Representaçâo por Inconstitucionalidade da Lei", Revista de Direito Publico Nr. 16, S. 169. 9 Vgl. dazu oben B, II, 3, b, (bb), φ). 10 Vgl. dazu oben Β, II, 3, b, (bb), φ). u Vgl. darüber Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 75; Rinck, EuGrZ, 1974, S. 91 (95). 12 Rinck, EuGrZ, 1974, S. 91 (95). 8*
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C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
mäß Art. 103 I - I X der Verfassung Antragsteller im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle nach der Verfassung von 1988 sein: der (1) Bundespräsident, (2) das Präsidium des Bundessenats; (3) das Präsidium des Abgeordnetenhauses, (4) das Präsidium jedes Landesparlaments; (5) der Gouverneur jedes Landes sowie (6) der Bundesgeneralstaatsanwalt, (7) der Bundesrat der Anwaltskammer, (8) jede politische Partei mit Vertretung im Nationalen Kongreß, (9) Gewerkschaftskonföderationen und (10) Klassenorganisationen, die auf nationaler Ebene organisiert sind 13 . Im Hinblick darauf, daß nunmehr verschiedene gesellschaftliche Gruppen und politische Parteien antragsberechtigt sind, ist es andererseits noch nicht möglich, die genaue Zahl der Antragsberechtigten zu bestimmen. Nach fundierten Einschätzungen wird man davon auszugehen haben, daß das neue System mindestens 100 Antragsberechtigten die Einleitung des abstrakten Normenkontrollverfahrens erlaubt 14 . Durch die Einräumung des Antragsrechts an verschiedene gesellschaftliche Gruppen wie den Bundesrat der Anwaltskammer, die Gewerkschaftskonföderationen, Klassenorganisationen und die politischen Parteien mit Vertretung im Nationalen Kongreß wurde zudem die Möglichkeit geschaffen, daß irgendjemand sich mit seinem verfassungsrechtlich begründeten Gesuch an eine dieser Organisationen wendet, die den Antrag vor dem Gericht stellen können. Eine offene Haltung der Antragsberechtigten würde diesem System fast die Qualität einer Popularklage verleihen. bb) Antragsrecht,
rechtliches Interesse und öffentliches
Interesse
Sowohl die noch begrenzte Auswahl der Antragsteller als auch die Zwecke und die Gestaltung des Verfahrens geben Hinweise darauf, daß auch im brasilianischen Recht kein Rechtschutzbedürfnis der Antragsteller als Voraussetzung der Normenkontrolle verlangt wird. Dieses Verständnis hat der Supremo Tribunal Federal noch unter Geltung der Verfassung von 1967/69 zum Ausdruck gebracht, indem er hervorhob, daß „der Verfassungswidrigkeitsantrag keine Klage im klassischen Sinne ist, sondern ein Institut von besonderem politischen Charakter darstellt " 15. Später hat das Gericht ausgeführt, daß der Bundesgeneralstaatsanwalt als politisches Organ nur zum Zweck der Einleitung des Verfahrens der dominus litis sei 16 . Die politische Natur 13 Vgl. dazu oben B, II, 3, c. 14 Corrêa, Oscar, Ο 1602 Aniversârio do STF e ο Novo Texto Constitucional, in: Arquivos do Ministério da Justiça Nr. 173 (1988), S. 67 (76). 15 Vgl. dazu Votum von Richter Aliomar Baleeiro, in: Representaçâo Nr. 700, Berichtserstatter: Richter Amarai Santos, Revista Trimes-tral de Jurisprudência Nr. 45, S. 690 (714).
II. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem Supremo Tribunal Federal
117
dieses Verfahrens erlaube dem Antragsberechtigten nur zu entscheiden, ob er den Antrag stelle oder nicht. Er könne aber den Antrag nicht zurücknehmen oder auf irgendeine Weise die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des beanstandeten Gesetzes verhindern 17. Die Geschäftsordnung gestattet dem Bundesgeneralstaatsanwalt aber, in seinem definitiven Gutachten die Unbegründetheit des Antrags darzulegen (Art. 169 Abs. 1). Zur Einleitung des abstrakten Normenkontrollverfahrens genügte es, daß Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes bestanden und dergestalt das öffentliche Interesse an der gerichtlichen Überprüfung ausgewiesen war. Deswegen ist es dem Obersten Gerichtshof allmählich gelungen, die Feststellungsklage zum Zweck der Bundesintervention, die ebenfalls durch den Bundesgeneralstaatsanwalt einzuleiten war, vom abstrakten Normenkontrollverfahren zu unterscheiden. Während bei der sogenannten interventiven Feststellungsklage ( representaçâo interventiva), die ein Rechtsschutzbedürfnis des Bundes voraussetzte18, der Bundesgeneralstaatsanwalt als sein gerichtlicher Vertreter auftrat, bedeutete „die abstrakte direkte Klage ein besonderes Mittel zur politischen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes " 1 9 . Der Bundesgeneralstaatsanwalt war hier antragsberechtigt, aber nur zum Zweck der Einleitung des Verfahrens 20 . In einer Entscheidung vom 3.2.1986 hat das Gericht noch einmal die „politische Natur " der abstrakten Normenkontrolle festgestellt; dabei wurde das gerichtliche Verfahren in der abstrakten Normenkontrolle als „ reine Form " bezeichnet21. Dieses Verständnis wurde eindeutiger in der Entscheidung vom 18.5.1988 formuliert. Der Oberste Gerichtshof betonte die Objektivität des Verfahrens, das keine Beteiligten kenne und dem Gericht ein besonderes politisches Mittel zur Normenkontrolle an die Hand gebe 22 . In diesem Urteil, in dem auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über die Natur des abstrakten Normenkontrollverfahrens Bezug genommen wurde 23 , wurde ausgeführt, daß im Gegensatz 16 Representaçâo Nr. 1016, vom 19.3.80, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência 94:58. 17 Açâo Rescisória Nr. 848 Berichterstatter: Richter Rafael Mayer, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 94: 58. is S. dazu oben Β, II, 3, b, (bb), (ßj. ι 9 Açâo Rescisória Nr. 878, Berichterstatter: Richter Rafael Mayer, Revista Trimestral de Jurisprudência 94, S. 58; 20 Açâo Rescisória Nr. 878, Berichterstatter: Richter Rafael Mayer, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 94, S. 58. 21 Embargos na Representaçâo Nr. 1092, Berichterstatter: Richter Djaci Falcâo, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 117, S. 921 (952). 22 Representaçâo Nr. 1405, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diario da Justiça vom 1.7.88. 23 In dieser Entscheidung wird systematisch die Evolution der interventiven Feststellungsklage zum abstrakten Normenkontrollverfahren dargestellt und auf die Urteile des
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C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
zu der „inzidenten Normenkontrolle" bei der abstrakten Normenkontrolle von Rechtsschutz nicht die Rede sein könne 24 . Seitdem gilt als geklärt, daß es sich um ein Verfassungsrechtsbewahrungsverfahren handelt, für dessen Einleitung allein das öffentliche Interesse maßgebend ist 25 . Die Einräumung des Antragsrechts an verschiedene Staatsorgane und gesellschaftliche Organisationen und die damit verbundene Erweiterung der Antragsberechtigung unterstreicht den objektiven Charakter des abstrakten Normenkontrollverfahrens, da die Antragsteller nicht verletzte Rechte geltend machen, sondern allein als Vertreter des öffentlichen Interesses das Verfahren in Gang bringen. Bereits unter der Geltung der neuen Verfassung hat das Gericht dieses Verständnis bestätigt, indem es anerkannt hat, daß es sich bei dem abstrakten Normenkontrollverfahren um ein objektives Verfahren handelt, das keine Parteien kennt und allein auf den Schutz der Verfassung abzielt 26 .
cc) Die Stellung des Antrags und ihre Problematik (α) Vorbemerkung Die neue brasilianische Verfassung hat, wie bereits angedeutet, das Antragsmonopol des Bundesgeneralstaatsanwalts aufgehoben und es durch eine sehr weitgefaßte Antragsberechtigung ersetzt. Nach der neuen, in Art. 103 der Verfassung festgelegten Systematik steht dem Präsident der Republik, dem Präsidium des Bundessenats, dem Präsidium des Abgeordnetenhauses, dem Präsidium eines Landesparlaments, dem Landesgouverneur, dem Bundesgeneralstaatsanwalt, dem Bundesrat der Anwaltskammer, einer politischen Partei mit Vertretung im Nationalen Kongreß, Gewerkschaftskonföderationen und Klassenorganisationen, die auf Bundesebene organisiert sind, das Antragsrecht zu. Dieser Erweiterung der Antragsberechtigung in der neuen Verfassung ist zu entnehmen, daß eine starke Begrenzung des Antragsrechts vermieden werden sollte. Dies kommt auch in Art. 125 Abs. 2 der Verfassung zum Ausdruck, der den Landesgesetzgeber ermächtigt, ein abstraktes Normenkontrollverfahren zur Überprüfung der Landesgesetze und Satzung der Gemeinden am Maßstab der Bundesverfassungsgerichts hingewiesen, in denen es die abstrakte Normenkontrolle als ein objektives Verfahren bezeichnet (BVerfGE 1, 208 (226); 2, 143 (153). 24 Representaçâo Nr. 1405, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diàrio da Justiça vom 1.7.88. 25 Açâo Direta de Inconstitucionalidade Nr. 79, Berichterstatter: Richter Celso Mello, Diario da Justiça, 12.9.89. 26 Açâo Direta de Inconstitucionalidade Nr. 79, Berichterstatter: Richter Celso Mello, Diario da Justiça, 12.9.89.
II. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem Supremo Tribunal Federal
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Landesverfassung einzurichten, aber ausdrücklich verbietet, daß die Antragsberechtigung einem einzigen Organ anvertraut wird. Die Antragsberechtigung des Präsidiums des Bundesabgeordnetenhauses und des Bundessenats sowie des Präsidiums jedes Landtags zeigt, daß der Verfassungsgeber hier nicht von dem Gedanken eines Minderheitenschutzes geleitet worden ist. Da der Vorsitz jedes legislativen Hauses durch die Mehrheit der Abgeordneten gewählt wird, hat der Verfassungsgeber praktisch der parlamentarischen Mehrheit, d.h. eigentlich dem Abgeordnetenhaus und dem Bundessenat als solchem, ein Antragsrecht gewährleistet. Diese Organe werden im allgemeinen nicht bereit sein, die Verfassungsmäßigkeit ihres eigenen Werks in Zweifel zu ziehen 27 . Diese Möglichkeit wird nur dann praktische Bedeutung erlangen, wenn die direkte Verfassungswidrigkeitsklage auch zur positiven Feststellung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes angewendet werden kann 28 . Die Verfassung gewährleistet der parlamentarischen Minderheit ausdrücklich kein Antragsrecht. Dies wird aber mittelbar durch das Antragsrecht der Parteien mit Vertretung im Nationalen Kongreß gesichert. Mit der Einräumung des Antragsrechts an diese politischen Parteien hat der brasilianische Verfassungsgeber einen besonderen Weg eingeschlagen, da normalerweise dieses Recht nur einer bestimmten Anzahl von Abgeordneten anvertraut wird 2 9 . Dafür gibt es, wie angedeutet, historische Gründe 30 . Die Einräumung des Antragsrechts an Parteien, die im Nationalen Kongreß vertreten sind, führt faktisch zu einem Antragsrecht der parlamentarischen Minderheit. Das kann sich dahin auswirken, daß auch eine Partei mit einer geringen Vertretung im Nationalen Kongreß — z.B. mit nur einem Vertreter in einem der beiden parlamentarischen Häuser — dazu berechtigt ist, den Antrag auf abstrakte Normenkontrolle zu stellen. Auch nach der Verfassung von 1988 ist der Bundesgeneralstaatsanwalt befugt, den Antrag auf abstrakte Normenkontrolle zu stellen. Jedoch hat dieses Organ durch die Verfassung von 1988 eine neue Bedeutung gewonnen, da der Bundesgeneralstaatsanwalt nur noch die Funktion als Anwalt des öffentlichen Interesses, 27 Vgl. dazu die Kommentare von Richard Grau über den Vorentwurf, vorgelegt von dem Reichsminister des Innern Dr. Külz, der ein Antragsrecht dem Reichstag und dem Reichsrat anvertraute (AöR 11 (1926), S. 287 (293-295). 28 Diese Frage ist umstritten im brasilianischen Verfassungsrecht. Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs spricht eher für die Unzulässigkeit eines solchen Antrags (Representaçâo Nr. 1349, Berichterstatter: Aldir Passarinho, Diario da Justiça vom 8.9.88). S. dazu unten C, ///, 2, c aa. 29 Das Grundgesetz (Art. 93 Abs. 1 (2) und neuerdings (1975) die österreichische Verfassung (Art. 140 Abs. 1) haben das Antragsrecht einem Drittel der Mitglieder des Bundestags bzw. des Nationalrates zuerkannt. Die portugiesische Verfassung hat dieses Recht einem Zehntel der Abgeordneten der Versammlung der Republik (Art. 281 Abs 1 (a) und die spanische Verfassung fünfzig Abgeordneten zuerkannt (Art. 162 Abs. 1 (a).
30 Vgl. dazu oben B, II, 3, b, bb,(Ç>).
1 2 0 C .
Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
dagegen nicht mehr diejenige als Vertreter des Bundes ausübt31. Der Bundesgeneralstaatsanwalt, der von dem Präsidenten der Republik aus den Mitgliedern der Bundesgeneralstaatsanwaltschaft für ein Mandat von 2 Jahren ernannt wird, kann nur mit der Zustimmung der absoluten Mehrheit des Bundessenates entlassen werden (Art. 128 Abs. 1 und 2). Der Präsident der Republik kann das Antragsrecht unmittelbar ausüben, ohne sich erst an den Bundesgeneralstaatsanwalt wenden zu müssen32. Die Ausübung des Antragsrechts könnte aber im Fall von Bundesgesetzen problematisch werden, da er auch gemäß Art. 66 Abs. 1 der Verfassung über das Vetorecht gegenüber der Gesetzgebung wegen Verfassungswidrigkeit verfügt 33 .
(ß) Das Vetorecht des Präsidenten der Republik und die Ausübung des Antragsrechts Hat der Präsident gemäß Art. 66 der Verfassung auf sein Vetorecht verzichtet, so stellt sich die Frage, ob er nach dem Zustandekommen eines Gesetzes vor dem Supremo Tribunal Federal die Überprüfung seiner Verfassungsmäßigkeit beantragen kann. Es kann jedoch vorkommen, daß Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes seine Ausführung erschweren oder beeinträchtigen, zumal im brasilianischen Modell der Normenkontrolle jeder Richter oder jedes Gericht berechtigt ist, ein Gesetz im konkreten Fall nicht anzuwenden, wenn dieses für verfassungswidrig gehalten wird. In solchen Fällen könnte dem Präsidenten der Republik nicht das Recht abgesprochen werden, die abstrakte Normenkontrolle einzuleiten mit dem Ziel, die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes feststellen zu lassen34. Die Nichtanwendung des Gesetzes durch Richter oder andere Behörden indiziert das objektive Interesse daran, die Gültigkeit der Norm klarzustellen. Ob der Präsident der Republik auch das Verfahren mit dem Ziel einleiten könnte, die Verfassungswidrigkeit eines Bundesgesetzes festzustellen, ist damit nicht beantwortet. 31 Für die Vertretung der Interessen des Bundes hat der Verfassungsgeber die Anwaltschaft des Bundes (Advocacia-Geral da Uniâo) geschaffen, die sich im allgemeinen um die juristische Beratung der Exekutive und die Vertretung der Interessen des Bundes vor Gericht kümmern soll (Art. 131). S. dazu oben B, II, 3, (bb), (ßj. 32 Dagegen Corrêa, Oscar, Ο 1602 Aniversârio do STF e ο novo Texto Constitucional, Arquivos do Ministério da Justiça, Nr. 173, Jul.-Sept. 1988, S. 67 (76), der befürwortet, daß der Präsident der Republik auch das Gesuch an den Bundesgeneralstaatsanwalt veranlaßt, der den Antrag vor dem Obersten Gerichtshof zu stellen hat. 33 Die Verfassung gewährleistet dem Präsidenten das Vetorecht im Falle von Verfassungswidrigkeit oder Unvereinbarkeit mit dem öffentlichen Interesse (Art. 66, Abs. 1). 34 Über diese Problematik im deutschen Recht: S. Zeidler, K., AöR 86 (1961), S. 361 (380-381).
II. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem Supremo Tribunal Federal
121
Die Verfassung enthält keine Anhaltspunkte für eine Einschränkung des Antragsrechts. Andererseits besteht kein Zweifel, daß der Verfassungsgeber bei der Gewährung einer weitgefaßten Antragsberechtigung die Absicht hatte, Beeinträchtigungen bei der unmittelbaren Anrufung des Gerichts zu vermeiden. Wie mehrfach angedeutet wurde, leiten die Antragsteller das Normüberprüfungsverfahren lediglich für die Allgemeinheit und im Interesse der Allgemeinheit ein 3 5 oder treten, wenn man die Formulierung Friesenhahns aufgreifen will 3 6 , allein als Verfassungsanwälte auf. Deswegen erscheint es auch folgerichtig, das Antragsrecht des Präsidenten der Republik ohne jede Einschränkung anzuerkennen. (γ) Das Antragsrecht der Gewerkschaftskonföderationen und der auf nationaler Ebene organisierten Klassenorganisationen Das Antragsrecht der Gewerkschaftskonföderation und der auf nationaler Ebene organisierten Klassenorganisation bereitet erhebliche praktische Schwierigkeiten. Die Existenz verschiedenartiger Organisationen, die die Vertretung bestimmter Berufe oder Tätigkeiten beanspruchen, und die Nicht-Existenz klarer gesetzlicher Regelung machen es notwendig, daß jedesmal die Antragsberechtigung einer solchen Organisation sorgfältig zu überprüfen ist. Vor allem bereiten Definition und Identifikation der Klassenorganisation Schwierigkeiten, da bisher kein präzises Kriterium vorhanden ist, sie von anderen Interessenvereinigungen zu unterscheiden. Daher muß das Gericht jedesmal die Qualifizierung des Antragstellers als Gewerkschaftskonföderation oder Klassenorganisation, die auf nationaler Ebene organisiert ist 3 7 , überprüfen. Der Begriff Klassenorganisation, auf nationaler Ebene organisiert, umfaßt eine überaus unterschiedliche und differenzierte Reihe von Vereinen und Verbänden, die nicht einfach abzugrenzen sind. Dieses Problem hat seit der Verkündung der Verfassung von 1988 mehrmals das Gericht beschäftigt 38. In der Entscheidung vom 5.4.1989 hat der Oberste Gerichtshof versucht, die Bedeutung des Begriffs zu präzisieren, indem er ausführte, daß unter Klassenorganisation nur die Vereinigung von Personen zu verstehen sei, die im wesentlichen ein gemeinsames
35 Vgl. über die Problematik: Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 292 (306); Stephan, Das Rechtsschutzbedürfnis, 1967, S. 147 ff.; Goessl, Organstreitigkeiten, S. 173 und 219. 36 Vgl. Friesenhahn, Jura 1982, S. 505 (509). 37 Vgl. dazu Açâo Direta de Inconstitucionalidade Nr. 34, Berichterstatter: Richter Octavio Gallotti, Diàrio da Justiça vom 5.4.89; Açâo Direta de Inconstitucionalidade Nr. 43, Berichterstatter: Richter Sydney Sanches, Diàrio da Justiça 5.4.89. 38 Açâo Direta de Inconstitucionalidade Nr. 34, Berichterstatter: Richter Octavio Gallotti, Diario da Justiça 28.4.89; Açâo Direta de Inconstitucionalidade Nr. 39, Berichterstatter: Richter Sydney Sanches, Diàrio da Justiça vom 19.5.89.
1 2 2 C .
Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
Interesse einer bestimmten Kategorie vertritt 39 . Im Gegensatz dazu steht eine lediglich ümstandshalber gebildete Personengruppe, z.B. Angestellte eines bestimmten Unternehmens, die nicht als Klassenorganisation i.S. des Art. 103 IX der Verfassung zu bezeichnen ist 40 . Die Idee eines wesentlichen gemeinsamen Interesses verschiedener Kategorien stellt einen entscheidenden Anhaltspunkt zur Abgrenzung der Klassenorganisation i. S. des Art. 103IX der Verfassung von anderen Verbänden oder gesellschaftlichen Organisationen dar. Damit macht der Oberste Gerichtshof auch deutlich, daß der Verfassungsgeber sich für eine „ beschränkte Antragsberechtigung " entschieden hat, das Antragsrecht der Massenorganisationen also nicht im Sinne eines Popularklagerechts gedeutet werden kann 41 . Die Notwendigkeit, weitere Abgrenzungskriterien zu entwickeln, soll aber nicht dazu führen, daß das Antragsrecht der Klassenorganisation von einem besonderen Schutzinteresse abhängig gemacht wird. Eine solche Erwägung wäre schon deshalb verfehlt, weil im Hinblick auf den Rechtsschutz solcher Organisationen und deren Mitglieder die Verfassung den mandado de segurança coletivo (kollektive Sicherheitsverfügung) in Art. 5 L X X I „b" eingeführt hat, der von den Gewerkschaften, klassenvertretenden Organisationen oder Vereinen, die seit mindestens einem Jahr bestehen, auch im Interesse ihrer Mitglieder angewendet werden kann. Eine solche Einschränkung des Antragsrechts ließe sich andererseits nicht mit dem Wesen der abstrakten Normenkontrolle vereinbaren und würde eine ungerechtfertigte Differenzierung zwischen den verschiedenen Antragsberechtigten schaffen, die keine Stütze in der Verfassung hat. c) Antragsbefugnis Die brasilianische Lehre und Rechtsprechung haben lange Zeit der Antragsbefugnis als Zulässigkeitsvoraussetzung für das abstrakte Normenkontrollverfahren keine Beachtung geschenkt. Das Antragsmonopol des Bundesgeneralstaatsanwalts hatte dieses Erfordernis fast entbehrlich gemacht, da die Antragsbefugnis in diesem Fall bloß ein Element der Antragsberechtigung zu sein schien. Die abstrakte Normenkontrolle wurde im Jahre 1965 mit dem erklärten Ziel eingeführt, dadurch zur Rechtssicherheit und Rechtsklarheit der unmittelbaren 39
Açâo Direta de Inconstitucionalidade Nr. 34, Berichterstatter: Richter Octavio Gallotti, Diario da Justiça 28.4.89. 40 Açâo Direta de Inconstitucionalidade Nr. 34, Berichterstatter: Richter Octavio Galloni, Diario da Justiça 28.4.89. Vgl. dazu Açâo Direta de Inconstitucionalidade Nr. 79, Berichterstatter: Richter Celso de Mello, Diàrio da Justiça vom 10.9.89.
II. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem Supremo Tribunal Federal
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und sofortigen Entscheidung von umstrittenen Verfassungsfragen beizutragen 42. Sie sollte auch zur erhöhten Prozeßökonomie und zur Entlastung des Gerichts führen 43 , denn die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit neuer Gesetze sollte allgemein die Gerichtsbarkeit bei der Beurteilung ähnlicher Fälle anleiten. Statt aber eine Formulierung zu verwenden, die dieser Idee besser entsprochen hätte, wie es z.B. bei Art. 13 Abs. 2 WRV oder dem Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG der Fall ist, hat der Verfassungsgesetzgeber die Formel, die für die interventive Feststellungsklage galt, übernommen, in deren Verfahrensregeln vorzugsweise der Begriff der Verfassungswidrigkeitsklage benutzt wird 4 4 . Zunächst war daher von einem „ Antrag gegen die Verfassungswidrigkeit von Gesetz oder normativem Akt des Bundes oder eines Landes " die Rede (Verfassungsnovelle Nr. 16/1965, Art. 101 I k) 4 5 . Die Verfassung von 1967/69 sprach in Art. 119 I „1" vom „Antrag des Bundesgeneralstaatsanwalts wegen Verfassungswidrigkeit des Gesetzes oder normativen Akts des Bundes oder eines Landes Die Geschäftsordnung des Gerichts hat aber bereits in ihrer Fassung von 1970 dem ursprünglichen Gedanken Rechnung getragen und festgelegt, daß der Bundesgeneralstaatsanwalt den Antrag zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes oder normativen Akts des Bundes oder eines Landes dem Obersten Gerichtshof vorlegen könnte, wenn dies von einer Behörde oder irgend jemandem beantragt würde. Sollte er den Antrag als unbegründet betrachten, könnte er ihn dem Gericht mit einem Gutachten weiterleiten, in welchem die Unbegründetheit hervorzuheben wäre (Art. 174 Abs. 1). In den neuen Fassungen der Geschäftsordnung von 1980 und 1982 wird nicht mehr verlangt, daß der Bundesgeneralstaatsanwalt seine Meinung über die eventuelle Unbegründetheit eines bestimmten Gesuchs kundtut. Es war aber ausdrücklich in Art. 169 Abs. 1 der Geschäftsordnung vorgesehen, daß er in seiner definitiven Äußerung (Gutachten) auf die Unbegründetheit des Antrags aufmerksam machen dürfe. Diese Vorschrift wurde in ihren verschiedenen Fassungen immer so ausgelegt, daß sie den Bundesgeneralstaatsanwalt ermächtigt, den Antrag zu stellen, wenn er Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes hatte oder die Kontroverse darüber für relevant hielt 46 . Indessen wurde nicht verlangt, daß er sich die Zweifel zu eigen machte. 42 Constituiçâo de 1946: Emendas à Constituiçâo de 1946, Nr. 16, Reforma do Poder Judiciârio, 1968, S. 24. Vgl. dazu oben B, II, 3, b, (aa). 43 Constituiçâo de 1946: Emendas à Constituiçâo de 1946, Nr. 16, Reforma do Poder Judiciârio, 1968, S. 24. 44 Gesetz (Lei) Nr. 2271 vom 22.7.1954, Art. 1; Gesetz (Lei) Nr. 4337, vom 1.6.1964, Art. 2). 45 Art. 101,1, k der Verfassung von 1946 nach der Fassung der Verfassungsnovelle Nr. 16, vom 26.11.1965. 46 Cavalcanti, Themistocles, Do Controle da Constitucionalidade, S.118; Marinho, Josaphat, Inconstitucionalidade de Lei — Representaçâo ao Supremo Tribunal Federal,
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C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
Die Regel entsprach einer Praxis, die bereits bei der interventiven Feststellungsklage entwickelt worden war 47 . Normalerweise beschränkte sich der Bundesgeneralstaatsanwalt darauf, den Antrag eines Verfassungorgans oder von irgend jemandem an das Gericht mit einer knappen Ausführung weiterzuleiten, in der er die angeführten Gründe für die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes als relevant anerkannte. Der Antrag wurde daher oft unter Vorbehalt einer definitiven Äußerung der Bundesgeneralstaatsanwaltschaft gestellt, die erst, nachdem das für den Erlaß des beanstandeten Akts verantwortliche Organ sein Äußerungsrecht ausgeübt hatte, abzugeben war 48 . Damit wurde implizit bekundet, daß der Antragsteller die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des beanstandeten Gesetzes mindestens für ernsthaft hielt, ohne sie sich notwendigerweise zu eigen zu machen49. Es genügten daher Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, die dem Bundesgeneralstaatsanwalt als erheblich erschienen. Hingegen war nicht von Belang, wie die Zweifel entstanden waren oder an welchen Stellen sie gehegt wurden 50 . In einer Entscheidung vom 25.5.1987 wurde dennoch die Frage aufgeworfen, ob der Bundesgeneralstaatsanwalt sich darauf beschränken könne, die Meinungsverschiedenheit zwischen einem Gericht und einer Finanzbehörde über die Verfassungsmäßigkeit eines bestimmten Bundessteuergesetzes darzulegen, oder ob er sich einem der beiden Standpunkte anzuschließen habe 51 . Ein Vorgehen im Sinne der ersten Alternative wurde in der Stellungnahme der Bundesregierung als verfahrensrechtlich unzulässig betrachtet 52. Der Oberste Gerichtshof hat die Zulässigkeit des Antrags mit der Begründung anerkannt, der Antragsteller habe seine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zum Ausdruck gebracht, indem er die gegensätzlichen Thesen dargestellt habe — die eine, die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes vertretend, in: Revista de Direito Publico Nr. 12, 1970, S. 150 (152);. Embargos na Representaçâo Nr. 1092, Berichterstatter: Richter Néri da Silveira, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 117, S. 971 (952-953). 47 Representaçâo Nr. 95, Berichterstatter: Richter Orozimbo Nonato, Archivo Judiciario Nr. 85, S. 55 ff. 48 Representaçâo Nr. 1054, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 110, S. 937; Representaçâo Nr. 1.451, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diario da Justiça vom 24.6.88. 49 Representaçâo Nr. 748, Berichterstatter: Richter Amarai Santos, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 46, S. 424 ff.; Vgl. auch Marinho, Josaphat, Inconstitucionalidade de Lei Representaçâo ao Supremo Tribunal Federal, Revista de Direito Publico Nr. 12, S. 150 (152). 50 Cavalcanti, Themistocles, Do Controle de Constitucionalidade, S. 118; Marinho, Josaphat, Inconstitucionalidade de Lei — Representaçâo ao Supremo Tribunal Federal, in: Revista de Direito Publico Nr. 12, 1970, S. 150 (152). 51 Representaçâo Nr. 1451, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diàrio da Justiça vom 24.6.88. 52 Representaçâo Nr. 1451, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diàrio da Justiça vom 24.6.88.
II. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem Supremo Tribunal Federal
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und die andere, die Verfassungsmäßigkeit anerkennend — ohne sich diejenige, die die Verfassungsmäßigkeit vertritt, zu eigen zu machen53. Im Urteil vom 8.9.88 hat der Oberste Gerichtshof dieses Verständnis jedoch stark eingeschränkt. Der Bundesgeneralstaatsanwalt hatte ein Gesuch einer Gruppe von Bundesabgeordneten, die die Verfassungswidrigkeit bestimmter Vorschriften des brasilianischen Informatikgesetzes beanstandete, dem Obersten Gerichtshof vorgelegt. Der Antragsteller hatte aber hinzugefügt, daß er, obwohl er von der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes überzeugt sei, sich verpflichtet sehe, den Antrag wegen seiner besonderen Relevanz zu stellen. Der Oberste Gerichtshof lehnt den Antrag als unzulässig ab. Da es sich, wie ausdrücklich in der Verfassung vorgesehen, um einen Antrag zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes handle, dürfe der Antragsteller nicht zum Ausdruck bringen, daß er ein anderes Ziel verfolge 54 . Damit hat das Gericht einen Antrag, der die positive Feststellung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes bezweckt, für unzulässig erklärt. Den im Urteil entwickelten Ausführungen ist zu entnehmen, daß der Antrag nur zulässig gewesen wäre, wenn der Bundesgeneralstaatsanwalt zum Ausdruck gebracht hätte, daß er die Zweifel teilte oder mindestens nicht zu erkennen gäbe, daß allein die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes bezweckt würde. Dieses Verständnis schränkt die Bedeutung der abstrakten Normenkontrolle stark ein, indem es lediglich die negative Zielrichtung des abstrakten Normenkontrollverfahrens berücksichtigt. Das Erfordernis, daß der Antragsteller die Verfassungswidrigkeitserklärung anstreben muß, weil es sich um einen Verfassungswidrigkeitsantrag (representaçâo de inconstitucionalidade) handle, spiegelt einen Formalismus wider, der die Funktion der abstrakten Normenkontrolle zur Klärung einer umstrittenen verfassungsrechtlichen Lage verkennt. Diese Haltung, die auch im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung des Gerichts steht, kann keine Stütze in der Geschäftsordnung finden. Diese sieht kein Hindernis für die Zulässigkeit des Antrags vor, wenn der Antragsteller eindeutig die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes positiv festgestellt wissen möchte. Das dem Bundesgeneralstaatsanwalt zuerkannte Recht, in seinem definitiven Gutachten die Anerkennung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zu befürworten (Art. 169 Abs. 1), kann nur sinnvoll dahingehend verstanden werden, daß es eine Antragstellung zuläßt, selbst wenn der Antragsteller nicht von der Verfassungswidrigkeit überzeugt ist oder die Zweifel daran nicht teilt. Demnach muß zur Einleitung des Verfahrens der Antragsteller nicht von der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes überzeugt sein. Vielmehr würde das Vorhandensein von 53
Representaçâo Nr. 1451, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diario da Justiça vom 24.6.88. 54
Representaçâo Nr. 1349, Berichterstatter: Richter Aldir Passarinho, Diàrio da Justiça vom 8.9.1988.
C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
Zweifeln an seiner Verfassungsmäßigkeit oder von Meinungsverschiedenheit darüber genügen, um das öffentliche Interesse an der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes nachzuweisen. Die Haltung des Gerichts, gestützt auf eine buchstäbliche Auslegung der Verfassungsnorm, die Zulässigkeit des Antrags zur positiven Feststellung eines Gesetzes zu verneinen, steht nach dem Gesagten also nicht im Einklang mit der historischen Entwicklung des abstrakten Normenkontrollverfahrens in Brasilien und trägt dem Wesen dieses Instituts nicht Rechnung. Jene Vorschrift der Geschäftsordnung des Gerichts, die die Antragsbefugnis regelt (Geschäftsordnung, Art. 169 Abs. 1), ist durch die neue Verfassung überholt worden. Die Verfahrensregelungen in bezug auf den Bundesgeneralstaatsanwalt, der den Antrag stellen kann, wenn er die angebrachten Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes für relevant oder ernsthaft hält und dennoch in seiner definitiven Äußerung für die Unbegründetheit des Antrags plädieren darf, lassen sich nicht auf die anderen Antragsberechtigten übertragen. Es fragt sich also, ob hinsichtlich anderer Antragsberechtigter vorausgesetzt wird, daß diese nur den Normenkontrollantrag stellen dürfen mit dem Ziel, die Verfassungswidrigkeit festzustellen. Die Einräumung des Antragsrechts für bestimmte Organe wie das Präsidium des Abgeordnetenhauses und des Bundessenats und das Präsidium eines Landtags kann nur dann sinnvoll sein, wenn die Antragstellung auch zur Feststellung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zulässig ist. Denn prinzipiell werden diese Organe, die im allgemeinen die vorhandene Mehrheit im jeweiligen legislativen Haus vertreten, den Antrag nicht mit dem Ziel stellen, die Unvereinbarkeit des Gesetzes feststellen zu lassen. Auch das Antragsrecht des Präsidenten der Republik und des Gouverneurs eines Landes sprechen dafür, einen Antrag als zulässig zu qualifizieren, wenn die Bundesregierung oder eine Landesregierung zwecks Wiederherstellung der Rechtssicherheit positiv festgestellt wissen möchte, ob eine Bundes- oder Landesnorm der Verfassung nicht widerspricht. Obwohl bei der Formulierung der abstrakten Normenkontrolle von einer „direkten Verfassungswidrigkeitsklage" (açâo direta de inconstitucionalidade) (Verfassung, Art. 102 I „a" und 103) die Rede ist, kann der Verfassungsgeber, wie sich aus der Einräumung des Antragsrechts an die oben erwähnten Organe ergibt, die Bedeutung und Funktion der abstrakten Normenkontrolle zur Herstellung von Rechtssicherheit durch die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit nicht übersehen haben. Selbst wenn man annimmt, daß, solange neue verfahrensrechtliche Regeln nicht erlassen werden, die entsprechenden Bestimmungen der Geschäftsordnung des Obersten Gerichtshofs in Kraft bleiben und, verfassungskonform ausgelegt, weiter anzuwenden sind, ändert dies nichts daran, daß die Erweiterung der An-
II. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem Supremo Tribunal Federal
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tragsberechtigung eine neue Rechtslage schafft, die eine differenzierte und sachgerechte Regelung der Antragsbefugnis erfordert. Für eine Ausdehnung der Antragsbefugnis auf andere Antragsberechtigte als den Bundesstaatsanwalt spricht auch das praktische Bedürfnis, das sich daraus ergibt, daß infolge des inzidenten Normenkontrollmodells sich Rechtsunsicherheit über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes aus unterschiedlichen Richterentscheidungen55 ergibt. De lege ferenda wäre deshalb zu erwägen, eine verfahrensrechtliche Regel aufzunehmen, die nach dem Modell des Art. 13 Abs. 2 WRV und des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG ausdrücklich das Bestehen von Zweifeln oder Meinungsverschiedenheiten über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes als weitere Zulässigkeitsvoraussetzung des abstrakten Normenkontrollverfahrens festlegt. Dieses Erfordernis könnte zur Effektivität der abstrakten Normenkontrolle beitragen und ermöglichen, daß der Antrag auch mit dem eindeutigen Ziel gestellt werden könnte, die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes festzustellen.
3. Prüfungsgegenstand a) Vorbemerkung Prüfungsgegenstand des abstrakten Normenkontrollverfahrens können gemäß Art. 1021 „a" der Verfassung „Gesetze" oder „normative Akte" des Bundes odes eines Landes sein. Damit hat der Verfassungsgeber eine Formulierung verwendet, die die Überprüfung aller Rechtssätze, die von Bundesorganen bzw. Länderorganen erlassen worden sind, ermöglicht. Vor dem Inkraftreten der neuen Verfassung stellten die Satzungen der Gemeinden ein besonderes Problem dar, da sie weder dem Bund noch dem Land zuzurechnen sind. Während einige Stimmen in der Lehre die Auffassung vertraten, daß die Verfassung eine Formulierungslücke enthielte und deswegen der Bezug auf die Landesgesetze sich auch auf die Satzungen erstrecken sollte 56 , verwiesen andere Autoren darauf, daß die Länder aufgrund der Länderautonomie die Befugnis hätten, auch ein Modell von „direkter Klage " zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Satzung zu schaffen 57. 55 Vgl. dazu Representaçâo Nr. 1451, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diàrio da Justiça vom 24.6.88. 56 Sondervotum der Richter Cunha Peixoto und Rafael Mayer in: Recurso Extraordinàrio Nr. 92.169, vom 20.5.81, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 103, S. 11021104 und 1107-1108. 57 Grinover, Ada Pellegrini, A Açâo Direta de Controle da Constitucionalidade na Constituiçâo Paulista, in: Açâo Direta de Controle de Constitucionalidade de Leis Municipals, em Tese, S. 55-56; Bastos, Celso, Ο Controle Judicial da Constitucionalidade das
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C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
Der Oberste Gerichtshof hat grundsätzlich sowohl die Möglichkeit der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Satzungen im Wege der abstrakten Normenkontrolle vor einem Landesgericht 58 als auch vor ihm selbst abgelehnt59, da die Befugnis zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes im Wege der abstrakten Normenkontrolle ausschließlich dem Obersten Gerichtshof anvertraut sei und dieser nur über die Kompetenz zur Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit von Bundes- oder Landesgesetzen verfüge. Die Erweiterung dieser eingeschränkten Zuständigkeit durch eine Verfassungsauslegung würde daher einen Bruch des Systems bedeuten60. Demgegenüber ermächtigt Art. 125 Abs. 2 der Verfassung von 1988 den Landesverfassungsgeber, das abstrakte Normenkontrollverfahren zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Landesgesetzen oder Satzungen der Gemeinden am Maßstab der Landesverfassung einzurichten 61.
b) Bundesrecht Eine Durchsicht der einzelnen Kategorien der Gesetze und normativen Akte des Bundes im Sinne des Art. 102,1, „a" der brasilianischen Verfassung ergibt: (1) die Bestimmungen der Verfassung selbst. Auch in Brasilien stellt die Zulässigkeit der Überprüfung des sogenannten sekundären Bundesverfassungsrechts kein Problem dar, da nach dem einstimmigen Verständnis der Lehre und der Rechtsprechung die Verfassungsänderung nicht nur unter Beachtung des besonderen legislativen Verfahrens (Art. 60 I, II, III, und Abs. 1, 2 und 3), sondern auch nach Maßgabe der Ewigkeitsklausel (Art. 60 Abs. 4) 6 2 durchgeführt werden soll 63 . Leis e Atos Normati vos Municipals, in: Açâo Direta de Controle de Constitucionalidade de Leis Municipals, em Tese, S. 72; Silva, J. A. da, Açâo Direta de Declaraçâo de Inconstitucionalidade de lei municipal, in: Açâo Direta de Controle de Constitucionalidade de Leis Municipals, em Tese, S. 85; Dallari, Dalmo de Abreu, Lei Municipal Inconstitucional, in: Açâo Direta de Controle de Constitucionalidade de Leis Municipals, em Tese, 1979, S. 120. 58 Recurso Extraordinàrio Nr. 91.740-RS Berichterstatter: Richter Xavier de Albuquerque, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 93 (1), S. 458-461. 59 Representaçâo Nr. 1405, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diario da Justiça vom 18.5.1988. 60 Representaçâo Nr. 1405, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diàrio da Justiça vom 18.5.1988. Art. 125 Abs. 2: Die Länder sind befugt, das Verfahren über Verfassungsmäßigkeitsprüfung von Gesetzen oder normativen Akten des Landes oder der Gemeinden am Maßstab der Landesverfassung auszurichten. Es ist nicht gestattet, die Antragsberechtigung einem einzigen Organ anzuvertrauen. 62 Vgl. dazu oben C, II, 4, d. 63 Art. 60: Die Verfassung kann geändert werden durch Vorschlag von: I — einem Drittel mindestens der Mitglieder des Abgeordnetenhauses oder des Bundessenates;
II. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem Supremo Tribunal Federal
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Die Zulässigkeit der Verfassungsmäßigkeitsübeφrüfung einer Verfassungsnovelle in formeller und materieller Hinsicht wurde vom Obersten Gerichtshof bereits zu Anfang des republikanischen Systems im Jahre 1926 bejaht 64 . Neuerdings hat der Oberste Gerichtshof sogar ausdrücklich erklärt, daß diese Überprüfung auch präventiv durchgeführt werden könne, mit der zweifelhaften Begründung, daß in diesem Falle bereits der Vorschlag zur Verfassungsänderung verfassungswidrig sei 65 . (2) Bundesgesetze jeder Art und jeden Inhalts, da der Verfassungsgeber ausdrücklich an die Gesetzesform angeknüpft hat. Hierzu sind materielle oder formelle Gesetze zu rechnen, u.a.: (2.1) alle förmlichen Gesetze oder normativen Akte des Bundes, darunter: (2.1.1) Gesetze nur im formellen Sinne wie etwa das Haushaltsgesetz (Art. 165 I), das Gesetz über die Haushaltsrichtlinien (Art. 165 II), das Gesetz zur Errichtung eines Bundeslandes oder eines Bundesterritoriums (Art. 18 Abs. 3 und 2), gesetzliche Bestimmungen zur Errichtung von Stiftungen und öffentlichen Unternehmen (Art. 37 XIX und XX); (2.1.2) die sogenannten provisorischen Maßnahmen, die vom Präsidenten der Republik im Falle der Relevanz und Dringlichkeit mit Gesetzeskraft erlassen werden dürfen (Art. 62 i.V.m. Art. 84, XXVI). Diese Maßnahmen verlieren ihre Wirksamkeit, wenn sie innerhalb einer Frist von 30 Tagen nicht von dem Nationalen Kongreß als Gesetz bestätigt werden (Verfassung, Art. 62). (3) Die sogenannten legislativen Verordnungen ( decreto legislativo), die die Zustimmung des Nationalen Kongresses zu einem Staatsvertrag enthalten und gleichzeitig den Bundespräsidenten der Republik ermächtigen, den Vertrag im II — dem Bundespräsidenten der Republik; III — der Mehrheit der Landesparlamente, die die jeweilige Entscheidung durch die einfache Mehrheit ihrer Mitglieder treffen sollen. Abs. 1. Die Verfassung kann nicht geändert werden während der Dauer von Bundesintervention oder innerem Notstand. Abs. 2. Der Vorschlag soll zweifach in jedem der Häuser des nationalen Kongresses diskutiert und darüber abgestimmt werden. Die Verfassungsänderung bedarf in beiden Abstimmungen drei Fünftel der Stimmen der jeweiligen Mitglieder jedes Hauses. Abs. 3. Die Verfassungsänderung wird durch die Vorsitze des Abgeordnetenhauses und des Bundessenats mit der entsprechenden Ordnungszahl verkündet. Abs. 4. Der Vorschlag zur Änderung der Verfassung, der zur Abschaffung folgender Institutionen führen könnte, darf nicht diskutiert und zur Abstimmung gebracht werden: I — föderative Staatsform; II — allgemeines, unmittelbares, geheimes und periodisches Stimmrecht; III — das Gewaltenteilungsprinzip; IV — die individuellen Grundrechte. Abs. 5. Die Materie eines abgelehnten oder präjudiziellen Vorschlags zur Änderung der Verfassung kann nicht in derselben Legislaturperiode berücksichtigt werden. 64 Habeas-Corpus Nr. 18.178, vom 27.9.26, in: Revista Forense Nr. 47, S. 748-827. 65 Mandado de Segurança Nr. 20.257, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 99, S. 1040. 9 Mendes
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C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
Namen Brasiliens zu schließen (Verfassung, Art. 49 I). Die legislative Verordnung formalisiert in der brasilianischen Rechtsordnung nur die endgültige Zustimmung zum Staats vertrag durch das Parlament 66. Den innerstaatlichen Anwendungsbefehl bekommt der Völkerrechtsvertrag jedoch nach seiner Ratifizierung durch offizielle Verkündung in einem Dekret des Bundespräsidenten 67. Das abstrakte Normenkontrollverfahren kann aber bereits nach dem Erlaß der legislativen Verordnung eingeleitet werden, da es sich hier um einen legislativen Akt handelt, aus dem sich Rechtsfolgen für die innere Rechtsordnung ergeben können 68 . (4) Die Dekrete des Chefs der Exekutive, die die Verkündung des Staatsvertrags zum Ausdruck bringen; (5) die legislative Verordnung des nationalen Kongresses, die eine Verordnung der Exekutive wegen Unvereinbarkeit mit dem auszuführenden Gesetz aufhebt (Verfassung, Art. 49 V ) 6 9 ; (6) Auch die Satzungen der durch den Bund geschaffenen Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts sowie die Geschäftsordnungen der Bundesgerichtshöfe können Gegenstand des abstrakten Normenkontrollverfahrens sein.
c) Landesrecht Als Landesrecht sind auch alle Rechtssätze zu betrachten, die von Landesorganen verkündet oder erlassen wurden oder ihnen zuzurechnen sind. Der abstrakten Normenkontrolle unterliegen u.a.: (1) Landes V e r f a s s u n g s b e s t i m m u n g e n , die trotz gleicher staatsrechtlicher Qualität wie die Bestimmung der Bundesverfassung mit deren allgemeinen und spezifischen Prinzipien vereinbar sein müssen (Verfassung Art. 25 i.V. m. Art. 34 V I I — sensible Prinzipien). (2) förmliche Landesgesetze jeder Art und jeden Inhalts, egal, ob sie über materiellen Gehalt verfügen oder ob es sich um rein formelle Gesetze handelt;
66 Rezek, J. F., Direito dos Tratados, S. 333. 67 Rezek, J. F., Direito dos Tratados, S. 382-385. 68 Es gibt aber mindestens einen Fall, in welchem das abstrakte Normenkontrollverfahren erst nach dem Inkrafttreten des Völkerrechtsvertrags eingeleitet worden ist (Representaçâo Nr. 803, Berichterstatter: Richter Djaci Falcâo, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 84, S. 724 ff.). 69 Die Verfassung von 1988 hat die Vorschrift der Verfassung von 1934, die dem Bundessenat diese Befugnis zuerkannte, übernommen. Dies gab dem Bundessenat teilweise die Zuständigkeit eines Verfassungsgerichtshofs, worauf Pontes de Miranda hingewiesen hat (Vgl. Comentârios à Constituiçâo da Republica dos Estados Unidos do Brasil, Bd. I, p. 364).
II. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem Supremo Tribunal Federal
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(3) Landesgesetze, die gemäß Art. 22 der Verfassung zur Regelung bestimmter Materien bei ausschließlicher Zuständigkeit des Bundes erlassen worden sind, soweit eine ausdrückliche Ermächtigung durch spezielles Bundesgesetz vorliegt. (4) Die Geschäftsordnung des Obersten Landesgerichtshofs sowie die Geschäftsordnung des Landesparlaments; (5) Satzungen der durch das Land geschaffenen Körperschaften und Anstalten öffentlichen Rechts können ebenfalls Gegenstand der abstrakten Normenkontrolle sein. d) Vor- und nachkonstitutionelles Recht Die brasilianischen Verfassungen von 1891 (Art. 83), von 1934 (Art. 187) und von 1937 (Art. 183) hatten ausdrücklich eine Rezeptionsnorm, die wie die Rezeptionsnormen in der Weimarer Verfassung (Art. 178, Abs. 2) und im Bonner Grundgesetz (123 Abs. 1 GG) zwei Bestimmungen enthielten: (1) zum einen sollte das vorkonstitutionelle Recht en bloc fortgelten; (2) zum anderen wurde festgelegt, daß verfassungswidriges Recht mit dem Inkraftreten der Verfassung zu gelten aufgehört habe 70 . Zu Beginn hat der Supremo Tribunal Federal die Derogation vorkonstitutionellen Rechts wegen Kollision mit der Verfassung noch im abstrakten Normenkontrollverfahren festgestellt, so daß der Antrag auf abstrakte Kontrolle mit der Feststellung der Aufhebung einfachen Rechts wegen Kollision mit der Verfassung abgewiesen wurde 71 . Das Gericht betrachtete diesen Fall damals als Vorfrage, die es zu entscheiden hatte. Diese Haltung wurde aber zugunsten eines Verständnisses aufgegeben, demzufolge das abstrakte Normenkontrollverfahren nur zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von nachkonstitutionellem Recht zulässig ist 72 . Danach sollte die eventuelle Kollision zwischen vorkonstitutionellem Recht und der geltenden Verfassung nach den Prinzipien des einfachen Anwendungsrechts gelöst werden, da die abstrakte Normenkontrolle ihrer Natur nach auf den Schutz der geltenden Verfassung abziele73. Folglich wird den einfachen Gerichten sowie dem Obersten
™ Barbalho, Joâo, Constituiçâo Federal brazileira, Comentârios, S. 356; Vgl. über das Problem im deutschen Recht: Ipsen, Rechtsfolgen, S. 161. 71 Representaçâo Nr. 946, Berichterstatter: Richter Xavier de Albuquerque, Revista Trimestral de Jurisprudência 82, S. 47; Representaçâo Nr. 969, Berichterstatter: Richter Antonio Neder, Revista Trimestral de Jurisprudência 99, S. 544. 72 Representaçâo Nr. 946, Berichterstatter: Richter Xavier de Albuquerque, Revista Trimestral de Jurisprudência 82, S. 44; Representaçâo Nr. 969, Berichterstatter: Richter Antonio Neder, Revista Trimestral de Jurisprudência 99, S. 544. 73 Representaçâo Nr. 1012, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 95, S. 990. 9*
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C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
Gerichtshof nur im Wege der inzidenten Normenkontrolle ein Prüfungsrecht des vorkonstitutionellen Rechts zugestanden, da es sich um eine Anwendung des lex-posterior Grundsatzes und nicht der Verfassungsmäßigkeitsprüfung handelt. Dieses Problem, das von Kelsen bereits in dem Referat über das Wesen und die Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit erwähnt wurde 74 , wird in den verschiedenen Systemen unterschiedlich gelöst. Die österreichische Praxis geht davon aus, daß als Prüfungsgegenstand nicht nur Bundes- und Landesgesetze, die im Sinne des Art. 140 B.-VG erlassen worden sind, sondern auch die älteren Reichs- (Staats-) und Landesgesetze, soweit sie gemäß § 1 Verfassungs-Übergangsgesetz (VÜG) 1920 auch nach dem Wirksamkeitsbeginn der Verfassung fortgelten, nämlich nach Maßgabe der besonderen Bestimmungen der §§ 2 bis 6 VÜG 1920 über die Transformierung dieser älteren Gesetze in Bundes- und Landesgesetze75. Die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit dieser älteren Gesetze ist aber nach dem Zeitpunkt ihres Erlasses zu beurteilen, d.h., es ist zu prüfen, ob diese Gesetze in Übereinstimmung mit den zum damaligen Zeitpunkt wirksamen Verfassungsbestimmungen erlassen wurden 76 . Nach diesem Verständnis ist also die Kollision zwischen dem vorkonstitutionellen Recht und der Verfassung als Derogationsfrage anzusehen und unterliegt deswegen nicht der Zuständigkeit des österreichischen Verfassungsgerichtshofs 77 . Sie kann sowohl vom Verfassungsgerichtshof als auch von den anderen Gerichten allein als Vorfrage beurteilt werden 78 . Das Bundesverfassungsgericht hat eine Art von Kompromißlösung entwickelt, wonach vor- und nachkonstitutionelle Rechte der abstrakten Normenkontrolle unterliegen. Allerdings unterliegen die vorkonstitutionellen Gesetze nicht der Vorlagepflicht des Art. 100 Abs. 1 GG, da die Entscheidung über die Normenkol-
74 Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 64, hob damals hervor: „die Kassation einer verfassungswidrigen Norm durch ein Verfassungsgericht — hier sin vor allem generelle Normen gemeint — ist streng genommen nur notwendig, wenn die verfassungswidrige Norm jünger ist als die Verfassung. Denn ist es nicht das jünger Gesetz (die jüngere generelle Norm), das sich zu der älteren Verfassung, sondern es die jüngere Verfassung, die sich zu einem älteren Gesetz in Widerspruch setzt, d derogiert — nach dem Grundsatz der lex posterior — die Verfassung dem Gesetz; ei Kassation des Gesetzes scheint daher überflüssig, ja sogar logisch unmöglich zu sein" 7 5 Vgl. Adamovich, L/Spanner, Hans, dazu Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts, 6. Aufl., Wien-New York, 1971, S. 456. 76 Adamovich, L/Spanner, Hans, dazu Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts, 6. Aufl., Wien-New York, 1971, S. 456. 77 Adamovich, L/Spanner, Hans, dazu Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts, 6. Aufl., Wien-New York, 1971, S. 456. 78 Adamovich, L/Spanner, Hans, dazu Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts, 6. Aufl., Wien-New York, 1971, S. 456. Adamovich hat empfohlen, den Verfassungsgerichtshof mit der Zuständigkeit auch für allgemein verbindliche Entscheidung über Derogationsfragen auszustatten (Vgl. Derselbe Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts, Wien-New York, 1957, 5. Aufl. S. 398).
II. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem Supremo Tribunal Federal
133
lision keine Bedrohung der Autorität des konstitutionellen Gesetzgebers bedeutet 79 . Der italienische Verfassungsgerichtshof hat sich bereits in seiner ersten Entscheidung vom 5.6.1956 zur Kontrolle des vorkonstitutionellen Rechts für allein zuständig erklärt 80 , weil zum einen, bei wörtlicher Auslegung, sowohl Art. 134 der Verfassung als auch Art. 1 des Verfassungsgesetzes vom 9.2.1948 Nr. 1 ohne weitere Unterscheidung von der „Verfassungsmäßigkeit der Gesetze" sprechen und weil zum anderen die Beziehungen zwischen einfachen Gesetzen und den Verfassungsgesetzen sowie dem Rang, der ihnen in der Hierarchie der Rechtsquellen zukommt, immer gleich blieben, egal, ob nun die einfachen Gesetze der Verfassung zeitlich vorangehen oder ihr nachfolgen 81. Die portugiesische Verfassung von 1976 hat sich ausdrücklich in Art. 282 Abs. 2 zu einer nachträglichen Verfassungswidrigkeit bekannt, die den Verfassungsgerichtshof ermächtigt, auch die Kollision zwischen vorkonstitutionellem Recht und der Verfassung zu überprüfen 82. Der spanische Verfassungsgerichtshof hat eine „mittlere Linie " gewählt, die ihm erlaubt, hinsichtlich des vorkonstitutionellen Rechts die Verwerfungskompetenz mit den einfachen Gerichten zu teilen, während er hinsichtlich des nachkonstitutionellen Rechts ein Verwerfungsmonopol besitzt 83 . Diese Auffassung setzt daher bezüglich des vorkonstitutionellen Rechts eine konkurrierende Prüfungsund Verwerfungskompetenz des einfachen Gerichts und des Verfassungsgerichts voraus 84. Das Gesetz des spanischen Verfassungsgerichtshofs sieht in Art. 33 eine Frist von 3 Monaten ab Veröffentlichung des Gesetzes oder der jeweiligen Bestimmung oder Handlung mit Gesetzeskraft zur Einleitung des abstrakten Normenkontrollverfahrens vor. Nach der 2. Übergangsbestimmung des Gesetzes des spanischen Verfassungsgerichtshofs gilt für die abstrakte Normenkontrolle, die Verfassungsbeschwerde und für die Kompetenzenkonflikte diese Frist (3 Monate) ab dem Zeitpunkt der Konstituierung des Gerichts (15.7.80) auch für solche normativen Akte, die vor diesem Datum erlassen worden sind 85 . 79 BVerfGE 2, 124 (130); 2, 138, 218; 3, 48; 4, 339; 6, 64; 7, 335; 10, 58, 127, 131, 159; 11, 129; 12, 353; 14, 65; 15, 183; 16, 231; 17, 162; 18, 252. Kritisch dazu Ipsen, Rechtsfolgen, S. 164. 80 Biscaretti di Ruffia, Paolo, Derecho Constitucional, S. 268; Zagrebelsky, Gustavo, La Giustizia Costituzionale, S. 42; Pierandrei, Franco, Corte Costituzionale, in: Enciclopedia del Diritto, Mailand, 1962, Bd. X, S. 908; Vgl. auch Ritterspach, T., Probleme der italienischen Verfassungsgerichtsbarkeit: 20 Jahre Corte Costituzionale, AöR. 104 (1979), S. 137 (138); Sanduli, Aldo, Die Verfassungsgerichtbarkeit in Italien, in: Mosler, Verfassungsgerichtbarkeit in der Gegenwart, S. 292 (306-307). 8 1 Urteil vom 5. Juni 1956 Nr. 1, Vgl. dazu Sciascia, Gaetano, JöR NF Bd. 6 (1957), S. 1 (6). 82 Vgl. auch Canotilho, Direito Constitucional, S. 838. S3 Vgl. Weber, Α., JöR, NF Bd. 34 (1985), S. 245 (257-258). 84 Weber, Α., JöR, NF Bd. 34 (1985), S. 245 (258). S5 Vgl. dazu Weber, Α., JöR, NF Bd. 34 (1985), S. 245 (254).
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C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
Mit Ausnahme des österreichischen Verfassungsgerichtshofs wird also von den modernen Verfassungsgerichten die Befugnis anerkannt bzw. die Befugnis in Anspruch genommen, das vorkonstitutionelle Recht im abstrakten Normenkontrollverfahren an der geltenden Verfassung zu messen86. Die neue brasilianische Verfassung bezieht bezüglich des vorkonstitutionellen Rechts nicht eindeutig Position. Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, die während der Geltung der abgelösten Verfassung von 1967/69 entwickelt wurde, behandelt diese Kollision, wie bereits erwähnt wurde, nach dem Grundsatz des „ lex posterior derogat priori Die Anwendung des Grundsatzes „lex posterior derogat priori" ist nicht unproblematisch, denn dieser setzt prinzipiell gleiche Regelungsdichte voraus 87. Diese Tatsache kommt auch in Art. 2 des Einführungsgesetzes zum brasilianischen Código Civil zum Ausdruck, der den „lex posterior derogat priori"Grundsatz in sich aufgenommen hat, indem er ausdrücklich festlegt, daß eine Aufhebung des älteren Rechts nicht in Betracht kommt, wenn das neue Gesetz nur allgemeine oder spezielle Regelungen enthält (lex generalis oder lex posterior). Diesem Grundsatz liegt also der Gedanke gleicher normativer Dichte zugrunde 88 , ist er doch vor allem an der Ersetzung älteren Rechts durch neues Recht orientiert 89 . Die Verfassung dagegen kann in der Regel einfach-gesetzliche Rechtsnormen nicht ersetzen 90. Man wird davon auszugehen haben, daß im Falle der Kollision von rangverschiedenen Normen der Vorrang der lex superior die anderen Kollisionsregeln ausschließt91. Sonst würde man, wie mit Recht von Ipsen hervorgehoben wird, zu dem absurden Ergebnis gelangen, daß das einfache Gesetz — als lex specialis oder lex posterior — die Verfassung als lex generalis und lex prior verdrängen könnte 92 . Dafür spricht auch die Regelung der außerordentlichen Berufung in der brasilianischen Verfassung. Sie ist nur zulässig, wenn (a) die Entscheidung einer Bestimmung dieser Verfassung widerspricht; (b) die Entscheidung einen Staatsvertrag oder ein Bundesgesetz für verfassungswidrig erklärt und (c) die Entschei86 Wie gesehen, gilt das nicht uneingeschränkt für den spanischen Verfassungsgerichtshof, da er nach dem Ablauf der gesetzten Frist nicht mehr zuständig ist, die Frage in abstrakter Normenkontrolle zu beurteilen. Im italienischen System, das kein abstraktes Normenkontrollverfahren kennt, hat sich, wie dargelegt, die Idee einer nachträglichen Verfassungswidrigkeit von Anfang an durchgesetzt. 87 Vgl. dazu Ipsen, Rechtsfolgen, S. 163; Nunes, J. de Castro, S. 603-604. 88 Dazu Ipsen, Rechtsfolgen, S. 164. 89 Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 165. 90 Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 165. 91 Vgl. dazu Ipsen, Rechtsfolgen, S. 164. 92 Vgl. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 164.
II. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem Supremo Tribunal Federal
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dung die Gültigkeit eines Gesetzes angenommen hat, das als unvereinbar mit dieser Verfassung beanstandet worden ist (Art. 102 I I I „a", „b" und „c"). Der Verfassungsgeber hat die Zulässigkeit der außerordentlichen Berufung von einer aktuellen Verfassungswidrigkeit abhängig gemacht, so daß der Supremo Tribunal Federal nur zuständig ist, wenn behauptet wird, daß die richterliche Entscheidung in irgendeiner Weise die geltende Verfassung verletzt hat. Daraus ergibt sich, daß der Verfassungsgeber hier von einem Einheitsbegriff der Verfassungswidrigkeit ausgegangen ist, der sich sowohl auf vor- wie auch auf nachkonstitutionelle Rechtsnormen bezieht. Gründe für eine Differenzierung zwischen der inzidenten Verfassungsmäßigkeitsprüfung und der abstrakten Normenkontrolle hinsichtlich des Prüfungsgegenstands sind nicht ersichtlich. Der Oberste Gerichtshof sollte daher erwägen, seine Rechtsprechung in diesem Punkt zu überprüfen. e) Die Existenz der Norm und die vorbeugende Normenkontrolle Die abstrakte Normenkontrolle setzt auch in der brasilianischen Verfassungsordnung die formelle Existenz des Gesetzes oder des normativen Akts bei Abschluß des Gesetzgebungsverfahrens voraus. Das Inkrafttreten des Gesetzes oder des normativen Aktes ist aber nicht zu verlangen. Dies schließt eine präventive Verfassungsmäßigkeitprüfung im Wege der abstrakten Normenkontrolle grundsätzlich aus 93 . Demnach sollte auch die aufgehobene Norm prinzipiell nicht der abstrakten Normenkontrolle unterliegen, da auch hier keine Kollision bestehen kann. aa) Die Problematik des Staatsvertrags Im Gegensatz zum deutschen Verfahren formalisiert das brasilianische Parlament seine Zustimmung zum Staatsvertrag durch den Erlaß einer legislativen Verordnung (Verfassung, Art. 49 I), die keiner Ausfertigung und Verkündung durch den Bundespräsidenten bedarf. Die legislative Verordnung enthält, wie bereits angedeutet, die Zustimmung des nationalen Parlaments zum Staatsvertrag und gleichzeitig die Ermächtigung an den Bundespräsidenten, den Vertrag im Namen Brasiliens endgültig zu ratifizieren 94 . Ein innerstaatlicher Anwendungsbefehl ist daraus nicht zu entnehmen, da der Präsident der Republik über die Ratifizierung entscheiden soll; erst danach, mit der Verkündung des Staatsvertrags durch Dekret des Chefs der Exekutive, erhält der Staatsvertrag diesen Anwendungsbefehl und kann allgemein verpflichtend wirken 95 . 93 Mendes, Controle de Constitucionalidade, S. 264. 94 Rezek, J. F., Direito dos Tratados, S. 332. 95 Rezek, J. F., Direito dos Tratados, S. 383.
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C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
Dieses Modell ermöglicht die Einleitung eines abstrakten Normenkontrollverfahrens zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der legislativen Verordnung, so daß eine Ratifizierung und die Rezeption des Staatsvertrags in die innere Rechtsordnung noch verhindert werden kann. Das könnte die Konstruktion einer präventiven abstrakten Normenkontrolle hinsichtlich der Völkerrechtsverträge in der brasilianischen Verfassungsordnung entbehrlich machen. Denkbar ist auch die Möglichkeit, in dringenden Fällen gemäß Art. 102 I „p" der Verfassung eine einstweilige Anordnung vor Ratifizierung des Völkerrechtsvertrags zu erlassen 9 6 . Der Oberste Gerichtshof hat aber bei — soweit ersichtlich — einer der wenigen Möglichkeiten, die Verfassungsmäßigkeit eines völkerrechtlichen Vertrags zu überprüfen, bestimmte Regeln des Übereinkommens Nr. 110 von 1958 der Internationalen Arbeitsorganisation für unvereinbar mit der Verfassung gehalten und daher die Verfassungswidrigkeit der legislativen Verordnung Nr. 33 vom 5.8.64 und des Dekrets Nr. 58.826 vom 14.7.66 erklärt 97 . bb) Außerkraftgetretenes
Recht
Die Rechtsprechung des brasilianischen Obersten Gerichtshofs betrachtet die Einleitung des abstrakten Normenkontrollverfahrens nach der Aufhebung des Gesetzes als unzulässig98. Erfolgt jedoch die Aufhebung nach der Einleitung des Verfahrens, ist es möglich, daß das Gericht die Verfassungsmäßigkeit des beanstandeten Gesetzes dennoch überprüft, wenn sich herausstellt, daß es irgendeine Wirkung in der Vergangenheit gehabt hat. Ist das nicht der Fall, so ist das Verfahren nach der Aufhebung des Gesetzes als gegenstandslos zu betrachten 99. Damit will das Gericht vermeiden, daß es durch eine Aufhebung des Gesetzes nach der Einleitung des Verfahrens dem Gesetzgeber gelingt, eine sachliche Entscheidung zu vereiteln.
96 Über die Bedeutung der einstweiligen Anordnung im abstrakten Normenkontrollverfahren herrscht keine Klarheit bei der Rechtsprechung des Gerichts. Teilweise wird von einer Geltungsaufhebung ( suspensâo de vigência) gesprochen, teilweise von einer Wirksamkeitsaufhebung suspensâo de eficâcia) oder von einer Vollzugsaufhebung (su spensâo de execuçâo) (Representaçâo Nr. 933, Berichterstatter: Richter Thompson Flores, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 76, S. 342; Representaçâo Nr. 1391, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, S. 188 ff.) 97 Representaçâo Nr. 803, Berichterstatter: Richter Djaci Falcâo, vom 17.9.1977, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 95, S. 980 ff. 98 Representaçâo Nr. 1034, Berichterstatter: Richter Soares Munoz, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. I l l , S. 546; Representaçâo Nr. 1120, Berichterstatter: Richter Décio Miranda, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 107, S. 928 - 930; Representaçâo Nr. 1110, Berichterstatter: Richter Néri da Silveira, Diàrio da Justiça 25.3.83. 99 Representaçâo Nr. 876, Berichterstatter: Richter Bilac Pinto, Diàrio da Justiça vom 15.6.73; Representaçâo Nr. 974, Berichterstatter: Richter Cunha Peixoto, Diàrio da Justiça vom 13.11.81, S. 11.413 ; Representaçâo Nr. 1161, Berichterstatter: Richter Néri da Silveira, Diàrio da Justiça vom 26.10.84.
II. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem Supremo Tribunal Federal
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Dieses Verständnis hat sich gegen den Widerstand einiger Stimmen im Gericht durchgesetzt, die die Ansicht vertraten, daß, wenn das Gesetz nicht mehr gelte, d.h., wenn es nicht mehr existiere, keine Gründe ersichtlich seien, es noch als gültig anzusehen100. Die Haltung des Gerichts, das eine Einleitung des Verfahrens nach der Aufhebung des Gesetzes ablehnt, führt sicherlich zu unbefriedigenden Ergebnissen. Wenn dem Gericht die Prüfung außer Kraft getretener Normen verweigert wird, ist es möglich, daß der Gesetzgeber sich der Normenkontrolle durch Aufhebung eines in seiner Verfassungsmäßigkeit zweifelhaften Gesetzes entzieht, ohne zu einer Beseitigung der verfassungswidrigen Auswirkungen dieses Gesetzes gehalten zu sein. Denn selbst ein aufgehobenes Gesetz vermag für die zur Zeit seiner Geltung ergangenen Vollzugsakte Maßstab und gesetzliche Grundlage zu sein 101 . Dem könnte entgegengehalten werden, daß die Existenz eines allgemeinen Richterprüfungsrechts, das dem einzelnen ermöglicht, die Verfassungswidrigkeit eines im konkreten Fall anzuwendenden Gesetzes geltend zu machen, die abstrakte Normenkontrolle in solchen Fällen überflüssig machen würde. Es kann indes nicht mit Sicherheit behauptet werden, daß der einzelne immer eine solche inzidente Normenkontrolle veranlassen kann, weil diese stets ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt, das nicht immer besteht 102 . Zudem läßt sich der Verzicht auf die verfassungsrechtliche Überprüfung außer Kraft gesetzten Rechts schwerlich mit dem Wesen und Zweck des abstrakten Normenkontrollverfahrens vereinbaren, das vor allem auf den Schutz der Verfassung und die Schaffung von Rechtssicherheit abzielt.
f) Die Überprüfung von Rechtsverordnungen im abstrakten Normenkontrollverfahren Seit einiger Zeit lehnt der Oberste Gerichtshof es grundsätzlich ab, eine Rechtsverordnung, die zur Ausführung eines Gesetzes erlassen worden ist, auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen. Als Begründung wird geltend gemacht, daß es sich im Falle der Kollision zwischen Gesetz und Verordnung um die Frage einfacher Rechtswidrigkeit handele, die nur im konkreten Fall festgestellt werden könne 103 . Die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines normativen Akts setze eine unmittelbare Kollision mit der Verfassung voraus, die bei dem 100 Sondervotum des Richters Moreira Alves in: Representaçâo Nr. 971, Berichterstatter: Richter Djaci Falcâo, Revista Trimestral de Jurisprudência 87, S. 758 (765). ιοί Rinck, EuGRZ 1974, S. 91 (96). 102 Vgl. dazu Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 106. 103 Representaçâo Nr. 1266, Berichterstatter: Richter Carlos Madeira, in: Revista Trimestral de Jurisprudência 124, S. 18 (53); Representaçâo Nr. 1492, Berichterstatter: Richter Octavio Gallotti, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 127, S. 80 ff.
138
C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
Verhältnis Gesetz-Verordnung nicht vorliege m . Das Gericht erkennt die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsverordnung allein bei offensichtlichem Fehlen einer verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Gesetzesermächtigung (Verfassung, Art. 84 IV) als unproblematisch an 105 . Damit hat das Gericht die Möglichkeit ausgeschlossen, einen Verstoß der normsetzenden Verwaltung, der auf der Überschreitung einer Gesetzesermächtigung (Vorbehalt des Gesetzes) oder auf dem Widerspruch zu sonstigem Gesetzesrecht (Vorrang des Gesetzes) beruht, mittels abstrakter Normenkontrolle zu überprüfen. Kelsen hat bereits darauf hingewiesen, daß jeder Verstoß gegen einfaches Gesetzesrecht mittelbar ein Verstoß gegen die Verfassung sei, sofern diese ausdrücklich den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung enthalte 106 . Während die unmittelbare Verfassungswidrigkeit der Verfassung gegenüber direkt geltend gemacht werden kann, ist die mittelbare Verfassungswidrigkeit nur auf dem Umweg über die allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle feststellbar. Mit der Unterscheidung zwischen „unmittelbarer" und „mittelbarer" Verfassungswidrigkeit versucht Kelsen den praktischen Schwierigkeiten zu begegnen, die sich aus einem derart erweiterten Begriff der Verfassungswidrigkeit ergeben würden 1 0 7 . Daß die Grenze zwischen unmittelbarer und mittelbarer Verfassungswidrigkeit nicht in jedem Falle scharf zu ziehen sei, hat er ebenfalls hervorgehoben 108. Es ist Kelsen gelungen, die Schwierigkeit hinsichtlich der Überprüfung der Rechtsverordnung durch die Verfassungsgerichtsbarkeit zu überwinden, indem er die Normenkontrolle als materielle Verfassungsgerichtsbarkeit betrachtet, deren Hauptaufgabe die Kontrolle des gesamten Rechtssystems mit Wirkung inter omnes ist 1 0 9 . Der österreichische Verfassungsgesetzgeber hat mit der Einrichtung eines eigenen Verfahrens zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit von Verordnungen in Art. 139 BVG einen besonderen Weg eingeschlagen110. 104 Representaçâo Nr. 1266, Berichterstatter: Richter Carlos Madeira, in: Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 124, S. 18 (53 ff.); Representaçâo Nr. 1492, Berichterstatter: Richter Octavio Gallotti, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 127, S. 80 ff. 105 Representaçâo Nr. 1133, Berichterstatter: Richter Aldir Passarinho, Revista Trimestral de Jurisprudência 113, S. 996; Vgl. auch Votum von Richter Aldir Passarinho in: Representaçâo Nr. 1266, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 124, S. 18 (57). 106 Kelsen,Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 39. 107 wie von Ipsen (Rechtsfolgen, S. 147) bemerkt wird, war für Kelsen die Unterscheidung der Zuständigkeiten von Verfassungsgerichtsbarkeit und Verwaltungsgerichtsbarkeit der praktische Hintergrund des Problems. los Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 41. 109 Kelsen, Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 59-60; Vgl. dazu auch Ipsen, Rechtsfolgen, S. 147-148; Papier, „Spefizisches Verfassungsrecht" und „einfaches Recht" als Argumentationsformel des Bundesverfassungsgerichts, in : BVerfG und GG, Bd. I, S. 432 (441). no Vgl. dazu Adamovich / Spanner, Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts, 1971, S. 446 ff.; Melichar, Erwin, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich, in: Mosler, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart, S. 439 (465).
II. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem Supremo Tribunal Federal
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Obwohl das Grundgesetz keine ähnliche Klausel enthält, hat das Bundesverfassungsgericht von Anfang an seine Zuständigkeit zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsverordnung im abstrakten Normenkontrollverfahren als unproblematisch angesehen. Bei diesem Verfahren stellt das Gericht ausdrücklich fest, daß es als Vorfrage zu prüfen hat, ob die zu beurteilende Norm von der in Anspruch genommenen Ermächtigungsnorm gedeckt wird 1 1 1 . Nur wenn dies bejaht wird, ergibt sich die weitere Frage, ob eine Regelung der Rechtsverordnung materiell zu einem Rechtssatz des Grundgesetzes im Widerspruch steht 112 . Demgemäß erstreckt sich die verfassungsgerichtliche Prüfung einer Rechtsverordnung des Bundes im abstrakten Normenkontrollverfahren auf die Fragen, ob eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage vorhanden ist und sich die Rechtsverordnung in diesem Rahmen hält 1 1 3 . Ohne auf die Abgrenzung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Verfassungswidrigkeit einzugehen, geht die brasilianische Lehre einhellig davon aus, daß eine Verordnung, die die Gesetzesermächtigung überschritten hat, als verfassungswidrig anzusehen ist. Die Argumentation ist aber sehr differenziert. Es wird allgemein angenommen, daß die Überschreitung der Ermächtigung einen Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip enthält 114 . Es wird auch hervorgehoben, daß das Prinzip des Gesetzesvorbehalts das Erfordernis der "Notwendigkeit des Gesetzes " (necessidade da lei ) bei Begrenzung oder Einschränkung individueller Rechte festlegt 115 , so daß seine Durchbrechung durch eine Rechtsnorm von niedrigerem Range einen Verfassungsverstoß bedeutet116. Ungeachtet der Kontroverse über die Annahme einer mittelbaren Verfassungswidrigkeit ist demnach die Behauptung des brasilianischen Obersten Gerichtshofs, daß die Überschreitung der Gesetzesermächtigung prinzipiell eine Gesetzmäßigkeitsfrage darstellt, die deswegen nicht im Weg der abstrakten Normenkontrolle zu behandeln ist, eine Verkennung der Problematik. Als Element der rechtsstaatlichen Ordnung legt die brasilianische Verfassung — wie schon die abgelöste Verfassung von 1967/69 in Art. 153 Abs. 2 i.V.m. Art. 81 I I I bestimmt hatte — ausdrücklich in Art. Art. 5 I I den Grundsatz des Vorrangs und des Vorbehalts des Gesetzes fest und verlangt daher folgerichtig in Art. 84IV, daß die Verordnungsbefugnis der Exekutive ausschließlich in treuer Ausführung des Gesetzes („fiel execuçâo da lei" ) ausgeübt wird. in BVerfGE 2, 307 (321); 8, 71 (75). Ulsamer, in: Maunz u.a. Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Kommentar zu § 76, RdNr. 41. 113 Ulsamer, in: Maunz u.a., Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Kommentar zu § 76 RdNr. 41. 114 Miranda, Pontes de, Comentârios à Constituiçâo de 1967/69, Bd. III, S. 316. u 5 Das Prinzip des Vorrangs des Gesetzes, früher in Art. 153, Abs. 2 der Verfassung von 1967/69, ist heute in Art. 5 II der Verfassung von 1988 verankert. 112
116 Lima, Ruy Cime, Principios de Direito Administrativo, S. 37; Ataliba, Geraldo, Repùblica e Constituiçâo, S. 125.
140
C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
Daraus ergibt sich unmittelbar, daß selbst die Gesetzwidrigkeit einer Rechtsverordnung einen Verfassungsverstoß bedeutet, weil die Gesetzmäßigkeit der niederrangigen Norm einem Gebot des objektiven Verfassungsrechts entspricht 117 . Ein gegenteiliges Verständnis würde auch dazu führen, daß die Bindung der Verwaltung an die Verfassung leerlaufen würde, wenn sie irgendeine beliebige Verordnung erlassen könnte, die einen Eingriff in Grundrechte enthielte, ohne den Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes zu beachten118. In diesem Fall ist, wie von Papier hervorgehoben wird, die Gesetzmäßigkeit des Freiheitseingriffs Bedingung seiner Verfassungsmäßigkeit. Ein Gesetzes verstoß ist auf jeden Fall Grundrechtsverstoß 119. Das Nichtvorhandensein einer effektiven gerichtlichen Kontrolle, die die Überprüfung der Ausübung der normsetzenden Befugnis durch die Exekutive ermöglicht, kann zu einer Herabstufung der Postulate des Gesetzesvorrangs und des Gesetzes Vorbehalts führen 120 . Der Mangel an gerichtlicher Kontrolle in solchen Fällen würde auch eine Aufweichung des Gewaltenteilungsprinzips und damit die Beeinträchtigung einer Grundentscheidung des Verfassungsgebers implizieren (Verfassung, Art. 2). Schlußfolgernd ist festzustellen, daß das Beharren auf der Beibehaltung dieser früheren Rechtsprechung, die bereits während der Geltung der Verfassung von 1967/69 sehr zweifelhaft war, ernste Konsequenzen für die Erhaltung des in Art. 1 festgelegten Rechtsstaatsprinzips und für die mit ihm eng verbundenen Grundsätze des Vorrangs' und Vorbehalts des Gesetzes (Art. 5 I I i.V.m 84 IV) hat. Ferner würde die Konsolidierung eines solchen Verständnisses zur Entleerung der in Art. 5 Abs. 1 niedergelegten Bindung der Verwaltung und der Rechtsprechung an die Grundrechte führen.
117 Ataliba, Geraldo, Ο Poder Regulamentar do Executivo, in: Revista de Direito Publico Nr. 57-58, S. 197-198. us Vgl. dazu im deutschen Recht: Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. I, S. 20. 119 Papier, Hans-Jürgen, „Spezifisches Verfassungsrecht" und „einfaches Recht" als Argumentationsformel des Bundesverfassungsgerichts, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 432 (434) ι 2 0 Vgl. Mello, Ο. A. Bandeira de, Principios Gérais de Direito Administrativo, Bd. I, S. 314-316; Ataliba, Geraldo, Poder Regulamentar do Executivo, Revista de Direito Publico Nr. 57-58, S. 196; Lima, Ruy Cime, Principios de Direito Administrativo, S. 37; Miranda, Pontes de, Comentârios à Constituiçâo de 1967, com a Emenda Nr. 1, von 1969, Bd. III, S. 312-314; Über diese Frage im deutschen Recht Vgl. Stern, Staatsrecht, I, S. 85-87.
II. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem Supremo Tribunal Federal
141
4. Prüfungsmaßstab a) Vorbemerkung Gemäß Art. 102 I (a) der brasilianischen Verfassung ist Prüfungsmaßstab der abstrakten Normenkontrolle nur die Verfassung selbst. Die ständigen Änderungen oder Aufhebungen der Verfassung haben den Obersten Gerichtshof dazu veranlaßt, die abstrakte Normenkontrolle mit der Absicht, die Verfassungsmäßigkeitsprüfung eines Gesetzes am Maßstab einer inzwischen revidierten Verfassungsnorm festzustellen, als unzulässig zu erklären 121 . Als spezielles Instrument zum Schutz der Rechtsordnung sei das abstrakte Normenkontrollverfahren nicht dazu geeignet, die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes am Maßstab einer aufgehobenen Verfassungsnorm zu überprüfen. Diese Normenkontrolle sei nur inzident im konkreten Fall möglich, wenn sie sich als notwendig erweise. Folgerichtig wird auch die Möglichkeit einer Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes verneint, wenn der Prüfungsmaßstab durch Verfassungsänderung nach der Einleitung des Verfahrens aufgehoben wird 1 2 2 . Der einzige dogmatisch relevante Unterschied zwischen den beiden Situationen bezieht sich auf die Form der Beendigung des Verfahrens: (a) im Falle des Antrags zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes an einer Verfassungsnorm, die bereits revidiert worden ist, verwirft das Gericht den Antrag als unzulässig 123 ; (b) im Falle der Aufhebung des Prüfungsmaßstabs durch Verfassungsänderung nach Einleitung des Verfahrens betrachtet das Gericht das Verfahren als erledigt 1 2 4 . b) Die Verfassung Der Begriff Verfassung umfaßt hier alle in die Verfassungsurkunde aufgenommenen Rechtssätze, unabhängig von ihrem materiell- oder formalrechtlichen Charakter. Er impliziert auch die sogenannten materiellen Verfassungsprinzipien, die nicht ausdrücklich in der Verfassungsurkunde geregelt sind 1 2 5 . 121
Representaçâo Nr. 1016, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência 95, S. 993. 122 Representaçâo Nr. 765, Berichterstatter: Richter Soares Munoz, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 98, S. 962; 123 Representaçâo Nr. 1016, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 95, S. 993. 124 Representaçâo Nr. 765, Berichterstatter: Richter Soares Munoz, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 98, S. 962. 125 Ferreira Filho, Manoel Gonçalves, Curso de Direito Constitucional, S. 11-12; Bonavides, Paulo, Direito Constitucional, S. 57-58;
142
C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
So hat das Gericht mehrmals das Verhältnismäßigkeitsprinzip (principio da razoabilidade) in Verbindung mit den Einschränkungen bestimmter Grundrechte wie Arbeitsfreiheit 126 , Eigentum 127 und das Recht auf gerichtliches Gehör 128 angewendet. Es ist aber noch nicht geklärt, ob das Gericht das Verhältnismäßigkeitsprinzip als immanenten Grundsatz der Grundrechte betrachtet, es vom Gesetzesvorbehalt oder auch vom Rechtsstaatsprinzip her ableitet 129 , weiterhin, ob es ihm durch die in Art. 5 Abs. 2 der Verfassung enthaltene Verweisungsnorm Geltung verschaffen will (Verfassung von 1967/69, Art. 153 Abs. 36). Art. 5 Abs. 2 der Verfassung enthält eine Klausel, wonach die Rechte und Garantien, die in der Verfassung gewährleistet werden, andere nicht ausschließen, die aus dem System und den Prinzipien, die für sie bestimmend sind, sowie aus den völkerrechtlichen Verträgen, an denen Brasilien beteiligt ist, erwachsen (Art. 5 Abs. 2). Diese Bestimmung, die zum Teil eine traditionelle Vorschrift des brasilianischen Verfassungsrechts wiederholt 130 , beinhaltet etwas Neues, indem sie auch die aufgrund von völkerrechtlichen Verträgen gewährleisteten Rechte einbezieht. Nach der herrschenden Meinung hat der völkerrechtliche Vertrag wegen des Vollzugs- oder Transformationsakts allerdings lediglich den Rang eines Bundesgesetzes131. Deswegen kommen die Völkerrechtsverträge als Prüfungsmaßstab im abstrakten Normenkontrollverfahren nicht in Betracht. Fraglich ist, ob die offene Klausel des Art. 5 Abs. 2 der Verfassung als Verweisungsnorm auch den überpositiven Grundsätzen Eingang in die Rechtsordnung gewährleistet. Allerdings macht der Umfang des Grundrechtekatalogs es schwierig, sich ein Grundrecht vorzustellen, das durch diese Verweisungsnorm zusätzlich in die Verfassung aufgenommen werden könnte. Zahlreiche Stimmen in der Lehre vertreten die Auffassung, daß der Grundrechtekatalog nicht alle überstaatlichen Grundrechte umfaßt wie z.B. das Widerstandsrecht, so daß diese Inkorpora126 Representaçâo Nr. 930, vom 10.3.1976, Berichterstatter: Richter Alckmin, Diario da Justiça 2.9.1977; Representaçâo Nr. 1054, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 110, S. 937-978. 127 Recurso Extraordinàrio Nr. 18.331, vom 21.9.1951, Berichterstatter: Richter Orozimbo Nonato, in: Revista Forense Nr. 150, S. 164-169. 128 Representaçâo Nr. 1077, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 112, S. 34-66. 129 Vgl. dazu Mendes, Controle de Constitucionalidade, S. 54. 130 Bereits die erste republikanische Verfassung von 1891 hat in Anlehnung an den Zusatzartikel DC der amerikanischen Verfassung festgelegt: „Die Enumeration der Garantien und Rechte, in der Verfassung ausgedrückt, schließt andere nicht-enumerierte Garantien und Rechte nicht aus, die aus der Regierungsform und den Prinzipien resultieren" (Art. 78). 131 Recurso Extraordinàrio Nr. 71.154, Berichterstatter: Richter Oswaldo Trigueiro, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 58, S. 70 ff; Recurso Extraordinàrio Nr. 80.004, Berichterstatter: Richter Cunha Peixoto, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 83, S. 809 ff.; Vgl. dazu auch Rezek, J. F., Direito dos Tratados, Rio de Janeiro, 1984, S. 464.
II. Zulässigkeitsvoraussetzungen vor dem Supremo Tribunal Federal
143
tionsklausel die Anerkennung solcher Rechte auch durch die brasilianische Verfassungsordnung gewährleisten könnte 132 . Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs bietet keine eindeutige Konzeption hinsichtlich der Bedeutung dieser Klausel an. Am 21.2.1968 hat das Gericht eine Norm des Sicherheitsgesetzes für nichtig erklärt, weil sie den Angeklagten im Falle der sogenannten „ Verbrechen gegen die Nationale Sicherheit " während des Strafverfahrens die Ausübung jeden Berufs oder jeder privaten Tätigkeit verbietet. Das Gericht hat die Verfassungswidrigkeit wegen der besonderen Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme, die sogar die Wirkungen eventueller Bestrafung überschreiten würde, festgestellt, sich dabei stützend auf das Recht auf Leben in Verbindung mit der oben genannten Verweisungsnorm 133. In einer anderen Entscheidung vom 17.11.1976 hat der Supremo Tribunal Federal ein Urteil des Wahlgerichtshofes aufgehoben, in dem aufgrund dieser Klausel die Verfassungswidrigkeit einer Regel des Wahlgesetzes angenommen wurde, die die Unwählbarkeit jedes strafrechtlich Angeklagten festlegte 134. Ein Bundesgesetz hatte bestimmt, daß Bürger, gegen die strafrechtlich Anklage erhoben worden ist, nicht wählbar sein sollten 135 . Der Wahlgerichtshof hat in einem konkreten Fall die Verfassungswidrigkeit dieser Vorschrift angenommen, da sie mit dem Prinzip der Unschuldsvermutung unvereinbar sei. Dieses habe als Ausdruck eines universellen Rechtsprinzips aufgrund der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO vom 10.12.1948 durch die Klausel des Art. 153 Abs. 36 der abgelösten Verfassung Eingang in die brasilianische Ordnung zu finden. Der Oberste Gerichtshof hat sich diesem Verständnis nicht angeschlossen und mit absoluter Mehrheit das Urteil aufgehoben, ohne jedoch zu bestreiten, daß das Prinzip der Unschuldsvermutung Anwendung in der brasilianischen Ordnung finden könnte. Es wäre aber in bestimmten Fällen legitim, die Einschränkung des Rechts eines Bürgers gesetzlich vorzunehmen, selbst wenn noch keine gerichtliche Entscheidung über seine definitive Schuld vorläge 136 . Gemäß Art. 60 Abs. 4 der brasilianischen Verfassung ist jede Verfassungsänderung mit dem Ziel, den föderativen Staat, die Unmittelbarkeit, die Allgemeinheit und die Periodizität der Wahl, die Systematik der Gewaltenteilung und die Grund132 Miranda, Pontes de, Comentârios à Constituiçâo de 1967 com a Emenda η 2 1 de 1969, Bd. IV, S. 625-626; Richter Leitâo de Abreu, Sondervotum in: Recurso Extraordinàrio Nr.86.297, in: Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 79, S. 695; Richter Xavier de Albuquerque, Sondervotum, in: Recurso Extraordinàrio Nr. 86.297, in: Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 79, S. 710. 133 Habeas Corpus Nr. 45.232, Berichterstatter: Richter Themistocles Cavalcanti, Revista Trimestral de Jurisprudência, Nr. 44, S. 322 ff. 134 Recurso Extraordinàrio Nr. 86.297, Berichterstatter: Richter Thompson Flores, RTJ Nr. 79, S. 671. 135 Lei Complementar Nr. 5, von 1970, Art. 1, I n. 136 Recurso Extraordinàrio Nr. 86. 297, Berichterstatter: Richter Thompson Flores, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 79, S. 671 (683 ff.).
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C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle
rechte abzuschaffen, unzulässig. Ihr ist aber nicht zu entnehmen, daß die Verfassungsordnung eine Stufenfolge von Verfassungsnormen voraussetzt. Im Gegenteil lehnt der Oberste Gerichtshof die Annahme einer Stufenfolge zwischen Verfassungsnormen ausdrücklich ab 137 .
c) Bundesrecht Anders als im deutschen Recht ist das Bundesrecht im abstrakten Normenkontrollverfahren nicht unmittelbar als Prüfungsmaßstab heranzuziehen. Das Bundesrecht spielt zunächst aber eine Rolle gemäß Art. 24 der Verfassung von 1988 bei der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Landesrecht im Falle konkurrierender Gesetzgebungskompetenz, wenn der Bund von seiner Kompetenz Gebrauch gemacht hat (Verfassung von 1967/1969, Art. 8 X V I I ) 1 3 8 . Auch im Falle einer Kollision zwischen Landesrecht und dem sogenannten Komplementärgesetz des Bundes (Lei Complementar), einer Art von besonderem Rahmengesetz, hat der Oberste Gerichtshof festgestellt, daß eine Verfassungswidrigkeit vorliegt 139 . In beiden Fällen wird eine kompetenzmäßige Sperre des Bundesverfassungsrechts angenommen, so daß ein Landesgesetz, das diesen Rahmen nicht wahrt, als nichtig anzusehen ist 1 4 0 . In diesen Fällen handelt es sich allein um die Feststellung der Verfassungswidrigkeit wegen Nichtbeachtung der Kompetenzordnung der Verfassung.
137 Recurso Extraordinàrio Nr. 105.012, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diario da Justiça vom 1.7.88. 138 Vgl. dazu Representaçâo Nr. 1442, Berichterstatter: Carlos Madeira, Diàrio da Justiça vom 1.7.88. 139 Representaçâo Nr. 1141, Berichterstatter Décio Miranda, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 105, S.490; Representaçâo Nr. 1442, Berichterstatter: Carlos Madeira, Diàrio da Justiça vom 1.7.88. 140 Representaçâo Nr. 1141, Berichterstatter Décio Miranda, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 105, S. 490.
D. Die Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Supremo Tribunal Federal I. Einführung Das BVerfGG enthält keine ausführliche Regelung über die Entscheidung in Normenkontrollverfahren. Dies hat aber das Bundesverfassungsgericht nicht daran gehindert, in seiner Rechtsprechung eine Fülle von Entscheidungsvarianten zu entwickeln. Die Geschäftsordnung des brasilianischen Obersten Gerichtshofs enthält ebenfalls keine besondere Bestimmung über die Entscheidungsaussprüche im abstrakten Normenkontrollverfahren. Art. 173 der Geschäftsordung bestimmt allein, daß das Gericht mit den Stimmen von mindestens sechs der elf Richter die Verfassungswidrigkeit oder die Verfassungsmäßigkeit des beanstandeten Gesetzes auszusprechen hat.
II. Die Entscheidungen bei abstrakter Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht 1. Einleitung Das BVerfGG regelt die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gesondert für jede der Verfahrensarten. Die Entscheidung ist aber nicht durch die jeweilige Verfahrensart, sondern durch das Entscheidungsziel bestimmt. In Verfahren, die über die Verfassungsmäßigkeit einer Norm befinden, ist die Entscheidung gleich, unabhängig davon, ob sie in einem abstrakten oder einem konkreten Normenkontrollverfahren oder im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde ergeht. Die Normenkontrollentscheidungen werden gemäß §31 Abs. 2 BVerfGG im Bundesgesetzblatt veröffentlicht und erlangen allgemein verbindliche Wirkung oder „Gesetzeskraft". Über die von Anfang an in § 78 BVerfGG vorgesehene Nichtigerklärung und die schon früh aufgegriffene Möglichkeit verfassungskonformer Auslegung 1 hinaus hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Praxis bestimmte Entscheidungsvarianten entwickelt. Nicht selten kommt es zu dem Ergebnis, daß das Gesetz oder die Rechtslage „noch" nicht verfassungswidrig ist, und verbindet diese Entscheidung mit dem Appell an den Gesetzgeber, diesen ι BVerfGE 2, 266 (282). 10 Mendes
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D. Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
„noch verfassungsmäßigen" Zustand — eventuell innerhalb eines bestimmten Zeitraums — zu ändern 2. In anderen Fällen beschränkt sich das Gericht auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit, ohne die Nichtigkeit auszusprechen3. Diese Art der Entscheidung ist im Jahre 1970 vom Gesetzgeber selbst in das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht aufgenommen worden — BVerfGG, §§ 31 Abs. 2 S. 2 und 3 und 79 Abs. I 4 . In keinem anderen System von Normenkontrolle, unabhängig davon, ob es sich um ein allgemein inzidentes Richterprüfungsrechtsmodell oder um ein Modell handelt, das die Befugnis der Normenkontrolle allein einem besonderen Verfassungsgericht zuweist, läßt sich ein so vielfältiges Instrumentarium feststellen 5 . Die Probleme, die die Unvereinbarkeitserklärung und die Appellentscheidungen bewältigen sollen, sind teilweise seit langem in der juristischen Literatur 2 Vgl. BVerfGE 7, 282; 16, 130; 21 12 (42); 25, 167; Vgl. u.a. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 132; Zeidler, W., EuGRZ, 1988, S. 207 (210 ff.); Pestalozzi „Noch verfassungsmäßige", Bd. I, S. 520 (540); Schulte, DVB1. 1988, S. 1200 ff. 3 Vgl etwa. BVerfGE 6, 246; 26, 163; 28, 227; 28, 324; 29, 58; 29, 71; 30, 227; 30, 292; 31, 1; 31, 229; 31, 275; 32, 173; 32, 199; 32, 365; 33, 90; 33, 106; 38, 2; 38, 41; 38, 61;45, 104; 45, 376; 46, 97; 48, 64; 48, 227; 48, 327; 55, 100 (112); 61, 43 (68); 65, 325 (357). 4 4. Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das BVerfG vom 21.12.1970 (BGBl. I, S. 1765). 5 Das amerikanische Modell der inzidenten Prüfung, das starken Einfluß auf die Verfassungen der südamerikanischen Länder ausgeübt hat, läßt sich im Prinzip nicht mit solchen Varianten vereinbaren. Jedoch zeichnet sich auch in den Vereinigten Staaten in jüngster Zeit in der Rechtsprechung der unteren Gerichte eine Tendenz ab, nicht mehr nur Maßnahmen der Legislative oder Exekutive aufzuheben, sondern diesen auch positive Pflichten aufzuerlegen. Kommen gesetzgebende Körperschaften oder Verwaltungsbehörden den gerichtlichen Anordnungen nicht nach, so übernehmen häufig die Gerichte selbst die Entscheidungsgewalt. Diese Rechtsprechung, die als eine der interessantesten Entwicklungen im Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten während der letzten Jahre bezeichnet werden darf, begann praktisch mit der Durchsetzung der Rassenintegration an den Schulen im Gefolge von Brown v. Board of Education (347 US 483 (1954) und 349 US 294 (1955) und setzt sich fort in anderen Entscheidungen, die organisatorische Reformen in Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten verlangen oder verfügen (Vgl. Bounds et al. ν. Smith et al., 430 US 817; auszugsweise wiedergegeben in EuGRZ 1977, S. 509 ff.) (Vgl. dazu Seibert, EuGRZ, 1978, S. 386 (386). Die Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit in verschiedenen europäischen Ländern weist keine solche Entwicklung auf. Bei dem österreichischen Modell kann der Verfassungsgerichtshof in einem beträchtlichen Umfang über die Folgewirkungen seiner Erkenntnisse disponieren. Er kann sowohl aussprechen, daß das Gesetz auch auf andere (noch nicht rechtskräftig abgeschlossene) Verfahren nicht mehr anzuwenden ist (B-VG, Art. 140 Abs. 7, 2. Halbsatz) oder aber auch eine Frist von bis zu einem Jahr setzen (B-VG, Art. 140 Abs. 5), wodurch bewirkt wird, daß das Gesetz mit Ausnahme des Anlaßfalles auf alle bis zum Ablauf der Frist verwirklichten Tatbestände anzuwenden ist (B-VG Art. 140 Abs. 7, letzter Satz). Diese Dispositionsmöglichkeit der Folgewirkungen wird von wichtigen Stimmen in der Lehre als Grund für die Entbehrlichkeit der Entwicklung anderer Entscheidungsvarianten bezeichnet (Vgl. Korinek, Verfassungsgerichtsbarkeit, VVDStRL, 39 (1981), S. 7 (38/39); Oberndorfer, EuGRZ, 1988, S. 193 (203).
II. Entscheidungen vor dem Bundesverfassungsgericht
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erkannt worden. In der deutschen Rechtsliteratur am Anfang dieses Jahrhunderts kann mindestens eine Tendenz oder, wenn man so will, eine bestimmte Geneigtheit in diesem Sinne festgestellt werden. So vertrat Triepel in dem berühmten Referat über Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit die Auffassung, daß, je politischer die Angelegenheiten seien, die der Verfassungsgerichtsbarkeit unterstellt wurden, desto ungeeigneter eine als ordentlicher Prozeß ausgestaltete Verfahrensart für sie sei 6 . „Je weniger im Verfahren von Klage (. ..) und Verurteilung, von Kassation staatlicher Akte die Rede ist, " — legte er dar — „ um so leichter lassen sich politische Fragen, die zugleich Rechtsfragen sind, in justizförmiger Weise erledigen" 7. Fast gleichzeitig versuchte Walter Jellinek, den Normgehalt des Art. 13 Abs. 2 der Weimarer Verfassung einzuschränken, indem er die Auffassung vertrat, das Reichsgericht habe nur dann im Sinne dieser Vorschrift zu entscheiden, wenn die Nichtigkeitserklärung des Landesgesetzes imstande sei, den Streitfall zu erledigen 8. Das wäre der Fall, wenn an Stelle des für ungültig erklärten Landesgesetzes eine eindeutige Rechtsnorm träte, nicht aber dann, wenn eine Lücke entstehen würde, die erst wieder durch einen Akt der Landesgesetzgebung ausgefüllt werden müßte. So dürfte nach seiner Ansicht das Reichsgericht ein dem Grundsatz der Verhältniswahl nach Art. 17 widersprechendes Landes Wahlgesetz nicht für ungültig erklären, denn „die Folge wäre ein Chaos, das Land würde überhaupt kein Wahlgesetz haben" 9. Dies zeigt, daß mindestens gewisse Besorgnisse bezüglich der Gefahr einer einfachen Übernahme der allgemeinen prozessualen Entscheidungspraxis in die Verfassungsgerichtsbarkeit am Anfang dieses Jahrhunderts bereits vorhanden waren. 2. Die Nichtigerklärung verfassungswidriger Normen a) Vorbemerkung Kommt das Bundesverfassungsgericht in einer der dafür vorgesehenen Verfahrensarten (abstrakte oder konkrete Normenkontrolle und Verfassungsbeschwerde) zu der Überzeugung, daß Bundesrecht oder Landesrecht mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, so erklärt es gemäß § 78 S. 1 BVerfGG das Gesetz für nichtig (S. auch § 82 Abs. 1,95 Abs. 3 BVerfGG). Die Verwerfungsformel lautet normalerweise, das Gesetz ist „ verfassungswidrig und daher nichtig " 10. Damit wird 6 Triepel, Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 26. 7 Triepel, Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 26. 8 Jellinek, W., Verfassung und Verwaltung des Reichs und der Länder, S. 27; Vgl. auch Flad, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 38. 9 Jellinek, W., Verfassung und Verwaltung des Reichs und der Länder, S. 27. 10 Vgl. BVerfGE 3, 19; BVerfGE 40,37 (40); 61, 149 (151); 65, 1 (3). 1*
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D. Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
ein Tatbestand — die Verfassungswidrigkeit — mit der Rechtsfolge — Nichtigkeit — unmittelbar verknüpft 11 . Das verfassungswidrige Gesetz ist ohne weitere gestaltende Akte als nichtig anzusehen (ipso jure) 12. Die traditionelle deutsche Auffassung geht davon aus, daß ein verfassungswidriges Gesetz von Anfang an nichtig ist (ex tunc) n. Obwohl dieses Verständnis eindeutigen Ausdruck weder im Grundgesetz noch im BVerfGG gefunden hat, wird von der herrschenden Lehre, gestützt auf das Prinzip des Verfassungsvorrangs, dem Grundsatz der Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze Verfassungsrang zuerkannt (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3, 79 Abs. 1 S. 1; 79 Abs. 3, 100 Abs. 1; 123 Abs. 1 GG) 1 4 . Diese Auffassung ist seit jüngerer Zeit zunehmenden Angriffen ausgesetzt, vor allem mit der Begründung, daß die in Art. 100 Abs. 1 GG vorgesehene Vorlagepflicht zum Ausdruck bringe, daß verfassungswidrige Gesetze nicht ipso jure nichtig seien. Der Richter könne nicht bei Nichtigkeit vorläufig noch an das Gesetz gebunden bzw. zur Vorlage verpflichtet sein 15 . Obwohl anzuerkennen ist, daß das Dogma der Nichtigkeit von verfassungswidrigen Normen rechtslogisch nicht zwingend ist, wie aus der österreichischen Rechtslehre und Praxis entnommen werden kann 16 , ist nicht zu verkennen, daß Art. 100 Abs. 1 GG die Unterscheidung zwischen gültigen und ungültigen Gesetzen und damit als Rechtsfolge deren Ungültigkeit voraussetzt und bestimmt 17 . Die Vorlagepflicht ist nicht auf die Geltung des verfassungswidrigen Gesetzes zurückzuführen. Diese Pflicht n Gusy, Gesetzgeber, S. 183. ι 2 Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 161; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 160 ff.; Stern, Staatsrecht, II, S. 1039; Ulsamer, in: Maunz u.a., BVerfGG, §78 RdNr. 14; Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. II, S. 169; Birk, D., BayVBl. 1981, S. 673; Sachs, DÖV 1982, S. 23 ff. 13 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 24; Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 93, RdNr. 34; Stern, Staatsrecht II, S. 1039. 14 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 159-160 ff., 173; Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 271; Derselbe, Staatsrecht, II, S. 1039; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 162; Arndt, NJW, 1957, S. 363; Ders., NJW 1959, S. 82; Ders., DÖV 1959, S. 81 (83); Bachof, AöR, Bd. 87, S. 1 (33); Geiger, BVerfGG, § 78 Anm. 4; Brinckmann, DÖV 1970, S. 406 ff.; Hesse, Grundzüge, RdNr. 688; Maurer, ZRP, 1969, 102 ff.; (482) Ipsen, Rechtsfolgen, S. .159 ff.; Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 78 RdNr. 14; Birk, BayVBl. 1981, S. 673; Sachs, DÖV 1982, S. 23 ff. 15 Götz, NJW 1960, S. 1177 ff.; Hoffmann, G. JZ 1961 S. 193 ff.; Böckenförde, Die sogenannte Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze, S. 41; Söhn, Anwendungspflicht, S. 14; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 123; Schneider, Funktion der Normenkontrolle, S. 47, 105 ff. 16 Gemäß Art. 140 Abs. 5 des Österreichischen Bundesverfassungsgesetzes ist die Erkenntnis, daß ein Gesetz verfassungswidrig ist, nicht mit einer Nichtigerklärung gleichzusetzen. Das Gesetz wird nur mit der Kundmachung der Entscheidung (ex nunc) aufgehoben, wenn der Verfassungsgerichtshof für das Außerkrafttreten nicht eine Frist bestimmt hat (Vgl. auch Oberndorfer, EuGRZ, 1988, S. 193 (199 ff.). 17 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 168; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 163; Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 273.
II. Entscheidungen vor dem Bundesverfassungsgericht
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ist allein eine Folge des in Art. 100 Abs. 1 GG festgelegten Verwerfungsmonopols des Bundesverfassungsgerichts und setzt ausdrücklich voraus, daß der Richter oder das Gericht das verfassungswidrige Gesetz nicht anwenden darf. Gerade das österreichische Modell zeigt, daß die Geltung verfassungswidrigen Rechts eine „normative Alternative" voraussetzt (Art. 140 Abs. 5 und 7 B-VG) 1 8 , die die deutsche Verfassungsordnung nicht kennt 19 . Die logische Konsequenz aus der Nichtigerklärung ex tunc verfassungswidriger Normen müßte sein, daß alle zwischenzeitlich auf der Grundlage dieser Norm vollzogenen Akte beseitigt würden 20 . Diese Totalbereinigung wird jedoch weder in den Systemen, die wie das deutsche eine besondere Regelung über die Rechtsfolgen festgelegt haben, noch in denen, die die allgemeine Präklusionsformel 21 anwenden, verwirklicht. § 79 BVerfGG enthält Klauseln, die über die Rechtsfolge der Nichtigerklärung ausdrücklich bestimmen.Gegen ein rechtskräftiges Strafurteil, das auf einem nachträglich für nichtig oder unvereinbar erklärten Gesetz beruht, ist gemäß § 79 Abs. 1 BVerfGG die Wiederaufnahme des Verfahrens zulässig. Im übrigen bleiben gemäß § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG die Entscheidungen, die nicht mehr anfechtbar sind und gegen die keine Verfassungsbeschwerde erhoben wurde, unberührt, es sei denn, ein besonderes Gesetz lege eine abweichende Regelung fest. Gemäß § 79 Abs. 2 S. 2 und 3 BVerfGG ist die Vollstrekkung einer solchen Entscheidung unzulässig, und die Urteilsvollstreckung kann nach § 767 ZPO abgewehrt werden. Dagegen sind gemäß § 79 Abs. 2 S. 4 BVerfGG alle Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung ausdrücklich ausgeschlossen 2 2 . Eine Reaktion des Gesetzgebers auf die Nichtigerklärung ist prinzipiell weder zu erwarten noch zu verlangen 23. is Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl. 1934, S. 85; S. auch Ipsen, Rechtsfolgen, S. 55 ff., 160, 171, 259; Oberndorfer, EuGRZ 1988, S. 193 (199). 19 Vgl. dazu Ipsen, Rechtsfolgen, S. 171 ff., 259; Derselbe, JZ 1983, S. 41 (43). 20 Vgl. dazu Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 166; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 175. 2 1 So stellt Zagrebelsky hinsichtlich des italienischen Systems fest, daß sowohl der Ablauf von Verjährungs- oder Ausschlußfrist als auch die Rechtskraft Grenzen zur Rückwirkung der Verfassungswidrigerklärung setzen (La Giustizia costituzionale, S. 172-172). Das Problem der Rückwirkung hängt mit der Anfechtbarkeit der Einzelakte zusammen und ist nach seiner Auffassung nicht verfassungsrechtlicher Natur. Der Umfang der Rückwirkung wird daher durch gesetzliche Bestimmungen festgelegt. So läßt sich erklären, warum der italienische Gesetzgeber der Rückwirkung der Verfassungswidrigerklärung dem Strafurteil gegenüber eine breitere Bedeutung beigemessen haben könnte, so daß einem auf verfassungswidriges Gesetz gestützten Strafurteil gemäß Art. 30 des Gesetzes Nr. 87 von 1953 keine Rechtswirkung zuerkannt wird (Zagrebelsky, a. a. O., S. 174). 22 Vgl. dazu Steiner, Wirkungen der Entscheidungen des BVerfG auf rechtskräftige und unanfechtbare Entscheidungen, in: BVerfGG und GG, Bd. I, S. 628 ff.; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 176; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 166; Ipsen, Rechtfolgen, S. 266 ff.
1 5 0 D .
Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
b) Die Nichtigerklärung von Gesetzen Je nachdem, welche Normen, Normenteile und Normenfelder von der Nichtigerklärung betroffen werden, lassen sich mehrere Varianten der Nichtigerklärung unterscheiden 24: — die Nichtigerklärung eines Gesetzes als gesetzgebungstechnische Einheit; — die Gesamtnichtigerklärung; — die Erstreckung der Nichtigerklärung nach § 78 S. 2 BVerfGG; — die Teilnichtigerklärung. aa) Die Nichtigerklärung
eines Gesetzes als gesetzgebungstechnische Einheit
Die Nichtigerklärung eines ganzen Gesetzes kommt in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur selten vor, da sie voraussetzt, daß die gesamten Vorschriften mit dem Grundgesetz unvereinbar sind 25 . Normalerweise ergibt sich eine solche Konstellation aus dem Fehlen der gesetzgeberischen Kompetenz oder aus anderen formalen Mängeln wie z.B. der fehlenden Zustimmung des Bundesrates 26. bb) Die Gesamtnichtigerklärung Eine andere Konstellation, die im Ergebnis Ähnlichkeiten mit den oben behandelten Fällen aufweist, stellt die Gesamtnichtigkeitserklärung des Gesetzes wegen Abhängigkeit zwischen den verfassungsmäßigen und verfassungswidrigen Gesetzesteilen dar 27 . Diese kann objektiv als Gesamtnichtigkeit wegen einseitiger Abhängigkeit bezeichnet werden, wenn das Gericht feststellt, daß ein Teil des Gesetzes verfassungswidrig ist und die rechtmäßigen Vorschriften als „unselbständig" charakterisiert (Gesamtnichtigkeit wegen einseitiger Abhängigkeit) 2S. 23 Gusy, Gesetzgeber, S. 183. Maurer (Zur Verfassungswidrigerklärung, S. 347) hebt aber hervor, daß selbst im Falle einer Nichtigerklärung der Gesetzgeber tätig werden muß, um die für nichtig erklärte Vorschrift durch eine neue, verfassungsmäßige Regelung zu ersetzen. 24 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 97-98; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 173; Gusy, Gesetzgeber, S. 184-188. 25 Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 173; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 98; Gusy, Gesetzgeber, S. 184; Ulsamer, in: Maunz u.a., BVerfGG, § 78 RdNr. 23. 2 6 BVerfGE 1,14, (34); 8, 104 (105); 48, 127 (130). 27 Skouris, Teilnichtigkeit, S. 33-35; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 173174; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 99. 28 BVerfGE 2, 380 (406); 5, 25 (34); 8, 71 (79); 15, 1 (25); BVerfGE 20, 238; 26, 198 (212); 26, 246 (258); 32, 157 (167); 47, 253 (284); 48, 127 (177); 53, 1 (23 ff.); 55,159 (171); 61,149 (201); 65,325 (358); 74,33 (43); Vgl. dazu Skouris, Teilnichtigkeit,
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Gesamtnichtigerklärung kommt ferner dann in Betracht, wenn die verfassungswidrige Vorschrift Teil einer Gesamtregelung ist, die ihren Sinn und ihre Rechtfertigung verlieren würde, falls man einen ihrer Bestandteile herausnehmen würde. Diese sogenannte Gesamtnichtigkeit wegen wechselseitiger Abhängigkeit — solche Fälle sind weniger zahlreich — betrifft eine untrennbare Einheit, die nicht in ihre Bestandteile zerlegt werden kann 29 . Die teilweise Aufrechterhaltung eines im übrigen verfassungswidrigen Gesetzes würde hier dazu führen, daß „die innere Ausgewogenheit des Systems " so gestört würde, daß geradezu von einer Verfälschung der gesamten gesetzgeberischen Idee gesprochen werden müßte 30 . cc) Die Er Streckung der Nichtigerklärung
gern. § 78 S. 2 BVerfGG
Die oben genannte Gesamtnichtigerklärung ist nicht mit der Erstreckung des Streitgegenstands nach § 78 S. 2 BVerfGG zu verwechseln. Während sich die Gesamtnichtigerklärung auf Gesetzesbestandteile bezieht, die wegen ihres Zusammenhangs mit der nichtigen Norm zwar Streitgegenstand, nicht aber verfassungswidrig sind, geht es bei der Erstreckung des Streitgegenstandes um Normen, die nicht Streitgegenstand, dafür aber verfassungswidrig sind 31 . Die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts nach § 78 S. 2 BVerfGG soll dem Gericht ermöglichen, unter Umständen auch andere Normen als die unmittelbar im Antrag beanstandete für nichtig zu erklären, wenn sie aus denselben Gründen mit dem Grundgesetz unvereinbar sind 32 . § 78 S. 2 BVerfGG ermöglicht auch die Nichtigkeitserklärung verschiedener Fassungen von Gesetzen, obwohl Streitgegenstand nur die zum Zeitpunkt der Entscheidung geltende Fassung war 33 . dd) Die „quantitative Teilnichtigerklärung
"
Das Bundesverfassungsgericht praktiziert regelmäßig die Teilnichtigerklärung, denn die Nichtigkeit einer oder mehrerer Bestimmungen eines Gesetzes bewirkt grundsätzlich nicht die Nichtigkeit des ganzen Gesetzes34. Die Teilnichtigerklärung bedeutet aber einen Eingriff in eine vom Gesetzgeber als Ganzes gedachte S. 32; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 101 ff.; Ulsamer, in: Maunz u.a., BVerfGG, §78, RdNr. 24; Leibholz-Rupprecht, BVerfGG, Anm. 6 zu § 78. 29 BVerfGE 8, 274 (300); 9, 305 (333); 10, 200 (220); 21, 117 (125); 32, 157 (167); 47, 253 (284); 48, 127 (177); 61, 149 (207); Vgl. dazu Skouris, Teilnichtigkeit, S. 3536. 30 BVerfGE 10, 200 (220); 48, 127 (177); 61, 149 (206). 31 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 103; Stem, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 297. 32 BVerfGE 21, 292 (305); 29, 1 (lOff.); 63, 181 (196); Vgl. auch Ulsamer, in: Maunz u.a., BVerfGG, § 78 RdNr. 25; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 174. 33 BVerfGE 14, 174 (175); 14, 254 (255); 19, 206 (225 f.); 28, 324 (363); 61, 291 (306); 65, 237 (243); 67, 186 (198); 67, 256 (273). 34 BVerfGE 8, 51 (52); 12, 296; 65, 325 (358).
1 5 2 D .
Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
Regelung35. Daraus ergibt sich die besondere Problematik dieser Entscheidungsform. Daher ist nicht nur zu berücksichtigen, ob sich der unmittelbar nichtigkeitsbedrohte Teil vom restlichen abtrennen läßt, ohne daß diesem gleichzeitig die Normqualität abzusprechen wäre 36 , sondern auch, ob dieses Gesetz, das nun lückenhaft wird, in dieser Gestalt anwendbar ist 37 . In Bezug auf den partiell ungültigen Akt spielen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Wille des Erklärungsurhebers (Gesetz-, Verordnungs-, Satzungsgeber) und nicht zuletzt das Prinzip der Gewaltenteilung eine wichtige Rolle 38 . Dieser Wille des Gesetzgebers läßt sich nicht einfach feststellen, und es ist schwierig nachzuweisen, welche Normen er ohne die beanstandete Regelung erlassen hätte 39 . Wenn keine konkreten Vorstellungen des Gesetzgebers zur Verfügung stehen, stellt das Gericht in Anlehnung an die bürgerlichrechtliche Formel auf den hypothetischen Willen ab. Der hypothetische Parteiwille im Zivilrecht wird aber mit Hilfe von Treu und Glauben unter Beachtung der Verkehrssitte (§§ 133, 157, 242 BGB) ermittelt 40 . Solche Grundsätze haben indes keine Aussagekraft bei der Bestimmung der teilnichtigen Rechtssätze41. Ohne Zweifel sind aber die Normzwecke, die keinen willensunabhängigen Gesichtspunkt darstellen, wichtiger Anhaltspunkt für die Frage der Restgültigkeit, da in ihnen die gesetzgeberischen Intentionen zum Ausdruck kommen 42 . Gegenstand der Nichtigerklärung können nur Normen sein, d. h. generell rechtliche Verhaltensgebote, so daß es streng genommen keine Teilnichtigerklärung von Normen gibt, sondern nur Teilnichtigerklärung von Gesetzen43. Hat die verfassungswidrige Norm im Gesetz selbständigen sprachlichen Ausdruck gefunden, — und sei es nur in einem Wort, Wortteil, Satzteil oder Satz — so wird mit der Norm auch der entsprechende Text aus der Rechtsordnung eliminiert 44 .
35
Vgl. Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 164; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 99; Gusy, Gesetzgeber, S. 184-185; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 76 ff.; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 37. 36 Vgl. Skouris, Teilnichtigkeit, S. 76; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 99. 37 BVerfGE 2, 380 (406); Vgl. auch Ipsen, Rechtsfolgen, S. 99. 38 BVerfGE 4, 219 (250); BVerfGE 273 (280); BVerfGE 7, 220 (230); BVerfGE 7, 391 (399). 3 9 Skouris, Teilnichtigkeit, S. 83. 40 Skouris, Teilnichtigkeit, S. 84-85. 41 Skouris, Teilnichtigkeit, S. 84. 42 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 313; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 84. 43 Ipsen, Rechtsfolgen, 1980, S. 99. 44 Ipsen, Rechtsfolgen, 1980, S. 99.
II. Entscheidungen vor dem Bundesverfassungsgericht
ee) Teilnichtigerklärung
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ohne Normtextreduzierung
Von dieser auf den Text bezogenen Teilnichtigerklärung — der sog. „ quantitativen (Teil) Nichtigkeit" — ist die Teilnichtigerklärung ohne Normtextreduzierung zu unterscheiden, die sich auf im Normtext nicht gesondert ausgewiesene Fallkonstellationen bezieht 45 . Diese „qualitative Teilnichtigerklärung" hat in der Entscheidungspraxis eine größere Bedeutung als die „quantitative Teilnichtigerklärung" erlangt 46 . Es handelt sich hier normalerweise um Fälle, die im Normtext nicht speziell benannt werden, da dieser so weit gefaßt ist 47 , daß er ein „Bündel von Normen" auszudrücken vermag 48 . Deswegen wird hier von einer „qualitativen Teilnichtigerklärung ohne Normtextreduzierung " 4 9 oder von „Nichtigerklärung ohne Berührung des Wortlauts " 5 0 gesprochen. In der Praxis des Bundesverfassungsgerichts wird die Nichtigerklärung ohne Normtextreduzierung regelmäßig in einem Nebensatz mit der einleitenden Konjunktion „Soweit" ausgedrückt 51. Dieser Fallgruppe gehören aber nicht alle Entscheidungen an, in deren Tenor sich diese Wendung findet 52 . So hat in dem Beschluß des ersten Senats zum Personenbeförderungsgesetz das Bundesverfassungsgericht mit zwei „Soweit"-Vorbehalten bestimmte Normen des § 9 für nichtig erklärt. Nach dem Gesetz bedurfte jeder Unternehmer des Linien- oder Gelegenheitsverkehrs einer Genehmigung, die nur zu erteilen war, wenn der Antragsteller zuverlässig, Sicherheit und Leistungsfähigkeit des Betriebs gewährleistet seien und das Unternehmen den Interessen des öffentlichen
45 Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 164; Gusy, Gesetzgeber, S. 184; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 36; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 93-94; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 31; Stem, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 305. 46 BVerfGE 8, 51 (52); BVerfGE 9, 268; 11, 168 (169); 12, 296 (297); Vgl. auch Sachs, DVB1. 1979, S. 389 (390). 47 Wie von Ipsen (Rechtsfolgen, S. 100) hervorgehoben wird, liegt ein Vergleich mit einer Generalklausel auf der Hand, da beide Kategorien unterschiedliche Anordnungen enthalten. Aber während jene zur Bildung neuer (richterrechtlicher) Normen ermächtigt, sind bei der hier genannten Konstellation die Normen schon existent und werden nur sprachlich zusammengefaßt. 48 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 100; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 94-95; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 163; Gusy, Gesetzgeber, S. 184. 49 Skouris, Teilnichtigkeit, S. 92. so Ipsen, Rechtsfolgen, S. 100. 51 BVerfGE 8, 51 (52); 9, 268; 11, 168 (169); 12, 296 (297); 13, 31; 14, 42; 15, 167 (169); 15, 328; 16, 94 (95); 17, 122; 18, 366; 19, 330 (331); 22, 163; 26, 338 (339); 30, 1; 30, 267; 32, 1; 34, 165; 39, 1 (2); 43, 291 (294). 52 Vgl. Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 31 Fn. 46; Ipsen, Rechtsfolgen, 1980, S. 100. Wie von Moench hervorgehoben wird, bringt die Wendung: „§X ist insoweit mit Art. Y GG nicht vereinbar und deshalb nichtig, als .. . " in manchen Fällen eine einfache Nichtigerklärung zum Ausdruck, wobei durch den Zusatz „insoweit als" lediglich angedeutet wird, warum diese Norm für nichtig erklärt wurde. Diese Ansicht vertritt aber Skouris, S. 95 und 108.
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Verkehrs nicht zuwiderlaufe (§ 9 Abs. 1). Die Genehmigung war zu versagen, wenn kein Bedürfnis vorlag (§ 9 Abs. 2). Das Bundesverfassungsgericht hat beide Absätze auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 12 Abs. 1 GG hin geprüft und ist zu dem Schluß gekommen, daß sie gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit verstießen und daher nichtig seien, soweit sie sich auf den Mietwagenverkehr bezogen53. Damit hat das Gericht das Normprogramm geändert und bestimmte Normvarianten vernichtet, ohne einen sichtbaren Eingriff in den Normtext durchführen zu müssen54. Ein anderes eindeutiges Beispiel für die Teilnichtigerklärung eines Gesetzes, die dessen Wortlaut unverändert ließ, liefert die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu § 10 b des Einkommensteuergesetzes vom 21. Dezember 1954 — EStG 1955 (BGBl. 1 S. 44), nach dem „ Ausgaben zur Förderung mildtätiger, kirchlicher, religiöser, wissenschaftlicher und staatspolitischer Zwecke " bis zu einem bestimmten Prozentsatz des Gesamtbetrags der Einkünfte als Sonderausgaben abgesetzt werden konnten. Nach den Intentionen des Gesetzgebers waren auch Zuwendungen an politische Parteien den „ staatspolitischen Zwecken " zuzurechnen. Eine Teilnichtigerklärung kam nicht in Betracht, denn mit Beseitigung der Worte „und staatspolitischer Zwecke" hätte man auch die Abzugsfähigkeit von Spenden für staatsbürgerliche Vereinigungen beseitigt. Das Bundesverfassungsgericht beschränkte sich auf eine Teilnichtigerklärung ohne Normtextreduzierung und erklärte § 10 b EStGg 1955 für nichtig, „ soweit nach diesen Bestimmungen unmittelbare oder mittelbare Zuwendungen an politische Parteien als Ausgaben zur Förderungen staatspolitischer Zwecke bei Ermittlungen des steuerpflichtigen Einkommens vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgesetzt werden können " 55. Hinzuweisen ist ferner auf die Entscheidung über die Zweitstudienregelung, deren Tenor lautet: „Die Zweitstudienregelung in „32 II 1 Nr. 5 HRG . . . ist nichtig, soweit die Zulassung zu einem medizinischen Zweitstudium auch bei solchen Bewerbern vom Erfordernis der sinnvollen Ergänzung des Erststudiums abhängig ist, die dieses bis einschließlich Wintersemester 1974175 im Vertrauen auf die damals bestehende Möglichkeit zu einem solchen Zweitstudium begonnen haben"56. Damit wurde eine bestimmte Anwendungskonstellation als verfassungswidrig aus dem Gesetz herausgeschnitten 57.
53 BVerfGE 11, 168 (187, 190). Der Tenor lautet: „Die Bestimmung im §9 des Gesetzes . . ., wonach die Genehmigung nur erteilt werden darf, wenn das Unternehme den Interessen des öffentlichen Verkehrs nicht zuwiderläuft, ist mit Art. 121 des Grund setzes unvereinbar und deshalb nichtig, soweit sie sich auf den Gelegenheitsverkehr m Mietwagen bezieht 54 BVerfGE 11, 168 (169); Vgl. dazu Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 32; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 93. 55 BVerfGE 8, 51 (52). 56 BVerfGE 62, 117 (119); Vgl. auch z.B. BVerfGE 60, 16 (17); 61, 291 (291 f.); Zuerst wohl BVerfGE 8, 51 (52).
II. Entscheidungen vor dem Bundesverfassungsgericht
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In diesem Sinne weist die Teilnichtigerklärung eines Gesetzes starke Ähnlichkeiten mit der verfassungskonformen Auslegung auf, bei der ebenfalls, wie noch zu behandeln sein wird 5 8 , bestimmte Auslegungsmöglichkeiten für mit dem Grundgesetz unvereinbar gehalten und damit nicht selten bestimmte Anwendungsfälle aus dem Anwendungsbereich der Norm herausgenommen werden 59 . Die Nähe beider Kategorien zueinander wird durch ein Beispiel von Schiaich deutlich gemacht60. § 554b I ZPO i.d.F. von 1975 bestimmte, daß das Revisionsgericht in Rechtsstreitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche, bei denen der Wert der Beschwer 40.000 D M übersteigt, die Revision ablehnen dürfe, wenn die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung habe. Das Plenum, das wegen Unstimmigkeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Senat die Frage entscheiden mußte, hat den Weg der verfassungskonformen Auslegung mit folgendem Ergebnis vorgezogen: „§ 554 b I ZPO ist nicht dahin auszulegen, daß die Annahme von Revisionen, die im Endergebnis Aussicht auf Erfolg besitzen, abgelehnt werden darf" 61. Mit praktisch identischem Ergebnis könnte das Bundesverfassungsgericht die aussichtsreichen Revisionen auch durch Teilnichtigerklärung des § 554 b I ZPO ohne Normtextreduzierung ausschließen: „§ 554b I ZPO ist mit dem Grundgesetz unvereinbar und daher nichtig, soweit die Vorschrift auch auf Revisionen Anwendung findet, die nach vorläufiger Prüfung im Endergebnis Aussicht auf Erfolg besitzen" 62. In beiden Fällen ist die Reichweite der Norm beschränkt worden. Ob dies eine Gleichstellung beider Rechtsfiguren impliziert, wie von wichtigen Stimmen in der Lehre angenommen wird 6 3 , ist bei der Berücksichtigung der verfassungskonformen Auslegung zu untersuchen.
c) Grenzen der Nichtigerklärung Die Nichtigerklärung stößt, wie angedeutet, auf ihre Grenzen, wenn die verfassungswidrige Norm keinen selbständigen sprachlichen Ausdruck im Gesetz findet 64 . Dies wurde vom Bundesverfassungsgericht in einer früheren Entscheidung ausgesprochen, in der es festgestellt hat, daß ein Gesetz nicht für nichtig erklärt werden könne, soweit es etwas nicht regele 65. Die Teilnichtigerklärung eines 57
Vgl. Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 165. 58 S. unten D, II, 4, d. 59 Vgl. Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 165. 60 Vgl. Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 165. 61 BVerfGE 54, 277 und vorher bereits BVerfGE 49, 148. 62 Vgl. Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 165. 63 Vgl. Skouris, Teilnichtigkeit, S. 108 ff.; von Mutius, VerW Arch. Bd. 67 (1976), S. 403 (409-410). 64 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 104. 65 BVerfGE 22, 349 (360 ff.).
1 5 6 D .
Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
Gesetzes setzt dessen Teilbarkeit und damit eine — explizite oder implizite — textliche Entsprechung voraus 66 . Deswegen erweist sich der Ausspruch einer „qualitativen Teilnichtigerklärung " in einem solchen Fall als problematisch, in dem die verfassungswidrige Norm nicht mindestens als Teilbedeutung einer generell formulierten Gesetzesvorschrift ausgedrückt wird 6 7 . Im Abhör-Urteil legte das Bundesverfassungsgericht fest: § 5 Abs. 5 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses vom 13.8.1968 sei mit Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG „ insoweit nicht vereinbar und deshalb nichtig, als er die Unterrichtung des Betroffenen über Beschränkungsmaßnahmen ausschließt, wenn sie ohne Gefährdung des Zwecks der Beschränkung erfolgen kann " 68. Da die Bestimmung „ über Beschränkungsmaßnahmen ist der Betroffene nicht zu unterrichten " nicht teilbar ist, enthält der Entscheidungstenor in Wirklichkeit eine Ergänzung dieser Vorschrift, die die Unterrichtung der Betroffenen unter bestimmten Bedingungen ermöglicht 69 . Das Mangelhafte dieser Lösung besteht darin, daß diese von dem Bundesverfassungsgericht durch die Teilnichtigerklärung verliehene Neugestaltung keine Verpflichtung der Behörde begründen konnte. Die von der Entscheidung angestrebte Rechtslage ist deswegen nur mit der Novellierung des Gesetzes erreicht worden 70 . Dieser Fall weist Ähnlichkeit mit dem noch zu behandelnden willkürlichen Begünstigungsausschluß auf 71 , in dem die Nichtigerklärung entweder daneben greift oder über den eigentlichen Verfassungs verstoß hinausschießt72. Man könnte aber Zweifel anmelden, ob hier eine Unvereinbarkeitserklärung die geeigneteste Lösung ist. Die Notwendigkeit, ein neues Gesetz zu erlassen, spricht eher für die Nichtigerklärung der Vorschrift, die dem Gesetzgeber ermöglichen würde, eine differenzierende Regelung festzulegen 73, die sich als unentbehrlich erwiesen hat. Nicht weniger problematisch stellte sich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu § 218 des Strafgesetzbuchs i.d.F. des Fünften Gesetzes zur Regelung des Strafrechts vom 18. Juni 1974 (BGBl. S. 1297) dar. § 218 a StGB sah die generelle Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs innerhalb von zwölf Wochen nach der Empfängnis vor. Mit der Verweisung auf die Gründe 66 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 104. 67 Sachs, DVB1. 1979, S. 389 (390-391); Ipsen, Rechtsfolgen, S. 104. 68 BVerfGE 30, 1 (3). 69 Vgl. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 105. 70 Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses vom 13.9.78 (BGBl. IS. 1546); Ferner S. dazu auch Ipsen, Rechtsfolgen, S. 105. 71 S. unten D, II, 3, c, aa. 72 Vgl dazu Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung, FS. W.Weber, S. 345 (354). 73 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 105.
II. Entscheidungen vor dem Bundesverfassungsgericht
157
hielt das Bundesverfassungsgericht diese Vorschrift insoweit für nichtig, als sie den Schwangerschaftsabbruch auch von der Strafbarkeit ausnahm, „ wenn keine Gründe vorliegen, die — im Sinne der Entscheidungsgründe — vor der-Wertordnung des Grundgesetzes Bestand haben" 74. Durch die Bezugnahme auf die Gründe hat das Bundesverfassungsgericht ein differenziertes Normprogramm entwickelt, das die von dem Gesetzgeber festgelegte Fristenlösung in eine Indikationslösung umwandeln sollte 75 . Das Fehlen jedes Anhaltspunkts in Wortlaut und Sinn der als verfassungsmäßig in Kraft verbliebenen „ Teilnorm " war offensichtlich. Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb versucht, mit dem Erlaß einer besonderen „ Übergangsregelung " unter Berufung auf § 35 BVerfGG dieser Inkongruenz zu begegnen und die nähere Ausgestaltung seines Gesetzesmodells dem Gesetzgeber zu überantworten 76.
3. Die Verfassungswidrigerklärung von Gesetzen a) Einleitung Das Bundesverfassungsgericht hat, neben der am Anfang in § 78 BVerfGG vorgesehenen Nichtigerklärung, die Entscheidungsvariante der Unvereinbarkeitserklärung entwickelt, eine neugeschaffene Variante, das Gesetz für verfassungswidrig zu erklären, ohne dessen Nichtigkeit feststellen zu müssen77. Seit 1970 legt das BVerfGG in § 31 Abs. 2 S. 2 und 3 fest, daß das Gericht das Gesetz als mit dem Grundgesetz vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig erklären kann. Ebenso regelt § 79 Abs. 1 BVerfGG für Strafurteile die Folgen der Tatsache, daß diese „auf einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder nach § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm" beruht. Der Wortlaut des Gesetzes ist nicht einheitlich. Während nach § 78 S. 1 BVerfGG das „unvereinbare" Gesetz für nichtig erklärt werden soll, unterscheiden §§31 Abs. 2, 79 Abs. 1 BVerfGG zwischen dem unvereinbaren und dem nichtigen Gesetz78. Während bis 1969/70 noch nicht von einem selbständigen Entscheidungstypus die Rede sein konnte 79 , ist ab 1969 vermehrt zu beobachten, daß das Bundesver74 BVerfGE 39, 1 (2). 75 Sachs, DVB1. 1979, S. 389 (392); Ipsen, Rechtsfolgen, S. 106. 76 BVerfGE 39, 1 (68); Kritisch dazu: Sachs, DVB1. 1979, S. 389 (393); Ipsen, Rechtsfolgen, S. 106. 77 Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 168. 78 Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 168. 79 Vgl. Ipsen, Rechtsfolgen S. 107; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 169. Am Anfang hat das Bundesverfassungsgericht nicht die Unvereinbarkeitserklärung in der Entscheidungsformel ausgesprochen, sondern nur in den Gründen den Verzicht auf die Nichtigerklärung erläutert. Die Entscheidung BVerfGE 13, 248 (249) machte eine Ausnahme.
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D. Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
fassungsgericht auf eine Nichtigerklärung verzichtet 80 . Von 1980 bis 1982 hielten sich statistisch Nichtigerklärung und Feststellung der Unvereinbarkeit sogar die Waage 81 . Seitdem ist eine Abschwächung dieser Tendenz mit deutlicher Zunahme der Nichtigerklärungen festzustellen 82. Lassen sich 1981 noch sieben Unvereinbarkeitserklärungen aufzählen 83, findet sich 1984 nur noch eine Entscheidung dieser Art 8 4 . Über diese Entscheidungsvariante, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen aller Verfahren, die zu einer Normenkontrolle führen, zum Zuge kommen kann 85 , herrscht noch Unklarheit in der Lehre. Die in §§ 31 Abs. 2 S. 2 und 3 und § 79 Abs. 1 BVerfGG enthaltenen Bestimmungen tragen teilweise zu dieser Unsicherheit bei, da sie nicht zum Ausdruck bringen, wann das Bundesverfassungsgericht auf die Nichtigerklärung verzichten kann und darf 86 . Die Unstimmigkeit und Unsicherheit, die mit diesem Institut verbunden sind 87 , haben nicht verhindert, daß es von den Verfassungsgerichtshöfen der Länder, wie die jüngste Rechtsprechung zeigt, teilweise übernommen worden ist 88 . b) Abgrenzung der Unvereinbarkeitserklärung gegen ähnliche Erscheinungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aa) Unvereinbarkeitserklärung
und Appellentscheidung
Zunächst gilt es, die Unvereinbarkeitserklärung von den Appellentscheidungen und dem damit verbundenen Begriff des „noch verfassungs gemäßen Gesetzes" zu unterscheiden. Als Appellentscheidungen werden die Fälle bezeichnet, in denen das Gericht den Rechtszustand zwar als „noch verfassungsgemäß" anerkennt, doch gleichzeitig einen bevorstehenden Umschlag in die Verfassungs Widrigkeit ankündigt. 80
Ipsen, Rechtsfolgen S. 108; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 169. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 108; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 169. 52 Vgl. Hein, Unvereinbarerklärung, S. 31. 53 BVerfGE 56, 175; 56, 146; 56, 192; 56, 353; 57, 335; 57, 361; 58, 137; Vgl dazu Hein, Unvereinbarerklärung, S. 31. 54 BVerfGE 67, 348. Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 168. 86 Vgl. dazu Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 180. S7 Vgl. dazu Ipsen, JZ 1983, S. 41 ff. 88 Vgl.Baden-WürttembergischerStaatsgerichtshof,ESVGH26,129,141;mitBezugnahme auf das Bundesverfassungsgericht in BayVerfG, BayVBl. 1975, 558; VerfGH NRW, DVB1. 1976, 393; BayVerfGH 21 14 (23); 24, 97 (101); 27, 61 (64); 28, 143; Vgl. dazu Stern, Staatsrecht, I, S. 1040 Fn. 529; Bachof, Der Richter als Gesetzgeber?, in: Weg zum Rechtsstaat, S. 344 (348); Hein, Unvereinbarerklärung, S. 151; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 250. 81
II. Entscheidungen vor dem Bundesverfassungsgericht
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Zwischen Unvereinbarkeitserklärung und Appellentscheidung ist die Grenze nicht immer eindeutig feststellbar 89. Der Hinweis, daß der Gesetzgeber eine neue Regelung einzuführen habe, ist nicht ausschließlich ein Merkmal der Appellentscheidungen, da bei schlichter Verfassungswidrigerklärung Entscheidungen mit der Anweisung getroffen werden, daß der Gesetzgeber eine Neuregelung zu finden habe 90 . Auch die Möglichkeit, das fragliche Gesetz weiter anzuwenden, stellt keine Grundlage für eine Differenzierung zwischen den Appellentscheidungen und der schlichten Verfassungswidrigerklärung dar, da nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur „ausnahmsweise die verfassungswidrigen Vorschriften (. . .) voll oder teilweise anzuwenden sind (. . .) " 91. Es ist aber darauf hinzuweisen, daß, während die „ bloße Verfassungswidrigerklärung" ein Unwerturteil über die überprüfte Norm enthält, wie einhellig von der Rechtsprechung und Lehre angenommen wird 9 2 , es — zumindest zum Zeitpunkt der Entscheidung — bei der Appellentscheidung an diesem Aspekt fehlt 93 . bb) Unvereinbarkeitserklärung und Feststellungsurteil in Organstreitigkeiten Trotz gewisser Ähnlichkeiten 94 gehört in den Zusammenhang der Unvereinbarkeitserklärung nicht das Feststellungsurteil, das das Bundesverfassungsgericht im verfahrensrechtlichen Rahmen eines Organstreits gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 5, 64 ff. BVerfGG gefällt hat, denn hier wird, obwohl es sich bei der beanstandeten Maßnahme i.S. des § 64 auch um den Erlaß eines Gesetzes handeln kann 95 , nicht unmittelbar eine Entscheidung über dessen Verfassungsmäßigkeit getroffen 96. Das Gesetz legt eine beschränkte Überprüfungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts fest, indem § 67 S. 1 BVerfGG bestimmt, daß das Gericht festzustellen hat, „ ob die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegner s gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt" 89 Vgl. dazu Sachs, DöV, 1982, S. 23 (27 und 30). 90 Zeidler, EuGRZ, 1988, S. 207 (214). 91 BVerfGE 61, 319 (356); Vgl. auch dazu Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung, FS W. Weber, S. 347. 92 Vgl. etwa BVerfGE 37, 217; 40, 296; 55, 100; S. auch Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung, FS W. Weber, S. 345 (346-347). 93 Schulte, DVB1. 1988, 1200 (1201); Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 48-49; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 181; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 268; Gusy, Gesetzgeber, S. 210. 94 Vgl. dazu Frowein, DÖV 1971, S. 792(795); Meyer, in: von Münch, GrundgesetzKommentar, Bd. III, Art. 93 RdNr. 25. 95 BVerfGE 1, 144 (145-146); 1, 208 (211, 216); 4, 115 (116-119). 96 Hein, Unvereinbarerklärung, S. 28. 97 Vgl. BVerfGE 1, 351 (371); 20, 229 (129); 20, 134 (140); 24, 300 (350); S. auch Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 158; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 28; Lücke J., JZ 1983, S. 380.
91
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D. Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren cc) Unvereinbarerklärung
und fremdes Recht
Einer anderen Kategorie als die Unvereinbarkeitserklärung gehören die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts an, die die Feststellung der Verfassungswidrigkeit von ausländischem oder supranationalem Recht zum Gegenstand haben98. Hier ergibt sich der Verzicht auf die Nichtigerklärung vor allem aus der fehlenden Kompetenz. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet allein darüber, ob die Anwendung dieser Norm mit dem Grundgesetz vereinbar ist".
c) Überblick über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Ausgangspunkt für die Entwicklung dieser Entscheidungsvariante des Bundesverfassungsgerichts war der sogenannte gleichheitswidrige Begünstigungsausschluß, der dann gegeben ist, wenn ein Gesetz ohne sachgerechten Grund eine Gruppe von Bürgern begünstigt und andere Gruppen von der Begünstigung ausschließt (Sozialleistungen, Besoldungs- und Versorgungsansprüche, Subventionen, u.s.w.) 10°. Die Rechtsprechung hat sich aber nicht auf diese Fallgruppe beschränkt. Ausgehend von den hierzu entwickelten Bestimmungen ist das Gericht auch in anderen Fällen zu einer Unvereinbarerklärung gelangt 101 . aa) Willkürlicher Begünstigungsausschluß und andere Gleichheitssatzverstöße Der Begünstigungsausschluß kann sowohl explizit als auch konkludent vorgenommen werden. Wenn die Regelung mangels sachgerechter Begründung das Gleichheitsgebot verletzt, liegt ein Verfassungsverstoß vor. Dieser kann sowohl konkludent 102 , wenn sich das Gesetz auf die Begünstigung bestimmter Gruppen beschränkt, als auch explizit 103 , wenn eine Gruppe ausdrücklich von einer allgemein begünstigenden Regelung ausgenommen wird, erfolgen 104 . Der Gleichheitsverstoß läßt sich theoretisch auf verschiedene Weise — abgesehen vom Fall eindeutig verfassungsgebotener Regelung 105 — bereinigen, u.a. 98 BVerfGE 15, 337; 36, 146 ff.; 37, 271 ff. 99 Vgl. dazu Pestalozza,,,Noch verfassungsmäßige",^: BVerfG und GG, S. 518 (523); Hein, Unvereinbarerklärung, S. 21; Gusy, Gesetzgeber, S. 189; Schneider, Funktion der Normenkontrolle, S. 170; Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 67. 100 Vgl. Maurer, Zur Verfassungs widrigerklärung, FS W. Weber, S. 345 (348); Schiaich, das Bundesverfassungsgericht, S. 170; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 109. ιοί BVerfGE 38, 187 (205); 39, 196 (204); 40, 196 (227). 102 Vgl. BVerfGE 18, 288 (301); 22, 349 (360). 103 Vgl. z.B. BVerfGE 25, 101. 104 Vgl. dazu Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung, FS W. Weber, S. 345 (349); Ipsen, Rechtsfolgen, S. 109; Jülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 51 ff.
II. Entscheidungen vor dem Bundesverfassungsgericht
161
durch Beseitigung der Begünstigung überhaupt, durch Einbeziehung der bislang ausgeschlossenen Gruppen in die Vergünstigung oder durch eine Neuregelung, die die Gewährung der Leistung von anderen, dem Gleichheitssatz entsprechenden Voraussetzungen abhängig macht 106 . So könnte Gegenstand der Nichtigerklärung in rechtstechnischer Hinsicht die begünstigende Regelung oder der Ausschluß von der Begünstigung sein, sofern dieser durch eine besondere Norm oder einen besonderen Normenteil charakterisiert ist 1 0 7 . Das Bundesverfassungsgericht lehnt jedoch grundsätzlich eine Nichtigerklärung ab, da der Gesetzgeber über verschiedene Möglichkeiten verfüge, den Gleichheitsverstoß auszuräumen 108 , und die Kassation dem Anliegen der Beschwerdeführer nicht entsprechen werde 109 . Das ergibt sich in Fällen, in denen die Vorschrift auf bestimmte Personen beschränkt ist, bereits daraus, daß nach einer Nichtigerklärung der angefochtenen Norm niemand mehr Ansprüche aus ihr herleiten könnte. Aber auch dann, wenn bestimmte Gruppen von Personen durch gesetzliche Regelung von einer Begünstigung ausgeschlossen werden, würde deren Wegfall den Beschwerdeführer nicht ohne weiteres zum Ziel gelangen lassen. Wenn nämlich Ansprüche unmittelbar durch verfassungsrichterliches Judikat geschaffen werden könnten, jedoch wegen der Rückwirkung auf den Haushalt auf Bedenken stießen110, würde auch hier, wie Ipsen hervorhebt, eine Nichtigerklärung der gesamten Regelung einen merkwürdigen Gerechtigkeitsbegriff verwirklichen, der dem einzelnen Rechtssuchenden Steine statt Brot geben würde 11Κ Bei dem Gleichheitsverstoß tauchen daher Probleme auf, die durch die Nichtigkeitserklärung prinzipiell nicht zu lösen sind. Der Gleichheitssatz setzt zumindest zwei Sachverhalte voraus, die vergleichend aufeinander bezogen werden 112 . Diese Relativität des Gleichheitssatzes impliziert nach Maurer eine relative Verfas105 Vgl. etwa BVerfGE 21, 329 (338, 343 f. 353); 22, 163 (174 ff.), 27 220 (230); 27, 364 (374); 27, 391 (399); 29, 283 (303); 39, 196 (204). ι 0 6 Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung, FS W. Weber S. 345 (348); Ipsen, Rechtsfolgen, S. 109. ιόν Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung, FS W. Weber S. 345 (349); Schneider, Funktion der Normenkontrolle, S. 174. los Vgl. BVerfGE 8, 28 (36 ff.); 14, 308 (311 f.); 15, 46 (59 f.; 75 f.); 15, 121 (125 f.); 17, 122 (134 f.); 18, 257 (273); 18, 288 (301 f.); 21, 329 (337 f.; 353 f.) 22, 163 (174 f.); BVerfGE 22, 349 (359 ff.); 26, 100 (110, 115); 26, 163 (171 f.); 27, 220 (230 f.); 27, 364 (374 f.); 28, 324 (361 ff.); 29, 1 (10); 29, 57 (70 f.); 29, 71 (83); 29, 283 (303 f.); 31, 1 87 f.); 32, 362 (362 f.); 37, 154; 37,217; 38, 1 (22); 38, 41; 38, 61; 38, 213; 42, 176; 42, 369; 43, 58; 45, 104; 45, 376; 46, 97; 47, 1; 48, 227; 56, 192; 62, 256; 63, 119; 67, 348; 71, 1; 71, 146; 71, 224. 109 BVerfGE 13, 248 (260); 18, 288 (301 ff.). no Vgl. Starck, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, VVDStRL 34 (1976), S. 43 (83). m Ipsen, Rechtsfolgen, S. 110; S. auch Jülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 52; Vgl. auch BVerfGE, 22, 349 (359); 25, 236 (246, 252); 32, 157 (163); 52, 369 (379); 56, 196 (215). u 2 Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung, FS W. Weber, S. 345 (354).
11 Mendes
1 6 2 D .
Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
sungswidrigkeit nicht im Sinne eines minder gravierenden Verfassungsverstoßes, sondern in dem Sinne, daß verfassungswidrig nicht etwa die Regelung A oder die Regelung Β ist, sondern die Unterschiedlichkeit der Regelung 113 . Diese von Ipsen so genannte verfassungswidrige Normrelation 114 kann prinzipiell nicht durch eine kassatorische Entscheidung abgewickelt werden, da sie entweder danebengreift oder über den eigentlichen Verfassungsverstoß hinausschießt115. Dieser Auffassung ist Sachs entgegengetreten 116. Die Annahme, daß der Verstoß gegen den Gleichheitssatz sich nicht an einer bestimmten Regelung festmachen lasse, sondern nur eine Normenrelation verfassungswidrig sei, gehe schon deshalb fehl, weil die Gleichheitsrechte ausschließlich als Anspruch auf Unterlassung oder Beseitigung ungleicher Behandlung zu verstehen seien 117 . Die Argumentation von Sachs erscheint schon deshalb problematisch, weil sie die Verfassungswidrigkeit allein in der Begünstigung zu sehen vermag. Warum die Begünstigung und nicht der Ausschluß verfassungswidrig sein soll, wird damit nicht geklärt 118 . Die von Sachs angenommene Privilegienfeindlichkeit der Gleichheitsrechte vermag dafür keine Begründung anzubieten, da gleichheitswidrige Belastung und Begünstigung kaum allgemeingültig voneinander zu unterscheiden sind 119 . Dieser Ansatz, der in Art. 3 Abs. 1 GG ein Recht auf Abwehr einer Fremdbegünstigung sieht, ist auch insofern problematisch, als er über den Gleichheitssatz einen Eingriff in eine „fremde Rechtssphäre" ermöglichen würde. Dies würde nach der h.M. eine Sinnverkehrung des Art. 3 GG implizieren, da allgemein aus dem Gleichheitssatz allein ein Anspruch auf Beseitigung der eigenen Belastung hergeleitet wird 1 2 0 . Auch im Hinblick auf gleichheitswidrig belastende Regelungen hat das Bundesverfassungsgericht die These aufgegeben, wonach bei belastenden Gesetzen eine Nichtigerklärung ohne weiteres möglich sei 121 . In neueren Entscheidungen beschränkt es sich darauf, die Verfassungswidrigkeit festzustellen, insbesondere mit der Begründung, daß der Gleichheitsverstoß auf verschiedene Weise bereinigt u 3 Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung, FS W. Weber, S. 345 (354). Π4 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 214. us Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung, FS W. Weber, S. 345 (354); Stem, Staatsrecht, II, S. 960. 116 Sachs, DÖV 1984, S.411 (418). in Sachs, DÖV 1984, S.411 (417). us Vgl. dazu Hein, Unvereinbarerklärung, S. 104. 119 Hein, Unvereinbarerklärung, S. 104. ι 2 0 Dürig, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1 RdNr. 471; Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. I, S. 64; Dax, Das Gleichbehandlungsgebot, S. 127; Götz, NJW 1979, S. 1478 (1480); Henke, W., Das Recht der Wirtschaftssubventionen als öffentliches Vertragsrecht, S. 118. 121 BVerfGE 8,28 (37); 8,51 (70 ff.); 6,273 (281); 9,291 (301); Vgl. auch Schneider, Funktion der Normenkontrolle, S. 188; Pestalozza, „Noch verfassungsmäßige", in: BVerfG und GG, I, S. 520 (535).
II. Entscheidungen vor dem Bundesverfassungsgericht
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werden könne 122 . So bediente sich das Bundesverfassungsgericht in vielen Fällen bezüglich S t e u e r - , abgaben- und sozialrechtlicher Gesetze der Argumentationsfigur der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit, um die Verfassungswidrigkeit festzustellen, ohne die Nichtigerklärung auszusprechen 123. bb) Das gesetzgeberische Unterlassen Von Bedeutung für die Begründung einer Unvereinbarkeitserklärung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist neben dem Gleichheitsverstoß auch das gesetzgeberische Unterlassen 124. Eine Nichtigerklärung ist auszuschließen, wenn kein legislatives Handeln vorliegt 125 , oder, wie das Bundesverfassungsgericht formuliert hat, ein Gesetz kann nicht für nichtig erklärt werden, soweit es etwas nicht regelt 126 . Ein verfassungswidriges Unterlassen setzt einen entsprechenden Auftrag zum Handeln voraus 127 , der sich sowohl aus konkreten Anweisungen des Grundgesetzes als auch im Wege der Verfassungsinterpretation aus im Grundgesetz verkörperten Grundentscheidungen ergibt 128 . Ähnlichkeiten mit absoluten Unterlassungen sind in solchen Fällen festzustellen, in denen sogar eine Handlung des Gesetzgebers vorliegt, die jedoch die verfassungsrechtliche Vorgabe nicht oder nur unvollständig 129 erfüllt hat. Der Gesetzgeber hat bestimmte Regelungen nicht getroffen, die er im Rahmen einer Gesamtregelung hätte treffen müssen130. Obwohl hier ein Gesetz vorliegt, das für nichtig erklärt werden könnte, sieht das Gericht nicht selten von einer Nichtigerklärung ab, da nicht die Regelung, sondern ihre Unvollständigkeit den Verfassungsverstoß bewirkt 131 , sei es, daß der Gesetzgeber nichts unternommen hat, eine Ergänzung einzuführen 132, sei es, daß er bestimmte Gruppen in seiner Regelung nicht berücksichtigt hat 133 . 122 Vgl etwa BVerfGE 23, 1 (10 ff.); 33, 90 (105 ff.) 123 BVerfGE 23, 1 (10); 25, 101 (110); 28, 227 (242 f.); 33, 90 (105 ff.); 33, 106 (114 ff.); 45, 104 (114); 51, 1 (9 ff.); 61, 319 (320, 356 ff.); 62, 256 (288 ff.). 124 Vgl. dazu BVerfGE 6, 257; 8, 1; 15, 46 (59); 18, 288 (301); 22, 349 (360); 23, 1 dl). ι 2 5 Jülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 53 ff; Gusy, Gesetzgeber, S. 189. 126 BVerfGE 22, 349 (360 ff.); Vgl. auch Jülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 53 ff. 127 BVerfGE 6, 257 (264); Vgl auch Pestalozza, „Noch verfassungsmäßige", in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 526; Vgl. Jülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 13. 128 BVerfGE 56, 54 (70 ff.); 55, 37 (53); Hein, Unvereinbarerklärung, S. 57; BVerfG, Vorprüfungsausschuß NJW 1983, 2931 (Waldsterben). 129 Lerche, AöR 90 (1965), S. 341 (352); Jülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 33; Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 285; Lechner, NJW 1955, S. 181 ff.; SchmidtBleibtreu, in: Maunz u.a., BVerfGG, § 90, RdNr. 121. 130 Pestalozza, „Noch verfassungsmäßige", in: BVerfG und GG, I, S. 519 (532). 131 BVerfGE 21, 173 (183); 25, 236 (252); 30, 292 (332 ff.); 31, 229 (242); 275 (291 f.); 34, 71 (80); 35, 79 (148); 39, 334 (375). 132 BVerfGE 8, 28 (35); 13, 248 (260);18, 288 (301); 31, 275 (291); 34, 71 (80). 133 BVerfGE 15, 46 (75); 22, 349 (360 ff.); 43, 58 (74); 52, 369 (379). 1*
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D. Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren cc) Die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit
Nicht selten rechtfertigt das Gericht den Verzicht auf die Nichtigerklärung hier mit einem möglicherweise unzumutbaren Eingriff in die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit 134. Seinen Ursprung hat dieser Begründungsansatz in der Rechtsprechung zur Unvereinbarerklärung wegen eines GleichheitsVerstoßes, wo dieser Topos immer herangezogen wird 1 3 5 . Im Laufe der Entwicklung hat das Bundesverfassungsgericht die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit indes zunehmend auch in anderen Fällen zur Begründung für die Wahl dieser Entscheidungsform herangezogen 136. Die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit ist nahezu zu einer Art Generalklausel für die Anwendung dieser Entscheidungsvariante geworden 1 3 7 . Das Bestehen mehrerer Alternativen zur Beseitigung eines Verfassungsverstoßes wurde auch in Fällen des Eingriffs in ein Freiheitsgrundrecht zur Begründung dafür herangezogen, daß das Bundesverfassungsgericht von einer Nichtigerklärung absah138. Die Berufung auf die Gestaltungsfreiheit wird in der Literatur nicht selten kritisiert 139 . Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers wäre in den meisten dieser Fälle nicht betroffen, da er durch eine Nichtigerklärung genauso wie nach der Verfassungswidrigerklärung die ihm geeignet erscheinende Neuregelung treffen könnte und müßte 140 . Das Regelungsermessen des Gesetzgebers gebiete andererseits ebensowenig die volle oder teilweise Aufrechterhaltung der verfassungswidrigen Norm, wie das Verwaltungsermessen die Aufhebung eines ermessensfehlerhaften Verwaltungsakts hindere 141 . dd) Das Rechtsfolgenargument Einige Fälle der Verfassungswidrigerklärung bezogen sich auf die sogenannte bedrohliche Rechtslücke, die im Falle einer Nichtigerklärung verheerende Wir-
134 Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 78 f.; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 47. 135 BVerfGE 8, 28 (36 ff.); 14, 308 (311); 15, 121 (125); 17, 148 (152 ff.); 18, 288 (302); 21, 329 (337); 23, 1 (10); 28, 227 (247). 136 Hein, Unvereinbarerklärung, S. 79. 137 BVerfGE 61, 43 (68); 61, 358; 62, 117 (153); 62, 256 (257, 288 ff.), 62, 374 (391), 64, 323 (366); 64, 367 (388); 65, 325 (357); Vgl. auch Stem, Bonner Kommentar, Art. 93 RdNr. 282; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 171; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 79 ff. 138 BVerfGE 21, 173; 31, 275; 34, 71. 139 Vgl. dazu Skouris, Teilnichtigkeit, S. 52; Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung, FS W. Weber, S. 345 (357); Ipsen, JZ 1983, S. 41 (44). 140 Vgl. Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung, FS W. Weber, S. 345 (357); Ipsen, JZ 1983, S.41 (44); Sachs, DÖV 1982, S. 23 (27). 141 Skouris, Teilnichtigkeit, S. 52.
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kungen oder sogar ein Rechtschaos zur Folge haben könnte 142 . Die Gemeinsamkeit dieser Fälle liegt in der von Maiwald so bezeichneten „Undurchsetzbarkeit der Normaufhebung " 1 4 3 . Die Nichtigerklärung würde zu einer Minimierung — statt zu einer Optimierung — des Maßes an Verwirklichung der Verfassung führen 144 . Die sich eventuell ergebende Rechtslücke könnte eine Situation entstehen lassen, die noch weiter von der aufgrund der Verfassung gewollten Rechtslage wegführen würde 145 . Die Notwendigkeit eines Verzichts auf die Nichtigerklärung wird zunächst in den sog. Besoldungsfällen deutlich, in denen das Gericht erkannt hat, daß andernfalls eine Rechtsgrundlage für die Besoldung einer Beamtengruppe fehlen würde 146 . Der Fehler sollte daher vom Gesetzgeber selbst korrigiert werden. Ähnlichkeit mit den Besoldungsfällen weisen die statusrechtlichen Fälle auf, die sich auf den organisationsrechtlichen Bereich beziehen147. In Rahmen des Urteils zum hamburgischen Universitätsgesetz vom 18.7.1972 hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit des § 17 festgestellt, ohne dessen Nichtigkeit auszusprechen, denn das Wegfallen der Grundlage für die Ordnung des Zulassungssystems würde einen Zustand schaffen, der der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde 148 . Diese Entwicklung wurde in der DiätenEntscheidung fortgesetzt, in der das Bundesverfassungsgericht die steuerliche Privilegierung der Diäten der Landtagsabgeordneten für verfassungswidrig (Art. 38, 48, 3 Abs.l GG) erklärt hat 149 . Auf eine Nichtigerklärung wurde aber verzichtet, „ weil damit den unter der Geltung des Landesgesetzes in den Landtag gewählten Abgeordneten teilweise die Rechtsgrundlage für ihren Status entzogen worden wäre " 15°. Sie seien nämlich zur Erhaltung ihrer Unabhängigkeit auf die Einkünfte angewiesen (Statusfälle) 151. Dieses Verständnis wurde auch in anderen Entscheidungen bestätigt 152 .
142 Pohle, Verfassungs widrigerklärung, S. 70 f.; Pestalozza, „Noch verfassungsmäßige", in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 519 (537 f.); Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 170; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 39 f. ι« Maiwald, BayVBl. 1971, S. 91;, Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 70; Vgl auch BVerfGE 8, 1 (19); 33, 303 (347); 34, 9 (43); 35, 79; 40, 296; 44, 249;. 144 Schneider, Funktion der Normenkontrolle, S. 196. ws BVerfGE 32, 199 (217 f.); 34, 9 (43 f.); Maurer, Zur Verfassungs widrigerklärung, FS W. Weber, S. 345 (350); Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 70. 146 BVerfGE 8, 1 (19); 32 199 (217); 44, 249 (272); 56, 146 (169). 147 Vgl. dazu Pohle, Verfassungs widrigerklärung, S. 73; Schneider, Funktion der Normenkontrolle, S. 203. 148 BVerfGE 33, 303 ( 347); Vgl. auch BVerfGE 35, 79. 149 BVerfGE 40, 296 (329). 150 BVerfGE 40, 296 ( 329). 151 BVerfGE 40, 296 ( 329); Vgl. auch 37, 217 (261). 152 BVerfGE 56, 146 (169); 56, 175 (184); 62, 374 (391).
1 6 6 D .
Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
d) Rechtsfolgen der Verfassungswidrigerklärung aa) Vorbemerkung Aus dem BVerfGG läßt sich nur zum Teil entnehmen, welche Folgen sich aus der schlichten Verfassungswidrigerklärung ergeben. Für einen Teilbereich, nämlich den des Strafrechts, hat der Gesetzgeber selbst eine Folgeregelung getroffen. Nach § 79 Abs. 1 BVerfGG ist die Wiederaufnahme eines rechtskräftigen Strafurteils u. a. dann zulässig, wenn dieses auf „einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärten Norm" beruht. § 79 Abs. 1 BVerfGG zeigt auch, daß der Gesetzgeber hier von der Unanwendbarkeit der für unvereinbar erklärten Norm und von der Rechtswidrigkeit der darauf gestützten Rechtsakte (Strafurteile) ausgegangen ist 1 5 3 . Aus den ersten Entscheidungen des Gerichts könnte abgeleitet werden, daß es von der interimistischen Weiteranwendung des verfassungswidrigen Gesetzes ausging 154 . Eine eindeutige Klarstellung seines Verständnisses von den Rechtsfolgen der Unvereinbarkeitserklärung hat das Gericht erst in der Entscheidung über die Staatsangehörigkeit von Kindern aus gemischt staatlichen Verbindungen vorgenommen, in der es die Nichtigerklärung und die Unvereinbarkeitserklärung in Bezug auf die weitere Anwendbarkeit der Norm ausdrücklich gleichstellt 155 . Nach dieser Entscheidung darf die mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärte Norm vom Zeitpunkt des verfassungsrechtlichen Urteils ab nicht mehr angewendet werden 156 . Eine Ausnahme hiervon hält das Gericht nur dann für zulässig, wenn die fragliche Rechtsmaterie ein rechtliches Vakuum bis zur gesetzgeberischen Neuregelung nicht zuläßt 157 . Das Bundesverfassungsgericht hat in der oben genannten Entscheidung formuliert, daß die Wirkung der bloßen Unvereinbarerklärung die gleiche wie bei der Nichtigerklärung sei 158 . Dieser Satz wurde auch in anderen Entscheidungen wiederholt 1 5 9 . Die Formulierung ist aber irreführend, denn wenn sie uneingeschränkt gelten sollte, würde dies die Unvereinbarkeit entbehrlich machen 16°. Die bloße Verfassungswidrigerklärung und die in ihr enthaltene Anordnung zu einem ra!53 Vgl. Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung, FS W. Weber, S. 345; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 218. 154 BVerfGE 13,248 (260); 18,288 (301); 26,100 (101); Vgl. Stem, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 281; Söhn, Anwendungspflicht, S. 61 155 BVerfGE 37, 217 (262). 156 BVerfGE 37, 217 (261). 157 BVerfGE 37, 217 (261); Vgl. auch 61, 319 (356). 158 BVerfGE 37, 217 (262). 159 BVerfGE 55, 100 (110). 160 Rupp, H. H., Art. 3 GG als Maßstab verfassungsgerichtlicher Gesetzeskontrolle, in: BVerfG und GG, Bd. II, S. 364 (387-388); Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 175-176; Schneider, Funktion der Normenkontrolle, S. 187.
II. Entscheidungen vor dem Bundesverfassungsgericht
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sehen Tätigwerden des Gesetzgebers zeigen, daß das Gericht vielmehr von dem Bestand des Gesetzes ausgeht, der mindestens zu verhindern vermag, daß das alte Recht an die Stelle des verfassungswidrigen tritt, oder daß ein Rechtsvakuum entsteht161. bb) Verpflichtung
des Gesetzgebers
Die Verpflichtung des Gesetzgebers, den verfassungswidrigen Zustand unverzüglich zu beseitigen, ist in der Lehre die am wenigsten umstrittene Folge der Unvereinbarkeitserklärung 162. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, tätig zu werden, um einen verfassungsmäßigen Zustand durch Verbesserung des bestehenden Zustandes oder, soweit er verfassungsrechtlich dazu befugt ist, durch dessen Aufhebung herzustellen 163. Aus seiner in Art. 1 Abs. 3 und 20 Abs. 3 GG vorgesehenen Bindung an die verfassungsmäßige Ordnung und aus der in § 31 Abs. 1 und 2 vorgesehenen Wirkungskraft gerichtlicher Entscheidung folgt, daß er ohne schuldhaftes Zögern den verfassungsmäßigen Zustand herzustellen hat 164 . Wenn man aber mit dem Bundesverfassungsgericht davon ausgeht, daß die Unvereinbarkeitserklärung Wirkung auch für die Vergangenheit hat 1 6 5 , bleibt fraglich, wie weit der Gesetzgeber mit seiner Neuregelung zurückgehen muß. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt 166, daß der Gesetzgeber sich an dem Rechtsgedanken des § 79 Abs. 2 BVerfGG, der auch auf die Unvereinbarkeitserklärung anzuwenden ist, orientieren könnte 167 . Dieses Verständnis wurde in dem Beschluß vom 8.10.1980 über den Kinderzuschuß für Enkel 168 bestätigt. 161 Vgl. dazu Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 176; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 218-219. 162 Vgl. BVerfGE 6, 257 (265 f.) BVerfGE 37, 217 (262); 51, 1 (28); BVerfGE 57, 361 (388); Vgl dazu Ipsen, Rechtsfolgen, S. 211 -213; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 172; Gusy, Gesetzgeber, S. 191; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 168 ff.; Heyde, Gesetzgeberische Konsequenzen aus der Verfassungswidrig-Erklärung von Normen, FS Faller, S. 53 (54 f.); Gerontas, DVB1. 1982, S. 486 (488); Heußner, NJW 1982, S. 257; Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung, FS W. Weber, S. 362; Schneider, Funktion der Normenkontrolle, S. 162. 163 Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 172; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 169; Heyde, Gesetzgeberische Konsequenzen aus der Verfassungswidrig-Erklärung von Normen, FS Faller, S. 53 (54); Ipsen, Rechtsfolgen, S. 212. 164 Skouris, Teilnichtigkeit, S. 47; Pestalozza, „Noch verfassungsmäßige", S. 519 (555, 559); Ipsen, Rechtsfolgen, S. 212-213; Heyde, Gesetzgeberische Konsequenzen aus der Verfassungswidrig-Erklärung von Normen, FS Faller, S. 53 (55); Heußner, NJW 1982, S. 257 ff.; Gerontas, DVB1. S. 488; Stettner, DVB1. 1982, S. 1127; Maurer, Zur Verfassungswidrigerklämng, FS W. Weber, S. 345 (367); Ulsamer, Maunz u.a., BVerfGG, § 78 RdNr. 32; Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 154; Leibholz-Rupprecht, BVerfGG-Nachtrag, § 31 Anm. 3; Gusy, Gesetzgeber, S. 191, 196; Hein, Verfassungswidrigerklärung, S. 170; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz u.a., BVerfGG, §95, RdNr.42. 165 BVerfGE 37, 217 (262 ff.); 55, 100 (110 ff.). 166 BVerfGE 37, 217; 55, 100 (110 ff.). 167 BVerfGE 37, 217 (263).
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D. Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
Dem § 79 Abs. 2 BVerfGG liegt der Gedanke zugrunde, daß die unanfechtbar gewordenen Akte der öffentlichen Gewalt, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen, nicht rückwirkend aufgehoben und ihre nachteiligen Wirkungen in der Vergangenheit nicht beseitigt werden, daß aber für die Zukunft eine zwangsweise Durchsetzung nicht möglich sein soll 1 6 9 . Daraus ergibt sich, daß der Gesetzgeber nicht dazu verpflichtet ist, die Neuregelung auf den Zeitpunkt der Normenkollision zurückzubeziehen und damit Neuentscheidungen für alle zwischenzeitlich ergangenen Entscheidungen notwendig zu machen 170 . Eine weitergehende Rückwirkung ist daher nur für zu diesem Zeitpunkt noch nicht rechtskräftig abgeschlossene Verfahren anzuordnen 171.
cc) Die Normanwendungssperre Nach dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts soll die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Norm ebenso wie die Nichtigerklärung grundsätzlich die Wirkung haben, daß Gericht und Verwaltung die Vorschrift ab sofort, d. h. vom Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG an, in dem sich insbesondere aus dem Tenor ergebenden Ausmaß nicht mehr anwenden dürfen 172 . Dieses Verständnis erfährt im allgemeinen die Zustimmung der Lehre 173 . Die in § 79 Abs. 1 BVerfGG getroffene Regelung, die die Unanwendbarkeit der für unvereinbar erklärten Norm zum Ausdruck bringt, entspricht den in Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 und 100 Abs. 1 GG verankerten Prinzipien, die die Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes nicht zulassen174. Den Normenkontrollentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kommt gemäß Art. 31 Abs. 2 BVerfGG Allgemeinverbindlichkeit zu, so daß nach einer Unvereinbarkeitserklärung mit
168 BVerfGE 55, 100. 169 Vgl. dazu Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 178; Heyde, Gesetzgeberische Konsequenz aus der Verfassungswidrig-Erklärung von Normen, FS Faller, S. 53 (58); Hein, Verfassungs widrigerklärung, S. 175. 170 Heyde, Gesetzgeberische Konsequenz aus der Verfassungswidrig-Erklärung von Normen, FS Faller, S. 58; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 178; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 175. 171 Heyde, Gesetzgeberische Konsequenz aus der Verfassungswidrig-Erklärung von Normen, FS Faller, S. 53 (58); Hein, Unvereinbarerklärung, S. 175. 172 BVerfGE 37, 217 ( 261); S. auch oben D, //, 3, d, aa. 173 Gerontas 1982, DVB1. 1988, S. 486 (488 ff.); Heußner, NJW 1982, S. 257 (258); Jülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 97; Geiger, FS Maunz, S. 136; Leibholz / Rupprecht, BVerfGG § 31 Anm. 3; Maunz, BayVBl. 1980, S. 518; Jekewitz, DVB1. 1981, S. 1148; Maurer, Zur Verfassungs widrigerklärung, FS W. Weber, S. 345 (362); Pestalozza, „Noch verfassungsmäßige", in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 526; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 55; Ulsamer, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 78, RdNr. 33; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 172; Stern, Staatsrecht, II, S. 1041. 174 Vgl. Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung, S. 345 (362); S. auch Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 123.
II. Entscheidungen vor dem Bundesverfassungsgericht
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Wirkung inter omnes feststeht — ebenso wie bei der Nichtigerklärung —, daß ein Verfassungsverstoß vorliegt 175 . Das für verfassungswidrig erklärte Gesetz verfügt daher über keine Bindungswirkung, so daß weder der einzelne noch Behörden und Gerichte daran gebunden sind 176 . Jeder auf das für verfassungswidrig erklärte Gesetz gestützte Einzelakt ist verfassungswidrig 177. Die Nichtanwendbarkeit des verfassungswidrigen Gesetzes hat im Rahmen der konkreten Normenkontrolle und der Urteilsverfassungsbeschwerde zunächst einmal Konsequenzen für die Anlaßfälle mit der daraus für die Gerichte erwachsenden Pflicht, die Verfahren auszusetzen178. Während für Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG die Gerichte ihre Prozesse nach der Normenkontrollentscheidung erneut auszusetzen haben würden, sollte im Fall einer Urteilsverfassungsbeschwerde die Gerichtsentscheidung aufgehoben und die Sache an das zuständige Gericht zurückverwiesen werden, das seinerseits auf eine Neuregelung warten muß 179 . So kann der Kläger später eventuell in den Genuß einer gesetzlichen Neuregelung kommen, ohne daß ihn die Rechtskraft des Urteils überhaupt betroffen hat, das nach der Entscheidung über die Urteilsverfassungsbeschwerde oder nach der Entscheidung im Verfahren der konkreten Normenkontrolle eigentlich hätte ergehen müssen180. Die Beschränkung der Aussetzungspflicht allein auf die Anlaßfälle wäre aber unhaltbar, denn mit der Feststellung der Verfassungswidrigkeit ist mit Wirkung inter omnes Verwaltung und Gerichten gemäß Art. 20 Abs. 3 GG untersagt, gestützt auf das für verfassungswidrig erklärte Gesetz Einzelakte zu erlassen. Deswegen hat Ipsen hinsichtlich des willkürlichen Begünstigungsausschlusses festgestellt, daß jede definitive Entscheidung der Rechtsanwendungsinstanzen hier potentiell einen Gesetzes verstoß bedeute181. Die neu eingeleiteten oder anhängigen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren — sog. Parallelfälle — sind daher nicht anders als die Anlaßfälle zu behandeln. Die Entscheidung ist bis zur verfassungskonformen Neuregelung durch den Gesetzgeber auszusetzen182. 175 Maunz, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 31 RdNr. 33,42; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 217 218. 176 Vgl dazu Maunz, in: Maunz u.a., BVerfGG § 31 RdNr. 37; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 217-218; Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung, S. 345 (362). 177 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 218; Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung, S. 345 (362). 178 Vgl. BVerfGE 28, 324 (363); 29, 71 (83); 31, 1 (7); 37, 217 (261). 179 BVerfGE 15, 46 (76 f.); 22, 349 (362 f.); 23, 1 (11 f.); 25, 236 (255 f.); 28, 57 (71); 32, 325 (372 f.); 39, 316 (333). 180 Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 173. 181 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 219. 182 BVerfGE 22, 349 (363); BVerfGE 39, 316; Heußner, NJW 1982, S. 257 (258); Gerontas 1982, DVB1. 1988, S. 486 (488 ff.); Jülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 97; Geiger, Zur Lage unserer Verfassungsgerichtsbarkeit, FG Maunz, S. 136; Leibholz/ Rupprecht, BVerfGG § 31 Anm. 3; Maunz, BayVBl. 1980, S. 518; Jekewitz, DVB1. 1981, S. 1148; Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung, FS W. Weber, S. 345 (362);
1 7 0 D .
Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
Die Anwendungssperre als Rechtsfolge der Unvereinbarerklärung stößt in der Literatur auch auf Ablehnung, denn sie wäre— so wird eingewendet — nicht mit dem Rechtsfolgensystem in Einklang zu bringen. Die grundsätzliche Weiteranwendbarkeit einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärten Norm wird von Söhn vertreten, der in dem Verzicht auf die Nichtigerklärung die Aufrechterhaltung gültigen Rechts sieht, weil eine Entscheidung fehlt, die geltendes Recht vernichtet 183 . Auch Moench geht davon aus, daß, obwohl die Normanwendungssperre eine mögliche und optimale Konsequenz der Unvereinbarerklärung sei, sie keineswegs deren durch den Vorrang der Verfassung bedingte notwendige Folge sei. Die Grenzen der Anwendungssperre und damit die Bedingungen der Geltung des für verfassungswidrig erklärten Gesetzes seien strukturell in gleicher Weise zu bestimmen wie der Verzicht auf die Nichtigerklärung 184 . Ähnliche Argumente werden von Pohle beigetragen. In der Weitergeltung liege nicht etwa ein Verstoß gegen den Vorrang der Verfassung, weil staatliche Organe verpflichtet werden, verfassungswidrige Gesetze anzuwenden; sie handeln deshalb nicht selbst verfassungswidrig, sondern vielmehr der Verfassung entsprechend, weil der Vorrang der Verfassung die weitere Anwendbarkeit verlangt 185 . Gleicher Auffassung sind auch Kranz und Schneider, die in der Unvereinbarerklärungsfeststellung die Rechtfertigung für die Weitergeltung der für unvereinbar erklärten Norm sehen186. Eine allgemeine Weiteranwendbarkeit der verfassungswidrigen Norm würde eine „normative Alternative" 187 voraussetzen, die die Weitergeltung des verfassungswidrigen Gesetzes zuließe 188 . Da die deutsche Verfassungsordnung über keine derartige „ Alternative " verfügt, finden die Ansichten, die für die uneingeschränkte Weitergeltung plädieren, im Grundgesetz keine Stütze 189 . Abgelehnt wird die Anwendungssperre auch von Sachs. Die bloße Feststellung der Unvereinbarkeit könne die Verneinung der Nichtigkeit bedeuten und deren Annahme durch die übrigen Gerichte gesetzeskräftig ausschließen190. Da die Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung weder grundgesetzlich noch einfachrechtlich geregelt seien, könnten sie zur Begründung der Aussetzung nicht vorausPestalozza, „Noch verfassungsmäßige", in: BVerfG und GG, I, S. 526; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 55; Ulsamer, in: Maunz u.a., BVerfGG, § 78, RdNr. 33; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 172. 183 Söhn, Anwendungspflicht, S. 58. 184 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 172. 185 Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 118. 186 Kranz, NZA 1984, S. 348; Schneider, Funktion der Normenkontrolle, S. 159 ff; S. auch Kraushaar, AuR 1983, S. 142 ff.; Pieroth / Schlink, Staatsrecht II, RdNr. 562. 187 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 85; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 55 ff., 160 ff., 171, 259. S. dazu oben D, II, 2, a. iss S. dazu oben D, II, 2 a. Vgl. auch Ipsen, Rechtsfolgen, S. 55 ff., 160 ff., 171, 259. 189 Vgl. dazu Ipsen, Rechtsfolgen, S. 67; Stern, Staatsrecht, II, S. 1041. 190 Sachs, FamRZ 1982, S. 981 (985).
II. Entscheidungen vor dem Bundesverfassungsgericht
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gesetzt werden. Vielmehr bedürften sie der Begründung 191 . Deswegen ist es seiner Meinung nach notwendig, daß das Bundesverfassungsgericht zu der in §78 BVerfGG festgelegten Tenorierungspraxis zurückkehrt 192 . Eine ähnliche Ansicht wird von Ipsen vertreten, der keine Rechtsgrundlage für die Normsuspendierung und für die Verfahrensaussetzung als ihrer prozessualen Folge in Verfahrensregelungen sieht 193 . Der von Sachs in bezug auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts über Freizeitgewährung für eine Frau mit eigenem Hausstand (§ 1 Gesetz des Landes NRW vom 27.7.1948) vertretenen Auffassung liegt, wie aus einem neuerem Aufsatz hervorgeht 194 , das materielle Verständnis des Gleichheitssatzes zugrunde, daß das auf Art. 3 GG gestützte Rechtsschutzbegehren nur die Beseitigung des Gleichheitsverstoßes an sich zum Ziel haben könne. Die von ihm befürwortete Rechtsfolge (Nichtigkeit) setzt daher dieses materielle Verständnis des Gleichheitssatzes voraus. Das Gleichheitsrecht als Anspruch auf Unterlassung oder Beseitigung ungleicher Behandlung soll letzendlich dazu führen, daß dem Bürger ein Anspruch auf Abwehr der Fremdbegünstigung zusteht 195 . Dies würde über den Gleichheitssatz einen Eingriff in eine „fremde Rechtssphäre " ermöglichen, was von der herrschenden Lehre abgelehnt wird 1 9 6 . Gegenüber der These, wonach es an einer Rechtsgrundlage für die Anwendungssperre und für die Verfahrensaussetzung fehle, ist darauf hinzuweisen, daß sich der Gesetzgeber in § 31 Abs. 2 S. 2 sowohl auf das nichtige als auch auf das unvereinbare Gesetz bezieht. Das bedeutet, daß mit der bloßen Verfassungswidrigerklärung ein Verfassungsverstoß mit Wirkung inter omnes festgestellt wird. Die Rechtsbindung des Gesetzes fällt daher sowohl für den einzelnen als auch für Behörden und Gerichte fort 1 9 7 . Der Erlaß von Einzelakten, die sich auf das für verfassungswidrig erklärte Gesetz stützen, ist sowohl Verwaltung als auch Gerichten gemäß Art. 1 Abs. 3 und 20 Abs. 3 GG untersagt. Fraglich ist nur, ob die staatlichen Organe das für verfassungswidrig erklärte Gesetz ignorieren dürfen und die Sachverhalte selbst entscheiden können, oder ob sie bis zum Tätig werden des Gesetzgebers das Verfahren auszusetzen haben 198 . Der gesetzlich vorgesehene Verzicht auf die Nichtigerklärung kann dogmatisch nur so verstanden werden, daß die Lösung vom Gesetzgeber gefunden werden soll, dem 191 Sachs, FamRZ 1982, S. 981 (985). 192 Sachs, FamRZ 1982, S. 981 (985). 193 Ipsen, JZ 1983, S. 41 (43). 194 Sachs, DöV 1984, S.411 (418). 195 Vgl. oben D, II, 3, c, aa. 196 Dürig, in: Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1 RdNr. 473; Erichsen, Staatsrecht, und Verfassungsgerichtsbarkeit, I, S. 64; Dax, Das Gleichbehandlungsgebot, S. 127; Götz, NJW 1979, S. 1478 (1480); Friauf, DVB1. 1969, S. 368 (371 ff.). 197 Vgl. dazu oben D, II, 2, a. 198 Vgl. dazu Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung, FS W. Weber S. 345 (362).
172
D. Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
das Grundgesetz in erster Linie die Verfassungskonkretisierung anvertraut hat 199 . Für eine Anwendungssperre und für die Verfahrensaussetzung als ihrer prozessualen Folge fehlt es daher nicht an einer Rechtsgrundlage. Deswegen ist, trotz der Rechtsunsicherheit, die sich eventuell aus der Anwendungssperre ergibt 200 , anzuerkennen, daß mit der Unvereinbarerklärung gemäß Art. 31 Abs. 2 S. 1 BVerfGG allgemein verbindlich festgestellt wird, daß die beanstandete Rechtslage in der bestehenden Form mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist. Dies bedeutet, daß jeder auf die unvereinbare Norm gestützte Akt rechtswidrig ist 2 0 1 . Eine Weiteranwendung der für unvereinbar erklärten Norm durch die staatlichen Organe ist unzulässig, da Verwaltung und Gerichte ebenso wie der Gesetzgeber an in Art. 1 Abs. 3 und 20 Abs. 3 verankerte rechtstaatliche Gebote gebunden und daher dazu verpflichtet sind, rechtmäßig zu handeln 202 . Eine gegen das Grundgesetz vorgenommene Handlung läßt sich prinzipiell nicht verfassungsrechtlich rechtfertigen. Insoweit ist der vom Bundesverfassungsgericht erklärten Gleichstellung von Nichtigerklärung und Unvereinbarerklärung zuzustimmen 203 . dd) Die Anwendbarkeit
des verfassungswidrigen
Gesetzes
Die Anwendungssperre wirft aber nicht selten Probleme auf. In der Entscheidung zur Staatsangehörigkeit von Kindern aus gemischt-staatlichen Verbindungen 204 wurde deutlich, daß ohne eine interimistische Anwendung der verfassungswidrigen Bestimmung in der Übergangszeit keine Regelung betreffs der Staatsangehörigkeit bestanden hätte. Das Bundesverfassungsgericht hat die Weiteranwendung der unvereinbaren Normen ausnahmsweise dann für zulässig erklärt, „ wenn die Besonderheit der für verfassungswidrig erklärten Norm es aus verfassungsrechtlichen Gründen, insbesondere aus solchen der Rechtssicherheit, notwendig macht, die verfassungswidrige Vorschrift als Regelung für die Übergangszeit bestehen zu lassen, damit in dieser Zeit nicht ein Zustand besteht, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt ist als der bisherige " 205. Die herrschende Meinung geht von der Zulässigkeit einer Weiteranwendung des für unvereinbar erklärten Gesetzes aus. So beschränkt sich Pestalozza darauf, 199 Vgl. dazu Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung, S. 345 (362); Ipsen, Rechtfolgen, S. 219. 200 Maurer, Zur Verfassungs widrigerklärung, FS W. Weber, S. 345 (362). 201 Vgl. dazu Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung, S. 345 (362); Ipsen, Rechtsfolgen, S. 192. 202 Maurer, Zur Verfassungs widrigerklärung, S. 345 (362); Hein, Unvereinbarerklärung, S. 189. 203 Vgl. Hein, Unvereinbarerklärung, S. 189; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 178. 204 BVerfGE 37, 217. 205 BVerfGE 61, 319 (356).
II. Entscheidungen vor dem Bundesverfassungsgericht
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hervorzuheben, daß die Geltung verfassungswidriger Normen aus dem Rechtssystem abzuleiten sei 206 . Gleicher Meinung sind auch u.a. Stern 207 , Schiaich 208 , Maurer 209 und Jülicher 210 für den Fall, daß die Weitergeltung der geprüften Norm von der Verfassung gefordert wird. Eine Weitergeltung der verfassungswidrigen, aber nicht nichtigen Norm wird auch von Moench aus der Verfassung abgeleitet, so daß sie im Einzelfall konkret nach Maßgabe der Verfassung zu bestimmen sei 211 . Eine ähnliche Begründung wird auch von Heußner vorgebracht, der die Weitergeltung aus verfassungsrechtlichen Gründen, insbesondere aus solchen der Rechtssicherheit, für erforderlich hält, damit nicht in dieser Zeit ein Zustand entstehe, der von der verfassungsgemäßen Ordnung noch weiter entfernt ist 2 1 2 . Abschließend wird man mit der in der Literatur herrschenden Auffassung davon auszugehen haben, daß die fortdauernde Anwendbarkeit der für unvereinbar erklärten Norm angenommen wird, wenn diese von der Verfassung verlangt wird 2 1 3 . Ein allgemeines Prinzip bezüglich der Weiteranwendung läßt sich aber nicht feststellen. Vielmehr hängt die Entscheidung über die ausnahmsweise Anwendbarkeit für die Übergangszeit von einem einzelfallbezogenen Abwägungsvorgang ab 214 . Damit ist nicht definitiv geklärt, nach welchen Kriterien das Bundesverfassungsgericht die Weiteranwendung verfassungswidriger Normen anordnen kann 215 . Es bleibt aber festzuhalten, daß eine Anordnung der Weitergeltung nur zulässig sein kann, wenn eine Verfassungsnorm sie fordert, weil der Grundsatz der Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze Verfassungsrang hat 216 . Dieses an sich verfassungsrechtlich zwingende Konzept birgt die Gefahr in sich, daß dadurch die Tendenz verstärkt wird, alle möglichen konkreten Aussagen und Gebote in die Verfassung hineinzulesen217. Eine solche Tendenz könnte den Eindruck verstärken, daß es sich bei der Unvereinbarkeitserklärung vor allem um ein vom Bundesverfassungsgericht beanspruchtes „Sanktionsermessen" handelt 218 .
206 Pestalozza, „Noch verfassungsmäßige",in: BVerfG und GG, I, S. 565-566. 207 Stem, Staatsrecht, II, S. 1041. 208 Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 180. 209 Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung, FS W. Weber, S. 345 (362). 210 Jülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 97. 211. Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 173. 212 Heußner, NJW 1982, S. 257 (259). 213 Vgl. dazu Hein, Unvereinbarerklärung, S. 192. 214 Vgl. dazu Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 180; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 194. 215 Vgl. dazu Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 180. 216 S. dazu oben D, II, 2, a; Vgl. auch Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 180. 217 Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 180; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 194. 218 Vgl. dazu Ipsen, Rechtsfolgen, S. 220; Derselbe, JZ 1983, S. 41 ff.; S. auch Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, S. 98.
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D. Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
4. Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen a) Einleitung Eine weitere und bedeutende Entscheidungsvariante des Bundesverfassungsgerichts stellt die sogenannte verfassungskonforme Auslegung dar, in der das Gericht feststellt, welche der möglichen Auslegungen des Gesetzes mit dem Grundgesetz vereinbar bzw. nicht vereinbar ist. Ungeachtet der fehlenden gesetzlichen Regelung hat die verfassungskonforme Auslegung steigende Bedeutung gewonnen dank ihrer Flexibilität, die dem Rechtsformalismus die materielle Gerechtigkeit und die Rechtssicherheit vorzieht 219 . Anlaß zu einer verfassungskonformen Auslegung besteht immer dann, wenn eine Gesetzesbestimmung im Rahmen ihres Wortlauts mehrere Auslegungsmöglichkeiten zuläßt, aber nicht alle diese möglichen Auslegungen mit dem Grundgesetz vereinbar sind 220 . Das Bundesverfassungsgericht hat die verfassungskonforme Auslegung schon früh aufgegriffen und diese Kategorie, die bereits in der Praxis des amerikanischen Supreme Court große Bedeutung erlangte, weiterentwickelt. Die starke, hochdifferenzierte Entwicklung der verfassungskonformen Auslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts macht es schwierig, eine Typologie der Entscheidungspraxis zu entwickeln 221 . Nicht selten stellt das Bundesverfassungsgericht die Vereinbarkeit eines Gesetzes mit dem Grundgesetz durch Ausschluß verfassungswidriger Interpretationsmöglichkeiten fest 222 . Das Gericht wendet aber diese Methode auch an, um Lücken auszufüllen bzw. eine Rechtsergänzung zu erreichen. Diese Fallgruppe, die von Gusy als ein Beispiel „ verfassungsrechtlicher Optimierung " bezeichnet wird 2 2 3 , ermöglicht die verfassungskonforme „Rechtsfortbildung" des gesetzlichen Rechts durch Analogie, Reduktion oder unmittelbare Herleitung normativer Prämissen aus der Verfassung 224. Das Bundesverfassungsgericht hat seit der Entscheidung über den Grundlagenvertrag die Anwendung der sogenannten „Koppelungsklausel" im Tenor eingeführt, welche lautet: „ §§ . . . sind in der sich aus den Gründen ergebenden Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar " 22S. Dieser Verweis im Tenor auf die 219 Bachof, Der Verfassungsrichter zwischen Recht und Politik, in: Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 293; Gusy, Gesetzgeber, S. 218. 220 Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 184; Gusy, Gesetzgeber, S. 214. 22 1 Zur früheren Rechtsprechung: Bogs, Verfassungskonforme Auslegung, S. 34. 222 Vgl. dazu BVerfGE 51, 97, 105 ff. 223 Gusy, Gesetzgeber, S. 214. 224 Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, S. 93; Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 121 (123).
II. Entscheidungen vor dem Bundesverfassungsgericht
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Gründe wird in der Lehre kritisiert, denn es mangelt ihm an Rechtsklarheit 226. Das Bundesverfassungsgericht ist aber in dieser Praxis einen Schritt weitergegangen, indem es beim Grundlagenvertragsurteil die Gründe ausdrücklich festlegte: „Alle Ausführungen der Urteilsbegründung, auch die, die sich nicht ausschließlich auf den Inhalt des Vertrags selbst beziehen, sind nötig, also im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG Teil der die Entscheidung tragenden Gründe" 227 .
b) Zulässigkeit der verfassungskonformen Auslegung Die Zulässigkeit der verfassungskonformen Auslegung wird in der Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich begründet. Ein wichtiges Argument, das dem Grundsatz der verfassungskonformen Auslegung Geltung zu verschaffen vermag, ist der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung, der die Verfassung als vorrangigen Kontext der einzelnen Gesetzesnormen betrachtet 228. Die Gesetze und andere weniger hochrangige Normen müssen daher im Einklang mit der Verfassung ausgelegt werden 229 . Unter diesem Gesichtspunkt stellt die verfassungskonforme Auslegung einen Unterfall der systematischen Auslegung dar 230 . Der favor /eg/s-Gedanke ist ein zusätzliches Argument, das sich unmittelbar aus der Perspektive der Normenkontrolle ergibt. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts „spricht nicht nur eine Vermutung dafür, daß ein Gesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist, sondern das in dieser Vermutung zum Ausdruck kommende Prinzip verlangt im Zweifel eine verfassungskonforme Auslegung des Gesetzes " 2 3 1 . Dieses „ normerhaltende " oder „konservierende " Prinzip läßt sich nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit und der Vermutung eines regulären Funktionierens der Gesetzgebung begründen, sondern auch durch die Anerkennung des Vorrangs des Gesetzgebers bei der Konkretisierung oder Verwirklichung der Verfassung 232.
225 BVerfGE 30, 1. 226 Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 186; Vgl. auch Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. II, S. 193. 227 BVerfGE 36, 1 (36); Vgl. hierzu Rupp- v. Brünneck, Sondervotum, S. 62. 228 Hesse, Grundzüge, S. 30, RdNr. 80; Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung, in: BVerfG und GG, Bd. II, S. 108 (109). 229 BVerfGE 13, 46 (51); 19, 1 (8); Hesse, Grundzüge, S. 30, RdNr. 80; Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung, in: BVerfG und GG, Bd. II, S. 108 (109). 230 Spanner, AöR 91 (1966), S. 503 (509); Haak, Normenkontrolle und verfassungskonforme Auslegung des Richters, 1963, S. 259; Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, S. 91; Simon, EuGRZ 74, S. 85 (86). 231 BVerfGE 2, 266 (282); BVerfGE 12, 61; 31, 132; 32, 383; 36, 271. 232 Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung, in: BVerfG und GG, Bd. II, S. 108 (111); Müller, Juristische Methodik, S. 87.
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D. Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren c) Grenzen der verfassungskonformen Auslegung
Dem demokratischen Gesetzgeber ist in erster Linie die rechtliche Gestaltung der Lebensverhältnisse aufgetragen, so daß die verfassungskonforme Auslegung sich funktionalrechtlich dem Gesetzgeber gegenüber als ein Prinzip richterlicher Zurückhaltung darstellt 233 . Das Bundesverfassungsgericht trägt diesem funktionalrechtlichen Gedanken Rechnung, indem es anerkennt, daß sowohl der Gesetzeswortlaut als auch der Zweck, den der Gesetzgeber eindeutig mit seiner Regelung verfolgt, der verfassungskonformen Auslegung Grenzen setzen234. Damit wird die Doppelfunktion hervorgehoben, die dem Wortlaut zukommt: seine Mehrdeutigkeit stellt die Grundlage dar, die eine Trennung zwischen verfassungskonformen und verfassungswidrigen Auslegungsalternativen erlaubt; andererseits bedeutet der Wortlaut eine Grenze der verfassungskonformen Auslegung 235 . Die gesetzgeberischen Grundentscheidungen, Wertungen und darin angelegten Zwecke konstituieren ebenfalls eine Grenze der verfassungskonformen Auslegung. Es darf einem eindeutigen Gesetz nicht ein entgegengesetzter Sinn gegeben und es darf das gesetzgeberische Ziel nicht verfälscht werden 236 . Der Grundsatz der verfassungskonformen Auslegung enthält daher keine Ermächtigung zur „ Verbesserung " von Gesetzen durch das Bundesverfassungsgericht237. Jede Umdeutung des Gesetzesinhalts im Wege der verfassungskonformen Auslegung bedeutet einen stärkeren Eingriff in die Befugnisse des Gesetzgebers als eine Nichtigerklärung, da in diesem Falle die neue Gestaltung Sache des Gesetzgebers bleibt 238 . Diese Grenzen werden nicht immer vom Bundesverfassungsgericht beachtet. Zwei ausgewählte Beispiele mögen dies belegen. Klassisches Beispiel für diese Problematik bietet der Beschluß vom 17.3.1959, durch welchen § 18 I I I des rheinland-pfälzischen Landesgesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 14.4.1950 durch verfassungskonforme Auslegung für vereinbar mit Art. 19 IV GG und mit dem GG erklärt wurde 239 . Diese Vor233 Hesse, Grundzüge, S. 31, RdNr. 83; Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (74). 234 BVerfGE 2, 282, 298; 4, 351; 8, 28; 34, 41; 9, 200; 10; 80; 18, 111; 19, 247, 253; 20, 218; 21, 305, 25, 305; 38, 49; Spanner, AöR 91 (1966), S. 503 (510 ff.).; Bogs, Verfassungskonforme Auslegung, 67. 235 Gusy, Gesetzgeber, S. 214; Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung, in: BVerfG und GG, S. 115-116. 23 6 Vgl. etwa BVerfGE 63, 131 (141); 64, 229 (241); 62, 117 (166). 23 7 Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20, S. 53 (75); Hesse, Grundzüge, S. 31, RdNr. 83. 23 « Hesse, Grundzüge, S. 31, RdNr. 83; 239
BVerfGE 9, 199.
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schrift lautet: „ Gegen die Entscheidung des Kreisrechtsausschusses kann wahlweise Verwaltungsbeschwerde an den zuständigen Regierungspräsidenten oder Klage im Verwaltungsverfahren erhoben werden. Der eine Rechtsbehelf schließt den anderen aus". Das Bundesverfassungsgericht hat diese Bestimmung so ausgelegt, daß danach Verwaltungsbeschwerde und anschließend verwaltungsgerichtliche Klage gegen die Beschwerdeentscheidung zulässig sein sollten, da gemäß dem Wortlaut die Wahl der Verwaltungsbeschwerde nur eine gleichzeitige Erhebung der verwaltungsgerichtlichen Klage ausschließe240. Dieses Judikat stieß auf heftige Kritik, da das Bundesverfassungsgericht durch eine gekünstelte sprachliche Interpretation eine dem Sinngehalt zuwiderlaufende Auslegung festgelegt habe 241 . In diesem Kontext kann noch die Entscheidung über die gesetzliche Neuregelung der Hamburger Juristenausbildungsordnung erwähnt werden 242 . In Reaktion auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hatte der Gesetzgeber die Möglichkeit der Ableistung des Referendardienstes im Angestelltenverhältnis eröffnet, um eine Anwendung des Beamtenverhältnisses und damit das Erfordernis des Eintretens der Bewerber für die freiheitlich demokratische Grundordnung zu umgehen 243 . Das Bundesverfassungsgericht hat aber die Bestimmung „gelesen und verstanden im Kontext mit dem übergeordneten Verfassungsrecht " ausgelegt und die Möglichkeit ausgeschlossen, jemanden, der die freiheitlich demokratische Grundordnung infrage stellt, in den Vorbereitungsdienst außerhalb des Beamtenverhältnisses aufzunehmen 244. Hier wird ersichtlich, daß das Bundesverfassungsgericht sich über den historischen Gesetzessinn hinwegsetzt, so daß die erlassenen Regelungen am Ende nicht entsprechend dem ursprünglichen Willen des Gesetzgebers wirksam werden und die Verwaltung Gesetze anzuwenden hat, die in diesem Verständnis nicht erlassen worden sind 245 . In diesem Fall kann die mit der verfassungskonformen Auslegung beabsichtigte Schonung des Gesetzgebers sich in ihr Gegenteil verkehren 246 . Weitere Begrenzungen der verfassungskonformen Auslegung können sich aus dem besonderen Charakter der auszulegenden Rechtsvorschriften ergeben. Ein 240 BVerfGE 9, 199. 241 Menger, Verw.Arch. 59 (1959), S. 389; Schack-Michel, Die verfassungskonforme Auslegung, JuS 1961, S. 269 (281); S. auch Spanner, AöR 91 (1966), S. 503 (515); Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung, in: BVerfG und GG, S. 108 (116); Vgl. auch Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (75). 242 BVerfGE 46, 43 (55). 243 Vgl. dazu Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 189. 244 BVerfGE 46, 43 (55). 245 Vgl. dazu Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 189; Zeidler, EuGRZ 1988, S. 207 (210). 246 Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit,in: Benda u.a., Handbuch des Verfassungsrechts, S.1253 (1283); Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 189. 12 Mendes
1 7 8 D .
Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
schwieriges Problem stellt die verfassungskonforme Auslegung von Verfassungsänderungsgesetzen dar, da es sich hier nicht um eine Handlung des Gesetzgebers zur Verwirklichung der Verfassung handelt. Ein nach Maßgabe von Art. 79 Abs. 1 und 2 GG erlassenes Gesetz, selbst wenn es lediglich eine bestimmte Vorschrift ändern will, bewirkt eine komplette Änderung der Verfassung 247. Dieser Vorgang wird durch die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG abgegrenzt, so daß eine verfassungsändernde Norm sich zunächst an dieser Regelung messen lassen muß, bevor sie auf die Gesamtverfassung Auswirkung haben kann 248 . Im Gegensatz zur verfassungskonformen Auslegung von Unterverfassungsrecht, bei der die Verfassung selbst unverändert bleibt, erscheint die Anwendung des Prinzips der verfassungskonformen Auslegung auf verfassungsändernde Gesetze auf Verfassungsebene deswegen problematisch, weil die Änderungsregelungen auf die bestehenden Normen zurückstrahlen und sie in „ einem anderen Licht" erscheinen lassen249. Eine Begrenzung dieser Wirkung ist auf dem Weg der verfassungskonformen Auslegung nicht zu erreichen. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch im Abhör-Urteil deren Zulässigkeit angenommen, indem es die Vereinbarkeit des Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG mit Art. 79 Abs. 3 GG in der von ihm für beide Vorschriften befürworteten Auslegung erklärt hat 250 .
d) Qualifizierung der verfassungskonformen Auslegung Die Erhaltung der Norm, deren denkbarer Auslegungsspielraum verfassungsgemäße und verfassungswidrige Alternativen umfaßt, erfolgt nicht selten unter deutlicher Einschränkung der Auslegungsmöglichkeiten, da die Bejahung ihrer Rechtsgültigkeit auch unter Ausschaltung der beanstandeten Auslegung geschehen kann 251 . Stimmen in der Literatur vertreten die Auffassung, daß, soweit die verfassungskonforme Auslegung dazu dient, einzelne Interpretationsergebnisse auszuschließen, sie einer Teilnichtigerklärung ohne Normtextreduzierung entspricht 252 . Zu247 Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. II, S. 19; Ders., Verw.Arch., 62 (1971), S. 291 (293); Schlink, Bernhard, Der Staat, 12, (1973), S. 84 (88). 248 Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, II, S. 19; Derselbe, Verw. Arch., 62 (1971), S. 291 (293); Schlink, Der Staat, 12, (1973), S. 84 (88). 249 Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. II, S. 19; Derselbe, Verw. Arch., 62 (1971), S. 291 (293); Schlink, Der Staat, 12, (1973), S. 84 (88). 250 BVerfGE 30, 1 (17). 251 BVerfGE 65, 132 (139); Bryde, Verfassungsentwicklung, S.411; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 186; Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung, S. 111. 252 Skouris, Teilnichtigkeit, S. 108; Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, S. 99; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 19; von Mutius, Verw.Arch. 67 (1976), S. 403 (409), Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft, in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 568 (607).
II. Entscheidungen vor dem Bundesverfassungsgericht
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gunsten dieser These wird allgemein argumentiert, daß, wenn man das Ergebnis herkömmlicher verfassungskonformer Auslegung nicht von seiner positiven — der normerhaltenden —, sondern von seiner negativen — der normverwerfenden — Seite her betrachtet, eine Parallelität zwischen „ qualitativer Teilnichtigerklärung" und verfassungskonformer Auslegung bestehe253. Dieser Gedankengang wird durch das Argument ergänzt, daß dann, wenn die Rechtskraft einer derartigen Entscheidung lediglich nach den Grundsätzen über abweisende Normenkontrollentscheidungen zu bestimmen wäre, der sachliche Gehalt der Entscheidung verfehlt würde, da nichts einen Antragsgegner daran hindern könnte, das Gesetz weiterhin seiner Auslegung gemäß als verfassungswidrig zu bezeichnen254. Die Unvereinbarerklärung einer bestimmten Auslegung könnte aus § 79 Abs. 1 BVerfGG abgeleitet werden. Gemäß dieser Vorschrift wird die Wiederaufnahme eines Verfahrens gegen ein rechtskräftiges Strafurteil, das auf der Auslegung einer Norm beruht, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist 2 5 5 , zugelassen256. Die in der Praxis vergleichbare Wirkung und die Nähe beider Kategorien zueinander führen nicht notwendigerweise zu einer Gleichsetzung beider Instrumente. Die Feststellung, daß ein Gesetz in einer bestimmten Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar ist, bedeutet nicht, daß es „ n u r u in der zugrundegelegten Auslegung verfassungsgemäß ist, da das Bundesverfassungsgericht keine Entscheidung über alle denkbaren Auslegungen treffen muß 257 . Die als verfassungsgemäß erklärte Norm bleibt auch nach der Entscheidung des Gerichts in ihrer weiteren Anwendung auslegungsbedürftig, und die Fachgerichte, die dafür zuständig sind, können andere verfassungskonforme Interpretationen entwickeln 258 . Die Vereinbarkeitserklärung entspricht in diesem Sinne weder der Verwerfung bestimmter Auslegungen noch der Festlegung auf eine einzig gültige Interpretation 2 5 9 . Das führt dazu, daß, wenn das Bundesverfassungsgericht die Vereinbarkeit der Norm in einer bestimmten Auslegung erklärt, Gegenstand der rechtskräftigen Feststellung lediglich ist, daß die Norm in der vom Gericht zugrundegelegten Auslegung mit der Verfassung übereinstimmt 260 . Auch aus der Regelung des § 79 Abs. 1 BVerfGG ergibt sich nicht, daß bestimmte Auslegungen für unvereinbar erklärt werden. Dieser Bestimmung, die
25
3 Skouris, Teilnichtigkeit, S. 108; Vgl. auch Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 19. 254 Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: BVerfG und GG, I, S. 568 (607). 255 Prümm, Verfassung und Methodik, S. 163. 256 Sachs, NJW 1979, S. 344 (346). 257 Sachs, NJW 1979, S. 344 (345); Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 410. 258 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 410. 259 Stern, Bonner Kommentar, Art. 93 RdNr. 322. 260 Sachs, NJW 1979, S. 344 (345). 12*
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D. Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
nicht den Entscheidungsinhalt, sondern die Auswirkungen der Entscheidungen regelt, liegt der Gedanke zugrunde, daß niemand wegen einer verfassungswidrigen Strafrechtsnorm zu belasten ist 2 6 1 und selbstverständlich auch nicht durch die weitgehende Normerhaltungspraxis des Bundesverfassungsgerichts mittels verfassungskonformer Auslegung belastet werden darf 262 . Dies verdeutlicht, daß diese Bestimmung allein über die Auswirkung der Entscheidungen und nicht über ihren Inhalt verfügt 263 . Diese Ausführungen zeigen, daß die Identifizierung der Teilnichtigerklärung ohne Normtextreduzierung mit der verfassungskonformen Auslegung nur möglich ist, wenn man, wie von Bryde anerkannt wird, diese als einen die normalen Regeln der Hermeneutik transzendierenden Kunstgriff verstehen könnte 264 .
5. Die Appellentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts a) Einleitung Nicht selten kommt das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, daß das Gesetz oder die Rechtslage „noch" nicht verfassungswidrig ist, und verbindet diese Entscheidung mit dem Appell an den Gesetzgeber, diesen „noch verfassungsmäßigen " Zustand — eventuell innerhalb eines bestimmten Zeitraums — zu ändern 265 . Ausgangspunkt für die Entwicklung der Appellentscheidungen bei dem Bundesverfassungsgericht war das Urteil vom 4.5.1954 zum Saarstatut, in dem das Bundesverfassungsgericht eine „Annäherungslehre" formulierte und ausführte, daß die gesetzgeberischen Maßnahmen, die im Hinblick auf das allmähliche Abbauen des Besatzungsrechts unternommen wurden, — selbst wenn sie einen imperfekten Zustand darstellten — als noch verfassungsgemäß anzusehen seien, da sie die Rechtslage näher an das Grundgesetz heranrückten 266. Die Bezeichnung Appellentscheidung geht offensichtlich auf den bekannten Aufsatz von Rupp v. Brünneck zurück 267 . 261 BVerfGE 12, 338 (340). 262 Vgl. Sachs, NJW, 1979, S. 344 (346); Leibholz-Rupprecht, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Nachtr. § 79, RdNr. 3. 263 Sachs, NJW 1979, S. 344 (345). 264 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 411. 265 BVerfGE 7, 282; 16, 130; 21 12 (42); 25, 167; Vgl. u.a. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 132; Zeidler, EuGRZ, 1988, S. 207 (210 ff.); Pestalozza, „Noch verfassungsmäßige", in: BVerfG und GG, I, S. 520 (540). 266 BVerfGE 4, 157 (177-178); Vgl. auch dazu Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 181; Pestalozza, „Noch verfassungsmäßige", S. 547 ff. Kritisch dazu: Lerche, DöV 1971, S. 721 ff. 267 Rupp v. Brünneck, Darf das Bundesverfassungsgericht an den Gesetzgeber appellieren? FS Gebhard Müller, S. 355 ff.; Vgl. auch Schefold-Leske, NJW 1973, S. 1297
. Entscheidungen vor dem Bundesverfassungsgericht
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Als Appellentscheidungen werden die Fälle bezeichnet, in denen das Gericht den Rechtszustand zwar als „ noch verfassungs gemäß " anerkennt, doch gleichzeitig einen bevorstehenden Umschlag in die Verfassungswidrigkeit ankündigt. Teilweise werden als Appellentscheidungen die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bezeichnet, in denen die Verfassungswidrigkeit der Norm zwar festgestellt, aber auf eine Nichtigerklärung verzichtet wird und das Gericht sich auf einen Appell an den Gesetzgeber beschränkt 268. Gegenstand der nachfolgenden Untersuchungen sollen nur die Appellentscheidungen im zuerst genannten Sinne sein.
b) Appellentscheidungen in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts Die Appellentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bilden eine stark differenzierte Fallkonstellation, die eine Systematisierung deshalb nur bedingt zuläßt. Die verschiedenen Kategorien kommen teilweise auch in Mischformen vor. Immerhin lassen sich mindestens drei typische Fallgruppen feststellen: (1) Appellentscheidungen aus Anlaß von Änderungen der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse; (2) Appellentscheidungen wegen Nichterfüllung von Gesetzgebungsaufträgen; (3) Appellentscheidungen aus Anlaß fehlender Evidenz des Verfassungsverstoßes. aa) Appellentscheidungen aus Anlaß von Änderungen der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse Die Appellentscheidungen aus Anlaß eines Wandels der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse bilden die wichtigste Fallgruppe der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 269. Das klassische Beispiel für ein Verfassungswidrigwerden aus Anlaß eines Wandels der tatsächlichen Verhältnisse ist der Beschluß des BVerfGs vom 22.5.1963, in dem erklärt wird, daß die noch aus dem Jahre 1949 stammende Wahlkreiseinteilung wegen der späteren Bevölkerungsverschiebung zwischen (1299): Söhn, Anwendungspflicht, S. 37 ff.; Maurer, Zur Verfassungswidrigererklärung von Gesetzen, FS W. Weber, S. 363; Pestalozza, „Noch verfassungsmäßige", Bd. I, S. 519 (540). Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 70. 268 Schefold / Leske, NJW, 1973, S. 1297 (1299); Söhn, Anwendungspflicht, 1974, S. 37. 269 BVerfGE 33, 1; 16, 130; 15, 19; BVerGE 39, 169; S. auch Schneider, H., Der Gegenstand der Normenkontrolle, FS Jahrreiss, 1964, S. 385 (287 ff.); Schulte, DVB1. 1988, S. 1200 (1201).
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D. Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
den einzelnen Ländern dem Erfordernis der Wahlrechtsgleichheit nicht mehr entspreche 270. Immerhin hat das Gericht von einer Verfassungswidrigerklärung abgesehen mit der Begründung, daß die Verfassungswidrigkeit zur Zeit der Normverkündung (September 1961) noch nicht erkennbar gewesen sei 271 . Damit hat das Bundesverfassungsgericht für den Zeitpunkt der Wahl einen Verstoß gegen Art. 38 GG verneint und an den Bundesgesetzgeber appelliert, eine neue Wahlkreiseinteilung zu verabschieden, damit die nächsten Wahlen auf korrekter Grundlage abgehalten werden könnten 272 . Der Gesetzgeber hat dem Appell durch das Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 14.2.1964 (BGBl. I, S. 61) Folge geleistet 273 . Nicht immer läßt sich der Prozeß des „ Verfassungswidrigwerdens " so evident auf einen Wandel tatsächlicher Gegebenheiten zurückführen 274. Manchmal kann eine Gemengelage festgestellt werden, in der faktische und rechtliche Gesichtspunkte nicht voneinander zu unterscheiden sind 275 . Man muß sich vergegenwärtigen, daß eine Änderung von tatsächlichen Verhältnissen immer die normativen Wertungen beeinflußt und eine Änderung der Wertung nicht stattfindet, ohne daß es dafür tatsächlich einen Anlaß gibt 2 7 6 . Ein deutliches Beispiel dafür bieten die sogenannten „ Witwerrenten-Entscheidungen " des Bundesverfassungsgerichts 277. Nach §§43 Abs. 1 AVG, 1266 Abs. 1 RVO erhält der Ehemann nach dem Tod der versicherten Ehefrau Witwerrente, wenn die Verstorbene den Unterhalt der Familie überwiegend bestritten hat. Die Witwenrente (§§41 AVG, 1264 RVO) wird dagegen unabhängig davon gewährt,
270 BVerfGE 16, 130 ff. 271 BVerfGE 16, 130 (141/142). 272 BVerfGE 16, 130 (142). 273 Dieser Fall war durch ein Dilemma besonderer Art gekennzeichnet: hätte das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß die damalige Einteilung der Wahlkreise infolge der Bevölkerungsverschiebung bereits zu einer mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit unvereinbaren Differenzierung geführt habe, so hätte dies zwangsläufig die Ungültigkeit der Wahlen zu dem amtierenden Bundestag nach sich gezogen. In diesem Falle wäre prinzipiell niemand dazu befugt, ein neues Wahlgesetz zu erlassen, weil die Wahlperiode des vorhergehenden Bundestags längst abgelaufen war (Art. 39, Abs. 1 Satz 2 GG) und die Vorschrift über den Gesetzgebungsnotstand (Art. 81 GG) in einem solchen Fall nicht anwendbar ist (Rupp v. Brünneck, Darf das Bundesverfassungsgericht an den Gesetzgeber appellieren?, S. 372; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 182; Gusy, Gesetzgeber, S. 211). 274 Bryde (Verfassungsentwicklung, S. 283) weist mit Recht darauf hin, daß im tatsächlichen Prozeß der Verfassungskonkretisierung und Entwicklung die Wandlungen im Regelungsbereich und die Wandlungen von Wertungen unlösbar verbunden sind, das heißt, daß eine Änderung von tatsächlichen Verhältnissen immer auch die normativen Wertungen beeinflussen wird und eine Änderung der Wertung nicht stattfinden wird, ohne daß es dafür tatsächlich Anlaß gibt. 275 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 134. 276 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 283-284. 277 Urteile vom 24.7.63 (BVerfGE 17, 1) und vom 12.3.74 (BVerfGE 39, 169).
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wie hoch der Anteil des Verstorbenen am Familienunterhalt gewesen ist. Im sog. „ersten Witwerrenten-Urteil" erkannte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit des § 43 Abs. 1 A V G an mit der Begründung, daß normalerweise nur beim verwitweten Mann der Verlust an Unterhaltsleistungen (von der verstorbenen Frau) wirtschaftlich ausgeglichen werde 278 . Die beschränkte Anzahl erwerbstätiger Ehefrauen (1950 etwa 7,5 %) sprach dafür, daß der Gesetzgeber mit dieser Regelung die Grenzen zulässiger Typisierung noch nicht überschritten hatte 279 . Im zweiten Witwerrenten-Urteil ist das Bundesverfassungsgericht aber zu dem Ergebnis gelangt, daß §§43 Abs. 1 AVG, 1266 Abs. 1 RVO gegenwärtig nicht verfassungswidrig seien, der Gesetzgeber aber zu einer Neuregelung verpflichtet sei, weil die Vorschriften verfassungswidrig zu werden drohten: in der Zeit von 1950 bis 1973 hatte sich die Zahl der erwerbstätigen Ehefrauen vervierfacht 280 . Außerdem sei eine gewandelte Sicht der Rollenverteilung innerhalb der Ehe festzustellen, die die Regelungen der §§43 Abs. 1 AVG, 1266 Abs. 1 RVO als fragwürdig erscheinen ließen 281 . Immerhin verneinte das Bundesverfassungsgericht einen aktuellen Verfassungsverstoß gegen Art. 3 Abs. 2 GG, weil sich der fragliche Wandel in Altersgruppen vollzogen habe, die das rentenfähige Alter erst in einigen Jahren erreichen würden. Aus dieser Rechtslage sei aber ein „Verfassungsauftrag für den Gesetzgeber abzuleiten, eine Neuregelung vorzusehen, die einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 und 3 GG für die weitere Zukunft ausschließt" 2* 2. In diesem Zusammenhang ist schließlich darauf hinzuweisen, daß eine Änderung der Rechtsauffassung, die zu einem Verfassungswandel führen kann, eventuell eine Verfassungswidrigkeit der früher als rechtmäßig angesehenen Rechtslage zur Folge hat. Eine Auffassung, die hoheitliches Handeln entweder als rechtmäßig oder als rechtswidrig ansieht, ist normalerweise nicht bereit, hier eventuell die Vollziehung eines Prozesses des Verfassungs widrig werdens anzuerkennen 283. So behilft man sich mit der Rechtfertigung, daß es die Rechtswidrigkeit immer gegeben habe, sie nur bisher nicht erkannt worden sei 284 . Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch in der Strafvollzugsentscheidung diese Konzeption in Zweifel gezogen. Es hat anerkannt, daß, obwohl man früher 278 BVerfGE 17, 1 (19). 279 BVerfGE 17, 1 (23). 280 BVerfGE 39, 169 (184). 281 BVerfGE 39, 169 (189); S. auch BVerfGE 16, 147 (188); 21, 12 (42). 282 BVerfGE 39, 169 (194). Es ist offensichtlich, daß sich die Rechtsprechungsänderungen zum Gleichheitssatz zwar mit tatsächlichen Änderungen begründen lassen. In Wirklichkeit handelt es sich aber zumindest auch, wie von Bryde (Verfassungsentwicklung, S. 286) angedeutet wird, um eine „gewandelte Gleichheitsvorstellung" oder um eine gewandelte Einstellung zum zulässigen Ausmaß staatlicher Eingriffe, die durch die tatsächlichen Änderungen lediglich angeregt und mitbestimmt worden sind. 283 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 137. 284 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 137.
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der Auffassung war, daß zum Eingriff in das Recht der Strafgefangenen die Anordnung der Justizverwaltung genügte, die Notwendigkeit, den Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes auf die sogenannten besonderen Statusverhältnisse anzuwenden, sich auch in der wissenschaftlichen Literatur allmählich durchgesetzt hat 285 . Infolgedessen müßten Eingriffe in die Grundrechte von Strafgefangenen, die keine gesetzliche Stütze haben, noch für eine gewisse Übergangsfrist hingenommen werden, bis der Gesetzgeber Gelegenheit hätte, entsprechend dem heutigen Grundrechtsverständnis ein Strafvollzugsgesetz mit fest umrissenen Tatbeständen zu erlassen 286. Damit hat das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, daß diese Grundrechtseinschränkungen nicht immer verfassungswidrig gewesen sind, daß ein gewandeltes Verfassungsverständnis jedoch eine gesetzliche Eingriffsermächtigung verlangt 287 .
bb) Appellentscheidungen wegen Nichterfüllung von Gesetzgebungsaufträgen Eine typische Fallgruppe der Appellentscheidungen stellt die Nichterfüllung von expliziten oder impliziten Gesetzgebungsaufträgen dar. Das Bundesverfassungsgericht hält den gesetzlosen Zustand zwar für „noch verfassungsmäßig", doch erinnert es den Gesetzgeber gleichzeitig nachdrücklich an seine Pflichten, oder es räumt ihm eine Frist ein, innerhalb derer die Gesetzgebungsaufträge zu erfüllen sind 288 . Eine Handlungspflicht des Gesetzgebers kann sich als Ausdruck der Schutzpflicht aufgrund des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ergeben, der den Staat verpflichtet, sich schützend und fördernd um die Erhaltung von Leben zu mühen, vor allem es vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren 289 , oder aus einem allgemeinen Nachbesserungsvorbehalt, der den Gesetzgeber in grundrechtsrelevanten Bereichen zum Tätigwerden verpflichtet 290 . Im Falle des nicht ausdrücklich befristeten Gesetzgebungsauftrags des Art. 6 Abs. 5 GG vertrat das Gericht im Jahre 1969 die Auffassung, daß jedenfalls die dem Gesetzgeber eingeräumte „angemessene Frist" zur Erfüllung des Verfas285 BVerfGE 33, 1 (12). 286 BVerfGE 33, 1 (13). 287 Kritisch dazu: Stark, Anmerkung zum Strafvollzugsurteil, S. 360 (361). 288 Schulte, DVB1. 1988, S. 1200 (1202). 289 BVerfGE 39 1 (42); BVerfGE 49,89 (143); 53, 30 (57). 290 Vgl. dazu BVerfGE 25, 1 (12); BVerfGE 56, 54 (71 ff.); BVerfGE 65, 1 855 ff.); S. auch Β adura, Die verfassungsrechtliche Pflicht des gesetzgebenden Parlaments zu „Nachbesserung" von Gesetzen, FS Kurt Eichenberg, S. 481 (485); Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 182; Zuck, Rüdiger, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, S. 235.
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sungsauftrags nicht abgelaufen sei 291 . Es stellte aber fest, daß die Frist mit dem Ende der Legislaturperiode ablaufen würde 292 . Der Auftrag der Verfassung sei auch hinreichend deutlich, um gegebenenfalls von den Gerichten unmittelbar umgesetzt zu werden. Zuvor hatte das Gericht eine solche unmittelbare Umsetzung eines Verfassungsauftrags durch die Zivilgerichte gebilligt. Es handelte sich um die in Art. 117 Abs. 1 GG enthaltene Anordnung, daß dem Grundsatz der Gleichbehandlung von Mann und Frau entgegenstehendes Recht bis zu seiner Anpassung, jedoch nicht länger als bis zum 31. März 1953, in Kraft bleiben solle. Nach Ablauf dieses Zeitraumes wandten die mit dem Familienrecht befaßten Zivilgerichte den Grundsatz der Gleichbehandlung unmittelbar an und entwickelten für etwa drei Jahre, bis es dann zu einer gesetzlichen Neuregelung kam, in weiten Teilen das Familienrecht fort. Das Bundesverfassungsgericht hat die Richtigkeit dieser Praxis anerkannt 293. Eine Übergangsfrist hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber aufgrund „impliziter" Gesetzgebungsaufträge der Verfassung auch in Fällen des Abbaus des Besatzungsrechts, vor allem des Abbaus der Zwangswirtschaft zugebilligt 2 9 4 . Unter einschränkenden Voraussetzungen wird auch die temporäre Geltung von Ausnahmerecht zugelassen295. Dies wurde damit begründet, daß einerseits das Wegfallen jeder Regelung der Zwangswirtschaft das Chaos zur Folge gehabt hätte und es andererseits dem allein zum Handeln berufenen Bundesgesetzgeber unmöglich gewesen wäre, in einigermaßen absehbarer Zeit die bestehende Regelung durch eine neue zu ersetzen 296. Im Zusammenhang mit der Erfüllung der aus Art. 2 Abs. 2 GG hergeleiteten Schutzpflicht hat das Bundesverfassungsgericht in dem sogenannten KalkarBeschluß deutlich gemacht, daß der Gesetzgeber zu einem nachbessernden Tätigwerden bezüglich des Atomgesetzes verpflichtet wäre, wenn sich in der Zukunft Anzeichen dafür einstellten, daß von Kernkraftwerken des Typs Schneller Brüter Gefahren für das gemeine Wohl ausgehen würden 297 . Eine Aufforderung gleicher Art enthält auch die Entscheidung vom 14.1.1981, in der an den Gesetzgeber appelliert wird, die Regelungen zur Bekämpfung des Fluglärms nachzubessern 298. 291 BVerfGE 25, 167 (187). 292 BVerfGE 25, 167 (187). 293 BVerfGE 3, 225. 294 BVerfGE 9, 63 871 ff.); 12, 281 (292); 15, 337 (342, 351) Vgl. auch Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 72; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 136; Schneider, Die Funktion der Normenkontrolle, S. 213 ff. 295 BVerfGE 9, 63 (72). 296 BVerfGE 9, 63 (72); 12, 281 (293-294). 297 Vgl. 49, 89 (130, 132); Vgl. auch Badura, Die verfassungsrechtliche Pflicht des gesetzgebenden Parlaments zur „Nachbesserung", FS Eichenberg, S. 489; Stettner, DVB1. 1982, S. 1123 (1127). 298 BVerfGE 56, 54 (70).
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Im Kontext eines allgemeinen Nachbesserungsvorbehalts läßt sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine neue Entwicklung feststellen. Das Gericht erkennt die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes an, gibt aber dem Gesetzgeber im Tenor eine ergänzende Regelung auf. So hat das Gericht in dem Urteil über den Versorgungsausgleich zwischen geschiedenen Ehegatten die Verfassungsmäßigkeit des § 1587b Abs. 1 und 2 i.V.m. 1587 a Abs. 2 Nr. 1 und 2 BGB, eingefügt durch Art. 1 Nr. 20 des Ersten Ehereformgesetzes und Art. 12 Nr. 3 Abs. 1 dieses Gesetzes erklärt. Zur Vermeidung von ungerechtfertigten Härten hat es in der Entscheidungsformel festgelegt, daß jedoch der Gesetzgeber nach Maßgabe der Gründe eine ergänzende Regelung zu treffen habe 299 . Diese Tenorierung wurde auch im Volkszählungsurteil angewendet300.
cc) Appellentscheidungen aus Anlaß fehlender Evidenz des Verfassungsverstoßes In den Appellentscheidungen läßt sich auch eine Tendenz des Bundesverfassungsgerichts erkennen, eine Verfassungswidrigkeit deshalb zu verneinen, weil keine Evidenz eines Verfassungsverstoßes zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt vorliegt und es nicht möglich ist, festzustellen, ob der Gesetzgeber zu diesem Zeitpunkt in der Lage gewesen wäre, die Normenkollision zu erkennen 301. Ein Beispiel dafür bietet die Entscheidung zur Wahlkreiseinteilung, wo das Gericht die Konsequenz der Verfassungswidrigkeit mit einer feinen Differenzierung zwischen den Begriffen „ verfassungswidrig " und „ ungültig " zu umgehen versucht. Die Verfassungswidrigkeit der Wahlkreiseinteilung sei am 17. September 1961 noch nicht so eindeutig erkennbar gewesen, daß diese auch schon zu jenem Zeitpunkt als ungültig angesehen werden müßte 302 . Die objektiv vorhandene Verfassungswidrigkeit könnte — so die Ausführungen des Gerichts — erst zur Ungültigkeit führen, wenn sie eindeutig erkennbar wäre, da sonst keine Möglichkeit bestünde, ein vorwerßares Verhalten des Gesetzgebers zu identifizieren. Diese Voraussetzung kennzeichnet eine Tendenz zur Subjektivierung des Verfassungsverstoßes 303. Solange der Gesetzgeber um die Verfassungswidrigkeit des Verfahrens nicht gewußt hat, bleibt der Verfahrens-
299 BVerfGE 53, 257 (258); Kritisch dazu: Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 183. 300 BVerfGE 65, 1 (3). soi BVerfGE 16, 130 (142); Vgl. dazu, Ipsen, Rechtsfolgen, S. 138 ff.; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 84 ff.; Pestalozza, „Noch verfassungsmäßige", in: BVerfG und GG, Bd. I, S.519 (536 ff.). 302 BVerfGE 16, 130 (142). 303 Vgl. dazu Ipsen, Rechtsfolgen, S. 138-139; Kritisch: Schneider, Funktion der Normenkontrolle, 1988, S. 222.
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mangel ohne Folgen. Die verfassungsgerichtliche Entscheidung macht aber den Mangel „evident", so daß der Gesetzgeber sich in Zukunft nicht auf Unwissenheit berufen darf 304 .
c) Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Appellentscheidung Die Anwendung der Appellentscheidungen ist in der Lehre nicht unumstritten. Zum einen wird argumentiert, daß es den Appellentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts an einer entsprechenden Rechtsgrundlage fehle 305 . Zum anderen wird vertreten, daß die Appellentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Ausdruck einer verfassungsrechtlich bedenklichen Kompensation parlamentarischer Entscheidungsdefizite durch die Verfassungsrechtsprechung seien 306 . Weiterhin ergeben sich Bedenken hinsichtlich der durch die gerichtliche Praxis der Appellentscheidung bewirkten Entlassung des Gesetzgebers aus der Pflicht, Konkretisierungsverantwortung zu übernehmen 307. Es wird noch hinzugefügt, daß dem Bundesverfassungsgericht die Kompetenz fehle, solche Prognosen zu stellen, und daß es über eine nur beschränkte Prognosefähigkeit verfüge 308 . Der genaue Zeitpunkt des Umschlags einer noch verfassungsmäßigen Rechtslage in die Verfassungswidrigkeit könne von dem Gericht nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden 309 . Der Einwand, es fehle an einer Rechtsgrundlage, läßt sich aber entkräften, wenn man die Appellentscheidung als einen Sonderfall der Vereinbarkeitserklärung betrachtet 310. Wenn ferner davon auszugehen ist, daß sich ein verfassungsmäßiger Zustand in einen verfassungswidrigen umwandeln kann, ist nicht auszuschließen, daß zum Zeitpunkt der Entscheidung dieser Umschlag noch nicht erfolgt ist. Aus formaler Sicht wären dann die Appellentscheidungen nichts anderes als die Feststellungen solcher Rechtslagen311. Appellentscheidungen
304 Vgl. dazu Ipsen, Rechtsfolgen, S. 140. 305 Klein, AöR 108 (1983), S. 410 (434); Vgl. auch Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 395. 306 Klein, AöR 108 (1983), S. 410 (434); Schiaich, Verfassungsgerichtsbarkeit, VVDStRL 39 (1981), 99 (115 ff. 117 f.); Schulte, DVB1. 1988, S. 1200 (1204). 307 Vgl. dazu Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 397/398; Starck, Das Bundesverfassungsgericht im politischen Prozeß der Bundesrepublik, S. 27. Es ist hervorzuheben, daß diese spezifizierten Handlungsanweisungen an den Gesetzgeber nicht nur bei (noch) verfassungsmäßiger Lage oder (bloßer) Unvereinbarkeitserklärung, sondern auch bei Nichtigkeitserklärung angewandt werden können (BVerfGE 39, 1 (44)). 308 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 397; Klein, AöR 108 (1983), S. 410 (434); Gusy, Gesetzgeber, S. 212. 309 Klein, AöR 108 (1983), S. 410 (434). 310 Vgl. Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 181. 311 Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, S. 96.
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könnten so, wie von Ebsen angedeutet worden ist, deshalb als prozessuale, die konkrete Rechtsfolgenanordnung betreffende Technik angesehen werden, weil sie dazu dienen, auf „verfassungsimperfekte Zustände" einzuwirken, ohne aber zur Erklärung der Verfassungswidrigkeit oder der Nichtigkeit genötigt zu sein 312 . Betrachtet man die einzelnen Fallgruppen von Appellentscheidungen, so könnten Zweifel gegenüber der Berechtigung einer solchen prozessualen Zuordnung dieser Entscheidungsvariante entstehen, denn nicht selten wird von einem Unwerturteil, wie allgemein anerkannt wird 3 1 3 , lediglich aus Rücksicht auf Folgen oder wegen mangelnder Evidenz der Verfassungswidrigkeit abgesehen314. Allerdings dürften keine funktionell-rechtlichen Bedenken dagegen bestehen, daß das Bundesverfassungsgericht bei einer „ noch verfassungsmäßigen " Norm im Rahmen seiner Entscheidungsbegründung auf das bevorstehende Eintreten der Verfassungswidrigkeit hinweist, um dem Gesetzgeber deutlich zu machen, wie mängelbehaftet die gesetzliche Regelung ist und wie dringend es daher eines gesetzgeberischen Eingreifens bedarf 315 . Die Appellentscheidung erfolgt hier im Interesse einer Optimierung der Verfassungsnormativität 316. Nicht unproblematisch ist hingegen eine Präzisierung des „ Verfassungswidrig werdenswenn die Rechtslage zur Zeit der Entscheidung völlig unbedenklich ist, weil das Gericht nicht dazu legitimiert ist, allein auf eine Prognose gestützt, eine Entscheidung über die zukünftige Entwicklung zu treffen 317 .
d) Rechtsfolgen der Appellentscheidung Die Wirkungen der Appellentscheidungen sind weder im Grundgesetz noch im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt. Das Bundesverfassungsgericht beschränkt sich normalerweise im Tenor darauf, die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes festzustellen. In jüngerer Zeit stellt das Gericht die Vereinbarkeit des Gesetzes mit dem Grundgesetz „ nach Maßgabe der Gründe " fest 318 . Die Appelle 312
Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, S. 96-97. 313 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 396. 314 Rupp- v. Brünneck, Darf das Bundesverfassungsgericht an den Gesetzgeber appellieren?, FS G. Müller, S. 355 (372); Pestalozza, „Noch verfassungsmäßige", in: BVerfG und GG, S. 536 ff. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 396; Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, S. 97. 315 Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 396; Schulte, DVB1. 1988, S. 1200 (1205); Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 185; Gerontas, DVB1. 1982, S. 486 (487); Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 179; kritisch dazu: Klein, E, AöR 108 (1983), 410 (454). 316 Vgl. dazu Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 185. 317 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 397; Klein, AöR, 108, S. 410 (434). 318 BVerfGE 49, 169 ff.; BVerfGE 53, 257 (258); BVerfGE 65, 1 (3).
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werden lediglich in den Gründen thematisiert 319 . Die Gründe enthalten die Ankündigung, daß ein bestimmter Zustand in Zukunft — gegebenenfalls nach Ablauf eines vom Bundesverfassungsgericht vorgeschriebenen Zeitraums — nicht mehr hinzunehmen ist 3 2 0 . Der Verweis auf die Gründe im Tenor hat daher nur eine „ Warnfunktion ". Eine Rechts- oder Gesetzeskraft der Aussage über ein künftiges Verfassungswidrigwerden eines Gesetzes ist dabei ausgeschlossen, weil diese künftige Entwicklung oder Rechtslage nicht Prüfungsgegenstand des Verfahrens ist 3 2 1 . Der Hinweis auf die Gründe soll aber verhindern, daß ein solches Gesetz durch die Vereinbarkeitserklärung tatsächlich der Kritik entzogen wird. Vielmehr wird auf die Möglichkeit, nach einer Frist erneut gegen das Gesetz vorzugehen, förmlich hingewiesen322. Die Äußerung über die zukünftige Verfassungswidrigkeit kann daher obiter dicta sein 323 . Der Appell, eine „noch verfassungsmäßige Rechtslage " zu korrigieren, bevor sich der Umschlag in die Verfassungswidrigkeit vollzieht, verpflichtet den Gesetzgeber daher rechtlich nicht zum Handeln 324 . Die Qualifizierung der an den Gesetzgeber gerichteten „ Appelle " als obiter dicta entspricht möglicherweise nicht der Absicht des Bundesverfassungsgerichts325, das nicht selten bestimmt, welcher Rechtszustand nach der Entscheidung zu gelten habe, wie es im Nicht-eheliche-Kinder-Urteil der Fall war 3 2 6 , oder den Gesetzgeber zum Tätigwerden innerhalb einer bestimmten Frist auffordert wie im Strafvollzugsurteil 327. Eine die Verfassungsmäßigkeit bestätigende Entscheidung kann aber nicht mit einer solchen Verpflichtung des Gesetzgebers verknüpft werden. Insbesondere kann sich eine solche Pflicht nicht auf den § 31 Abs. 1 BVerfGG stützen, weil die Bindungswirkung solche Entscheidungsgründe, die für die konkret getroffene Entscheidung denkgesetzlich nicht notwendig sind, nicht erfassen kann 328 . Dies gilt auch, wenn das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber im Tenor seiner
319 Vgl. dazu Gusy, Gesetzgeber, S. 209. 320 Vgl. Gusy, Gesetzgeber, S. 209-210; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 184. 321 Bryde, Verfassungsentwicklung, S.411; Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft, BVerfG und GG, I, S. 609; S. auch Sachs, DöV, 1982, S. 23 (29); Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 319; Ders., Staatsrecht, II, S. 1039. 322 Vgl. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 411. 323 Vgl. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 396. 324 Pestalozza, „Noch verfassungsmäßige", S. 556; Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 319; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 186-187; Gerontas, DVB1. 1982, S. 486 (487). Ipsen (Rechtsfolgen, S. 269) sieht eine gewisse Änhlichkeit mit der zivilrechtlichen Obliegenheit. 325 Vgl. dazu Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 396. 326 BVerfGE 25, 167 (188). 327 BVerfGE 33, 1; S. auch BVerfGE 39, 169. 328 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 186; Sachs, DöV, 1982, S. 23 (29); Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 397.
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Entscheidung eine ergänzende Regelung aufgibt, denn die Entscheidungswirkungen beziehen sich allein auf den gesetzlich festgelegten Entscheidungsgegenstand und nicht auf jede in den Tenor aufgenommene Aussage 329 . Die spätere Anwendung eines solchen, nicht den Vorgaben des Gerichts gemäß geänderten Gesetzes dürfte indes Anlaß zu einem — wahrscheinlich — erfolgreichen Angriff auf die bisher „ noch verfassungsgemäße " Norm geben. Auch die durch das Bundesverfassungsgericht festgelegte Frist 330 , innerhalb derer ein gesetzgeberisches Handeln zu unternehmen ist, führt nicht automatisch nach ihrem Ablauf zum Eintritt der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes331, da das BVerfGG keine Grundlage für eine solche aufschiebend bedingte Nichtigerklärung bietet 332 . Die Praxis zeigt auch, daß eine Fristverlängerung möglich ist 3 3 3 . Dies bestätigt die Vorstellung, daß diese Frist allein als eine Karenzfrist verstanden werden soll, innerhalb derer die für verfassungsgemäß erklärte Norm von verfassungsgerichtlicher Seite aus unangefochten aufrechterhalten bleiben kann 334 . So läßt sich die von Maunz angenommene Befugnis des Bundesverfassungsgerichts, sich nach Ablauf der Frist von neuem, und zwar von Amts wegen mit dem Streitgegenstand zu befassen und die Nichtigkeit auszusprechen, weder verfassungsrechtlich noch verfahrensrechtlich begründen 335, da das Bundesverfassungsgericht nur gemäß den entsprechenden Bestimmungen des Grundgesetzes und nach den im BVerfGG vorgesehenen Verfahrensvoraussetzungen tätig werden darf 336 . Ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ohne Antrag oder ein antragsunabhängiges Wiederaufgriff-Recht gibt es de lege lata nicht 337 . Für eine vorläufige Endentscheidung gibt es im Verfassungsgerichtsverfahren keinen Raum 338 . Daher ist, wenn der Gesetzgeber nicht dem „ Appell " entspricht, das für „ noch verfassungs gemäß" erklärte Gesetz bis zu einem erneuten Erkenntnisakt des Bundesverfassungsgerichts als gültig anzusehen339.
329 Vgl. Sachs, DöV, 1982, S. 23 (29); Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 319; Ders., Staatsrecht, II, S. 1039; Vgl. auch Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. II, S. 194. 330 Vgl. dazu BVerfGE 15, 337 (350); 33, 1 812); 40, 276 (276). 331 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 187. 332 Vgl. dazu Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 187; S. auch Stern, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 319. 333 BVerfGE 33, 1 (33) und 40, 273 (286 ff.) 334 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 186-187. 335 Maunz, BayVBl. 1980, S. 513 (518); Vgl. auch Sachs, DöV, 1982, S. 23 (30). 336 Vgl. dazu Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 187; S. auch Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 6; Hesse, Konrad, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Ausgewählte Schriften, S. 312; Kimminich, Otto, Verfassungsgerichtsbarkeit und das Prinzip der Gewaltenteilung, S. 65. 337 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 187. 338 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 187.
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Nicht zu verkennen sind aber die faktischen Wirkungen der Appellentscheidungen 340 , die nicht selten den Gesetzgeber zu bedeutenden legislativen Reformen der imperfekten Rechtslage veranlaßt haben 341 wie bei dem ausdrücklichen Verfassungsauftrag des Art. 6 Abs. 5 GG 3 4 2 , der Entscheidung über die Strafvollzugspraxis 343 und über die Rechtsverhältnisse der Schüler 344 .
6. Die Verfassungsmäßigkeitserklärung von Gesetzen Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz enthält keine Tenorierungsvorschrift für den Fall einer abweisenden Entscheidung345. Grundsätzlich kommen daher zwei mögliche Entscheidungen in Betracht: Entweder soll der Antrag als unzulässig abgewiesen werden 346 , oder aber das Gericht stellt im Tenor fest, daß das Gesetz gültig bzw. mit dem Grundgesetz „vereinbar" ist 3 4 7 . Ein Antrag auf abstrakte Normenkontrolle ist unzulässig, wenn die Voraussetzungen des § 76 BVerfGG nicht erfüllt sind, sei es, daß der Antragsteller nach § 76 BVerfGG nicht antragsberechtigt ist, sei es, daß ein an sich Antragsberechtigter einen Prüfungsgegenstand unterbreitet, der sich nicht unter § 76 Nr. 1 und 2 BVerfGG subsumieren läßt. Ferner ist auch möglich, daß der Antrag der Vorschrift des § 23 Abs. 1 BVerfGG nicht entspricht oder daß der Antragsteller gemäß § 22 BVerfGG nicht ordnungsgemäß vertreten ist. Für diese Fälle der Unzulässigkeit verfügt das Gericht über verschiedene Tenorierungsmöglichkeiten. So kann die Tenorierung lauten: „Der Antrag des . .. ist unzulässig " oder „Der Antrag des . . . wird verworfen". Wenn das Bundesverfassungsgericht gemäß § 24 BVerfGG entscheidet, so lautet der Tenor: „Der Antrag wird verworfen"™. Für den Fall einer Vereinbarkeitserklärung aber beruft sich das Bundesverfassungsgericht auf § 31 Abs. 2S. 1 BVerfGG 349 . Nach seiner Rechtsprechung ergibt 33
9 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 187; Dieses Verständnis wird offensichtlich sowohl von Rupp v. Brünneck (Darf das Bundesverfassungsgericht an den Gesetzgeber appellieren?, FS G. Müller, S. 375) und Scheffold-Leske (NJW 1973, S. 1297 (1301) vorausgesetzt. 340 Vgl. dazu Gusy »Gesetzgeber, S. 210; Stem, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 319; Jekewitz, Der Staat, Bd. 19 (1980), S. 535 (546 ff.). 341 Vgl. dazu Zeidler, W., EuGRZ 1988, S. 207 (212). 342 Vgl. dazu BVerfGE 25, 167. 343 Vgl. BVerfGE 33, 1; S. auch BVerfGE 40, 276. 344 BVerfGE 41, 251. 345 Stem, Bonner Kommentar, Art. 93, RdNr. 307. 346 Vgl. auch BVerfGE 9, 87. 347 BVerfGE 1, 14 (20,64). 348 Vgl. dazu Ulsamer, in: Maunz u.a., BVerfGG, § 78, RdNr. 34. 349 BVerfGE 1, 14 (64)
1 9 2 D .
Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
sich aus § 31 Abs. 2 BVerfGG die Notwendigkeit, daß es, wenn eine Rechtsvorschrift mit dem Grundgesetz nicht unvereinbar ist, ihre Gültigkeit feststellt, soweit dies angängig ist 3 5 0 . Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts muß daher prinzipiell einen Inhalt haben, welcher der Gesetzeskraft fähig ist 3 5 1 . Deswegen beschränkt sich das Gericht nicht darauf, das Gesetz für verfassungsmäßig zu erklären, sondern es stellt seine Gültigkeit fest 352 . Dies gilt jedenfalls für die Prüfung von Bundesgesetzen. Im Hinblick auf Vorschriften des Landesrechts ist zu beachten, daß diese eventuell mit dem Bundesrecht vereinbar sein, jedoch gegen Landesverfassungsbestimmungen verstoßen können. Infolgedessen beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht in diesen Fällen auf die Feststellung, daß die Norm „mit dem Bundesrecht vereinbar" bzw. „mit dem Grundgesetz und dem übrigen Bundesrecht vereinbar" ist 3 5 3 . Während die Nichtigkeitserklärung die Kassation des Gesetzes zur Folge hat, hat die Verfassungsmäßigkeitserklärung keine ähnliche Bedeutung. Seine Geltung hängt nicht von der Gerichtsfeststellung ab, und das Gesetz gilt nach der Entscheidung genau so wie vor der Entscheidung354. Die Gesetzeskraft der bestätigten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts könnte aber problematisch sein, wenn die allgemeine Verbindlichkeit eine erneute Befassung des Gerichts mit der Verfassungsmäßigkeit desselben Gesetzes unzulässig machen würde 355 . Deswegen vertritt Vogel die Auffassung, daß die Ausdehnung des § 31 Abs. 2 BVerfGG auf die bestätigenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nur für die Publikationspflicht bedeutsam sein könne, da sie einem Gesetz nicht Wirkungen beilegen kann, welche die Verfassung nicht vorsieht. Ansonsten würde ein Bestandsschutz, der auch anderen, an die Rechtskraft nicht gebundenen Personen den Weg versperren würde, die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zu beanstanden, die Bedeutung nicht nur von Gesetzes-, sondern von Verfassungskraft erlangen 356 . Dieser Schluß ist aber nur zwingend, wenn, wie von Bryde bemerkt wird, man die Gesetzeskraft nach § 31 Abs. 2 BVerfGG als materiell-rechtliches Institut ansieht 357 . Wenn man aber mit der herrschenden Lehre die „Gesetzeskraft" nur als normenkontrollspefizisches und damit als prozeßrechtliches Institut betrach350 BVerfGE 1, 14 (64). 351 Gusy, Gesetzgeber, S. 223. 352 BVerfGE 1, 14 (64); zustimmend Lange, JuS 1978, S. 1 (6); Gusy, Gesetzgeber, S. 223; Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft, in: BVerfG und GG, I, S. 568 (607). 353 z.B. BVerfGE 39, 334 (336) 354 Maunz, in: Maunz u.a., BVerfGG, § 31 RdNr. 42; Gusy, Gesetzgeber, S. 223. 355 Vgl. dazu BVerfGE 33,199 (203 ff.); Brox, Zur Zulässigkeit der erneuten Überprüfung einer Norm durch das Bundesverfassungsgericht, FS W. Geiger, S. 810 (825); Lange, JuS 1978, S. 1 (6 ff.). 356 Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft, BVerfG und GG, Bd. I, S. 568 (613). 357 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 408.
III. Entscheidungen vor dem Supremo Tribunal Federal
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tet 3 5 8 , bedeutet sie allein, daß in einem neuen verfassungsgerichtlichen Verfahren keine abweichende Entscheidung ergehen darf 359 . Von einer Heilung eventueller Verfassungswidrigkeit des bestätigten Gesetzes kann daher keine Rede sein 360 . Daraus ist folgerichtig zu entnehmen, daß eine erneute Befassung des Bundesverfassungsgerichts mit einem bestätigten Gesetz unzulässig ist, soweit keine Veränderungen entscheidungserheblicher Tatsachen361 und kein grundlegender Wandel allgemeiner Rechtsauffassungen die Möglichkeit für Abweichungen bietet 3 6 2 .
I I I . Die Entscheidungen bei abstrakter Normenkontrolle vor dem Supremo Tribunal Federal 1. Einleitung Der brasilianische Oberste Gerichtshof beschränkt sich im abstrakten Normenkontrollverfahren darauf, die Verfassungswidrigkeit (Nichtigkeit) oder die Verfassungsmäßigkeit — eventuell unter Anwendung der verfassungskonformen Auslegung — zu erklären. Er hat aber in einer vor kurzem getroffenen Entscheidung ausgesprochen, daß die Entscheidung, die das Gericht sowohl auf eine mandado de injunçâo- Klage als auch auf eine „abstrakte Unterlassungsfeststellungsklage" hin zu treffen hat, verpflichtenden Charakter hat l . Das Gericht geht davon aus, daß die gesetzgeberische Unterlassung nicht nur solche Fälle umfaßt, in denen der Gesetzgeber gänzlich untätig geblieben ist, sondern auch jene, in denen ein Verfassungsauftrag unvollständig erfüllt wurde. Fälle gesetzgeberischen Unterlassens können also auch solche sein, in denen eine Norm vorliegt. Fraglich ist, ob die Erkenntnis, daß auch in Fällen einer solchen Teilunterlassung der Entscheidung auf mandado de injunçâo- Verfahren und auf abstrakte Unterlassungsfeststellungsklage verpflichtende Wirkung zukommt, auch von Bedeutung für die Normenkontrollverfahren ist. 358 Brox, Zur Zulässigkeit der erneuten Überprüfung einer Norm durch das Bundesverfassungsgericht, FS W. Geiger, S. 809 (818); Sachs, Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine Entscheidungen, S. 292; Maunz, in: Maunz u.a., BVerfGG, §31, RdNr. 42; Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 409. 3 59 Lange, JuS 1978, S. 1 (6 ff.); Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 408. 360 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 408; Maunz in: Maunz u.a., BVerfGG, § 31, RdNr. 37. 3 61 BVerfGE 33, 199; 39, 169. 362 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 409; Brox, Zur Zulässigkeit der erneuten Überprüfung einer Norm durch das Bundesverfassungsgericht, FS W. Geiger, S. 809 (818); Stem, Bonner Kommentar, Art. 100 RdNr. 139; Gusy, Gesetzgeber, S. 228. 1 Mandado de Injunçâo Nr. 107, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diario da Justiça vom 28.11.89. 13 Mendes
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D. Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
2. Die Nichtigerklärung von Gesetzen a) Vorbemerkung Das Dogma von der Nichtigkeit des verfassungswidrigen Gesetzes gehört zur Tradition des brasilianischen Rechts. Die Nichtigkeitslehre wurde am Anfang von beinahe allen bedeutenden Staatsrechtslehrern vertreten 2. Gestützt auf die frühere amerikanische Lehre, wonach the unconstitutional statute is not law at all 3, hat sich immer ein großer Teil der brasilianischen Lehre zu der einfachen Gleichsetzung von Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit bekannt. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, daß die Anerkennung irgendwelcher Wirkung des verfassungswidrigen Gesetzes einer vorläufigen und partiellen Aufhebung der Verfassung entsprechen würde 4 . Die Rezeption der amerikanischen Lehre hat aber nicht weitergeführt, da die dogmatische Begründung dieser ipso jure-Nichtigkeit im brasilianischen Recht nicht präzis war. So stellte Bittencourt fest, daß es den brasilianischen Verfassungsrechtlern nicht gelungen sei, sowohl die allgemeine Wirkung als auch die Rückwirkung einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, die ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt, zu begründen 5. Ohne über einen Mechanismus zu verfügen, welcher der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs „Gesetzeskraft" verliehen oder mindestens präjudizielle Wirkung höchstrichterlicher Entscheidungen garantiert hätte, etwa den amerikanischen „stare decisis begnügte sich die brasilianische Lehre grundsätzlich damit, die logische Evidenz der Nichtigkeit eines verfassungswidrigen Gesetzes hervorzuheben 6 und die Pflicht der Staatsorgane zu betonen, ein Gesetz nach der definitiven Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch den Obersten Gerichtshof nicht mehr anzuwenden7. Der Verfassungsgeber von 1934 hatte die sogenannte „ Aufhebung der Ausführung des Gesetzes" durch den Bundessenat eingeführt (Art. 91 IV) mit der eindeutigen Absicht, der durch den Obersten Gerichtshof inzident festgestellten Verfassungs W i d r i g k e i t s e n t s c h e i d u n g „normative Kraft" z u verleihen 8 . Dieses 2
Barbosa, Os Atos Inconstitucionais do Congresso e do Executivo, in: Trabalhos Juridicos, S. 70-71; Ders., Ο Direito do Amazonas ao Acre Septentrional, Bd. I, S. 103; Campos, F., Direito Constitucional, 1956, Bd. I, p. 430-431; Buzaid, Α., Da Açâo Direta, S. 130-132; Nunes, Teoria e Pràtica do Poder Judiciârio, S. 589. 3 Vgl. Willoughby, W. W., The Constitutional law of the United States, Bd. I, S. 910; Vgl. auch Cooley, Thomas M., Treatise on the Constitutional Limitations, 1878, S. 227. 4 Vgl. Buzaid, Da Açâo Direta, S. 128-132. 5 Bittencourt, Controle Jurisdicional da Constitucionalidade, S. 141. 6 Vgl. dazu Bittencourt, Controle Jurisdicional da Constitucionalidade, S. 141. 7 Bittencourt, Controle Jurisdicional de Constitucionalidade, S. 144; Nunes, Teoria e Pràtica do Poder Judiciârio, S. 592 8
Vgl. dazu Prado Kelly, Rede in der Verfassungsversammlung in: Alencar, Ana Valderez Ayres Neves de, A Competência do Senado Federal para suspender a execuçâo
III. Entscheidungen vor dem Supremo Tribunal Federal
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Institut wurde später durch die Verfassungen von 1946 (Art. 64), von 1967/69 ( Art. 42 VII) und 1988 (Art. 52 X) übernommen. Durch diesen Akt erlangt die inzident ausgesprochene Erklärung der Verfassungswidrigkeit durch den Supremo Tribunal Federal allgemeine Wirkung 9 . Weder der Verfassungsgeber noch der Gesetzgeber haben zu Beginn eine Regelung über die Wirkung der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs hinsichtlich der im Jahre 1965 eingeführten abstrakten Normenkontrollverfahren getroffen. Das Gericht benachrichtigte daher am Anfang — wie bei der inzidenten Normenkontrolle — den Bundessenat über die Erklärung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes auch in Verfahren abstrakter Normenkontrolle. Dieser sollte dann über die endgültige Aufhebung des Gesetzes bestimmen. Erst im Jahre 1974 hat der Oberste Gerichtshof in einer internen Schrift festgelegt, daß im Gegensatz zu dem Feststellungsurteil, das auf interventive Feststellungsklage hin getroffen wird, die Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes im abstrakten Normenkontrollverfahren allgemeine Wirkung hat 10 . Auf eine Anfrage des Bundessenats hin hat der Oberste Gerichtshof im November 1975 definitiv festgelegt, daß der Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit allgemeine Wirkung zukommt 11 . Dies ergebe sich seinem Verständnis nach aus der Natur des abstrakten Normenkontrollverfahrens und hänge nicht von einer Gesetzesgrundlage ab 12 . Seitdem wird dies von niemandem mehr bestritten 13. Eine spätere Änderung der Geschäftsordnung hat ausdrücklich festgelegt, daß das Gericht nur im Falle einer inzidenten Verfassungswidrigerklärung den Bundessenat über seine Entscheidung zu unterrichten hat (Art. 178) 14 . Neuerdings wird auch in der Lehre die Auffassung vertreten, daß die „allgemeine Wirkung " der im abstrakten Normenkontrollverfahren getroffenen Entscheidung unmittelbar aus der Verfassung herzuleiten sei. Dies wird aus einem Gegenschluß zu Art. 52 X der Verfassung hergeleitet, der das Erfordernis einer die allgemeine Wirkung erst herstellenden Aufhebung der Ausführung des Gesetzes durch den Bundessenat nur für die Fälle einer inzidenten Feststellung der Verfassungswidrigerklärung vorsieht 15 .
dos atos declarados inconstitucionais, Revista de Informaçâo Legislativa Nr. 57, 1978 (Januar-März), S. 260; S. auch Mandado de Segurança Nr. 16.512, Berichterstatter: Oswaldo Trigueiro, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 38, S. 23, 28, 81. S. auch oben Β, I, 2, e. 9 Ferreira Filho, Curso de Direito Constitucional, S. 35; Silva, J. A. da, Curso de Direito Constitucional Positivo, S. 52. !0 Gutachten von Richter Rodrigues Alckmin, vom 19. Juni 1974, in: Diàrio da Justiça vom 16.5.1977, S. 3124. 11 Gutachten von Richter Moreira Alves, vom 11. November 1975, in: Diario da Justiça vom 16.5.1977, S. 3123; S. auch Bandeira de Mello, Ο. Α., Teoria das Constituiçôes Rigidas, S. 213. 12 Gutachten von Richter Moreira Alves, vom 11. November 1975, in: Diario da Justiça vom 16.5.1977, S. 3123. 13 Vgl. dazu Silva, J. A. da, Curso de Direito Constitucional Positivo, S. 52-53. 14
13*
Geschäftsordnung des Gerichts in der Fassung vom 15.10.80.
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b) Die ex tunc- und ipso jure-Nichtigkeit Kommt der Supremo Tribunal Federal in einem abstrakten Normenkontrollverfahren zu dem Ergebnis, daß Bundes- oder Landesrecht mit der Verfassung unvereinbar ist, erklärt er es für verfassungswidrig. Die Verwerfungsformel lautet normalerweise: „Der Supremo Tribunal Federal hat auf seiner Plenarsitzung vom . . . mit absoluter Mehrheit (oder einstimmig) für Recht erkannt: Der Antrag . . . ist begründet. Das Gesetz . . . ist verfassungswidrig. Auf die Verhandlung und die stenographischen Noten wird Bezug genommen"16. Das für verfassungswidrig erklärte Gesetz ist nach der herrschenden Lehre ohne weitere gestaltende Akte (ipso jure) und von Anfang an (ex tunc ) als nichtig anzusehen17. Die im abstrakten Normenkontrollverfahren für verfassungswidrig erklärte Vorschrift ist sowohl von privaten als auch von staatlichen Stellen nicht mehr anzuwenden18. Demgemäß sind alle auf das verfassungswidrige Gesetz gestützten Akte als rechtswidrig anzusehen19. Diese Haltung, die vor der Einführung des abstrakten Normenkontrollverfahrens in der brasilianischen Verfassungsordnung vorherrschend war 20 , hatte beinahe die Bedeutung einer axiomatischen Wahrheit gewonnen21. In der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs läßt sich jedoch der Versuch feststellen, gestützt auf die Lehre Kelsens die Nichtigkeitstheorie zugunsten der Vernichtbarkeitslehre aufzugeben. Das erlassene Gesetz könne nicht als nichtig angesehen werden, da die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit für seine Gültigkeit spreche und seine Anwendung Langzeitfolgen habe, die nicht übersehen werden dürften 22 . Das verfassungswidrige Gesetz ist dieser Vorstellung nach 15
Silva, J. A. da, Curso de Direito Constitucional Positivo, S. 52; Ferreira Filho, Curso de Direito Constitucional, S. 33 und 35. 16 Vgl. etwa Representaçâo Nr. 1305, Berichterstatter: Richter Sydney Sanches, Revista de Direito Administrativo Nr. 170, S. 46. 17 Representaçâo Nr. 971, Berichterstatter: Richter Djaci Falcâo, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 87, S. 758; Recurso Extraordinàrio Nr. 93.356, Berichterstatter: Leitâo de Abreu, Revista Trimestral de Jurisprudência 97, S. 1369; Representaçâo Nr. 1016, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 95, S. 993; Representaçâo Nr. 1077, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência 101, S. 503. 18 Mello, Ο. Α., Bandeira de, Teoria das Constituiçôes Rrgidas, S. 214. 19 Recurso de Mandado de Segurança Nr. 17.076, Berichterstatter: Richter Amarai Santos, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 55, S. 744. 20 Buzaid, Açâo Direta, S. 130-131; Barbosa, Rui, Os Atos Inconstitucionais do Congresso e do Executivo, S. 70-71; Polletti, R., Controle de Constitucionalidade das Leis, S. 109 ff. 21 Vgl. etwa Recurso de Mandado de Segurança Nr. 17.076, Berichterstatter: Richter Amarai Santos, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 55, S. 744; Recurso Extraordinàrio Nr. 103.619, Berichterstatter: Richter Oscar Corrêa, Revista de Direito Administrativo Nr. 160, S. 80.
III. Entscheidungen vor dem Supremo Tribunal Federal
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nicht ipso jure nichtig, sondern lediglich „ vernichtbar " (anulâvel). Der gerichtlichen Verfassungswidrigerklärung komme daher konstitutiver Charakter zu 23 . Es bleibe dem Gesetzgeber überlassen, über die Rechtsfolgen des verfassungswidrigen Gesetzes zu bestimmen24. Dem Gericht solle es zukommen, festzulegen, daß das bereits längere Zeit angewendete Gesetz als eine „ wirksame Tatsache " (fato eficaz) zu behandeln sei, das mindestens für die Verhältnisse zwischen privaten Personen und öffentlicher Gewalt Rechtsfolgen hat. Dies solle etwa der Fall sein, wenn die Aufhebung eines auf ein verfassungswidriges Gesetz gestützten Verwaltungsakts einen Bruch der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes bedeuten würde 25 . Diese Auffassung hat keine Änderung in dem Verständnis des Gerichts bezüglich der ipso jure-Nichtigkeit bewirken können 26 . Denn nach der Ansicht des Obersten Gerichtshofs läßt sich der Vorrang der Verfassung nicht mit der von diesem Verständnis vorausgesetzten Gültigkeit des verfassungswidrigen Gesetzes vereinbaren 27. Die Anerkennung der Gültigkeit eines verfassungswidrigen Gesetzes — wenn auch temporär — würde einen Bruch mit dem Grundsatz des Verfassungsvorrangs bedeuten28. Das verfassungswidrige Gesetz kann nach dieser Konzeption weder Rechte schaffen noch Pflichten auferlegen, so daß sowohl die staatlichen Organe als auch der einzelne seine Anwendung wegen Verfassungswidrigkeit verweigern dürfen 29 . Dem Grundsatz der Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze kommt nach dem Verständnis des Obersten Gerichtshofs ebenfalls also Verfassungsrang zu 3 0 . In der Verfassungsversammlung von 1986-1988 wurde der Vorschlag gemacht, eine Vorschrift einzuführen, die den Obersten Gerichtshof ermächtigen 22
Recurso Extraordinàrio Nr. 79.343, Berichterstatter: Richter Leitâo de Abreu, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 82, S. 792 (795). 23 So auch Miranda, Pontes de, Comentârios à Constituiçâo Federal de 1967/69, Bd. III, S. 619. 24 Recurso Extraordinàrio Nr. 79.343, Berichterstatter: Richter Leitâo de Abreu, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 82, S. 792 (795). 2 5 Recurso Extraordinàrio Nr. 79.343, Berichterstatter: Richter Leitâo de Abreu, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 82, S. 792 (795). 2€ · Vgl. Recurso Extraordinàrio Nr. 93.356, Berichterstatter: Richter Leitâo de Abreu, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 97, S. 1369. 27 Representaçâo Nr. 971, Berichterstatter: Richter Djaci Falcâo, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 87, S. 758; Representaçâo Nr. 1016, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 95, S. 993; Representaçâo Nr. 1077, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 101, S. 503. 28 Representaçâo Nr.980, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 96, S. 496 (508). 29 Representaçâo Nr.980, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 96, S. 496 (508). 30 Vgl. Recurso Extraordinàrio Nr. 103.619, Berichterstatter: Richter Oscar Corrêa, Revista de Direito Administrativo Nr. 160, S. 80 ff.
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sollte zu bestimmen, ob die für verfassungswidrig erklärte Norm im abstrakten Normenkontrollverfahren ihre Wirksamkeit von Anfang an oder erst nach der Kundmachung der Entscheidung verlieren solle 31 . Dieser Entwurf, der nach dem Modell des Art. 282 Abs. 4 der portugiesischen Verfassung entwickelt worden ist 32 , wurde abgelehnt33. Damit ist das Verständnis erhalten geblieben, wonach das verfassungswidrige Gesetz ex tunc und ipso jure nichtig ist. Dieses Verständnis entspricht der Verfassung. Das in Art. 1 der Verfassung festgelegte Rechtsstaatsprinzip, die in Art. 5 Abs. 1 vorgesehene unmittelbare Anwendbarkeit der Grundrechte und die daraus resultierende Bindung aller Staatsorgane an die Verfassung, die in Art. 60 Abs. 4 vorgesehene Unabänderlichkeit der Verfassungsgrundsätze bezüglich der Grundrechte sowie das besondere Verfahren zur Verfassungsänderung legen den Geltungsanspruch der Verfassung und deren Vorrang fest. Aus der in Art. 5 L X X I vorgesehenen Verfassungsgarantie des mandado de injunçâo- Verfahrens, das von jedermann eingeleitet werden kann, der wegen einer Unterlassung des normsetzenden Organes gehindert ist, ein aus der Verfassung hergeleitetes Recht auszuüben, läßt sich entnehmen, daß nicht nur die Grundrechte, sondern auch alle verfassungsrechtlich gewährleisteten subjektiven Rechte die staatlichen Organe binden 34 . Die Möglichkeit, Ansprüche auf ein Tätigwerden des Gesetzgebers gerichtlich geltend zu machen, unterstreicht den Vorrang der Verfassung und bringt deren Geltungsanspruch zum Ausdruck. Die jedem Richter oder jedem Gericht zuerkannte Befugnis, das für verfassungswidrig gehaltene Gesetz auf konkrete Rechtsstreitigkeiten nicht anzuwenden (Verfassung, Art. 97, Art. 102 I I I „a", „b", und „c"), setzt die Ungültigkeit des Gesetzes und damit seine Nichtigkeit voraus. Die Befugnis der Richter, einem verfassungswidrigen Gesetz die Anwendung zu verweigern, entspricht dem Recht des einzelnen, auf der Nichtanwendung des verfassungswidrigen Gesetzes zu bestehen, was letztendlich durch die Möglichkeit gewährleistet wird,
3! Der Vorschlag des Senators Mauricio Correa lautete: „ Wird die Verfassungswidrigkeit einer Norm im abstrakten Normenkontrollverfahren durch den Obersten Gerichtshof erklärt, soll er bestimmen, ob sie ihre Wirksamkeit v Anfang an oder erst nach der Kundmachung der Entscheidung verlieren wird" (Vgl. dazu Silveira, José Néri da, A Dimensâo Politica do Judiciârio, in: Arquivos do Ministério da Justiça Nr. 173 (1988), S. 46 (55); Falcâo, Djaci, Ο Poder Judiciârio e a Nova Carta Constitucional, in: Arquivos do Ministério da Justiça Nr. 173, S. 25 (29).) 32 Art. 282 Abs. 4 der portugiesischen Verfassung bestimmt: „Das Verfassungsgericht kann Rechtswirkungen von geringerer Reichweite, als in den Absätzen 1 und 2 vorgese hen, festlegen, wenn die Rechtssicherheit, Gründe der Billigkeit oder des Allgemeininte resses von besonderer und dargelegter Bedeutung dies erfordern " (Übersetzung von André Thomashausen, in: Kimmel, Adolf, Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, 197, S. 278 (352).) 33 Vgl. dazu Silveira, J. Néri da, A Dimensâo Politica do Judiciârio, in: Arquivos do Ministério da Justiça Nr. 173 (1988), S. 46 (55). 34 Vgl. dazu Mandado de Injunçâo Nr. 107, Berichterstatter. Richter Moreira Alves, Diàrio da Justiça vom 28.11.1989.
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außerordentliche Berufung gegen letztinstanzliche Entscheidung einzulegen, die der Verfassung in irgendeiner Weise widerspricht (Verfassung, Art. 102, I I I „a") 3 5 · Die allgemeine Befugnis des Richters, einem verfassungswidrigen Gesetz die Anwendung zu verweigern, sowie das Recht des einzelnen, auf der Nichtanwendung des verfassungswidrigen Gesetzes zu bestehen, zeigen also, daß der Verfassungsgeber die Nichtigkeit des Gesetzes voraussetzt. Insofern ist dem Verständnis des Obersten Gerichtshofs 36 beizupflichten, daß dem Grundsatz der Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze Verfassungsrang zukommt. Die brasilianische Rechtsordnung kennt keine ähnlichen Bestimmungen wie die in § 79 BVerfGG festgelegten. Daraus ist aber nicht zu entnehmen, daß die Abwicklung der verfassungswidrigen Rechtslage alle auf die verfassungswidrige Norm gestützten Einzelakte erfaßt. Obwohl die Rechtsordnung keine spezielle Bestimmung darüber enthält und allgemein angenommen wird, daß alle auf eine verfassungswidrige Norm gestützten Akte auch rechtswidrig sind 37 , wird der Schutz des Einzelakts und damit die Unterscheidung zwischen der Wirkung der Entscheidung auf die „Normenebene " und auf die „Einzelaktebene " durch die sogenannten Präklusionsformeln (formulas de preclusâo) gewährleistet 38. Die nicht mehr anfechtbaren Akte, die auf einer für verfassungswidrig erklärten Norm beruhen, bleiben daher unberührt 39. Eine Ausnahme gilt allein für ein rechtskräftiges Strafurteil, da hier keine Ausschlußfrist zur Einleitung eines Wiederaufnahmeverfahrens zugunsten der Angeklagten besteht. Ein Wiederaufnahmeverfahren kann gemäß Art. 622 der Verfahrensstrafordnung jederzeit eingeleitet werden, „wenn das Straf urteil gegen das Strafgesetz verstoßen hat". Dieser Wiederaufnahmegrund erfaßt auch das auf ein verfassungswidriges Gesetz gestützte Urteil 40 . Es wird auch allgemein anerkannt, daß der „ Verstoß gegen eine ausdrückliche Bestimmung des Gesetzes der nach dem Art. 485 V der brasilianischen Zivilprozeßordnung als Wiederaufnahmegrund für zivil- und verwaltungsgerichtliche Urteile vorgesehen ist, auch die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes, in dem ein rechtskräftiges Urteil gründet, meint 41 . Die Wiederaufnahme eines rechtskräftigen 35 Vgl. dazu Representaçâo Nr. 980, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 96, S. 496 (508). 36 Vgl. dazu Representaçâo Nr. 980, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 96, S. 496 (508); Recurso Extraordinàrio Nr. 103.619, Berichterstatter: Richter Oscar Corrêa, Revista de Direito Administrativo Nr. 160, S. 80 ff. 37 Vgl. dazu Recurso de Mandado de Segurança Nr. 17.976, Berichterstatter: Richter Amarai Santos, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 55, S. 744. 38 Dazu S. oben D, //, 2, a. 39 Vgl. Recurso Extraordinàrio Nr. 86.056, Berichterstatter: Richter Rodrigues Alckmin, Diario da Justiça 1.7.1977. 40 Habeas Corpus Nr. 45.232, Berichterstatter: Richter Themistocles Cavalcanti, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 44, S. 322 ff. 41 Recurso em Mandado de Segurança Nr. 17.976, Berichterstatter: Richter Amarai Santos, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 55, S. 744 ff.; Recurso Extraordinàrio Nr. 86.056, Berichterstatter: Richter Rodrigues Alckmin, Diàrio da Justiça vom 1.7.1977.
2 0 0 D .
Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
zivil- oder verwaltungsgerichtlichen Urteils, das sich auf ein für verfassungswidrig erklärtes Gesetz stützt, kann gemäß Art. 485, V, i.V.m. Art. 495 der Zivilprozeßordnung aber nur eingeleitet werden, wenn sie binnen einer zweijährigen Frist nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils beantragt wird. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs kann die Vollstreckung von Urteilen nicht durch Vollstreckungsgegenklage abgewehrt werden, da die Nichtigkeit solcher Entscheidungen nur im Wege des Wiederaufnahmeverfahrens festgestellt werden könne 42 . In einigen Fällen hat das Gericht auch die Lehre vom fehlerhaften Verwaltungsakt angewandt, um die Gültigkeit bestimmter Rechtsakte zu erhalten, die von Richtern oder Beamten erlassen worden waren, welche selber aufgrund eines verfassungswidrigen Gesetzes ernannt worden waren 43 .
c) Die Nichtigerklärung Die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes kann auch im brasilianischen Recht zu unterschiedlichen Varianten von Nichtigerklärung führen: — die Nichtigerklärung als gesetzgebungstechnische Einheit; — die Gesamtnichtigerklärung; — die Teilnichtigerklärung 44. aa) Die Nichtigerklärung eines Gesetzes als gesetzgebungstechnische Einheit Formelle Mängel wie der Verstoß gegen die Bestimmung über die Gesetzesinitiative oder das Fehlen der gesetzgeberischen Kompetenz führen, da eine Teilbarkeit insoweit nicht besteht, zur Nichtigerklärung des gesamten Gesetzes. So erklärt der Oberste Gerichtshof nicht selten die verfassungswidrigen Novellen zur Landesverfassung, die unter Mißachtung des Initiativrechts ohne die erforderte Initiative der Exekutive zustandegekommen sind, insgesamt für verfassungswidrig 45 . Dasselbe gilt, wenn die Legislative gesetzgeberische Initiativen ergreift,
42 Recurso Extraordinàrio Nr. 86.056, Berichterstatter: Richter Rodrigues Alckmin, Diàrio da Justiça com 1.7.1977. 43 Recurso Extraordinàrio Nr. 78.594, Berichterstatter: Richter Bilac Pinto, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 71, S. 570; Agravo de Instrumento Nr. 104.172, Berichterstatter: Aldir Passarinho, Diario da Justiça vom 6.11.1985. 44 Bittencourt, Controle Jurisdicional da Constitucionalidade, S. 126-127. 45 Representaçâo Nr. 1318, Berichterstatter: Richter Carlos Madeira, Revista de Direito Administrative Nr. 169, Juli - September 1987, S. 60-66; Representaçâo Nr. 1478, Berichterstatter: Octavio Gallotti, Revista de Direito Administrativo Nr. 172, April-Juni
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die etwa einem anderen Organ wie einem Gerichtshof oder dem Rechnungshof zustehen46. bb) Die Gesamtnichtigerklärung Wie das Bundesverfassungsgericht spricht auch der Supremo Tribunal Federal die Gesamtnichtigerklärung des Gesetzes aus, wenn ein Dependenz- oder Interdependenzverhältnis zwischen den verfassungsmäßigen und verfassungswidrigen Gesetzesteilen besteht47. Wenn die Hauptregelung des Gesetzes wegen Verfassungswidrigkeit als nichtig anzusehen ist, erklärt das Gericht die Verfassungswidrigkeit des gesamten Gesetzes, es sei denn, daß eine Bestimmung ohne die verfassungswidrigen Teile einen Sinn hätte. Es handelt sich dann um einen Fall von sogenannter Gesamtnichtigkeit wegen einseitiger Abhängigkeit**. Die Unteilbarkeit des Gesetzes kann sich aber auch aus einer intensiven Verflechtung zwischen den unterschiedlichen Teilen des Gesetzes ergeben. Es handelt sich dann um eine sogenannte Gesamtnichtigkeit wegen wechselseitiger Abhängigkeit 49. cc) Die Teilnichtigerklärung Die brasilianische Lehre und Rechtsprechung gehen von der Teilbarkeit von Gesetzen aus, so daß das Gericht nur die Verfassungswidrigkeit derjenigen Regelung, die einen Defekt enthält, feststellen darf, ohne das gesamte Gesetz für verfassungswidrig zu erklären, sofern die verfassungsmäßige Regelung autonom bestehen kann 50 . Hier gilt es zunächst, zu klären, ob das Gesetz objektiv teilbar ist. Hierfür ist der Abhängigkeitsgrad zwischen den einzelnen Bestimmungen festzustellen, d.h., es ist zu prüfen, ob die Vorschriften in wesentlicher und unteilbarer Verbindung miteinander stehen51. Es genügt aber nicht, die objektive Teilbarkeit des Gesetzes zu bejahen. Es ist weiterhin zu überprüfen, ob die nach einer Teilverwerfung bestehengebliebene Norm der allgemeinen Absicht des 1988, p. 95; Representaçâo Nr. 1433, Berichterstatter: Richter Francisco Rezek, Revista de Direito Administrativo Nr. 171, Januar-März 1988, S. 107. 46 Representaçâo Nr. 1304, Berichterstatter: Richter Célio Borja, Revista de Direito Administrativo Nr. 171, Januar-März 1988, S. 109-118. 47 Representaçâo Nr. 1305, Berichterstatter: Richter Sydney Sanches, Revista de Direito Administrativo Nr. 170, S. 46; Representaçâo Nr. 1379, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diàrio da Justiça vom 11.9.87. 48 Vgl. dazu Mendes, Controle de Constitucionalidade, S. 284; Bittencourt, Controle Jurisdicional da Constitucionalidade, S. 127. 49 Representaçâo Nr. 1379, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diario da Justiça vom 11.9.1987. 50 Bittencourt, Controle Jurisdicional da Constitucionalidade, S. 126-127. si Bittencourt, Controle Jurisdicional da Constitucionalidade, S. 127.
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Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
Gesetzgebers entspräche 52. Es sind daher sowohl die Existenz eines Abhängigkeitsverhältnisses (einseitige oder gegenseitige Abhängigkeit) 53 als auch die Möglichkeit eines unzulässigen Eingriffs in den Willen des Gesetzgebers54 zu untersuchen. Bei der Untersuchung des Willens des Gesetzgebers spielen Ausmaß und Bedeutung des Eingriffs, der sich bei einer Teilnichtigerklärung ergäbe, eine wichtige Rolle. Wenn die Teilnichtigerklärung die Schaffung eines neuen Gesetzes zur Folge haben würde, das den Vorstellungen, die der Gesetzgeber verfolgte, nicht entspricht, ist das gesamte Gesetz als verfassungswidrig zu erklären 55. dd) Teilnichtigerklärung
ohne Normtextreduzierung
Bereits im Jahre 1949 hat Lucio Bittencourt solche Fälle, in denen die Anwendung eines Gesetzes auf Gruppen von Personen oder auf einen bestimmten Sachverhalt für verfassungswidrig erklärt wird, als eine Art von Teilnichtigerklärung ohne Normtextreduzierung bezeichnet56. Nicht selten stellte das Gericht die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes fest, das entgegen dem in Art. 141 Abs. 34 der Verfassung von 1946, Art. 153, Abs. 29 der Verfassung von 1967/69 57 aufgestellten Erfordernis, wonach die Erhebung von Steuern bereits im vorhergehenden Rechnungsjahr festgelegt sein muß, eine Steuer im Laufe des Rechnungsjahres festgesetzt oder erhöht hat 58 . Dies sollte aber nicht zu der Kassation der Gesetze führen, da sie auf das nächste Rechnungsjahr angewendet werden könnten. In anderen Fällen hat das Gericht die rückwir52 Bittencourt, Controle Jurisdicional da Constitucionalidade, S. 125. 53 Representaçâo Nr. 1305, Berichterstatter: Sydney Sanches, Revista de Direito Administrativo Nr. 170, Oktober-Dezember 1987, S. 46-60; Bittencourt, Ο Controle Jurisdicional da Constitucionalidade, S. 125 und 127; Mendes, Controle de Constitucionalidade, S. 269. 54 Representaçâo Nr. 1379, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diario da Justiça vom 11.9.87; S. auch Bittencourt, Ο Controle Jurisdicional da Constitucionalidade, S. 125 und 127; Mendes, Controle de Constitucionalidade, S. 269. 55 Representaçâo Nr. 1379, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diario da Justiça vom 11.9.87. 56 Bittencourt, Controle Jurisdicional da Constitucionalidade, S. 128. 57 Diese Bestimmung wurde auch in die Verfassung von 1988 aufgenommen (Art. 150 II). 58 Recurso de Mandado de Segurança Nr. 11.853, Berichterstatter: Richter Luiz Gallotti, Diàrio da Justiça vom 17.8.66; Recurso de Mandado de Segurança Nr. 13.208; Berichterstatter: Richter Vilas Boas, Diario da Justiça vom 11.5.66; Recurso de Mandado de Segurança Nr. 13.694, Berichterstatter: Richter Carlos Medeiros da Silva, Diàrio da Justiça vom 10.8.66; Recurso de Mandado de Segurança Nr. 16.588, Berichterstatter: Richter Victor Nunes, Diàrio da Justiça vom 12.3.68; Recurso de Mandado de Segurança Nr. 16.661, Berichterstatter: Richter Evando Lins e Silva, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 59,185; Recurso Extraordinàrio Nr. 61.102, Berichterstatter: Richter Oswaldo Trigueiro, Diario da Justiça vom 14.2.1968.
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kende Anwendung von Gesetzen, die Regelungen über eine wertmäßige Anpassung von Schulden an die Inflationsrate enthielten, für verfassungswidrig gehalten 59 . Auch hier wurden nur bestimmte Anwendungsfälle als verfassungswidrig verworfen, ohne daß der Normtext berührt wurde. Eine Beschränkung des Anwendungsbereichs des Gesetzes wird häufig auch durch die verfassungskonforme Auslegung erreicht. So hat das Gericht eine Vorschrift, nach der zur Vorbereitung der Ernennung von Rektoren der öffentlichen Universitäten eine mit drei Kandidaten besetzte Vorschlagsliste vorzulegen ist, für verfassungsgemäß erklärt, soweit sie allein auf die Anstalten des Bundes anzuwenden ist 60 . Mit der Begründung, daß eine solche Regelung nicht zu den Richtlinien des Erziehungssystems gehört, für die allein dem Bund insoweit eine Regelungskompetenz zusteht, und mittels Verwendung der Formel „ soweit " hat das Gericht die Landesuniversitäten von dem Anwendungsbereich der Norm ausgeschlossen. Ob diese Fälle von verfassungskonformer Auslegung als Teilnichtigerklärung ohne Normtextreduzierung anzusehen sind, ist nicht sicher. Es ist darauf hinzuweisen, daß der Oberste Gerichtshof in einem Urteil vom 9.11.1987 ausgeführt hat, daß verfassungskonforme Auslegung in Wirklichkeit nicht als eine einfache Interpretationsmaxime, sondern als eine Entscheidungsart der Normenkontrolle zu qualifizieren sei, die mit der Teilnichtigerklärung ohne Normtextreduzierung gleichgesetzt werden könne 61 . Dieser Frage ist bei der Untersuchung der verfassungskonformen Auslegung nachzugehen. 3. Die verfassungskonforme Auslegung a) Einleitung Gemäß einem Grundsatz des amerikanischen Verfassungsrechts, der in die brasilianische Verfassungslehre Eingang gefunden hat, soll der Richter im Zweifel zugunsten der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes entscheiden. Auch im Falle 59 Recurso de Mandado de Segurança Nr. 16. 986, Berichterstatter: Richter Aliomar Baleeiro, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 43, S. 575; Recurso de Mandado de Segurança Nr. 16.661, Berichterstatter: Richter Evando Lins e Silva, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 59, S. 185; Embargos no Recurso Extraordinàrio Nr. 69.749, Berichterstatter: Richter Bilac Pinto, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 61, S. 130; Recurso Extraordinàrio Nr. 63.318, Berichterstatter: Richter Victor Nunes Leal, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 46, S. 205; Recurso Extraordinàrio Nr. 99.180, Berichterstatter: Djaci Falcâo, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 106, S. 847. 60 Representaçâo Nr. 1454, Berichterstatter: Richter Octavio Gallotti, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 125, S. 997. Representaçâo Nr. 1417, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 126, S. 48.
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von zwei möglichen Auslegungen eines Gesetzes ist eine verfassungskonforme Auslegung des zu überprüfenden Gesetzes der Verfassungswidrigerklärung vorzuziehen. Von der Lehre wird häufig der Ausspruch von Cooley zitiert — „the Court, if possible, must give the statute such a construction as will enable it to have effect" 62. Die Gerichte müssen demnach davon ausgehen, daß der Gesetzgeber eine verfassungsmäßige Norm gewollt hat 63 . Der Oberste Gerichtshof hat seit geraumer Zeit die verfassungskonforme Auslegung in seiner Rechtsprechung angewendet. Bei der inzidenten richterlichen Kontrolle bereitet dies prinzipiell keine besonderen Schwierigkeiten, da das Gericht hier eine konkrete Entscheidung zu treffen hat, die die Beteiligten unmittelbar bindet. Diese Praxis wurde ohne nähere Begründung auf die Entscheidung im abstrakten Normenkontrollverfahren übertragen 64. Nach der dafür entwickelten Tenorierungspraxis stellt das Gericht die Vereinbarkeit des Gesetzes mit der Verfassung fest, soweit dieses in der vom Gericht festgelegten Weise ausgelegt wird 6 5 . Das Gericht nimmt in die Entscheidungsformel in verkürzter Fassung das Ergebnis der verfassungskonformen Auslegung 66 auf.
b) Zulässigkeit und Grenzen der verfassungskonformen Auslegung Auch in Brasilien wird die Zulässigkeit der verfassungskonformen Auslegung unterschiedlich begründet. Zunächst ist im Hinblick auf den Vorrang der Verfassung darauf hinzuweisen, daß die Auslegung aller Rechtsnormen der Verfassung entsprechen muß 67 . Für die Zulässigkeit der verfassungskonformen Auslegung spricht auch die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, die sich auf die Annahme gründet, daß der Gesetzgeber nicht beabsichtigt habe, ein verfassungswidriges Gesetz zu erlassen 68. Die verfassungskonforme Auslegung kennt gemäß der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs Grenzen. Sie ergeben sich sowohl aus dem 62 Cooley, A Treatise on the Constitutional Limitations, Boston, 1878, S. 228; Vgl. auch Bittencourt, Controle Jurisdicional de Constitucionalidade, S. 93. 63 Bittencourt, Controle Jurisdicional de Constitucionalidade, S. 93. 64 Representaçâo Nr. 948, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 82, S. 55-56; Representaçâo Nr. 1100, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 115, S. 993 ff. 65 Vgl. dazu Representaçâo Nr. 1454, Berichterstatter: Richter Octavio Gallotti, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 125, S. 997. 66 Vgl. dazu Representaçâo Nr. 1389, Berichterstatter: Richter Oscar Corrêa, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 126, S. 514; Representaçâo Nr. 1454, Berichterstatter: Richter Octavio Gallotti, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 125, S. 997; Representaçâo Nr. 1399, Berichterstatter: Richter Aldir Passarinho, Diàrio da Justiça vom 9.9.88. 67 Bittencourt, Controle Jurisdicional da Constitucionalidade, S. 93-94. 68 Bittencourt, Controle Jurisdicional da Constitucionalidade, 1968, S. 95.
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Wortlaut des Gesetzes als auch aus dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers. Die verfassungskonforme Auslegung eines Gesetzes ist deswegen nur dann zulässig, wenn sie dessen Wortlaut keine Gewalt antut 69 oder wenn sie dem legislativen Werk nicht einen anderen Sinn gibt als den vom Gesetzgeber beabsichtigten. Diese Maximen werden in der Rechtsprechungspraxis nicht immer eingehalten. Dies wird z.B. durch die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs über die Rückübereignung bei nachträglichem Fortfall des Enteignungszwecks belegt. Der Art. 35 des Enteignungsgesetzes vom 21.6.1941 legt fest, daß selbst im Falle der Nichtigkeit der Enteignung den Enteigneten kein Rückübereignungsrecht zusteht. Ansprüche des Enteigneten sollten durch Schadensersatz befriedigt werden. In der Entscheidung vom 14.12.1976 hat das Gericht festgelegt, daß sich das Rückübereignungsrecht auf die Verfassungsbestimmung, die das Eigentumsrecht gewährleistet und die Enteignung nur im öffentlichen Interesse zuläßt, stützt, so daß die Regelung des Art. 35 des Enteignungsgesetzes in Konformität mit der Verfassungsnorm ausgelegt werden müßte 70 . Das Gericht hat hier durch unmittelbare Herleitung normativer Prämissen aus der Verfassung die einfachrechtliche Bestimmung ergänzt, so daß die gesetzliche Vorschrift praktisch einen neuen Inhalt gewann. Ob ein solches Interpretationsergebnis noch die vom Obersten Gerichtshof angenommenen Grenzen einhält, ist zweifelhaft. Eine solche Konstruktion kann nur als legitim angesehen werden, wenn sie nicht einfach als Interpretation, sondern als ein Fall richterlicher Rechtsfortbildung betrachtet wird 7 1 . Andere Judikate zeigen, daß das Gericht den gesetzgeberischen Intentionen keine Beachtung schenkt oder es vermeidet, sie zu ermitteln, wenn die verfassungskonforme Auslegung innerhalb der Grenzen des möglichen Wortsinns liegt 72 .
c) Qualifizierung der verfassungskonformen Auslegung Die verfassungskonforme Auslegung wurde im brasilianischen Recht immer als ein besonderer Fall der Verfassungsmäßigkeitserklärung verstanden 73. Erst aus Anlaß eines Verfahrens, in dem der Bundesgeneralstaatsanwalt kumulativ 69 Bittencourt, Controle Jurisdicional da Constitucionalidade, S. 95. 70 Recurso Extraordinàrio Nr. 81.151, Berichterstatter: Richter Antonio Neder, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 80, S. 139 (146). 71 Vgl. dazu Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung, in: BVerfG und GG, Bd. II, S. 116. 72 Representaçâo Nr. 1454, Berichterstatter: Richter Octavio Gallotti, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 125, S. 997; Representaçâo Nr. 1389, Berichterstatter: Richter Oscar Corrêa, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 126, S. 514; Representaçâo Nr. 1399, Berichterstatter: Richter Aldir Passarinho, Diario da Justiça 9.9.88. 73
Vgl. dazu Bittencourt, Controle Jurisdicional de Constitucionalidade, S. 95.
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Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
einen interpretativen Antrag 74 und einen abstrakten Normenkontrollantrag stellte, wurde die Frage über die dogmatische Bedeutung der verfassungskonformen Auslegung aufgeworfen 75. Das Gericht hat den interpretativen Antrag als unzulässig verworfen, da die verfassungskonforme Auslegung, wenn sie praktiziert werden solle, im Rahmen der Normenkontrolle anzuwenden sei 76 . Das Gericht führt weiter aus, daß die allgemeine Wirkung die von dem Gericht festgelegte Auslegung inter omnes verbindlich mache mit der Konsequenz, daß niemandem gestattet sei, das Gesetz weiterhin in der von dem Gericht verworfenen Auslegung anzuwenden77. Obwohl das Gericht ausdrücklich die verfassungskonforme Auslegung mit der Teinichtigerklärung ohne Normtextreduzierung gleichgesetzt hat, hat es keine Änderung in seine Tenorierungspraxis eingeführt. Vielmehr hat es die bisher schon entwickelte Praxis, die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zu bestätigen, soweit es in einem genau festlegten Sinn ausgelegt wird, beibehalten78. Auch in neuesten Entscheidungen beschränkt es sich darauf, das Ergebnis der verfassungskonformen Auslegung in den Tenor aufzunehmen. Die Entscheidungsformel enthält keine Aussage über eine Teilnichtigerklärung. Es ist nicht leicht einzusehen, warum das Gericht eine Gleichsetzung der verfassungskonformen Auslegung und der Teilnichtigerklärung ohne Normtextreduzierung angenommen hat, wenn es sich in seiner ständigen Rechtsprechung allein darauf beschränkt, im Tenor die Verfassungsmäßigkeit des beanstandeten Gesetzes mit einer bestimmten Interpretation festzustellen. Wenig einleuchtend ist auch, warum, wenn seiner Vorstellung nach keine dogmatischen Unterschiede zwischen beiden Kategorien bestehen, es seine Tenorierungspraxis nicht geändert hat. Denn die allgemeine Wirkung ( eficàcia erga omnes), die einer verwerfenden oder bestätigenden Entscheidung zukommt, bedeutet gerade aus einer prozessualen Sicht Verbindlichkeit inter omnes, so daß die Gleichsetzung der verfassungs-
74 Der sogenannte interpretative Antrag ( Representaçâo interpretativa) wurde in brasilianisches Recht durch die Verfassungsnovelle Nr. 7, von 1977, eingeführt und sollte — so ausdrücklich die Begründung des Regierungsentwurfs — zur definitiven Beilegung von Meinungsverschiedenheiten oder Kontroversen über die Auslegung eines Gesetzes oder eines normativen Akts des Bundes oder eines Landes dienen. Antragsberechtigt war allein der Bundesgeneralstaatsanwalt (Verfassung von 1967/69, Art. 119 11). Die Verfassung von 1988 hat dieses Institut nicht aufgenommen. 75 Vgl. Representaçâo Nr. 1417, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 126, S. 48 ff. 76 Representaçâo Nr. 1417, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 126, S. 48 (66). 77 Representaçâo Nr. 1417, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 126, S. 48 (69). 78 Representaçâo Nr. 1454, Berichterstatter: Richter Octavio Gallotti, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 125, S. 997; Representaçâo Nr. 1389, Berichterstatter: Richter Oscar Corrêa, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 126, S. 514; Representaçâo Nr. 1399, Berichterstatter: Richter Aldir Passarinho, Diàrio da Justiça vom 9.9.88.
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konformen Auslegung mit der Teilnichtigerklärung ohne Normtextreduzierung weder notwendig noch dogmatisch richtig erscheint.
4. Die Verfassungsmäßigkeitserklärung von Gesetzen Die brasilianische Verfassungslehre hat grundsätzlich der Verfassungsmäßigkeitsentscheidung keine Beachtung geschenkt. Da Inhalt und Wirkung der Entscheidung nur bruchstückhaft in den verschiedenen gesetzlichen Bestimmungen geregelt sind, ist es zunächst Lehre und Rechtsprechung nicht gelungen, die dogmatische Bedeutung der Verfassungsmäßigkeitserklärung von Gesetzen zu präzisieren 79. Die brasilianische Verfassung bestimmt in Art. 97, daß die Gerichte nur mit der absoluten Mehrheit ihrer Mitglieder die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes oder normativen Aktes der öffentlichen Gewalt feststellen dürfen. Diese Bestimmung, die in die brasilianische Verfassungsordnung durch die Verfassung von 1934 eingeführt worden ist (Verfassung von 1934, Art. 179), soll verhindern, daß die Gerichte aufgrund sich gelegentlich ergebender Mehrheiten Entscheidungen über die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes treffen können 80 . Der Supremo Tribunal Federal hat in seiner Geschäftsordnung — der in der abgelösten Verfassungsordnung die Kraft eines Gesetzes zukam 81 — ausdrücklich festgelegt, daß die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit oder die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes oder normativen Aktes, die gemäß Art. 143 der Geschäftsordnung nur durch das beschlußfähige Plenum des Gerichts getroffen werden kann (Anwesenheit von acht der elf Richter), von einer Mehrheit von sechs Stimmen getragen sein muß (Geschäftsordnung, Art. 173). Die Geschäftsordnung fordert damit nicht nur für die Erklärung der Verfassungswidrigerklärung, sondern auch für die Erklärung der Verfassungsmäßigkeit eine qualifizierte Mehrheit 82 . Die Beschränkung der allgemeinen Wirkung allein auf die Erklärung der Verfassungswidrigkeit erwies sich aber vor allem in Fällen von verfassungskonformer Auslegung als problematisch. Die von dem Gericht in dieser Entscheidungsform vorausgesetzte Verbindlichkeit inter omnes läßt sich nur begründen, wenn dieser Entscheidung auch allgemeine Wirkung zukommt. Das Gericht hat versucht, das Problem zu lösen 83 , indem es zunächst angenommen hat, daß die verfassungskon79 Vgl. dazu Buzaid, Da Açâo Direta, S. 87; Bittencourt, Controle Jurisdicional da Constitucionalidade, S. 143. 80 Mangabeira, Joâo, Em Tomo da Constituiçâo, p. 159-165. si Verfassung von 1967/69, Art. 119 Abs. 3 , c; S. oben Β, 1, 2, e. 82 Mendes, Controle de Constitucionalidade, S. 281; Vgl. dazu auch Gallotti, Maria Isabel, A Declaraçâo de Inconstitucionalidade e seus Efeitos, in: Revista de Direito Administrativo Nr. 170, 1987, S. 18 (S. 37-38). 83
Vgl. dazu oben D, III, 3, c.
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D. Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
forme Auslegung mit einer Teilnichtigerklärung gleichzusetzen sei 84 . Dieser besonderen Nichtigerklärung komme allgemeine Wirkung zu, so daß niemandem gestattet sei, das Gesetz in der von dem Gericht verworfenen Auslegung anzuwenden 85 . Es hat aber davon abgesehen, später die Konsequenzen aus dieser Annahme zu ziehen, da es keine Änderung in der für die verfassungskonforme Auslegung entwickelten Tenorierungspraxis eingeführt hat 86 . Immerhin zeigt der Ausspruch in der Entscheidungsformel, daß der Antrag abzuweisen ist, soweit die bestimmte Auslegung angewendet wird, daß der Oberste Gerichtshof von der allgemeinen Verbindlichkeit der bestätigenden Entscheidung ausgeht.
5. Entwicklung einer Unvereinbarerklärung im brasilianischen Recht? a) Einleitung Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes ohne dessen Nichtigkeitserklärung bedeutet kein Novum im brasilianischen Verfassungsrecht. Bereits die Verfassung von 1946 sah eine solche Entscheidungsform vor, indem sie dem Obersten Gerichtshof im Vorverfahren der Bundesintervention die Befugnis eingeräumt hat, auf Antrag des Bundesgeneralstaatsanwalts den eventuellen Verstoß eines Landes gegen die sogenannten „ sensiblen Prinzipien " (Homogenitätsgebote) (Verfassung von 1946, Art. 7 V I I i.V.m. Art. 13) festzustellen. Dieselbe Regelung ist durch die Verfassungen von 1967/ 69 (Art. 10 V I I i.V.m. Art. 11 Abs. 2) und von 1988 (Art. 34 V I I i.V.m. Art. 36 IV und Abs. 3) getroffen worden, die eine interventive Feststellungsklage sowohl zur Wahrung der sogenannten sensiblen Prinzipien als auch zur Gewährleistung der Ausführung von Bundesgesetzen vorsahen. Das Gericht soll sich hier darauf beschränken, wie ausdrücklich in der geltenden Verfassung bestimmt wird, die Verfassungswidrigkeit einer Maßnahme oder der Unterlassung eines Landes zu erklären. Damit wird die beanstandete Maßnahme nicht von dem Gericht kassiert oder suspendiert, denn diese ist gemäß Art. 36 Abs. 3 der Verfassung und Art. 175 der Geschäftsordnung des Obersten Gerichtshofs nur durch einen Akt des Bundespräsidenten der Republik im Wege der Bundesintervention aufzuheben 8 7 . 84
Representaçâo Nr. 1417, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 126, S. 48 (66). 85 Representaçâo Nr. 1417, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 126, S. 48 (69). S6 Representaçâo Nr. 1454, Berichterstatter: Richter Octavio Gallotti, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 125, S. 997; Representaçâo Nr. 1399, Berichterstatter: Richter Aldir Passarinho, Diario da Justiça vom 9.9.88; Representaçâo Nr. 1389, Berichterstatter: Richter Oscar Corrêa, Revista Trimestral de Jurisprudência Nr. 126, S. 514. 87
Miranda, Pontes de, Comentârios à Constituiçâo de 1967, com a Emenda n û 1 de 1969, Bd. II, S. 257; Mendes, Controle de Constitucionalidade, S. 222 ff.
II.
s e i u n g e n vor dem Supremo Tribunal Federal
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Daß dieses Feststellungsurteil in Rechtskraft erwächst, wird nicht angezweifelt. Davon geht auch die Geschäftsordnung des Gerichts aus, die bestimmt, daß die offizielle Mitteilung an den Bundespräsidenten über Feststellung eines Verstoßes gegen die sogenannten sensiblen Prinzipien erst nach Eintritt der Rechtskraft erfolgen soll (Geschäftsordnung, Art. 175). Diese Entscheidung bindet die Beteiligten — den Bund, vertreten durch den Bundesgeneralstaatsanwalt, und das Land, vertreten durch dessen zuständiges Organ. Das Urteil ermöglicht, wie der Oberste Gerichtshof formuliert, „ wie das Glied einer Kette, an der verschiedene Gewalten zusammenwirken daß der Präsident der Republik die Ausführung des beanstandeten Akts verbietet 88. Die Entscheidung, wenn sie sich auf einen normativen Akt eines Bundeslands bezieht, läßt deswegen den Bestand der Maßnahme unberührt. Die Lehre bewertet einstimmig die Entscheidung in der interventiven Feststellungsklage lediglich als ein „Feststellungsurteil", da der Oberste Gerichtshof hier nur über eine beschränkte Überprüfungsbefugnis verfügt. Gleichwohl ist das Bundesland, dessen Akt oder Unterlassen für verfassungswidrig erklärt wird, dazu verpflichtet, der Entscheidung Folge zu leisten, sei es durch Aufhebung der für verfassungswidrig erklärten Maßnahme, sei es durch Erlaß der zur Ausführung des Bundesgesetzes notwendigen Akte. Die Durchführung der Bundesintervention durch den Präsidenten der Republik kann nur erfolgen, wenn das Bundesland der Entscheidung nicht Folge geleistet hat 89 . Die Verfassung von 1988 hat anscheinend die Möglichkeit zur Entwicklung einer Unvereinbarkeitserklärung eröffnet, indem sie der Kontrolle der gesetzgeberischen Unterlassung besondere Bedeutung beigemessen hat. Die Verfassung hat in Art. 5 L X X I die sogenannte mandado de injunçâo-Klage eingeführt, einen eigenartigen Rechtsbehelf, den jedermann mit der Behauptung erheben kann, daß die Unterlassung des Gesetzgebers ihn daran hindert, ein verfassungsrechtlich gewährleistetes Recht einschließlich solcher, die sich aus dem Volkssouveranitätsprinzip ergeben, auszuüben. Neben diesem Instrument zum Schutz individueller Rechte hat der Verfassungsgeber in Art. 103 Abs. 2 auch eine abstrakte Unterlassungskontrolle eingeführt. Dieser Vorschrift gemäß soll im Falle der Begründetheit des Antrags die für den Erlaß der Norm zuständige Gewalt unterrichtet werden. Wenn es sich dabei um eine Verwaltungsbehörde handelt, ist diese dazu verpflichtet, die festgestellte Lücke binnen einer Frist von 30 Tagen auszufüllen.
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Recurso Extraordinàrio Nr. 92.169, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Revista Trimestral de Jurisprudência 103, S. 1112-1113. 89 Vgl. dazu Pacheco, Claudio, Tratado das Constituiçôes Brasileiras, Bd. 3, S. 7879; Silva, J. Α., Curso de Direito Constitucional Positivo, S. 53. 14 Mendes
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b) Die Entscheidungen auf die mandado de injunçâo-Klage und auf die „abstrakte Unterlassungsfeststellungsklage" nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs aa) Vorbemerkung Die Aufnahme der mandado de injunçâo-Klage und der „ abstrakten Unterlassungsfeststellungsklage" in die Verfassung von 1988 gibt Anlaß zu heftigen Kontroversen in der Lehre. Der Inhalt, die Bedeutung und die Tragweite der Entscheidungen in diesen Verfahren werden in der Lehre unterschiedlich bewertet und aufgefaßt. Einige Stimmen in der Literatur vertreten die Auffassung, daß die Verfassungsbestimmungen über das mandado de injunçâo- Verfahren keine hinreichenden Regelungen über das Verfahren enthalten, so daß ihre Anwendung von dem Erlaß diesbezüglicher Bestimmungen abhänge90. Ein anderer Teil der Lehre stellt darauf ab, daß die mandado de injunçâo- Klage sich gegen solche Unterlassungen des normsetzenden Organs richtet, die den Beschwerdeführer hindert, ein ihm verfassungsrechtlich gewährleistetes Recht wahrzunehmen. Die auf sie ergehende Entscheidung müsse daher eine konkrete Regelung enthalten, die dem Beschwerdeführer ermöglicht, das subjektive Recht auszuüben91. Eine Variante dieser Auffassung vertritt die Meinung, daß die gerichtliche Entscheidung eine allgemeine Regelung zu enthalten habe, die nicht nur für die konkrete Rechtsstreitigkeit (Anlaßfall), sondern auch für gleichgelagerte Fälle (Parallelfälle) gelten solle 92 . Der Verfassungsgeber hätte ausnahmsweise nach dieser Konzeption das Gericht ermächtigt, eine abstrakte Regelung zu erlassen, so daß die Position der Gerichtsbarkeit in diesem Fall starke Ähnlichkeit mit gesetzgeberischer Tätigkeit aufwiese 93 . Um die Schwierigkeiten zu vermeiden, die sich aus einem solchen Verständnis ergeben, wird diese Position jedoch eingeschränkt, indem hinzugefügt wird, daß die mandado de injunçâo-Klage unzulässig sei, wenn die Ausübung des subjektiven Rechts die Organisation bestimmter Tätigkeiten und öffentlicher Dienste voraussetze oder wenn sie von der Verfügung über öffentliche Gelder abhänge94. So könnte dieser Ansicht nach das mandado de injunçâo- Verfahren nicht eingeleitet werden, wenn z.B. damit die Gewährleistung der Zahlung von Arbeitslosengeld bezweckt wird 9 5 . 90 Teixeira Filho, Manoel Antonio, Mandado de Injunçâo e Direitos Sociais, Revista Ltr Nr. 53,1989, S.323; Ferreira Filho, Manoel Gonçalves, Curso de Direito Constitucional, S. 277. 91 Silva J. Α., Curso de Direito Constitucional Positivo, S. 389-389; 92 Passos, J. J. Calmon de, Mandado de Segurança Coletivo, Mandado de Injunçâo, Habeas Data, Constituiçâo e Processo, S. 124. 93 Passos, J. J. Calmon de, Mandado de Segurança Coletivo, Mandado de Injunçâo, Habeas Data, Constituiçâo e Processo, S. 124. 94 Passos, J. J. Calmon de, Mandado de Segurança Coletivo, Mandado de Injunçâo, Habeas Data, Constituiçâo e Processo, S. 112-113.
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Eine zweite Auffassung in der Lehre vertritt die Meinung, die mandado de injunçâo-KXdigt ziele allein auf die gerichtliche Feststellung ab, daß eine verfassungswidrige Unterlassung vorliege, die die Ausübung verfassungsrechtlich gewährleisteter Rechte verhindert. Der Erlaß von normativen Entscheidungen durch das Gericht wäre demgemäß unzulässig96. Die Entscheidungen, die der Oberste Gerichtshof in der mandado de injunçâo-Klage sowie auf die „ abstrakte Unterlas sungsfeststellungsklage " auszusprechen hat, haben dieser Ansicht nach verpflichtenden Charakter 91. Die gesteigerte Erwartung, die dieses neue Institut erweckt hat, hat dazu geführt, daß eine große Zahl von mandado de injunçâo-K\?Lgzn vor dem Obersten Gerichtshof in einer kurzen Zeitspanne erhoben worden ist 9 8 , so daß er sich verpflichtet sah, sowohl die Frage nach ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit unabhängig vom Erlaß neuer verfahrensrechtlicher Regelungen zu entscheiden, als auch die Bedeutung dieses Instituts in der brasilianischen Verfassungsordnung zu definieren. bb) Der verpflichtende Charakter der Entscheidung auf die mandado de injunçâo-Klage und auf die „abstrakte Unterlassungsfeststellungsklage" nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs Der Oberste Gerichtshof hatte zum ersten Mal Gelegenheit, zu den Fragen, die die Kontrolle der Unterlassung aufwirft, in der Entscheidung vom 23.11.1989 Stellung zu nehmen. Die mandado de injunçâo- Klage wurde von einem Armeeoffizier gegen den Präsidenten der Republik erhoben, weil dieser es unterlassen habe, einen Gesetzesentwurf über die Dienstzeitdauer dem Nationalen Kongreß ausdrücklichem Verfassungsauftrag gemäß vorzulegen (Verfassung, Art. 42 Abs. 9). Der Beschwerdeführer hatte mehr als 9 Dienstjahre abgeleistet und wäre, wenn das vorkonstitutionelle Recht anzuwenden gewesen wäre, mit Eintritt des zehnten Jahres in den Ruhestand versetzt worden. Er beantragte den Erlaß einer entsprechenden Regelung. Zusammen mit dem Antrag im Hauptverfahren hatte er auch den Erlaß einer einstweiligen Verfügung beantragt, die seinen Offizierstatus bis zur definitiven Entscheidung garantieren sollte.
95 Passos, J. J. Calmon de, Mandado de Segurança Coletivo, Mandado de Injunçâo, Habeas Data, Constituiçâo e Processo, S. 112-113. 9 6 Meirelles, Hely Lopes, Mandado de Segurança, Açâo Popular, Açâo Civil Pùblica, Mandado de Injunçâo e Habeas Data, S. 57; Bastos, Celso Ribeiro, Comentârios à Constituiçâo do Brasil, Bd. II, S. 359. 97 Meirelles, Hely Lopes, Mandado de Segurança, Açâo Popular, Açâo Civil pùblica, Mandado de Injunçâo, „Habeas Data", S. 141. 98 Im Jahre 1988 (Oktober-Dezember) sind 15 und im Jahre 1989 64 mandado de injunçâo- Verfahren gegen Akte des Präsidenten der Republik und des Nationalen Kongresses erhoben worden. 14*
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Das Fehlen von verfahrensrechtlichen Regelungen verlangte, wie dargelegt, daß das Gericht als Vorfrage entschied, ob dieses Institut allein aufgrund der Verfassungsbestimmungen anzuwenden sei. Die Antwort auf diese Frage hängt aber von der Definition von Natur und Bedeutung dieser neuen Einrichtung ab. Das Gericht ging davon aus, daß eine unmittelbare gerichtliche Entscheidung, die eine allgemeine oder eine konkrete Regelung für den zu entscheidenden Fall enthält, auszuschließen wäre. Eine konkrete Regelung sei in bestimmten Fällen bereits wegen ihrer den Einzelfall übergreifenden Auswirkungen ausgeschlossen wie etwa im Hinblick auf viele aus den Wahlrechtsgrundsätzen hergeleitete Ansprüche". Sowohl im Hinblick auf konkrete wie auch auf allgemeine Regelungen untersage die Verfassungsgarantie des Art. 5 X X X V I , daß u. a. die Rechtskraft (coisa julgada) durch Gesetz beeinträchtigt wird. Da eine solche gerichtliche Entscheidung in Rechtskraft erwachsen müßte, könne eine von dem Gesetzgeber später zu erlassende Regel die Fälle nicht erfassen, die Gegenstand einer solchen rechtskräftigen Entscheidung sind 10 °. Die Ansicht, daß die Entscheidung, die das Gericht auf eine mandado de injunçâo-Kl&ge auszusprechen hat, eine allgemeine Regelung enthalten müsse, stieße zudem deshalb auf unüberwindliche verfassungsrechtliche Hindernisse, weil ein solcher Ansatz zu dem Ergebnis führen würde, daß das Gericht die Konkretisierung der Verfassung in wichtigen Fällen übernehmen würde, was sich nicht mit den in Art. 1 der Verfassung verankerten Gewaltenteilungs- und Demokratieprinzipien vereinbaren ließe 101 . Für eine „Ersatzvornahme " durch die Gerichte enthalte die Verfassung daher keine Stütze, so daß der Erlaß selbständiger Regelungen, wie er von einem Teil der Lehre befürwortet wird, selbst wenn diese nur vorübergehend zu gelten hätten, verfassungsrechtlich unzulässig sei 102 . Diesem Verständnis stehe auch der in Art. 5 I I verankerte Vorbehalt des Gesetzes entgegen, weil die allgemeine Regelung auch Pflichten für Dritte enthalten könne, die nur aufgrund eines Gesetzes geschaffen werden dürfen 103 . Ferner macht die von Vertretern dieser Auffassung befürwortete Unzulässigkeit der mandado de injunçâo-Klage in Fällen, in denen die Ausübung des subjektiven Rechts von der Organisation bestimmter Tätigkeiten oder technischer Einrichtungen oder von der Verfügung über öffentliche Gelder abhängt, diese verfassungsrechtliche Garantie fast entbehrlich, denn ein Großteil der gesetzgeberischen 99 Mandado de Injunçâo Nr. 107, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diàrio da Justiça vom 28.11.1989 100 Mandado de Injunçâo Nr. 107, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diàrio da Justiça vom 28.11.1989. ιοί Mandado de Injunçâo Nr. 107-3, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diario da Justiça vom 28.11.89. ι 0 2 Mandado de Injunçâo Nr. 107, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diario da Justiça vom 28.11.89. 3 Mandado de Injunçâo Nr. 107, Berichterstatter Richter Moreira A l v e s , D i r i o
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Unterlassungen könnte nicht mit der mandado de injunçâo-YAdigt werden 104 .
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angegriffen
Nach dieser Stellungnahme führte der Oberste Gerichtshof aus, daß die mandado de injunçâo- Klage ihrer Natur nach dazu geeignet sei, verfassungsrechtlich gewährleistete Rechte — einschließlich derjenigen, die sich aus der Volkssouveranität ergeben wie das Abstimmungsrecht, das Wahlrecht, die Gesetzesinitiative durch die Bürger (Verfassung, Art. 14 I - III) sowie diejenigen, die aus den sogenannten sozialen Rechten herzuleiten sind (Verfassung, Art. 6) —, zu garantieren, wenn der Beschwerdeführer wegen der Unterlassung des normsetzenden Organs nicht in ihren Genuß kommen könnte. Als Unterlassung soll nach dem Verständnis des Gerichts nicht nur die Nichtausführung ausdrücklich gegebener Verfassungsaufträge ( omissâo total), sondern auch die Teilunterlassung ( omissâo parcial) des normsetzenden Organs verstanden werden, wenn es einen Verfassungsauftrag nur fehlerhaft erfüllt 105 . Entgegen dem von einem Teil der Lehre vertretenen Verständnis könne die mandado de injunçâo- Klage auch zur Durchsetzung von verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechten eingesetzt werden, wenn ihre Verwirklichung von dem Erlaß von Organisationsnormen abhänge, da andernfalls diese Rechte leerliefen 106 . Das Gericht habe sich aber darauf zu beschränken, die verfassungswidrige Unterlassung festzustellen und den Gesetzgeber zum Handeln aufzufordern. Diese Entscheidung habe deswegen ebenso wie die, die das Gericht auf die „abstrakte Unterlassungsfeststellungsklage" hin auszusprechen hat, obligatorischen Charakter. Beide Klagen seien daher auf Erlaß einer Anordnung an ein anderes Staatsorgan durch richterliches Urteil gerichtet. Das Gericht sieht in ihnen in Anlehnung an eine von Goldschmidt 107 verwandte Terminologie Fälle eines sogenannten „Anordnungsklagerechts" ( „açâo mandarne ntal") m. Durch diese Anordnungsklagen wird eine positive normative Handlung der staatlichen Gewalt verlangt. Die „Unterlassungsfeststellungsklage" ist abstrakt, und ihrer Natur gemäß soll die Entscheidung über sie mit Wirkung inter omnes ausgestattet werden 109 . Der Verfassungsgeber hat aber nach Auffassung des Ober104 Mandado de Injunçâo Nr. 107-3, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diàrio da Justiça vom 28.11.89. w5 Mandado de Injunçâo Nr. 107-3, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diàrio da Justiça vom 28.11.89. 106 Mandado de Injunçâo Nr. 107-3, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, vom 28.11.89. 107 Goldschmidt, James, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., Berlin, 1932, § 15 a,S. 61. los Mandado de Injunçâo Nr. 107-3, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diàrio da Justiça vom 28.11.89 .
109 Mandado de Injunçâo Nr. 107-3, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diàrio da Justiça vom 28.11.89.
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sten Gerichtshofs beiden Instituten grundsätzlich gleiche verfahrensrechtliche Bedeutung und deswegen den gerichtlichen Entscheidungen gleiche Rechtswirkungen beigemessen, denn die Gewährleistung der Ausübung verfassungsrechtlich gewährleisteter Rechte (. . .viabilizar ο exercicio de direitos), die ausdrücklich in der Bestimmung über die mandado de injunçâo-YAdigt genannt ist (Verfassung, Art. 5 LXXI), lasse sich grundsätzlich nicht von der Gewährleistung der Effektivität der Verfassungsnorm (. . .tornar efetiva urna norma constitucional) unterscheiden, die die „abstrakte Unterlassungsklage " zu sichern bezweckt 110 . Die in diesen Verfahren ausgesprochenen Entscheidungen stellen die Säumnis der normgebenden Organe fest, einer verfassungsrechtlichen Handlungspflicht nachzukommen, und verpflichten diese zum Erlaß der geforderten Norm. Nach diesem Verständnis liegt grundsätzlich der einzige relevante Unterschied zwischen der mandado de injunçâo-Kl&ge und der „ abstrakten Unterlassungsfeststellungsklage" darin, daß, während erstere auf den Schutz von subjektiven Rechten ausgerichtet ist und deswegen ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt, die abstrakte Unterlassungsfeststellungsklage als objektives Verfahren unabhängig von dem Rechtsschutzbedürfnis erhoben werden kann 111 . Das Gericht hat ausdrücklich festgestellt, daß aus seiner Zuständigkeit zur Beurteilung der gesetzgeberischen Unterlassung im mandado de injunçâo-Vzxfahren auch die Befugnis zu entnehmen sei, die Aussetzung von administrativen oder gerichtlichen Verfahren anzuordnen oder bestimmte Maßnahmen oder Verwaltungsakte aufzuheben; dem Kläger sei zu gewährleisten, an einer ihn möglicherweise begünstigenden Regelung zu partizipieren. Die Gleichsetzung der Entscheidungswirkung im mandado de injunçâo-WcTfahren und im „abstrakten Unter las sungsf e st st ellungs-Verfahren" spielte eine wesentliche Rolle bei der von dem Gericht entwickelten Konstruktion. Denn daß die Entscheidung für die mit den Normsetzungsaufgaben betrauten Organe verpflichtenden Charakter hat, vermag für sich allein nicht andere von dem Obersten Gerichtshof als selbstverständlich erachtete Rechtsfolgen zu begründen wie etwa die Pflicht zu Aussetzung der Verfahren bei Verwaltungsbehörden oder Gerichten, deren Akte nicht beanstandet wurden. Diese Folgen werden erst vor dem Hintergrund der Annahme verständlich, die Entscheidung in der „abstrakten Feststellungsunterlassungsklage " als objektives Verfahren müsse mit allgemeiner Wirkung ausgestattet werden. Das Gericht geht von der These aus, daß der Verfassungsgeber der Entscheidung in beiden Verfahrensarten gleiche Wirkung beigemessen habe. Das deutet darauf hin, daß nach seinem Verständnis auch der Entscheidung im mandado de injunçâo- Verfahren Verbindlichkeit inter omnes 110
Mandado de Injunçâo Nr. 107, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diàrio da Justiça vom 28.11.89. Mandado de Injunçâo Nr. 107, Berichterstatter Richter Moreira Alves,Diàrio
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zukommt. Nur so konnte das Gericht die Ausdehnung des Wirkungsbereichs der im mandado de injunçâo- Verfahren ausgesprochenen Entscheidung rechtfertigen. Diese Konstruktion gestattete dem Gericht, die unmittelbare Anwendbarkeit der mandado de injunçâo- Klage unabhängig vom Erlaß verfahrensrechtlicher Regelungen zu bejahen. Die gemeinsame juristische Natur der mandado de injunçâo- und der mandado de segurança-YAdigtn 112 als verfassungsrechtlich gewährleistete Klagen auf Vornahme einer Amtshandlung ermöglicht, daß die prozessualen Regelungen des mandado de segurança analog auf den mandado de injunçâo angewendet werden 113 . Zusammenfassend lassen sich aus der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs folgende Ergebnisse ableiten: (1) Die durch die mandado de injunçâo-Kisige verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechte stellen Rechte auf den Erlaß normativer Akte dar und können nicht durch eventuelle „Ersatzvornahmen" des Gerichts befriedigt werden. Die gerichtliche Entscheidung, die eine verfassungswidrige Unterlassung feststellt, stellt damit auch den Verzug des normsetzenden Organs fest und verpflichtet dieses, die verlangte Norm zu erlassen; (2) Die verfassungswidrige Unterlassung kann darin bestehen, daß das für die Normgebung zuständige Organ gänzlich untätig bleibt ( omissâo total). Sie kann aber auch in einer Teilunterlassung (omissâo parcial) bestehen; (3) Die Entscheidung in der abstrakten Unterlassungsfeststellungsklage hat allgemeine Wirkung und unterscheidet sich grundsätzlich nicht von der Entscheidung, die im mandado de injunçâo- Verfahren ausgesprochen wird; (4) Es besteht die Möglichkeit, daß der Oberste Gerichtshof in der mandado de injunçâo-YAdigt die Aussetzung der administrativen oder gerichtlichen Verfahren anordnet, um dem Betroffenen die Möglichkeit zu gewährleisten, an einer ihn eventuell begünstigenden Regelung zu partizipieren. Diese Befugnis kann auch den Erlaß anderer Maßnahmen legitimieren, die bis zum Tätigwerden des Gesetzgebers die rechtliche Position des Betroffenen absichern.
c) Konzeptionelle Überlegungen aa) Vorbemerkung Die Aufnahme eines besonderen Instruments in die Verfassung zum Schutz verfassungsrechtlich gewährleisteter subjektiver Rechte gegen „ Unterlassen des 112 Über das mandado de segurança-W erfahren, S. oben, Β, II, 2, d. u 3 Mandado de Injunçâo Nr. 107, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diàrio da Justiça vom 28.11.89.
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Gesetzgebers " läßt keinen Zweifel mehr an der Existenz eines subjektiv-öffentlichen Anspruchs des Staatsbürgers auf ein Tätigwerden des Gesetzgebers in bestimmten Fällen zu. Sowohl die Einführung einer speziellen verfahrensrechtlichen Garantie zum Schutz verfassungsrechtlich gewährleisteter subjektiver Rechte gegen verfassungswidriges Unterlassen des Gesetzgebers als auch die Aufnahme einer „abstrakten Unterlassungsfeststellungsklage " zeigen jedoch, daß der brasilianische Verfassungsgeber von einer trennscharfen Abgrenzung zwischen dem Verfassungsverstoß durch die gesetzgeberische Tätigkeit und durch gesetzgeberische Unterlassung ausgegangen ist. Der Versuch einer solchen trennscharfen Differenzierung stößt indes auf Schwierigkeiten 114 . Geht man davon aus, daß der Gesetzgeber auf die meisten Verfassungsaufträge hin Rechtsnormen erlassen hat, so bleiben grundsätzlich nur die Fälle unvollständiger Erfüllung von Verfassungsaufträgen (Teilunterlassungen) übrig, sei es, weil der Gesetzgeber eine Norm erlassen hat, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügt, sei es, weil aus der Wandlung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse eine Nachbesserungspflicht erwächst, die eine gesetzgeberische Handlung verlangt 115 . So wird sich bis auf einige besondere Fälle ein „reines " Unterlassen kaum finden lassen. Eventuelle Schlechterfüllung verstößt zwar gegen eine verfassungsrechtliche Handlungspflicht 116 . Die Behauptung, daß der Gesetzgeber einem Verfassungsauftrag nicht nachgekommen sei, läuft aber meist auf eine Rüge der positiven Regelung hinaus 117 . Die Feststellung einer Teilunterlassung des Gesetzgebers — selbst in solchen speziell als Unterlassungskontrollmechanismen konzipierten Verfahren wie dem mandado de injunçâo- und dem „abstrakten Unterlassungsfeststellungsverfahren" — beinhaltet deswegen auch die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes118. Die unpräzise Abgrenzung zwischen Verfassungsverstoß durch gesetzgeberische Tätigkeit und durch gesetzgeberische Unterlassung 119 führt daher zu einer Relativierung der verfassungsprozessualen Bedeutung besonderer Verfahren zum Schutz der Verfassungsordnung bzw. des einzelnen gegen die gesetzgeberische Untätigkeit. Aus prozessualer Sicht liegt dann die Hauptproblematik der gesetzgeberischen Unterlassung weniger in der Notwendigkeit, bestimmte Verfahren zur Kontrolle dieser Art von Verfassungsverstößen einzurichten, als in der Abwicklung der durch das Unterlassen entstandenen verfassungswi114 Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. II, S. 169-170. us Vgl. dazu Jülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 33; Lerche, AöR 90 (1965), S. 341 (352). 116 Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, S. 169; Gusy, Gesetzgeber, S. 152; Schneider, Funktion der Normenkontrolle, S. 148. in Lerche, AöR 90 (1965), S. 341 (352); Ulsamer, in: Maunz u.a., BVerfGG, § 78 RdNr. 22, Fn. 3; Vgl. auch BVerfGE 1, 101; 6, 257 (264), 8, 1 (10). us Vgl. BVerfGE 8, 1 (10); 22, 349 (360). 119 Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, II, S. 129-170; Pestalozza, „Noch verfassungsmäßige", in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 519 (526, 530).
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drigen Rechtslage. Da der Verfassungsverstoß sich hier aus dem Fehlen einer Norm ergibt, kann die Beseitigung des Verfassungsunrechts grundsätzlich nicht durch die vorwiegend auf belastende gesetzliche Eingriffe bezogene Nichtigerklärung erfolgen 120 . Abgesehen von den Fällen zulässiger gerichtlicher Rechtsfortbildung 121 und von der Teilnichtigerklärung der Norm, welche die Erweiterung von deren Anwendungsbereich zur Konsequenz hat und damit einen dem Rechtssetzungsauftrag entsprechenden Zustand herbeiführt 122 , sollte das Gericht — aus funktionell-rechtlichen Gründen — unabhängig von der Verfahrensart, in der die Entscheidung getroffen wird, sich prinzipiell darauf beschränken, den Verfassungsverstoß festzustellen 123. In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht bereits am Anfang seiner Judikatur betont, daß es nicht befugt sei, außerhalb der generellen gesetzlichen Regelung eine Entscheidung für den Einzelfall zu treffen oder von sich aus anstelle des Gesetzgebers zu bestimmen, welche generelle Regelung der Gesetzgeber zu erlassen habe 124 . Auch der brasilianische Oberste Gerichtshof hat in seiner Grundsatzentscheidung für unzulässig erklärt, daß im Falle von gesetzgeberischer Unterlassung das Gericht Regelungen für den Einzelfall oder eine allgemeine Regelung erlasse, da ein solches Vorgehen sich nicht mit den in der Verfassung verankerten Prinzipien der Demokratie und der Gewaltenteilung vereinbaren ließe 125 . Wenn prinzipiell keine rechtlichen Gründe vorliegen, die gegen eine inzidente oder prinzipale Überprüfung von Verfassungsverstößen wegen gesetzgeberischer Teilunterlassung in Normenkontrollverfahren sprechen, wäre anzunehmen, daß diese ebenfalls mittels Normenkontrollantrags beanstandet werden könnte 126 . Das hätte zur Folge, daß die Verfassungswidrigerklärung allein als neue, zum Normenkontrollverfahren gehörige Entscheidungsart angesehen werden könnte. Noch vor Erörterung dieses Problems gilt es, die Bedeutung und Wirkung der stattgebenden Entscheidung des Obersten Gerichtshofs im mandado de injunçâound im „abstrakten Unterlassungsfeststellungsv erfahr en" zu klären.
120 Maurer, Zur Verfassungs widrigerklärung,in: FS W. Weber, S. 345 (354); Ipsen, Rechtsfolgen, S. 214. 121 Vgl. dazu Jülicher, Verfassungsbeschwerde, 22; Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, S. 178; Pestalozza, „Noch verfassungsmäßige", in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 519 (526). 122 BVerfGE 8,1 (36); 22, 349 (360); 22, 156 (174). 123 Vgl. dazu Mandado de Injunçâo Nr. 107, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diàrio da Justiça vom 28.11.89. 124 BVerfGE 6, 257 (264), 8, 1 (19); Dazu S. auch Herzog, in: Maunz-Dürig-HerzogScholz, Art. 20 ΙΠ, RdNr. 13.
125 Mandado de Injunçâo Nr. 107, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diàrio da Justiça vom 28.11.89. 126 Vgl. Gusy, Gesetzgeber, S. 152, Fn. 34.
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bb) Die stattgebende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs auf die mandado de injunçâo-Klage und auf die „ abstrakte Unterlassungsfeststellungsklage" gegen Teilunterlassung Abgesehen von den Fällen absoluten Unterlassens des Gesetzgebers, die immer seltener werden sollten, nachdem der Gesetzgeber auf die meisten Verfassungsauträge hin gesetzliche Regelungen erlassen hat, handelt es sich, wie dargelegt, bei vielen Fällen von gesetzgeberischem Unterlassen um eine Gesetzeslücke oder speziell um einen willkürlichen Begünstigungsausschluß 121. Es stellt sich daher die Frage, ob die Regelung, die wegen ihrer Unvollständigkeit für verfassungswidrig gehalten wird, weiter anzuwenden ist oder ob sie grundsätzlich einer Anwendungssperre unterliegt. Diese Frage ist in der oben erwähnten Entscheidung des Obersten Gerichtshofs offengeblieben. Der Oberste Gerichtshof hat nur festgestellt, daß aus seiner Kompetenz zur Entscheidung des mandado de injunçâo- Verfahrens sich auch die Befugnis ergibt, die Aussetzung von gerichtlichen und administrativen Verfahren anzuordnen, die auf irgendeine Weise die Rechtsposition der Beschwerdeführer beeinträchtigen könnten. Die Aussetzungspflicht von Behörden und Gerichten, deren Akte nicht unmittelbar durch die mandado de injunçâo- Klage beanstandet werden, hat das Gericht — soweit man das aus seinen Ausführungen entnehmen kann — mit der allgemeinen Wirkung seiner Entscheidung begründet 128. Obwohl das Gericht ausdrücklich anerkannt hat, daß der Begriff der „ Unterlassung " sowohl die totale Untätigkeit ( omissâo total) als auch die Teilunterlassung (omissâo parcial) umfaßt, nahm es nicht zur Rechtslage Stellung, die nach der Feststellung der Verfassungswidrigkeit bestehen sollte. Es ist nicht auszuschließen, daß das Gericht diese Frage bewußt offengelassen hat, da andernfalls die von ihm vertretene These, wonach die Anwendbarkeit des mandado de injunçâo unabhängig vom Erlaß verfahrensrechtlicher Regelungen ist, in Zweifel gezogen werden könnte. Da die Beseitigung des fehlerhaften Gesetzes nicht in Frage kommt, könnte davon auszugehen sein, daß die alte Rechtslage bis zum Erlaß der neuen Regelung fortbesteht. Dafür könnte sprechen, daß sowohl im mandado de injunçâo- als auch im „abstrakten Unterlassungsfeststellungsverfahren" lediglich die Verfassungswidrigkeit festgestellt wird. Die alte Norm müßte daher ihre Wirkungskraft bis zum Erlaß der Neuregelung behalten.
127 Obwohl in der Lehre die Fälle von willkürlichem Begünstigungsausschluß im allgemeinen als typisches Beispiel einer Lücke des Gesetzes angesehen werden (Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 359; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 81; Jülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 29; Maurer, Zur Verfassungs widrigerklärung, 345 (352), wird seit einiger Zeit hervorgehoben, daß die Verfassungswidrigkeit sich in diesem Fall eigentlich aus einer verfassungswidrigen Normrelation ergibt (Ipsen, Rechtsfolgen, S. 214).
128 S. oben D, III 5, b, bb.
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Die Vorstellung, daß trotz der Feststellung der Verfassungswidrigkeit das beanstandete Gesetz bis zum Erlaß der Neuregelung weitergelten soll, weil der Oberste Gerichtshof bei den „ Unterlassungskontrollmechanismen" allein die bloße Verfassungswidrigkeit festzustellen habe, läßt sich schwerlich mit der in dem brasilianischen Verfassungsrecht verankerten Konzeption vereinbaren, die ein verfassungswidriges Gesetz als nichtig betrachtet 129. Auch die Verfassung von 1988 bietet keine Grundlage für eine allgemeine Weitergeltung des verfassungswidrigen Gesetzes. Der von ihr vorausgesetzten Rechtsstaatlichkeit, die in Art. 1 normiert ist, und der in Art. 5 Abs. 1 vorgesehenen Bindung der staatlichen Gewalten an die Grundrechte ist nicht bereits dadurch genügt, daß überhaupt ein Gesetz erlassen wird. Das von der Verfassung geforderte Gesetz ist — wie dies im deutschen Recht von Ipsen hervorgehoben wird 1 3 0 — ja nicht irgendeines, sondern ein verfassungsmäßiges Gesetz. Das Rechtsstaatsprinzip (Art. 1), die Bindung der staatlichen Gewalten an die Grundrechte (Art. 5 Abs. 1), der Schutz der Grundrechte gegen Verfassungsänderung (Art. 60 Abs. 4) sowie das besondere Verfahren zur Verfassungsänderung (Art. 60) legen nicht nur die Rangverschiedenheit zwischen Gesetz und Verfassung und den Vorrang der Verfassung fest, sondern stellen eindeutige Geltungsbedingungen, die für das Zustandekommen eines Gesetzes erfüllt werden müssen13 ^ Der Nichtigkeit des verfassungswidrigen Gesetzes kommt daher Verfassungsvorrang zu 1 3 2 . Die allgemeine Weitergeltung des für verfassungswidrig erklärten Rechts würde sich dogmatisch nur durch eine verfassungsrechtliche „normative Alternative"™ begründen lassen, die die brasilianische Verfassung indes nicht enthält. Allein durch die Behauptung, daß das Gericht sich in der Systematik der „ Unterlassungskontrolle " auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit zu beschränken habe, läßt sich die allgemeine Weitergeltung des verfassungswidrigen Gesetzes nicht begründen. Die bloße Feststellung der Verfassungswidrigkeit im Falle der gesetzgeberischen Unterlassung ergibt sich, wie aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu entnehmen ist 1 3 4 , aus der Besonderheit der Abwicklung solcher verfassungswidrigen Rechtslagen135 und hängt nicht von der Verfahrensart ab, in der der Verfassungsverstoß festgestellt wird 1 3 6 . Aus dem
129 S. oben D, III, 2, b. 130 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 216. 131 Buzaid, Da Açâo Direta, 1955, S. 131; Barbosa, Os Atos Inconstitucionais do Congresso, S. 70-71; Campos, F., Direito Constitucional, 1950, Bd. I, S. 430-431. 132 Vgl. oben D, III , 2, b. 133 Vgl. dazu oben D, II, 2, a. 134 BVerfGE 6, 257 (264); 8, 1 (19); 30, 292. 135 Vgl. dazu Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung, in: FS W. Weber, S. 345 (353, 360, 368). 136 Vgl. in der Rechtsprechung des BVerfGGs zum Normenkontrollverfahren: BVerfGE 17, 210 (215); 44, 70 (88); 45, 376 (384); 47, 55; 48, 281; 63, 152 (166); 64, 158 (168), 64, 243 (247); BVerfGE 43, 154 (167).
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Absehen von einer Nichtigerklärung im Falle einer Teilunterlassung kann aber nicht geschlossen werden, daß das Gesetz bis zum Erlaß der Neuregelung weiter anzuwenden ist 1 3 7 . Der einzige mit der Verfassung zu vereinbarende Ansatz ist der, der im Falle der Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Regelung im Weg der mandado de injunçâo-Klage oder der „abstrakten Unterlassungsfeststellungsklage" eine Anwendungssperre festlegt. Die allgemeine Weiteranwendung des für verfassungswidrig erklärten Gesetzes würde einen Bruch mit dem Grundsatz des Verfassungsvorrangs bedeuten. Einer allgemeinen Anwendungssperre könnte aber entgegengehalten werden, daß das Gericht im mandado de injunçâo-V erfahren nur eine verfassungswidrige gesetzgeberische Teilunterlassung feststellen kann, die ein verfassungsrechtlich gewährleistetes subjektives Recht verletzt. Aus diesem Ausspruch ließe sich, wenn er nur Wirkung inter partes hätte, keine allgemeine Suspendierung der Norm begründen. Der Oberste Gerichtshof hat hier eine über die Streitbeteiligten hinausgehende Verbindlichkeit zu begründen versucht, indem er der stattgebenden Entscheidung im mandado de injunçâ ο-Verfahren gleiche Wirkung wie der in der „abstrakten Feststellungsunterlassungsklage " ausgesprochenen Entscheidung beigemessen hat. Die in einem zur Wahrung der Verfassung konzipierten Verfahren getroffene Entscheidung müsse ihrer Natur gemäß Verbindlichkeit inter omnes haben. Der Auffassung des Obersten Gerichtshofs, daß der auf eine „ abstrakte Unterlassungsfeststellungsklage " ausgesprochenen Entscheidung Allgemeinverbindlichkeit zukommt, ist beizupflichten. Eine Verbindlichkeit inter partes der in einem vornehmlich zum Schutz der Verfassung ausgestalteten Verfahren getroffenen Entscheidung entfällt schon deshalb, weil solche Verfassungsbewahrungsverfahren als objektive Verfahren eigentlich keine Streitbeteiligten kennen 138 . Die in solchen Verfahren ausgesprochenen Entscheidungen müssen denknotwendig, wie von dem Obersten Gerichtshof angenommen wird 1 3 9 , mit Verbindlichkeit inter omnes ausgestattet werden 140 . Stellt dann das Gericht in diesem Verfahren ein verfassungswidriges Unterlassen des Gesetzgebers wegen unzureichender oder fehlerhafter Erfüllung eines Verfassungsauftrags fest, spricht es somit auch die Verfassungswidrigkeit der gesamten Regelung mit Wirkung inter omnes aus. Wenn die Verfassungswidrigkeit feststeht, ist gemäß Art. 1 und Art. 5 Abs. 1 137
Vgl. dazu oben D, //, 3, d, cc. 138 S. oben C, II, b, cc. 139 Gutachten von Richter Rodrigues Alckmin vom 19.6.1974; in: Diario da Justiça vom 16.5.1977, S. 3124; Gutachten von Richter Moreira Alves, vom 11.11.1975, in: Diàrio da Justiça vom 16.5.1977, S. 3124; Mandado de Injunçâo Nr. 107, Berichterstatter: Richter Moreira Alves, Diàrio da justiça vom 28.11.89. 140 über die Problematik im deutschen Recht, Vgl. Goessl, Organstreitigkeiten, S. 45; Friesenhahn, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 105.
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der Verfassung allen staatlichen Organen untersagt, auf die für verfassungswidrig gehaltene Regelung gestützte Akte zu erlassen. Hieraus wird deutlich, daß die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Teilunterlassung im „abstrakten Feststellungsunterlassungsverfahren " auch im brasilianischen Recht die Anwendungssperre der fehlerhaften Regelung zur Folge haben muß. Fraglich ist, ob auch der stattgebenden Entscheidung im mandado de injunçâoVerfahren eine allgemeine Wirkung zukommt. Die Systematik der brasilianischen Verfassung spricht eher gegen einen solchen Schluß, wenn man bedenkt, daß Art. 52 X ein besonderes Verfahren dafür vorsieht, die im inzidenten Normenkontrollverfahren ausgesprochene Verfassungswidrigerklärung mit „Gesetzeskraft" auszustatten („Aufhebung der Ausführung des Gesetzes durch den Bundessenat") 141. Wenn davon ausgegangen wird, daß im Falle der Feststellung einer verfassungswidrigen Teilunterlassung auch die Verfassungswidrigkeit der beanstandeten Regelung festgestellt wird, muß man folgerichtig anerkennen, daß diese Entscheidung auch die Verfassungswidrigerklärung des Gesetzes enthält. Die Verbindlichkeit inter omnes einer solchen in einer konkreten Rechtsstreitigkeit getroffenen Entscheidung hängt auch in diesem Fall gemäß Art. 52 X der Verfassung von der „ Suspendierung oder Aufhebung des Gesetzes " durch den Bundessenat ab. Mangels einer Vorschrift, die wie die in § 31 Abs. 1 BVerfGG enthaltene Bestimmung die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs für Verfassungsorgane, Gerichte und Behörden verbindlich macht, hängt die Ausdehnung des Wirkungsbereichs der in einer konkreten Rechtsstreitigkeit ausgesprochenen Verfassungswidrigerklärung von der „Aufhebung der Ausführung des Gesetzes " durch den Bundessenat ab. Wenn mit Wirkung inter omnes feststeht, daß eine verfassungswidrige Teilunterlassung vorliegt, sei es durch die Feststellung der Verfassungswidrigkeit im „abstrakten Unterlassungsfeststellungsverfahren sei es, weil der im mandado de injunçâo- Verfahren ausgesprochenen Entscheidung Gesetzeskraft beigelegt wird, kann weder der einzelne verpflichtet werden, die Norm zu befolgen, noch kann er ihre Anwendung beanspruchen. Staatliche Organe und die Verwaltung sind gehindert, sie weiter anzuwenden, da sie gemäß Art. 1 und 5 Abs. 1 der Verfassung an die rechtstaatlichen Gebote gebunden und dazu verpflichtet sind, rechtmäßig zu handeln. Wenn man demnach auch prinzipiell von einer allgemeinen Anwendungssperre ausgehen muß, ist zu bedenken, daß in bestimmten Fällen die weitere Anwendbarkeit des verfassungswidrigen Gesetzes durch die Verfassungsordnung, wie oben gezeigt wurde 142 , geboten ist. Eine Anwendungssperre — wie eventuell die Kassation der Norm im Normenkontrollverfahren — würde hier den Verfassungsverstoß noch gravierender machen. 141 S. oben D, III, 2, a. 142 S. oben über die Problematik im deutschen Recht D, II, 3 c, aa und bb.
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D. Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
Das könnte an Hand vieler in der brasilianischen Verfassung enthaltenen Verfassungsaufträge nachgewiesen werden. Doch würde eine solche Untersuchung den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Ein einziges Beispiel aus der brasilianischen Verfassung möge dies aber verdeutlichen. Gemäß Art. 7 IV der Verfassung wird dem Arbeitnehmer ein durch Gesetz festgelegter Mindestlohn gewährleistet, der für seine und seiner Familie Lebensnotwendigkeiten wie Wohnung, Nahrungsmittel, Gesundheit, Freizeit, Kleidung, Verkehrsmittel und Altersversorgung ausreicht. Der Mindestlohn soll periodisch korrigiert werden, damit seine Kaufkraft erhalten bleibt. Diese Bestimmung enthält einen Verfassungsauftrag, der den Gesetzgeber dazu verpflichtet, einen Mindestlohn gesetzlich zu fixieren, der den grundlegenden Notwendigkeiten der Arbeitnehmer entspricht. Wenn aber das Gericht z.B. in einem mandado de injunçâo- oder in einem „abstrakten Unterlassungsfeststellungsv erfahr en " zu dem Ergebnis käme — wie das Bundesverfassungsgericht im Falle der Besoldung von Beamten 143 —, daß das Mindestlohngesetz nicht der verfassungsrechtlichen Vorgabe entspricht und deswegen ein Verfassungsverstoß aufgrund gesetzgeberischen Unterlassens vorliegt, so würde eine Anwendungssperre — sowie eine eventuelle Nichtigerklärung der fehlerhaften Regelung in einem Normenkontrollverfahren — das Verfassungsunrecht noch vertiefen, da überhaupt keine anwendbare gesetzliche Regelung über den Mindestlohn mehr vorliegen würde. Man wird also davon ausgehen müssen, daß aus dem stattgebenden Ausspruch des Obersten Gerichtshofs in „abstrakten Unterlassungsfeststellungsverfahren" und im mandado de injunçâo- Verfahren grundsätzlich eine Anwendungssperre folgt, sich aber in bestimmten Fällen die weitere Anwendbarkeit des verfassungswidrigen Gesetzes verfassungsrechtlich rechtfertigen läßt 144 . Dies ist genauso der Fall, wenn aus verfassungsrechtlichen Gründen dessen weitere Anwendung für eine Übergangszeit unentbehrlich ist. Da die Verfassung keine Aussage darüber enthält, müssen die wichtigen Fragen, die sich aus der Besonderheit der Abwicklung einer verfassungswidrigen Lage ergeben, gesetzlich geregelt werden. Im Interesse der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit sollte deswegen der brasilianische Gesetzgeber eine Regelung über die Anwendungssperre und die Aussetzungspflicht treffen und den Obersten Gerichtshof ausdrücklich ermächtigen, unter bestimmten Bedingungen die weitere Anwendung des verfassungswidrigen Gesetzes anzuordnen, wenn dies verfassungsrechtlich erforderlich ist. De lege ferenda sollte auch die Möglichkeit erwogen werden, das Gericht zu ermächtigen, Fristen zu setzen, innerhalb derer das verfassungswidrige Gesetz noch weitergilt. Schließlich wird man davon auszugehen haben, daß mit der Aufnahme besonderer verfassungsprozessualer Mechanismen zur „gesetzgeberischen Unterlasst BVerfGE 8, 1 (19). 144 S. oben über die Problematik im deutschen Recht: D, II, 3, c, bb und D, II, 3, d, cc.
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sungskontrolle " in die Verfassung die Möglichkeit geschaffen wurde, eine neue Entscheidungsart zu entwickeln. Geht man mit dem Obersten Gerichtshof davon aus, daß die stattgebende Entscheidung im mandado de injunçâo- Verfahren und im „abstrakten Unterlassungsfeststellungsv erfahr en" verpflichtenden Charakter für das normgebende Organ hat und daß der Ausspruch, der das Vorhandensein einer verfassungswidrigen Teilunterlassung anerkennt, auch die Verfassungswidrigerklärung der fehlerhaften Regelung beinhaltet, so ist zu folgen, daß in solchen Fällen die Abwicklung der verfassungswidrigen Rechtslage in einem Zweitaktverfahren 145 zu erfolgen hat. cc) Die gesetzgeberische Unterlassung und die abstrakte Normenkontrolle Eine gesetzgeberische Unterlassung liegt nicht nur dann vor, wenn die Legislative ihrer Pflicht nicht nachkommt, sondern auch, wenn sie die Verfassungsaufträge fehlerhaft erfüllt. In diesen Fällen, die, wie sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts feststellen läßt, zahlenmäßig die bedeutendste Gruppe der Unterlassungen ausmachen146, ist eine primäre wie inzidente Normenkontrolle grundsätzlich möglich, da hier eine Regelung vorliegt, die Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung sein kann 147 . Obwohl die Unterlassungen des Gesetzgebers als solche grundsätzlich nicht Gegenstand einer abstrakten Normenkontrolle sein können 148 , ist, wie dargelegt 1 4 9 , nicht auszuschließen, daß ein gesetzgeberisches Unterlassen insoweit Prüfungsgegenstand sein kann, als die Unterlassung die Verfassungsmäßigkeit einer positiven Norm in Frage stellt. Da im Falle einer Teilunterlassung, wenn also der Gesetzgeber einer Verpflichtung zum Erlaß einer Norm nur unvollständig nachgekommen ist, ein positives Handeln vorliegt, bestehen prinzipiell gegen die Zulässigkeit der Verfassungsmäßigkeitsüberprüfung im Normenkontrollverfahren — wenn auch abstrakt — keine Bedenken 150 . Eine Nichtigerklärung kann hier aber grundsätzlich keine adäquate Lösung für die Bereinigung der verfassungswidrigen Rechtslage bieten. Eine Kassation würde in typischen Fällen des gesetzgeberischen Unterlassens, wie bereits dargelegt 1 5 1 , das Verfassungsunrecht, wie das Bundesverfassungsgericht in einigen Entscheidungen ausführt 1 5 2 , noch vertiefen 153 . 145 Über diesen Begriff, S. Hoffmann-Riem, Die Beseitigung verfassungswidriger Rechtslagen im Zweitaktverfahren, DVB1. 1971, S. 842. 146 BVerfGE 15, 46 (76); 22, 329 (362); 23, 1 (10); 25, 101 (110); 32, 365 (372); 47, 1 (33); 52, 369 (379). 147 Vgl. dazu Gusy, Gesetzgeber, S. 152, Fn. 34. ι 4 8 Friesenhahn, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 65. 149 S. oben D, II, 3 c, bb und D, III, 5, c, aa. 150 Gusy, Gesetzgeber, S. 152.
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Entscheidungsformen bei abstrakten Normenkontrollverfahren
Wie bereits betont, liegt die Hauptproblematik der gesetzgeberischen Unterlassung weniger in der Notwendigkeit, bestimmte Verfahren zur Kontrolle der gesetzgeberischen Unterlassung einzurichten, als in der Abwicklung der durch das gesetzgeberische Unterlassen entstandenen verfassungswidrigen Rechtslage 1 5 4 . Die Einführung einer besonderen Systematik zur Kontrolle der gesetzgeberischen Unterlassung und die Einsicht, daß im Falle eines Verfassungsverstoßes durch gesetzgeberisches Unterlassen — unabhängig von der Verfahrensart, in der dieser festgestellt wird — die Mängelbeseitigung grundsätzlich durch den Gesetzgeber durchgeführt werden muß, haben die Weichen für die Entwicklung einer Unvereinbarkeitserklärung auch im abstrakten Normenkontrollverfahren gestellt.
151 S. oben D, II, 3, c, bb und D, III, 5, c, aa. 152 S. oben D, II, 3, c, bb; Vgl. dazu BVerfGE 8, 1 (19); 32, 199 (217); 44, 249 (251). 153 S. oben D, II, 3, c, bb und D, III, 5, c, aa. 154 S. oben D, II, 3, c, bb und D, III, 5, c, aa.
E. Zusammenfassende Thesen 1. Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts als eines Spezialgerichts für Verfassungsstreitigkeiten im deutschen System ist wesentlich ausgeprägter als die des Supremo Tribunal Federal. Das Bundesverfassungsgericht, dessen Einrichtung die Krönung einer langwierigen geschichtlichen Entwicklung darstellt, wurde, wie der Name besagt, von vornherein als Verfassungsgerichtshof konzipiert und eingerichtet. In den fast 40 Jahren seines Bestehens hat das Bundesverfassungsgericht keine bedeutende institutionelle Änderung bezüglich seiner Stellung, Einrichtung und Kompetenz erfahren. 2. Der Supremo Tribunal Federal ist, wie er sich heute darstellt, nicht Ergebnis eines geschlossenen und homogen verlaufenen Prozesses der Rechtssetzung. Konzipiert nach dem Vorbild des amerikanischen Supreme Court, war der brasilianische republikanische Oberste Gerichtshof, der während der letzten 100 Jahre seiner Geschichte existenzbedrohende Krisen überstanden hat, bis vor kurzem auch die Letztinstanz für alle Auseinandersetzungen über das Bundesrecht. Obwohl das Gericht auch zuständig war für verschiedene Verfassungsstreitigkeiten sowie für die Beurteilung der sogenannten außerordentlichen Berufung im Falle von behaupteten Verstößen gegen die Verfassung durch letztinstanzliche gerichtliche Entscheidungen, hatten diesbezügliche Entscheidungen nur eine beschränkte Bedeutung, da sie sich prinzipiell nicht über die konkrete Streitfrage hinaus auswirkten. Dieses System von inzidenter Normenkontrolle ermöglicht nur eine begrenzte Überprüfung, die sich auf Normen beschränken muß, von deren Gültigkeit der Ausgang des Rechtsstreits abhängt. Dennoch hat die Aufnahme neuer Zuständigkeiten, vor allem bezüglich der Normenkontrolle mit der Einführung des abstrakten Normenkontrollverfahrens und neuerdings des Verfahrens zur Kontrolle von Unterlassungen des Gesetzgebers (Art. 103 Abs. 2) sowie die Entwicklung neuer Rechtsbehelfe wie der Habeas Data und der mandado de injunçâo dem Gericht als Hüter der Verfassung wesentlich mehr an Gewicht und Bedeutung verliehen. 3. Die Konzentration der Kontrolle der Gesetzgebung und der Verfassungsstreitigkeiten beim Bundesverfassungsgericht schließt gleichzeitig die anderen Gerichte von der Verwerfungsbefugnis der Gesetze aus. Die Urteilsverfassungsbeschwerde, in welcher das besondere Verhältnis zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den Fachgerichten deutlich wird, macht das Bundesverfassungsgericht nicht zu einer „Superrevisionsinstanz", da hier die Gerichtsentscheidung nur unter dem speziellen und beschränkten Maßstab der Verfassung geprüft wird. 15 Mendes
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E. Zusammenfassende Thesen
4. Der brasilianische Oberste Gerichtshof ist durch die spezifische ordentliche Berufung und durch die außerordentliche Berufung in den Instanzenzug einzelner Gerichtsbarkeiten einbezogen. Nicht zu verkennen ist, daß die neue Verfassung durch die Erweiterung der Antragsberechtigung im abstrakten Normenkontrollverfahren und mittels der Beschränkung der außerordentlichen Berufung beim Obersten Gerichtshof nur auf Verfassungsfragen zu einer relativen Konzentrierung der Verfassungsstreitigkeiten beim Supremo Tribunal Federal beigetragen hat. 5. Die Existenz verschiedenartiger Verfahren macht andererseits einen prozessual wichtigen Unterschied zwischen beiden Gerichtshöfen deutlich. Die brasilianische Verfassungsordnung kennt Verfahren wie die Organstreitigkeit und ein so multifunktionales Instrument wie die Verfassungsbeschwerde nicht. Die graduelle Evolution von einem allgemein inzidenten Richterprüfungsrechtsmodell zu einem solchen, in dem die Hauptfunktion des Obersten Gerichtshofs auf die Normenkontrolle konzentriert ist, verstärkt den Charakter des Supremo Tribunal Federal als den eines echten Verfassungsgerichtshofs, da er nicht nur ein Verwerfungsmonopol im abstrakten Normenkontrollverfahren bei der Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit von Bundes- oder Landesrecht besitzt, sondern letztlich bei der Entscheidung von Verfassungsfragen auch das definitive Wort bei der inzidenten richterlichen Prüfung zu sagen hat. 6. Beide Modelle abstrakter Normenkontrolle, das deutsche wie das brasilianische, haben ihre historischen Wurzeln in der föderativ veranlaßten Normenkontrolle. Die Entwicklung beider Verfahren ist aber sehr unterschiedlich. Die deutsche abstrakte Normenkontrolle im Grundgesetz ist das Ergebnis einer eingehenden Diskussion, in der verschiedene Vorschläge zur Konzentrierung der Normenkontrolle beim Staatsgerichtshof sowie die Erfahrung mit der abstrakten Normenkontrolle im Rahmen des Art. 13 Abs. 2 WRV berücksichtigt worden sind. Im Parlamentarischen Rat wurden bewußt Vorschläge abgelehnt, die eine Erweiterung des Antragsrechts befürworteten. Das brasilianische abstrakte Normenkontrollverfahren wurde am Anfang als adäquate Lösung zur Entlastung der Gerichtsbarkeit und vor allem des Obersten Gerichtshofs konzipiert, da es die Entscheidung wichtiger Verfassungsfragen mit Gesetzeskraft ermöglicht. Die Einräumung des Antragsrechts allein an den Bundesgeneralstaatsanwalt hatte zu unbefriedigenden Ergebnissen geführt. 7. Die besondere Ausgestaltung des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht mit der Antragsberechtigung der Bundesregierung, der Länderregierungen und eines Drittels der Mitglieder des Bundestags hat der abstrakten Normenkontrolle einen besonderen politischen Charakter verliehen. Nicht selten wird sogar von einem Mißbrauch der abstrakten Normenkontrolle nach dem Motto „ wir sehen uns in Karlsruhe" gesprochen, d.h. als einer Fortsetzung der politischen Diskussion mit Rechtsmitteln.
E. Zusammenfassende Thesen
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8. Trotz der Bedeutung, die die abstrakte Normenkontrolle vor allem in letzter Zeit in Brasilien gewonnen hat, und der erheblich ansteigenden Zahl von Prozessen dieser Verfahrensart ist das brasilianische abstrakte Normenkontrollverfahren in der Periode von 1966-1988 im Hinblick auf die politische Tragweite der Entscheidung von geringerer Wirkung gewesen. Die Ausgestaltung, die der brasilianische Verfassungsgeber von 1988 dem abstrakten Normenkontrollverfahren und insbesondere dem Antragsrecht der politischen Parteien mit Vertretung im Nationalen Kongreß verliehen hat, kann diesem Verfahren eine neue politische Dimension geben. Nicht zu verkennen ist, daß dieses Instrument bereits eine wichtige Rolle gespielt hat bei der Erfüllung einer korrektiven und ergänzenden Funktion des brasilianischen inzidenten richterlichen Prüfungsrechts, indem es Entscheidungen über eine umstrittene Verfassungsfrage des Obersten Gerichtshofs mit Gesetzeskraft ermöglicht. Die neue Ausgestaltung des Initiativrechts vor allem durch die Einräumung des Antragsrechts an verschiedene gesellschaftliche Organisationen hat den Charakter der abstrakten Normenkontrolle als eines korrektiven Mechanismus des inzidenten richterlichen Prüfungsrechts noch verstärkt. 9. Das deutsche und das brasilianische Normenkontrollverfahren als Instrumente verschiedener Modelle von Normenkontrolle treffen bereits hinsichtlich der Entscheidung über die Auswahl der Antragsberechtigten unterschiedliche Regelungen. Während der deutsche Verfassungsgeber sich für eine begrenzte Antragsberechtigung entschied, hat die brasilianische Verfassung von 1988 ein weitgefaßtes Antragsrecht festgelegt, das die Einleitung des Verfahrens zur Überprüfung eines Bundes- oder Landesgesetzes nicht nur verschiedenen staatlichen Organen, sondern auch gesellschaftlichen Organisationen und politischen Parteien mit Vertretung im Nationalen Kongreß anvertraut. 10. Der Antrag ist nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG und §§ 13 Nr. 6, 76 BVerfGG zulässig, wenn Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten über die Vereinbarkeit von Bundesrecht mit dem Grundgesetz oder von Landesrecht mit dem Grundgesetz oder mit dem sonstigen Bundesrecht vorliegen. Die Zulässigkeit des Antrags der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Drittels der Mitglieder des Bundestages vor dem Bundesverfassungsgericht hängt nicht davon ab, ob der Antragsteller oder einer der Antragsberechtigten das Gesetz für nichtig hält, wie § 76 Nr. 1 BVerfGG dies vorsieht. Es ist entgegen dieser Vorschrift auch nicht zu verlangen, daß der Antragsteller oder einer der Antragsberechtigten den Zweifel selbst hegt. Diese Regelung, die ausdrücklich das verfassungsrechtlich gewährleistete Antragsrecht einschränkt, ist verfassungswidrig. Auch das in § 76 Nr. 2 BVerfGG enthaltene Erfordernis, wonach einer der Antragsberechtigten das Recht für gültig halten muß, nachdem ein Gericht, eine Verwaltungsbehörde oder ein Organ des Bundes oder eines Landes es als unvereinbar mit dem Grundgesetz nicht angewendet hat, beeinträchtigt das verfassungsrechtlich gewährleistete Antragsrecht. 15=
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E. Zusammenfassende Thesen
11. Der brasilianische Oberste Gerichtshof ist zuständig für Entscheidungen über die direkte Verfassungswidrigkeitsklage ( açâo direta de inconstitucionalidade) nach Art. 102 I „a" und 103 der Verfassung auf Antrag des Präsidenten der Republik, des Vorsitzes des Bundessenats, des Vorsitzes des Abgeordnetenhauses, des Vorsitzes eines Landtages, auf Antrag eines Landesgouverneurs, des Bundesgeneralstaatsanwalts, des Bundesrats der nationalen Anwaltskammer, einer politischen Partei mit Vertretung im Nationalen Kongreß, Gewerkschaftskonföderation und Klassenorganisation, auf nationaler Ebene organisiert. Solange neue verfahrensrechtliche Regelungen nicht erlassen werden, werden die Bestimmungen der Geschäftsordnung, die vorher die Ausübung des Antragsmonopoh des Bundesgeneralstaatsanwalts regelten, weiter angewendet (Geschäftsordnung, Art. 169-173). 12. Der Mangel an einer klaren Unterscheidung zwischen Antragsberechtigung und Antragsbefugnis im brasilianischen Recht führt zu einem inkongruenten Ergebnis. Deswegen ist hier unter Berücksichtigung eines seit geraumer Zeit entwickelten Ansatzes die Möglichkeit zu erwägen, eine verfahrensrechtliche Regelung nach dem Modell des Art. 13 Abs. 2 WRV und des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG einzuführen, die ausdrücklich den Bestand von Zweifel oder Meinungsverschiedenheit über die Verfassungsmäßigkeit als weitere Zulässigkeitsvoraussetzung für das abstrakte Normenkontrollverfahren festlegt. 13. Im Gegensatz zur konkreten Normenkontrolle ist die Zulässigkeit des abstrakten Normenkontrollverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht davon unabhängig, ob es sich um vor- oder nachkonstitutionelles Recht handelt. Diese Unterscheidung, die bei der konkreten Normenkontrolle eine wichtige Rolle spielt, ist bei der abstrakten Normenkontrolle belanglos, da das Verfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG zur Feststellung der Vereinbarkeit des einfachen Rechts mit dem Grundgesetz dient, gleichgültig, ob es sich um vor- oder nachkonstitutionelle Normen handelt. 14. Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, entwickelt unter der Geltung der abgelösten Verfassung von 1967/69, läßt keinen Zweifel an der Behandlung der Kollision zwischen vorkonstitutionellen Gesetzen und der Verfassung nach dem Grundsatz des „lex posterior derogat priori" zu. Immerhin ist die Anwendung des Grundsatzes „ lex posterior derogat priori " nicht unproblematisch, denn dieser setzt prinzipiell gleiche Regelungsdichte voraus. Diesem Prinzip liegt der Gedanke gleicher normativer Dichte zugrunde, da er vor allem an der Ersetzung des älteren durch das neue Recht orientiert ist. Die Verfassung dagegen kann in der Regel einfach-gesetzliche Rechtsnormen nicht ersetzen. Man kann daher davon ausgehen, daß im Falle der Kollision zwischen rangverschiedenen Normen der Vorrang der lex superior die anderen Kollisionsregeln ausschließt. Dafür spricht auch die Regelung der außerordentlichen Berufung in der brasilianischen Verfassung. Der Verfassungsgeber hat die Zulässigkeit der außerordentlichen Berufung von einer aktuellen Verfassungswidrigkeit abhängig
E. Zusammenfassende Thesen
gemacht, so daß der Supremo Tribunal Federal nur zuständig ist, wenn behauptet wird, daß die richterliche Entscheidung in irgendeiner Weise die geltende Verfassung verletzt hat. Daraus ergibt sich, daß der Verfassungsgeber hier von einem Einheitsbegriff der Verfassungswidrigkeit ausgegangen ist, der sich sowohl auf vor- wie auch auf nachkonstitutionelle Rechtsnormen bezieht. Gründe für eine Differenzierung zwischen der inzidenten Verfassungsmäßigkeitsprüfung und der abstrakten Normenkontrolle hinsichtlich des Prüfungsgegenstands sind nicht ersichtlich. 15. Das Bundesverfassungsgericht hat von Anfang an seine Zuständigkeit zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsverordnung im abstrakten Normenkontrollverfahren als unproblematisch angesehen. Bei diesem Verfahren stellt das Gericht ausdrücklich fest, daß es als Vorfrage zu prüfen hat, ob die zu beurteilende Norm von der in Anspruch genommenen Ermächtigungsnorm gedeckt wird. Nur wenn dies bejaht wird, ergibt sich die weitere Frage, ob eine Regelung der Rechtsverordnung materiell zu einem Rechtssatz des Grundgesetzes im Widerspruch steht. Demgemäß erstreckt sich die verfassungsgerichtliche Prüfung einer Rechts Verordnung des Bundes im abstrakten Normenkontrollverfahren auf die Fragen, ob eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage vorhanden ist und ob sich die Rechtsverordnung in diesem Rahmen hält. 16. Der Verzicht des brasilianischen Obersten Gerichtshofs darauf, die Verfassungsmäßigkeit von Rechtsverordnungen zu überprüfen, weil die Überschreitung der Gesetzesermächtigung prinzipiell eine Gesetzmäßigkeitsfrage darstelle, die deswegen nicht im Weg der abstrakten Normenkontrolle zu behandeln sei, bedeutet trotz der Kontroverse über die Annahme einer mittelbaren Verfassungswidrigkeit eine Verkennung der Problematik. Als Element der rechtsstaatlichen Ordnung (Art. 1) legt die brasilianische Verfassung — wie schon die abgelöste Verfassung von 1967/69 bestimmt hatte (Art. 153 Abs. 2 i.V.m. Art. 81 III) — ausdrücklich den Grundsatz des Vorrangs und des Vorbehalts des Gesetzes fest (Art. 5 II) und verlangt daher folgerichtig, daß die Verordnungsbefugnis der Exekutive ausschließlich in „treuer Ausführung" (fiel execuçào) des Gesetzes ausgeübt wird (Art. 84 IV). Daraus ergibt sich ohne weiteres, daß die Gesetzwidrigkeit einer Rechtsverordnung einen Verfassungsverstoß bedeutet, weil die Gesetzmäßigkeit der niederrangigen Norm einem Gebot des objektiven Verfassungsrechts entspricht. Ein gegenteiliges Verständnis würde dazu führen, daß die Bindung der Verwaltung an die Verfassung leerlaufen würde, wenn sie irgendeine beliebige Verordnung erlassen könnte, die einen Eingriff in Grundrechte enthielte, ohne auf den Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes zu achten. In diesem Fall ist die Gesetzmäßigkeit des Freiheitseingriffs eine Bedingung seiner Verfassungsmäßigkeit. Ein Gesetzesverstoß ist auf jeden Fall Grundrechts verstoß. 17. Das Bundesverfassungsgericht und der Supremo Tribunal Federal gehen von der Nichtigkeit des verfassungswidrigen Gesetzes aus. Während aber das
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E. Zusammenfassende Thesen
Bundesverfassungsgericht neben der von Anfang an in § 78 BVerfGG vorgesehenen Nichtigerklärung und der schon früh aufgegriffenen verfassungskonformen Auslegung in seiner Praxis andere Entscheidungsvarianten wie die Appellentscheidungen und die Unvereinbarkeitserklärung entwickelt hat, beschränkt sich der brasilianische Oberste Gerichtshof im abstrakten Normenkontrollverfahren darauf, die Nichtigkeit oder die Verfassungsmäßigkeit — eventuell unter Anwendung der verfassungskonformen Auslegung — auszusprechen. 18. Die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Unvereinbarkeitserklärung stellt einen Entscheidungstypus dar, der ihm ermöglicht, ein Gesetz für verfassungswidrig zu erklären, ohne dessen Nichtigkeit festzustellen. Erst im Jahre 1970 wurde diese Entscheidungsform in das BVerfGG aufgenommen (§31 Abs. 2 S. 2 und 3 und 79 Abs. 1). Der Verzicht auf die Nichtigerklärung schafft aber noch keine Rechtsgrundlage für die Weitergeltung der mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärten Norm. Den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kommt gemäß Art. 31 Abs. 2 BVerfGG Allgemeinverbindlichkeit zu, so daß nach einer Unvereinbarerklärung mit Wirkung inter omnes feststeht — ebenso wie bei der Nichtigerklärung —, daß ein Verfassungsverstoß vorliegt. Das für verfassungswidrig erklärte Gesetz verfügt daher über keine Bindungswirkung (Art. 1 Abs. 3 und 20 Abs. 3 GG), so daß weder der einzelne noch Behörden und Gerichte daran gebunden sind. Die Weitergeltung der für unvereinbar erklärten Norm ist nur in den Fällen zulässig, in denen sie von der Verfassung gefordert wird. 19. Die Einführung einer besonderen Systematik zur Kontrolle der gesetzgeberischen Unterlassung und die Anerkennung, daß, im Falle eines Verfassungsverstoßes wegen Unterlassung — unabhängig von der Verfahrensart, in der dieser festgestellt wird — die Mängelbeseitigung grundsätzlich durch den Gesetzgeber durchgeführt werden muß, haben die Weichen für die Entwicklung einer Unvereinbarkeitserklärung auch im abstrakten Normenkontrollverfahren gestellt. Man könnte sogar annehmen, daß aufgrund der oben erwähnten Entscheidung des Obersten Gerichtshofs eine solche Entwicklung bereits im Gang ist. Wenn auch die Entscheidung, die eine Teilunterlassung feststellt, wegen des speziellen Charakters dieser Verfahren als besondere Instrumente zur Kontrolle der gesetzgeberischen Unterlassung nicht als „Unvereinbarkeitserklärung" der gesamten Regelung bezeichnet werden dürfte, so könnte hierin der Anfang einer Entwicklung in Richtung eine Unvereinbarkeitserklärung im brasilianischen Recht zu sehen sein, die auch von Bedeutung für das abstrakte Normenkontrollverfahren sein kann. 20. Wenn mit Wirkung inter omnes feststeht, daß eine verfassungswidrige Teilunterlassung vorliegt, sei es durch die Feststellung der Verfassungswidrigkeit im „abstrakten Unterlassungsfeststellungsverfahr en" , sei es, weil der im mandado de injunçâo- Verfahren ausgesprochenen Entscheidung Gesetzeskraft beigelegt
E. Zusammenfassende Thesen
wird, kann weder der einzelne verpflichtet werden, die Norm zu befolgen, noch kann er ihre Anwendung beanspruchen. Staatliche Organe und die Verwaltung sind daran gehindert, sie weiter anzuwenden, da sie gemäß Art. 1 und 5 Abs. 1 der Verfassung an die rechtsstaatlichen Gebote gebunden und dazu verpflichtet sind, rechtmäßig zu handeln. Dasselbe müßte gelten, wenn es dazu kommen sollte, daß ein Verfassungsverstoß wegen Teilunterlassung im abstrakten Normenkontrollverfahren festgestellt würde. Wenn man demnach auch prinzipiell von einer allgemeinen Anwendungssperre ausgehen muß, ist zu bedenken, daß in bestimmten Fällen die weitere Anwendbarkeit des verfassungswidrigen Gesetzes durch die Verfassungsordnung geboten ist. Eine Anwendungssperre wie eventuell die Kassation der Norm im Normenkontrollverfahren — würde hier den Verfassungsverstoß noch gravierender machen.
Anhang Die Verfassung der Föderativen Republik Brasilien* (Auszüge) Abschnitt I I Art. 101 Der Oberste Bundesgerichtshof besteht aus elf Richtern (ministros); sie werden aus einem Kreis von Bürgern ausgewählt, die älter als 35 und jünger als 65 Jahre sind, über herausragende Rechtskenntnisse verfügen und untadeligen Ruf genießen. Einziger Paragraph. Die Richter des Obersten Bundesgerichtshofs werden vom Präsidenten ernannt, nachdem ihre Auswahl von der absoluten Mehrheit des Bundessenats bestätigt worden ist. Art. 102 Der Oberste Bundesgerichtshof ist in erster Linie zur Wahrung der Verfassung berufen; ihm obliegt: I. in originärer Zuständigkeit die Verhandlung und Entscheidung: a) über die Direktklage wegen Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes oder eines normativen Akts des Bundes oder eines Staates; b) bei gemeinen Straftaten des Präsidenten der Republik, des stellvertretenden Präsidenten, der Mitglieder des Nationalkongresses, seiner eigenen Richter und des Generalstaatsanwalts der Republik; c) bei gemeinen Straftaten und Amtsvergehen der Staatsminister, vorbehaltlich der Regelung in Art. 52 I, der Mitglieder der Obergerichthöfe, des Rechnungshofes der Union und der Leiter der ständigen diplomatischen Vertretungen; d) über „ habeas-corpus soweit Betroffener eine der in den vorangegangenen Bestimmungen bezeichneten Personen ist; über Sicherungsverfügungen (mandado de segurança) und „habeas-data" gegen Akte des Präsidiums (mesa) des Abgeordnetenhauses und des Bundessenats, des Rechnungshofs der Union, des Generalstaatsanwalts der Republik und des Obersten Bundesgerichtshofs selbst; e) über Rechtsstreitigkeiten zwischen einem ausländischen Staat oder einer internationalen Organisation und der Union, einem Bundesstaat, dem Bundesdistrikt oder einem Territorium;
* Übersetzung von Professor Dr. Paul Wolf, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts, Band 38 (1989), S. 462 ff.
Anhang
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f) über Streitigkeiten und Konflikte zwischen der Union und den Bundesstaaten, der Union und dem Bundesdistrikt, oder zwischen diesen, einschließlich über Streitigkeiten unter den jeweiligen Organen der indirekten Verwaltung; g) über einen von einem ausländischen Staat gestellten Auslieferungsantrag; h) über die Anerkennung (homologaçâo) ausländischer Urteile und die Gewährung des „Exequatur" für Rechtshilfeersuchen; diese Aufgabe kann durch die Geschäftsordnung ( re girne nto interno ) seinem Präsidenten übertragen werden; i) über „habeas-corpus", falls Handelnder oder Betroffener ein Gerichtshof, eine Behörde oder ein Beamter ist, deren Handlungen unmittelbar der Zuständigkeit des Obersten Bundesgerichtshofs unterliegen, oder wenn es sich um eine Straftat handelt, die derselben Zuständigkeit in einziger Instanz unterliegt; j) über das außerordentliche Rechtsmittel der Überprüfung (revisâo criminal ) und das Wiederaufnahmeverfahren von eigenen Strafurteilen; 1) über das Begehren nach Einhaltung von Zuständigkeit und Sicherstellung der Autorität seiner Entscheidungen; m) über die Vollstreckung von Urteilen in Fällen, die seiner originären Zuständigkeit unterliegen, wobei die Delegierung von Befugnissen zur Vornahme von Verfahrensverhandlungen freigestellt ist; n) über Verfahren, die alle Angehörigen der Richterschaft unmittelbar oder mittelbar betreffen, und über solche, in denen mehr als die Hälfte der Mitglieder des an sich zuständigen Gerichtshofs ausgeschlossen oder unmittelbar oder mittelbar betroffen sind; o) über Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem Obersten Gerichtshof der Justiz und anderen Gerichten, zwischen Obergerichtshöfen oder zwischen diesen und anderen Gerichten; p) über Anträge auf Einstweiligen Rechtsschutz in Direktklagen wegen Verfassungswidrigkeit; q) über Anträge auf gerichtliche Injunktionsanordnung (mandado de injunçâo ), falls der Erlaß der Ausführungsnorm dem Präsidenten der Republik, dem Nationalkongreß, der Abgeordnetenkammer, dem Bundessenat, den Präsidien (mesas) dieser Gesetzgebenden Häuser, dem Rechnungshof der Union, einem der Obergerichtshöfe oder dem Obersten Bundesgericht selbst obliegt; II. die Entscheidung im ordentlichen Rechtsmittel verfahren: a) über „habeas-corpus", Sicherungsverfügungen (mandado de segurança), „habeasdata" und „mandado de injunçâo", über die in einziger Instanz von den Obergerichtshöfen entschieden wurde, falls deren Entscheidung ablehnend war; b) über politische Straftaten; III. die Entscheidung im außerordentlichen Rechtsmittelverfahren gegen in einziger oder letzter Instanz ergangene Urteile, falls diese: a) eine Vorschrift dieser Verfassung verletzen; b) ein Abkommen oder ein Gesetz des Bundes für verfassungswidrig erklären; c) ein Gesetz oder ein Akt einer örtlichen Regierung für gültig erklären, deren Gültigkeit unter Berufung auf diese Verfassung angefochten wurde.
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Anhang
Einziger Paragraph. Die Behauptung der Nichteinhaltung einer grundlegenden, sich aus dieser Verfassung ergebenden Vorschrift unterliegt der förmlichen Beurteilung durch den Obersten Bundesgerichtshof. Art. 103 Klage wegen Verfassungswidrigkeit können erheben: I. der Präsident der Republik; II. das Präsidium (mesa) des Bundessenats; III. das Präsidium des Abgeordnetenhauses; IV. das Präsidium der Gesetzgebenden Versammlung; V. die Gouverneure der Staaten; VI. der Generalstaatsanwalt der Republik; VII. der Bundesrat der Brasilianischen Anwaltskammer; VIII. jede politische Partei mit Vertretung im Nationalkongreß. § 1 Der Generalstaatsanwalt der Republik ist bei Klagen wegen Verfassungswidrigkeit und in allen Verfahren der Zuständigkeit des Obersten Bundesgerichts vorab zu hören. § 2 Wird das Unterlassen einer Maßnahme, die einer Verfahrensnorm Wirksamkeit verleiht, für verfassungswidrig erklärt, so ist davon die für die Vornahme notwendiger Maßnahmen zuständige Gewalt in Kenntnis zu setzen und, falls es sich um ein Verwaltungsorgan handelt, die Durchführung der Maßnahme in 30 Tagen zu besorgen. § 3 Falls der Oberste Bundesgerichtshof die Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Norm oder eines normativen Akts allgemein zu beurteilen hat, lädt es zuvor den Generalanwalt des Bundes, der den angegriffenen Akt oder Text verteidigt.
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